Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur: Sinnverstehende Traditionen - Grundlagen und Perspektiven 9783931589813

Auf dem Symposium „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur" am 17./18. März 2006 wurde die „Bonner Erklärung&

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Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur: Sinnverstehende Traditionen - Grundlagen und Perspektiven
 9783931589813

Table of contents :
Vorwort zur Buchausgabe (für die Herausgeber): Jörg Hein . . . 7
Begrüßungsansprachen (durch die Organisatoren des Symposiums):
Jörg Hein... 13
Karl Otto Hentze . . . 16
Grußworte:
Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer... 21
Ferdinand von Boxberg, Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer
Nordrhein-Westfalen... 23
I Eröffnungsvortrag... 25
1. Jürgen Kriz: Die Notwendigkeit der Sinn-Perspektive in Psychologie und
Psychotherapie... 26
II Zur epistemologischen Grundlegung psychotherapeutischer Forschungsund Anwendungspraxis... 42
2. Uwe Laucken: Varianten der Vergegenständlichung des Menschen: Klare
Unterscheidungen für klare Entscheidungen... 43
3. Jürgen Kriz: Genese und Bedeutung von (Welt- und) Menschenbildern in
der Psychotherapie...65
4. Morus Markard: Macht Erfahrung klug? Wandel und Ambivalenz des
Erfahrungsbegriffs in der Psychotherapie . . . 74
III Über menschliche und allzu menschliche Bedürfnisse und Entwicklungen
als Probleme der Psychotherapie... 83
5. Klaus-Jürgen Bruder: Psychotherapie und Diskurs der Macht... 84
6. Wilhelm Rotthaus: Der Paradigmenwechsel von der Objekt- zur Subjektstellung des Kindes als Ausdruck des Wandels im Menschenbild... 97
7. Hans-Jürgen P. Walter: Psychotherapie als Manifestation des (Autoritäts-)
Problems, als dessen Überwindung sie erst Sinn macht? . . . 103
8. Christoph J. Schmidt-Lellek: Psychotherapeutischer Kitsch als Ausdruck
eines verkürzten Menschenbildes . . . 111
IV Psychotherapie im Spannungsfeld von Wissenschafts- und Berufspolitik . . . 123
9. Ferdinand Buer: Der andere Mensch als Subjekt und als Objekt . . . 124
10. Günter Schiepek: Jenseits des Unbehagens . . . 13411. Michael B. Buchholz: Profession und empirische Forschung - Souveränität
und Integration... 140
12. Inge Frohburg: Zum Postulat der störungsspezifischen Indikation
psychotherapeutischer Verfahren... 157
13. Norbert Bowe: Psychotherapeutische Praxis, Grundlagen des Fachs und
(versorgungs-)politische Folgerungen... 165
V Zu Philosophie und (Forschungs-)Praxis der Psychotherapie: Narration,
Imagination, Verstehen und Revolte... 176
14. Heiner Legewie: Erzählen als Zugang zu existenziellen
Erfahrungen... 177
15. Jürgen Hardt: Alltagsverstehen und die Kunst des Verstehens in der
psychotherapeutischen Begegnung... 188
16. Thomas Schwinger: Erzählung und Inszenierung . . . 196
17. Beate Steiner: Die Bedeutung von Imaginationen fur den
psychotherapeutischen Prozess . . . 208
18. Klaus Fröhlich-Gildhoff: Wirkfaktoren in der Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie - Darstellung eines langfristigen Forschungsprojekts . . . 219
19. Gert-W. Speierer: Dialog und Fragen zum Verstehen des bedrohten Selbst
und seiner salutogenen Ressourcen . . . 231
20. Stephan Grätzel: Narrative Identität als philosophisches Konzept... 243
21. Friedrich Voßkühler: Subjekt, Ereignis und Revolte . . . 252
Anhang: Die „Bonner Erklärung" . . . 260
Anschriften der Verfasser, der Herausgeber und der Organisatoren des
Symposiums... 261

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Jörg Hein, Karl Otto Hentze (Hrsg.)

Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur Sinnverstehende Traditionen - Grundlagen und Perspektiven

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Deutscher Psychologen Verlag GmbH

Auf dem Symposium „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur" am 17./18. März 2006 wurde die „Bonner Erklärung" verabschiedet , in der es u.a. heißt: „Wir wenden uns (...) gegen die Zergliederung von Psychotherapieverfahren

in Verfahren,

und Techniken und gegen die ausschließende, Zuordnung von Psychotherapieverfahren. tienten

auf Symptome

diagnosebezogene

Der Reduzierung der Pa-

liegt ein Psychotherapieverständnis

grunde, das mit dem Selbstverständnis und Psychotherapeuten

Methoden

der

und dem geltenden

zu-

Psychotherapeutinnen Psychotherapeuten-

recht nicht zu vereinbaren ist." Wie sehr diese Stellungnahme die Befürchtungen vieler Psychotherapeuten abbildet, zeigte sich unmittelbar nach dem Symposium: Bis zum Symposium der Bundespsychotherapeutenkammer zur Veränderung der Psychotherapierichtlinien Anfang April 2006 in Berlin hatten bereits mehr als 2.500 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aus dem gesamten Bundesgebiet die „Bonner Erklärung" unterzeichnet. Der vorliegende Tagungsband enthält 21 der 25 Symposiums-Beiträge und den Wortlaut der „Bonner Erklärung".

ISBN 978-3-931589-81-3 www.psychologenverlag.de

Jörg Hein, Karl Otto Hentze (Herausgeber)

Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur Sinnverstehende Traditionen Grundlagen und Perspektiven

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibüografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN: 978-3-931589-81-3

Verlag

Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn

Satz

Dr. Hans-Jürgen P. Walter, Biedenkopf

Umschlag

Ursula Tücks, Köln

Druck

copy team cologne, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten © 2007 Deutscher Psychologen Verlag GmbH Printed in Germany ISBN: 978-3-931589-81-3

Jörg Hein, Karl Otto Hentze (Herausgeber)

Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur Sinnverstehende Traditionen Grundlagen und Perspektiven

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L P J

Deutscher Psychologen Verlag

Bonn 2007

Inhalt Vorwort zur Buchausgabe (für die Herausgeber): Jörg Hein . . . 7 Begrüßungsansprachen (durch die Organisatoren des Symposiums): Jörg Hein... 13 Karl Otto Hentze . . . 16 Grußworte: Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer... 21 Ferdinand von Boxberg, Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen... 23 I Eröffnungsvortrag... 25 1. Jürgen Kriz: Die Notwendigkeit der Sinn-Perspektive in Psychologie und Psychotherapie... 26 II Zur epistemologischen Grundlegung psychotherapeutischer Forschungsund Anwendungspraxis... 42 2. Uwe Laucken: Varianten der Vergegenständlichung des Menschen: Klare Unterscheidungen für klare Entscheidungen... 43 3. Jürgen Kriz: Genese und Bedeutung von (Welt- und) Menschenbildern in der Psychotherapie...65 4. Morus Markard: Macht Erfahrung klug? Wandel und Ambivalenz des Erfahrungsbegriffs in der Psychotherapie . . . 74 III Über menschliche und allzu menschliche Bedürfnisse und Entwicklungen als Probleme der Psychotherapie... 83 5. Klaus-Jürgen Bruder: Psychotherapie und Diskurs der Macht... 84 6. Wilhelm Rotthaus: Der Paradigmenwechsel von der Objekt- zur Subjektstellung des Kindes als Ausdruck des Wandels im Menschenbild... 97 7. Hans-Jürgen P. Walter: Psychotherapie als Manifestation des (Autoritäts-) Problems, als dessen Überwindung sie erst Sinn macht? . . . 103 8. Christoph J. Schmidt-Lellek: Psychotherapeutischer Kitsch als Ausdruck eines verkürzten Menschenbildes . . . 111 IV Psychotherapie im Spannungsfeld von Wissenschafts- und Berufspolitik . . . 123 9. Ferdinand Buer: Der andere Mensch als Subjekt und als Objekt . . . 124 10. Günter Schiepek: Jenseits des Unbehagens . . . 134

11. Michael B. Buchholz: Profession und empirische Forschung - Souveränität und Integration... 140 12. Inge Frohburg: Zum Postulat der störungsspezifischen Indikation psychotherapeutischer Verfahren... 157 13. Norbert Bowe: Psychotherapeutische Praxis, Grundlagen des Fachs und (versorgungs-)politische Folgerungen... 165 V Zu Philosophie und (Forschungs-)Praxis der Psychotherapie: Narration, Imagination, Verstehen und Revolte... 176 14. Heiner Legewie: Erzählen als Zugang zu existenziellen Erfahrungen... 177 15. Jürgen Hardt: Alltagsverstehen und die Kunst des Verstehens in der psychotherapeutischen Begegnung... 188 16. Thomas Schwinger: Erzählung und Inszenierung . . . 196 17. Beate Steiner: Die Bedeutung von Imaginationen fur den psychotherapeutischen Prozess . . . 208 18. Klaus Fröhlich-Gildhoff: Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie - Darstellung eines langfristigen Forschungsprojekts . . . 219 19. Gert-W. Speierer: Dialog und Fragen zum Verstehen des bedrohten Selbst und seiner salutogenen Ressourcen . . . 231 20. Stephan Grätzel: Narrative Identität als philosophisches Konzept... 243 21. Friedrich Voßkühler: Subjekt, Ereignis und Revolte . . . 252 Anhang: Die „Bonner Erklärung" . . . 260 Anschriften der Verfasser, der Herausgeber und der Organisatoren des Symposiums... 261

Vorwort Das Symposium1, dessen Beiträge hier nahezu vollständig versammelt sind, hat eine etwas ungewöhnliche Entstehungsgeschichte, und es hat mit seiner „Bonner Erklärung" auch eine ungewöhnliche Resonanz ausgelöst. Motiv war, dem Bestreben entgegenzutreten, die psychotherapeutischen „Schulen" - wie die verschiedenen Traditionslinien in der Psychotherapie abwertend gerne genannt werden - (das Wort transportiert die landläufige Geringschätzung der Institution Schule gleich mit) - zu „überwinden". „Überwinden" bezeichnet hier aber nicht einen Vorgang des Ersetzens eines Zustandes durch einen besseren, höherwertigen, sondern ist die euphemistische Umdeutung der Verdrängung, des Beiseiteschiebens mit politischen, ökonomischen und - wissenschaftlichen - Mitteln. So fatal dieser Sachverhalt fur sich genommen schon ist, wäre er doch nur für die psychotherapeutische Fachwelt von Interesse - wenn sich im psychotherapeutischen Denken und Handeln nicht schon immer ein spezifisches kulturelles, gesellschaftliches Moment Ausdruck verschafft hätte. Psychotherapie ist nicht nur eine (von mehreren) Ausdrucksweisen der kulturellen Verfasstheit einer Gesellschaft, ihr Diskurs ist selber Bestandteil und Forum kultureller Entwicklung. Damit ist Psychotherapie weitaus mehr als ein Beitrag von Spezialisten zur Gesundheitsversorgung und Störungsbeseitigung. Vielmehr gehen von den Traditionen der Psychotherapie seit jeher kritische Fragen und Impulse an ein technizistisch verkürztes Medizinsystem aus. Es war eine kleine Gruppe von überwiegend seit Jahren fachpolitisch engagierten Psychotherapeutinnen und -psychotherapeuten2, die sich vorgenommen hatten, gegen den politischen und wissenschaftlichen Trend in unserem Fach mit einem überschaubar angelegten Symposium ein Zeichen zu setzen. Nicht die üblichen gegensätzlichen Positionen sollten zu Wort kommen, vielmehr sollte ein Schritt zur Selbstverständigung unter Vertretern der psychodynamischen, humanistischen, systemischen und körperpsychotherapeutischen Traditionen ermöglicht werden. Sozialwissenschaftliche und philosophische Bezüge der Psychotherapie sollten über die Fachgrenzen hinaus in der Diskussion Platz finden. Zahlreiche profilierte Referentinnen und Referenten waren bereit, sich das Anliegen der Tagung zu eigen zu machen und bei eher vagen thematischen Vorgaben ihre persönliche Perspektive zur Diskussion zu stellen. Dankenswerterweise hat eine erhebliche Zahl namhafter psychotherapeutischer Fachgesellschaften das Vorhaben unter Verzicht auf inhaltliche Einflussnahme finanziell und z.T. organisatorisch unterstützt. Ohne diese Hilfe wäre das Symposium nicht möglich gewesen.3'4

1 „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur - Sinnverstehende Traditionen - Grundlagen und Perspektiven am 17. und 18. März 2006 in Bonn-Röttgen. 2 Hans Bauer, Fritjof Gersch, Jörg Hein, Karl Otto Hentze, Anni Michelmann, Dr. Manfred Thielen 3 Wir danken den folgende Verbänden für ihre Unterstützung: Arbeitsgemeinschaft Psychotherapeutischer Fachverbände (AGPF), Berufsverband der Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (bkj), Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (BVVP), Deutsche Gesellschaft für Körperpsychotherapie (DGK), Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse und Psychosomatik (DGPT), Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF), Deutsche Gesellschaft für Tiefenpsychologie (DFT), Deutsche

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Zeitgleich ergab sich eine Art historischer Verdichtung: Der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (G-BA) - mit der Frage der sozialrechtlichen Anerkennung der personzentrierten Psychotherapie nach Rogers konfrontiert - entschloss sich zu einer grundlegenden Neukonzipierung der Psychotherapierichtlinien. Der Vorschlag wurde nicht im Detail bekannt gegeben, die Frist zur Stellungnahme fur die Bundespsychotherapeutenkammer als der Repräsentanz der Berufsgruppe war mit vier Wochen vorschriftswidrig kurz bemessen. Der G-BA hatte es mit seinem Vorstoß so eilig, dass er dabei das gesetzliche Stellungnahmerecht der Bundespsychotherapeutenkammer verletzte. Inhaltlich zielte die Initiative des G-BA darauf, den Verfahrensbegriff in der Psychotherapie tendenziell aufzulösen zugunsten von „Methoden und Techniken" und die Anerkennung solcher Methoden und Techniken an den Nachweis ihrer „Versorgungsrelevanz", d.h. an die Wirksamkeit bei häufig vorkommenden Störungen, zu binden. Ein Schelm, wer dabei die Absicht vermutet, der sich seit Jahren hinziehenden, längst zur Groteske geratenen sozialrechtlichen Anerkennung der Personzentrierten Psychotherapie weitere Hindernisse in den Weg zu legen. Mit der Aktion des G-BA erfuhr die lange zuvor entstandene Befürchtung der Initiatoren der Tagung eine unerwartete aktuelle und langfristig äußerst folgenreiche politisch-institutionelle Konkretion. Unter Zeitdruck und bei zwangsläufigem Fehlen der Detailkenntnis entstand die „Bonner Erklärung", die sich entschieden gegen das Vorhaben des Gemeinsamen Bundesausschusses richtet und damit im Einklang mit der von dem Bundesparlament der Psychotherapeuten am 23. 4. 2005 auf dem 5. Deutschen Psychotherapeutentag verabschiedeten Resolution steht. Bei einer Gegenstimme wurde die „Bonner Erklärung" am Ende der Tagung von den Teilnehmern verabschiedet. In den folgenden gut zwei Wochen schlössen sich mehr als 3000 Kolleginnen und Kollegen - das entspricht etwa 10% der Psychotherapeutenschaft - der Erklärung durch ihre Zeichnung an. Mit der Übergabe von Resolution und Namensliste der Zeichnenden an den Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer war die öffentliche Diskussion gegen den Willen des GBA angestoßen. Wie sehr ein Nerv getroffen war, zeigte sich in einer äußerst giftigen Stellungnahme aus dem Vorstand eines fuhrenden Psychotherapieverbandes, in der den Autoren u. a. Ignoranz gegenüber der Wissenschaft und Verhaftetheit in reinen Glaubenssystemen vorgeworfen wurde. Wenige Wochen nach dem „Unbehagen"-Symposiun, am 3. April fand ein Symposiun der Bundespsychotherapeutenkammer zur Neufassung der Psychotherapierichtlinien mit einer großen Anzahl wissenschaftlicher Experten statt. Die Kritik an dem Vorstoß des G-BA ging dort allerdings kaum von den Experten aus, sie blieb überwiegend den Zuhörern und Teilnehmern überlassen. In der Folgezeit legte die Bundespsychotherapeutenkammer eine umfangreiche Stellungnahme vor. Inzwischen, im August 2006, war es nicht eine psychotherapeutische Instanz, die

Psychologische Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (DPGG), Deutscher Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG), Deutscher Fachverband für Psychodrama (DFT), Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG), Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP), Verband Psychologischer Psychotherapeuten im BDP (VPP). 4 Unser besonderer Dank gilt Herrn Dr. Hans-Jürgen P. Walter, der das Lektorat übernommen hat.

Hein, Vorwort

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die Initiative des G-BA gestoppt hat, sondern eine politische: Das Bundesministerium fur Gesundheit hat den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Änderung der Psychotherapierichtlinien beanstandet. Das BMG wendet sich gegen die Umdefinition von „Verfahren" in „Methoden", und es weist die Forderung zurück, dass ein Verfahren, um anerkannt werden zu können, ein Indikationsspektrum - ausschließlich durch Effektivitätsstudien zu einzelnen Diagnosen -abdecken können müsse, das den Großteil der Prävalenz psychischer Störungen umfasse (Versorgungsrelevanz). Dem BMG blieb es vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass Psychotherapie mehr und anderes ist als die von mancher Seite zum Fetisch erhobene quantitative Ausmessung von Effekten an Störungen, die den Patienten artifiziell in voneinander isolierte Teile zerlegen. Die an erster Stelle geforderte Profession steht beschämt beiseite. Sie muss sich fragen und fragen lassen: Hat sie keine Seele, hat sie kein Verständnis für ihren kulturellen Auftrag, oder hat sie keine Kraft, sich gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzustellen, die seelische Bedürfiiisse ungenügend berücksichtigen oder gar verkennen. Unsere Veranstaltung war mitten in psychotherapiepolitische Turbulenzen geraten. Dabei war die Intention des Symposiums eigentlich mehr aufs Grundsätzliche denn auf Tagespolitik ausgerichtet gewesen. Die Themenvorgaben für die Referenten waren bewusst weit gefasst worden, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre persönliche Perspektive zur Rahmenthematik einzubringen. Auf diese Weise entstand - vordergründig - ein bunter Strauß unterschiedlicher Referate und Vorträge, der erst kurz vor der Tagung in die endgültigen thematischen Blöcke - die Themen der Arbeitsgruppen - gegliedert wurde. Trotz dieser vordergründigen Vielgestalt wird der aufmerksamen Leserin, dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, dass sich an vielen Stellen gemeinsame Grundlinien finden und ebenso Unterschiede, wenn nicht Gegensätze, die vielleicht schon künftige Kontroversen ahnen lassen. Auf einige sei hingewiesen. Jürgen Kriz wirft in seinem Eröffnungsvortrag „Die Notwendigkeit einer SinnPerspektive in Psychologie und Psychotherapie" der hegemonialen Psychotherapieforschung vor, nicht dass sie sich an naturwissenschaftlichen Denkweisen orientiere, sondern dass sie sich auf ein Bild von Naturwissenschaft aus dem 19. Jahrhundert beziehe, das diese selbst inzwischen weit hinter sich gelassen habe. Die Theorie komplexer Systeme, in den Naturwissenschaften inzwischen landläufig, liege viel näher an den nichtlinearen Abläufen, die fur psychotherapeutische Prozesse charakteristisch seien, als die mechanistischen Prämissen aus dem vorletzten Jahrhundert. Damit entstehe kein Widerspruch zum notwendigerweise sinnverstehenden Vorgehen in der Psychotherapie. Im Gegenteil benötige eine aufgeklärte Psychotherapie beide Perspektiven. Pointiert findet sich diese Position auch bei Günther Schiepek, der von der Synergetik sogar als einem „unifying paradigm" der Psychotherapie spricht und gleich die Brücke zur Neurophysiologie und Neurobiologie schlägt. Also Anschlussfahgkeit von naturwissenschaftlichen und psychotherapeutischen Paradigmen aneinander. Dieser Position steht auch Hans-Jürgen P. Walter nahe, der seine streitbare Kommentierung der Auseinandersetzung um den

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Status der „Schulen" in der Psychotherapie mit dem Modell von Max Pages zur Entwicklung von Polarisierungen in Gruppen unterfuttert. Einen besonderen Akzent setzt der Psychodramatiker Ferdinand Buer, der unter Bezugnahme auf die wissenschaftssoziologischen Arbeiten von Karin Knorr Cetina die Unterscheidung von Natur- und Sozialwissenschaften überhaupt in Frage stellt, seien sie doch beide soziale Konstruktionen, eingebunden in gesellschaftlich-historische Kontexte. Man meint, aus den Beiträgen der Referenten, die der systemischen Tradition nahestehen, den Aufschwung, den ihr Ansatz in den letzten Jahren erlebt hat, in Gestalt eines Optimismus herauszuhören, der - wenn er überhaupt ein Unbehagen registriert - dieses möglichst schnell überwinden will. Zu ihnen gehört auch Wilhelm Rotthaus, der in einem ganz anderen Bereich, nämlich in der Veränderung der Stellung des Kindes in der Gesellschaft, eine Bestätigung und ein weites Wirkungsfeld für systemisches Denken erkennt, namentlich das Konzept der Selbstorganisation ins Zentrum gerückt sieht. Deutlich anders fallt dagegen der Zungenschlag in den Beiträgen der Psychoanalytiker Klaus Jürgen Bruder und Jürgen Hardt aus. Bruder besteht nicht nur darauf, dass Sprachspiele einander nicht über- oder untergeordnet werden können (z. B. neurowissenschaftliches und psychotherapeutisch-hermeneutisches Sprachspiel), sondern dass hinter der Hegemonie des naturwissenschaftlich orientierten Diskurses mächtige gesellschaftliche Kräfte stehen, die an der Verdrängung der Frage nach dem Sinn auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene - interessiert sind. Es geht ihm um mehr als um ein unaufgeklärtes Verständnis von Wissenschaft. In anderer Weise thematisiert Hardt unter Rekurs auf Freud das psychoanalytische Thema des Aufdeckens und Rekonstruierens dessen, was hinter dem „Alltagsverstehen" liegt, um dieses erst transparent zu machen. Beide Referenten transzendieren damit den Bereich der Faktizität und szientifischer Logik. Das legt es nahe, den Beitrag von Morus Markard danebenzuhalten, der daran erinnert, dass alle Erfahrung auf der (theoretischen) Deutung, auf „Bedeutungen" „im Medium gesellschaftlicher Denkformen" beruht, ohne die wir uns empirische Sachverhalte und Handlungen nicht aneignen können. Damit ist aber auch gleich das Spannungsverhältnis von anschaulichen und nicht anschaulichen Aspekten von Erfahrbarem gegeben, die Unterscheidung von Sozialität und Gesellschaftlichkeit. Welche Dimensionen des Unanschaulichen, des Verdrängten, Ausgeblendeten muss eine Analyse umfassen, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden? Hilfreich kann hier der von großer Stringenz getragene Entwurf von Uwe Lauchen sein, der die „Varianten der Vergegenständlichung des Menschen", die verschiedenen „Sprachspiele", näherhin definiert und ihre wechselseitige Unableitbarkeit und Nicht-Reduzierbarkeit verdeutlicht: Physische, semantische und phänomenale Denkform sind strikt auseinanderzuhalten. Lauckens Beitrag geht u. a. der Frage nach, wie „transversale" Beziehungen zwischen den Denkformen (Sprachspielen) gedacht werden können. Wie sieht ihr Wechselverhältnis aus, das kein kausales sein kann? Und wie weit reichen die Strukturanalogien zwischen diesen Denkformen? - Themen, die (u. a.) seit Gregory Bateson die systemische Tradition begleiten. Die in der „phänomenalen Denkform" zu thematisierende phänomenale Welt ist „der Kosmos, in dem der Mensch erlebend-lebt" (U. Laucken), und dieser ist nar-

Hein, Vorwort

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rativ strukturiert. Damit ist eine weitere Ebene angesprochen, die sich der funktionalistischen Subsumtion verweigert. Der Philosoph Stephan Grätzel kommt in einem tiefschürfenden Beitrag mit Kierkegaard, Paul Ricoeur und Hannah Arendt zu dem Ergebnis, dass das Selbst immer ein narratives ist und nicht identitär bestimmt werden kann. Die Frage nach dem „Wer" ist zuletzt immer die Frage nach einer Geschichte, einer Handlung und einem Autor. Gleichsam als Illustration dazu lässt sich der Beitrag von Heiner Legewie lesen. Sein Beitrag veranschaulicht ebenso wie der von Thomas Schwinger die Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit, die dramatisch-szenenhafte Organisation menschlichen Lebens und Erlebens, aber eben auch dessen existenzielle Dimension. Das fuhrt unvermeidlich zu der Frage, wie sich diese Ebene in der psychotherapeutischen Praxis mit ihren institutionellen Regulativen wieder findet. Darauf gibt Norbert Bowe in ganz anderem, nämlich berufspolitischem Kontext eine kritische Antwort. An einem „einfachen" Fallbeispiel macht er klar, wie unangemessen eine eindimensionale symptombezogene Diagnostik und ihr Referenzsystem, die ICD 10, in nahezu jedem Einzelfall ist. Jede psychische Störung hat „systemische Zusammenhänge", m. a. W. eine persönliche Geschichte, die - soweit sie sich überhaupt systematisieren lässt - vieldimensional ausfällt. Dass dem so ist, musste sich auch in der - großenteils in anderer Absicht bemühten - Forschung niederschlagen. Konsequenterweise kommt Inge Frohburg in ihrem Beitrag zu dem Ergebnis, dass die Idee der störungsbezogenen Indikation von Therapieverfahren in der Wissenschaft keine Grundlage findet. Der Beitrag ist inzwischen im „Psychotherapeutenjournal" erschienen (2/2006, S. 130-139). Zum Verhältnis und zur Differenz von Wissenschaft und Profession äußern sich der Psychoanalytiker Michael Buchholz und der psychodramatisch orientierte Supervisor Ferdinand Buer - weithin übereinstimmend. Dieses Verhältnis kann nur ein sich wechselseitig informierendes sein (und das ist auch in hohem Maße wünschenswert), aber keines von Dominanz und Unterordnung. Beide Bereiche folgen ihren eigenen Logiken und ihren eigenen Interessen. Eine ganze Reihe der anderen Beiträge teilen diese Sicht, teils explizit, teils implizit. Keiner widerspricht ihr ausdrücklich. - Ein sehr anderes Bild als es die psychotherapiepolitische Landschaft in der Republik derzeit abgibt. Beispiele wissenschaftlicher Information für die Profession liefern die Beiträge von Klaus Fröhlich-Gildhoff und Gert-W. Speierer, beide der personenzentrierten Tradition verpflichtet. Beiden geht es um die Analyse von Therapieprozessen, bei Fröhlich-Gildhoff und Mitarbeitern bei Kindern und Jugendlichen, bei Speierer um ein Instrumentarium zur Prozessanalyse bei Erwachsenen. Beider Ergebnisse sind aufschlussreich und plausibel, laden aber auch zur Diskussion darüber ein, wieweit Forschung dem „Alltagsverstehen" (Hardt) verhaftet bleibt oder ob sie dieses überschreiten kann. Insofern die Beiträge von Fröhlich-Gildhoff und Speierer einen Einblick in die Denkweise personenzentrierter Psychotherapeuten liefern, gehört das Referat von Beate Steiner, eine Darstellung der Vorgehens- und Wirkweise der Katathym-Imaginativen Psychotherapie (KIP) an ihre Seite. Das auf Hanscarl Leuner zurückgehende Verfahren („Katathymes Bilderleben") hat sich mit der Therapie über das

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

imaginierte Bild und die imaginierte Szene einen besonderen Zugang und inzwischen auch ein breites Anwendungsspektrum gesichert. Christoph Schmidt-Lellek hat mit seinen aus der Ästhetik in den Bereich der Psychotherapie transponierten Kriterien zum psychotherapeutischen Kitsch u. a. einen Maßstab zur Bewertung von Heilsversprechungen in unserem Feld geliefert. Dem müssen sich alle stellen. Nicht nur fragwürdige Angebote aus dem Grenzbereich von Psychotherapie wären hier kritisch zu durchmustern, die meisten Hegemonieansprüche - woher sie auch kommen mögen - dürften sich an diesen Kriterien brechen. Nicht als thematische Klammer, aber als bewusst registrierte Unterströmung war die gesellschaftlich-politische Lage, in die Psychotherapie eingebunden ist, weithin ein Bezugspunkt des Symposiums. Fünf Wochen nach dem Symposium, am 20. April 2006, wurde im „Deutschen Ärzteblatt" über die Cosgrove-Studie berichtet. Danach waren über die Hälfte der Autoren des „Diagnostic Statistical Manual" (DSM IV) in Interessenkonflikte mit der Pharmaindustrie verwickelt. Es besteht der Verdacht, dass zumindest einige Autoren Diagnosen so definiert haben, dass sie genau zu den Indikationen bestimmter Psychopharmaka passen. Diese Meldung ging auch durch die überregionale Presse. Die wenige Jahre ältere in Deutschland verwendete „International Classification of Diseases" (ICD 10) der WHO ist in weiten Bereichen mit dem DSM IV strukturanalog und annähernd deckungsgleich. Der Skandal um das DSM IV wirft auch einen Schatten auf die ICD 10 als weithin akzeptiertes Referenzsystem („Bibel") der Psychotherapieforschung und -praxis. Kritische Nachfragen nach der Genese der ICD 10, möglichem Bezug zu Pharmainteressen und/oder einer möglicherweise problematischen Orientierung an pharmakologischen Indikationen sind aus der deutschen Psychotherapeutenschaft bisher nicht bekannt geworden. Nahezu hellsichtig nimmt sich da Klaus Jürgen Bruders „Psychotherapie im Diskurs der Macht" aus, der der Destruktivität einer gesellschaftlichen Entwicklung nachgeht, die die kritische Frage nach ihrer Rationalität und ihrem Sinn weitgehend zu unterbinden weiß. Gleichsam als Aufmunterung und Appell zum Widerstand lässt sich die Argumentation des Philosophen Friedrich Voßkühler lesen. Über eine ähnlich kritische Sicht auf die Gesellschaft, die u. a. durch den Verlust des „vollen Sprechens" (Lacan) gekennzeichnet ist, kommt er über die Aktualisierung des Hegel'sehen Verhältnisses von „Herr und Knecht" zur Forderung nach und Aufforderung zur „Subjektwerdung", zur ethischen „Souveränität" (Badiou), die ohne wirklichen „Bruch in der Ordnung" nicht zu haben ist. Neben vielem anderen bleibt die Anregung, die Fragen nach der Rolle des „Kontrafaktischen", des „Transzendierens des Alltagsverstehens", des „Unanschaulichen in der Erfahrung" und deren Beziehung zur bereits im Gange befindlichen Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Basisparadigmen (Synergetik vs. mechanistisches Naturverständnis) als Grundthemen der Psychotherapie in den Blick zu nehmen. Wer die kulturellen Auswirkungen der ökonomischen Krise nicht „verdrängen" will, wird sich dem kaum entziehen können. Jörg Hein

Begrüßungs- und Einführungsansprachen der Symposiumsleitung Sehr geehrter Herr Prof. Richter, sehr geehrter Herr von Boxberg, sehr geehrter Herr Broil, sehr geehrte Damen und Herren! Zusammengekommen sind wir hier als Psychotherapeuten, aber als solche, die wissen, dass sie nicht aus sich selbst heraus leben, sondern verflochten sind mit anderen, anderen Disziplinen und nicht zuletzt mit gesellschaftlichen Bewegungen. Wir halten uns für eine bedrohte Spezies. Dabei ist zunächst einmal offen, ob wir uns zu Recht für bedroht halten oder ob wir zu recht bedroht sind. Slavoj Zizek meint, dass nach dem „Ende der großen Erzählungen" allein die paranoide Projektion die Möglichkeit biete, eine Art globaler Situationsskizze zu entwerfen. Diese Gelegenheit könnten wir nutzen. Immerhin pflegt so manches Paranoid einen realen Kern zu enthalten, und dass wir in Opposition stehen zu mächtigen gesellschaftlichen Kräften und auch zu starken Strömungen in der eigenen Profession, lässt sich meiner Meinung nach nicht von der Hand weisen - auch wenn diese Sicht natürlich aus der paranoiden Binnenperspektive kommt. Und die Frage stellt sich natürlich: Wer ist eigentlich gemeint mit dem Wörtchen „wir"? Die Idee zu dieser Tagung ist in der Enge entstanden, nämlich in der Enge der konstituierenden Sitzung der Bundespsychotherapeutenkammer im Mai 2003 in Berlin. Sie ruhte daraufhin bis zum Oktober 2004 und wurde am Rande des 4. Deutschen Psychotherapeutentages zu später Stunde beim Trollinger wiedererweckt. Trotzig wollten wir ein „gnadenlos unausgewogenes" Symposium, um neuen Tritt zu fassen, ein Signal zu setzen, um aus dem Erlebnis anhaltender Niederlagen herauszukommen, das uns gerade an diesen - damaligen - Tagen nur zu deutlich vor Augen stand. Es blieb aber der Zweifel - der Zweifel, ob wir uns je politisch würden durchsetzen können, und der tiefer gehende Zweifel, ob wir uns nicht einfach überlebt haben, letztlich zum alten Eisen gehören und dies lediglich nicht einsehen wollen. Andere haben uns mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass dieser Zweifel nur zu berechtigt sei. Es geschehe doch vor aller Augen ein Aufbruch zu neuen Ufern, der zu den schönsten Hoffhungen berechtige. Wer ist nun „wir"? Das ist zunächst einmal die Gruppe, die diese Tagung vorbereitet hat. Und das ist - vielleicht - ein größerer Teil der Referenten, die bereit waren, sich für das Ansinnen einer solchen Tagung zu engagieren. Wir haben eine ganze Reihe - teils enthusiastischer - Zuschriften bekommen, die uns in unserem Vorhaben bestärkt haben. Ob sich am Ende eine gemeinsame Tendenz, eine gemeinsame Sicht herausstellt, wird sich zeigen. Dies ist keine Tagung wie andere. Hier gibt es keinen Markt der Möglichkeiten und - wie wir hoffen - auch keinen Jahrmarkt der Eitelkeiten. Sie wissen, dass wir uns nicht entlang einem Tagungsthema Referenten gesucht haben, als ob wir wüssten, wo „es langgeht" und dies nur noch mitzuteilen, zu vermitteln brauchten. Vielmehr haben wir Leute eingeladen, von denen wir meinen, dass sie etwas zu dem zu sagen haben, was auch uns beschäftigt und quält, in der Hoffnung, dass es

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

gedeihlich wäre, wenn sie miteinander diskutieren und Sie, die Teilnehmer, sich dabei kräftig einmischen. Seit den ersten Arbeiten Freuds ist der Gedanke überkommen, dass es einen Zusammenhang im menschlichen Fühlen, Denken und Erleben geben müsse, der wiederum eine, aus einer grundlegenden Haltung entspringende und darauf bezogene helfende, von einer Therapeuten-Person ausgehende therapeutische Antwort nach sich zu ziehen habe. - Diese Idee des Zusammenhangs von Person, Problem und mitmenschlicher Antwort soll nun aufgelöst werden. Nunmehr gehe es darum, Techniken aufzufinden, die der jeweiligen partikularen Störungen Herr werden könnten. Wer genügende und ausreichend wirksame dieser Techniken zu bieten habe, der solle den Meisterbrief bekommen. Damit wird ein subjektiver Sinnzusammenhang von Person, Problem und fachlich-mitmenschlicher Antwort zerstört. Der Versuch, kohärente psychotherapeutische Ansätze und Traditionen zu zerschlagen und aufzulösen, hat dieser Tage eine Aktualität gewonnen, von der wir - bei allem Pessimismus - im Mai 2003 noch nichts geahnt haben. Hier geht es um unser Selbstverständnis und die Zukunft, vielleicht sogar um das blanke Überleben der Traditionen, denen wir uns verpflichtet fühlen. An dieser Stelle ist vielleicht ein Hinweis am Platze, der nach meiner Kenntnis in der Diskussion sonst kaum Beachtung findet: Psychoanalyse, Gestalttherapie, Psychodrama und Körperpsychotherapie gehen auf jüdische Gründerpersönlichkeiten zurück: Freud, Perls, Moreno, Reich. Sie zeichnen sich - bei aller Unterschiedlichkeit - durch die Betonung des besonderen personalen Charakters der therapeutischen Beziehung aus und bewahren damit auch ein Stück jüdischer Tradition. Sie stehen in einem gewissen Gegensatz zu den mehr funktionalistischen Ansätzen aus der verhaltenstherapeutischen und systemisch-synergetischen Richtung. Die Gesprächspsychotherapie nimmt mit ihrer von Anbeginn starken akademischen und szientifisch-objektivierenden Orientierung sozusagen eine Mittelstellung ein und befindet sich - wohl kaum zufallig - seit Jahren auf der Schwelle zwischen Anerkennung und Nicht-Anerkennung. Die Betonung des Personalen, der spezifischen, methodisch reflektierten Beziehung, scheint für unsere Anerkennungsbürokratie besonders schwer zu akzeptieren zu sein. Ich unterstelle dabei, dass die Psychoanalyse - wenn sie sich heute um die Kassenanerkennung zu bemühen hätte - noch größere Schwierigkeiten bekäme, als sie die Gesprächspsychotherapie derzeit hat. Aber auch noch von einer anderen Seite her haben wir uns Fragen zu stellen und darauf spiele ich mit der Bemerkung an, dass wir uns vielleicht überlebt haben: Subjektivität als solche ist in die Diskussion geraten. Auf der einen Seite ist vom „Tod des Subjekts" die Rede, auf der anderen Seite finden in Nachrichtenmagazinen Diskussionen darüber statt, ob nicht die Neurowissenschaft die Vorstellung vom freien Willen, von der Souveränität der persönlichen Entscheidung etc. obsolet gemacht habe - und Klaus Grawe stellt Überlegungen an, in Zukunft bildgebende Verfahren zum Bestandteil der Psychodiagnostik zu machen. Die Frage ist mithin, ob dieser eine Zusammenhang von Person, Problem und therapeutischer Antwort, der Basis unserer Traditionen ist, noch so besteht bzw. wie notwendig es ist, Subjektivität neu zu denken.

Hein, Begrüßung

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Wer dieser Tage durch Hessen reist, wird große Plakate finden im Stil der überdimensionalen Comics von Roy Lichtenstein mit der Aufschrift: „Mit Hit-Radio FFH melden und 10 000 € gewinnen." Ich behandle einen elf- bis zwölfjährigen Jungen und hatte verschiedentlich Anlass, bei ihm zu Hause anzurufen. Die Mutter meldete sich regelmäßig mit „Hit-Radio FFH", um dann mit einigen verlegenen Bemerkungen ihre Identität zu signalisieren - ein Verhalten, das sie vielleicht mit Tausenden von Hessen teilt. Die Familie lebt in beengten materiellen Verhältnissen und hofft auf Entlastung durch einen Gewinn bei Radio FFH. Der Junge hat mir gestanden, dass er denke, er habe ein Ungeheuer in sich, das ihn bei Konflikten mit seinen Mitschülern überkomme und zu bedenklicher Aggressivität veranlasse. Sagt hier der Sonderfall etwas über den Normalfall aus? Woraus gewinnen wir unsere Identität? Handelt es sich womöglich noch am ehesten um eine Art medial induzierter Trance? Wir beschwören mit guten Gründen die Pluralität in der Psychotherapie und beziehen uns dabei auf eine pluralistische Gesellschaft. Aber können wir übersehen, dass gleichsam dahinter sich eine bedrückende Einheitlichkeit, eine Uniformität zeigt, eine Art pluralistischer Gleichschaltung, fur die eine emanzipatorische, herausführende Kritik vor allem noch zu formulieren wäre? Die Wandlungen, die Begriffe wie Menschenrechte, Demokratie und Freiheit und damit die gesamte Tradition des abendländischen Individualismus derzeit durchmachen, haben zu Recht viele alarmierte Reaktionen ausgelöst. „Business as usual" kann fur uns jedenfalls nicht mehr sehr lange weitergehen. In meinen Augen ist es offensichtlich, dass die Psychologie - ebenso wie die Psychotherapie - die philosophische Besinnung weitgehend von sich gewiesen hat, bzw. sie lediglich als methodologische Unterfutterung missbraucht. Aber umgekehrt hat es einen vergleichbaren Anschein: als ob sich die Philosophie zurückzuziehen gedenke von der Wirklichkeit, der Gesellschaft, der Politik, der Erfahrungswissenschaft - gleich dem bekannten „scheuen Reh" - und doch lieber den Elfenbeinturm bewohnen möchte. Ebenso klar scheint mir, dass damit keine Zukunft zu gewinnen ist. Die Paradigmen der Psychotherapie strahlen aus: auf soziale Arbeit, auf Bildung, auf Organisationsentwicklung, letztlich auf institutionelle Strukturen - und in der säkularen Gesellschaft auf das Selbstverständnis der Menschen insgesamt. Das Angebot dieser Tagung bietet viele Möglichkeiten, sich über diese und andere Themen die Köpfe heißzureden, und wir hoffen, dass Sie davon reichlich Gebrauch machen. Jörg Hein

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Mai 2003 hatten einige Kolleginnen und Kollegen am Rande der Gründungsveranstaltung der Bundespsychotherapeutenkammer - durchaus auch im Zusammenhang mit der ersten fachpolitischen Positionierung der Bundeskammer spontan die Idee zu diesem Symposium entwickelt. Ein Jahr später, mit etwas kühlerem Kopf, haben wir mit der Planung der heutigen Veranstaltung begonnen, mit der wir zu den absehbaren Entwicklungen in der Psychotherapie ein Gegengewicht bilden wollten. Uns wäre im Traum nicht eingefallen, dass diese auf die weitere Zukunft gerichtete Veranstaltung bereits in die heiße Phase der Entscheidung darüber fallt, ob der Psychotherapie ein Paradigmenwechsel ex cathedra verordnet wird. Richtiger wäre es wohl, statt von Paradigmenwechsel von dem Versuch zu sprechen, Psychotherapie auf ein Paradigma zu verkürzen, d.h. auf ein - im Übrigen wohl falsch verstandenes - naturwissenschaftliches Paradigma einzuengen und zu fixieren. „Die Psychologie hat zuerst die Seele und dann mit dem Bewusstsein auch den Verstand verloren", schrieb der Bochumer Ordinarius Prof. Heckhausen im Zusammenhang mit den von ihm gesehenen „Verwüstungen des Behaviorismus" 1976 in der Psychologischen Rundschau. Diese provokante, aber auch bitterböse Warnung eines international renommierten und dem naturwissenschaftlichen Denken nicht fernen Lehrers und Forschers hat an Aktualität nichts verloren. Denn aktuell sind wir mit den Initiativen und Plänen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) konfrontiert, die überstürzt wirken und nur als Versuch verstanden werden können, Psychotherapie in einer Art Nacht-und-Nebel-Aktion, jedenfalls ohne angemessene Einbeziehung der Profession, neu zu definieren. Danach soll Naturwissenschaft nun in Ausschließlichkeit auch in der Psychotherapie über den Menschen kommen. Und zwar in der Weise, dass der Mensch geteilt, zerlegt, nach Störungen, richtiger wohl nach Symptomen klassifiziert und aus seinen Sinnzusammenhängen und Perspektiven herausgelöst werden soll. „Störung" - damit wird die Vorstellung verbunden, das Symptom sei die Störung. Und diese „Störung" könne - dem Blinddarm gleich - aus dem Ganzen isoliert, also auch isoliert beseitigt werden. Ganz im Sinne unseres auf kurzfristigen Erfolg ausgerichteten kulturellen „Mainstreams" und des funktionalistischen Machbarkeitsverständnisses oder deutlicher - „Machbarkeitswahns" soll verstehende, das Individuum in seinen sozialpsychologischen Bezügen aufnehmende Psychotherapie keinen Platz mehr haben. Psychotherapie droht damit, zur Reparaturwerkstatt für gestörte Aggregate zu verkommen. Werden wir Psychotherapeuten demnächst zwar nicht sagen: „Da liegt der Blinddarm", aber vielleicht: „Jetzt kommt der Phobiker" oder: „Um 17.00 Uhr kommt die Essstörung"? Oder halten wir es für erforderlich, dem Menschen zu helfen, mit den auslösenden Bedingungen seiner Leiden in Kontakt zu treten?

Hentze, Begrüßung

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Die herausfordernde Frage ist: Wollen wir die so genannten Störungen - korrekt „Symptome" - behandeln, oder wollen wir den Menschen mit seinen Symptomen behandeln? Wer sich mit den „modernen" Anforderungen an die Evaluierung von Psychotherapie beschäftigt, sieht sich mit einem einheitswissenschaftlichen Dogmatismus konfrontiert, der mit Schlagworten wie „evidenzbasiert", „randomisierte Studien" und „störungbezogene Indikation" vorangetrieben werden soll. Diese Anforderungen entsprechen dem, was in der Organmedizin als „evidence-based medicine" bezeichnet wird. Dabei wird - vorsätzlich oder in Unkenntnis - mit einem Missverständnis hantiert: Natürlich muss sich Psychotherapie als Bestandteil der Gesundheitsversorgung in ihrem Nutzen und in ihrer Wirksamkeit beweisen. Aber einen „symptombezogenen Wirksamkeitsnachweis" anzuordnen, der mit Methoden von symptombezogen eingegrenzter Eignung gefuhrt wird, ist eine dem Seelischen nicht gerecht werdende gedankliche Übersprungshandlung. Man tut so, als sei „das Symptom" eine Entität, sozusagen ein abgrenzbares Ganzes. Das Gegenteil ist richtig: Im Symptom drückt der Mensch seine „Störung aus. Also: Das Symptom ist nicht die Störung, sondern es ist Ausdruck der Störung. Die dem zugrunde liegende funktionalistische Sichtweise des Menschen verkünstelt den „Untersuchungsgegenstand Mensch" so weit, dass er sich kaum noch als Bestandteil des menschlichen Lebens erkennen lässt; der Mensch wird als das in seine Funktionsstörungen aufteilbare Etwas betrachtet, das partiell repariert werden kann. Psychotherapie, die nachhaltig und ganzheitlich wirken soll, muss aber stets den ganzen Menschen in seinem Umfeld, in seiner Historie, in seiner Gegenwartssituation und in seinen Zukunftserwartungen, also in seinen Sinnzusammenhängen, berücksichtigen. Wurzel und Ausgangspunkt der aktuell zu beobachtenden Entwicklung sind die „Verfahrensgrundsätze" und „Anwendungsbereiche" des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie (WBP). Der WBP hatte sich bereits im Oktober 2002 an die Landesbehörden gewandt und gefordert, der Psychotherapeutenausbildung nicht mehr Psychotherapieverfahren, sondern einzelne Anwendungsbereiche zugrunde zu legen. Das ist zwar mit den gesetzlichen und untergesetzlichen Bestimmungen (§§ 1, 6 und 8 PsychThG) nicht vereinbar; vielmehr bedürfte es dazu der Novellierung des Gesetzes und der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung. Dennoch ist festzustellen, dass der WBP bis heute mit seiner Arbeitsweise, die Wissenschaftlichkeit an Anwendungsbereiche zu knüpfen, gerne in falscher Weise in Anspruch genommen wird. So behauptet der G-BA, es sei in der Wissenschaft unstrittig, dass Psychotherapieverfahren indikationsbezogen, d.h. diagnosebezogen, zu bewerten seien. Dabei beruft er sich auf „die psychotherapeutische Profession" und verwechselt dabei so gerne wie beliebig mal die Bundespsychotherapeutenkammer mit dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie, mal mit dem psychotherapeutischen Berufsrecht - nach dem Motto: „Wie es euch gefällt."

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Tatsächlich kann sich der G-BA fur sein Vorgehen weder auf die Profession noch auf die Wissenschaft, noch auf das Berufsrecht stützen: Die Profession, repräsentiert durch das Bundesparlament der Psychotherapeuten, hat auf dem 5. Deutschen Psychotherapeutentag im April 2005 die Pläne des G-BA zu einer symptombezogenen Verfahrensbewertung ausdrücklich zurückgewiesen. Und soweit der G-BA den WBP unzulässig mit der Profession gleichsetzt, ist den früheren WBP-Vorsitzenden, den Professoren Hoffmann und Margraf, zu danken, die wegen der falschen Übertragung des WBP-Begutachtungskonzeptes auf die sozialrechtliche Prüfung und Zulassung von Psychotherapieverfahren am 15. 1. 2006 eine Erklärung veröffentlicht haben, die appellartig endet: „Wir verbinden mit diesem Schreiben die Erwartung, das bei den Ministerien, Gesundheitsbehörden, Selbstverwaltungskörperschaften und Krankenkassen in Deutschland offensichtlich entstandene Missverständnis aufzulösen, der als Arbeitsinstrument dienende simplifizierte Katalog sei an sich ein geeignetes Instrument und werde als solches vom WBP empfohlen, um Psychotherapieverfahren in Teilbereiche aufzulösen und diese jeweils als wissenschaftlich zu bestätigen oder zu verwerfen."

Diese Klarstellung ist gegenüber dem G-BA durchaus noch rechtzeitig erfolgt, die aktuellen Vorgänge zeigen aber, dass der G-BA nicht bereit ist, sie zur Kenntnis zu nehmen, weil sie nicht in sein Konzept passen. Im Übrigen dokumentiert die Stellungnahme des WBP zur Psychotherapie-Evaluationsforschung und das darauf gründende „Förderprogramm Psychotherapie" des BMBF, dass erst von zukünftiger Forschung Ergebnisse erhofft werden können, die der Psychotherapiepraxis verlässliche Hinweise für störungs- und fallspezifische Therapieentscheidungen geben. Tatsächlich sind die Bemühungen um die Etablierung einer Einheitspsychotherapie mit dem Ideal, reparaturbedürftige menschliche Aggregate - statt den Menschen - zum Gegenstand der Psychotherapie zu machen, schon bedrohlich fortgeschritten. Das zeigt sich auch an dem aktuellen Bewertungsverfahren zur Gesprächspsychotherapie. An ihr soll schon mal die Probe auf s Exempel gemacht, an ihr soll der Paradigmenwechsel vollzogen werden. An die Stelle der Indikation „Psychotherapie", wie sie in dem PsychThG und in den geltenden Psychotherapierichtlinien vorgesehen ist, soll eine störungsspezifische - korrekt müsste es heißen: „symptomspezifische" - Indikation gesetzt werden. Diese Entwicklung sollte nicht unterschätzt werden; sie ist auch deshalb real bedrohlich, weil sie ihre Entsprechung in der gesundheitsökonomischen Logik der Krankenkassen findet. Die Propagierung einer solchen „Einheitspsychotherapie", an deren Endpunkt eine Manualisierung der Psychotherapie mit einer Qualitätssicherung nach DIN, ISO o.Ä. steht, findet dort Unterstützung, weil den Kassen die verführerische Fata-Morgana-Perspektive gewiesen wird, Psychotherapie lasse sich genormt und manualisiert anwenden und wie ein Medikament verordnen. Es geht hier also nicht mehr - oder nicht nur - um die Gesprächspsychotherapie. Es geht darum, ein psychotherapeutisches Einheitsparadigma durchzusetzen. Diese beabsichtigte Auflösung der Richtlinien-Psychotherapie sollte alle Psychothera-

Hentze, Begrüßung

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peuten hellwach machen, die sich dem Menschen in seiner Ganzheit verpflichtet wissen. Anders als in den meisten anderen Ländern hat die Gesprächspsychotherapie in Deutschland seit vielen Jahren einen schweren Stand. Die „unendliche Geschichte" der Gesprächspsychotherapie ist ein besonders deutliches Beispiel für das Beharrungsvermögen und die Innovationsfeindlichkeit des „Systems": Die Einbeziehung der Gesprächspsychotherapie in die vertragliche Versorgung wird seit der Psychiatrie-Enquete 1975 über den ersten Referentenentwurf zu einem Psychotherapeutengesetz 1978 und dem Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeuten-Gesetzes 1990 von Vertretern der Wissenschaft, der Politik und der Vertretungen der Psychotherapeuten gefordert. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat noch im Jahre 2004 gefordert, „noch in diesem Jahr die volle leistungsrechtliche Anerkennung der Gesprächspsychotherapie zu beschließen". Seit 1987 befasst sich der Bundesausschuss mit der Gesprächspsychotherapie. Schon 1991 hatte der damalige Arbeitsausschuss keine Zweifel mehr an der Eignung der Gesprächspsychotherapie für die Versichertenversorgung. Die Zulassung wurde und wird aber mit immer wieder neuen „Argumenten" - auf die hier einzugehen den Zeitrahmen sprengen würde - verzögert. Aktuell prüft der G-BA erneut seit vier Jahren und will jetzt nach abgeschlossener Bewertung schnell noch die rechtlichen Grundlagen für die Zulassung ändern! Das Ganze steht in auffalligem Widerspruch zur Etablierung der Gesprächspsychotherapie in der Versorgungswirklichkeit und zu ihrer Akzeptanz sowohl bei den Psychotherapeuten als auch bei den Versicherten. Einige exemplarische Hinweise sollen das belegen: Ausweislich der KBV-Statistik 1987 und der Psychotherapie-Versorgungsstudie der Universität Nürnberg für das gleiche Jahr war die Gesprächspsychotherapie mit 55% das am häufigsten angewendete Verfahren. Selbst im Rahmen des Delegationsverfahrens wurde die Gesprächspsychotherapie von 38% der Behandler eingesetzt. In der DDR war die Gesprächspsychotherapie von ca. 1970 bis zur Vereinigung zum wichtigsten Psychotherapieverfahren des staatlichen Gesundheitswesens geworden. Im Rahmen der TK-Regelung und der Empfehlungsvereinbarung des DPTV mit den Bundesverbänden der Innungskrankenkassen und der Betriebskrankenkassen war die Gesprächspsychotherapie über viele Jahre Bestandteil der vertraglichen Versichertenversorgung. Wenn die Gesprächspsychotherapie im Widerspruch zu dieser Realität dennoch blockiert wurde und wird, so mag das auch daran liegen, dass sie mit ihrer Betonung des mündigen Patienten, mit ihrer Hinwendung auf die Person und ihrer Konzentration auf die persönlichen Potenziale und Ressourcen - statt vordergründig auf das Symptom und seine Beseitigung - nicht so recht in eine „naturwissenschaftliche" Logik passen will, die das Funktionieren, die Effektivität, den schnellen und messbaren Erfolg und die Machbarkeit in den Vordergrund rückt.

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In unserem aktuellen Zusammenhang haben die sachlich und fachlich kaum noch nachvollziehbaren Widerstände gegen die Gesprächspsychotherapie aber vor allem die Funktion, ein Psychotherapieverfahren abzuwehren, das dem sinnverstehenden Psychotherapieparadigma verpflichtet ist. Die Zulassung der Gesprächspsychotherapie würde dem Ziel entgegenstehen, eine symptombezogene Einheitspsychotherapie zu etablieren. Psychotherapiepatienten können und dürfen aber nicht auf die Manifestation einer Störung reduziert werden. Der Mensch - nicht sein Symptom - muss im Mittelpunkt der Psychotherapie stehen. Patienten sind zuvörderst Menschen in ihren historischen und aktuellen Lebenszusammenhängen, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Zugangsweisen zur Welt. Mündige Patienten haben einen Anspruch darauf, ein entsprechendes psychotherapeutisches Angebot vorzufinden und wählen zu können, statt in ein eindimensionales Therapie-Korsett gezwängt zu werden, das ihnen ggf. nicht passt. Die symptombezogene Ausmessung von Verfahren ist ein Irrweg! Unsere Vertretung sollte sich daran nicht beteiligen. Und sie sollte das auch nicht für das Linsengericht von „Einflussnahme" hinnehmen, die vermeintlich auf dem Spiel steht Im Gegenteil hat sie in Verantwortung gegenüber den Patienten die Aufgabe, den Auftrag der Psychotherapie in unserer Kultur offensiv zu vertreten. Mit der symptombezogenen Ausmessung von Psychotherapie zur Feststellung ihrer symptombezogenen Eignung sind wir am Rubikon angelangt, den wir nicht überschreiten dürfen. Vermeiden wir des Zauberlehrlings Erfahrung: „Die Not ist groß, die ich rief, die Geister, werd ich nicht mehr los!" Karl Otto Hentze

Grußwort des Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer Lieber Herr Hein, liebes Veranstaltungskomitee, liebe präsidiale Kollegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von unseren Patienten erwarten wir mehr oder weniger explizit die Bereitschaft, über ihre Affekte, Wünsche und Einstellungen, ihre Beziehungen zu bedeutsamen anderen, ihre Beschwerden, über sich selbst nachzudenken. Wir erwarten von ihnen ein gewisses Maß an Selbstreflexivität und fragen sie etwa, warum sie so geworden sind, wie sie sind. Und was erwarten wir von uns selber - den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten? Wann denken wir einmal über unseren Berufsstand nach, darüber, warum wir als Angehörige dieses Berufes so geworden sind, wie wir sind? Wohl eher selten. Wir beschäftigen uns vornehmlich mit dem Erhalt und vielleicht der Verbesserung unserer ökonomischen und strukturellen Arbeitsbedingungen, mischen uns angesichts der tatsächlichen oder vermeintlichen Sachzwänge in die gesundheitspolitische Diskussion ein, veranstalten Workshops, Kongresse zur evidenzbasierten Psychotherapie, zu Gebührenordnungen und neuen Versorgungsformen, zum Vertragsarztrechtsänderungsgesetz, zur evidenzgestützten Indikationsbreite psychotherapeutischer Verfahren und ähnlichen, manchmal nicht nur sprachlich monströsen Themen. Schon die Ankündigung dieses Symposiums aber machte der aufmerksamen Psychotherapieszene klar, wie selten wir das, was wir von unseren Patienten erwarten, selber tun. Die Veranstalter haben uns einen Raum dafür geschaffen, die Referenten werden uns dazu anregen, über unsere psychotherapeutische Kultur nachzudenken. Wird uns das auch mit Unbehagen erfüllen? Insofern ist bereits der Kongresstitel Programm und Menetekel zugleich. Wer sich das Thema anzusprechen traut, mobilisiert Abwehr. Das haben einige Akteure dieser Veranstaltung bereits im Vorfeld erfahren. Kein Wunder, denn das „Unbehagen in der Kultur" verweist ja ausdrücklich auf den von Sigmund Freud beschriebenen kulturschaffenden - Konflikt zwischen zerstörenden und erhaltenden, bindenden Kräften. Um nichts weniger wird es bei diesem Kongress gehen: Die Frage nach der psychotherapeutischen Kultur führt unweigerlich zu dem Konflikt zwischen den die Psychotherapie zerstörenden und erhaltenden Kräften. Und dieser ist unbehaglich. Ich nehme an, dass die Frage, ob die erhaltenden Kräfte - ich denke hier durchaus auch an die Psychotherapierichtlinien - vielleicht die zugleich zerstörenden sein können, der rote Faden der Veranstaltung sein wird, und wünsche uns hierzu lebhafte und auch kontroverse Diskussionen. Die Erkenntnis, dass die erhaltenden Kräfte die Psychotherapie - nicht als leitliniengestütze, manualisierte Behandlungstechnik, sondern als sinnstiftende, korrigierende Beziehungserfahrung, als Heilkunst verstanden - , wenn also die erhaltenden Kräfte eben diese Psychotherapie zerstören und wenn es möglicherweise gerade die vermeintlich zerstörenden Kräfte sind, die diese Psychotherapie bewahren, dann wird wahrlich das Unbehagen erlebbar.

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Das Unbehagen in der Kultur erwächst, so Freud, aus sublimierter Aggression. Damit Kultur geschaffen wird, muss Aggression zurückgehalten, gebändigt werden. Der Schritt von der Bändigung, Hemmung, Sublimierung zur Wendung gegen sich selbst und damit zur Depression ist nicht groß. Und in der Tat ist Unbehagen auch mit einer eher unbehaglichen Stimmung verbunden, weil, wie der Soziologe Hans-Joachim Busch es beschreibt, die „friedliche, technisch-industrielle Entwicklung uns zugleich mit unseren umweltzerstörerischen und selbstdestruktiven Wirken konfrontiert". Bei genauerer Analyse - auf die ich hier nicht eingehen kann - wird jedoch deutlich, dass es sich nicht um die Depression im engeren psychopathologischen Sinne, sondern um ein Lebensgefühl handeln könnte, das uns aus der Kulturgeschichte des Abendlandes sehr vertraut ist und das wir gerade wiederzuentdecken beginnen: die Melancholie. Melancholie, verstanden als nicht klinisches, vor- oder außerpathologisches Lebensgefuhl, das gekennzeichnet ist durch verantwortliche, selbstreflektorische, gedrückte Nachdenklichkeit, Handlungshemmung, Tatenlosigkeit, Resignation, Stillstand in Muße, weitgehend frei von heftigen Affekten, von aggressiven Impulsen ebenso wie von sexuellem Begehren, dafür die Sehnsucht nach Sinnzusammenhängen, den Wunsch nach Sinnstiftung in den Vordergrund stellend. Ist es nicht genau diese unbehagliche Haltung - nennen wir sie die melancholische Haltung -, von der im Übrigen bekannt ist, dass sie sehr eng mit Kreativität verknüpft, wenn nicht deren Voraussetzung ist, die die Heilung in der therapeutischen Beziehung fordert? Der Melancholiker - ebenso wie der Psychotherapeut - hält an einer vagen Vorstellung des Glückes fest, trotz der „Trümmerlandschaft" seiner Patienten, deren er ansichtig wird. Der Melancholiker versucht sich, so Busch, an der Milderung und Minderung von „gemeinsamem Unglück", was Handlungsfähigkeit wie Bindungsfähigkeit erfordert. Vielleicht wird Ihnen unbehaglich bei diesem Gedanken - der Therapeut als Melancholiker. Aber ist es nicht genau dieser Konflikt zwischen bewahrenden und zerstörenden Kräften, dem wir in diesen Zeiten in besonderer Weise ausgesetzt sind, den es auszuhalten und zu bearbeiten gilt, aus dem sich dann aber auch eine psychotherapeutische - Kultur entwickeln kann? Wenn dies so ist, dann wünsche ich uns allen, dass es uns gelingen möge, dieses Unbehagen zu erleben und zu ertragen, auf dieser Tagung, in unserer täglichen Arbeit - und danke den Veranstaltern für den Mut, dieses zum Thema gemacht zu haben. Prof. Dr. Rainer Richter

Grußwort für den Vorstand der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen Sehr geehrter Herr Hentze, sehr geehrter Herr Richter, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer in Nordrhein-Westfalen habe ich die Freude und auch ein besonderes Vergnügen, Ihnen die Grüße der Präsidentin Frau Monika Konitzer für anregende Vorträge und Diskussionen und insgesamt ein gutes Gelingen Ihrer Tagung zu überbringen. Erlauben Sie mir, einige persönliche Anmerkungen hinzuzufügen: Es bleibt aufzuklären: das besondere Vergnügen. Es besteht darin, dass Sie in Ihrem Tagungsthema beziehungsreich anknüpfen wollen an Sigmund Freuds Schrift von 1929: „Das Unbehagen in der Kultur" (und beachten Sie bitte das unscheinbare Wörtchen „in", denn es heißt eben nicht: „Das Unbehagen an der Kultur"). Der 150. Geburtstag von Freud wiederholt sich in knapp zwei Monaten und wird zum Anlass genommen, weltweit und unter besonderen Vorzeichen in vielen Städten in Deutschland an die Wirkungsweise unbewusster Kräfte zu erinnern, wodurch implizite Konflikte in der Psyche entstehen und deshalb das psychodynamische Kräftespiel zum Gegenstand der Erforschung der Psyche wird. Wie sie sicher wissen, sind Festtagsredner in den Fehlleistungen der Wirkung des Unbewussten zuweilen besonders ausgesetzt: Ich brauche Ihnen nicht zu zitieren den Vereinspräsidenten, der zur Eröffnung der Sitzung die Versammlung für geschlossen erklärt. Ich muss mich also weiterhin vorsehen. Zunächst nahm ich an, dass der erste Satz aus dem „Unbehagen" Ihrer Tagungsintention ziemlich nahekommt. Ich zitiere: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen..

Aber dann las ich weiter: „...Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen. Und doch ist man bei jedem solchen allgemeinen Urteil in Gefahr, an die Buntheit der Menschenwelt und ihres seelischen Lebens zu vergessen."

Es macht den Eindruck, als seien beide Sätze ungemein passend zur Beschreibung des gegenwärtigen gesellschaftlichen und speziell auch des gesundheitspolitischen Diskurses. Sie zeigen das zuweilen äußerst konfliktreiche Spannungsfeld, die Paradoxie auf, in der wir auch heute als Psychotherapeuten tätig sind. Freud zeigte im „Unbehagen" die untrennbare Verflechtung - nicht Dichotomie -oder besser gesagt die nicht zu lösende Paradoxie auf, die zwischen Kultur und Trieb besteht. Die Paradoxie liegt darin, dass jegliche Kulturleistung ein Unbehagen unabdingbar voraussetzt. Psychotherapie, als unter anderem auch kulturschaffende Tätigkeit verstanden, baut auf dem Unbehagen (dem Leidensdruck) immer schon auf. Das

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Unbehagen zeichnet den Kulturmenschen aus; aus dem Unbehagen heraus schafft er Kultur immer wieder neu. Die Verknüpfung beruflicher Identität mit Professionalität und mit Zufriedenheit im eigenen Tun als Kulturleistung ergibt sich daher wohl eher aus dem zweiten Teil des Zitats: mit dem Schwerpunkt der Erforschung der „Buntheit der Menschenwelt", auch wenn in den gegenwärtigen Zeitläuften dazu „die Stimme des Intellekts" droht, leiser zu werden, und wie man auch meinen könnte, seltener Gehör findet. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen für die beiden Tage ein Höchstmaß an Unbehagen und damit erfrischenden Mut und streitbaren Gedankenaustausch zu originärer Kulturleistung. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Ferdinand von Boxberg

I Eröffnungsvortrag

Die Notwendigkeit der Sinn-Perspektive in Psychologie und Psychotherapie Jürgen Kriz Vorbemerkung: Von der Dämonisierung zur Schmiedung von Allianzen Ich komme gerade von einem Kongress in Osnabrück (den ich mit vorbereitet und gestaltet habe). Unter dem Titel „Von der Dämonisierung zum Dialog" stand dabei ein Konzept des israelischen Klinikers Haim Omer im Zentrum, das nicht nur für Krisensituationen in gewalteskalierenden Familien eingesetzt wird (zunehmend auch in Deutschland), sondern auch wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Räumung der jüdischen Siedlungen kürzlich ohne die prognostizierten Todesfalle möglich war. Diese Idee der Entdämonisierung halte ich auch für unser Symposium für wichtig (vgl. Omer & v. Schlippe 2002, 2004). Denn es geht nicht gegen „naturwissenschaftliche" (und schon gar nicht: wissenschaftliche) Konzepte: Wie ich noch zeigen werde, finden wir bei Naturwissenschaftlern leichter Verständnis und Unterstützung für unsere Anliegen als bei manchem Psychologie-, Psychotherapie- oder Kassenfunktionär, nicht gegen Richtungen, wie beispielsweise die VT: Auch hier bestätigt eine kürzlich durchgeführte, umfassende und repräsentative Befragung der deutschen PP und KJP die Erfahrung, dass z.B. nur 16% der mit VT zugelassenen Therapeuten angeben, ihre Arbeit nur auf das zu beschränken, wofür sie die Zulassung erworben haben, aber 84% „eklektisch" oder „integrativ" arbeiten. Auch hier sind somit sehr viele VTler weit kompetenter im Sinne von integrativen Konzepten und somit auch unseren Anliegen weit aufgeschlossener als manche Hardliner-Funktionäre, die meinen, „der VT" durch Ausgrenzungspolitik und Diffamierungen Bärendienste erweisen zu sollen, nicht gegen „Krankenkassen" - die ja im Wesentlichen aus zahlenden Mitgliedern bestehen und die genauso darunter zu leiden haben, dass in der BRD viele effiziente und jahrzehntelang bewährte Therapieverfahren seit 1999 ausgegrenzt und marginalisiert werden - auch wenn einzelne einflussreiche Funktionäre meinen, „ihr Geld" nach ihren lobbyistisch beeinflussten Vorstellungen „verteilen" und kanalisieren zu sollen, sondern darum, Allianzen mit all diesen vielen Menschen und Kräften herzustellen, die ebenso wie die Symposium-Teilnehmer ein starkes „Unbehagen" in der Psychotherapiekultur spüren und unter den Folgen zu leiden haben (oder zumindest das Leiden an den Folgen bei vielen Betroffenen in der BRD wahrnehmen können). Es geht also nicht darum, zu glauben oder gar zu fordern, dass z.B. Naturwissenschaftler, „VTler" oder Krankenkassenmitglieder etwa die Perspektive sinnverstehender humanistischer Psychotherapien vertreten. Vielmehr geht es darum, dass diese die Notwendigkeit (auch) einer solchen Perspektive in der Psychotherapie - und der Gesellschaft insgesamt - noch besser verstehen und erkennen, dass die weitere Ausgrenzung zum Schaden fast aller ist. Als Partner für solche Allian-

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zen kommen somit praktisch alle redlichen und über ihre eigenen Grundlagen reflektierenden Wissenschaftler (auch und gerade Naturwissenschaftler), Psychotherapeuten (auch „VTler"!) oder Krankenkassenmitglieder in Frage - und dem würden sich dann auch Politiker deutlich sichtbarer und in größerer Zahl als derzeit anschließen. Facetten des Unbehagens Angesichts der Komplexität gesellschaftlicher und subgesellschaftlicher Prozesse, in die wir alle eingebettet sind, ist nicht für jeden, den es anginge, „das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur" wahrnehmbar und bewusst. Daher sollen anfangs zumindest wenige zentrale Facetten ins Bewusstsein gerufen werden, welche den Notstand unter einer zunehmenden einseitig reduktionistischen Sichtweise belegen und die Notwendigkeit der sinnverstehenden humanistischen Psychotherapien deutlich machen. Zerstörung einer ehemals blühenden Therapielandschaft Wenn sieben Jahre nach Inkrafttreten des PsychThG aus einer ehemals blühenden Psychotherapielandschaft (mit etwas „Unkraut" - vermutlich aber nicht mehr als in den somatischen Bereichen des Gesundheitssystems) fast alle Verfahren ambulant in die Illegalität abgedrängt wurden und sich die Gesundheitsbürokraten als Bollwerk gegen Pluralität in der Ausbildung, in Therapie und Forschung erweisen, muss dieser Zustand jedem Verantwortlichen skandalös erscheinen. Viele Patienten können eine für sie wirklich angemessene Therapie nur bekommen, (a) wenn sie in eine Klinik gehen (mit enormen unnötigen Kosten für die Sozialgemeinschaft) oder (b) zum weitverbreiteten „Abrechnungsbetrug" beitragen (zu dem viele Therapeuten in der BRD gezwungen sind, wenn sie ihre erworbenen Kompetenzen den Patienten nicht vorenthalten und auf die Schmalspurvorstellungen der Gesundheitsbürokraten reduzieren wollen) oder (c) ins Ausland gehen. De facto wird durch einen bürokratischen Rückfall in die Abschottung einzelner Richtlinienverfahren sowie die Abdrängung in die Illegalität eine passungsgerechte, integrative Psychotherapie und eine qualifizierte Ausbildung in Nicht-Richtlinienverfahren verhindert. Da sich Therapeuten aber in ihrem Weiterentwicklungspotential nicht beliebig beschneiden lassen und passungsgerechtes Vorgehen den Patienten nicht beliebig vorenthalten werden kann, arbeitet - wie eine repräsentative Umfrage zeigte - die ganz überwiegende Mehrheit realer Therapeuten de facto integrativ, d.h., sie verwenden Konzepte und Vorgehensweisen, die (in der BRD) zunehmend weniger oder gar nicht gelehrt oder weiter erforscht werden dürfen. Damit aber sorgen WBP und G-BA letztlich für Dilettantismus, Illegalität, Behinderung von Forschung und eine suboptimale Ausbildung. Welche Motive auch immer dahinterstehen: Sie sollten nicht mit „Wissenschaftlichkeit" verbrämt werden oder mit der Berufung auf „Nutzen", „Zweckmäßigkeit" bzw. „Notwendigkeit" und „Wirtschaftlichkeit". Bei allem Verständnis für das Bemühen um Einheitlichkeit der Kriterien auf dem Gesundheitssektor: Der Unterschied zwischen der Applikation von Pharmaerzeugnissen und einer Psychotherapie sollte auch bürokratisch ausgerichteten Gre-

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mien einleuchten. So angemessen auch ein Auto-TÜV ist und so groß das Interesse (vermutlich besonders der Autoindustrie) sein mag, die Zulassungsregeln einheitlich zu gestalten: Es wäre überaus unredlich, zu behaupten, man würde ja gern Pferde und die Reiterei zulassen (zumal vielleicht nicht alle nur Asphaltstraßen benutzen wollen ...), und gleichzeitig zu fordern, dass aber „im Interesse der Menschen" die Pferde zuerst durch den TÜV überprüft werden müssten, wobei vor allem sicherzustellen sei, dass der Benzineinfullstutzen und die Handbremse ordnungsgemäß eingebaut wären. Kurz, nicht jede Frage lässt sich auf die methodisch gleiche Vorgehensweise sinnvoll beantworten. Das Beharren auf einer inadäquaten Methodik ist kein Kennzeichen von „Wissenschaftlichkeit". Missachtung der Pluralität von Werten in unserer Gesellschaft Unsere modernen pluralistischen Gesellschaften zeichnen sich durch eine Vielfalt an Lebensgeschichten, Gewohnheiten, Vorlieben, Werten und Lebenszielen aus. Diese Vielfalt der Perspektiven wird üblicherweise nicht als ein Nachteil gesehen, den man auf einem noch mangelhaften Stand wissenschaftlicher Forschung in Kauf nehmen müsse, der aber möglichst bald in Richtung auf eine „wissenschaftlich begründete" Grundorientierung zu überwinden sei. Vielmehr besteht weitgehend Konsens darin, dass eine Gesellschaftsform, in der die eben skizzierte Vielfalt der Lebensweisen und „Weltzugänge" ideologisch gleichgeschaltet wäre, keineswegs anzustreben sei, sondern dahin gehende Tendenzen eher zu bekämpfen wären. Die beträchtlichen Unterschiede in den impliziten und expliziten Antworten auf die Frage: „Wie wollen wir leben?", werden daher in demokratischen Gesellschaften nicht als Bedrohung oder unerwünschte Abweichungen vom Durchschnitt begriffen (sofern sie mit den Grundkonsensen der Gesellschaft nicht in Widerspruch stehen), sondern als positive Leistung einer Kultur und damit als etwas Erhaltenswertes oder gar Förderungswürdiges. Ich vermag daher in der Heterogenität psychotherapeutischer Ansätze prinzipiell nichts Verwerfliches zu sehen, da sie nur eine Widerspiegelung der Heterogenität von Lebensweisen sowohl seitens der Behandler als auch seitens der Behandelten darstellt. Es gibt sehr viel mehr seriöse, professionell durchgeführte, effektive und in der Versorgung erprobte psychotherapeutische Vorgehensweisen, als WBP und G-BA in der BRD zulassen. Natürlich ist es letztlich „Konfession", sich vorzugsweise für physikalische, biochemische, molekularbiologische oder andere naturwissenschaftlich beschreibbare Abläufe zu interessieren. Das hat wenig mit „Profession", „Effektivität" oder „Wissenschaftlichkeit" zu tun. Die Konfession, sich vorzugsweise für Verhaltens- und/oder Lernkontingenzen zu interessieren oder aber für Sinndeutungen des Lebens, sagt ebenso wenig über Professionalität, Effektivität oder Wissenschaftlichkeit aus: Den jeweiligen Interessen kann man sowohl höchst dilettantisch oder gar unseriös als auch sehr professionell nachgehen. Hier eine bipolare Beziehung zwischen Konfession und Profession, zwischen Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit konstruieren zu wollen, mag zwar eine gewisse Suggestivkraft entfalten, kann aber letztlich nicht überzeugen (vgl. Kriz 2004a).

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Missachtung der Weisheit des „Dodo-Bird" Fragen der Lebensart stehen auch im Zentrum jener Metapher, die meist falschlich verwendet wird, um aus der Vielfalt mit Hilfe eines künstlich inszenierten Konkurrenzkampfes doch noch eine Monokultur zu machen. Verwiesen wird auf einen Wettlauf, der Lewis Carolls (1963) „Alice im Wunderland" entstammt, und bei dem etwa ein Dutzend Tiere beteiligt sind. Zitiert wird in der Diskussion dabei meist die Entscheidung des „Dodo-Bird" (dt.: Brachvogel), mit der dieser die Frage: „Aber wer ist Sieger?", entscheidet, nämlich: „Alle sind Sieger, und jeder muss einen Preis bekommen." (Vgl. Luborsky et al. 1975). Gebraucht wird diese Metapher häufig dafür, die Absurdität der Aussage: „Alle sind Sieger", in Bezug auf die Therapierichtungen zu demonstrieren. Schließlich leuchtet es in unserer auf Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft sofort jedem ein, dass keineswegs alle Sieger sein können. Zumal wenn dann die auch bei Caroll unmittelbar folgende Frage in den Fokus gerät: ,„Aber wer soll die Preise stiften?' rief ein ganzer Stimmenchor zurück." Spätestens hier wird deutlich, dass es bei begrenzten Preisen (bzw. Krankenkassenbudgets) eben darum zu gehen hat, dass manche einen Preis erhalten und andere nicht. Die Aussage des Dodo darf daher nicht hingenommen, sondern muss als Mangel wissenschaftlicher Differenzierungsfahigkeit gedeutet werden. Ohnedies erscheint die gesamte Organisation des Wettlaufs geradezu als ein Alptraum an Inkompetenz für jede an objektiven Kriterien und Standards orientierte „wissenschaftliche" Psychotherapieforschung. So heißt es im Text: „Er legte zuerst die Rennbahn fest, eine Art Kreis (,auf die genaue Form kommt es nicht an' sagte er), und die Mitspieler mussten sich irgendwo auf der Bahn aufstellen, wie es sich gerade traf. Es gab kein ,Eins-zwei-drei-los!', sondern jeder begann zu laufen, wann er wollte ..." (Caroll 1963, S. 29). Hier scheint genau jener Dilettantismus zu herrschen, den nur präzise Effektivitätsmaße und genaue Vermessungen (z.B. der Rennbahn) eindämmen können. Doch der Schein trügt. Verglichen mit manchen „wissenschaftlichen" Abhandlungen zur komparativen Wirksamkeit ist das Vorgehen des „Dodo-Bird" von tiefer Weisheit erfüllt. Der Kontext des Rennens ist nämlich der, dass die Tiere in einen Teich gefallen und tropfhass und verdrossen waren: „Das Wichtigste war natürlich, wieder trocken zu werden", heißt es bei Caroll. Angesichts dieses Kontextes steht das Rennen plötzlich in völlig anderem Licht: Es ist nun wirklich egal, wie genau die Form einer Kreisbahn erreicht wird; gleichgültig ist auch, von wo die Tiere losrennen und wer wann durch welches Ziel geht. Wichtig ist es vielmehr, das gemeinsame Ziel zu erreichen: nämlich trocken zu werden. Und da kein Tier mit „wissenschaftlichen", aber völlig irrelevanten Kriterien über Bahnform, exakte Zeit- und Wegmessung und dergleichen das Geschehen behinderte (was vermutlich die Erkrankung etlicher Tiere zur Folge gehabt hätte), erreichten alle dieses Ziel, jeder hatte gewonnen und daher durchaus auch einen Preis verdient! Mich hat immer schon gewundert (vgl. Kriz 2000a), warum die Weisheit des „Dodo-Bird" in der Psychotherapiedebatte so geflissentlich übersehen wird (wobei die Frage außer Acht bleiben soll, ob zumindest die Kontexte der Psycho-

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therapieverfahren sorgfältiger rezipiert wurden als der Kontext des Rennens). Sind die unterschiedlichen Psychotherapieansätze nicht eher mit den unterschiedlichen Tieren von „Alice im Wunderland" vergleichbar als mit Formel-1-Wagen, bei deren Rennen ein Sieger hinreichend objektiv ermittelt werden kann? Wie Carolls Tiere weisen auch die Therapierichtungen eine große individuelle Unterschiedlichkeit auf, und sie sind, wie diese, historisch zu sehr verschiedenen Zeitpunkten und von recht unterschiedlichen Standpunkten aus gestartet. Im Gegensatz zu Formel-1-Wagen lag der tiefere Sinn ihres Entstehens und ihrer Weiterentwicklung nicht darin, als Sieger aus irgendeinem Rennen hervorzugehen. Vielmehr ging es darum, der Vielfalt menschlichen Lebens und dessen Beeinträchtigungen besser gerecht zu werden, als jede einzelne Richtung es könnte. Und das gemeinsame Ziel der unterschiedlichen Menschen, die zu Therapeuten aus unterschiedlichen Therapierichtungen gehen, ist es, „trocken" zu werden, d.h. eine ihren spezifischen Lebensvorstellungen und -umständen entsprechende Weise zu finden, mit der sie weniger leidvoll diese je unterschiedlichen Lebenswege meistern können. Es gibt derzeit keine rational wissenschaftlich begründete Möglichkeit, die Unternehmung des „Dodo-Birds" in einen Wettlauf umzudefinieren, damit sich möglichst wenige Tiere die Preise teilen und die anderen in ihrer Eigenart und Funktion als wertlos und überflüssig deklarieren können. Es gibt insbesondere keine wissenschaftliche Basis, um eine einzige Ziellinie festzulegen, die alle Tiere zu passieren haben. Solange keine monoklonen Behandler an monoklonen Störungsträgern in reiner Form Manuale vollstrecken, sondern unsere gesellschaftliche Pluralität sich auch in der Heterogenität unterschiedlicher Menschenbilder mit unterschiedlichen Lebensweisen und -zielen ausdrückt, solange wird Bedarf an unterschiedlichen Therapierichtungen sein. Missachtung bzw. selektive Ignoranz von Ergebnissen der Psychotherapieforschung Es gehört heute zum Minimalstandard einer angemessen komplexen Diskussion, zumindest das Problem der „Passung" nach dem allgemeinen Modell von Psychotherapie (AMP) nach Orlinsky & Howard (1987) zu beachten. Dieses angesichts der Komplexität in der Praxis immer noch recht einfache kategoriale Modell berücksichtigt zumindest folgende Passungen: die Passung Behandlungsmodell und Störungsmodell, die Passung Patient und Behandlungsmodell, die Passung Therapeut und Patient, die Passung Therapeut und Störung des Patienten. Sowohl die bisherigen Kriterien des WBP als auch - verschärft - die des G-BA sind faktisch ausschließlich auf den ersten Aspekt ausgerichtet. Und dies noch reduziert auf eine bestimmte Methodik, die nicht einmal unter dieser einseitigen Sichtweise notwendig beschränkt sein müsste (vgl. Kriz 2005). So sollte es nachdenklich stimmen, wenn selbst namhafte Vertreter der EbM, wie z.B. Norbert Schmacke (2006), sich für eine Berücksichtigung qualitativer Methoden einsetzen, die beim WBP und G-BA ausgeblendet werden.

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Mindestens ebenso bedenklich ist aber die weitgehende Ignorierung zumindest der anderen drei Aspekte im o.a. Modell - auch von jenen, welche die allgemeine Akzeptanz des AMP im Munde fuhren. Dies ist besonders deshalb bedeutsam, weil klinische Erfahrungen und empirische Effektivitätsstudien belegen, dass Psychotherapie - in m.E. erschreckendem Ausmaß - nicht zum gewünschten Erfolg führt: Von der Grawe-Studie (Grawe u.a. 1994) bis zu aktuellen Ergebnissen zeigt sich, dass zwischen 30% (Brockmann u.a. 2002) und 45% (Maschke und Otto 2003) aller Patienten in ambulanter Psychotherapie eine oder mehrere psychotherapeutische Behandlungen in der Vorgeschichte hatten und dann den Therapeuten und/ oder das Therapieverfahren wechseln. Es gibt somit einen erschreckenden Anteil von - zumindest partiell und vorübergehend - „Fehlindizierten". Dieser Anteil ist zwar nicht so hoch wie bei der Behandlung durch Medikamente, wo wohl der allergrößte Teil der Patienten im Laufe ihres Lebens für ihre spezielle Krankheit nicht hilfreiche und nicht nützliche Pharmaprodukte bekommen hat (ganz zu schweigen von den Milliarden für Medikamente, die gar nicht erst genommen werden, sondern gleich in Müll und Toilette verschwinden - Beträge nebenbei, die vermutlich die Ausgaben für die gesamte Psychotherapie weit überschreiten). Er ist aber fraglos zu hoch. Auch wenn erfahrungsgemäß der allergrößte Teil auch dieser Patienten letztlich in einer für sie effektiven Therapie landen (notfalls auch im Ausland, als Selbstzahler oder unter anderen Umgehungen der bundesdeutschen Beschränkungen), werden hier unnötig Kosten angehäuft - zusätzlich zu den jahrelangen Irrwegen durch medizinische Praxen und medikamentöse Fehlbehandlungen, die nicht selten vor einer solchen effektiven Psychotherapie liegen. Es ist davon auszugehen, dass bei einem erheblichen Anteil dieser „Fehlindizierten" zumindest zunächst die „Passung" nicht stimmte und eine bessere Berücksichtung nicht nur erhebliche Kosten, sondern auch Leid infolge von inadäquater Behandlung sparen würde. Ebenso ist allerdings davon auszugehen, dass die Vielfältigkeit der Lebensgeschichten, Werte, Ziele, Bedürfhisse etc. in einer pluralistischen Gesellschaft wie der BRD schwerlich „passend" durch ausschließlich drei Richtlinienverfahren abgedeckt werden kann. Die Erfahrungen in anderen europäischen Ländern (wo ja die deutschen Behandlungsverbote gottlob nicht greifen), zeigen jedenfalls, dass es eine erhebliche Anzahl von Menschen gibt, die andere zu ihnen passende Psychotherapiemethoden wählen, als es in der BRD möglich ist.1 Missachtung von Wissenschaftstheorie und -ethik Nach gängigem Verständnis besteht eine der wichtigsten Aufgaben von Wissenschaft darin, Denk- und Handlungsräume von Menschen zu erweitern. Dazu ist es dienlich, möglichst umfangreiche Erkenntnisse über die Welt zu sammeln - oder auch aktiv zu generieren - und in Verstehenszusammenhänge einzubetten. Wesentlich für ein wissenschaftliches Vorgehen ist dabei, Alternativen in Fragestellung und Herangehensweisen nicht zu vermeiden, sondern diese in offensiver Weise möglichst zu erweitern und (dann!) kritisch zu diskutieren. Dazu gehört auch, dass die eigenen stillschweigenden Vorannahmen und damit die methodologischen und 1 Ohne dass damit das Problem der Fehlindikation bereits von Tisch wäre. Aber auch dazu müsste man zunächst einmal die Grenzen und Beschränkungen durch übermäßiges Schulendenken und „Richtlinienverfahren" überwinden, damit dies überhaupt besser erforscht werden kann.

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methodischen Voraussetzungen reflektiert und diskutiert werden. Wissenschaft sollte sich als Anwalt für eine Pluralität vieler unterschiedlicher Perspektiven verstehen, zumindest ideologischen Verengungen trotzen und einen möglichst großen Teil der „Welt" durch eine Vielzahl an Fragestellungen sowie Methoden zu deren Untersuchung für die Allgemeinheit erschließen. Es geht also gerade nicht primär darum, auf der Basis unreflektierter, scheinbarer Selbstverständlichkeiten oder sog. Standards als eine Art „Wahrheitspolizei" aufzutreten, wie sich der Präsident der APA, Martin Seligman, vor einigen Jahren im Hinblick auf die rigide Anwendung von RCT-Standards ausdrückte. Dies würde letztlich zu einer „fröhlichen Glaubensgemeinschaft" führen, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht mehr reflektiert und sich gegen Kritik von außen abschottet (vgl. Kriz 2003). Solche eher globalen Standards für Wissenschaft sind unter Wissenschaftstheoretikern seit Langem weitgehend unumstritten. Und im Allgemeinen wird die aufklärerische Vielfalt an Perspektiven und Zugangsweisen als ein Fortschritt gegenüber den dogmatischen und ideologischen Beschränkungen des Mittelalters gesehen und begrüßt. Umso beunruhigender ist es, wenn unter Berufung auf „Wissenschaftlichkeit" versucht wird, im Bereich der Psychotherapie die Vielfalt der Perspektiven und Zugangsweisen und mit ihnen den Raum an Denk- und Forschungsmöglichkeiten drastisch zu beschneiden und eine ganze Gesellschaft in ein bestimmtes Glaubens- und Wertekorsett hinsichtlich psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten zu zwängen. In jeder deutschen Universität stehen in den Bibliotheken hunderte Lehrbücher z.B. über qualitative Methodik, über systematische wissenschaftliche Analysen interpretativer Paradigmen usw. Man findet da z.B. auch das jüngst bei Springer erschienene Buch über „Cognition based Medicine" - eine „komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung" von Helmut Kiene (2001), der immerhin zum engeren Kreis um den Präsidenten der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, gehört und der neue Forschungsmethoden und -ansätze erarbeitet. Wie immer man dieses Spektrum an Methoden einschätzen mag: Es ist ignorant zu behaupten, neben den drei oberen EbM-Klassen gebe es nur „subjektive" oder persönliche" „Meinungen". Diese wenigen Facetten sollen hier genügen, um das „Unbehagen" derer deutlich zu machen, die darunter leiden, dass viele therapeutische Ansätze - und mit ihnen Denkrichtungen und Wertperspektiven - in der BRD zunehmend entwertet, marginalisiert und von den Diskursen und der Versorgung ausgegrenzt werden. Dass dies in Ausnutzung eher zufälliger Machtpositionen und häufig über Verfahrenstricks erreicht wird, macht die Sache nicht besser. Die fragwürdige Berufung auf eine Pseudo-Naturwissenschaft Lässt man einmal gezielte macht- und berufspolitische Ränkespiele außer Acht, so beruht diese Marginalisierung nicht nur auf einem zunehmenden Unverständnis gegenüber sinnorientierten, humanistischen, narrativen, interpretativen und qualitativen Zugangsweisen. Diese sind in der Tat nicht so leicht für das Bedürfnis instrumentalisierbar, eine zunehmend komplexe Welt auf einfache Ursache-Wirkungs-

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Relationen und kurze, medienwirksame Statements über gesicherte „Wahrheiten" zu reduzieren. Das Unverständnis liegt vor allem auch darin, der naturwissenschaftlichen Perspektive eine mystisch-magische Allmachtsposition zu unterstellen - die zur Hybris des 19. Jahrhunderts gepasst haben mag, im 20 Jahrhundert aber von den Naturwissenschaften selbst zunehmend als Irrtum erkannt und revidiert wurde (vgl. Kriz 1999b). Aber nicht nur unsere Alltagswelt ist von den Metaphern und Wirkvorstellungen einer rund 400-jährigen „mechanistischen" Wissenschaft und deren beachtlichen Leistungen, besonders im Bereich der Technik, durchdrungen. Sondern neben Politikern schöpfen eben auch Pädagogen, Sozialwissenschaftler und Psychotherapeuten noch allzu sehr aus diesen Vorstellungen der Alltagswelt bzw. klassischen Wissenschaft. Auch wenn die Naturwissenschaft sich inzwischen drastisch gewandelt hat - besonders durch die Erkenntnisse moderner Systemtheorie ab der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts -, dringt dies nicht so schnell in die Nicht-Naturwissenschaften ein. Daher haben wir es heute mit der paradoxen Situation zu tun, dass moderne Naturwissenschaft viel mehr Gemeinsamkeiten mit den Vorstellungen und Weltbildern aufweist, welche auch eine sinnverstehende humanistische Perspektive in Psychologie und Psychotherapie begründen. Die Vorstellungen von isolierbaren Wirkprinzipien, die fast beliebig synthetisch kombinierbar sind, und viele andere Metaphern werden zwar gern unter Berufung auf „Naturwissenschaft" (oder gar noch verkürzter als „die Wissenschaft") propagiert, können aber Gültigkeit nur unter sehr restriktiven Bedingungen beanspruchen - Bedingungen, die allzu oft nicht diskutiert, geschweige denn geprüft werden, weil man (dem 19. Jahrhundert entsprechend) an ihre Allgemeingültigkeit glaubt. Angesichts der Komplexität unseres Gegenstandes ist es bestürzend, wie in der klinischen Psychologie zahlreiche Vorstellungen, denen die wissenschaftliche Grundlage inzwischen entzogen ist, als wirksame Mythen die Debatte immer noch beherrschen. Ich möchte einige dieser zentralen (teilweise miteinander verwobenen) Mythen kurz aufzählen (wobei ich manche Phänomene hier nur anführe; für die komplizierteren, teilweise mathematischen Hintergründe sei z.B. auf Kriz 1992, 1997 verwiesen). 1) Objektivitäts-Mythos: Dieser wurde bereits kurz angeführt und beinhaltet den Glauben, man könne Fakten und „die Welt" so erkennen, wie sie „wirklich" sind. Stattdessen kommen wir nicht umhin, im Rekurs auf die Gemeinschaft (auch: die „scientific community") uns der Verantwortung für unsere Entscheidungen zu stellen. Um es mit Heisenberg zu sagen: „Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur." Wir müssen uns somit z.B. der Diskussion stellen, welche Beziehung wir zu Phänomenen wie „Krankheit", „Gesundheit", „Heilung", „Therapie" etc. haben - und können diese Fragen nicht über die Wahl von statistischen Parametern oder Items entscheiden (sondern nach den Entscheidungen dann die Parameter und Items entsprechend entwickeln). Der Anspruch in der Psychotherapiedebatte, man wolle „objektiv feststellen", was „tatsächlich" wirke, steht jedenfalls im Kontrast zur Bescheidenheit der modernen Physik.

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2) Analyse-Mythos: Der Glaube, dass durch analytische Zerlegung, Erforschung der Teile und dann wieder deren synthetische Zusammenfügung in jedem Fall ein Ganzes untersucht werden kann, hat sich als Trugschluss erwiesen (und damit auch die unbedingte Suche nach „Wirkfaktoren"). Vielmehr haben Phänomene, wie die Emergenz, gezeigt, dass Systeme wesentliche Eigenschaften aulweisen können, die nicht aus den Teilen erklärbar sind (was z.B. auch schon die Gestaltpsychologen betonten). Nur wenn Teile artifiziell rückkopplungsfrei gehalten werden können, lassen sich diese nichtlinearen Einflüsse vermeiden. 3) Homogenitäts-Mythos: Nicht nur, dass die o.a. Frage: „Ist Therapierichtung A wirksam..?", einen Pharma-Mythos über die Homogenität therapeutischen Handelns seitens einer bestimmten Richtung „A" voraussetzt - wesentlich neu kam mit der Systemtheorie die Erkenntnis, dass die nichtlinearen Rückkopplungen (typischerweise) zu qualitativen Sprüngen führen können. Das klassische Prinzip „natura non facit saltus" (Die Natur macht keine Sprünge.), welches im Kleinen schon durch die Quantenmechanik widerlegt wurde, hat sich nun allgemein als Trugschluss erwiesen. Ursache-Wirkungs-Verläufe sind damit ebenfalls keineswegs homogen. (Größere Ursachen führen keineswegs immer zu größeren Wirkungen.) Selbst bei einfachen physikalischen und chemischen Systemen muss ihre bisherige Verlaufs-„Geschichte" wesentlich berücksichtigt werden (was in der Therapie z.B. manualisiertes Vorgehen extrem erschwert). 4) Design-Mythos: „Verum et factum conventur" (Wahr sein und hergestellt sein ist dasselbe - das von Vico 1710 eingeführte Verdikt, das über Jahrhunderte das Credo abendländischer Wissenschaft war) musste zugunsten der Erkenntnis verworfen werden, dass selbst organisierte Systeme zwar verändert werden können, aber nur entsprechend den inhärenten Strukturmöglichkeiten. Wieder müssen beispielsweise Physiker und Chemiker einfachen, „toten" Systemen mehr typische Eigenart zugestehen, die sich jeder designhaften Veränderung widersetzt und die es durch Umgebungsbedingungen zu fordern (und nicht „herzustellen") gilt, als der behavioristische Mainstream noch vor Kurzem dem Menschen theoretisch zubilligen wollte. Nebenbei: Auch in diesem Aspekt liegt nochmals begründet, dass sich Therapeuten „der Richtung A" nicht designhaft ausbilden lassen. Selbst weitgehend exakt Manuale vollstreckende Therapeuten wären immer noch Menschen mit spezifischen Eigenarten. Und nachdem inzwischen auch die VT die Bedeutung der therapeutischen Beziehung betont, kommen hier andere Aspekte mit auf den Plan, die den Therapieverlauf beeinflussen, was im Manual oft nicht exakt vorherbestimmbar ist (jedenfalls ist mit „Beziehung" gerade nicht eine „technische Vollstreckung" gemeint). 5) Genauigkeits-Mythos: Der Glaube, dass man nur genau genug messen müsse oder genügend detaillierte Kenntnisse besitzen -, um etwas genau vorhersagen zu können, ist tief in der klassischen Wissenschaft verbreitet gewesen. Mit dem Homogenitäts-Mythos zusammen bildete dies die Grundlage des Erfolges der Differentialrechnung in vielen technischen Anwendungsbereichen: Noch so komplizierte Verläufe lassen sich demnach letztlich, bei immer kleiner (genauer) werdenden Teilstücken, durch gradlinige Übergänge annähern. Doch auch diese Ansicht hat sich - in dieser Allgemeinheit - durch die moderne Forschung als Mythos erwiesen: Bei rückgekoppelten Systemen ist mit fraktalen Verläufen zu rechnen - was faktisch

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bedeutet, dass auch eine immer weiter vorangetriebene Auflösung nur jeweils neue „Kompliziertheiten" zutage fordert. Selbst sehr einfache, von jedem Mittelschüler mit wenigen Schritten ausrechenbare Gleichungen können im weiteren Verlauf unberechenbar werden („deterministisches Chaos"). Auch diese Eigenschaften sind für lebende Systeme eher typisch - d.h., ihre Bedeutsamkeit und Wirksamkeit können nur über artifizielle Ausklammerung der Rückkopplungen begrenzt werden. 6) Kausalitäts-Mythos: Natürlich wollen und sollen Therapeuten (wie auch Systemwissenschaftler) etwas bewirken - Kausalität ist also nicht einfach „aufgehoben". Allerdings musste die klassische Vorstellung von Kausalität wesentlich modifiziert werden: Wie bereits gesagt, können, je nach spezifischer Geschichte des Systems, kleine Ursachen zu großen Wirkungen führen (und umgekehrt), qualitative Sprünge können auftreten, und Ordnung muss z.B. nicht dadurch hergestellt werden, dass Ordnung eingeführt wird, sondern dass (recht unspezifische) Umgebungsbedingungen gewährleistet werden, unter denen ein System seine inhärente Ordnung selbst realisiert. „Aufgehoben" ist also das Primat von lokaler Kausalität - die z.B. zur Anwendung kommt, wenn man eine verbeulte Blechbüchse wieder ausbeulen will. Bei einem Wasserfall aber lässt sich eine unerwünschte Kaskaden-Struktur ebenso wenig lokal „ausbeulen" wie einer Kerzenflamme (im Gegensatz zum Stummel) ein Design in Form eines Osterhasen angepasst werden kann. Genau dies eben sind die Unterschiede zwischen dynamischen und statischen Systemstrukturen. Prozesse des Lebens einschließlich biologischer, medizinischer, psychischer und interaktioneller Aspekte - sind aber nur als dynamische Systeme angemessen zu beschreiben. Die Leitideen von Blechbüchsen-Interventionen als Reparaturen einer Krankheit lassen sich nur unter extrem restringierten Bedingungen verwirklichen. Besonders bemerkenswert ist nun, dass die Prinzipien moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis recht typisch sind für das, was sinnverstehende und humanistische Psychotherapien - also z.B. Gestalt- und Gesprächspsychotherapie, Systemische und Familientherapie, aber auch tiefenpsychologisch fundierte Verfahren - wesentlich ausmacht. Diese Prinzipien habe ich vor einiger Zeit (Kriz 1998) in einer Tabelle zusammengefasst und den Prinzipien humanistischer Psychotherapie gegenübergestellt - Prinzipien, wie sie von Metzger bereits 1962 als „sechs Kennzeichen der Arbeit am Lebendigen" resümiert und präzisiert wurden (vgl. Tabelle).

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W. METZGERs „Kennzeichen

Prinzipien naturwiss. Systemtheorie

1. Nicht-Beliebigkeit der Form: Man kann einem System nicht jede beMan kann Lebendigem „auf die Dauer nichts gegen seine Natur auf- liebige Form aufzwingen, sondern nur zwingen", man „kann nur zur Entfal- dem System inhärente Organisationsfortung bringen, was schon in dem „Ma- men fordern. terial" selbst an Möglichkeiten angelegt ist". 2. Gestaltung aus inneren Kräften: Die entscheidenden Größen der Ord„Die Kräfte und Antriebe, die die angestrebte Form verwirklichen, haben nung - sog. „Ordnungsparameter" - hawesentlich in dem betreuten Wesen ben wesentlich ihren Ursprung im System selbst. selbst ihren Ursprung." 3. Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeiten:

Systeme haben eine „Geschichte" - reDas lebende Wesen kann nicht be- lativ zu dieser bewirken „dieselben" Inliebig auf seine Pflege warten ... Es hat terventionen mal fast nicht in anderen vor allem seine eigenen fruchtbaren Phasen qualitative Sprünge. Zeiten und Augenblicke für Veränderung.

4. Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit: Prozesse des Wachsens, Reifens, Überstehens einer Krankheit usw. haben offenbar ihnen jeweils eigentümliche Ablaufgeschwindigkeiten...

Phasenübergänge - das, was von außen als wesentliche/qualitative Änderung der Strukturdynamik wahrgenommen wird haben systeminhärente („eigentümliche") Verläufe.

5. Die Duldung von Umwegen: Die Entwicklungswege müssen respekMan muss überall Umwege in Kauf tiert werden (z.B. kann der Weg durch nehmen. Bifurkationen nicht „abgekürzt" werden). 6. Die Wechselseitigkeit des Geschehens:

Systeme sind nicht nur durch wech„Das Geschehen ... ist wechselseitig. selseitige Verknüpfung der „Elemente"/ Es ist im ausgeprägten Fall ein Teildynamiken ausgezeichnet, sondern Umgang mit,Partnern des Lebens'.... auch die Trennung System/Umwelt ist rein analytisch-formal - jede Separierung und jeder Ausschlus holistischer Wechselwirkungen ist eine (ggf. notwendige) Vereinfachung.

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Es ist allerdings ein Problem, dass psychotherapeutische Ansätze, die eher solchen systemtheoretischen Konzepten folgen, gemessen am Alltagsverständnis, keine „einfachen" Konzepte sind und sich daher dem Zeitgeist plakativer Reduktionismen in doppeltem Sinne widersetzen. Zwar sind auch die „Absurditäten", „Widersprüche", „Ungereimtheiten" etc. moderner Physik nicht angemessen in üblicher Sprache zu vermitteln, sondern nur durch abstrakte mathematische Formalismen, doch halten sich vor deren Beurteilung Laien meist ehrfurchtsvoll zurück. Im Bereich der klinischen Psychologie und der Psychotherapie sind allerdings solche Formalismen in hohem Maße unüblich; daher glauben verständlicherweise z.B. auch Krankenkassenvertreter, auf der Basis ihres Alltagsverständnisses nicht nur fundiert mitreden, sondern letztlich auch auf dieser Basis „wissenschaftliche" Urteile sprechen zu können. Es ist nicht leicht, jemandem, der sich auf seinen „gesunden Menschenverstand" beruft, zu vermitteln, dass manche Therapiekonzepte auch dann (oder: gerade dann) „wissenschaftlich fundiert" und hoch „wirksam" sein können, wenn sie den üblichen Ursache-Wirkungs-Prinzipien, Aufteilungen in abhängige und unabhängige Variablen etc. nicht in jedem Fall folgen. Die Überstrapazierung der „naturwissenschaftlichen Perspektive" Ein weiteres Missverständnis hinsichtlich „der Naturwissenschaft" - das ebenfalls zu den Mythen gerechnet werden könnte - ist die Prognosefahigkeit (vgl. Kriz 1999a). Klassisch schwebt uns dabei immer so etwas wie das Fallgesetz vor Augen, wo Körper (idealisiert, in hinreichender Erdnähe und im luftleeren Raum) mit s = l /2b*t2 zu Boden fallen und somit eine brauchbar exakte Prognose abgegeben werden kann, wann ein zu t\ losgelassener Körper eine tiefer gelegene Ebene durchfallt. Viele „klassische" Phänomene lassen sich ähnlich gut in ihrer Entwicklung prognostizieren, auch wenn mehrere „unabhängige Wirkfaktoren" zusammenwirken oder wenn Mikrophänomene, wie z.B. Molekularbewegung, nur durch makroskopische Größen von ganzen Ensembles beschrieben werden können (Druck, Temperatur, Ausdehnung). Es gibt nun aber bereits einfache, zweifellos in den Bereich der Naturwissenschaften gehörende Fragen, deren Beantwortung deutlich anders ausfallt - etwa die Frage: „Warum, wann und wie fallt ein Blatt vom Baum?" Obwohl klar ist, dass wir diese Teilfragen nicht mit einer ähnlichen Sicherheit und Exaktheit beantworten können wie die obige Frage nach fallenden Körpern, ist ebenso klar, dass gleichwohl die Erkenntnisse der Naturwissenschaften hier nicht überflüssig sind. Denn gesetzmäßige Erkenntnisse aus Biologie und Botanik liefern erhebliche Grundlagen zum „Warum" und „Wann" - ebenso wie die Meteorologie. Die Kenntnisse der Physik mit Gravitation und Aerodynamik liefern Grundlagen zur Erörterung des „Wie". Aber damit sind weder Zeitpunkt noch genaue Flugbahn eines konkreten Blattfalls nomothetisch vorhersagbar. Und dies wird auch nur geringfügig besser, wenn der „Baum" besser „diagnostiziert" werden kann - also etwa eine Eiche, der und der Unterart, im Alter von 34 Jahren auf trockenem Boden etc. Trotzdem kann aus den Kenntnissen eine erhebliche Anzahl von Handlungsoptionen abgeleitet werden - etwa, in einem sehr trockenen Sommer die Bäume zu gießen, wenn sie ihre Blätter (oder relevanter: Früchte) lange behalten sollen.

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Aussagen im Bereich von Psychotherapie sollten nun nicht präziser prognostischer sein wollen als die eben exemplarisch aufgeworfenen aus dem reinen Bereich der Naturwissenschaften. Das bedeutet, dass die pathologische und therapeutische Grundfrage: „Warum, wann und wie entwickelt sich eine bestimmte psychische Störung bei einem bestimmten Menschen, und mit welcher Intervention ist sie wann wie ,heilbar'?", m.E. grundsätzlich, zumindest aber auf absehbare Zeit nur rekonstruktiv (und damit vor allem idiographisch), aber nicht prospektiv (und damit nur sehr beschränkt nomothetisch) beantwortbar sein wird. Und diese Aussage steht eben nicht im Widerspruch dazu, dass auch im Bereich von Psychotherapie nach allgemeineren Gesetzmäßigkeiten geforscht werden soll und dass vor allem gesetzmäßige Befunde aus angrenzenden Wissenschaften (etwa der Physiologie und der Gehirnforschung) eine große Bedeutung haben. Die Grenzen des Beitrags gesetzmäßiger Zusammenhänge für die Beantwortung der Frage müssen aber bedacht werden, da ich keinen Grund erkenne, warum pathologische und therapeutische Dynamiken wesentlich leichter und präziser zu fassen sein sollen als die Dynamik fallender Blätter. Darüber hinaus ist bei der Dynamik einer „psychischen Störung" zusätzlich ein zentraler Aspekt wesentlich, der bei der Dynamik des fallenden Blattes keinerlei Rolle spielt: Die Entwicklungsdynamik von Menschen ist wesentlich von Bedeutungen abhängig, welche die Beteiligten einzelnen Phänomen und deren Kontexten zuschreiben. Eine Psychotherapietheorie, die dies nicht zentral berücksichtigt, wird m.E. nicht einmal überzeugende rekonstruktive Erklärungen liefern können. Die Notwendigkeit der Sinn-Perspektive Wenn wir die vermeintlich naturwissenschaftliche Perspektive entmystifizieren, diese nicht auf das Weltbild des 19. Jahrhunderts festschreiben, sondern an den moderneren Entwicklungen auch dort partizipieren, spielt selbst dort „Sinn" eine viel größere Rolle, als eine rein auf Verhalten ausgerichtete Perspektive oft reflektiert. Es sei nochmals an das Resümee des Physik-Nobelpreisträger Werner Heisenberg erinnert, mit dem dieser die Quintessenz naturwissenschaftlicher Sicht bereits 1955 - also noch vor der weiteren Veränderung der Weltsicht durch die moderne Systemtheorie - wie folgt klar herausgestellt hat: „Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur." Als Psychotherapeuten müssen wir uns aber nicht nur fragen (und fragen lassen): Welches Bild unserer Beziehung zu unserem Gegenstand - dem Menschen, seinem Leiden und den Veränderungsmöglichkeiten - geben wir eigentlich ab? Wobei mir scheint, dass das „Unbehagen" auch oder gar wesentlich damit zusammenhängt, dass dieses Bild zu einseitig Therapeuten zeichnet, die statistische Evidenzen aus spezialisierten Laboruntersuchungen wichtiger nehmen als Evidenzen aus systematisch aufbereiteten Therapieerfahrungen, die mit der Untersuchungsrigorosität der Mediziner konkurrieren und dabei die Behandlungskunst der Ärzte aus dem Blick verlieren und die sich nach einer naturwissenschaftlich festen Basis ihres Handelns sehnen, in einer Zeit, da die Naturwissenschaften solche allgemeingültigen Fundamente längst aufgegeben haben (vgl. Kriz 2004b). Als Psycho-

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therapeuten stellt sich uns vielmehr die Sinnfrage viel vehementer. Dies soll an einer (konstruierten) „methodischen Fallgeschichte" erläutert werden: Ein Forscher erblickt in einem ihm unbekannten Tal eine Ansammlung von verwitterten, eingekerbten Steinen und untersucht diese zunächst mit geologischen und anderen naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden. Er kann hier gegebenenfalls sehr bedeutsame Erkenntnisse gewinnen. Doch die Forschungsperspektive ändert sich drastisch, wenn er plötzlich entdeckt, dass es sich um eine Formation aus Grabsteinen handelt und die Kerbungen offenbar Zeichen darstellen. Denn damit geraten nun die Intentionen der menschlichen Handlungen in den Fokus: Nicht die Ursachen, sondern die Gründe für die Kerbungen und die Steinformation sind nun wichtig. Was sollen diese bedeuten, undfür wen soll(t)en sie etwas bedeuten? Um dies zu erforschen, muss versucht werden, Wissen über die Lebensumstände, die Geschichte, die Glaubenssysteme - kurz: die Kultur - dieser Menschen zu gewinnen (bzw. vorhandenes Wissen unter dieser Perspektive zusammenzustellen). Es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass diese Perspektive auf den intendierten Sinn und die ihm zugrunde liegenden Werte für viele Tatsachen der Psychologie - beispielsweise im gesamten Bereich der Psychotherapie - sehr bedeutsam sind. Die Aussage eines Patienten ist selten als Naturvorgang zu fassen, den es objektiv nomothetisch (gesetzmäßig) zu erklären gilt, sondern als Kulturvorgang, der subjektiv und kommunikativ idiographisch (Eigentümliches, Einmaliges beschreibend) verstanden werden muss. Denn die Lebenswelt des Menschen ist stets erfüllt von Sinn und Bedeutungen. Bei diesen kann man nicht nach den Ursachen fragen, die etwas erklären könnten, sondern nur nach Gründen, die verstanden werden müssen. Für den Forscher, der die Bedeutung der Grabsteine eruieren möchte, werden die bisher gefundenen physikalischen, chemischen oder geologischen Tatsachen mit diesem Perspektivenwechsel allerdings keineswegs völlig irrelevant: Beispielsweise ist interessant, welche Werkzeuge zur Gravur verwendet und warum bestimmte Steine ausgewählt wurden. Aber diese naturwissenschaftlichen Befunde sind „Material", das bestenfalls Hinweise darauf geben kann, welche Werte und welcher Sinn der damals handelnden Menschen sich in den Grabsteinen manifestiert haben. Ebenso sind selbstverständlich auch die Verstehens-, Bewusstseins-, Handlungsund Sprachprozesse nicht nur allgemein in Naturvorgänge eingebettet, sondern auch spezifisch von diesen abhängig: Wird das Gehirn funktionsunfähig, so hört jedes psychische Geschehen auf; dies gilt in spezifischer Weise auch für ganz bestimmte, oft hoch spezialisierte neuronale und psychische Zusammenhänge bei Ausfallen und Leistungen (auch wenn die interindividuelle Plastizität und die interindividuelle Varianz der Befunde und Befindlichkeiten im Laufe der Forschung zunehmend höher eingeschätzt werden). Ferner verändern Entwicklungsvorgänge oder die Zufuhr bestimmter Substanzen das subjektive Erleben und beobachtbares Handeln; das Gefühlsleben ist an die Funktion bestimmter Drüsen gebunden etc. Alle diese somatischen Vorgänge lassen sich im Rahmen der Naturwissenschaft untersuchen, und deren Perspektive lässt sich auf die Zusammenhänge zwischen somatischen und psychischen Vorgängen (durch Introspektion oder deren Äußerungen bei anderen) ausdehnen. Ferner lassen sich bestimmte Aspekte von Wirksamkeit - etwa Reduktion von spezifischen Symptomen, Erweiterung spezifischer Kompetenzen etc. - mit quantitativ nomothetischer Methodik gut untersuchen.

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Gleichwohl unterscheiden sich Fragen wie: „Welche Eigenschaften, Defizite und Symptome hat jemand (und ,ich selbst'), welche Leistungen und Verhaltensweisen werden (wie stark, wie oft, wann etc.) gezeigt?", in Ihrer Perspektive grundsätzlich von Fragen wie: „Als wen sehe ich mich, wer bin ich geworden, was will ich im Leben erreichen?" Das Erleben, verstanden zu werden, von Geborgenheit oder von Sinnlosigkeit lässt sich durch keine Beobachtung, Beschreibung oder Messung ersetzen. Und daher ist die Perspektive des Menschen als Subjekt auch gegen keine noch so entwickelte Perspektive auszutauschen, die dem nicht gerecht wird. Das Plädoyer ist natürlich nicht, die Sinnperspektive auf psychologische, pathologische und psychotherapeutische Prozesse und das damit verbundene Verständnis vom Menschen nun „quasi als Gegenbewegung" als einzig verbindliche Weltsicht allen andern überstülpen zu wollen. Diese Gefahr besteht allerdings weder inhaltlich noch angesichts der gegenwärtigen Machtverhältnisse, in denen es für viele um kognitives Überleben und um die Existenzberechtigung ihres Ansatzes geht. Das Plädoyer ist, andersherum, die Notwenigkeit auch dieser Sinn-Perspektive progressiver zu vertreten und verständlich zu machen und sich nicht von der Berufung auf falsch verstandene „Naturwissenschaft", auf ein zu einseitig beschränktes Verständnis von „Wissenschaftlichkeit" oder von einer zu vordergründigen „Effektivität" einschüchtern und mundtot machen zu lassen. Es ist wichtig, dass Psychotherapie sowie ihre wissenschaftliche Begründung und Erforschung die eigenen Voraussetzungen reflektieren, welche dem Menschen als sinnorientiertem Wesen eine Sonderstellung einräumen. Und es ist wichtig, dass Psychotherapie sowie ihre wissenschaftliche Begründung und Erforschung den Wandel der Naturwissenschaften reflektieren, in denen durch die Verschiebung auf die Beziehung des Menschen zu ihrem Gegenstand die Sinnfrage längst eingezogen ist. Selbst aber jener, der dies nicht teilt, kommt bei hinreichend redlicher Analyse nicht umhin, den sinnverstehenden humanistischen Ansätzen in der Psychotherapie ihren Platz im Spektrum der Richtungen einzuräumen - bzw. den Jahrzehnte innegehabten Platz wieder zuzubilligen. Die Pluralität der Gesellschaft mit ihrer Vielfalt an Lebensgeschichten, Gewohnheiten, Vorlieben, Werten und Lebenszielen kann nicht auf eine „einzig wahre" Zugangsweise reduziert werden - so effektiv Laborstudien auch immer spezifische Fragen beantworten mögen. Das aus der Psychotherapieforschung stammende und inzwischen weitgehend unumstrittene Konzept der Passung im AMP-Modell, die hohe Rate von Therapiewechslern und -abbrechern sowie Studien über erfolgreiche Therapien nach einem solchen Wechsel weisen zudem der Validität und Aussagekraft solcher Efficacy-Belege einen erheblich bescheideneren Beitrag zu, als gemeinhin propagiert wird. Lassen Sie uns daher Allianzen schmieden mit all jenen Kräften, denen an den sinnverstehenden humanistischen Traditionen und Zugängen liegt oder die zumindest die massiv bedrohte Pluralität in der BRD nicht vollends zerstört sehen möchten.

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II Zur epistemologischen Grundlegung psychotherapeutischer Forschungsund Anwendungspraxis

Varianten der Vergegenständlichung des Menschen: Klare Unterscheidungen für klare Entscheidungen* Uwe Lauchen Gliederung 1. Hinfuhrung 2. Drei Menschen in einem 3. Denkformen und Gegenstandsentwürfe 3.1 Physische Denkform und ihr Gegenstandsmodus 3.2 Semantische Denkform und ihr Gegenstandsmodus 3.3 Phänomenale Denkform und ihr Gegenstandsmodus 4. Ermöglichungsbeziehungen zwischen den Gegenstandsentwürfen der verschiedenen Denkformen und „Wie ist es möglich?"-Fragen 5. Gründe des Unbehagens: intellektuelle und politische

1. Hinführung Vor nunmehr zehn Jahren erschien ein Buch, in dem bekannte Fachvertreter sich über die „Perspektiven der Psychologie" äußerten. Wohin steuert die Psychologie? Wolfgang Schönpflug (1996) sprach über die Perspektiven der Allgemeinen Psychologie. Er sagte voraus: „Die Allgemeine Psychologie geht in einer sich neu entwickelnden Neuropsychologic auf (S. 22). Rainer Schandry, der Experte für die Biologische Psychologie, verspürte seinerzeit schon einen „Umschwung im forschungspolitischen Klima" (S. 80), hin zu einer bevorzugten Förderung biowissenschaftlicher Ansätze in der Psychologie. Fünf Jahre später glaubt Gerhard Roth, Direktor des Hanse-Wissenschaftskollegs, als Neurowissenschaftler bereits feststellen zu können, dass „von vielen Psychologen ... dieser ,Umbruch' inzwischen klar anerkannt (wird)" (2001, S. 548). Ausläufer dieses „Umbruchs" haben inzwischen die Massenmedien erreicht. Um da zu landen, braucht man etwas Spektakuläres. Das ist die Willensfreiheit. Vor allem dann, wenn man behauptet, es gäbe sie nicht. Sie sei eine Illusion! Da kann man sich schön gruseln (vgl. dazu Laucken 2005). Des einen Behagen ist des anderen Unbehagen. Gerhard Roth fühlt sich als Desillusionierer offensichtlich recht wohl. In unzähligen öffentlichen Auftritten (z.B. am 28. 3. 2004 in der Fernsehsendung „Philosophisches Quartett") zelebriert er den Selbstbetrug der Menschen, die da meinen, sie seien willensfrei. Er darf sich darin einig wissen mit Fachvertretern wie Wolf Singer und Hans Markowitsch. Auf der Seite der Unbehagen empfindenden Wissenschaftler finden sich jene versammelt, die vor allem die Verluste, die mit dem neurowissenschaftlichen Blick auf den Menschen einhergehen, schmerzlich bemerken und beklagen. Der Verlust der Willensfreiheit ist ja nur Teil eines umfassenderen Verlusts. Es gibt insgesamt

* Dieser Text ist die Grundlage meines Vortrags im Rahmen des Symposiums. Ausführlicher lässt sich alles nachlesen in Laucken, U. (2003): Theoretische Psychologie. Denkformen und Sozialpraxen (formlos bestellbar über E-Mail: [email protected]; Preis: 12,00 € + Versandkosten).

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kein sinnvolles Leben mehr. Die Kategorie des Sinns verliert ihre explanative Kraft. Das ist ja das Leitthema dieser Tagung. Nun sind sich wohl alle Wissenschaftler darin einig, dass schmerzliche Verluste lieb gewordener Vorstellungen, die man von sich und der Welt hegt, keine guten Argumente gegen die wissenschaftliche Qualität der verlustbringenden Erkenntnisse sind. Auch Charles Darwin dachte für manche in seiner Zeit (und für manche noch heute) verlustbringend. Verluste geschätzter Ansichten und das damit einhergehende Unbehagen können mancherlei bewirken, nicht nur Abwehr, sie können auch zum Denken anregen. Haben die Verlustverkünder wirklich Recht? Oder handelt es sich bei ihnen eher um selbstgefällige Schaumschläger im massenmedialen Rummel? Haben die Neurowissenschaftler den Menschen wirklich demaskiert? Haben sie also Recht, wenn sie den Menschen nach Kopernikus, Darwin und Freud die nunmehr vierte Kränkung ihres Selbstbewusstseins verkünden? Sind ihre diesbezüglichen Argumente zwingend? Sucht man in der öffentlichen Erörterung der so genannten Willensfreiheitsfrage nach einer Antwort auf diese Frage, so springt man hinein in ein Gewirr von Argumenten und Gegenargumenten. In dem Buch „Hirnforschung und Willensfreiheit" hat Geyer (2005) einige Argumente zum Für und Wider der Willensfreiheit zusammengetragen. Man liest dies. Man liest das. Man findet dies einsichtig. Man findet das einsichtig. Zunächst freut man sich über die Vielzahl gewonnener Einsichten, bis man, nachdem man zum ruhigen Nachdenken gekommen ist, feststellen muss, dass einige der Einsichten einander widersprechen. Welche Einsichten gelten denn nun? So kann man, falls einem an den Einsichten etwas liegt, in einer „Hölle von Antinomien" landen (um einen Ausdruck Schrödingers, 1989, zu entlehnen). Wie lässt sich, so dies der Fall ist, Abkühlung schaffen? Bateson (1981) empfiehlt uns „rettende Unterscheidungen" (saving distinctions). Es gibt dann das, und es gibt jenes, und beides muss man hübsch ordentlich auseinanderhalten, so dass es sich nicht treffen und mithin nicht widersprechen kann. Auf diese Weise lässt sich gestrüpptes Unbehagen lichten. Welche Unterscheidungen erfüllen nun aber diesen Rettungsdienst? Die Psychologiegeschichte liefert uns einen ganzen Satz an denkbaren Anwärtern, die man auf ihre Rettungstauglichkeit hin befragen könnte. Ein paar Unterscheidungen will ich aufzählen. Einige davon tauchen auch in den Abstracts mancher Beiträge zu dieser Tagung auf: natur- vs. geisteswissenschaftlich, experimentell vs. nicht experimentell, nomothetisch vs. idiographisch, erklären vs. verstehen, quantitativ vs. qualitativ, Ursache vs. Grund, Gesetz vs. Regel, Außenwelt vs. Innenwelt, alio- vs. egopsychologisch, res extensa vs. res cogitans.

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Ganze Bibliotheksregale ließen sich mit Texten füllen, die sich mit diesen Unterscheidungen befassen. Wer nun aber mit den Messern dieser Unterscheidungen den Wissenschaftskuchen zerschneidet, der wird am Ende vor einem Durcheinander von Kuchenstücken stehen. Die Schnitte verlaufen kreuz und quer. Es gibt nämlich qualitative und quantitative Geisteswissenschaften. Es gibt nicht nur nomothetisch, sondern auch idiographisch fragende Naturwissenschaften. Auch Geisteswissenschaftler begeben sich auf Gesetzessuche. Es gibt experimentell forschende Geistes- und nicht experimentell forschende Naturwissenschaften. Auch Innenweltforscher suchen nach universell gültigen Gesetzen. Und so weiter. Die genannten Unterscheidungen können das Knäuel verhedderter Einsichten nicht auflösen, sondern sie stiften nur neuen Wirrwarr. Mit diesem Misserfolg hat sich die Idee der rettenden Unterscheidungen aber noch nicht als unbrauchbar erwiesen. Schließlich gibt es ja auch berühmte Erfolge. Denken wir an Bertrand Russell, der mit seiner typenlogischen Unterscheidung das Kreter-Paradox („Alle Kreter lügen, sagt ein Kreter") auflöste. Vielleicht liegt der Misserfolg lediglich daran, dass man die rettende Unterscheidung noch nicht gefunden hat. Wo aber soll man nach ihr suchen. Johann Friedrich Herbart (1824/25), „den wir den ersten großen Fachpsychologen Deutschlands nennen müssen" (Stern 1900, S. 332), riete uns, „nach Grundlegendem" zu suchen, um dort mit der Unterscheidungsarbeit zu beginnen. Und er gäbe uns als weiteren Rat, wo Grundlegendes zu finden ist: Sucht bei der „Eigenart des Erkenntnisgegenstandes"! Denn für jedes objektwissenschaftliche Erkenntnisvorhaben muss, bevor es starten kann, geklärt werden, zu welchem allgemeinen Gegenstandsmodus sein besonderer Gegenstand gehört. Diesem Suchvorschlag Herbarts will ich folgen (ohne allerdings seinen Fund - die Realen-Lehre - zu übernehmen). Machen wir uns also auf die Suche nach Unterscheidungen, die beim Gegenstandsmodus ansetzen. Gibt es hier Unterscheidungen, die vielleicht hilfreich sind? Ich behaupte: Ja, es gibt sie! Und über sie werde ich hier reden. Im Folgenden werde ich drei Gegenstandsmodi unterscheiden. Bevor ich begrifflich genauer werde, will ich gleichsam ein Bild malen, das für das Folgende illustratives Anschauungsmaterial liefern soll. 2. Drei Menschen in einem Man stelle sich Folgendes vor. Ein Patient sucht einen Psychotherapeuten auf. Der Patient klagt über massive Ängste. Er bekomme sie nicht in den Griff. Der Psychotherapeut möge ihm helfen. Da sitzen sich nun zwei Menschen gegenüber, die unter anderem eine Erkenntnisbeziehung bilden. Der Therapeut will erkennen, was mit dem Patienten los ist. Damit wird der Patient für den Therapeuten zum Erkenntnisgegenstand. Das ist trivial. Von welcher Art aber ist dieser Gegenstand? Die Antwort darauf ist nicht mehr trivial. Dem Therapeuten bieten sich verschiedene Möglichkeiten. Exemplarisch will ich drei durchspielen. Neuropsychologische Möglichkeit: Der Patient ist ein Gefüge biologischer Größen. Er besteht aus anatomischen Strukturen und physiologischen Prozessen. Besonders bedeutsam sind in diesem Fall die hormonalen und die neuronalen

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Größen. Erlebnisse sind Begleiterscheinungen somatischer Vorgänge und Zustände. Die geschilderte Angst zeigt ein Erleben an, welches zu irgendwelchen hormonalen oder neuronalen „Funktionsstörungen" (Roth 1997, S. 273) parallel läuft, denn es gilt: „(P)sychische Fehlfunktionen bis hin zu »asozialem' Verhalten (lassen sich) mit strukturellen und funktionalen Defiziten des Gehirns korrelieren ..." (Roth 2001, S. 584). Die der Angst mit parallel laufende somatische „Funktionsstörung" gilt es zu erkennen, um sie gegebenenfalls medikamentös zu beheben, das heißt, durch Eingriffe in den Mechanismus der „Störung". Kognitiv-handlungstheoretische Möglichkeit: Der Patient ist ein Gefüge bedeutungshaltiger Größen. Er prozessiert diese gemäß einer möglicherweise programmanalog fassbaren Verarbeitungsstruktur. Das Erleben ist eine Begleiterscheinung bestimmter Verarbeitungsprozesse und ihrer Ergebnisse. Die geschilderte Angst weist auf ein Erleben hin, welches bestimmte Einschätzungen und Bewertungen situativer Größen und deren Handlungsfolgen begleitet. Diese gilt es zu erkennen. So mag man unterstellen, dass die Angst das Ergebnis zweier Einschätzungen und Bewertungen ist. Erstens_ Mir droht eine Gefahr. Zweitens: Ich verfüge über keine Mittel, diese Gefahr abzuwenden. Das therapeutische Handeln zielt darauf ab, in diese Einschätzungen und Bewertungen einzugreifen. Daseinsanalytische Möglichkeit: Der Patient ist ein eigener Kosmos erlebendgelebten Lebens. Dieser macht sein (existenzielles) Dasein aus. Dieses Dasein ist in sich geschichtenformig oder narrativ gefügt. Wer Menschen begreifen will, der muss die Geschichten kennen, die sie erlebend-leben. Gefühle sind Bestandteile solcher Geschichten. Die geschilderte Angst weist auf ein Gefühl hin, das in einer erlebend-gelebten Geschichte sinnvoll eingebettet ist. Der Therapeut muss gleichsam den Plot der Geschichten herausfinden, deren Bestandteil die Angst ist (z.B. ein Leistungsversagens-Plot). Als Therapeut muss er dem Patienten helfen, andere Geschichten leben zu können. In dem Patienten hausen gleichsam drei Menschen. Prototypisch gesagt: Da gibt es den biologischen Menschen. Da gibt es den bedeutungsverarbeitenden Menschen. Und da gibt es den erlebend-lebenden Menschen. Zu welchem Menschen der Patient wird, wie der Therapeut ihn diagnostiziert und therapiert, das hängt davon ab, in welchem Gegenstandmodus der Therapeut den Patienten vergegenständlicht (vgl. dazu Laucken 2003a). Die drei geschilderten Möglichkeiten sind besondere Varianten dreier allgemeiner Gegenstandsmodi. Diese lassen sich jeweils klar bestimmen und abgrenzen. Teilweise sind sie ausdrücklich durch solche Abgrenzungen bestimmt. Diese Grenzen und Unterscheidungen nicht zu erkennen, führt den Nachdenklichen in eine „Hölle von Antinomien" und den Egalisierer in völlig vermanschtes Denken. Sie zu erkennen, kann retten und klären.

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3. Denkformen und Gegenstandsentwürfe Warum ich hier von Formen des Denkens und Entwürfen des Gegenstands spreche, warum ich also die gedanklichen Voraussetzungen betone, das mag ein Zitat des Philosophen Ernst Cassirer (1996) begründen: „Die Schaffung einer kohärenten, systematischen Terminologie ist keineswegs ein nebensächliches Unterfangen; sie ist wesentlicher und unverzichtbarer Teil der Wissenschaft" (S. 319). Und weiter heißt es: „Jedes (terminologische) System ist ein ,Kunstwerk' - Ergebnis eines bewussten, schöpferischen Aktes" (ebd.). In diesem Sinne ist auch der Gegenstandsentwurf der Naturwissenschaften ein „Kunstwerk": „Die Auffassung des Kosmos als ein System von Körpern und die Auffassung des Geschehens als eine Wirkung physikalischer Kräfte ist erst spät hervorgetreten; wir können sie kaum weiter verfolgen als bis in das 17. Jahrhundert" (Cassirer 1980, S. 46). Den schöpferischen Gehalt zu betonen, darf aber nicht verwischen, dass das „Kunstwerk" eine Realitätsbehauptung ist: Dies oder das gibt es! Und dies oder das gibt es in einer Weise, die ihre gegenständliche Erforschung möglich macht! Ohne solche Es-gibtSetzungen gäbe es keine Objektwissenschaft. Drei Es-gibt-Setzungen sollen nun der Reihe nach möglichst abstrakt und grundlegend vorgestellt werden (vgl. Laucken 2003a). In den folgenden Darlegungen werde ich oftmals zitieren. Ich werde dabei solche Wissenschaftler zu Wort kommen lassen, die sich jeweils in ihrem Forschungsgebiet über gegenständliche Grundannahmen Gedanken gemacht haben. Wenn ich solche Autoren zitiere, so tue ich das nicht, um mich mit Autoritäten abzuschirmen, sondern um Wissenschaftler zu Wort kommen zu lassen, denen ihr Gegenstand aus eigener Forschung geläufig ist. Ich versuche damit zu zeigen, dass ich nichts hineininterpretiere; vielmehr greife ich dies und das auf und stelle es argumentationsarchitektonisch in bestimmter Weise zusammen. 3.1 Physische Denkform und ihr Gegenstandsmodus Zur physischen Denlrform gehören die so genannten klassischen Naturwissenschaften Physik und Chemie sowie deren spezialisierte Ausläufer, wie etwa bestimmte Bereiche der Biologie oder die Neurowissenschaft. „(T)o understand physics, it is essential to ... understand its metaphysical implications" (Sachs 1990, S. 233). Die grundlegende Es-gibt-Behauptung dieser Wissenschaften brachte der Teilchenphysiker Green (2004) in einem Interview in folgende Kurzform: „Alles, was wir kennen (ist) - Raum, Zeit, Materie und Energie" (S. 192). Alle gegenständlichen Größen der physischen Denkform existieren in den entsprechenden Dimensionen. Deshalb lernt man als Physiker, bei der Bearbeitung physikalischer Gleichungen darauf zu achten, dass „each side of the equation must represent the same physical thing and therefore must be of the same dimensions in mass, space and time" (Ramsey 1954, S. 42). Dies gilt für alle „physical things", seien sie mikro-, meso- oder makrophysikalischer Art. Zwar hausen die klitzekleinen so genannten Superstrings inzwischen in einer elfdimensionalen Realität, doch werden dadurch die Raum-, Zeit- und Mas-

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sedimensionen nicht aufgehoben, sie werden nur dimensional weiter aufgefächert. Die folgende Es-gibt-Behauptung mag somit nicht erschöpfend sein, doch ist sie hinreichend für die hier angestrebten grenzziehenden Einschluss- und Ausschlussurteile. Es gibt eine physische Realität. Es gibt Masse und Energie. Es gibt Einheiten derselben. Diese sind in einem physischen Raum (statisch oder dynamisch) verteilt. Veränderungen der Verteilung sind zeitlich erstreckt und bedingungskausal (deterministisch oder probabilistisch) bewirkt. In ihren Wirkbeziehungen ist die physische Realität kausal geschlossen („No physical action waits on anything but another physical action", MacKay 1966, S. 438).

Eine im hiesigen Überlegungszusammenhang wichtige Spezifizierung dieses Gegenstandsentwurfs ist die neurowissenschaftliche. Neurowissenschaftler erforschen beispielsweise, welche „patterns of space and time of electrical impulses" (Gregory 1981, S. 202) die Sinnesorgane dem Gehirn senden. Im Gehini erforschen sie die Verläufe von „(electrochemical) patterns in the space of the brain" (Beaulieu 2003, S. 562). Für die bislang unerreichte Genauigkeit der Erfassung räumlicher und zeitlicher Aktivierungssequenzen im Gehirn erhielt die finnische Neurowissenschaftlerin Riita Hari im Jahre 2003 den Louis-Jeantet-Preis, der in der Schweiz für hervorragende wissenschaftliche Leistungen verliehen wird. Die spezifischen Gegenstände neurowissenschaftlicher Forschung gehören zweifelsfrei zum Gegenstandsmodus der physischen Denkform, von der Erforschung angesprochener molarer neuronaler Aktivierungssequenzen im Hirn bis hin zur neurophysikalischen Erforschung einzelner molekularer Vorgänge an der Membran bestimmter Nervenzellen. Die gegenständliche Eigenart des physischen Kosmos gestattet es, eine einfache Probe vorzunehmen, sofern man wissen will, ob eine Größe X ihm potenziell zugehört. Ich will sie Zugehörigkeitsprobe nennen: Man stelle die „cm, g, sek"- Frage? Ist es sinnvoll denkbar, die Größe X daraufhin zu befragen, welchen Raum sie einnimmt, welche Masse sie hat, welche elektrische Ladung ihr zukommt, in welchem Bewegungszustand sie sich befindet und dergleichen mehr. All diese Fragen ergeben einen Sinn, wenn die Größe X beispielsweise ein Molekül im synaptischen Spalt ist. All diese Fragen ergeben dagegen keinen Sinn, wenn die Größe X beispielsweise das Gefühl der Angst ist. Die Angst als Erlebenstatbestand gehört mithin nicht zum physischen Realitätsentwurf, sie kann in ihm gegenständlich nicht untergebracht werden. Das hat Folgen, die man sich klarmachen sollte. Eine Folge betrifft die naturwissenschaftliche Erklärbarkeit von Gefühlen als Erlebenstatbeständen. Gesetzt den Fall, - man setze voraus, dass eine Größe X sich im Rahmen einer bestimmten Denkform potenziell nur dann erklären lässt, wenn sich ebendiese Größe X in dem Gegenstandsentwurf dieser Denkform (zumindest hypothetisch) unterbringen lässt,

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- so ergibt sich, dass eine neurowissenschaftliche Erklärung der Erlebenstatsache Angst a priori nicht möglich ist. Dieser setzungsanalytische Befund betrifft aber nicht nur das Erleben von Gefühlen, sondern Erlebenstatbestände allgemein - und somit auch Sinneserlebnisse. Wenn man das vergisst, „so glaubt man leicht, dass (physikalische oder neurowissenschaftliche; U. L.) Theorien sinnliche Qualitäten erklären können, was sie selbstverständlich niemals tun" (Schrödinger 1989, S. 147). In einem Artikel zu dem Thema „Sinneswahrnehmung und Naturwissenschaft" stellte der Göttinger Sinnesphysiologe Herbert Hensel bereits im Jahre 1962 fest: „Die Welt der Sinne (der Sinneserlebnisse; U. L.) ist definitionsgemäß nicht Gegenstand der Naturwissenschaften" (S. 748). Denn, so füge ich hinzu, es ist widersinnig, beispielsweise eine visuelle Wahrnehmung als solche daraufhin zu befragen, welche kinetische Energie ihr eigen ist. Und ebenso steht es um das Erleben von Gefühlen. „Nun, unser Schädel ist nicht leer. Aber was sich darin vorfindet, so interessant es ist, ist wahrhaftig nichts, wenn es um Gefühlswerte oder um das Erleben einer Seele geht" (Schrödinger 1989, S. 70). Dem scheint nun aber entgegenzustehen, dass Neuropsychologen beispielsweise Ängste erforschen und behandeln. Sie tun dies aber auf besondere Weise. Und diese Weise sollte man sich genau anschauen, denn sie ergibt sich schlüssig aus der Eigenart ihres Gegenstandsentwurfs: - Die Ängste werden deobjektiviert: Die Erlebensgrößen, die für den Patienten unbezweifelbar existent sind, werden ihres Objektstatus beraubt. In einem Menschen, verstanden als ein Gefüge biologischer Größen, gibt es kein Erleben als kausal relevante gegenständliche Größe. So wie es, um ein schlichtes Bild zu gebrauchen, im Räderwerk einer mechanischen Uhr keine kausal wirksamen „mentalen Rädchen" gibt. Diesbezüglich gilt immer noch, was Gustav Theodor Fechner vor nunmehr etwa 150 Jahren gesagt hat: „Ein anderer, der in mein Gehirn blickt, während ich eine Landschaft sehe, nimmt nur , Störungen' und Schwingungen' der ,tätigen Nerven' wahr. Er sieht nur ,weiße Nervenmasse', während ich ,Seen, Bäume, Häuser sehe'" (Fechner, zit. n. Oelze 1988, S. 147). Was für das Sehen von „Seen, Bäumen, Häusern" gilt, gilt auch für das Erleben von Angst. - Die Ängste werden indikatorisiert: Die physisch inexistenten Erlebensgrößen sollen nun aber von physisch existenten Größen begleitet werden. „(D)ie Gefühlswelt des Menschen (ist) nichts als eine Begleiterscheinung elektro-chemischer Vorhänge", so heißt es in einer Resolution 22 prominenter Biowissenschaftler aus dem Jahre 1998 (zit.n. Leisenberg 1999, S. 180). Für diesen Begleitstatus gibt es viele Vokabeln: parallel laufen, korreliert sein, konkomitant sein, aufs Engste verbunden sein und anderes mehr. Allen Vokabeln ist gemeinsam, dass sie nicht eine physisch-bedingungskausale Beziehung bezeichnen. Der Begleitstatus kann nun aber dazu genutzt werden, um aus Erlebnissen Indikatoren zu machen. So können Ängste neuronale „Funktionsstörungen" indizieren. Neurowissenschaftlich erfasst und erklärt werden nur somatische „Funktionsstörungen", nicht aber Gefühle. Zumindest gilt dies dann so, wenn man voraussetzt,

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dass in einer Denkform nur solche Größen erklärt werden können, die in deren Gegenstandsentwurf vorkommen können. Ein Patient sollte wissen, dass er durch den Neuropsychologen in einer Weise vergegenständlicht wird, die ihm selbst sehr fremd ist. Für den Patienten ist die Angst real da, und sie ist in seinen Lebensvollzug sinnhaft eingebettet. Er hat Angst, weil er eine Gefahr sieht, weil er sich Sorgen macht, weil er bedroht wird und anderes mehr. Und er handelt in bestimmter Weise, weil er Angst hat. Im neurowissenschaftlichen Kosmos gibt es weder Ängste als Erlebenstatsachen, noch gibt es in ihm Sinnbeziehungen, die Ängste erzeugen oder die Handlungen veranlassen. In ihm gibt es lediglich raumzeitliche Bedingungsbeziehungen, beispielsweise Erregungsabfolgen im Gehirn - indiziert etwa durch den so genannten BOLD-Effekt (blood oxygenation level dependent), der kernspintomographisch erfasst werden kann. Dieses Entfernen des Erlebens und des Sinns aus dem physischen Kosmos ist nicht die Folge einer gegenständlichen Setzung, sondern es ist deren Voraussetzung. Ernst Cassirer (1989), der der Geschichte des naturwissenschaftlichen Weltbildes nachgegangen ist, sagt dies überdeutlich: „Diese Dingwelt (dieser physische Gegenstandsentwurf; U. L.) ist radikal entseelt; alles, was irgendwie an das persönliche Erleben eines Ich erinnert, ist nicht nur zurückgedrängt, sondern es ist beseitigt und ausgelöscht" (S. 75). Der Naturwissenschaftler „strebt nach einem Weltbild, aus dem das Personale prinzipiell ausgeschaltet ist" (S. 46). Wenn man sich das klarmacht, dann wundert man sich nicht mehr darüber, dass die physische Vergegenständlichung des Menschen ihn jeder Subjektivität, jedes Erlebens, jeder Sinnhaftigkeit beraubt, denn dieser „Raub" ist seine Grundlage. Der neurowissenschaftlich vergegenständlichte Mensch lebt in einer sinnlosen Welt ein sinnloses Leben, und zwar gemäß der Eigenart der naturwissenschaftlichen Realitätssetzung. Schrödinger (1989) sieht darin einen „Preis", den die Naturwissenschaftler für die gegenständlich relative Klarheit ihres Kosmos zu zahlen haben: „Die materielle Welt (der physische Gegenstandsentwurf; U. L.) konnte bloß konstituiert werden um den Preis, dass das Selbst, der Geist, daraus entfernt wurde. Der Geist (mind, mens) gehört also nicht dazu und kann darum selbstverständlich die materielle Welt weder beeinflussen noch von ihr beeinflusst werden" (S. 60). Zur Erinnerung: Wenn im physischen Kosmos ein physisches Ereignis bewirkt ist, dann ist es durch ein anderes physisches Ereignis bewirkt worden. Diese Setzung kennzeichnet den Beginn der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert. Sie markiert den Bruch etwa mit der aristotelischen Physik, in deren Kosmos noch quasiintentionale Kräfte walteten. Und dies gilt auch im Quanten- oder im Superstringkosmos. Das, was aus dem Gegenstandsentwurf der modernen Naturwissenschaften als Bereich kausal wirksamer Größen „entfernt" worden ist, das ist der Gegenstand der semantischen Denkform.

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3.2 Semantische Denkform und ihr Gegenstandsmodus Zur Einleitung will ich abermals Schrödinger (1989) zitieren: „(D)er Welt der Naturwissenschaft (mangelt) alles, was Bedeutung ... hat" (S. 96). Es fehlt aber nicht nur, es kann vielmehr „von einem rein naturwissenschaftlichen Standpunkt aus überhaupt nicht organisch eingebaut werden" (ebd.). Dies hat bemerkenswerte Folgen, so auch die, dass im naturwissenschaftlichen Kosmos naturwissenschaftliches Forschen und dessen Ergebnisse gegenständlich inexistent sind. Es gibt weder das eine noch das andere, denn es macht beispielsweise keinen Sinn, nach der elektrischen Ladung der Hebelgesetze zu fragen oder nach der Masse einer physikalischen Gleichung. Physikalische Theorien und das Forschen, das zu ihnen führt, lassen sich als solche nur semantisch vergegenständlichen, in physischer Vergegenständlichung verlieren sie das, was sie begrifflich, argumentativ und prozedural schlüssig ausmacht. Wer also den aus dem naturwissenschaftlichen Kosmos ausgeschlossenen Geist, sein Prozessieren und seine Produkte erforschen will, der muss einen Kosmos entwerfen, in dem all das gegenständlich untergebracht werden kann. Alle Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften setzen die Existenz einer semantischen Realität. Was diese gegenständliche Setzung minimal einschließt, sei zunächst an einem fiktionalen Beispiel konkret durchgespielt und dann abstrakt festgehalten. Man stelle sich vor, ein Außerirdischer besuche unsere Erde. Es verschlägt ihn an eine belebte Straßenkreuzung, die durch eine Ampelanlage geregelt ist. Ihn beeindrucken das kunterbunte Treiben und dessen ziemlich störungsfreies Verlaufen. Er möchte wissen, was da geschieht. Er will begreifen, erklären und vorhersagen. Er beschränkt sich zunächst auf das Fahrzeuggeschehen. Er beobachtet vielerlei. Manche Beobachtungen lassen Zusammenhänge aufscheinen, andere (wie z.B. die unterschiedlichen Farben der Fahrzeuge) tun dies nicht. So gibt es Zusammenhänge zwischen den Bewegungsunterschieden „durchfahren/anhalten/losfahren" und den Farbunterschieden beim Aufleuchten der Ampeln: „rot/gelb/grün". Es gibt Fahrtrichtungsunterschiede: „geradeaus fahren/rechts abbiegen/links abbiegen". Diese hängen mit Blinkunterschieden am Auto - „rechts blinken/links blinken/ nicht blinken" - zusammen ... und so weiter. Längere Beobachtungen und Aufzeichnungen solcher Zusammenhänge gestatten es dem Außerirdischen, Regeln zu formulieren: Wenn bei einem Differenzmuster A/B/C die Variante B auftaucht, dann hat das zur Folge, dass bei dem Differenzmuster X/Y/Z die Variante Z realisiert wird. Es lassen sich mehrere solcher Regeln entdecken und prognostisch erproben. - Am ersten Abend seines irdischen Daseins ist unser Außerirdischer ziemlich zufrieden. Er kann die Fahrbewegungen der Fahrzeuge mit ihn zufriedenstellender Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Und dieses theoretische Wissen befähigt ihn in der Praxis, die Straßenverkehrskreuzung gefahrlos zu überqueren. Werden eine Straßenkreuzung und das sich auf ihr abspielende Geschehen so vergegenständlicht, so erfasst und so vorhergesagt, dann liegt eine eindeutig semantische Vergegenständlichung vor (und keine physische). Ich habe dieses auf den ersten Blick psychologieferne Beispiel absichtlich gewählt, weil es zeigt, dass

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semantisch angelegtes Forschen keines ist, das sich zwangsläufig und vorrangig um das jeweils individuelle Geistesleben (mind) der beteiligten Menschen kümmern muss. So mag dem Außerirdischen bis zum Abend noch entgangen sein, dass die Fahrzeuge von Menschen gesteuert werden. Dennoch konnte er semantisch vergegenständlichen, forschen und effektiv vorhersagen. Als Psychologe wird man sich freilich auch um individuelle semantische Größen kümmern (im Gegensatz zu einem Sozial- und Kulturwissenschaftler Dürkheim'scher Prägung). Als Psychologe wird man sich fragen, welche Prozesse der Bedeutungsverarbeitung gleichsam in den Köpfen der Autofahrer vonstattengehen und wie diese mit dem pragmasemantisch gefassten Verkehrsgeschehen verbunden sind. Ich habe den etwas ungewöhnlichen Zugang zum semantischen Kosmos über das Verkehrsgeschehen gewählt, weil in ihm von Beginn an klar wird, dass der semantisch vergegenständlichte Geist kein in sich eingeschlossenes, irgendwie „innerweltliches" und so gleichsam frei dahinschwebendes Etwas (das dringend einer neuronalen Grundlage bedarf, um Bodenhaftung zu erlangen) ist, sondern dass das menschliche Geistesleben ein pragmatisch strikt eingebundenes und gegenständlich fest verankertes Etwas ist. Nun werde ich von dem besonderen Beispiel abstrahieren und den Gegenstandsmodus der semantischen Denkform allgemein bestimmen. Demnach wird Folgendes erkenntnisgegenständlich gesetzt: Es gibt eine semantische Realität. Es gibt semantische Einheiten. Zwischen diesen Einheiten bestehen Verweisungszusammenhänge. Veränderungen solcher Zusammenhänge sind zeitlich erstreckt und verweisungskausal bewirkt. In ihren Wirkbeziehungen ist die semantische Realität kausal geschlossen.

Semantische Einheiten (oder Bedeutungseinheiten) sind inhaltliche Differenzen (oder Unterscheidungen) (z.B. unterschiedliche Ampelzustände), die mit anderen inhaltlichen Differenzen (z.B. unterschiedlichen Arten des Fahrverhaltens) durch einen Verweisungszusammenhang verbunden sind (z.B.: Wenn die Ampel auf Rot steht, dann bleiben die Fahrzeuge vor der Ampel stehen, oder sie halten vor ihr an; wenn die Ampel Grün zeigt... und so weiter.). Konstitutiv für den semantischen Kosmos sind die in ihm herrschenden Verweisungsbeziehungen. Es ist dies eine Beziehung, die inhaltliche Differenzen nach bestimmten Verweisungsmodalitäten aufeinander bezieht: Wenn A, dann B; A ist ein Fall von B; aus A und B folgt C; A impliziert B; A und B sind inhaltlich assoziiert; an A kann B vollzogen werden; an A kann B anschließen und anderes mehr. Als so geartete Zusammenhänge lassen sich Lebensführungen einzelner Menschen, Formen des Zusammenlebens mehrerer Menschen, aber auch z.B. apersonal konzipierte Diskurse vergegenständlichen und erforschen. Der semantisch vergegenständlichende Forscher geht davon aus, dass er mit der Kategorie der Verweisungsbeziehung eine Realität setzen, erfassen und erklären kann. (Eine grundlegend andere Beziehungskategorie ist für die physisch vergegenständlichende Forschung konstitutiv.)

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Da das Wissen um Verweisungszusammenhänge es erlaubt, Vorhersagen zu machen (z.B. an einer Straßenverkehrskreuzung), kann man solche Zusammenhänge als kausale betrachten, sofern man Carnap (1974) folgt, wenn er kurz und bündig sagt: „Kausalbeziehung heißt Vorhersagbarkeit" (S. 192). Auch für semantisches Forschen gilt sodann der Satz: Scientia est cognitio per causas. Es ist die Verweisungsbeziehung, die den semantischen Kosmos konstituiert. Und innerhalb des verweisungsstrukturierten semantischen Kosmos sind es die Bestimmungen der semantischen Einheiten, die gleichsam die Körnigkeit der Realitätsgliederung festlegen. Eine Variante der Gliederung des semantischen Kosmos ist die pragmasemantische. Als verweisungszentrale Größen tauchen hier Handlungen (griech. pragma = Handlung) auf. Handlungen sind semantische Einheiten, die individuelle wie soziale Anschlussmöglichkeiten liefern. Sie schaffen einen Kosmos der Handlungen, der Handlungsinstanzen, der Behandlungsgegenstände und der Handlungsergebnisse und -folgen. In ihm gibt es leibhaftige Menschen, Mitmenschen und Gegenstände, durch die, an denen und mit denen sich Handlungen vollziehen können. Solche Gegenstände können terrestrischer Art sein (z.B. Berge) oder institutioneller Art (z.B. Straßenverkehrsampel) oder textlicher Art (z.B. eine Gleichung) und vielerlei anderes mehr. Alle diese möglichen Gegenstände erhalten ihre pragmasemantische Bedeutung durch die operativen Umgangsmöglichkeiten, die ihnen handlungsbezüglich zu eigen sind. Auch das menschliche Geistesleben (sein Denken, Fühlen und Wollen) ist in pragmasemantische Vollzüge verweisungseingebunden. Wäre unser außerirdischer Besucher ein Physiker oder ein Chemiker gewesen und hätte er deshalb versucht, das Straßenverkehrskreuzungsgeschehen im Kosmos der Naturwissenschaften zu vergegenständlichen, dann hätte er es in den Dimensionen Raum, Zeit und Masse erfassen müssen. Eine denkbare Variante wäre die mechanische Vergegenständlichung. Die Straßenverkehrskreuzung wäre dann ein Zusammenhang von Masseeinheiten, die sich in bestimmter Weise im Raum und zueinander bewegen, dabei wirken verschiedene Kräfte, die ihre Bewegungen bestimmen ... und so weiter. Menschen kämen dann vermutlich als biomechanische Größen ins Spiel, bedingungskausal gesteuert durch physikochemische Vorgänge im Gehirn. Ich wage übrigens vorherzusagen, dass unser Außerirdischer am ersten Abend seines irdischen Daseins noch damit beschäftigt gewesen wäre zu überlegen, welche physikalischen Messgeräte er wo und wie installieren könnte, um das, was sich da physisch abspielt, gegenständlich dingfest zu machen. Er wäre noch weit, weit weg von irgendwelchen Vorhersagen gewesen, über die sich unser semantisch vergegenständlichender Außerirdischer schon am ersten Abend freuen konnte. Freilich unterscheiden sich die gegenständlichen Größen der Vorhersagen. Die Aussage Schrödingers (1989, S. 60), dass in einen physischen Zusammenhang Bedeutungsgrößen wie Zeichen, intentionale Handlungen, Entscheidungen, Emotionen und so weiter nicht „organisch eingebaut" werden können, bedarf wohl, so hoffe ich, keiner weiteren Erläuterung. All dies sind Größen, die aber im semantischen Kosmos gegenständlich vorkommen können und dann in ihm durch ihre jeweilige verweisungskausale Funktion Bedeutung erhalten. Blickt man von hier aus auf das Therapiebeispiel zurück, so wird klar, dass die kognitiv-handlungstheoretische Vergegenständlichung des Menschen eine Variante

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seiner Unterbringung im semantischen Kosmos ist (eine andere Variante wäre beispielsweise die tiefenpsychologische). Über alle Varianten der semantischen Vergegenständlichung hinweg lässt sich zur Emotion Folgendes sagen (warum ich von jetzt an zwischen Emotion und Gefühl trenne, werde ich später erläutern): Emotionen sind semantische Größen, die ihre Bedeutung durch die verweisungskausale Stellung in einem von Menschen gelebten semantischen Zusammenhang erhalten. Emotionen ergeben sich aus bestimmten semantischen Größen (z.B. aus Wahrnehmungen, aus Vorstellungen, aus Urteilen, aus Bewertungen), sie gehen manchmal mit bestimmten semantischen Größen einher (z.B. mit bemerkten leiblichen Zuständen), und sie führen zu bestimmten semantischen Größen (z.B. zu Zielsetzungen, zu Bewertungsveränderungen, zu Entscheidungen, zu Handlungen). Es ist diese kausale Rolle, die eine Emotion in einem pragmasemantisch artikulierten und strukturierten Menschen spielt, die sie als semantische Größe bestimmt und ausmacht. In den so genannten Einschätzungstheorien der Emotionspsychologie (vgl. z.B. Mandl & Reiserer 2000) ergibt sich beispielsweise die Angst eines Menschen aus bestimmten Gegebenheiten und kognitiven Analysen: Situative Gegebenheiten (z.B.: Demnächst steht mir der erste Vortrag vor einem großen Publikum bevor) werden kodiert und repräsentiert (z.B.: Ich muss einen Vortrag halten, ich mache das zum ersten Mal, ich weiß gar nicht, ob ich das kann). Die Situationsrepräsentation wird einer Bewertung unterzogen (z.B.: Das ist eine gefahrliche Situation), die zu einem Bewertungsergebnis führt (z.B.: Ich kann mich entsetzlich blamieren). Dieses Ergebnis führt zu einer passenden Emotion (z.B.: Ich habe Angst zu versagen). Bewirkte leibliche Veränderungen (z.B.: Ich habe Magendrücken) führen zu Intensitätsurteilen (z.B.: Ich habe große Angst). Es folgen handlungsbezügliche Erwartungen (z.B.: Wenn ich mich ganz gründlich vorbereite, dann wird die Gefahr des Scheiterns geringer) und entsprechende Zielsetzungen (z.B.: Ich fixiere meinen Vortrag Wort für Wort schriftlich; ich lerne ihn auswendig; ich halte eine Probevortrag vor Freunden). Dies mag die Intensität der Angst mildern (z.B.: Ich werde das schon schaffen) und so weiter. Vertritt ein Therapeut eine solche Emotionstheorie, so wird er entsprechend recherchieren und diagnostizieren. Seine therapeutische Bewältigungshilfe mag in zweierlei Richtung gehen. Einmal direkt emotionsorientiert, dann mag er Entspannungsvorschläge machen und entsprechende Übungen durchexerzieren. Ein andermal problemorientiert, dann mag er Arbeitspraktiken besprechen, kleine Aufgaben bearbeiten lassen. Die semantische Denkform liefert einen Kosmos, in dem nicht nur Psychologen, sondern auch Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftler ihre Gegenstände verorten können. Konstitutiv ist für ihn die Verweisungsbeziehung zwischen inhaltlichen Differenzen. Wer mit dieser Beziehungsansicht in die Welt schaut, erblickt eine Welt semantischer Größen und Zusammenhänge. Diese Welt besteht nicht aus einer irgendwie abgekapselten Innenwelt, sondern sie umfasst, sofern man die Differenz „Innenwelt/Außenwelt" denken will, Innen- und Außenwelt. Eine Aussage, die man im Einzelnen lange erörtern könnte, macht dies sehr deutlich. Sie stammt von dem Altmeister des Pragmatismus, George Herbert Mead (1934):

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„The mechanism of meaning is present in the social act before the emergence of consciousness or awareness of meaning occurs" (S. 77). Callero (1991) folgert: „If we follow Mead cognition (is) a covert extension of a social act" (S. 45). Nun komme ich zu der bereits angekündigten Unterscheidung zwischen Emotion und Gefühl. Sie liefert den Übergang von der semantischen zur phänomenalen Denkform. Emotionen, so wurde ausgeführt, sind semantische Größen, die durch ihre verweisungskausalen Rollen, die sie in einem bestimmten Verweisungszusammenhang spielen, bestimmt sind. Oft wird es so sein, dass mit solchen Emotionen ein bestimmtes Erleben parallel läuft. Dieser Erlebnistatbestand sei nun Gefühl genannt. Begleitende Geföhle sind aber für Emotionen nicht konstitutiv. Konstitutiv ist für sie im semantischen Kosmos allein die verweisungskausale Rolle. Das sei hier nur mit ein paar plausibilisierenden Hinweisen ausgeführt (ausführlich in Laucken 2003a). Wie gesagt: Häufig sind Emotionen von Gefühlen begleitet, manchmal aber auch nicht. Lantermann (1983) meint sogar, „... emotionale Prozesse (verlaufen) in der Regel unterhalb der Bewusstseinsschwelle des Akteurs" (S. 275), das heißt, als Erleben sind sie phänomenal nicht gegeben. Gerade in neuerer Zeit tauchen vermehrt Arbeiten auf, die ausdrücklich unbewusste Emotionen erforschen. Man schreibt auch Tieren (z.B. Ratten) Emotionen zu, ohne zu wissen und ohne wissen zu müssen, ob und wie diese von den Tieren phänomenal erlebt werden (nur ein Sonderling wie Jakob von Uexküll versuchte sich darin; vgl. z.B. 1980). Aus all dem ergibt sich, dass das phänomenale (erlebte) Gefühl kein verweisungskausal relevantes Merkmal einer Emotion ist. Weil Gefühle Emotionen häufig begleiten, können sie aber als wichtige Indikatoren für Emotionen dienen. Die Trennung von Emotion und Gefühl ist übrigens auch unserem Umgangswissen nicht fremd. Oft sind es bestimmte soziale Handlungen, die, wenn wir uns auf sie nachträglich besinnen, uns zu dem Schluss kommen lassen: Ich muss auf Person X wohl ziemlich neidisch gewesen sein. Das habe ich damals so gar nicht bemerkt. Hinsichtlich der Indikatorfunktion erfüllen Gefühle in der semantischen Denkform eine vergleichbare Funktion wie in der physischen Denkform, allerdings verweisen sie jeweils auf Größen krass unterschiedlicher gegenständlicher Modalität: einmal auf physische Größen in bedingungskausalen Zusammenhängen, ein andermal auf semantische Größen in verweisungskausalen Zusammenhängen. 3.3 Phänomenale Denkform und ihr Gegenstandsmodus Mit zwei Zitaten sei eingeleitet: „Die (phänomenale; U. L.) Lebenswelt meint... die subjektive Totalität jener praktisch-sinnerfüllten Wirksphäre, der der Mensch niemals in monadischer Isolierung gegenübersteht, die er vielmehr in seinem konkreten Dasein ist" (Lübbe 1972, S. 76). Dieses konkrete lebensweltliche Dasein zu erfassen, ist die Aufgabe phänomenalen Forschens: „The phenomenal description ..., is directed immediately toward experience phenomena .... All these phenomena are taken exactly as they belong to the phenomenal world" (Buytendijk 1967, S. 259). Die phänomenale Welt ist der Kosmos, in dem der Mensch erlebend-lebt. Dieser Kosmos ist insofern subjektiv, als er nur jeweils einem Subjekt gegeben ist. Und er

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ist insofern eine Totalität, als er keine gegenständlichen Lücken oder Löcher aufweist, die sich durch anderes als wiederum Phänomenales füllen ließen. Für das phänomenale Leben eines Subjekts gilt der Satz: „Ich kann aus dem (phänomenalen; U. L.) Sein nur in das (phänomenale; U. L.) Sein flüchten" (Merleau-Ponty zit. n. Arendt 1979, S. 32). Der phänomenale Kosmos ist praktisch-sinnerfüllt, weil das erlebend-gelebte Handeln und seine Ergebnisse und Folgen den Anker für alle Sinnbezüge liefern. Und: Für den phänomenalen Kosmos gilt, dass sein lebensweltlich konkretes Dasein für Menschen, die dieses Dasein erlebend-leben, keine Lebensmonade oder irgendwie abgeschlossene Innenwelt ist. „Der Mensch wohnt in der ihm vertrauten Welt, er ist, wie die schlichte und unvoreingenommene Phänomenanalyse zeigt, unmittelbar bei der Welt,draußen' und braucht dazu nicht erst irgendwelche Schranken eines fiktiv angesetzten ,Bewusstseins' zu überschreiten" (Stegmüller, 1969, S. 161). Wenn man all diese Aussagen in vergleichbar abstrakter Weise zusammenfasst, mit der bereits der physische und der semantische Gegenstandsentwurf skizziert wurden, so gilt für die phänomenale Denkform folgende gegenständliche Setzung: Es gibt eine phänomenale Realität. Diese ist das erlebend-gelebte Dasein von Menschen. Die phänomenale Realität ist gegliedert und geordnet. Sie besteht aus Sinneinheiten und Sinnbeziehungen. Solche sinnhaften Ordnungen verändern sich in der Zeit. Diese Veränderungen sind sinnkausal bewirkt.

Die so gesetzte phänomenale Realität ist von einer gegenständlichen Qualität, die sie geeignet macht „(to be) an appropriate subject matter for psychological research" (Kuiken, Schopflocher & Wild 1986, S. 373). Um als Erkenntnisgegenstand zu taugen, muss die phänomenale Realität aber nicht nur gegenständlich widerständig sein, ihr muss auch eine erkennbare Ordnung innewohnen: „(T)he phenomenal world appears as a coherent structure ..." (Moustgaard 1990, S. 20). Und welcher Art ist diese Struktur? Sie ist narrativ!: „(T)he structure of experience itself, is exactly narrative. Experience is put together like a story. Experience has a narrative structure ..." (Keen 1986, S. 176). Deshalb gilt: „Wer uns verstehen will, der muss eine Geschichte ... bereithalten, eine Geschichte um Liebe, Leben, Ehre, Besitz, Rache ..." (Schapp 1959, S. 3). „Auch Gefühlsregungen ..., Freude, Trauer, Liebe, Hass tauchen nur in Geschichten auf, in die wir verstrickt sind" (S. 148). Gefühle sind „immer nur Momente an Geschichten" (S. 149). Es gibt auch kein Ich, das Geschichte hat, sondern nur eines, das in Geschichten verstrickt ist und als solches erlebend-gelebt da ist. Dies reicht wohl an Ausführungen (ausführlicher in Laucken 2003a), um zu zeigen, dass die oben skizzierte daseinsanalytische Möglichkeit, den Patienten zu vergegenständlichen, der phänomenalen Denkform und ihrem Gegenstandmodus zugehört. Im phänomenalen Kosmos sind Gefühle erlebend-gelebte Größen, die in erlebend-gelebten Geschichten eine verständliche sinnkausale Rolle spielen. Die Angst, derentwegen der Patient den Therapeuten aufsucht, ist für den Therapeuten ein „Moment an Geschichten", in deren Verstrickungszusammenhängen der Patient

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erlebend-lebt. Das diagnostische Ziel besteht in der Erkundung des Plots der Geschichten, die angstauslösend sind („understanding the patient's lived world", sagt der daseinsanalytisch orientierte Psychiater Hayasaka 1987, S. 392). Die Therapie besteht darin, den Patienten reflexiv einsichtig zu machen und ihn anzuleiten, sein phänomenales Dasein umzubauen. Aus daseinsanalytischer Sicht sind die therapeutischen Erfolge anderer Therapien (seien sie neuropsychologischer oder kognitiv-verhaltenstherapeutischer oder psychoanalytischer Art, seien sie welcher Art auch immer) darauf zurückzufuhren, dass in ihnen Patienten systematisch dazu angeleitet werden, sich von sich und ihren Problemen andere Geschichten zu erzählen. Alle Therapien gleichen sich darin, dass die Patienten von sich und ihren Problemen nach der Therapie andere Geschichten erzählen als vor derselben. Eine so eingelebte Neunarration ist vor allem dann erfolgversprechend, wenn das Problem für den Patienten irgendwie einsichtig und sinnvoll so in eine Geschichte eingebettet wird, dass es für den Patienten handhabbar und folglich behandelbar wird. So mag auch ein Pillenschlucken ein einsichtiges Moment einer Neunarration seines erlebendgelebten Daseins sein. Zu dieser Neunarration gehört freilich auch, dass sein Problem in diesem Fall im Kern ein physikochemisches ist, dem er entsprechend ausgeliefert ist und mit dem er demnach umgehen muss. 4. Ermöglichungsbeziehungen zwischen den Gegenstandsentwürfen verschiedener Denkformen und „Wie ist es möglich?"-Fragen Sich die verschiedenartigen Gegenstandsentwürfe mit ihren differenten Realitätsmodi zu vergegenwärtigen, ist nicht nur für klares Denken wichtig, es macht auch erkenntnisbescheiden und verhindert gegenständliche Usurpationsgelüste. Jede Denkform hat ihre Leistungen und ihre Begrenzungen. Innerhalb der physischen Denkform mag es gelingen, z.B. Hörgeräte zu konstruieren, eine Leistung, die außerhalb der praktischen Reichweite der semantischen Denkform liegt. Innerhalb der semantischen Denkform mag es gelingen, z.B. Regeln und Verfahren der effektiven Schlichtung sozialer Konflikte zu entwerfen, eine Leistung, die außerhalb der praktischen Reichweite der physischen Denkform liegt. Innerhalb der phänomenalen Denkform mag es gelingen, z.B. zu verstehen, in welcher subjektiven Welt ein jugendlicher Gewalttäter lebt, wenn er seine Taten vollbringt. Der physischen Denkform wäre dieses Erkenntnisziel gegenständlich verschlossen und so ließe sich ein- und ausschließend fortfahren. Aus all dem ergibt sich, dass es überheblich und engstirnig wäre, schriebe man allein einer Denkform wissenschaftliche Legitimität zu. Eine jede Denkform und die ihr zugehörige Praxis haben ihre eigenen Leistungen und Grenzen. Worüber nachzudenken sich aber lohnt, ist, ob sich zwischen den denkformspezifischen Gegenstandsentwürfen transversale Beziehungen herstellen lassen. Dabei stoßen wir allerdings auf ein spannendes Problem. Die drei unterschiedenen Gegenstandsentwürfe umfassen jeweils eigene gegenständliche Totalitäten, die jeweils in sich kausal geschlossen sind. Dies ist so, weil die Denkformen so konzipiert sind, wie sie es sind. Man denke an den „Preis"

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Schrödingers, der dem Gegenstandsentwurf der physischen Denkform zugrunde liegt, oder man denke an die „subjektive Totalität", von der Lübbe spricht, wenn er den Gegenstandsentwurf der phänomenalen Denkform bestimmt. Zwischen den einzelnen gegenständlichen Totalitäten lassen sich daher keine kausalen Übersprungbeziehungen der Art „Ende hier (z.B. in der Welt des Phänomenalen mit einer Absicht X), Anfang dort (z.B. in der physischen Welt mit einer elektrischen Entladung Y in einem bestimmten Nervenverband)" herstellen, wohl aber lassen sich zwischen verschiedenen gegenständlichen Totalitäten aufschlussreiche „ Wie ist es möglich? "-Fragen stellen (vgl. Lenk 2001). Solche Fragen thematisieren denkbare ontische Modalbeziehungen zwischen den Gegenstandsentwürfen unterschiedlicher Denkformen. Wie man sich das (transversale) ontische Ermöglichungsverhältnis zwischen ermöglichenden und ermöglichten Größen vorstellen soll, dazu lassen sich vielerlei Theorien bilden. Es gibt schichtenanaloge Ermöglichungstheorien. Das Ermöglichte (z.B. eine semantische Information) ist ein Getragenes, das Ermöglichende (z.B. ein neuronaler Vorgang) ist ein Tragendes. In lateinischer Ausdrucksweise wird oft von einer Substratbeziehung gesprochen. Es gibt stützungsanaloge Ermöglichungsbeziehungen. Das Ermöglichungsverhältnis ist dann ein ermöglichungskomplementär wechselseitiges. So mögen neuronale Größen semantische ermöglichen, welche wiederum die besondere Eigenart der neuronalen ermöglichen. - Zwei ermöglichungstheoretisch fassbare Forschungsbereiche seien hier kurz erwähnt: Hirnplastizität und ihre Grenzen: Mit der Hirnplastizität sind Befunde umschrieben, die zeigen, dass beispielsweise geistige Funktionsverluste (etwa im Gedächtnisbereich), die mit einer Schädigung neuronaler Strukturen (z.B. durch einen Schlaganfall) einhergehen, wieder dadurch behoben werden können, dass intakt gebliebene Hirnstrukturen die geschädigten ersetzen. Frankl (1949) sprach von der Erscheinung des „Vikariierens" (lat. vicarius = stellvertretend). Freilich sind dieser Ersetzbarkeit Grenzen gesetzt. So wurde kürzlich in der Zeitschrift „Nature" (Smirnakis u.a. 2005) berichtet, bei der Erforschung ausgewachsener Makaken habe sich gezeigt, dass das Potenzial neuronaler Reorganisation im Sehsystem nach der Verletzung der Netzhaut sehr gering ist. Dies widerspricht, wie der Berufsverband Deutscher Neurologen (2005) feststellt, „bisherigen Vorstellungen". - Dies ist ein Beispiel ermöglichungstheoretischen Fragens und Forschens. Formale Strukturanalogien: Intensiv diskutiert und forschungsthematisch genutzt wird die Annahme formaler Strukturanalogien (oder Ordnungsentsprechungen) zwischen gegenständlich differenten Zusammenhängen. Theoriegeschichtlich vertraut sind den Psychologen die gestalttheoretischen Annahmen über Feldstrukturen, die sich isomorph in psychischen (phänomenalen) und physiologischen (physischen) Zusammenhängen finden lassen. Wenn man von Strukturanalogien spricht, muss man natürlich über eine formale Struktursprache verfügen. Mcintosh, Fitzpatrick & Friston (2001) suchen nach mathematischen Modellen, mit denen sich kognitive und neuronale Prozesse analog modellieren lassen. Manche Theoretiker glauben, in dem formalen Modell der so genannten neuronalen Netzwerke ein mathematisches Modell gefunden zu haben, welches dies leistet (vgl. z.B. Wasserman 1989). Nach einem euphorischen

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Boom in den 1990er Jahren ist es in jüngster Zeit allerdings etwas still geworden um die Formalisierungskapazitäten, die diesem Modell zugeschrieben werden. Systemtheoretiker sahen und sehen in der formalen Begrifflichkeit der Systemtheorie ein Modell, das verschiedene Realitätsentwürfe analog zu artikulieren und zu strukturieren vermag: biologische, psychische und soziale Systeme (vgl. z.B. Luhmann 1984). So soll es beispielsweise Synergieeffekte hier, da und dort geben. Aber großartig forschungsleitend ist diese Strukturanalogie im hier thematisierten Rahmen nicht geworden. Es gibt zwar viele Analogiebehauptungen, konkrete Symbolisierungen und mathematische Formalisierungen fehlen jedoch. In bislang vorliegenden empirischen Studien (vgl. z.B. Ochsner & Lieberman 2001) werden meist topographische Strukturanalogien herangezogen und erforscht. Die Topologie ist ein, was die formalen Voraussetzungen anbelangt, relativ anspruchsschwaches Modell. Im schlichtesten Falle geht es dann beispielsweise darum, ob etwas, das semantisch getrennt wird (z.B. verschiedene Gedächtnisarten), auch physisch getrennt ist (z.B. lokalisiert in verschiedenen Gehirnarealen). Oder man kann aus der Tatsache, dass bei semantischen Prozessen, die in ihrer theoretischen Erfassung bislang gegenständlich getrennt werden (z.B. Vorurteile, Wahrnehmungen, Stimmungen), dieselben neuronalen Strukturen aktiviert sind (z.B. indiziert durch Daten bildgebender Verfahren), und folgern, dass zu diesen Prozessen vielleicht auch etwas semantisch-prozessual Einheitliches komplementär ist, nach dem man suchen sollte. So folgert etwa Epstein (2000) aus der Beobachtung, dass bei räumlichen wie bei begrifflichen Orientierungsaufgaben das gleiche neuronale Areal aktiviert ist, dass das (gedankliche) „Begreifen" nicht nur bedeutungsgeschichtlich etwas mit dem (manuellen) „Greifen" zu tun hat - was ja bereits Jean Piaget (1947) angenommen hat. Ochsner & Lieberman (2001) sprechen von „unification" (S. 726), wenn neurowissenschaftliche Lokalisierungsbefunde bislang semantisch Getrenntes zusammenführen, und von „dissection" (S. 727), wenn bislang semantisch Einheitliches aufgrund neurowissenschaftlicher Lokalisierungsbefunde getrennt wird. Topographisch strukturangebend ist für sie dabei die Hirnerregungstopographie. Ungeklärt bleibt bei dieser Strukturanalogie allerdings, ob es überhaupt angemessen ist, beispielsweise kognitive Widersprüchlichkeiten (wie kognitive Dissonanzen), topographisch zu erfassen. Allgemeiner gefragt: Lässt sich die Verweisungsarchitektur semantischer Konstellationen topographisch angemessen modellieren? Es ist wert, hier festgehalten zu werden, dass in ermöglichungstheoretischen Denkbezügen die einzelnen ontischen Totalitäten als eigene Realitäten erhalten bleiben, in welche ermöglichenden Bezüge auch immer sie gestellt werden mögen. So bleibt etwa ein Gedicht als Text auch dann eine semantische Gegebenheit, wenn gezeigt werden kann, dass es als physische Gegebenheit aus Tintepartikeln besteht, die, einem komplizierten geometrischen Muster folgend, auf dem Papier, an dem sie haften, verteilt sind - und so weiter. Und dies ist so, selbst wenn weiterhin unstrittig ist, dass das Gedicht auf diese (oder eine andere) physische Verkörperung unabdingbar angewiesen ist. Ermöglichungstheoretisches Denken mündet nie in ein „Nichts anderes als "-Denken (wie es beispielsweise Crick 1997, S. 17, vorführt). Realitäten, die sich wechselseitig ermöglichen, können sich nicht wechselseitig ersetzen.

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Und ein Weiteres ist festzuhalten: Aufschlussreiche ermöglichungstheoretische Untersuchungen verlangen nach einer jeweils ausgiebigen und gründlichen Erfassung der ontischen Konstellationen, die aufeinander bezogen werden sollen. So fordert Braddock (2001) „a systematic and sophisticated phenomenological account of consciousness" (S. 4), bevor man sich anschickt, „Wie ist es möglich?"-Fragen zu stellen, etwa solche nach ermöglichenden neuronalen Zuständen und Vorgängen. Braddock wendet sich damit gegen fleckenhafte Schrumpf-Phänomenologien etwa vom Schlage der „Neurophenomenology" eines Varela (1996). In gleicher Weise widerspräche eine an einzelnen phänomenalen „Symptomen" orientierte Psychotherapie ermöglichungstheoretischem Denken, Forschen und Behandeln. So müsste etwa jeder neurowissenschaftlichen Erfassung eines Patienten eine ausführliche phänomenanalytische Daseinserfassung vorausgehen. Im ermöglichungstheoretischen Denken werden gegenständliche Totalitäten ermöglichungskomplementär aufeinander bezogen. 5. Gründe des Unbehagens: intellektuelle und politische Der Titel dieser Tagung lautet „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur". Wenn etwas Unbehagen bereitet, dann ist es wohl vor allem die UmschwungRhetorik und mehr noch, was sich in deren Gefolge anbahnt: Eine einseitige Verhirnlichung der Psychologie und ihrer psychotherapeutischen Praxis. Denn manche, vor allem die lauten Vertreter der physischen Denkform, erklären ihren Gegenstandsentwurf, hier: neurowissenschaftlich spezifiziert, zum allein wissenschaftlich zulässigen: „(T)he world (is) composed exclusively of concrete (material) things ... though not necessarily corporeal" (Bunge 1991, S. 135 f.). Unbehagen bereitet nicht die neurowissenschaftliche Forschung (die ist sehr interessant und aufschlussreich), sondern der Ausschließlichkeitsanspruch (exclusively), den manche ihrer Vertreter damit verbinden. Wer anderes denkt, so lassen sie wissen, denkt unwissenschaftlich - zumindest aber veraltet. Natürlich kann man niemandem verbieten, die Gegenstandssetzung einer Denkform zur allein selig machenden zu erklären, so wie man niemandem verbieten kann, sich selbst zu blenden und inkompetent zu machen. Folgte man nämlich der Ausschließlichkeitsbehauptung, so machte man sich in wichtigen Handlungsfeldern dumm und unfähig. Dafür nur ein Beispiel: „Nimmt man diesen Standpunkt (den naturwissenschaftlichen Standpunkt; U. L.) ein, so würde es z.B. eine Sprachwissenschaft nur geben, sofern sich an dem Phänomen , Sprache' gewisse physische Bestimmungen zeigen, wie sie in der Lautphysiologie oder Phonetik beschrieben werden" (Cassirer 1980, S. 41). So etwas wie Grammatik oder „Sprache (als) geistige Ordnung einer Gemeinschaft" (Glinz 1962, S. 43) gäbe es gegenständlich nicht mehr. Und so etwas wie der „Dialog der Kulturen" geriete zu einem Schallwellenaustausch (vgl. Laucken 2003b). Es kehrt alles immer wieder. Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat der Mathematiker und Philosoph Edmund Husserl (1954) ein seinerzeit breit erörtertes Buch veröffentlicht mit dem Titel „Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie" (vgl. 1992). Darin stellt er fest, dass die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, so wichtig und technisch folgen-

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reich sie sind, wenig „Lebensbedeutsamkeit" haben. Damit ist gemeint, dass die Naturwissenschaften den Menschen, die ihr Leben sinnperspektivisch durchdenken, ausrichten und gestalten wollen, wenig zu bieten haben. Die Naturwissenschaften entwerfen ein Bild der Wirklichkeit, in welcher der Mensch sich als das, als was er sich lebenspraktisch gegeben ist, nicht finden kann. Der Philosoph Hermann Lübbe (1972) sagt dies so: ,Natur' als Objekt der modernen Naturwissenschaft ... ist keine Wirklichkeit mehr, die der Mensch als Ort seines Daseins erkennen könnte. Der Fortschritt der (Natur-)Wissenschaft bedeutet also zugleich den Fortschritt in der Entfremdung des Menschen von der wissenschaftlich erschlossenen Welt" (S. 67). Knapp und bündig stellt Hannah Arendt (1979) fest: „Kein Mensch ... kann inmitten von (naturwissenschaftlich gesetzten; U. L.) ,Ursachen' leben" (S. 33). Menschen leben eben ein semantisch oder ein sinnhaft geordnetes Leben. Husserl wendet sich übrigens entschieden gegen ein antinaturwissenschaftliches Ressentiment, wie es seinerzeit bei manchen Philosophen (so bei Martin Heidegger) zu finden war. Ihm liegt nur daran zu zeigen, was im Erkenntnis- und Praxisbereich der Naturwissenschaften liegt und was außerhalb desselben. Und es liegt ihm daran zu zeigen, dass das, was außerhalb desselben liegt, nicht nur gleichfalls gegenständlich robust und wissenschaftlich erforschbar ist, sondern darüber hinaus existenziell grundlegend. In eine Krisis gerät das Denken der Menschen über den Menschen lediglich dann, wenn der physisch-naturwissenschaftliche Realitätsentwurf zum allein gültigen erklärt wird. Wie engstirnig dies wäre und wie unnötig - um das erneut darzulegen, habe ich diesen Text verfasst. Wieso denken manche Wissenschaftler heutzutage trotzdem wieder so physischnaturwissenschaftlich engstirnig? Ein Grund dafür liegt wohl heute wie damals in technischen Erfolgen. Der Druck, den naturwissenschaftlichen Blick auf den Menschen einseitig zu bevorzugen, wird umso größer, je technisch effektiver die Naturwissenschaften sind. Eine Wissenschaft, die die Erkenntnisgrundlagen für so viele wunderbare Geräte liefert, hat doch wohl einen Zugriff auf die Wirklichkeit, der dieser gemäß ist. Es bietet sich daher an, auch auf den Menschen so zuzugreifen sogar „exclusively". Wer so denkt, der vergisst freilich, dass der naturwissenschaftliche Weltentwurf, wie Schrödinger (1989) es sagt, einen „Preis" hat. Der Preis besteht darin, dass aus ihm all das „entfernt" werden musste, was dem Leben Bedeutung und Sinn verleiht - übrigens auch dem Forschen selbst. Zurück bleibt ein Wesen, dessen Lebensführung aller Sinnbezüge beraubt ist. Das käme einem radikalen Nihilismus gleich. Man sollte sich folglich nicht wundern, und schon gar nicht sollte es zu Selbstentfremdung und Weltverlorenheitserleben kommen, wenn man etwas, das man zuvor aus der Welt verbannt hat, nun nicht mehr in ihr finden kann. Die „Krisis" erweist sich als eine des eigenen Denkens und der Zirkel, in die man so geraten kann. Betrachtet man die intellektuelle Grundlage des Unbehagens über die Umschwung-Rhetorik, so macht deren offenkundige Schwäche sie gut erträglich. Ein anderes Unbehagen hat wissenschafts- und gesellschaftspolitische Wurzeln. Es entsteht angesichts der ungebrochenen Allerklärungsphantasien mancher Neurowissenschaftler und mehr noch angesichts des nahezu masochistisch anmutenden massenmedialen Echos darauf. Die „Nichts anderes als Rhetorikfeiert wieder mal fröhliche Urständ: Die menschliche Existenz in all ihren Gegebenheiten ist nichts

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anderes als kausal irrelevantes Erscheinungsbeiwerk des „Verhaltens einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen" (Crick 1997, S. 17). Vor einer psychotherapeutischen Praxis, die sich daran ausrichtete, kann einem nur grauen. Ihr gilt es entgegenzuwirken. Und Argumente dafür soll dieser Text liefern. Übernimmt man Luhmanns (1984) Einschätzung, dass das politische System durch die Leitdifferenz „Macht/keine Macht" gesteuert wird, so reichen allerdings Argumente alleine nicht aus. Man muss sie z.B. gesundheitspolitisch einsetzen. Vergisst man zum Abschluss für einen Augenblick die prekären wissenschaftspolitischen Wirkungen bestimmter wissenschaftlicher Anmaßungen, so kann man inmitten all dieses „Gedöns" schmunzelnde Weisheit erleben, wenn man sich klarmacht, dass hinter solcher Aufschneiderei natürlich auch nachvollziehbare Forschungsförderungsinteressen stehen. Was verspricht man nicht alles, wenn es um das Haben und Bekommen von Geld geht? Und neurowissenschaftliche Forschung ist teuer, sehr teuer. Da werden selbst nüchterne Naturwissenschaftler zu Maulhelden. So wie jeder Schuss ins Weltall inzwischen der baldigen Klärung der Frage nach dessen Ursprung dient, so dient jedes neurowissenschaftliche Forschungsvorhaben inzwischen der Beseitigung, zumindest aber der Linderung schlimmer Krankheitsplagen. Es sind Forschungsförderungskriterien, die solche schuldscheinlastigen Verheißungen hervorrufen. Was die argumentative Stichhaltigkeit so mancher Verheißungen angeht, so halte man sich an weniger großspurige Neurowissenschaftler, die um die ihrem Gegenstandsentwurf zukommende gegenständliche Begrenztheit wissen - so sagt etwa Benjamin Libet (1987): „But even a complete knowledge of the neural processes in the brain of another individual would not in itself tell us what the subject is experiencing or feeling" (S. 272). Zusammenfassung Der Text entstand in Vorbereitung auf eine Tagung verschiedener psychotherapeutischer Einrichtungen. Er wurde vorgetragen in einer Arbeitsgruppe zum Thema „Neurowissenschaft und Sinnverstehen". Die Argumente dieses Textes zielen darauf ab, darzulegen und zu begründen, dass der Begriff „Sinn" nichts fasst, was im physisch-naturwissenschaftlichen Kosmos gegenständlich vorkommen kann. Im neurowissenschaftlichen Kosmos führen die Menschen ein sinnloses Leben in einer sinnlosen Welt. Dass dies so ist, ist nicht eine Folge physisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern deren Voraussetzung. Um dem Begriff „Sinn" einen erkenntnisgegenständlichen Status zu geben, bedarf es anderer Gegenstandsentwürfe als des physisch-naturwissenschaftlichen. In dem Text werden drei Denkformen und ihre jeweiligen Gegenstandsentwürfe vorgestellt. Nach diesen Unterscheidungen geht es um die Frage, wie zwischen diesen Gegenstandsentwürfen Beziehungen hergestellt werden können, die begrifflich schlüssig und für Forschung und Praxis aufschlussreich sind. Ein Ergebnis all dieser Überlegungen besteht darin, dass eine psychotherapeutische Praxis, die dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand angemessen ist, den Menschen unterschiedlich vergegenständlichen kann und dies auch tun sollte. Keine Vergegenständlichungsvariante kann die anderen ersetzen, und sie lassen sich diagnostisch und therapeutisch aufschlussreich aufeinander beziehen. Literatur Arendt, Hannah (1979): Vom Leben des Geistes. Bd. 1: Das Denken. München/Zürich: Piper. Bateson, G. (1981): Ökologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Genese und Bedeutung von (Welt- und) Menschenbildern in der Psychotherapie oder: Leitideen und Leidideen gegenwärtiger Psychotherapie und Psychotherapieforschung1 Jürgen Kriz Bereits im Eröffiiungsvortrag wurden einige Aspekte näher ausgeführt, die ein lebensgerechtes Verständnis psychologischer und psychotherapeutischer Prozesse eher erschweren und behindern. Gezeigt wurde, wie die Narrationen und Metaphern, mit denen das Verständnis der Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und letztlich zu sich selbst „zur Sprache" kommt, nach 400 Jahren klassisch-mechanistischer Naturwissenschaft mit eher „technischen" Vorstellungen verbunden sind. Unter Wissenschaftstheoretikern besteht weitgehend Konsens darüber, dass das noch vor hundert Jahren oftmals propagierte Ziel, „objektive" Tatsachen zu einem Gebäude „wahrer" Sätze zu „akkumulieren", sowohl logisch als auch faktisch empirisch nicht haltbar ist. Mehr denn je ist heute eine kontextfreie Betrachtung von „Methoden" und „wissenschaftlichem Fortschritt" obsolet. Der Mensch, seine jeweilige Gesellschaftskultur - und damit, hart formuliert, auch bestimmte Ideologien - lassen sich aus der Wissenschaftsentwicklung nicht wegdenken. Durch ein diskursives Wahrheitsverständnis, das die Pluralität der Ansichten nicht als Schwäche und Fehler begreift, sondern als Stärke, weil durch die Vielfalt an Perspektiven ein komplexer Gegenstand meist adäquater erfasst werden kann, sind der Mensch, seine Kultur und Gesellschaftsform und seine Sprache im Sinne der Semiotik immer schon in die Betrachtung von Methodologien und Methoden einbezogen: Wissenschaft - und damit auch die Methoden der einzelnen Disziplinen und Unterrichtungen - lässt sich dabei als ein komplexes Zeichensystem auffassen, bei dem immer zentral die drei semiotischen Dimensionen mitbedacht werden müssen: Semantik, die Relation zu dem, wozu die sachliche Beziehung hergestellt werden soll, Syntax, die Relation zu den anderen Zeichen und Wissensbeständen (die „Grammatik" der Methoden, Theorien und Wissensbestände also), und Pragmatik, die Relation zur Verwendung durch die Menschen sowie zu deren weiteren Verwendungsund Verwertungszusammenhängen (genauer in Kriz, Lück und Heidbrink 1995). Als wesentliche Konsequenz ergibt sich daraus, dass Fragen der Forschungsmethodik nicht isoliert gesehen und behandelt werden können. Vielmehr sind sie als ein Aspekt einer Ganzheit zu sehen, zu der das Welt- und Menschenbild, die inhaltlichen Anliegen, Fragen und Hypothesen, die Methodologie und letztlich die Methodik im engeren Sinne gehören. Daraus folgt, dass über die Diskussion typischer methodischer Positionen hinaus der Frage nachgegangen werden muss, wie eine Methodologie beschaffen sein könnte, die den Perspektiven sinnverstehender, humanistischer Psychotherapie, mit

1 Für diese Nachschrift wurde auf einen Abschnitt aus folgendem Beitrag von mir (2003) zurückgegriffen: 50 Jahre empirische Psychotherapieforschung: Rückblicke - Einblicke - Ausblicke. Person 7, 11-127.

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

ihrer Betonung der therapeutischen Beziehung, der Person und des Prozesshaften, angemessen ist. Der groteske Anachronismus mancher Argumentationen besteht darin, dass man sich auf vermeintlich „naturwissenschaftliche Forschungsprinzipien und Methoden" beruft, dabei aber ein Weltbild der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts zu restaurieren versucht, das gerade die naturwissenschaftliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts zunehmend als irrig, inadäquat und forschungshinderlich verworfen hat. Doch in der Psychotherapieforschimg beruht ein allzu großer Teil der Forschung auf dem klassischen naturwissenschaftlichen Weltbild, weil dieses nach mehreren Jahrhunderten abendländischer Wissenschaft nun auch unserem Schulund Alltagswissen als eine selten hinterfragte Selbstverständlichkeit zugrunde liegt. Bereits im Eröffnungsvortrag wurden einige Mythen gekennzeichnet, welche die Diskurse als unterhinterfragte Glaubenssätze durchziehen, oft verbunden mit der Vorstellung, dies sei nun „die Wissenschaft". Kurz diskutiert wurden dort: 1. Objektivitäts-Mythos, 2. Analyse-Mythos, 3. Homogenitäts-Mythos, 4. Design-Mythos, 5. Genauigkeits-Mythos, 6. Kausalitäts-Mythos. Ohne hier auf Details eingehen zu können (genauer und ausfuhrlich in Kriz 1997), hängen diese Mythen und das von ihnen getragene Weltbild mit folgenden Prinzipien zusammen. Diese sind zwar in den modernen Naturwissenschaften fragwürdig geworden, wie jeweils gleich ergänzt werden soll. Dennoch durchziehen sie eben weiterhin als Leit- und Leid-Ideen unser Denken und allzu oft auch unsere Erklärungsprinzipien von psychotherapeutischer Veränderung: - Kontrolle: Dies ist eines der Hauptprinzipien klassisch abendländischer Wissenschaft. In den Epochen zuvor wollte man die Welt eher verstehen, um im Einklang mit ihr zu handeln (vor dem religiösen Hintergrund, die Struktur von Gottes Schöpfung, die „harmonices mundi", ehrfurchtsvoll zu verstehen). Doch durch die Aufklärung setzte sich der Mensch selbst als Schöpfer ein: Es galt nun, die Natur und ihre Prinzipien zu verstehen, um sie zu beherrschen und etwas „machen" zu können. Statt auf Vertrauen in Selbstorganisationsprinzipien und auf deren Unterstützung wurde allein und einseitig auf die Methode der Kontrolle gesetzt. Das Prinzip Kontrolle passte natürlich den Mächtigen und Besitzenden hervorragend in ihre konservativen Ideologien, die ihnen Macht und Besitztümer sicherten und den Einsatz von Kontrollorganen wie z.B. Polizei und Militär zur Erhaltung dieser Zustände rechtfertigten - während Selbstorganisation zwar möglicherweise für die Gesamtheit bessere Lösungen, aber vielleicht auch eine Beschränkung der Position der ,»Kontrolleure" bedeutet hätte. Nicht zufallig dauerte es mindestens ein Jahrhundert länger, bis sich die Wissenschaft neben der Kontrolle von Ordnung und deren Zerfallstendenzen (Thermodynamik) dem autonomen Entstehen von Ordnung (Selbstorganisationstheorien) zuwandte.

Kriz: Genese und Bedeutung von (Welt- und) Menschenbildern

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- Homogenität Wichtige Aspekte der Kontrolltechnologie sind Homogenisierbarkeit, Analyse und Synthese: Eine Ganzheit wird ihrer Eigenstruktur entkleidet, in homogene Teile zerlegt; diese werden analysiert und dann zu einem Ganzen synthetisch (und nach der designhaften Schöpfungsidee des Menschen) neu zusammengefügt. Aus zermahlenen Steinen, ohne deren Eigenstruktur, wird beliebig formbarer Beton, aus gewachsenem Holz werden Hartfaserplatten, aus Fleisch wird das „Formfleisch", aus der Psychotherapielandschaft mit gewachsenen Richtungen, die unterschiedliche Lebenszugänge repräsentieren, wird eine einheitliche Therapie aus „Wirkfaktoren" synthetisiert. Die Planetenbahnen, die mit einer Eigengestalt nach Kepler noch die „harmonices mundi" repräsentierten, wurden nach Newtons Naturverständnis zu einer beliebigen Realisation mathematischer Gleichungen. Alles ist gleich gültig (und damit auch „gleichgültig" gegenüber ausgezeichneten Eigenstrukturen). Heute wissen wir, dass Kepler mindestens so viel Recht hatte wie Newton: Aufgrund der Rückkopplungs- und Resonanzeffekte gibt es diskrete Klassen stabiler „PlanetenLösungen" - selbst das Universum ist also nicht so „gleichgültig", wie uns Newton und die klassisch abendländische Wissenschaft dies weismachen wollten. - Geschichtslosigkeit: Die Beschreibungen der Natur über Gleichungen gelten nach klassischer Sicht nicht nur überall im Raum, sondern auch in der Zeit: Eine Sonnenfinsternis lässt sich 2000 Jahre zurück- oder vorausberechnen. Wirkungen und ihre Wege sind weitgehend umkehrbar und damit ohne eine spezifische Geschichtlichkeit. Auch dies ist durch die moderne Systemtheorie für wesentliche Vorgänge in der Natur widerlegt. Hier sind irreversible Prozesse bedeutsam - Entwicklungen also, die von der Zeit abhängig sind und dem System eine spezifische Geschichtlichkeit verleihen. - Linearität und Kontinuität: Der Leitsatz „natura non facit saltus" (die Natur macht keine Sprünge.), von Leibniz formuliert, wurde im Mikrobereich bereits durch die Quantenmechanik widerlegt: Die Natur macht, so gesehen, nur Sprünge! Doch dies berührte unser Verständnis von Alltagsphänomenen wenig. Im Gegensatz dazu sind die typischen qualitativen Sprünge, die im Rahmen moderner Systemtheorie beschrieben werden, alltagsrelevant. Sie gelten nämlich für alle Systeme, sofern diese nicht künstlich isoliert und Rückkopplungen ausgeschlossen werden - und damit ist faktisch die gesamte Natur betroffen, besonders der Bereich des Lebendigen. Kleine Ursachen können dabei, je nach Geschichte des Systems, große Folgen haben, große Ursachen ggf. nahezu keine Folgen. Im Rahmen von Emergenz entstehen plötzlich völlig neue Systemqualitäten etc. Die übliche Linearität von Ursache/Wirkung und die Kontinuität des Verlaufs einer Entwicklung sind somit nicht mehr gegeben. - Lokale Kausalität: Ursache/Wirkung sind nach klassischer Vorstellung (auch im Kontext der Kontrolle) lokal verknüpft - in einem Sinne, demzufolge die Wirkung dort eintritt, wo interveniert wird. Typisches Beispiel: das Ausbeulen einer Blechdose. Dieses Modell ist aber für dynamische Systeme (also u.a. Lebensprozesse) inadäquat: Schon die Struktur eines Wasserfalls lässt sich nicht durch „Ausbeulen" verändern. Verändert werden müssen Umgebungsbedingungen, unter denen ein System selbst organisiert eine ihm inhärente andere Organisationsstruktur wählt. Dies ist eine fundamental andere Vorstellung von Kausalität.

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- Statik: Klassische Vorstellungen beinhalten Statik und Stabilität (selbst die Thermodynamik müsste eigentlich, so gesehen, treffender „Thermostat' heißen), womit natürlich auch bestimmte Verwertungsinteressen (z.B. Energieausbeute bei Maschinen) verbunden sind - wir prachen dies bereits oben an, im Zusammenhang mit der funktionalen Reduktion von „Qualität" (das Tier als „Fleischlieferant"). Damit einher geht eine typische Verdinglichung (Reifikation) von Prozessen: Die Krankheit, die Verhaltensstörung, der Regen, das Feuer etc. sind Substantive und damit eher Dinge, obwohl eigentlich Prozesse gemeint sind. Dies wiederum ist eng damit verbunden, dass oft nur die Veränderung von solchen „Dingen" erklärungsbedürftig erscheint (da „Dinge" ohne Wirkeinflüsse so bleiben, wie sie sind). Aus der Perspektive dynamischer Systeme aber sind gerade auch die Stabilitäten von Prozessen erklärungsbedürftig - also nicht nur die Übergänge „gesund/krank" (Pathologie) und „krank/gesund" (Therapie, Heilung) sondern auch „krank/krank" (Frage: Wie müssen die Bedingungen sein, damit ein „krankes" System „krank" bleibt?) und „gesund/gesund" (was zumindest neuerdings nicht mehr als dinghafte Selbstverständlichkeit gesehen, sondern als „Salutogenese" thematisiert wird). Wenn man diese Prinzipien und Leitideen klassisch-abendländischer Wissenschaft auf den Menschen anwendet, so wird deutlich, dass damit ein Kontext vorgegeben wird (z.B. auch für die Diskussion und Weiterentwicklung von „Forschungsmethoden"), in dem wesentliche Aspekte nicht angemessen zur Geltung kommen. Denn dieser Kontext beraubt den Menschen seiner - Vertrauenswürdigkeit: indem, wie oben betont wurde, Vertrauen durch Kontrolle ersetzt wurde. Entsprechend findet man selbst in der Psychotherapie weit mehr Programme zur Förderung von Selbstkontrolle (bzw. -management) als von Selbstvertrauen. Und „Kontrollverlust" wird eher als Störung thematisiert und gefürchtet als Vertrauensverlust; - Individualität und Einmaligkeit: In Statistiken, diagnostischen Kategorien, Effektivitätswerten etc. tauchen Menschen mit ihren Lebensgeschichten und ihren existenziellen Entwürfen in der Regel nicht mehr auf - das einzelne Schicksal ist im Lichte dieser Zugänge „gleichgültig" (im doppelten Sinne - vgl. oben); - Geschichtlichkeit: Jenseits eines diagnostischen Status quo ist die Lebensgeschichte nicht weiter bedeutsam. So setzt z.B. manualisierte Therapie, im Sinne des Efficacy-Beweises für eine bestimmte Diagnosegruppe eben gerade bei der Gleichheit der zu Behandelnden an (sonst könnte man gar nicht so viel wissenschaftliches Brimborium darum machen, für welche Gruppe nun das Vorgehen als „wissenschaftlich" „bewiesen" gilt und für welche nicht). Dies ist bereits, von außen gesehen, in Anbetracht typischer nichtlinearer Phasenübergänge bei Veränderungsprozessen, inadäquat. Aus der „Erste-Person-Perspektive" drückt aber die Geschichtlichkeit einen wesentlichen Aspekt von „Sinnhaftigkeit" aus, mit der sich der Mensch existenziell in seine Welt stellt - ein Aspekt, der bei dem o.a. Efficay-Beweis gerade irrelevant zu sein hat. - Nicht-Linearität: Kreative Entwicklungs- und Heilungsverläufe, die nichtlinear, sprunghaft, nicht lokal kausal (s.o.) verlaufen, sind nicht vorgesehen (es würde beispielsweise keinen Sinn machen, mittlere Effektwerte von Gruppen zu be-

Kriz: Genese und Bedeutung von (Welt- und) Menschenbildern

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rechnen, wenn man ernsthaft qualitative Sprünge in Rechnung stellt). Gleichwohl sind solche Entwicklungen für den Menschen typisch und wesentlich. - Kontext-Eingebundenheit: Die vielfältigen Interdependenzen werden zugunsten künstlicher Isoliertheit ignoriert. Dies geschieht nicht nur aus pragmatischen Gründen, weil nicht alles in Betracht gezogen werden könnte (was letztlich für jeden Ansatz gilt), sondern aus ideologischen Gründen: Wieder würde die Berücksichtigung der Kontexte dazu führen, dass genau jene Effekte nicht-linearer, emergenter, nicht lokal kausaler Entwicklungsverläufe von Therapie beachtet werden müssten, welche den klassischen Methodenansatz sofort als inadäquat und überfrachtet von Forschungsartefakten ad absurdum führen würde. Will man z.B. die Efificacy-Perspektive nicht gefährden, so ist es in der Tat konsequent, die zu untersuchende „Welt" und die Wirksamkeit quasi ins Labor zu sperren und vorzuschreiben, dass die untersuchten Patienten reinen Diagnosegruppe zuzuordnen seien (und nicht jene „Komorbidität" aufweisen, die nun einmal bei sehr vielen und bei sorgfältiger Diagnostik: vermutlich bei fast allen - realen Patienten zu finden ist). Die so hoch gepriesene Zuverlässigkeit (reliability) und Gültigkeit (validity) dieser Forschung gilt dann zwar nicht dort und nicht bei jenen Menschen, wo Therapie wirklich angewendet wird - dafür lassen sich aber „methodisch saubere" Ergebnisse (aus klassischer Sicht) über einen Kunstbereich in einflussreichen Zeitschriften publizieren, die für Praktiker zwar weitgehend irrelevant sind, aber von anderen Forschern gelesen und zitiert werden, was den „Impact-Faktor" erhöht und der wissenschaftlichen Karriere nutzt. (Wie viele Menschen unter den Bedingungen alltäglicher Realität wirklich behandelt wurden und dadurch für sie bedeutsame Verbesserungen erfahren haben, spielt in der gegenwärtigen Diskussion um die „Effektivität" von Therapieverfahren keine Rolle, vgl. die „Kriterien" des sog. „Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie" in Eckert 1999.) In der folgenden Abbildung werden zusammenfassend die klassischen Prinzipien mit den Prinzipien moderner Systemtheorie in einer Tabelle einander gegenübergestellt - auch wenn hier nicht alle Konzepte und Hintergründe dargestellt werden können (vgl. Kriz 2004). Im Eröffnungsvortrag erfolgte bereits eine andere Gegenüberstellung - nämlich die von Prinzipien moderner (naturwissenschaftlich fundierter) Systemtheorie mit Prinzipien, wie sie von Metzger bereits 1962 als „sechs Kennzeichen der Arbeit am Lebendigen" resümiert und präzisiert wurden. Dabei wurde eine frappante Korrespondenz dieser Grundprinzipien demonstriert. Kurz: Es müssen genau jene, dort als „menschlich" charakterisierten Prinzipien selbst im Umgang mit physikalischen oder chemischen „toten" (aber nicht rückkopplungsfrei isolierten) Systemen berücksichtigt werden, wenn die Naturwissenschaftler im Umgang mit solchen Systemen „effektiv" sein wollen.

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Klmmch-meckwmtisekes Bild

i C

W A

i B

Systemisch-dynamisches Bild

W C

A

B

Fremdorganisation: Eitle Kraft bzw> ein JBinflnss* oder ein „WitkMtor* bewixfa, dass sieh das Sys~ ta {Quadrat} von A »ach B bewegt Ebenso könnte das System aber auch zu jedem anderen Punkt (tew, Ordnungszustand) zwischen A und B - oder auch in Richtung auf C etc. - beweg; weite; - das hingt ausschließlich von der genauen Dosierung, d.h. von Ausmaß und Richtung der Kraft, ab.

Selbstargunisatfon: Aufgrund von nmpeaüseh^i Umgebimpbedingungen {Kräfte, die die Kurveniandschaft bewirken) nimmt das System (Landschaft mit Kugel) einen dynamischen Ord~ nungszustand bzw Attraktor ein {Kugel rollt nach 3). Dieser wird nicht von außen eingeführt (das wire ja Fremdorganisation), sondern ist dem System inhärent (die o.a. Kr0e können mtr bestimmte, systeminhärente Landschaft im bewirken; di# Kugel kam dam nur bei C öder B landen; e gibt also am* gezeichnete Zustände),

Determinismus: Was geschieht, ist nur von der Dosierung (s,o,) der Kraft abhängig. Zufallseinflüsse spielen höchstens als Fehlervariable eine Rolle.

Wahlfreiheit: Es gibt immer mehrere inhärente Zustände (C und B% zwischen denen das System „wählen" kann - diiu, aufgrund von Zufalbeinflüssen oder minimalen Steuereinflüssen (am Gipfel oder naeh bei Ä) weiden relativ große Y^ndenuifm bewitkt

Stabile Gleich-Gültigkeit: Ohne Wir&kraft geschieht gar nwh% ansonsten sind alle Punkte der Ebene gleich gültig (s.o.). Die Ordnung {irgendeine} Position zwischen € und B) wird von außen eingeführt

Instabilität: Beim Entstehen von Ord~ nung (Emergenz) oder beim OrdnungsOrdnungs-Übergang (Phasenübergang wn B nach C) spielt Instabilität eine genitale Rolle (Gfyfel)*

Kriz: Genese und Bedeutung von (Welt- und) Menschenbildern

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Ordnung als Ordnungsaufbau: \ Typischerweise werdenetwas kampikiertere Ordnungszustände aus einfachen synthetisch zusammengesetzt {Baukastenprinzip)* ZJEL wird kompliziertes Verhalten aus einer Sequenz operational^ Konditionierungen ,;msammengesetzt*

Ordnung als Reduktion: Die Emergens von Ordnung bedeutet eine radikale Reduzierung von Komplexität (bei der BetiarMMtabititii aüBl werden Myriaden Gleichungen, die Bewegungsrichtungen und Geschwindigkeiten der Moleküle beschreiben, auf drei Glei chungen für die Rol lbewegung reduziert)

Ordnung wird hier nur von au~ Ben m die Organisation des Systems eingeführt

Zirkuläre Kausalität: Die Dynamik auf der Mikroebene etabliert die Ordner* die ihrerseits ah Feld auf der Ma~ kroebene die Ordnung der Dynamik bewirken; sog» slaving~Prinzip*

Lineare Ursache/Wirkung: je größer die aufgewendete Arbeit („Ursache"), desto größer die Veränderung {die zuruckgek0e Wegstrecke von A mm neuen Punkt, z.B. • • • • • • • •

Keine lineare Ur$achen~Wirkungs~ Relation: Je nach Systemzustand und Geschichte des System bewirken „dieselben" Vei^toderuageii UntefsehiedÄiOhes {in der Umgebung von B oder C wird jede Einwirkung bzw. Abweichung wieder nivelliert; bei A hingegen ffihren geringste Einflüsse m. großen Veränderungen).

A-historisch: Ganz gleieh, wo das System sich befindet oder wie es dort hingekommen ist: Die lineare Ursache/Wirkung gilt stets. (Ob von Ä nach B oder von B nach A oder von A~x nach B~x: Es bewirkt stets die gleiche Arbeit eine gleich große Veränderung.)

Hysterese und Geschiehtlicfrkeiti Werde» Vefinderuagen der Umgebungsbedingungen („Ursachen") zurück* gefahren, so beharrt das System länger in dem Attraktor, in dem es gerade ist. Diu, dieselben quantitativen Veränderungen ^verursachen" Unterschiedliches. (Die Entwicklung von A nach B ist ungleich der von B nach A; von A ßhrt eine kleine Veränderung nach B> von B aber nur eine große zurück nach A.)

©J, Kriz, 2003

Genau genommen ist dies eigentlich alles gar nicht so neu und erstaunlich: In den wesentlichen Erfahrungsbereichen des Lebens ist dies Menschen seit Jahrtausenden zumindest implizit bewusst. Und die Menschen richten sich danach, wenn sie Nutzen „aus der Natur" ziehen und keinen Schaden anrichten wollen. Beispielsweise weiß jeder Bauer und jeder Gärtner, dass die Ordnung, die sie heranwachsen sehen, nicht „gemacht" ist wie Blech-Osterhasen, und es ihre Aufgabe nicht ist, kleine Pflanzen durch ungeduldiges Herumrupfen zu großen machen zu wollen oder mit der Nagelschere die Blätter eines „kranken" Baumes in die „richtige" Form zurechtzuschneiden - all dies wäre ebenso unsinnig wie ineffektiv. Gleichwohl sind sie des-

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

wegen nicht zum Nichtstun verdammt. Vielmehr bedeutet „Effektivität" eben in einer Mischung aus Gewährenlassen, Dulden, Respektieren der Eigenformen und Eigendynamiken, Sensibilität für die rechten Zeitpunkte etc., die Prozesse durch günstige Umgebungsbedingungen in ihrer Eigenart zu fordern. Genau dies tun Mütter seit Jahrtausenden mit ihren heranwachsenden Föten. Man könnte die Föten zwar inzwischen nach fünf Monaten herausoperieren und einer Apparatemedizin unterwerfen, um so in kürzerer Zeit mehr Kinder von derselben Mutter - optimiert mit künstlicher Befruchtung - zu erhalten, aber gottlob ist dieser Bereich bisher von der Art neu propagierter „Effektivität" verschont geblieben (oder doch nicht ganz: Wenn man an die Samenbanken von Nobelpreisträgern denkt, deren sich bereits einfaltige Frauen bedienen). Und zumindest Bevölkerungswachstum propagiert angesichts beklagter „Übervölkerung" niemand ernsthaft2 (wohl aber jenes bestimmter Nationalitäten und Rassen - wie z.B. in nationalistischenfranzösischenGemeinden). Verwunderlich ist somit weniger die neue Erkenntnis der Naturwissenschaftler, sondern eher die Tatsache, dass kontrafaktisch zur Erfahrung der Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten abendländische Wissenschaft als Quelle von Ordnung einzig und allein deren Herstellen und Kontrolle erforschte und propagierte und sich ausführlich nur dem Zerfall von Ordnung (im Rahmen der Thermodynamik) widmete. Dies hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass den Mächtigen eine gemachte und kontrollierte Ordnung natürlich viel besser in die Interessen passte als ein Konzept autonomer, selbst organisierter Ordnung.3 Entsprechend habe ich in meinem Buch „Chaos, Angst und Ordnung" (Kriz 1997) nicht nur gezeigt, wie allgemein die zunächst notwendige Fähigkeit des Menschen, das angstmachende Chaos zu bannen und Ordnung zu etablieren, allzu leicht übertrieben und dann in Zwangsordnungen münden kann, sondern wie an der Wiege abendländischer Wissenschaft durch die „Väter" Bacon, Descartes und Newton genau jene Kontroll- und Beherrschbarkeitsphantasien aus Angstabwehr standen - Angst vor dem archaisch Weiblichen (z.B. in Form alternativen Wissens der Hexen), vor dem Einmaligen und vor dem Nicht-Kontrollierbaren. Ich will dies hier nicht nochmals ausführen. Gleichwohl ist bemerkenswert, wie verblüffend die Mechanismen, die wir bei Zwangspatienten zur Angstabwehr als typische Symptome deuten, jenen Prinzipien entsprechen, die in der abendländischen Wissenschaft - und z.B. immer noch auch in den psychologisch-methodischen Lehrbüchern als „Tugenden" einer sauberen Methodik propagiert werden, nämlich:4 möglichst weitgehende Ausschaltung von Unvorherseh- und Unkontrollierbarem, 2

Obwohl dies kurzfristig recht „effektiv" wäre - denn es ließen sich eine gewisse Zeit lang noch mehr Coladosen, Volkswagen oder Atomkraftwerke absetzen. 3 So wurde immer mit dem „Chaos der Anarchie" gedroht - Heik Portele hat daher mehrfach darauf verwiesen, dass Anarchie nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft meint (vgl. Portele 1992).

4 ••

Ahnlich äußerte sich schon Abraham Maslow, einer der Väter der humanistischen Psychologie, indem er ein Kapitel seines Buches „Psychologie der Wissenschaft" (Maslow 1977) mit dem Titel überschreibt: „Die Pathologie der Erkenntnis: Angst mildernde Mechanismen der Erkenntnis." In einem anderen Kapitel stellt er eine Liste zusammen von 21 "krankhaften", "primär angstbedingten" Formen im Bedürfnis, „Erkenntnisse zu gewinnen ...". Und ein weiteres Kapitel lässt er mit den zusammenfassenden Sätzen beginnen: „Wissenschaft kann demnach der Abwehr dienen. Sie kann primär eine SicherheitsPhilosophie sein, ein Absicherungssystem, ein kompliziertes Mittel, Angst zu vermeiden ...".

Kriz: Genese und Bedeutung von (Welt- und) Menschenbildern

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Reduktion von Einflussvariablen, möglichst weitgehende Prognose der Ergebnisse von Handlungen, maximale Kontrolle dessen, was passieren kann, das Verbergen der eigenen Motive und Emotionen hinter einer „richtigen" Methodik, Beschränkung der Erfahrungen auf jenen Bereich, der durch „zulässige" Fragen und Vorgehensweisen vorab definiert ist. Vor einigen Jahren habe ich den Beitrag „Die Effektivität des Menschlichen" (Kriz 1998) mit einer Art Appell bendet. Ich möchte diesen hier wiederholen, denn er scheint mir nach wie vor von Bedeutung zu sein: „Wenn uns dies alles klar wird, was bleibt uns konkret zu tun? Der wichtigste Aspekt, den ich mit meinem Vortrag herausarbeiten wollte, ist, der Ideologie einer unmenschlichen Effektivität - einer Effektivität, die mit pseudowissenschaftlichen und Pseudo-Sachzwang-Argumenten gegen Menschlichkeit ins Feld gefuhrt wird - die Effektivität des Menschlichen entgegenzusetzen. Das bedeutet, sich in den Auseinandersetzungen nicht durch falsche Alternativen oder durch falsch verstandene „Wissenschaftlichkeit" aushebeln und kleinlaut machen zu lassen, sondern progressiv das Menschliche zu vertreten. Dabei müssen wir allerdings mit dem Widerstand und der Angst deijenigen rechnen, die weiterhin auf Ordnung und Effektivität allein durch Kontrolle und Quantität setzen (trotz des Geredes von angeblicher Qualitätssicherung!). Wir dürfen uns aber der Unterstützung durch die Naturwissenschaft sicher sein. In sofern ist zu hoffen, dass der Ruf nach einer menschlichkeitsfeindlichen Effektivität mittelfristig zu den Absurditäten unverstandener Wissenschaft im Ausklang des 20. Jahrhunderts gerechnet werden darf. Literatur Eckert, J. (1999): Zur Anerkennung von psychotherapeutischen Verfahren als wissenschaftlich. Psychotherapeut, 44. Kriz, J. (1997): Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen/Zürich: Vandenheock & Ruprecht. Kriz, J. (1998): Die Effektivität des Menschlichen. Argumente aus einer systemischen Perspektive. Gestalt Theory, 20,131-142. Abdruck auch in: bdp (Hrsg.): Reader, 3. Landes-Psychologinnen-Tag Schleswig-Holstein „Zwischen Effektivität und Menschlichkeit - Fragen an die Psychologie", Nachdruck in: systhema, 12,3,277-288. Kriz, J. (2004): Personzentrierte Systemtheorie. Grundfragen und Kernaspekte. In: Schlippe, A.v. & Kriz, W. C. (Hrsg.): Personzentrierung und Systemtheorie. Perspektiven für psychotherapeutisches Handeln. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 13-67. Kriz, J., Lück, H. E. & Heidbrink, H. (1995): Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Eine Einführung für Psychologen und Humanwissenschaftler. Opladen: Leske & Büdlich. Maslow, Abraham (1977): Die Psychologie der Wissenschaft. München: Goldmann. Metzger, Wolfgang (1962): Schöpferische Freiheit. Frankfurt a. M.: Waldemar Kramer. Portele, (Heik) Gerhard (1992): Der Mensch ist kein Wägelchen. Köln: Edition Humanist. Psychologie.

Macht Erfahrung klug? Psychologische (Praxis-)Forschung als Verbindung von individueller Erfahrung und wissenschaftlicher Verallgemeinerung. Oder: Methodisches zum Verhältnis von Vogelgrippe und Therapie Morus Markard

Das Sprichwort sagt uns, dass man aus Erfahrung klug werde. Genaueres Hinsehen lehrt uns allerdings, dass Erfahrung auch zu Abstumpfung, Verblödung und Sprachlosigkeit fuhren kann. Inwieweit man aus Erfahrung klug werden kann, hängt davon ab, welche Erfahrung man wie aufschlüsselt - und auch davon, was man eigentlich unter „klug" versteht. Bedeutet „klug" z.B. - das gewitzte Zurechtkommen im Rahmen eines geschmeidigen Opportunismus, der jene Rundung sich zuzulegen weiß, mit der ein Anecken nicht mehr möglich ist? - human inspirierte, raffinierte bis subversive Taktiken im Dschungel institutioneller Menschenverwaltung? - die Analyse des Verhältnisses fachlicher und politischer Aspekte psychologischer Arbeit, etwa bei der Begründung für die Verlängerung der Aufenthaltsmöglichkeit aus Bosnien geflohener, „traumatisierter" Frauen (vgl. Rafailovic 2006)? Offensichtlich hängen die beiden Aspekte - was man unter „klug" versteht und wie man welche Erfahrungen aufschlüsselt - zusammen. Dabei ist schon rein sprachlich bemerkenswert, dass in der Alltagsformulierung „Erfahrungen machen" das Subjekt der Erfahrung keineswegs als passiv unterstellt wird. Der Aspekt des Tätigen ergibt sich auch schon etymologisch: ervarn heißt „durchziehen", „durchreisen". Dass ich gleichwohl auch die Erfahrung eines Widerfahrnisses im Sinne einer völligen Ausgeliefertheit an Natur, an eine gesellschaftliche Situation oder an andere machen kann, bestreite ich natürlich nicht, aber diese Erfahrung wäre dann als eine Extremvariante in einer Dimension tätigen Erfahrungenmachens mit den dafür spezifischen emotionalen Qualitäten zu analysieren.

Auf Erfahrung wird in Grundlagenwissenschaft, in angewandter Wissenschaft, in wissenschaftlich sich legitimierender Praxis und im Alltag Bezug genommen, wobei diese Bezugnahme kritisch sich versteht - gegenüber theoretischen Behauptungen, dogmatischen Setzungen etc., womit der Erfahrung potenziell ganz allgemein jenes ideologiekritische Motiv zukommt, das ihr, wie Pongratz (1984, S. 53) hervorhebt, seit dem 13. Jahrhundert gegenüber der Scholastik zugesprochen wird. Nur, so richtig das ist, so wenig einfach liegt die Sache leider: Denn auch Erfahrungen sind höchst umstritten. Ob es um die Folgen naturwissenschaftlicher Forschung geht, in der die an der Debatte Beteiligten gegenseitig mit „Erfahrung" argumentieren, ob es um den sozialwissenschaftlichen Streit geht, wie eigentlich Erfahrungswissenschaft aufzufassen ist, ob es um - wie schon beispielhaft angeführt - Erfahrungen in beruflicher Praxis oder im Alltag geht: Zumindest heutzutage wäre die Annahme, dass dem Rekurs auf Erfahrung per se ein ideologie-

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kritisches Moment innewohne, naiv. Auch das sagt uns schon der Alltag: „Erfahrung steht gegen Erfahrung". Das heißt: Alleine unter Bezug auf „Erfahrung" ist eine Streitfrage nicht zu entscheiden. Damit bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt: Wie schlüsselt man welche Erfahrungen auf, und was ist unter der Klugheit zu verstehen, die daraus resultieren kann? Ich kann die damit verbundenen Probleme nur exemplarisch behandeln und will das in vier Bereichen tun: I dem Verhältnis von Begriffen und Erfahrung, II dem Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit bzw. Mitteilbarkeit von Erfahrung, III den daraus folgenden Konsequenzen für das Verhältnis von kritischer und affirmativer Praxis und IV den methodologischen Implikationen eines subjektwissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs. I Zum Verhältnis von Begriffen und Erfahrung Die Frage ist: Was kann wissenschaftlich unter Bezug auf Erfahrung entschieden werden? Man könnte ja doch meinen, dass im Falle empirischer Untersuchungen empirische Daten und Resultate über Gehalt und Geltung von Konzepten entscheiden. Nehmen wir ein Beispiel aus der - experimentellen - Psychologie: den Zusammenhang von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz. Damit ist bekanntlich gemeint: Wenn ein bestimmtes Verhalten nicht jedes Mal, sondern unregelmäßig belohnt („verstärkt") wurde, dauert es nach einem dauerhaften Ausbleiben der Belohnung länger, bis das entsprechende Verhalten auch ausbleibt. An einem Beispiel veranschaulicht: Ein Angler, der mit jedem Angelwurf einen Fisch fangt, wird jedes Mal belohnt, einer, der nur ab und zu einen an der ausgeworfenen Angel hat, „intermittierend". Man kann sich leicht vorstellen, dass der erste schneller aufgibt, wenn kein Fisch mehr anbeißt, als der zweite (der ja, was leicht nachvollziehbar ist, länger hoffen kann). Was wir nun tatsächlich experimentell klären können, ist, ob dieser theoretisch behauptete Zusammenhang zutrifft oder nicht. Was dabei aber nicht mit überprüft wird, ist die Relevanz der Begriffe für menschliches Leben, in denen diese Theorie formuliert ist: „Reiz", „Reaktion", „Verstärkung". Es gibt wohl keine Fahrschule, in der man nach der Logik dieser Begriffe, das heißt ja auch: nach Versuch und Irrtum, die Bedeutung von Bremslichtern lernt. Denn das hieße, dass die Fahrschülerinnen und Fahrschüler erst allmählich, nach einer Reihe von Auffahrunfallen, ,mitkriegen', dass sich mit dem Aufleuchten der Bremslichter eine Verlangsamung der Fahrt des vorher fahrenden Fahrzeuges ankündigt. In Fahrschulen werden Bremslichter nicht als „Reize" behandelt, sondern als gesellschaftliche, sprachlich vermittelbare Bedeutungen. Allgemeiner formuliert: Die Welt, objektive Bedingungen, „Reize" sind zu fassen als Bedeutungen, zu denen sich das Individuum verhalten kann und muss; Bedeutungen determinieren menschliches Handeln also nicht direkt, sondern müssen als Handlungsmöglichkeiten aufgefasst werden. Handlungsmöglichkeiten werden

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für das Individuum dann zu subjektiven „Handlungsprämissen", wenn es im Zuge gegebener Lebensproblematiken aus subjektiven Lösungsnotwendigkeiten heraus Handlungsintentionen entwickeln muss. Prämissen sind also vom Individuum „herausgegliederte" Aspekte von Bedeutungskonstellationen. Handlungen sind in Prämissen begründet. Zum Beispiel ist eine über den Sitzen befindliche Gepäckablage im Zugabteil eine Bedingung, meinen Koffer aus den Füßen zu kriegen; sie wird dann für mich zur einschlägigen Prämisse, wenn ich das Gepäck tatsächlich aus den Füßen kriegen will. Handlungsintention: den Koffer nach oben wuchten; Handlung: Ich wuchte den Koffer nach oben. Eine weniger naheliegende, aber mögliche Prämissenakzentuierung der Bedingung „Gepäckablage" wäre übrigens, daran Klimmzüge zu vollführen oder vor der Reise nicht mehr trocken gewordene Wäsche aufzuhängen. Zentral ist, dass die Gepäckablage nicht einfach auf das Individuum wirkt, sondern dass das Individuum die Gepäckablage zu seiner Prämisse macht und dergestalt einen Sinnzusammenhang konstituiert. Und in diesem Sinne müssen theoretische Aussagen über Handlungen Aussagen über Prämissen-GründeZusammenhänge sein. Um einem allfalligen Missverständnis vorzubeugen, möchte ich Folgendes hervorheben: „Begründet" bedeutet hier nicht notwendig „rational" oder „bewusst", wie sich am Beispiel von Lackmuspapier veranschaulichen lässt: Lackmuspapier färbt sich gewiss nicht bewusst rot oder blau, wohl aber auch nicht unbewusst, sondern unter bestimmten Bedingungen, es wechselt die Farbe bedingt. Das bedeutet: Unbewusstes macht nur im Begründungsdiskurs Sinn. Und für das Angler-Beispiel von oben bedeutet das: Der See bzw. die Verhältnisse sind für den Angler eine völlig undurchschaubare und undurchdringliche Angelegenheit, so dass er, bewusst oder nicht bewusst, auf „Rumprobieren" zurückgeworfen ist - bei extremer Prämissenreduktion. Ich werde darauf noch näher eingehen. Ein weiterer Aspekt zur Begriffsrelevanz: Ich kann empirisch feststellen, dass der in Florenz stehende marmorne David von Michelangelo voluminöser, schwerer und weniger leitfähig ist als der in Paris sitzende bronzene Denker von Rodin. Das mögen für ein Fuhrunternehmen durchaus wichtige Aspekte sein - für das, was wir gewöhnlich mit einem Kunstwerk verbinden, aber nicht. Also: Allein mit empirischen Methoden, wie ausgefeilt sie als Organisation von Erfahrung entwickelt sein mögen, können wir die Relevanz von Dimensionen oder Begriffen nicht klären. Das ist der Grund dafür, weswegen - für kritische Wissenschaft allemal - die Ebene der Begriffsklärung und -kritik empirisch nicht zu erledigen ist. Dies markiert die Grenze der auf Erfahrung setzenden Erfahrungswissenschaft und die Notwendigkeit, empirische Methoden den kategorialen Dimensionen des Gegenstandes anzupassen. Fahrlehrerinnen und Fahrlehrer wissen das offenkundig. Das Problem experimentell-statistisch verfahrender sozialwissenschaftlicher und psychologischer Ansätze besteht nun weiter darin, dass im Vollsinne der Erfahrungsbegriff nur für die wissenschaftlich Arbeitenden gilt, während die Erfahrung der Untersuchten methodisch reguliert bis - mit Adorno gesagt - „annulliert"

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(1972, S. 69) wird oder, mit Marx formuliert, das „Zeugnis der Sinne ... zur Sinnlichkeit der Geometrie" verkürzt wird (1953, S. 330). II Zum Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit bzw. der Mitteilbarkeit von Erfahrung So wie im Experiment empirische Ergnisse in ihrem Zustandekommen begrifflich aufgeschlüsselt werden müssen, werden auch anderweitig Erfahrungen im Lichte von Konzeptionen gemacht. Aber: Imponieren denn nicht als zentrale Momente der Selbst- und Welterfahrung Unmittelbarkeit und personale Authentizität? Ich bin es doch, der Erfahrungen macht, und es gibt niemanden, der sie mir abnehmen kann; dazu gehören die räumliche und zeitliche Situiertheit und die darin - leiblich - gegründete Perspektivität. Die eigene Erfahrung von Liebe, Sexualität, Vaterschaft, Zahnschmerz, musikalischem Hörgenuss, körperlicher Erschöpfung ist nicht durch Berichte anderer ersetzbar. Erfahrenem kann ich mehr oder weniger passiv ausgeliefert (Zahnschmerz, Lärm, Musik - in Kaufhäusern) oder auch intentional zugewandt sein (Musik), ich kann Erfahrungen suchen, Gelegenheiten dazu aufsuchen, ich kann sie zu vermeiden suchen. Unersetzbare eigene Erfahrungen, die darüber hinaus einen hohen Anteil eigenen praktischen Tuns enthalten, lassen sich am Erlernen des Spiels eines Musikinstrumentes verdeutlichen: Ich kann beliebig vielen Gitarristen zuschauen und beliebig viele Lehrbücher über das Gitarrespielen lesen: Dadurch kann ich selber nicht zum Spieler werden. Sinnliche Erfahrung und aktives Handeln sind nicht per se getrennt, sie stehen in einem jeweils zu bestimmenden Verhältnis zueinander. Trotz der sinnlichen Unmittelbarkeit von Erfahrung, wie sie je mir - und zunächst nur mir - gegeben ist, ist bei Erfahrungen von Ego tendenziell Alter mitgedacht, zumindest mitdenkbar: Man kann nicht nur Erfahrungen teilen und mitteilen mit den schon in Redewendungen angesprochen Funktionen: Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude - wir können auch aus Erfahrungen anderer lernen, was im Übrigen den Grundzug von Verallgemeinerung ausmacht. Aber was heißt es eigentlich, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, Freude oder Leid zu teilen? Was an den Erfahrungen ist es, das geteilt werden oder mitgeteilt werden kann, wenn man die sinnliche Unmittelbarkeit von Erfahrung bedenkt, ernst nimmt und nicht suspendieren will? Das Kernproblem scheint zu sein, ob sich Unmittelbarkeit anderen vermitteln läst. Der Lösungsansatz scheint mir darin zu bestehen, dass Erfahrungen im Medium gesellschaftlicher Denkformen (und damit gesellschaftlicher Bedeutungen) gemacht werden bzw. darin aufzuschlüsseln sind: Das Unmittelbare und Authentische von Erfahrungen bedeutet nicht solipsistische Verkapselung, sondern je meine Realisierung von (gesellschaftlichen) Bedeutungen, wie sie für je mich zu Prämissen werden. Wenn ich mich selber etwa als mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet oder ihnen ausgeliefert erfahre oder beobachte, erfahre oder beobachte ich mich erstens in der allgemeinen Denkfigur „personale Eigenschaften" und zweitens in der gesellschaftlichen Auffassung über den psychischen Gehalt der betreffenden Eigenschaft (wie „höflich", „kompetent" oder „bescheuert"). Damit, dass individuelle Erfahrungen im Medium gesellschaftlicher Denkformen gemacht werden, ist auch die erwähnte generelle Alltagserfahrung der verdoppelten Freude und des

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halbierten Leids verbunden. Damit sind die Probleme der Aufschlüsselung von Erfahrung natürlich nicht gelöst, sondern sie sollen nur so gestellt werden, dass die Funktion des Erfahrungsbegriffs und -bezuges fassbar wird. Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Unterscheidung von Sozialität und Gesellschaftlichkeit bzw. von anschaulichen und nicht anschaulichen Aspekten von Erfahrbarem (Holzkamp 1984). Die Gesellschaft ist zwar ein reales System, durch das die Lebenserhaltung des Einzelnen vermittelt ist, Gesellschaft als System ist aber für sich genommen kein anschaulicher, kein unmittelbarer Erfahrungstatbestand. Gesellschaftliche Verhältnisse strukturieren, vermittelt über verschiedene auch i. e. S. institutionelle - Subsysteme, die Lebenstätigkeiten, Denkweisen und Erfahrungen der Gesellschaftsmitglieder. Diese Strukturiertheit ist selber aber nicht anschaulich, sondern nur, wenn man so will, rekonstruktiv zu ermitteln. Was (jeweils) zu rekonstruieren ist, ist der Vermittlungszusammenhang zwischen unmittelbarer Lebenswelt bzw. unmittelbar gegebener Situation und dem diese umgreifenden und strukturierenden gesellschaftlichen System. In unserem Zusammenhang zentral ist, dass das gesellschaftliche System und seine institutionellen Subsysteme auch die unmittelbaren und in ihrer lebensweltlichen Unmittelbarkeit durchaus auch anschaulich anmutenden sozialen Beziehungen - unanschaulich - strukturieren. „Anschauliche" soziale Beziehung gehen in ihrer Anschaulichkeit nicht auf. Wie wir Männer, Frauen, Kinder wahrnehmen, hat biographische, situative und gesellschaftliche Dimensionen. Die Unanschaulichkeit von gesellschaftlichen Strukturen bedeutet eben keineswegs ihre Unerfahrbarkeit, sondern nur, dass Erfahrungen, sofern sie nicht auf diese Momente hin analysiert werden, unvollständig und schief analysiert werden. Wir müssen allerdings bedenken, dass es bezüglich dessen, was Gesellschaft ist, in welcher Art Gesellschaft wir leben, unterschiedliche, konkurrierende theoretische Rekonstruktionen und Reflexionen gibt. Daraus folgt, dass die Aufschlüsselung von Erfahrungen strittig sein muss. Ob man diese Gesellschaft als soziale Marktwirtschaft, als Risikogesellschaft, als Ambiente postmoderner Flaneure oder als ordinäre kapitalistische Barbarei betrachtet, ist umstritten, aber für die Aufschlüsselung von Erfahrung (z.B. von Arbeitslosigkeit oder Schulschwänzen) wesentlich, je nach Lage der Dinge auch praktisch relevant. Die Bedeutung unanschaulicher gesellschaftlicher Strukturen bringt weitere Komplikationen mit sich: Wenn man davon ausgeht, dass subjektives Leiden mit gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt ist, dann sind der Psychologie Grenzen gesetzt, soweit sie auf dieser Ebene nicht eingreifen kann und will. Wenn man aus der Situation einer allein erziehenden Frau mit fünf Kindern in einer Dreizimmerwohnung mit fließendem Wasser von allen Wänden den Mangel an Frustrationstoleranz dieser Frau machte, wäre das die platte psychologisierende Lösung dieses Strukturproblems. III Konsequenzen für das Verhältnis von kritischer und affirmativer Praxis Um dies einzuleiten, muss ich noch einmal auf das (psychologische) Experiment zurückkommen, und zwar unter folgendem Aspekt: Im Experiment wird vorab die Theorie formuliert und dann operationalisiert, so dass in diesem theoretisch-praktischen Rahmen die empirischen Daten erzeugt und interpretiert werden (können).

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Dieses methodische Arrangement legt also der Konzeption nach die Bedingungen und die Theorie fur die Erzeugung und Interpretation der auf diesen Grundlagen organisierten empirischen Daten (und damit der auf diese Weise reglementierten Erfahrungsmöglichkeiten) der Versuchspersonen fest. Jenseits eines solchen methodischen Arrangements, also in jedweder (Forschungs-)Praxis, die eine derartige Reglementierung nicht durchsetzen kann oder will, können die theoretischen Überlegungen nicht von einer durch den Versuchsleiter gestalteten Anordnung abgeleitet werden, sondern sie müssen tendenziell vom Problem eines Betroffenen ausgehen: Diesem Handlungsproblem sind nun aber prima vista gerade nicht die darin beschlossenen Erfahrungen bzw. die Theorien oder Denkformen, in deren Lichte sie gemacht werden, anzusehen. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, diese erst zu rekonstruieren bzw. zu diskutieren. Dabei lassen sich zwei problematische Momente des Bezuges auf Erfahrung herausarbeiten, die mir insbesondere in der Analyse psychologischer Praxis deutlich geworden sind: dass dieser Bezug auf Erfahrung nicht das - die Frage entscheidende - Ende einer Argumentation ausmachen kann, sondern nur deren Teil oder Beginn und dass unter bestimmten Bedingungen der Rekurs auf Erfahrung kritikimmunisierend und damit affirmativ werden kann So berichtete in einem unserer Projekte eine psychologische Betreuerin „allein stehender", junger, lediger, in einem einschlägigen Heim lebender Mütter von ihrer „Erfahrung", dass diese jungen Frauen Autoritätsprobleme, die sie mit Lehrern und anderen Autoritätsfiguren gehabt hätten, auf sie übertrügen. Nachfragen ergaben, dass ein Auslöser dieser „Autoritätsprobleme" z.B. der Umstand war, dass sich die Frauen dagegen wehrten, dass sie ihr monatliches Taschengeld nicht zum Monatsbeginn in Gänze, sondern in Raten erhielten eine Maßnahme, die von der Heimleitung bzw. der Psychologin mit einer Tendenz der jungen Frauen begründet wurde, ihr Geld in den ersten Tagen nach der Auszahlung für nach Auffassung der Heimleitung überflüssige Aktivitäten wie etwa Taxifahrten ,/auszuschmeißen", so dass sie dann den Rest des Monats mit leeren Händen dastünden.

Was ist nun unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt zu diesem Erfahrungsbericht zu sagen? Was mit der Vokabel „Autoritätsprobleme" angeführt ist, ist kein empirischer oder zu beobachtender Sachverhalt, der unmittelbar erfahrbar wäre, sondern ein Konzept, mit dem der eigentliche empirische Sachverhalt, die Auseinandersetzung um die Auszahlungsmodalität des Geldes nämlich, theoretisch gedeutet wird. Oder in anderer Perspektive formuliert: Das Konzept „Autoritätsprobleme" war der Psychologin so „in Fleisch und Blut übergegangen", dass sie die einschlägige (Konflikt-)Erfahrung nicht mehr vom Begriff des „Autoritätsproblems", in dem sie die Erfahrung machte, trennte - eine Vermischung, die in diesem Fall im Übrigen die fur die Psychologin angenehme Eigenart hatte, die Frage, ob sie selber autoritär auftrete, ob die jungen Frauen mit ihrem Widerstand Recht haben könnten, ausblenden zu können. Durch diese Erfahrungsstrukturierung ließ sich der materielle Konflikt in ein nur noch psychologisches Problem transformieren, also sozusagen auf das Terrain der Psychologin in einer Weise transportieren, in der den betroffenen Frauen ihr potenziell berechtigter Widerstand psychologisch entwunden wurde. Diese Erfahrung, so zeigt sich hier, konnte nur diskutiert und tendenziell kritisiert werden, weil sie auf darin beschlossene Denkformen hin analysiert wurde, was eben einschließt, dass Beschreibung und Deutung so gut wie möglich analytisch

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voneinander getrennt werden. Es ist also erforderlich, die den Erfahrungen und damit verbundenen Handlungen zugrunde liegenden (i. w. S.) theoretischen Vorstellungen herauszupräparieren. In diesem Zusammenhang zeigt sich weiter, dass die Rede vom Theorie-PraxisVerhältnis, bei dem die Erfahrung ja eine wesentliche Rolle spielen soll, unter einem Aspekt zu differenzieren ist. Denn bei dem, was nur als Theorie-Praxis-Differenz erscheint, geht es - auch - um ein Verhältnis unterschiedlicher, ggf. gegensätzlicher, sich ausschließender, konkurrierender Theorien, also um ein Theorie-TheorieVerhältnis (vgl. Holzkamp 1988, S. 45). Da es - wegen des antizipatorischen Charakters von Handeln - Praxis ohne „Theorie" gar nicht geben kann, stehen sich also genau genommen nie Theorie und Praxis direkt, sondern immer nur Theorien mit jeweiligen Praxisbezügen gegenüber. Auch aus diesem Grund sind Praxis und die sich auf Praxis(-Erfahrung) beziehende Argumentation auf ihre theoretische Strukturiertheit hin zu befragen. Das Theorie-Praxis-Verhältnis ist keines zwischen psychologischer Grundlagenwissenschaft und praktisch-beruflicher Tätigkeit von Psychologinnen und Psychologen, sondern zieht sich durch beide Bereiche. IV Methodologische Implikationen eines subjektwissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs So ziemlich alles, was ich bislang über Erfahrung und Praxis im Mensch-WeltZusammenhang als einem Prämissen-Gründe-Zusammenhang sagte, ist mit der psychologischen Mainstream-Forschung nicht kompatibel, insoweit diese nämlich aus methodischen Erwägungen heraus das spezifische Weltverhältnis des Menschen, das, wie gesagt, als Prämissen-Gründe-Zusammenhang zu fassen ist, deterministisch auf eine Bedingungs-Ereignis-Relation reduziert und deswegen auch den spezifischen Charakter therapeutischer Erfahrung verfehlen muss, die nicht auf Wirkvariablen reduziert werden kann. Es lässt sich nun aber mit Klaus Holzkamp (1986) zeigen, dass als BedingungsEreignis-Relationen gefasste, nomothetisch gemeinte Aussagen in Wirklichkeit Prämissen-Gründe-Zusammenhänge, kurz: verborgene Begründungsmuster, enthalten. Es macht durchaus Spaß, traditionelle Theorien daraufhin durchzusehen. Dies zeigt sich nicht nur, aber am einfachsten, wenn man zwischen die Wenn- und die Dann-Komponente einer Hypothese ein „subjektiv funktional" bzw. ein in diesem subjektiven Sinne nicht nach externen Rationalitätskriterien bemessenes „vernünftigerweise" schieben kann: „Wenn eine Handlung belohnt wird, wird sie nachvollziehbarerweise/vernünftigerweise wiederholt." Unter dieser Voraussetzung derartiger Sinnvermitteltheit kann von einer kontingenten Beziehung zwischen der Wenn- und der Dann-Komponente keine Rede mehr sein. Auch dann nicht, wenn, um beim Beispiel zu bleiben, eine belohnte Handlung nicht wiederholt wird, weil beispielsweise die Belohnung als unangemessen empfunden wird, etwa ein belohnter Schüler nicht als Streber angesehen werden will (Brandtstädter 1984, S. 154). Denn auch das ist ja ein Sinnzusammenhang - wie auch das nur scheinbar kontigente Verhältnis von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz (s.o.), das sich ja mit extremer Prämissenreduktion begründungstheoretisch aufklären ließ.

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Eine kontingente Beziehung hingegen wäre: Wenn man mit mit Vogelgrippe infizierten Wellensittichen schmust, kriegt man selber Vogelgrippe: Die kriegt man oder kriegt sie nicht, man kriegt sie aber nicht vernünftiger- oder sinnvollerweise. Andererseits: Wenn man keine Vogelgrippe kriegen will, lässt man sinnvollerweise das Schmusen mit (unbekannten) Wellensittichen sein, falls man allerdings den Risiko-Kick sucht, lässt man es nicht sein. Wenn sich in - sozusagen offiziell als Bedingungs-Ereignis-Relationen gefassten - Aussagen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge aufweisen lassen, ist - und das ist der entscheidende Punkt - der Offizialdiskurs der nomothetisch dominierten Psychologie unterminiert. Dies hat nun aus meiner Sicht zwei für den Methodenstreit in der Psychologie/ Therapie wesentliche methodologische Konsequenzen: Erstens, dass die empirische Prüfung nomothetisch gemeinter, als als PrämissenGründe-Zusammenhänge reformulierbarer Theorien ein Missverständnis, pseudoempirisch, ist (Brandtstädter 1982, 1984; Holzkamp 1986). Dass es für bestimmte Leute sinnvoll ist, mit Wellensittichen zu schmusen, ist nicht dadurch zu widerlegen, dass andere darin keinen Sinn sehen - es handelt sich bei den verschiedenen Handlungen um Beispiele der Realisierung verschiedener Prämissen-Gründe-Zusammenhänge. Prämissen-Gründe-Zusammenhänge sind, wie vorhin gesagt, vom Subjekt gestiftete Sinnzusammenhänge, sie sind Ausdruck subjektiv guter Gründe unter definierten Umständen. Insofern ist der Zusammenhang zwischen Handlungsprämissen und Lebensinteressen bzw. Handlungsvorsätzen formal als implikativ zu verstehen und somit einer empirischen Prüfung weder bedürftig noch fähig. Wenn jemand unter denselben Voraussetzungen einen anderen Handlungsvorsatz fasst (mit Wellensittichen schmusen oder nicht, Gepäckablagen verschieden benutzen), stehen diese verschiedenen Wenn-dann-Zusammenhänge nicht in theoretischer Konkurrenz zueinander, sondern sie repäsentieren unterschiedliche Vorstellungen subjektiver Vernünftigkeit, unterschiedliche Prämissenakzentuierungen. In den Worten Holzkamps (1986,31): „Es hängt nicht von »empirischen4 Verhältnissen ab, wie weit die theoretische' Bestimmung »bewährt4 ist, sondern es hängt von der ,Begründungstheorie4 als implikativer Struktur ab, welche Art von ,empirischen4 Verhältnissen zu ihrem ,Anwendungsfall4 taugen.44

Zweitens - und vielleicht noch wichtiger - zeigt sich daran, dass Annahmen über Handlungsgründe nicht in eine hermeneutische Exklave der Psychologie abgeschoben werden können, sondern wesentliche Konzeptionen und Theorien auch des psychologischen Mainstreams prägen, dessen Offizialdiskurs sich damit als theoretisch und methodologisch irrig erwiese. Gegenüber dem nomothetischen Verständnis müssen psychologische Theorien als Theorien zur Selbstverständigung von Menschen gefasst werden, und diese müssen weitestmöglich als Mitforscher gedacht und behandelt werden, d.h., ihre Erfahrungen müssen im Vollsinne zur Geltung kommen. Fallbezogen, wie Prämissen-Gründe-Zusammenhänge sind, enthalten sie keine Feststellungen zu Häufigkeit bzw. Verbreitung der in ihnen behandelten Phänomene. Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt (vgl. Markard 2000). Einzelfalle können zueinander ins Verhältnis gesetzt, aber nicht gegeneinander „verrechnet" werden.

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Es sind die individuellen Spezifikationen, die interessieren, nicht die Nivellierungen des Durchschnitts. Die einzelnen, subjektiven Fälle sind keine Abweichungen, sondern der Gedanke der Abweichung weicht selber ab vom Gedanken der Subjektivität. Verallgemeinerungsmöglichkeiten liegen demnach nicht in zentralen Tendenzen, sondern in der Herausarbeitung gesellschaftlich vermittelter und gesellschaftlich eingreifender Handlungsmöglichkeiten. Die Sinnvermitteltheit ist es, die Therapie von Vogelgrippe unterscheidet. Literatur Adorno, Theodor W. (1972): Einleitung. In: Adorno, Theodor W. u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt - Neuwied: Luhterhand, 7-79. Brandtstädter, Jochen (1982): Apriorische Elemente in psychologischen Forschungsprogrammen. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 13,267-277. Ders. (1984): Apriorische Elemente in psychologischen Forschungsprogrammen. Weiterführende Argumente und Beispiele. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 15,151-158. Holzkamp, Klaus (1984): Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie. Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft. Forum Kritische Psychologie, 14,5-55. Ders. (1986): Die Verkennung von Handlungsbegründungen als empirische Zusammenhangsannahmen in sozialpsychologischen Theorien: Methodologische Fehlorientierung infolge von Begriffsverwirrung. Zeitschrift für Sozialpsychologie, 17,216-238. Ders. (1988): „Praxis" - Funktionskritik eines Konzepts. In: Dehler, Joseph; Wetzel, Konstanze (Hrsg.): Zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Psychologie. Marburg, 15-48. Markard, Morus (2000): Verbale Daten, Entwicklungsfigur, Begründungsmuster, Theorienprüfung: Methodische Probleme und Entwicklungen in der Projektarbeit. In: Markard, M.: Ausbildungsprojekt Subjektwissenschaftliche Berufspraxis. Weder Mainstream noch Psychoboom. Kritische Psychologie und studentische Praxisforschung. Konzepte und Erfahrungen des Ausbildungsprojekts „Subjektwissenschaftliche Berufspraxis" an der Freien Universität Berlin. Hamburg, 227-250. Marx, Karl (1953): Die Frühschriften, hrsg. von Siegfried Landshut. Stuttgart. Pongratz, Ludwig J. (1984): Problemgeschichte der Psychologie. München. Rafailovic, Katarina (2006): Problemfeld Begutachtung „traumatisierter" Flüchtlinge. Eine empirische Studie zur Praxisreflexion. Schkeuditz.

III Über menschliche und allzu menschliche Bedürfnisse und Entwicklungen als Probleme der Psychotherapie

Psychotherapie im Diskurs der Macht Klaus-Jürgen Bruder Im Einladungstext zu dieser Tagung heißt es sinngemäß: Wir beobachten in der Psychotherapie eine Verengung des Denkens auf naturwissenschaftlich orientierte Ansätze. Sinnverstehende, einem humanistischen Menschenbild verpflichtete psychotherapeutische Traditionen haben hierin keinen Platz. Sie sollen inhaltlich, politisch und ökonomisch verdrängt und ausgegrenzt werden. Damit ist eigentlich schon alles gesagt: Verdrängung der Frage nach dem Sinn das ist tatsächlich der „Sinn" dieser Verdrängung sinnverstehender psychotherapeutischer Verfahren (und Traditionen). Diese Frage nach dem Sinn soll nicht mehr gestellt werden. Naturwissenschaften stellen diese Frage nicht. Die Übertragung der naturwissenschaftlichen Sichtweise, ihres methodologischen Vorgehens, ihrer Ergebnisse auf Psychotherapie fuhrt deshalb zum Ausschluss der Sinnfrage. Ist das der „Sinn" der naturwissenschaftlichen Verfahren? Zunächst: Die Erklärung des Psychischen durch naturwissenschaftlich erfassbare Prozesse i.S. der Neurophysiologie ist ein - erkenntnistheoretisch - unsinniges Projekt. Biologie und Psychologie sind zwei verschiedene „Sprachspiele" - wie Habermas (2005, S. 170) zutreffend festhält. Sie konstruieren unterschiedliche Gegenstände mit unterschiedlichen Methoden. Das Psychische - das Erleben, Verhalten, Denken, Fühlen, Wollen usw. des (menschlichen) Subjekts - ist nicht auf die Ebene biologischer, neurophysiologischer Prozesse zu reduzieren. Es ist dort nicht abbildbar, nicht wiederzufinden. Keineswegs ist in Frage zu stellen, dass dem Psychischen biologische Prozesse zugrunde liegen. Die Frage ist nur: Welches ist ihr Zusammenhang? Wie ist dieser Zusammenhang auf der Ebene naturwissenschaftlicher Erklärung zu erfassen? I Wie stellt sich der Gegenstand der beiden Wissenschaftsbereiche dar? Auf der Ebene der Biologie, der Neurophysiologie fuhrt Manfred Velden (2005) überzeugend vor Augen, dass allein die dort zu erwartenden Zahlengrößen möglicher Beziehungen nicht gestatten, ein Verständnis selbst der Hirnfunktionen zu erwarten - „auch in 1000 Jahren nicht", wie John Eccles (1993) von ihm zitiert wird. Milliarden von Synapsen, von denen jede Tausende von möglichen Verbindungen zu anderen besitzt, in denen Informationen auf vielfaltige, nicht eindeutige Wiese transportiert werden, lassen bereits von der Seite der Biologie die Erforschung scheitern. Versuche, Psychisches evolutionsbiologisch zu erklären, seien eher als „adaptive storytelling" (Rose, Lewontin & Kamin, 1984) einzuschätzen. Hinzu kommt, dass die Methode der Naturwissenschaften - die (ver)objektivierende (externe) Beobachtung - nicht übertragbar ist auf das subjektive Erleben, Denken, Fühlen, Wollen, nicht einmal auf das Verhalten von (menschlichen) Individuen. Es gibt im Psychischen keine allgemeingültigen „Gesetze" des Verhaltens usw., denn dieses ist höchst individuell, ständigem Wandel unterworfen, der vor

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allem kulturell und gesellschaftlich bedingt ist. Was es dort gibt, sind „Normen", Vereinbarungen, Übereinkünfte - wenngleich sie dem Einzelnen oft nicht als Übereinkünfte erscheinen, weil er an ihrem Zustandekommen nicht beteiligt gewesen war, sondern als Faktizität oder Zwang oder gar Gewalt. Die Versuche innerhalb der Psychologie, den naturwissenschaftlichen Charakter ihrer Disziplin zu sichern, scheitern am Gegenstand: dem Fehlen der Allgemeingültigkeit von „Subjektivität". Mangel an Reflexion dieses Fehlens, Mangel an Reflexion des Charakters des Gegenstands der Psychologie fuhrt, wie Velden zeigt, zu einer Trial-and-Error-Haltung: Korrelationen zwischen Phänomenen zu berechnen bzw. deren Signifikanz, ohne Sinn (und Verstand). „Fundamentales Missverstehen des Wesens rationalen Schließens" diagnostizierte Rozeboom (1960, S. 417), d.h. mit Instrumenten zu arbeiten, die naturwissenschaftlich völlig unbrauchbar sind: Die wichtigste Fehlerquelle liegt bereits darin, dass übersehen wird, dass die Höhe der Signifikanz von der Größe der Stichprobe abhängig ist. Das Gleiche gilt für die Übernahme von Modellen und Theorien aus den Naturwissenschaften. Diese können in die Psychologie lediglich in metaphorischem Sinne übertragen werden, d.h. wieder: in einem Prozess diskursiver Verständigung eingebracht (wo sie - wiederum diskursiv vermittelte - Wirkung entfalten können). Naturwissenschaftliche Erklärungen im Bereich der Psychologie haben den Charakter von Metaphern, von Als-ob-Vergleichen, die erst in der Interaktion mit anderen als brauchbar angenommen werden (können) oder verworfen werden. Das Argument der unermesslichen Zahl von möglichen Zusammenhängen auf der biologischen Ebene gilt gewiss auch - in vergleichbarem Ausmaß - auf der Ebene des Psychischen. Nur gibt diese keine Grundlage für die leichtere Herstellung von Beziehungen zwischen Biologie und Psychologie ab. Auf der Ebene des Psychischen wird allerdings das Problem nicht brisant, weil wir dort Möglichkeiten (entwickelt) haben, damit umzugehen, die wir auf der biologischen Ebene, auf der Ebene der Synapsen prinzipiell nicht haben: die Möglichkeit der Verständigung zwischen Meinungen, Hypothesen, Interpretationen, den Austausch von Äußerungen, Sätzen, Satzformationen, Diskursen und Diskursarten, Intuition und Empathie im Alltag - eben die diskursive Verständigung über Sinnfragen, deren Austausch statt der verobjektivierenden Formulierung experimentell überprüfbarer Sachverhalte bzw. Hypothesen. Auf der Ebene der jeweiligen Wissenschaften - im Unterschied zu deren Gegenstandsbereich - finden wir diese Dimension des Sinns, der Interpretation und Deutung, der diskursiven Verständigung, und zwar im Austausch von Forschungsergebnissen, selbst in den Naturwissenschaften. Knorr-Cetina geht sogar so weit, diese als gegenstandskonstituierend anzunehmen. Das würde bedeuten: Die Verdrängung der Fragen nach dem Sinn, die Verdrängung der gegenstandskonstituierenden Rolle des Diskurses ist auch in den Naturwissenschaften eine tatsächliche Verdrängung. Die Übertragung der Naturwissenschaften (naturwissenschaftlicher Verfahren wie Orientierung) auf die Psychotherapie führt also in doppelter Weise zur Verdrängung dessen, was die Wissenschaft konstituiert, ihres Gegenstands wie ihrer Methoden, zum Ausschluss der Sinnfrage.

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II Was aber sind in der Psychotherapie naturwissenschaftliche, naturwissenschaftlich orientierte Verfahren? Verhaltenstherapie? Sicher nicht, wenngleich diese den Anspruch haben mag, naturwissenschaftlich zu sein. Pillen? Natürlich ist das Geben (und Nehmen) von Pillen ein sozialpsychologischer Vorgang, eingebettet in die Beziehung zwischen Arzt und Patient und damit der Deutung und dem (Miss-)Verstehen des Sinns offen - ebenso wie in der Verhaltenstherapie. Aber aus einer naturwissenschaftlich orientierten Haltung heraus wird diese Beziehung ausgeblendet. Die Wirkung wird der Pille selbst zugeschrieben, die - als Ergebnis der Anwendung naturwissenschaftlicher Forschung - in einen ebenso naturwissenschaftlich gedachten (erforscht gedachten) Zusammenhang des Organismus eingreift. Andere Verfahren, z.B. operative Medizin, berühren Psychotherapie nur am Rande. Es ist die kausal-deterministische Sichtweise der naturwissenschaftlichen Orientierung, die den Blick auf die (sozial)psychologischen Zusammenhänge verstellt nicht nur des Gebens und der Wirkung der Pille. Der Arzt, der Pillen bei „Depression" verschreibt, reflektiert (meist) nicht, dass er dies innerhalb einer Beziehung tut, in der die Frage nach Sinn und Bedeutung des Tuns eine Rolle spielt, und dass hinter dem Leiden des Patienten ebenso eine Bedeutung, ein Sinn steckt. Die kausal-deterministische Sichtweise verstellt damit zugleich den Blick auch auf die therapeutische Wirkung der Beziehung, des Gesprächs - nicht nur in der Psychotherapie. Velden spricht deshalb von einer Dehumanisierung des Menschenbildes (S. 125). Man könnte nun dies als (bloßen) Effekt dieser Verdrängung der „humanistischen" Psychotherapien sehen. Aber man tut nicht Unrecht, wenn man diese Verdrängung in einen größer Zusammenhang stellt. III Sicher: Nicht nur die Ärzte, auch die Patienten selbst haben die Frage nach dem Sinn (ihrer Beschwerden) selbst bereits verdrängt, kommen ebenfalls mit einem anderen Bewusstsein, wenn sie nach der Pille fragen. Sie gehen lieber - und lange Zeit - zum Arzt, bevor sie sich zur Psychotherapie bereitfinden. Und jeder Therapeut kann ein Lied davon singen, wie schwierig es ist, die Patienten wieder von den Pillen herunterzubekommen. Die Vormachtstellung der naturwissenschaftlichen Orientierung ist also nicht nur durch die Ärzte den Patienten nahegebracht, sondern sie ist ein Phänomen des allgemein verbreiteten Denkens. Insofern gehen naturwissenschaftlich orientierte Psychotherapie und Erwartung der Patienten konform. Woher diese Konformität? Aus allen Kanälen (Medien) schallt uns entgegen: Die Sinnfrage sei unsinnig, es gehe vielmehr darum, das richtige Mittel, die richtige Behandlung gegen die Krankheit einzusetzen. Es sei „unsinnig, nach der Mutter, der Geschichte, der Vergangenheit zu fragen"; ebenso unsinnig sei es, nach den gegenwärtigen Verhältnissen der Beziehung, der Arbeit, des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu fragen (s. taz 25. 11. 05, S. 18). Es komme darauf an, die Mechanismen und Funkti-

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onsweise des - seelenlosen - Körpers, einzelner Organe bzw. des Gehirns zu kennen und dann das richtige Mittel einzusetzen. Dass es uns aus allen Kanälen entgegendröhnt, erzeugt diese (gesellschaftliche) Konformität. Die Interessen, die dahinterstecken, denen die Medien das Sprachrohr geben, sind die der Industrie, in aller erster Linie der Pharmaindustrie: Die Vertreter der Pharmakonzerne saßen bei allen Besprechungen der Gesundheitsreform mit am Tisch. Dass die Pharmaindustrie ein Interesse daran hat, ihre Produkte zu verkaufen, und nicht Psychotherapie befördert, die solche Produkte nicht braucht, ist einleuchtend. Dass die Medien sich dafür zur Verfügung stellen, ist schon weniger einsichtig, aber inzwischen reichlich bekannt (Bruder & Bruder-Bezzel 2005). Die Medien sind ja nicht das, wofür sie sich ausgeben und wofür wir sie halten: Sie informieren uns nicht unabhängig, sondern im Interesse derer, über die sie berichten (zu informieren vorgeben). Sie sind deren Botschafter, die bei uns für diese werben, und das können sie nur, wenn sie ihre Unabhängigkeit demonstrativ behaupten. Sie betreiben Werbung für die Pharmaindustrie, nicht nur, indem sie direkt für deren Produkte werben, sondern zugleich indirekt durch ihre Berichterstattung über Krankheit und Gesundheit, Medizin und Heilung, indem sie die naturwissenschaftlichen (oder pseudonaturwissenschaftlichen) Erklärungen verbreiten und so den allgemeinen Konsens über Sinn und Naturwissenschaft herstellen. Mit naturwissenschaftlichen Argumenten sind die ökonomischen Interessen der Industrie, vor allem der Pharmaindustrie, besser zu vertreten als mit humanwissenschaftlichen. Das naturwissenschaftliche Denken ermöglicht es, Erfolgsnachrichten zu verkünden. Es fasziniert, indem es den Wirkmechanismus (der Pille) plausibel zu „erklären" vermag und gleichzeitig den Humanwissenschaften den Boden zu entziehen versucht, indem es durch die (Berichte über die) Forschung in Genetik, Neurowissenschaften usw. den Menschen als lediglich nach naturwissenschaftlichen Gesetzen funktionierendes Labor oder als einen Computer erscheinen lässt. Schon vor unserem subjektiven Entschluss, etwas zu tun, habe das Hirn sich bereits dafür entschieden (Libet, Gleason, Wright & Perl 1983; Roth 2003). Wenn wir diese Hirnaktivität selbst (direkt) beeinflussen - was die Naturwissenschaft als Möglichkeit verspricht - brauchst du dir keine überflüssigen Gedanken zu machen, kannst du dir die Frage nach dem Sinn der Symptome sparen, nach ihrer Bedeutung, nach deiner Biographie und deinen Plänen und (Zukunfts-)Ängsten. Das ist sogar das Entscheidende: die Behauptung, alles naturwissenschaftlich erklären zu können, natürlich mit dem Versprechen, diese Erklärung unmittelbar oder in nächster Zukunft therapeutisch umsetzen zu können; das ist der Speck, mit dem die Mäuse gefangen werden sollen.

IV Diese „Botschaft" erreicht uns, wirkt sich aus auf das Bewusstsein der Bevölkerung, geht in die Gesetzgebung (zur Gesundheitsreform) ein, selbst in das Denken

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der Therapeuten. Auch über die Therapeuten wird die naturwissenschaftliche Orientierung in die Psychotherapie eingeführt. Die Therapeuten versprechen sich von dieser Forschung eine - naturwissenschaftliche - Bestätigung ihrer Konzepte. Eine Auswirkung auf ihre Verfahren ist wohl eher nicht zu erwarten: Wohl kein Therapeut wird sich „direkt" an die Hirnströme seiner Patienten anschließen, er wird wohl nicht auf die Vermittlung von Sprache und Deutung verzichten wollen. Aber indirekt wird die naturwissenschaftliche Orientierung auch über diesen Weg eingeführt. Wenngleich die Argumente gegen die naturwissenschaftliche Orientierung in den Humanwissenschaften bekannt und nicht neu sind - Habermas fühlt sich „ins 19. Jhd. zurückversetzt" (2005, S. 155) - , zwingen die Neurowissenschaften die Therapeuten trotzdem, sich mit ihren Versprechungen und Behauptungen auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung können die Therapeuten nicht leisten - als Laien auf dem Gebiet. Sie nimmt ihnen gleichwohl die Zeit und Kraft für ihre eigentlichen Aufgaben, lenkt sie von ihren Problemen ab. Eine besonders prekäre Auswirkung - im Bereich der Diagnostik und der damit verbundenen Behandlungskonsequenz - ist die so genannte „Fallpauschale". Sie ist das Projekt, das Psychotherapie zentral betreffen wird, und zwar durch den unmittelbaren Zusammenhang, der zwischen Krankheitsbild, Symptom einerseits und Behandlungsart und Dauer andererseits behauptet wird. Dieser Zusammenhang ist nicht zwingend, im Gegenteil: Die naturwissenschaftliche Orientierung tut so, als gebe es einen solchen Zusammenhang, so mit der Behauptung, Angstkrankheiten seien am effektivsten mit dieser, Depressionen dagegen mit einer anderen ganz bestimmten Therapieform, mit bestimmter Frequenz zu behandeln, usw. Diesem Denken versuchte die Psychoanalyse mit der Unterscheidung von symptomatischer Diagnostik und Psychodiagnostik zu begegnen, aber wie wir am Nachgeben der DGPT, eine einheitliche Diagnose(ziffer) für alle Störungsformen zu verwenden (F 48.9), sehen, befindet sie sich bereits auf dem Rückzug. Diagnostik ist gewiss kein naturwissenschaftliches Verfahren, sondern eine soziale - Entscheidung, auf einem Kontinuum von Verhaltens- und Erlebensdimensionen einen qualitativen Schnitt einzuführen, der die beiden Hälften des Kontinuums in zwei qualitativ unterschiedene Klassen von Symptomen aufteilt. Die Fallpauschale wird die Psychotherapie mehr verändern als alles andere, weil sie in die Psychotherapie selbst eingreift, vermittelt über den zur („störungsspezifischen") Diagnostik verpflichteten Therapeuten. Die Symptomorientierung wird gestärkt, ein verengtes Bild von Heilung und psychischer Gesundheit befördert. Es werden alle entscheidenden Dimensionen der therapeutischen Haltung über Bord geworfen durch die Fokussierung auf das Symptom, die Haltung des Therapeuten wird gezielter, dem Erzählen des Patienten wird nicht mehr der zu seiner Entfaltung notwendige Raum gegeben, die Freiheit von Assoziieren und freischwebender Aufmerksamkeit wird zerstört. Meist ist das Symptom ja die Eintrittskarte, die der Patient vorweist, und die „Symptomfreiheit" tritt relativ bald in der Therapie ein, wenn der Patient genügend Vertrauen gefunden hat, das Symptom fallen lassen zu können und sich dem

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zuzuwenden, was er, auch mit Hilfe des Symptoms, verdrängt hatte, was ihn aber grundlegend belastet. Folgte man der symptomorientierten Diagnostik, so wäre dann die Therapie zu Ende, wenn sie beginnen sollte. Vom Therapeuten als Diagnostiker und Behandler wird ein Wissen verlangt, das er gar nicht hat. Denn Therapie ist ein - begleiteter - Weg ins Ungewisse, Unbewusste. Vor diesem Weg haben viele Patienten Angst. Deshalb klammern sie sich an ihre Symptome, und deshalb greifen sie zur Pille, die verspricht, die Symptome zum Verschwinden zu bringen - ohne die Gefahr, das dunkle Ungewisse sichtbar werden zu lassen. Daher die naturwissenschaftliche Orientierung, die in der Pille sich materialisiert und die dem Therapeuten das Wissen zuschreibt, dass alles in seinen kontrollierbaren Grenzen gehalten werden kann - der Weg, die Frage nach dem Sinn der Symptome nicht stellen zu müssen. V Wir können darin eine gesellschaftlich allgemeine Haltung erkennen, nach dem Sinn nicht zu fragen. Ist diese Haltung nicht „konsequent" angesichts der herrschenden Unsinnigkeit eines immer größeren Teils unseres Lebens, seiner gesellschaftlichen Regelung? Ist es nicht unsinnig, dass immer mehr Menschen keine Arbeit finden, von der sie leben können, und gleichzeitig die Arbeitszeit verlängert wird? Ist es nicht unsinnig, dass immer mehr gesellschaftlicher Reichtum vergeudet wird in Produkten, an die wir zwar gewöhnt sind, deren Wert aber immer mehr lediglich in ihrer Neuheit besteht, während auf der globalisierten Erde täglich Hunderttausende an Hunger sterben müssen? An diesem Unsinn, dieser Sinnlosigkeit nicht zu verzweifeln, erfordert ungeheure Energien an Verdrängung, um die Sinnfrage nicht aufkommen zu lassen. An dieser Verdrängung arbeiten die Medien und PR-Agenturen, die gleichzeitig das Geschäft der Unternehmen, der Pharmaindustrie besorgen, die uns die Mittel der Verdrängung zur Verfugung stellen. Die Wirkung dieser ihrer Reklame fur die naturwissenschaftliche „Therapie", für die Pillenindustrie, die Pharmakonzerne, geht also über den unmittelbaren behaupteten - Zusammenhang von Naturwissenschaft und Therapie hinaus. Und dies nicht als „Neben"-Wirkung, sondern als durchaus beabsichtigte, wenn man bedenkt, dass die Feier der Erfolge der Naturwissenschaften, der Gehirnforschung, der Genetik sich vornehmlich dem Bereich von Willens- und Entscheidungsfreiheit zuwendet, dass pseudophilosophische Diskussionen vom Zaun gebrochen werden, mit der triumphierenden Botschaft: „Die Willensfreiheit hat keine naturwissenschaftliche Erklärung". „Schlecht für die Naturwissenschaften", müssten wir sagen, könnten wir sagen, wenn wir „cool" genug blieben, Naturwissenschaft lediglich als ein anderes Sprachspiel zur Kenntnis zu nehmen statt als eine „grundlegendere" Wissenschaft, eine, die die Psychologie fundieren würde. Sprachspiele haben es an sich, dass nicht das eine dem anderen übergeordnet werden kann (aus epistemologischer Perspektive; Lyotard 1983) - dass es vielmehr eine Frage der Hegemonie, des hegemonialen Anspruchs ist, wenn ein Sprachspiel das andere dominieren möchte, wie das gegenwärtig mit dem Anspruch der Bio-

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logie oder Neurowissenschaften der Fall ist, Probleme der Psychologie, der Psychotherapie, der Philosophie zu lösen, Antworten geben zu können. Manfred Velden spricht deshalb von „Biologismus" als spekulativer Deutung biologischer Ergebnisse, die diese zu einem Weltbild überhöht, das die Biologie lediglich als Grundlage benützt für ihren Angriff auf die Willensfreiheit (Velden, S. 142 ff.). Und die Philosophen antworten auf diese Herausforderung mit der Unterscheidung zwischen dem „Raum der Gründe" und dem der Ursachen (Seilars, 1997). Die Frage nach den Gründen verbiete einen Determinismus, den die Frage nach den Ursachen durchaus erlaube. Der Handelnde sei dann frei, wenn er wolle, was er als Ergebnis seiner Überlegung für richtig halte, hält Habermas fest. Als Unfreiheit erfahren wir nur einen von außen auferlegten Zwang, der uns nötigt, anders zu handeln, als wir nach eigener Einsicht handeln wollen. Indem Habermas an dem Unterschied (der Erfahrung) von Unfreiheit gegenüber Freiheit festhält und diesen Unterschied auf das Vorhandensein bzw. Fehlen eines „von außen auferlegten Zwangs" zurückbindet, also auf Unterschiede im „außen", weist er die neurobiologische Widerlegung der Willensfreiheit zurück. Aber der philosophische Rekurs auf die „Erfahrung", mit dem Habermas gegen die Neurobiologen argumentiert, reicht nicht aus. Dieser kann dem Argument der „Selbsttäuschung" nicht begegnen, mit dem die Biologisten die („Erfahrung" der) „Willensfreiheit" „widerlegen". Denn: Wir erfahren auch einen „inneren" Zwang als Unfreiheit, und wir erleben nicht jeden äußeren Zwang als Zwang, als Beschränkung unserer Freiheit. Die philosophische Stoßrichtung gegen den neurobiologischen Reduktionismus wird von der „Erfahrung" nicht bestätigt; die „Erfahrung" ist kein Argument gegen die Neurowissenschaften, im Gegenteil, die Neurowissenschaftler drehen das Argument der Philosophen einfach um. Sie bestreiten den Status des Bewusstseins als unabhängig von Kräften »jenseits des Bewusstseins". Die philosophische Kritik stellt sich selbst ein Bein mit ihrem Rekurs auf die „Erfahrung", sie bereitet dem Biologismus selbst den Weg, indem sie diese Dimension „Jenseits des Bewusstseins" den Biologisten überlässt. „Jenseits des Bewusstseins": das Feld der Psychoanalyse, das „Unbewusste". Die philosophische Kritik meint, ohne die Dimension des Unbewussten auszukommen, versucht „mit dem Rücken zum Unbewussten voranzuschreiten" (Foucault 1966/1971, S. 477). Im Gegensatz dazu haben die Biologisten verstanden, sich der Allianz der Psychoanalyse zu versichern, indem sie behaupten, sie würden "die Entdeckung Freuds bestätigen" - und die Psychoanalyse ist ihnen dankbar. Doch ist das „Unbewusste" der Hirnforscher tatsächlich das der Psychoanalyse? Freud hatte tatsächlich damit geliebäugelt, das Unbewusste in den biologischphysiologischen Prozessen zu fundieren. Die heutige Allianz von Psychoanalyse und Neurowissenschaften greift also einen alten Traum Freuds auf: Die „Neuronen"-Theorie des Entwurfs von 1895 wäre der Bezugspunkt. Doch damit ist nicht viel über die Angemessenheit gesagt, diesen Traum in der Realität bestätigen zu wollen, im Gegenteil, dieser Wunsch wäre dem Habermas'sehen Urteil des „szientifischen Selbstmissverständnisses" zuzurechnen - es

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sei denn, man interpretierte Freuds „Neuronen"-Theorie" wie Derrida (1966) nicht als Programm zur Untersuchung der tatsächlichen Struktur und Prozesse auf der Ebene der Neuronen und Synapsen, sondern als Metaphorik. Dass es diese Neuronen nicht gibt, die Freud postulierte, muss ihm selbst klar gewesen sein, folgt man Derridas Argumentation. Und damit muss Freud die Unmöglichkeit klar gewesen sein, die Prozesse des Unbewussten auf der Ebene der Neurowissenschaft abzubilden. Wie andere, allerdings spätere Äußerungen Freuds erkennen lassen, war er sich im Gegenteil des „konstruktivistischen" Charakters seiner theoretischen Annahmen bewusst (Freud 1937), wenn er seine Metapsychologie als „unsere Mythologie" bezeichnete. Die empirische Basis der Psychoanalyse war auch bei Freud keineswegs die Untersuchung auf der Ebene der Neuronenprozesse, sondern das Gespräch mit dem Patienten. Darin erhielten die Metaphern ihren Stellenwert und ihren Sinn. „Bestätigung" kann die Psychoanalyse also nicht erhalten durch Ergebnisse von Untersuchungen, die außerhalb des psychoanalytischen Gesprächs durchgeführt wurden. Aber die Allianz mit der Psychoanalyse ist vielleicht für die Neurowissenschaften sinnvoll. Natürlich kann die Psychoanalyse die Neurowissenschaften ebenso wenig „bestätigen" wie umgekehrt die Neurowissenschaften die Psychoanalyse. Der „Sinn" der Allianz liegt für die Neurowissenschaften auf einer anderen Ebene. Die Übertragung der psychoanalytischen Konzepte in die Neurowissenschaften übergeht die unterschiedliche empirische Basis ihrer Gewinnung. Außerhalb dieser empirischen Basis (des psychoanalytischen Gesprächs) verändern sich der Status und die Funktion, ja die Gültigkeit der psychoanalytischen Konzepte und Konstruktionen. Sie sind nicht länger Deutungen im psychoanalytischen Sinn - Deutungen, die der Patient bestätigen muss, und zwar durch die „Fortsetzung des Gesprächs", durch Produktion neuer Einfälle, wozu auch das Nein gehört, der Widerstand. Sie sind vielmehr etwas anderes, abhängig, bestimmt durch die Struktur, die Diskursform, in der sie auftreten, in die sie eingeführt werden. Sie sind „Argumente" in einem Meinungsstreit bzw. werden als solche benützt, die zugleich ihre Überzeugungskraft daher gewinnen (sollen), dass sie aus einem anderen Bereich stammen, mit der Behauptung versehen, dass anderswo dasselbe gefunden worden sei - was wiederum nur behauptet werden kann, wenn man die unterschiedliche empirische Basis leugnet. Für die Neurowissenschaften liegt der Sinn der Allianz mit der Psychoanalyse darin, einen Verbündeten zu haben für ihren Kampf gegen die Willensfreiheit. Auch die Psychoanalyse hält nicht allzu viel von der Willensfreiheit: Das Bewusstsein, das Ich, ist für sie der „dumme August". Ihr Argument: das „Unbewusste". Wenn man das Unbewusste der Psychoanalyse biologistisch „bestätigt", dann hat man ein festes Band zwischen beiden. Hier schließt sich der Kreis. Die wechselseitige Bestätigung von Psychoanalyse und Neurowissenschaft - suggeriert durch die Verleugnung, dass ihre Gültigkeit an eine jeweils andere, je unterschiedliche empirische Basis ihrer Gewinnung gebunden ist - findet ihren „Sinn" im Bestreiten der Willensfreiheit; das ist der „Sinn", die Botschaft des neurowissenschaftlichen Diskurses. Die Frage nach dem Sinn

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(meiner Entscheidung) - die Frage, mit der das Individuum die Therapie aufsucht braucht nicht gestellt zu werden, denn es gibt keine Freiheit der Entscheidung. VI Aber die Negierung der Willensfreiheit vor dem Gerichtshof der Naturwissenschaft schielt nicht nur auf die Therapie, sondern zugleich auch - bzw. in erster Linie - auf das alltägliche Bewusstsein und die Erfahrung - auf die Erfahrung, dass wir tatsächlich in der Freiheit unserer Entscheidung eingeschränkt sind, dass wir uns tatsächlich die Frage nach dem Sinn der Regelung unseres Alltags, unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens stellen können, immer mehr zu stellen uns gedrängt sehen: die Frage nach dem „Sinn" einer Verteilung der Arbeit, die immer mehr Arbeitslosigkeit produziert (Sozialabbau), die Frage nach dem Sinn des ständig wachsenden ungeheuren Reichtums bei gleichzeitig wachsender Armut (Ziegler 2005). Wir sollen nicht länger fragen, welchen Sinn es macht, sich ökonomisch auf privaten Profit hin zu orientieren statt auf gesamtgesellschaftlichen Nutzen und dessen Kosten. Diese Frage (nach dem Sinn) wird nicht mehr gestellt, sie wird durch die naturwissenschaftliche Orientierung in der Diskussion über Therapie wie außerhalb ausgeschlossen, indem sie eine naturwissenschaftliche Erklärung anbietet, eine Erklärung, die selbst die Gründe für Armut, Arbeitslosigkeit und Sinnleere in unserer „Natur" zu finden behauptet (wie z.B. Lynn & Vanhanen 2002 in den „genetisch" bedingten Intelligenzunterschieden). Die »Argumente", mit deren Hilfe die ökonomischen Interessen der (Pharma-) Industrie und der Neurowissenschaft unsere Zustimmung zu gewinnen versuchen, stellen zugleich eine Antwort auf die gegenwärtige Situation dar: Sie sind ein Versuch, die Zukunfts- (und auch die Gegenwarts-)Ängste von immer mehr Menschen zu entkoppeln von den angstmachenden Lebens- und Arbeitsbedingungen, von drohender Arbeitslosigkeit, Erwerbslosigkeit, Unsicherheit des Alters und der medizinischen Versorgung, und diese stattdessen auf Bedingungen unserer „Natur" zurückzuführen und an diese zu binden. Dies ist tatsächlich der „Sinn" des Biologismus, des naturwissenschaftlichen Diskurses menschlicher Situation, gesellschaftlicher Probleme: diese beunruhigende Frage nach dem Sinn abzulenken von den gesellschaftlichen Bedingungen der Macht und umzulenken auf die Macht unserer „Natur". VII In dieser Perspektive ist der Biologismus ein Diskurs der Macht. Er trägt zu ihrer Affirmation bei. Er bietet uns »Argumente", die uns zur Zustimmung bewegen sollen. Er trägt dazu bei, indem er die Macht, der wir zustimmen sollen, unbewusst macht (Bruder 2004). Das war es, woran der Philosoph unbeholfen in Kategorien der Erfahrung festhalten wollte: die Tatsache, dass es „Zwang" gibt, der „von außen auferlegt" ist, Herrschaft, hinter der die Macht sich zugleich verbirgt. Unbeholfen, weil er im Rekurs auf die Erfahrung übersieht, ausblendet, dass wir diese Macht nicht immer „erfahren" bzw. dass wir sie nicht immer als „von außen auferlegt" erfahren. Die

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Macht wirkt (auch), ohne im Bewusstsein registriert zu werden, sie wirkt „unbewusst" (Bruder 2005a). Die Macht, die unser Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln bestimmt - gegen unseren Willen und hinter dem Rücken unseres Bewusstseins - ist nicht (nicht nur) unsere - biologisch fassbare - „Natur", sondern auch unsere soziale, gesellschaftliche. Die gesellschaftlichen Kräfte, die uns lenken, sind (ebenso) unbewusst wie unsere organische „Natur" (Bruder 2005c). Dieses Unbewusste den Biologisten zu überlassen, befördert ihren Diskurs und damit den Diskurs der Macht. In diesem Diskurs wird also nicht nur die Frage nach dem Sinn der Symptome ausgeschlossen, sondern zugleich die nach dem Sinn der „Ursachen". Und zwar nicht nur nach dem individuellen Sinn (der Ursachen), dem Sinn, den das Individuum den Ursachen gibt, sondern nach dem gesellschaftlichen. Es wird nicht nur geleugnet, dass wir sinnproduzierende Wesen sind, dass wir Antworten auf die Frage nach dem Sinn brauchen, um als Individuen zu überleben, dass alles, was wir tun, unter einem Sinnhorizont von uns (nur) getan werden kann, und deshalb auch an alles, was uns begegnet, die Frage nach dessen Sinn gestellt wird, nach der Verursachung und deshalb auch nach dem Sinn gesellschaftlicher Zustände. Wir geben dem, was uns begegnet einen Sinn, weil wir „verstehen" wollen, was „läuft" und „Sache ist", ebenso wie wir unsere Antwort auf das, was uns widerfährt, in einem Sinnhorizont entwerfen, weil unsere Antwort bereits den Sinn (des Widerfahrenden) gedeutet haben muss, um eine „sinnvolle" Antwort sein zu können. Wir sind in der Zuschreibung von Sinn frei, in dem Sinn, dass unsere Antwort wie unsere Deutung individuell sind. Allerdings haben wir diese Freiheit der Sinnproduktion nur als Gattungswesen, als „anthropologische Ausstattung", jedoch nicht in derselben Weise und demselben Umfang als konkrete Individuen (mit je unterschiedlicher gesellschaftlicher Position und Ressourcen). Als einzelne konkrete Individuen sind wir durchaus nicht frei, jeden beliebigen Sinn zu erfinden - ohne als „verrückt" zu gelten, ausgeschlossen zu werden, unserer Freiheit beraubt. Die Freiheit der Gattung realisiert sich in der Gebundenheit des einzelnen an - wenngleich offensichtlich durchaus gattungskompatible - soziale Vorgaben. Was gesellschaftlich als sinnvoll definiert ist, bestimmt auch die individuelle Sinn-Produktion. Den gesellschaftlichen „Sinn" nicht zu erfüllen, ist deshalb nicht nur gesellschaftlich wertlos, sondern auch individuell. Arbeitslosigkeit ist das - in unserer Gesellschaft - eindrücklichste Beispiel (Hunger; in anderen Regionen: durch Hunger sterben zu müssen). Dieses Beispiel zeigt: Individuell wertvoll, weil gesellschaftlich wertvoll, ist: sich bis zur Erschöpfung ausbeuten zu lassen, sich bis zur Selbstverleugnung unterzuordnen. Wer das nicht tut, ist nicht wertvoll, produziert keinen Wert, ist (wie die Diskussion über Arbeitslose zeigt) aus der Gemeinschaft der Wertvollen, weil Wertschaffenden, ausgeschlossen. Der Diskurs der Macht, der durch die Medien vermittelte herrschende Diskurs, zeichnet sich dadurch aus, dass er das nicht so (offen) formuliert, ausspricht, sondern verdeckt, dass er den Zusammenhang umdreht, die Ursache zur Folge verdreht, die Folge zur Ursache. Nicht: Wer keinen Wert produziert, ist (deshalb) nicht

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wertvoll. Sondern: Weil er nicht wertvoll ist, produziert er keinen Wert. Die gesellschaftlichen Bewertungen werden zur Folge der psychologischen erklärt, die psychologischen werden zum Grund der gesellschaftlichen gemacht (Bruder-Bezzel 2005). Deshalb spricht dieser Diskurs der Macht auch nicht von Ausbeutung und Unterordnung - weder diejenigen, die Ausbeutung und Unterordnung verlangen, tun dies, noch diejenigen, die sich unterordnen und ausbeuten lassen (müssen) -, sondern von „Autonomie" und „Selbstverwirklichung". Boltanski & Chiapello (1999) sahen darin einen „neuen Geist des Kapitalismus". Dieser habe Autonomie und Selbstverwirklichung, Authentizität und Kreativität in sich aufgenommen, als Versprechen, die er zu erfüllen vorgibt, aber zugleich auch als Forderung an die Einzelnen, kreativ sein zu müssen, sich selbst verwirklichen zu müssen - als Forderung auch an denjenigen, der dazu keine Möglichkeit hat, weil er gar keinen Arbeitsplatz hat. Sein Ausschluss aus der „Gemeinschaft der Wertvollen" wird ihm selbst zur Last gelegt. Die Tatsache, dass er keinen Arbeitsplatz hat, wird zur Folge seiner Unfähigkeit erklärt, sich ausbeuten zu lassen und sich unterzuordnen. Sein Protest, sein Versuch, Würde und Wert zu behaupten, finden im gesellschaftlichen Sinnhorizont keine Resonanz, keinen Platz. Im gesellschaftlichen Sinnhorizont kommt Arbeitslosigkeit nicht vor - nicht als gesellschaftliches Problem, aber als individuelles; im gesellschaftlichen Sinnhorizont ist der Besitz eines Arbeitsplatzes stillschweigend vorausgesetzt. So wie im gesellschaftlichen Sinnhorizont Arbeitslosigkeit nicht vorkommt ebenso wenig wie Ausbeutung und Unterordnung - , so tut sie es auch nicht im individuellen. Auch die Arbeitslosen, diejenigen, denen die Ausbeutung, Unterordnung verwehrt wird, haben andere Sorgen: nämlich zu allererst überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen, zurück in die Ausbeutung, Unterordnung, Entfremdung zu finden. Obwohl Ausbeutung, Unterordnung, Entfremdung im gesellschaftlichen Sinnhorizont nicht vorkommen, bleiben die Folgen von Ausbeutung, Unterordnung Entfremdung gleichwohl bestehen, ja verstärken sich: Boltanski & Chiapello berichten von einem Steigen der (durkheimschen) Anomie-Indikatoren seit den 1970er Jahren: Die Beziehungen werden immer kürzer, die Selbstmordrate steigt ebenso wie der Konsum von Psychopharmaka (S. 454). Unmut, Unzufriedenheit und Leiden breiten sich aus. Boltanski & Chiapello sehen den Grund dafür nicht nur in der zunehmenden beruflichen Unsicherheit und Verelendung, sondern zugleich darin, dass die Menschen „immer geringere Einflussmöglichkeiten auf ihr soziales Umfeld" haben (S. 452). Die Anforderungen des „neuen" Geistes des Kapitalismus erwiesen sich als unerfüllbar, seine Versprechungen sind als Illusionen aufgeflogen. An die Stelle der Sprache der Selbstverwirklichung musste deshalb eine andere treten: die Sprache der ökonomischen „Notwendigkeit". Die „Globalisierung" verlange die „Reform" des Sozialstaats, die Zurücknahme der Errungenschaften der gewerkschaftlichen Kämpfe. Die ,»Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt" sei „nur durch Reduzierung der Kosten der Arbeitskraft zu erhalten", lautet die neue Botschaft.

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Allerdings ist auch diese Rede (von der ökonomischen „Notwendigkeit") ein „Deutungsmuster der sozialen Wirklichkeit" (Boltanski & Chiapello, S. 147), das unserem „Handeln und den Strukturen Sinn geben" soll (147), eine „Sinn"-Produktion: die Behauptung, den „Imperativen" der Globalisierung könne „man" sich nicht entziehen. Nicht die Sinnproduktion überhaupt wird abgeschafft - wodurch die „sinnverstehende" Psychotherapie obsolet würde - , sondern jene (individuelle) Sinnproduktion der Subjekte, die die gesellschaftliche Sinnproduktion in Frage stellen könnte - und damit die Zustimmung zum Diskurs der Macht. Deshalb wird die „naturwissenschaftliche" Argumentation wichtiger: Mit ihrer Hilfe kann die individuelle Sinnfrage als unsinnig abgewiesen werden, ohne die Interessen der Macht offenlegen zu müssen - „unsinnig", weil „wissenschaftlich" nicht begründbar. Literatur Boltanski, L. & E. Chiapello (1999): Le nouvel Esprit du Capitalisme. Paris: Editions Gallimard; deutsch (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. Bruder, K.-J. (2004): Zustimmung zum Diskurs der Macht. Prolegomena zu einer Theorie der Subjektivierung.P&G 111/112, 7-37. Bruder, K.-J. (2005a): Annäherung an einen psychoanalytischen Begriff von Macht. In: Springer, Anne; Gerlach, Alf & Schlösser Anne-Marie (Hrsg.): Macht und Ohnmacht. Gießen: PsychosozialVerlag, 27-46. Bruder, K.-J. (2005b): Selbsthematisierung. Journal fur Psychologie, Heft 3,189-211. Bruder, K.-J. (2005c): Das Unbewusste, der Diskurs der Macht. In: Buchholz, Michael und Gödde, Günter (Hrsg.): „Macht und Dynamik des Unbewussten - Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse", Bd. II. Giessen: Psychosozial-Verlag, 635-668. Bruder, K.-J. (2006a): Psychoanalytischer Zugang zur Biographie und die Bedeutung ihrer (Re-) Konstruktion im psychoanalytischen Gespräch. Vortrag auf der Konferenz „Auf der Suche nach der eigenen (Auto-)Biographie - Fragen an das postmoderne Wesen" am 29. und 30 April 2006 in Berlin (i. Dr.). Bruder, K.-J. (2006b): Behaviorismus. Gehirn und Geist (i. Dr.). Bruder, K.-J. (2006c): Die Freud'sche Erzählung von Ödipus als Mythos der Macht. In: K.-J. Bruder & A. Bruder-Bezzel (Hg.): Individualpsychologische Psychoanalyse. Frankfurt/New York: Peter Lang, 163-182. Bruder, K.-J. (Hg.), (2003): „Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben". Gießen: PsychosozialVerlag Bruder, K.-J. & A. Bruder-Bezzel (2005): Ist das Individuum blinden Mächten ausgeliefert? Vortrag in der Urania Berlin, 3.11.2005. Bruder-Bezzel, A. (2005): Arbeitslosigkeit - eine Herausforderung für die Psychoanalyse. Psychoanalyse - Texte zur Sozialforschung 9,1 (16), 57-74. Bruder-Bezzel, A. & K.-J. Bruder (2004): Kreativität und Determination. Studien zu Nietzsche, Freud und Adler. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Derrida, J (1966): Freud und der Schauplatz der Schrift. In: J. D.: L'Ecriture et al Difference. Paris: Editions du Seuil 1967; deutsch (1972): Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 302-350. Foucault, M. (1966): Les mots et les choses. Paris: Editions Gallimard; deutsch (1971): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp] Freud, S. (1885, zit. n. 1962): Entwurf einer Psychologie. In: Sigmund Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, 1887-1902, Briefe an Wilhelm Fliess. Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1937, zit. n. 1972): „Konstruktionen in der Analyse". GW XVI, 41-56. Habermas, J. (2005): Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Der Paradigmenwechsel von der Objektstellung zur Subjektstellung des Kindes als Beispiel für einen nicht mehr zu ignorierenden Wandel des Menschenbildes in unserer Kultur Wilhelm Rotthaus Lassen Sie mich das Ergebnis meines Beitrags vorwegnehmen: Ich bin mit Jean Gebser (1949, 1953), dem polnisch-schweizerischen Philosophen, der Überzeugung, dass wir uns heutzutage in einer geistesgeschichtlichen Übergangsphase befinden, einer Zeit zwischen der noch weitgehend dominierenden mental-rationalen Bewusstseinsebene, die u.a. mit der Erfindung der Perspektive begann, und einer sich abzeichnenden, Gebser nennt sie integralen, die Zeit als vierte Perspektive integrierenden Bewusstseinsebene. Diese Übergangsphase ähnelt der, die Gebser für die Zeit gegen und nach Ende des Hochmittelalters beschreibt, eine Übergangsphase zwischen der vormals mythischen und der nun zu Beginn der Neuzeit aufziehenden mentalen, im europäischen Raum vorwiegend rationalen Bewusstseinsebene. Solche Übergangszeiten und Umbruchphasen sind gekennzeichnet durch Innovation und Kreativität sowie den Reiz des Neuen, aber noch unklar Erahnten einerseits, aber auch durch Verunsicherung und Angst sowie die Tendenz zur Regression und damit zumeist zu einem sehr kämpferischen Festhalten am Alten und Vertrauten andererseits. Ich glaube, genau diese Phänomene sehen wir heute in unserem engeren und weiteren Arbeitsfeld, können aber auch wahrnehmen, dass die Notwendigkeit neuer Denkmuster, die Unausweichlichkeit des neuen Sehens und Denkens nicht mehr zu ignorieren ist. Insofern steht nicht nur am Beginn der traditionellen Wissenschaft, also zu Beginn der Neuzeit, ein „Angstbewältigungsprogramm" - wie Jürgen Kriz es gestern formulierte -, sondern und vor allem auch an deren Ende, also heute. Dies möchte ich im Folgenden aus meinem Blick als Kinder- und Jugendpsychiater darstellen. So hat sich in den letzten Jahrzehnten ein entscheidender Perspektivenwechsel in der Betrachtung von Kindern vollzogen. Dieser Wandel in Haltung und Einstellung Kindern gegenüber wird sogar schon greifbar an kinderpolitisch bedeutsamen Regelungen und Gesetzen: Im November 1989 wurde das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes beschlossen. Und in Deutschland trat im Jahre 1991 das Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft. Beide Regelwerke weisen in dieselbe Richtung. Während das Übereinkommen der Vereinten Nationen ganz von dem Prinzip geprägt ist, das Kind als eigenständiges Subjekt zu betrachten, merkt man - wie der damalige Kinderbeauftragte des Landes NordrheinWestfalen schreibt (Eichholz 2001) - „dem Kinder und Jugendhilfegesetz doch an, wie es sich nur langsam von der Vorstellung des Kindes als eines Objektes in der Erziehung löst, wenn bei aller Betonung der subjektiven Rechtsstellung des Kindes angestrebt wird, das Kind ,nicht als bloßes Objekt in der Erziehung' erscheinen zu lassen", wie dies im Gesetzentwurf der Bundesregierung zum § 1 Abs. 1 KJHG formuliert wird. Die Reform des Kindschaftsrechts von Juli 1998 schuf das subjektive Recht des Kindes auf Umgang mit seinen Eltern. Und im September 2000 wurde mit der Neufassung des § 1631 BGB gewaltfreie Erziehung eben nicht nur als

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bloßes Postulat formuliert, sondern als das Recht des Kindes. Bereits im Zuge der Vorbereitung der Kindschaftsrechtsreform hatte die Überzeugung immer mehr an Boden gewonnen, dass die Reform zu einem entschlossenen Paradigmenwechsel von der Objektstellung zur Subjektstellung des Kindes fuhren sollte. Dass theoretische Konzepte, gesetzliche Formulierungen und praktisches Handeln häufig auseinanderklaffen, soll an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Dieser Paradigmenwechsel von der Objektstellung zur Subjektstellung des Kindes kann in seiner Bedeutsamkeit nur schwer überschätzt werden. Ein kurzer historischer Rückblick soll dies deutlich machen. Zwar hat es zu allen Zeiten Kinder gegeben, aber die Idee einer Kindheit als einer von der Erwachsenenzeit getrennten Lebensphase, wie sie uns heute (noch) selbstverständlich erscheint, ist gar nicht sonderlich alt. Sie ist eine Erfindung zum Beginn der Neuzeit. Im Mittelalter wuchsen die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern beziehungsweise gemeinsam mit allen Erwachsenen in einem natürlichen Lehrlingsverhältnis auf. Sie waren kleine Erwachsene, die, sobald sie körperlich dazu in der Lage waren, all das taten, was sie bei den großen Erwachsenen beobachteten. Das Wort „Kind" bezeichnete in erster Linie ein Verwandtschaftsverhältnis. Eine förmliche Abgrenzung zwischen Kinderwelt und Erwachsenenwelt gab es nicht. Kinder und Erwachsene lebten in denselben Lebensbereichen, ernährten und kleideten sich ähnlich und verrichteten nahezu dieselben Tätigkeiten. Zu Beginn der Neuzeit änderte sich diese Sichtweise. Kindern wurde allmählich mehr Beachtung als zuvor geschenkt. Die Familien begannen, sich um das Kind herum zu konzentrieren und ihre Aufgabe darin zu sehen, es auf das Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Das Kind wurde als unfertiges Gesellschaftsmitglied wahrgenommen, deutlicher formuliert: als ein Defizitwesen, dessen Aufgabe es war, allmählich zu einem vollkommenen Menschen, einem Erwachsenen, sich hochzuarbeiten. Rousseau formuliert in seinem Buch „Emile oder über die Erziehung" 1762 sehr deutlich, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen seien, sondern vielmehr unfertige Wesen, die unter Anleitung der Erwachsenen zu einem fertigen Menschen herangezogen werden müssten. So wurde dann auch zu dieser Zeit die Erziehung, wie sie uns über die letzten Jahrhunderte tradiert wurde, erfunden. Sie ist begründet auf der Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Wissenden und Unwissenden, zwischen Erzogenen und Nicht-Erzogenen, zwischen Ausgebildeten und Nicht-Ausgebildeten. Kinder wurden einem Schonraum zugeordnet, in dem ihnen unter der Kontrolle von Erwachsenen erst nach und nach ein bestimmtes Maß an Informationen zugänglich gemacht wurde, und zwar so behutsam und in so geschickter Form, dass sie das Neue - so die Vorstellung - psychisch verarbeiten konnten. Es ging um kontrollierte Wissensvermittlung und folgerichtiges Lernen. Der eigenständige Zugang zu diesen Informationen wurde den Kindern nach Möglichkeit versperrt. Auch die Schule als Ort systematischen, durch Erwachsene gesteuerten Lernens wurde nun erfunden. Sie bildete - ebenso wie später der Kindergarten einen aus der Gesellschaft ausgegliederten Sonderraum für Kinder. Dort herrschten eigene Gesetze und Inszenierungen, Letztere nach Luhmann beispielsweise mit dem Lehrer auf dem Katheder hocheffektiv in der Vermittlung der Grunddefinition,

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wer denn hier der Wissende und wer die Unwissenden seien, so dass den Schülern die Mühsal der Klärung dieser Frage erspart wurde. Hochinteressant ist nun eine parallele Entwicklung. Denn in diesem Zeitraum begann nicht nur das Zeitalter der Erziehung, sondern es begann auch das Zeitalter des empirisch wissenschaftlichen Denkens in dem uns tradierten Sinne, und beide Entwicklungen verknüpften sich miteinander. So wurde damals die Grundlage für die empirische Psychologie ebenso wie für die geisteswissenschaftliche Pädagogik gelegt. Und entsprechend dem in den letzten Jahrhunderten vorherrschenden und in vielen Bereichen so erfolgreichen Paradigma wissenschaftlichen Handelns wurde von nun an das „Objekt Kind" erforscht. Es entstand die Idee, die genaue Kenntnis des „Objektes Kind" werde dazu führen, dass man es planen und beherrschen könne, dass man Kinder so herstellen, so machen könne, wie man sie haben wolle. Damit wurde auch die Basis für die prinzipielle Vorstellung gelegt, dass „richtige" Erziehung das „richtige" Kind produziere, dass es sich umgekehrt sozusagen um einen Produktionsunfall handele, wenn das Kind nicht richtig werde. Erinnert sei nur an das noch gar nicht lang zurückliegende, leidenschaftliche Plädoyer von Skinner, der behauptete, dass durch die richtige Anwendung der Lerngesetze jedes erzieherische Ergebnis zu erreichen sei. Heute lässt sich meines Erachtens nicht mehr übersehen, dass wir an einem ähnlich spannenden und durchgreifenden Wendepunkt im Verständnis von Kindern bzw. im Verständnis der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern sind wie vor 400 Jahren. Ich kann das nicht im Einzelnen ausführen. Aber so viel ist sicher: Die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Erwachsene heute leben und Kinder aufwachsen, haben sich entscheidend geändert. Ein Schonraum, in dem Kinder unter dem Schutze der Erwachsenen nur so viel an Informationen bekommen, wie sie die Erwachsenenwelt für sie als zuträglich erachtet, ist in unserer heutigen Medienwelt nicht mehr zu schaffen, und Raum für spezielle Kinderwelten steht in den heutigen Großstädten nicht mehr zur Verfügung. Kinder künstlich kindlich zu halten, wie das in den Schonräumen der vergangenen Jahrhunderte möglich war und bis vor 40 Jahren noch praktiziert wurde, ist nicht mehr möglich. Die Folge dieser Entwicklung ist meiner Überzeugung nach die in den letzten zwei Jahrzehnten nochmals zu beobachtende körperliche Akzeleration der Kinder, für die die Wissenschaft - wie Hurrelmann immer wieder hervorhebt - keinerlei Erklärung hat finden können. Aber auch Erwachsene, die sich unhinterfragt als die Wissenden, die Weisenden, die fertig Ausgebildeten sehen, sind kaum noch zu finden. Kurz gesagt: Die Kinder sind erwachsener geworden und die Erwachsenen kindlicher. Autoren wie Postman (1987) beschreiben denn auch das „Verschwinden der Kindheit" oder nennen sie, die Kindheit - so Suransky (1982) - eine „Fiktion". Andere verweisen auf das Verschwinden der Erwachsenheit im klassischen Sinne und sprechen von einer Infantilisierung der Erwachsenen (Treml 1984). Wenn nun aber die Grundlage der traditionellen Erziehung - die Differenz zwischen Kind und Erwachsenem - weitgehend verschwunden ist, dann muss das auch Auswirkungen auf die Chancen und Möglichkeiten von Erziehung haben. Angesichts dieser Situation wurde von vielen Autoren und Wissenschaftlern das „Ende der Erziehung" beschrieben, von Giesecke 1985 beispielsweise mit dem

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Hinweis, man solle das aufgeben, was sowieso nicht mehr funktionieren könne, vehement gefordert, verbunden mit dem Vorschlag, die Kinder wie im Mittelalter wieder gemeinsam mit den Erwachsenen aufwachsen zu lassen, von Postman 1995 heftig beklagt, verbunden mit der Aufforderung, die gute alte Erziehung wiederzubeleben. Entsprechend werden in der aktuellen Diskussion zwei verschiedene Lösungen proklamiert, wie sie in der Tendenz typisch für Lösungsmuster in Umbruchphasen sind und die - ebenso typisch - beide unbrauchbar sind: Von der einen Seite wird gefordert, das alte Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen wieder herzustellen, d.h. die überkommene Trennung von Kindheit und Erwachsenheit wieder zu restaurieren, wieder Eltern und Erzieherinnen zu sein, damit Kinder Kinder sein können. Von der anderen Seite wird demgegenüber verlangt, die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen ganz aufzugeben und die Kinder als junge Erwachsene zu betrachten, die - wie es eben bis zum Ende des Mittelalters üblich war - durch gemeinsames Leben mit den Erwachsenen in die Erwachsenenwelt hineinwachsen. Interessanterweise geht diese grundsätzliche Entwicklung einher mit einer zunehmenden Wahrnehmung der Kompetenz der Kinder - denken Sie allein an die Säuglingsforschung, in der der Säugling von einem symbiotisch abhängigen Wesen zum aktiven Gestalter seiner Umwelt geworden ist. Entsprechend schreiben Hurrelmann und Bründel: „Kinder werden nicht mehr als unfertige, unterentwickelte Wesen, sondern als kindliche Persönlichkeiten betrachtet und behandelt, die sich in jedem Abschnitt des Lebenslaufes in einer Phase von eigenem Gewicht und Unverwechselbarkeit befinden. Sie werden als Akteure verstanden, die selbstständig handeln, die sich nicht erst in der Zukunft verwirklichen wollen, sondern im Hier und Jetzt leben möchten, was ihnen auch weitgehend gestattet wird" (2003, S. 93). Oder an anderer Stelle: „Kinder haben nicht mehr einfach eine generell geringere Kompetenz zur Bewältigung von inneren und äußeren Herausforderungen der Entwicklung, sondern sind oft in wichtigen Bereichen der täglichen Lebensführung (Umgang mit Medien, Konsumverhalten, Bewältigung psychischer und sozialer Spannungen) kompetenter als Erwachsene und Senioren. Der Wissensvorsprung und der Erfahrungsvorsprung der mittleren und älteren Generation gegenüber der jungen ist in Zeiten eines schnellen sozialen und technischen Wandels stark geschrumpft und hat dazu geführt, dass die junge Generation nicht mehr einseitig nur der Empfänger von wichtigen erzieherischen Interventionen ist, sondern auch die Älteren erzieht" (2003, S. 84). Und die Autoren stellen „die grundsätzliche Frage, ob die traditionellen Vorstellungen von der ,Unmündigkeit' und ,Unreife' von Kindern noch haltbar sind". Dies hat natürlich einschneidende Auswirkungen auf die Kind-ErwachsenenBeziehung, die beispielsweise nach Hurrelmann und Bründel „auf das Muster des Kindes als Partner des Erwachsenen hinsteuern und das traditionelle Umgangsmuster der Unterordnung von Kindern unter die Anforderungen und Bedürfnisse von Erwachsenen zurücklassen" (2003, S. 105). Und so müssen wir uns heutzutage ernsthaft damit auseinandersetzen, ein neues Rollenbild des Erwachsenen zu entwickeln, ein neues Eltern-, Erzieherinnen-, Lehrerinnenbild. So spannend das ist, will ich darauf jetzt aber nicht näher eingehen, nur darauf hinweisen, dass dieses Erwachsenenbild notwendigerweise eine neue erzieherische

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Grundhaltung mit einschließen muss. Diese erzieherische Grundhaltung geht einher mit Ideen, wie sie auch aus systemischer Perspektive auf den sozialen Vorgang der Erziehung zu gewinnen sind. Danach sind Kinder, wie alle Lebewesen, nicht planvoll und sicher durch Außeneinflüsse zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Vielmehr ist Erziehung immer „ein Experiment mit ungewissem Ausgang". Aus der Sicht des Kindes heißt das: Nicht die von außen auf das Kind ausgerichtete (erzieherische) Intervention bestimmt das Verhalten des Kindes, sondern die Struktur des Kindes als Folge seiner Lebensgeschichte und sein inneres Prozessieren bestimmen über das Schicksal der erzieherischen Intervention (Rotthaus 2004). Niklas Luhmann hat das wunderbar treffend formuliert und geschrieben: „Im Prinzip nimmt der Erzieher sich also etwas Unmögliches vor" (1987, S. 60), oder etwas später (S. 61): „Man nimmt ein Können in Anspruch, das man nicht können kann", und hat auf das „Technologiedefizit des Erziehungssystems" verwiesen. Hartmut von Hentig hat mehr den Reiz dieser Situation betont und formuliert: „Wer nicht Freude am unplanbaren Umgang mit Kindern hat, für den ist der Beruf des Lehrers nicht auszuhalten." Nicht mehr zu übersehen sind die Auswirkungen dieser Sichtweise auf die Schulen und ebenso die Erwachsenenbildung. Rolf Arnold formuliert: „Menschen sind lernfähig, aber nicht belehrbar." Und Manfred Spitzer (2002) sagt sinngemäß: Unser Gehirn kann nichts anderes als lernen, was bedeutet: Jeder Lernende ist zum jeweiligen Zeitpunkt mit seinem ganz individuellen Lernprozess befasst, und Lehrende können die ständig stattfindenden Lernprozesse nur unterstützen, ohne zu wissen, wo sich der jeweilige Lernende gerade befindet. Lehrer müssen also heute vom Pauker zum Anreger und Organisator selbst organisierter Lernprozesse der Kinder werden. „Das ist der einzige Gesichtspunkt" - so formulierte es kürzlich ein Schulrat auf einer Tagung in Berlin - , „nach dem ich Lehrer und Unterricht beurteile." Wenn Sie diese Situation, wie ich sie zu schildern versuchte, im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion um Erziehung und Unterricht, um Familie und Schule bzw. Kindergarten sehen, dann ist leicht zu erkennen, dass hier ein Prozess abläuft, der unumkehrbar ist. Eine Rückkehr zur alten Erziehung, zur alten Schule, zur alten Eltem-Kind-Beziehung ist schlicht nicht mehr möglich, da wir die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht umkehren können und die unter diesen Bedingungen aufwachsenden Kinder traditionelles Erziehen und Unterrichten nicht mehr akzeptieren. Und natürlich sind meine Ausführungen über Erziehen und Lehren auch übertragbar auf das therapeuein, die Psychotherapie. Diese Beobachtung finde ich tröstlich und ermutigend, wenn ich in unserem Feld der Psychotherapie die starken und sehr kämpferisch vertretenen Positionen des linear-kausalen biologistischen Denkens und die Ausschließlichkeit beobachte, mit der die an einer Objektstellung des Menschen orientierte RCT-Studie als einzig gültiger Maßstab angesehen wird. Ich sehe diese Positionen dann als rückwärtsgewandte Versuche, an überkommenen Konzepten mit erhöhter Rigidität festzuhalten. Schließlich gibt es Alternativen, beispielsweise radikal konsequente qualitative Forschungsdesigns, in denen die Selbstreferenz auf den Forscher selbst angewandt wird und die den schönen Schein des Eindeutigen und Vergleichbaren entbehren und damit die Notwendigkeit mit sich bringen, Unsicherheit auszuhalten.

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Allerdings ist das Verdammen dessen, was man als den alten Denkmustern zugehörig erlebt, auch keine sehr souveräne und vor allem keine hilfreiche Haltung. Es gilt vielmehr, den bloßen Dualismus von Bejahung und Verneinung zu überwinden und den dritten Punkt in dem Dreieck des Leipzig/Bonner Ganzheitspsychologen Sander, dem Sander'sehen Dreieck, zu finden, in dem ein Durchbruch zum Integralen gelingt. Wenn ich das auf Psychotherapieforschung beziehe, so scheint mir, dass dieser Schritt noch nicht hinreichend gut gelungen ist, nicht zuletzt, weil die Schwierigkeit, Forschungsdesigns zu entwickeln, die der Komplexität des Gegenstandes angemessen sind - oft auch kombiniert mit einer etwas überheblichen Abwertung jeden Zählens und Messens -, eher zu einer verhängnisvollen Forschungsabstinenz gefuhrt hat. Grundsätzlich möchte ich mit Hinblick auf das Thema unserer Tagung den Schluss ziehen, dass wir uns nicht allzu sehr mit unserer Sorge, unserem Unbehagen und auch unserem Ärger über aktuelle Entwicklungstendenzen in unserem Feld aufhalten sollten - was selbstverständlich nicht heißt, dass wir uns nicht sehr energisch berufpolitisch engagieren müssen. Wir können und sollten dies aber tun in der sicheren Überzeugung und damit mit einer aus Gewissheit darüber gespeisten Selbstsicherheit, dass diese zu beobachtenden Tendenzen Übergangserscheinungen sind und die Entwicklung im hier an dem Verständnis von Kindheit dargestellten Sinne unaufhaltbar ist. Neben dem berufspolitischen Engagement sollten wir uns auf die Weiterentwicklung unserer Ideen konzentrieren und unsere Versuche optimieren, der Komplexität von Psychotherapie und natürlich auch von Psychotherapieforschung komplexitätsgerecht zu begegnen. Literatur Eichholz, R. (2001): Die Subjektstellung des Kindes als Auftrag und Maßstab der Politik. Frühe Kindheit (2), 8-12. Gebser, J. (1949): Ursprung und Gegenwart. Erster Band: Die Fundamente der aperspektivischen Welt. Beiträge zu einer Geschichte der Bewusstwerdung. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. Gebser, J. (1949): Ursprung und Gegenwart. Zweiter Band: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt. Versuch einer Konkretion des Geistigen. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. Giesecke, H. (1985): Das Ende der Erziehung. Stuttgart: Klett-Cotta. Hurrelmann, K.; Bründel, H. (2003): Einfuhrung in die Kindheitsforschung. 2. Aufl., Weinheim: Beltz. Luhmann, N. (1987): Strukturelle Defizite. Bemerkungen zur systemtheoretischen Analyse des Erziehungswesens. In: J. Oelkers u. H.-E. Tenorth (Hrsg.): Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim: Beltz, 57-75. Postman, N. (1995): Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung. Berlin: Berlin Verlag. Rotthaus, W. (20045): Wozu erziehen? Entwurf einer systemischen Erziehung. Heidelberg: Carl Auer. Rousseau, J. J. (1971): Emile oder über die Erziehung. Paderborn: Schöningh; franz. Orig. 1762. Spitzer, M. (2002): Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum. Suransky, V. P. (1982): The Erosion of Childhood. Chicago: University Press. Treml (1984): auf den „Viersener Therapietagen".

Psychotherapie als Manifestation eines (Autoritäts-) Problems, als dessen Überwindung sie erst Sinn macht (frei nach Karl Kraus)? Hans-Jürgen P. Walter Einige Vorbemerkungen zum erkenntnistheoretischen Zusammenhang von Human- und Naturwissenschaft Ich muss mit einer kleinen Kritik am Einladungstext, den mir die von mir hochgeschätzten Initiatoren dieses Symposiums, so hoffe ich, nicht übelnehmen werden, beginnen. Dort ist im ersten Absatz von der Besorgnis wegen einer „Verengung des Denkens auf naturwissenschaftlich orientierte Ansätze" die Rede. Wenn da von „bestimmten" naturwissenschaftlich orientierten Ansätzen gesprochen würde oder wie im vierten Absatz von „naturwissenschaftlich-funktionalistischen ... Denkweisen", also eine Spezifizierung eingefügt wäre, hätte ich damit schon kein Problem mehr. Zumal ich mit allem anderen, was noch in der Einladung gesagt wird, uneingeschränkt übereinstimme. So wie es im ersten Absatz jedoch heißt, furchte ich, könnte der Satz als eine generelle Abqualifizierung von „Naturwissenschaft" missverstanden werden und so der Wiederbelebung einer uralten Spaltung wissenschaftlichen Denkens Vorschub leisten, deren Unfruchtbarkeit der alte philosophische Streit zwischen Phänomenalisten und Physikalisten eigentlich hinlänglich belegt haben sollte. Sollte! Tatsächlich ist dieser Streit ja längst wieder voll entbrannt, zuletzt von Seiten so genannter Hirnforscher ä la Roth und Markowitsch (letzterer z. B. 2006), die aggressiv dem antiquiertesten Physikalismus huldigen. Dass sich von solchen (nach Bischof 1966) „semi-naiven" Strömungen die Verhaltenstherapie (VT) - trotz Bandura, Lazarus, Mahoney, Mischel u.a. - noch nie befreit hat, haben wir in den vergangenen Jahren als Opfer von deren Ausgrenzungsbemühungen erfahren müssen. Dass da Tiefenpsychologen und Psychoanalytiker mitgetan haben und mittun (jedenfalls Vertreter an den Schaltstellen der Macht), scheint nun allerdings ein Hinweis darauf zu sein, dass auch Freud'sehe „Fehlleistungen" erkenntnistheoretischer Art zur zwanghaften Wiederkehr neigen, trotz Adlerianern, trotz Jungianern, trotz „Neo-Psychoanalytikern", ja auch trotz vieler kluger, sich als Freudianer ohne irgendeinen Zusatz verstehender Psychotherapeuten, die sich nicht gescheut haben, erkenntnistheoretische Niveauschwankungen des von ihnen verehrten Lehrers zu korrigieren. Man kann sich im Hinblick auf das psychotherapiepolitische Verhalten mancher Tiefenpsychologen und Psychoanalytiker aber auch fragen, ob es bei deren zum Teil schamlosen Bemühen, im Verein mit einem mächtigen früheren Gegner Bruder und Schwester um ihr rechtmäßiges Erbe zu betrügen, überhaupt irgendwelcher „wissenschaftlichen" Überzeugungen bedurfte. Dazu später (siehe Titel) mehr. Hier möchte ich als „kritischer Realist" in der Nachfolge Wertheimers, Köhlers, Metzgers u.a. zunächst noch einmal in Erinnerung rufen, weshalb nicht zuletzt für Psychologie und Psychotherapie eine kategoriale Unterscheidung zwischen Natur-

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und Geisteswissenschaft falsch - und verhängnisvoll - ist. Metzger beschreibt in Kapitel 8 seiner „Psychologie", das den Titel „Das Leib-Seele-Problem" trägt, den psychophysischen Zusammenhang menschlicher Existenz durch vier Glieder: 1. Die physikalische Welt (bzw. der Makrokosmos), darin 2. die physikalischen Organismen, darin 3. die phänomenalen Welten (die Metzger auch psychophysische Welten bzw. Mikrokosmen nennt), darin 4. die phänomenalen Körper-Ichs (die Metzger auch psychophysische Ichs nennt). Daran ist mir im gegebenen Zusammenhang vor allem wichtig: Die „phänomenale Welt", also die uns erlebnismäßig gegebene Welt, ist Teil der einen umfassenden Welt, und wenn man diese umfassende Welt „physikalische" nennt, dann sind ganz selbstverständlich alle Eigenschaften lebender Menschen, alle Vorgänge innerhalb ihres Erlebens auch zugleich physikalische Eigenschaften und Vorgänge. Daraus leitet sich Metzgers Leitsatz ab: „Die phänomenale Welt besitzt die gleiche Würde wie die physikalische", im Übrigen auch die einzig stringente Begründung psychosomatischer Medizin und Psychotherapie. Und nicht zuletzt deshalb bezeichnet Metzger die „phänomenalen Welten und die „phänomenalen Ichs" auch als „psychophysische Welten" und „psychophysische Ichs" (auf die spezifizierende Begründung, die Köhlers „Isomorphiethese" liefert, verzichte ich hier). „Funktionalistisches" (oder ökonomisch interessiertes) Forschen ist deshalb nicht grundsätzlich falsch oder dubios, nur der Anspruch, dessen Ergebnisse (bzw. die Teile auf dessen Seite des Funktionszusammenhangs) seien wesentlicher als ein Gefühl, eine Empfindung, eine individuelle Haltung oder Deutung (bzw. die Teile auf der anderen Seite des Funktionszusammenhangs), der verfehlt die Realität nicht nur menschlicher Existenz, sondern des gesamten Makrokosmos. Kluge Physiker, Chemiker, Biologen wissen um diesen Zusammenhang und wissen deshalb auch, dass sie nie Klügeres über die tatsächliche Beschaffenheit des Makrokosmos herausfinden können, als ihre „phänomenale" Klugheit zulässt (die sich nur im vierten Glied der Metzger'schen Aufgliederung zu manifestieren vermag); das ist das sich im Mikrokosmos ihrer individuellen Erfahrungs-, Empfindungs-, Fühlund Denkwelt entwickelnde Verständnis für umfassende Zusammenhänge. Ich erinnere mich, dass Kurt Müller, einer meiner akademischen psychologischen Lehrer in Frankfurt, in einer Vorlesung physikalisch-physiologische und phänomenologisch-psychologische Forscher mit zwei Bautrupps für einen Tunnel verglich, die von den zwei Seiten eines Berges her in diesen eindringen. Sie müssten sich im Zweifelsfall durch „Klopfzeichen" verständigen, sagte Müller nach meiner Erinnerung, damit sie nicht aneinander vorbei den Berg durchbohrten. Wahrscheinlich wäre Köhler, der physikalisch interessierteste, versierteste und ambitionierteste unter den Gründern der Gestalttheorie, kein bisschen beleidigt, wenn seine „Isomorphiethese" in diesem Sinne als „Klopfzeichen" des „Bautrupps Psychologie" verstanden würde. Das unauflösbare Problem der Verständigung besteht darin, dass psychische Sachverhalte für den, der sie unmittelbar erlebt, se/to-verständlich sind, während deren Zusammenhänge mit den nicht erlebbaren physikalischen Sachverhalten wie diese selbst eben stets nur mittelbar erschlossen werden können, nämlich durch ge-

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dankliches (phänomenales = erlebtes = psychisches) In-Beziehung-Setzen von unmittelbar wahrgenommenen Sachverhalten. Daran ändert die gedankliche Konstruktion einer speziellen (reduktiven) physikalischen Sprache so wenig wie die darauf beruhende Konstruktion spezieller Apparaturen (Metermaß, Voltmeter usw.), nämlich nichts. Denn was diese technischen Hilfsmittel anzeigen, beruht ja nicht nur auf phänomenalen (Konstruktions- bzw. Erfindungs-)Vorgängen, sondern bedarf auch wiederum der (möglichst logischen, auf jeden Fall aber unvermeidlich phänomenalen) Interpretation (vgl. Walter 2006). Wir sollten uns als Psychologen und Psychotherapeuten nicht voreilig selbst aus der Naturwissenschaft verabschieden und so einer Pseudosolidarität zwischen wirklich klugen Physikern, Chemikern und Biologen und allzu „windigen Naturwissenschaftlern", wie sie sich nicht zuletzt in der Psychologie tummeln, Vorschub leisten. Dummheit ist vielgestaltig, auch kann sich die eine Art mit der anderen mischen. Nehmen wir einmal an, bei der beschriebenen Dummheit (Phänomenalismus vs. Physikalismus) handele es sich um schlichte intellektuelle Defizite (die in unserer Gesellschaft allerdings kein Hindernis sind, nicht nur zu promovieren und sich zu habilitieren, sondern sogar renommierter Professor zu werden), wie sie das so genannte „Bieri-Trilemma" veranschaulicht (vgl. Bastian 2006). Dann wäre noch eine andere aufzuhellen, die Dummheit nämlich, dass man sich als Tiefenpsychologe oder Psychoanalytiker verstehen kann und trotzdem Schulrichtungen kompromisslos bekämpft, denen man sich, wäre man von den wesentlichen Erkenntnissen der eigenen Schulrichtung beseelt, wesentlich näher wissen müsste, als denen, mit denen gemeinsam man den Ausschluss der anderen betreibt. Wie gesagt, ist Dummheit vielgestaltig; eine bestimmte Art von Dummheit („höhere Dummheit", wie man mit Robert Musil sagen kann) jedoch scheint mir für den machtpolitischen Schulterschluss zwischen vom orthodoxesten Macher-Geist des Physikalismus beherrschten Vertretern der Verhaltenstherapie und den elitären Auswüchsen ihres Professionalisierungsprozesses erlegenen Tiefenpsychologen besonders charakteristisch zu sein. Zur Erläuterung muss ich ein wenig ausholen: Max Pages, ein der Psychoanalyse nahestehender, aber auch mit den Auffassungen des Gestalttheoretikers Kurt Lewin vertrauter französischer Gruppendynamiker, hat empirisch Gruppenprozesse untersucht und ist dabei besonders der Frage nachgegangen, wie es zur Spaltung in sich feindlich gesinnte Untergruppen kommt. Zum Gruppenprozess nach Pag&s Pages versteht die Dissoziation als Ausdruck der Verteidigung gegen die oft schwer auszuhaltende Einheit von „echter" Liebe und Trennungsangst. Echte Liebe und Trennungsangst sind die zwei Seiten derselben Fundamentalerfahrung, die jedes Individuum als Teil einer Gruppe macht. Echte Liebe meint ein ursprüngliches Mitleiden mit der natürlichen Einsamkeit des andern, ein Gefühl des Mitschuldigseins daran, das Wissen vom und die Teilhabe am Erdulden der Trennung, den Wunsch, aktiv die Angst unterdrücken zu helfen. Dieser Wunsch ist echt, aber er besteht widersprüchlicherweise neben dem

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Bewusstsein von der Unmöglichkeit zu helfen. Die echte Liebe wird - wenn überhaupt im vollen Sinn des damit Gemeinten - bewusst als Widerspruch gelebt. Sie ist begleitet von der wirklichen Entdeckung des anderen und der wirklichen Entdeckung des eigenen Ichs; beides gehört zusammen! Die echte Liebe ist nicht nur bewusst, sondern auch unbewußt wirksam. Die andere Seite der echten Liebe - und also mit ihr verbunden - ist die Trennungsangst. Pages beschreibt sie als die Erfahrung der Zurückweisung, des aktiven Zurückweisens wie des Zurückgewiesenwerdens. Sie äußert sich als niederschmetterndes Gefühl der Unfähigkeit, sich mit den anderen zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren, und wird zum Gefühl tiefster Einsamkeit, das nicht zu verwechseln ist mit dem Gefühl einer zeitweisen Einsamkeit; vielmehr bedeutet es die Entdeckung der Einsamkeit als permanenter Bedingung menschlichen Lebens. Die Trennungsangst ist gleichzeitig die Sensibilität für den anderen und impliziert damit die Liebe zum anderen. Pages will echte Liebe und Trennungsangst ausdrücklich nicht als Dualität im Sinne von Liebes- und Todestrieb verstanden wissen, sondern als fundamentale Einheit, wie aus einer Anmerkung (S. 361) hervorgeht. Die Angst bezeichnet Pages als das Zeichen der Einheit der Seele. Sie (genauer: die Widersprüchlichkeit der Fundamentalerfahrung als echte Liebe und Trennungsangst) bewusst zu ertragen, ist die Voraussetzung differenzierten, produktiven Umgangs mit den andern. Diese Fähigkeit aber muss immer wieder neu erworben werden. Primär wird ein Verteidigungsmechanismus gegen die Angst vor Trennung und den Schmerz der Trennung wirksam. Dieser Verteidigungsmechanismus ist die Dissoziation, die Dissoziation von Liebe und Trennungsangst, dergestalt, dass die Liebe zur besitzergreifenden Liebe wird und die Trennungsangst zur Feindseligkeit. Die besitzergreifende Liebe eliminiert die Angst, indem sie die Trennung eliminiert und den Mythos von der vollkommenen Verschmelzung von Ich und Du entwirft. Die Feindseligkeit eliminiert die Angst, indem sie die Liebe eliminiert. Dabei handelt es sich offensichtlich um die sprichwörtliche Saure-Trauben-Reaktion. Beide Reaktionen bedeuten Flucht aus der Realität. Damit ist nach Ansicht Pages' erst die Spaltung vollzogen, die sich in der psychoanalytischen Lehre als Dualität von Liebes- und Destruktionstrieb darstellt. Unter anderem aus der schon erwähnten Anmerkung geht hervor, dass er die rationale (statt rationalisierende) Untermauerung und Erklärung dieser Dualismusthese für seine Theorie des affektiven Lebens in der Gruppe in Anspruch nimmt. Die besitzergreifend Liebe kann sich niemals ganz von dem Stachel der Trennungsangst befreien, die sie stets wieder stimuliert; die Feindseligkeit, die totale Ablehnung des anderen ist dagegen nie ganz frei von Mitleid oder gar Schuldgefühl ihm gegenüber. Diesen Konflikt zwischen Fundamentalerfahrung und Dissoziation sieht Pages als dynamischen Konflikt, mit dem das Bewusstsein über die reale Beschaffenheit der Gefühle schwankt. Je heftiger die Zusasmmengehörigkeit von echter Liebe und Trennungsangst zurückgewiesen wird, desto stärker manifestieren sich besitzergreifende Liebe und Feindseligkeit, indem sie sich schließlich gegenseitig bekräftigen. Wenn dagegen Angst und echte Liebe zumindest partiell wieder bewusst werden, wird sachliches Handeln und Kooperieren möglich. Es kann dann allerdings erneut zur Zurückweisung der Angst und damit zur Dissoziation

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kommen. Zurückweisung der Angst und ihre Akzeptierung, die eine Koexistenz des Konträren ermöglicht, sind die beiden Modalitäten, zwischen denen sich der dynamische Konflikt in der Gruppe abspielt. Zunächst bezeichnet Dissoziation nur die Spaltung der Fundamentalerfahrung in besitzergreifende Liebe und Feindseligkeit. Die besitzergreifende Liebe nun als Gefühl, verbunden zu sein, das dissoziiert ist von dem Gefühl der Trennung, hat im Gefolge die Notwendigkeit, zu beherrschen oder beherrscht zu werden, zu verkörpern oder verkörpert zu werden. Das folgt aus dem Postulat vollkommener Fusion, absoluter Identität. Das Gefühl, getrennt zu sein, dissoziiert von dem Gefühl einer gewissen Identität, das ja zur echten Liebe durchaus gehört, hat im Gefolge die Notwendigkeit, zu zerstören oder zerstört zu werden. Das folgt aus dem Postulat des absoluten Andersseins. Aber weder die absolute Identität noch das absolute Anderssein ist ein haltbares Postulat. Früher oder später tritt die Erfahrung eines Schönheitsfehlers der Identität oder gar eine herbe Enttäuschung ein. Sie ist aber unvereinbar mit der besitzergreifenden Liebe, die nur ein Entweder-oder kennt und den Schönheitsfehler dementsprechend entweder leugnet, indem sie ihren Besitz zu vergrößern sucht, oder in Hass umschlägt, nunmehr mit dem Postulat absoluten Andersseins. Pages spricht auch von der „privilegierten Beziehung" und meint damit den Ausdruck, den sich die besitzergreifende Liebe in der Gruppe verleiht, indem sie sich als Objekt bestimmte Gruppenmitglieder wählt. Die anderen Gruppenmitglieder verfallen damit automatisch dem „Fluch" des Andersseins und werden bekämpft. Genau so aber stellt sich eine Gruppe häufig, vor allem am Anfang ihrer Geschichte, dar. Es wird durch die Theorie Pages' auch erklärbar, warum Gruppenkonstellationen häufig sehr schnell wechseln. Die Leugnung der Realität verhindert ein Gleichgewicht der Gefühle; heftige Liebe und Hassexplosionen wechseln sich ab. Dieser Konflikt zwischen Liebe und Hass schützt gegen das Bewusstwerden der Angst und der Trennung. Pages nennt ihn einen statischen Konflikt. Er dient in der Gruppe dazu, den Fortgang des Gruppenprozesses zu blockieren und damit zu verhindern, dass der Einzelne mit der Realität konfrontiert wird, die Opfer und Verzicht fordert. Zur Veranschaulichung seiner Theorie hat Pages ein Schaubild entworfen:

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Trennungs-

echte Liebe

angst

Gefühl des Getrenntseins

besitzergreifende Liebe (absolute Identität) *

statischer Konflikt

Feindseligkeit (absolutes Anderssein)

Pages spannt den Bogen seiner Theorie noch weiter; aus der „privilegierten Relation" folgt die Konstituierung einer absoluten Hierarchie, die keine Nuancen kennt, sondern nur Gute und Schlechte, Herrschende und Beherrschte; so wird die „privilegierte Relation" zur „autoritären Relation" und Grundlage des Rassismus. Die „privilegierte Relation" sieht Pages als das universelle menschliche Phänomen an, das hinter der „autoritären Persönlichkeit" steht, wie sie Brunswick und Adorno beschrieben. Bei ihr korrelieren unbedingter Respekt vor den Eltern und Festhalten an den traditionellen familiären Werten mit rassistischer Einstellung. Unter diesem Blickwinkel scheint die Haltung des kleinen Kindes, das sich mit seinen Eltern identifiziert, von der gleichen Art zu sein wie die rassistische Haltung. Auch die totale Verweigerung bei Pubertierenden oder älteren Jugendlichen, die in der Forderung gipfelt, man dürfe dem Establishment auch nicht den kleinen Finger reichen, kann als Ausdruck der Dissoziation verstanden werden; die besitzergreifende Liebe ist lediglich in Hass umgeschlagen. Es ist im Rahmen dieser Theorie nicht schwer zu erklären, warum viele unserer „Antiautoritären" so autoritär waren und sind, die Antirepressiven so repressiv. Sie bewegten sich schon Ende der 1960er Jahre offensichtlich vielfach auf der Ebene des statischen Konflikts zwischen Liebe und Hass, der den Gruppenprozess blockiert. Die „tolerance for ambiguity", die der Koexistenz des Konträren in der Akzeptierung der Fundamentalerfahrung entspricht, ging ihnen ab. Kurz noch einmal zurück zur Eltern-Kind-Beziehung. Im Rahmen der Primärgruppe, also in der Familie, durchlebt das Kind den ersten Gruppenprozess. Hier wäre also die erste und beste Gelegenheit, den dynamischen Prozess mit dem Ziel einer Akzeptierung der Fundamentalerfahrung von echter Liebe und Trennungsangst in Gang zu setzen; die Folgen für den Erwachsenen können nicht ausbleiben, wenn er schon in der Primärgruppe nicht über den statischen Konflikt zwischen besitzergreifender Liebe und Feindseligkeit, d. h. über die Flucht in die neurotische Abwehr der Angst, hinausgekommen ist.

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Darüber hinauszuführen, muss zunächst einmal das Ziel jeder Gruppenarbeit sein; ohne es annähernd zu erreichen, funktioniert keine Problemlösungsgruppe. An die Stelle der „Privilegierten Beziehung" muss schließlich die echte Beziehung treten. Sie unterdrückt nicht jede Hierarchie, aber sie erlaubt eine feine Differenzierung der Rollen, ohne ihnen den Charakter der Unveränderbarkeit zu verleihen; sie werden nicht als Folge einer Prädestination, der Vorsehung, verstanden. Den Unterschied hat Willy Brandt z. B. sehr schön in seiner Regierungserklärung verdeutlicht, als er sagte: „Wir sind nicht Erwählte, sondern Gewählte." Die Lösung von der „autoritären Relation" mit ihrer Schwarz-Weiß-Malerei und die Hinwendung zur „echten Relation" sind gleichbedeutend mit einer Dynamisierung unserer Gesellschaft und machen menschenwürdigen Fortschritt erst möglich. Was können nun die Erkenntnisse von Pages zum besseren Verstehen unseres „Unbehagens in der (Psychotherapie-)Kultur" beitragen? Zumal sie aus der Nähe von Pages zur Psychoanalyse hervorgegangen sind, sicherlich eine ganze Menge zum besseren Verständnis der gravierenden Spaltungsprozesse innerhalb von Tiefenpsychologie und Psychoanalyse im Verlauf der vergangenen hundert Jahre und damit auch zum Beelzebub in der zeitgenössischen Tiefenpsychologie. Nicht weniger aber über die Genese einer durch und durch autoritären Psychotherapie wie der orthodoxen Verhaltenstherapie. Nicht zuletzt aber vermögen sie, die aktuellen Vorgänge zu erhellen, durch die offizielle und angeblich wissenschaftlich anerkannte Psychotherapie zunehmend selbst die Merkmale der Störungen aufweist, um deren Überwindung es in konkreter psychotherapeutischer Arbeit regelmäßig geht. Unser Patient auf diesem Symposium ist die Psychotherapie selbst. Wenn übrigens Freud durchgehend recht hätte mit seinen Überlegungen in „Das Unbehagen in der Kultur" zur Beschaffenheit und Entstehung menschlicher Kultur und wir das, was er da meint, auf die gegenwärtig tonangebende Psychotherapiekultur anwenden würden, müsste das Urteil über Letztere nicht weniger übel ausfallen, als wenn wir ihm in dem Sinne nicht Recht geben, dass wir Freuds Ausführungen zwar als Schilderung von Möglichkeiten der Entstehung von Kultur, aber nur einer ziemlich „kranken" verstehen. In der Auffassung, dass letzteres zutrifft, unterstützt mich offenkundig Max Pages (wie auch Adler und Jung und manch anderer unter den Großen der Tiefenpsychologie, die Freuds manchmal doch als sehr pessimistisch anmutendes Menschenbild nicht teilen). Und damit auch in meiner Hoffnung, dass es erfreulichere Alternativen geben kann. Natürlich liegt die Betonung auf „kann". Literatur Bandura, A. (1976): Verhaltenstheorie und die Modelle des Menschen. In: A. Bandura (Hg.): Lernen am Modell. Stuttgart: Klett-Cotta. Original (1974): Behavior theory and the models of man. Amer. Psychol., 29. Bastian, T. (2006): Tollkühne Hirnforscher und ihre Denkfehler. Publik-Forum, Nr 10, 8-9. Bischof, N. (1966): Erkenntnistheoretische Grundlagenprobleme der Wahrnehmungspsychologie. In: W. Metzger (Hg.): Wahrnehmung und Bewußtsein. Hdb. d. Psychologie, Bd. 1, 1. Halbbbd., 21-79. Göttingen, Hogrefe. Freud, S. (1930): Das Unbehagen in der Kultur. In: S. Freud (1972, 5. Aufl.): GW, Bd. XIV, 419-506. Frankfurt a. M.: S. Fischer. Köhler, W. (1920): Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung. Braunschweig: Vieweg.

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Köhler, W. (1968, engl. Orig.: 1938, New York: Liveright): Werte und Tatsachen. Heidelberg-BerlinNewYork: Springer. Lazarus, A. A. (1976): Angewandte Verhaltenstherapie. Stuttgart: Klett. Mahoney, M. (1977): Reflections on the cognitive learning trend in psychotherapy. Amer. Psychol., 32, 5-13. Markowitsch, H. J. (2006): Gene, Meme, „Freier Wille": Persönlichkeit als Produkt von Nervensystem und Umwelt. In: G.-J. Boudewijnse (2006) : Das mentale Paradoxon. Wien: Krammer, 49-60 (darin auch die angemessene Kritik an Markowitschs Auffassungen von Uwe Laucken, 61-97). Mischel, W. (1977): On the future of personality measurement. Amer. Psychol., 32,246-254. Metzger, W. (1963): Psychologie. Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einfuhrung des Experiments. Darmstadt: Steinkopff; bisher letzte Neuauflage: 2001, Wien: Krammer. Metzger, W. (1975): Gestalttheorie und Gruppendynamik. In 1986,210-226. Metzger, W. (1986): Gestalt-Psychologie. Ausgewählte Werke aus den Jahren 1950 bis 1982, herausgegeben und eingeleitet von M. Stadler und H. Crabus. Frankfurt a.M.: Kramer. Musil, Robert (1937, hier zitiert nach 2001): Über die Dummheit. Berlin: Alexander. Pages, Max (1974): Das affektive Leben der Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta. Tholey P. (1980): Erkenntnistheoretische und systemtheoretische Grundlagen der Sensumotorik aus gestalttheoretischer Sicht. Sportwissenschaft 10, Nr. 1,7-35. Waldvogel, B. (1991): Psychoanalyse und Gestaltpsychologie. Historische und theoretische Berührungspunkte. Gestalt Theory 13, No. 1,19-48. Walter, H.-J. P. (19771, 19852, 19943): Gestalttheorie und Psychotherapie. Darmstadt: Steinkopff (1. Aufl.), Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Walter, H.-J. P. (1996): Angewandte Gestalttheorie in Psychotherapie und Psychohygiene. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag/Wien: Krammer. Walter, H.-J. P. (2001): Zur Bedeutung der Begriffe „physikalisch", „transphänomenal" und „Wirklichkeit im 1. Sinne". Wolfgang Köhler und Wolfgang Metzger: Lehrer und Schüler als sich ergänzende Vertreter eines kritisch-realistischen und gestalttheoretischen Wissenschaftsverständnisses. Gestalt Theory 23, No. 2,102-114. Walter, H.-J. P. (2006): Gestalttheorie und „Psychosomatik" oder: Hat „gestalttheoretische Psychotherapie" etwas „Besonderes"? Gestalt Theory 28, No. 1/2, und in: G.-J. Boudewijnse (2006): Das mentale Paradoxon. Wien: Krammer, 25-48.

Psychotherapeutischer Kitsch als Ausdruck eines verkürzten Menschenbildes* Christoph J. Schmidt-Lellek Wenn ich mich hier mit Kitsch in der Psychotherapie befasse, dann geht es mir nicht um Geschmacksfragen. Vielmehr versuche ich, Kitschphänomene als ein Symptom zu beschreiben, hinter dem sich ein verkürztes Menschenbild verbergen kann. Demzufolge wäre Kitsch als Entfremdung von einem vollen Menschsein zu begreifen. Wenn es das Ziel von Psychotherapie ist, Entfremdung zu überwinden, dann dürfen wir dabei keine entfremdeten und somit weiter entfremdenden Mittel benutzen. Aber was entfremdet ist - im Unterschied zu „wahrhaftig" oder „authentisch" -, lässt sich nicht objektiv und auch nicht eindeutig feststellen, sondern ist von vielen Faktoren abhängig, wie etwa von den zeitlichen, persönlichen und situativen Kontexten des jeweiligen Ereignisses bzw. Interaktionsprozesses. Kurz gesagt: Bei Kitschphänomenen handelt es sich um das Fehlen einer Balance zwischen Oberfläche und Tiefe; um Kitsch handelt es sich also, wenn einer schönen Oberfläche, die Gefallenfindet,die Tiefe und damit ein tragender Gehalt fehlt. Der Begriff „Kitsch" ist jedoch schwierig zu fassen. Kitsch ist ein Stilbegriff aus der Kunstästhetik, und hier ist eine definitorische Bestimmung bereits schwierig genug. Diesen Stilbegriff auf die zwischenmenschliche Interaktion in der Psychotherapie zu übertragen, macht eine Bestimmung insofern noch schwieriger, als es hier keine vorzeigbaren, bleibenden „Werke" gibt und die Subjektivität des momentanen Erlebens noch ausgeprägter ist. Im Folgenden versuche ich zunächst, im Hinblick auf Kunstgegenstände das Problem Kitsch in seinen Widersprüchen einzukreisen, und ich werde dann Phänomene im Bereich der psychotherapeutischen Arbeit beschreiben, die sich als Kitsch beurteilen lassen. 1. Was ist Kitsch? Annäherungsversuche Ausgangspunkt der Darlegung soll eine Definition des Kitsches in einem gängigen Lexikon sein: „Wertlose ,Kunstware4 (...), ein kunstfertig, doch ohne künstlerische Intention hergestellter Gegenstand (...), der ohne den Filter der ästhetischen Distanz unmittelbar den sentimentalen Selbstgenuss anspricht. (...) Unterschieden wird der ,süße Kitsch4, der schöne Illusion und Rührung zu erwecken sucht, vom ,sauren Kitsch4, der sich mit vorgetäuschter Tiefgründigkeit dem Zeitgeschmack anpasst." (Brockhaus/dtv-Lexikon 1997, Bd. 9,321)

Aufgrund dieser Definition seien folgende Merkmale von Kitsch hervorgehoben: (1) die Wertedifferenz zu einem echten Kunstwerk, nämlich das Fehlen künstlerischer Intention und ästhetischer Distanz;

* Eine ausfuhrlichere Analyse zum Thema findet sich in Schmidt-Lellek, C. J. (2006): Ressourcen der helfenden Beziehung. Modelle dialogischer Praxis und ihre Deformationen. Bergisch-Gladbach: EHP, S. 314-337.

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(2) das Anstreben eines unmittelbaren, unkritischen Selbstgenusses (statt z.B. eines Sichöffnens für die Sache und eine Auseinandersetzung mit ihr); (3) das Moment der Täuschung, sei es als unbewusste Selbst- und Fremdtäuschung oder als intendierte Fremdtäuschung aufgrund von Profitinteressen, z.B. in der Werbung. 1.1 Kitsch als Täuschung (1) Täuschung durch Schönung: Ein Gegenstand oder ein Sachverhalt wird geschönt dargestellt: Zu ihm gehörende Aspekte, die ein harmonisches oder idealisiertes Bild von ihm stören würden, werden aus der Darstellung ausgeklammert. In diesem Sinne lassen sich viele Werbetexte oder -graphiken als Kitsch ansehen, da sie beim Betrachter eine Glückserwartung im Falle eines Kaufes hervorrufen sollen - hier gibt es überhaupt nur glückliche, schöne, wohlhabende und meist jugendliche Menschen. Während diese Absicht hier meistens offensichtlich ist, kann das Moment der Täuschung z.B. im Falle von Wissenschaftspublizistik komplizierter sein: Ein Artikel über gesundheitsfördernde Maßnahmen in einer Illustrierten wirbt mit „wissenschaftlichen" Argumenten für ein Vitaminpräparat oder für ein AntiAging-Mittel. Wenn dabei mögliche Gegenargumente ausgeklammert oder nicht ernst genommen werden oder das beworbene Präparat als „Wundermittel", als „garantiertes Allheilmittel" bezeichnet wird, dann fehlt die kritische Distanz zum Objekt der Darstellung. Eine solche Distanz stellt aber einen grundlegenden Wert in der Wissenschaft ebenso wie in der Journalistik dar. Hier gibt es also eine wissenschaftlich erscheinende Oberflächenstruktur, der aber die „Tiefenstrukturen genuin wissenschaftlicher Aussagen" fehlen (Bystrina 1985, S. 15). Damit können wir zu der folgenden Begriffsbestimmung gelangen: „Kitsch besitzt einige Merkmale der Oberflächenstruktur eines wertvollen Kulturobjekts (besonders eines Kunstwerks), ohne die Merkmale von dessen Tiefenstruktur aufzuweisen, wobei er vortäuscht, dennoch ein wertvolles Kulturobjekt (Kunstwerk) zu sein" (Bystrina 1985, S. 18). (2) Täuschung durch Spannungsfreiheit: Um den Tiefenstrukturen, die ein Kunstwerk charakterisieren, näher zu kommen, beziehe ich mich auf eine Aussage meines Philosophielehrers G. Picht, wenn der zwischen „Widersprüchen" in Aussagen über Phänomene und „Antinomien" in den Phänomenen selbst unterscheidet: „Das Aufspüren von Antinomien und den durch sie erzeugten Spannungen ist eines der wichtigsten Verfahren bei der Erschließung künstlerischer Phänomene. Denn Kunstwerke sind so beschaffen, dass gerade die in ihnen auftretenden Antinomien ihre künstlerische Einheit und innere Konsistenz erst möglich machen. Weicht Kunst diesen Antinomien aus, so entsteht Kitsch. Deshalb zerstört man das Kunstwerk, wenn man Antinomien nur in der Form des Widerspruchs zu denken vermag." (Picht 1986, S. 38 f.)

Und er fuhrt weiter aus, dass die Erkenntnis solcher Antinomien „auch jenseits der spezifischen Sphäre der Kunst für das Denken eine schwer abzuschätzende Bedeutung hat" (ebd.). In anderen Worten: Alles, was existiert, ist nicht nur schön oder nur gut und auch nicht nur hässlich und schlecht, sondern vieldeutig und voller Gegensätze und Spannungen.1 Vorstellungen von einem Paradies der voll1 Ähnlich auch Adorno (1970, S. 75): „Schönheit haftet (...) nicht am Gleichgewicht als dem Resultat allein, sondern immer zugleich an der Spannung, die das Resultat zeitigt. Harmonie, die als Resultat die

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kommenen Harmonie gibt es zwar in vielen Kulturen, aber sie beziehen sich auf eine Jenseitswelt. Ein anderer Aspekt der Sehnsucht nach harmonischer Eindeutigkeit ist in den Versuchen zu erkennen, sich umfassende und widerspruchsfreie Denksysteme zu schaffen und sie dogmatisch abzusichern, wie etwa in der Philosophie oder in politischen Utopien. Solches Denken scheint dem Bedürfnis zu entspringen, sich an etwas Eindeutigem festhalten und orientieren zu können. Der Preis dafür ist die Einschränkung und Verbiegung der Wahrnehmung von Wirklichkeit, die „Anästhesierung" gegenüber spannungsreichen Antinomien. Die Versuchung zum Kitsch ist immer dann besonders naheliegend, wenn ein politisches System für sich beansprucht, endgültige Lösungen zu repräsentieren, mit der zwangsläufigen Folge, dass keine Widersprüche zugelassen werden: Alle Diktaturen sind Meister in der Produktion von Kitsch, wie man sich insbesondere mit den „nicht entarteten" Werken der Nazizeit oder des „sozialistischen Realismus" des früheren Ostblocks vor Augen führen kann. So vermerkt auch Adorno (1970, S. 520): „Der Kitsch des Ostbereichs sagt etwas über die Unwahrheit des politischen Anspruchs, dort wäre das gesellschaftlich Wahre erlangt." (3) Vortäuschung nicht vorhandener Geflihle: Ausgangspunkt ist hier die Unterscheidung zwischen „Gefühl" und „Sentimentalität": Ein authentisches Gefühl hat (im obigen Sinne) eine Tiefenstruktur, es beinhaltet Antinomien, Glück und Leid gleichermaßen. Es ist vor allem nicht nach Belieben abrufbar, sondern bemächtigt sich eines Menschen. Dies bedeutet, dass durch ein erlebtes Gefühl ein kathartischer Prozess erfolgt, eine psychische Veränderung, eine Reifung oder z.B. die Überwindung eines Verlustes in der Trauer. Sentimentalität hat demgegenüber nur eine Oberflächenstruktur, sie ist je nach Situation schnell austauschbar, und sie vermeidet eine wirkliche Erschütterung. So gesehen wäre Kitsch die Einladung, den Anschein eines Gefühls zu genießen, ohne das Risiko, dass wirklich etwas mit einem passiert, nämlich in der Tiefe berührt, d.h. erschüttert oder beglückt zu werden: „Kitsch parodiert die Katharsis" (Adorno 1970, S. 355).2 Kitsch ist demzufolge ein Wechselspiel zwischen dem Betrug des Produzenten, den Betrachter mit billiger Münze abzuspeisen und zufriedenzustellen, und andererseits dem Bedürfiiis des Konsumenten, sich durch leicht verdauliche Kost den Anschein von starken Empfindungen zugänglich zu machen, ohne sich aber in der Tiefe berühren und verunsichern zu lassen.3

Spannung verleugnet, die in ihr einsteht, wird dadurch zum Störenden, Falschen, wenn man will, Dissonanten." 2 Katharsis ist nach Aristoteles (in seiner Schrift „Poetik") die angestrebte Wirkung der Tragödie auf den Zuschauer: Durch „Furcht und Mitleid" (phöbos kai eleos) soll er zu einem von störenden Empfindungen befreiten und zugleich intensivierten Daseinsgefühl gelangen. 3 „Eines der Momente von Kitsch, die als Definition sich anbieten, wäre die Vortäuschung nicht vorhandener Gefühle und damit deren Neutralisierung sowohl wie die des ästhetischen Phänomens. Kitsch wäre die Kunst, die nicht ernst genommen werden kann oder will und die doch durch ihr Erscheinen ästhetischen Ernst postuliert" (Adorno 1970, S. 466 f.).

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1.2 Kitsch als Ausdruck regressiver Sehnsüchte Kitsch lässt sich weiterhin beschreiben als verdünnter Widerschein von Utopien, Sehnsüchten, Vollkommenheitsträumen. Insofern ist es naheliegend, dass Kitsch sich besonders häufig in der religiösen Kunst, in erotischen Text- und Bilddarstellungen und in nationalem Pathos findet. Im Kitsch zeigt sich die Sehnsucht nach Ganzheit, Harmonie, nach einem Aufgehen in einem größeren Ganzen, aber als konkretistische Verwechslung: Die „Utopie" (griech.: „Nicht-Ort") wird zur Vorstellung von konkreter Wirklichkeit. Hier lassen sich vorwärtsgewandte Utopien (wie z.B. die „klassenlose Gesellschaft" im Kommunismus) von rückwärtsgewandten Utopien unterscheiden, z.B. Vorstellungen vom „verlorenen Paradies", an dem jemand festhalten will, von einer „guten, alten Zeit" oder konkreter von einer homogenen, „ethnisch gesäuberten" Nation. Insofern kann Kitsch ein Ausdruck regressiver Sehnsucht sein. Die Verführung des Kitsches kann in dem Versprechen liegen, etwas Vergangenes oder Verlorenes festhalten zu können. Jeglicher „Fundamentalismus" (besonders in religiösen Zusammenhängen) ist ein Ausdruck des Verlustes von traditionellen Bindungen und Sicherheiten, ausgelöst durch die Konfrontation mit modernen Formen des Denkens und Lebens. Die Präsentationen von fundamentalistischen Gruppierungen, seien es christliche Sektengemeinschaften oder islamistische Bewegungen, enthalten durchweg idyllische, harmonistische, idealisierte Bilder von Leben, die man, aus dem Abstand betrachtet, als Kitsch bezeichnen kann. 1.3 Kitsch als Ausdruck verlorener Authentizität Ein weiterer Aspekt von Kitsch ist der Verlust oder die Verdünnung von etwas ursprünglich Authentischem. Kitsch ist dann ein sentimentaler Ersatz für das Fehlen authentischer Gefühle und Erfahrungen - oder doch wenigstens eine nostalgische Erinnerung daran. Er lässt sich verstehen als mechanistisch gewordene Utopie, als in der vielfachen Reproduktion zum Klischee erstarrtes Leben. Vielleicht stellt dies ein spezielles Problem der Industrialisierung dar: Die massenhafte industrielle Reproduktion eines Kunstgegenstands kann zur Folge haben, dass sein ursprünglich authentischer Ausdruck verloren geht, wenn insbesondere der Kontext seiner Entstehungsbedingungen darin nicht mehr erfahrbar ist (vgl. Benjamin 1963). Im Wiedererkennen des scheinbar Bekannten, wenn man sich z.B. in der Empfangshalle eines Altenheims einer schön eingerahmten Reproduktion der „Sonnenblumen" von van Gogh gegenübersieht, wird vergessen, dass dies einmal einen revolutionären Gestaltungsversuch gegen die akademisch festgelegten Ausdrucksformen der Zeit darstellte. Die dramatische Bemühung um einen authentischen Ausdruck von Schönheit wird übersehen oder ist darin nicht mehr wahrnehmbar. „Was Kunst war, kann Kitsch werden" (Adorno 1970, S. 467). Authentizität kann sich aber nicht auf bewährte Gestaltungsformen verlassen. Es ist das Missverständnis von jeglicher Art von Traditionalismus bei den Nachfolgern einer Bewegung oder den Imitatoren einer Stilrichtung, etwas Ererbtes könnte eine Sicherheit bieten für eine authentische Existenzbewältigung und für deren authentischen Ausdruck. Eine authentische Aneignung von etwas Ererbtem bedeutet vielmehr immer eine Transformation, in der die eigene Existenz zum Ausdruck kommen kann.

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Es sei noch einmal betont, dass die Beurteilung eines Kunstgegenstandes als Kitsch oft nicht eindeutig zu treffen ist und dass dazu in der Regel mehrere Merkmale vorhanden sein müssen. Adorno zufolge ist darüber, ob der Ausdruck eines Kunstwerks als Kitsch oder als authentisch zu bewerten ist, „nur kasuistisch zu entscheiden (...), und auch das nicht ohne allen Zweifel", zumal „die geschichtliche Veränderung des Wahrheitsgehalts von Ausdrucksmitteln" immer zu berücksichtigen ist (Adorno 1970, S. 467). In anderen Worten, auch der Kontext eines Kunstwerks sowie seiner Rezeption ist maßgeblich für eine Beurteilung als Kitsch oder als authentischer Ausdruck. 2. Kitschphänomene in der Psychotherapie In dem folgenden Teil will ich unter verschiedenen Perspektiven untersuchen, welche Phänomene in der Psychotherapie sich als Kitsch bezeichnen lassen, und damit einen Hinweis auf mögliche Deformationen in dieser Tätigkeit geben. 2.1 Illusorische Erwartungen und Versprechungen (1) Harmonistische Idealbilder: Das Streben nach Glück, nach Einklang mit sich und mit seinen Mitmenschen ist natürlich eine der tiefsten Strebungen der Menschen - aber nie vollkommen und endgültig erfüllbar. Eben deswegen bleibt bei den meisten Menschen lebenslang eine Sehnsucht nach entsprechenden Befriedigungen erhalten, eine Sehnsucht, die sich dafür auch passende Aufhänger sucht. Dies ist das „Einfallstor" für alle möglichen Phantasien, Wunschbilder und korrespondierende Angebote, die eine Erfüllung verheißen. Die Werbewirtschaft arbeitet systematisch mit diesen Mechanismen („Ihr Traumhaus", „Ihr Einkaufsparadies", das „Ferienparadies" usw.). Es gibt hier also eine Wechselwirkung von Angebot (meistens reflektiert bzw. kalkuliert) und Nachfrage (meistens weniger oder gar nicht reflektiert). Aber auch viele Angebote in der Psychotherapie sind davon nicht frei oder spielen damit. Der Wunsch nach ungetrübtem Glück kann z.B. darin zum Ausdruck kommen, dass Klienten in ihrer Selbstwahrnehmung, nur Opfer anderer Menschen oder der „Verhältnisse" und als solche auf der moralisch guten Seite zu sein, von den Therapeuten bestätigt werden wollen. Wenn diese die Klienten darin nur unreflektiert unterstützen, bleibt der eigentliche Lebenskonflikt vielleicht ungelöst, und die übergreifende Lebensaufgabe, Widersprüche und Schattenseiten in sich selbst wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen, wird eher behindert als gefördert. Ein weiteres Beispiel: In kaum einem Therapieprospekt wird darauf hingewiesen, dass der Weg, zu dem er einlädt, auch beschwerlich und bitter sein kann. Meistens werden harmonistische Bilder von einem schmerz- und konfliktfreien Leben suggeriert. „Ganzheitliche" Methoden sollen dazu dienen, dass „Körper, Seele und Geist" zu einer „umfassenden Harmonie" gelangen. Je exotischer die Methode ist, desto rosiger erscheinen die zu erreichenden Ziele, desto grenzenloser sind die Möglichkeiten, und desto umfassender sind die Heilsversprechen. (2) Perfektionsphantasien: Die Illusion einer leidfreien Welt wird heute (jedenfalls in den Wohlstandsgesellschaften der Industriestaaten) durch vielfaltige medizinische und psychotherapeutische Maßnahmen (sowie durch verschiedenste andere „Sedativa") gefördert. Dies kann jedoch auf eine Gefuhlsabstumpfung hin-

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auslaufen, mit einer Verflachung des Lebens, Denkens und Fühlens, wenn die Bereitschaft und die Fähigkeit abnehmen, sich mit den spannungsreichen Antinomien menschlicher Existenz auseinanderzusetzen, wie z.B. mit schuldhaften Verstrickungen. Das Ziel von Psychotherapie kann nicht sein, alle Probleme oder Konflikte gelöst zu haben, sondern zu lernen, mit ihnen eigenständig umzugehen. Alle Probleme gelöst zu haben, wäre eine „schlechte Utopie", nämlich die Verleugnung bzw. Nicht-Wahrnehmung von bleibenden persönlichen und gesellschaftlichen Antinomien. Ein Beispiel: Die Vertreter des „positiven DenkensDale Carnegie, Joseph Murphy u.a., verkünden als Ziele ihrer Technik: ein vollkommen angstfreies Leben, ewige Harmonie, absolute Gesundheit und ein natürlich zufallender Reichtum; dazu müsse man nur alle belastenden, „negativen" Gefühle wie Angst, Sorge, Ärger und Wut wegdenken, die ersatzlos gestrichen werden können, wenn man sich an den Grundsatz hält: Sei immer positiv gestimmt, lasse am besten nie negative, unangenehme oder schmerzende Gedanken aufkommen! Ein rationales Element einer solchen Deformation (die etliche der obigen Kitschmerkmale aufweist) mag in der Aufforderung liegen, sich nicht von seinen Sorgen beherrschen zu lassen und auf unangenehmen Gefühlen sitzen zu bleiben. Solche Empfehlungen können jedoch durchaus schädliche Auswirkungen haben, wenn die „negativen" Gefühle einfach ausgeklammert werden. Denn erstens haben alle Gefühle für die Lebensbewältigung eine Bedeutung (z.B. Angst soll vor Gefahren schützen, Ärger vor Grenzverletzungen durch andere); zweitens kann ein Scheitern mit solchen Techniken eigene Versagens- und Minderwertigkeitsgefühle noch verstärken und einen noch weiter von seinen realen Potenzialen entfernen. (3) „Alles ist machbar: Die Kritik falscher Ideale und schlechter Utopien müsste im Interesse einer gelingenden Lebensbewältigung eine wesentliche Aufgabe von Psychotherapie sein. Aber auch die Therapiekultur unterliegt der Versuchung, der Ideologie der Machbarkeit anzuhängen und sie zu reproduzieren: Alles ist machbar und erreichbar, wenn man nur die geeigneten und möglichst „effektiven" Mittel in der Hand hat. Dazu ein Beispiel aus der Werbung für ein NLP-Buch von Anthony Robbins: „Grenzenlose Energie - das Power-Prinzip": „Lassen Sie sich nicht durch Ihre Ängste beherrschen. Wandeln Sie Ihre Schwächen in Stärken um, und entdecken Sie in sich die GRENZENLOSE ENERGIE." - „Energie zum Kommunizieren und zum Überzeugen! Energie, um die Aufmerksamkeit fast automatisch auf sich zu ziehen! Energie für schnelles Lernen und Umsetzen! Energie, um ALL das Geld zu verdienen, das Sie brauchen!" - „Das Ergebnis ist sensationell. Sobald Sie die Techniken im Griff haben, sind Sie buchstäblich AUF ERFOLG PROGRAMMIERT!" - „Sie können die Erfolge jeder bekannten Persönlichkeit, die Sie bewundern, nachahmen und in nur wenigen Minuten die Techniken kopieren, für deren Vervollkommnung Ihr Vorbild Jahre brauchte."

Besonders in Werbetexten für Coaching werden heute von marketinggeschulten Anbietern die Erwartungen schneller Erfolge aufgegriffen: „Sie erreichen Ihre Ergebnisse in drei bis fünf Sitzungen." - „Coaching hilft Ihnen dabei, Spitzenleistung zu entfalten." - „Unser Anspruch ist, Sie erfolgreich zu machen." - „Wir begleiten Sie bis zum Erfolg." - „Als Coach helfe ich Ihnen, Ihre Wunschziele zu erreichen." - „Ab heute erfolgreich" usw. (vgl. Rauen 2005).

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Manche Erfolge scheinen jedoch eher eine Art psychische „Prothese" zu sein: ein äußerlich antrainiertes Verhalten und Gefühlsäußerungen, die den Klischees der jeweiligen Psychokultur entsprechen. Hauptsache, das Bild, die Erscheinung stimmt - ein authentisches Gefühl und die Wahrnehmung von authentischen Bedürfnissen wären nur störend. 2.2 Die Zweideutigkeit der Bestätigung Wenn man von dem vorhin genannten Kitsch-Aspekt der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung ausgeht, dann ist in diesem Kontext auf ein Problem hinzuweisen, das in der Geschichte der Psychotherapie vielfach diskutiert worden ist: die Spannung zwischen Befriedigung und Versagung der Wünsche eines Klienten. Der Pol der Versagung wird am konsequentesten in der klassischen Psychoanalyse vertreten. So argumentiert z.B. Sigmund Freud (1919a) mit einer Kritik an den herkömmlichen Nervenheilanstalten: „Diese streben nichts anderes an, als es dem Kranken möglichst angenehm zu machen, damit er sich dort wohl fühle und gerne wieder aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht dorthin nehme. Damit verzichten sie darauf, ihn für das Leben stärker, für seine eigentlichen Aufgaben leistungsfähiger zu machen. In der analytischen Kur muss jede solche Verwöhnung vermieden werden. Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt betrifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrigbehalten. Es ist zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die er am intensivsten wünscht und am dringlichsten äußert" (S. 246). Diese Haltung der Versagung ist zunächst plausibel und für den Therapieprozess notwendig; denn es wird ja jeweils eine Veränderung des Bestehenden angestrebt, also die Überwindung eines Leidens, einer unglücklichen, unbefriedigenden Lebenssituation oder die Lösung eines Konflikts. Wenn nun eine Therapie oder Beratung nur dazu dient, sich von Spannungen zu entlasten und damit zu einer „Mülleimerfunktion" reduziert wird, verliert sie die Kraft der Veränderung, mit der Folge, dass letztlich das Bestehende, das das Leiden verursacht, verlängert und bestätigt wird. Außerdem ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung oder undifferenzierte Bestätigung des Hilfesuchenden nur die „Oberflächenstruktur" der Persönlichkeit erreicht oder, in den Begriffen von Winnicott gesagt, dass sie sich auf das „falsche Selbst" bezieht und damit nur dieses bestärkt. Auf diese Weise kann das verborgene „wahre Selbst" (also die „Tiefenstruktur") noch weiter in die Verborgenheit hinter einer mehr oder weniger gut funktionierenden, an gesellschaftliche Erwartungen angepasste Persönlichkeitsfassade abgedrängt werden. Kitsch wäre demnach eine Verfuhrung zu dem „Glauben (...), das falsche Selbst sei das wahre Selbst" (Winnicott 1983, S. 103). Nun sind aber viele Patienten in ihrer Persönlichkeit so tiefgehend verunsichert oder in ihrem Selbst verletzt, dass sie jegliches Hinterfragen als Ablehnung ihrer Person oder sogar als Vernichtung erleben. Wer aber keine oder zu wenig Befriedigung kennt (wie die vielen so genannten „Frühgestörten"), ist noch gar nicht in der Lage, Frustrationen und Vorenthaltungen von Befriedigung zu ertragen, und wird sich nur noch weiter „entwertet" und zurückgewiesen fühlen. Es muss erst eine hinreichende Basis von Akzeptanz und Wertschätzung der eigenen Person geschaffen werden, die die Voraussetzung für eine kritische Selbstreflexion bietet, ohne in archaischer Verlustangst zu versinken. So meint auch Freud als Einschränkung der „Versagung von Wunscherfullung", dieses Prinzip dürfe nicht „allzu schroff und unbedingt

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ausfallen", denn „wir können es nicht vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die so haltlos und existenzunfahig sind, dass man bei ihnen die analytische Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen muss" (Freud 1919a, S. 246 f.). In anderen Worten: Es geht um ein prekäres Gleichgewicht zwischen Befriedigung und Versagung. Einerseits kann kein Mensch ohne „Bestätigung" dessen, was er ist, leben; ein Leben nur in der Negation des Bestehenden ist nicht möglich. Allerdings kann die Bestätigung (gerade die therapeutische) zum Klischee werden, zu einem unterschiedslosen Einerlei. So bleibt andererseits das Hinterfragen, das kritische Untersuchen des Vorfindlichen, das Leiden verursacht, notwendig. Der Umgang mit dieser Spannung ist auch eine Frage der Barmherzigkeit: Einem Gehbehinderten darf ich seine Krücke nicht wegnehmen. Wer aber lernen will, auf eigenen Füßen zu stehen und zu gehen, dem sollte ich nicht mit anderen Krücken aushelfen wollen. Anders gesagt: Beschwichtigung und Trost können zuweilen lebensrettend sein, und deren rigide Verweigerung kann zu einer Lieblosigkeit, einem neuen Moralismus oder Puritanismus werden, mit dem die alltäglichen Bedürftigkeiten diskreditiert werden. Außerdem kann es problematisch werden, wenn man als Helfer zu wissen meint, was die „wahren", authentischen Bedürfnisse oder Notwendigkeiten des anderen seien. 2.3 Kitsch und Narzissmus Kitsch und Narzissmus miteinander in Verbindung zu bringen, liegt deshalb nahe, weil Menschen mit einem ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsanteil dazu neigen, sich und ihre Leistungen in einem idealisierten Licht darzustellen. So präsentiert sich ein Helfer als vollkommen „uneigennützig", er sieht sich als Retter und Erlöser oder verkörpert überhöhte normative Ansprüche an sich und an andere. In idealisierten Bildern fehlen die Schatten, die Brüchigkeit und die Verletzbarkeit. Ein Narzisst will nur in seiner Schönheit, Überlegenheit, Grandiosität erkannt werden. Die Not und die Beschädigung, die aber oft ein wesentlicher Antrieb für hervorragende Leistungen sind, müssen für andere (und oft auch für ihn selbst) im Verborgenen bleiben, damit das kompensatorisch idealisierte Bild nicht getrübt wird. Dass viele Menschen wiederum ein ebenfalls kompensatorisches Bedürfnis haben, Menschen in Führungspositionen, die eine besondere Macht, Glanz und Charisma verkörpern oder hervorragende Leistungen erbracht haben, zu idealisieren, wird diese in ihrem idealisierten Selbstbild bestärken. Ein solches Ausklammern von Brüchigkeit ist aber eine der Bedingungen für Kitsch. Wenn diese Dynamik in psychotherapeutischen Beziehungen nicht hinreichend reflektiert wird, kann sie außerdem zu einem narzisstischem Machtmissbrauch seitens der Therapeutenpersönlichkeit führen (vgl. Schmidt-Lellek 1995). Adorno bemerkt in seiner „Ästhetischen Theorie" zur „Kitschbiographik", hier werde das Geniale an den Künstler delegiert, als „Glorifizierung reinen Schöpfertums", damit „dem Betrachter die Bemühung um die Sache abgenommen wird" (Adorno 1970, S. 255). Mit anderen Worten: Statt sich der mühsamen Auseinandersetzung mit einer Sache zu stellen, wird deren Gültigkeit von ihrem Schöpfer abhängig gemacht, an dessen privilegierte Genialität man nur zu glauben braucht. Aber „die Produzenten bedeutender Kunstwerke sind keine Halbgötter, sondern fehlbare, oft neurotische und beschädigte Menschen" (S. 256). Das Element der

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Not, die sie durch ihre schöpferische Arbeit zu überwinden streben, werde vom Rezipienten bzw. Reproduzenten nicht miterlebt oder aus der Wahrnehmung ausgeklammert. Aber wenn die Antinomien nicht mehr aufgenommen werden, dann werde Kunst schnell zu Kitsch verkommen. So zeigt sich z.B. im Umgang mit den Biographien der Gründerpersönlichkeiten der Psychotherapie (angefangen bei Freud und Jung) eine Neigung unter vielen ihrer Anhänger, ihre Schattenseiten, Irrtümer oder schlicht die Überholbarkeit ihrer Konzepte aus der Wahrnehmung auszuklammern, um einem Heldenmythos glauben zu können, um die Illusion des Übermenschlichen, „Heiligen", des Offenbarungsträgers aufrechtzuerhalten oder um einen Anhaltspunkt für eine unumstößliche Wahrheit in den Händen zu haben. Demgegenüber sollten Biographien doch vielmehr dazu dienen, das Konkrete, das menschliche Maß wahrzunehmen und im Auge zu behalten, um sich an diesem orientieren zu können. 2.4 Individualität versus Sozialität Eine harmonistische Psychokultur zielt in der Regel auf innengeleitete Strebungen ab, also auf eine individualistische persönliche Harmonie, in der sich ein Mensch von Gegensätzen und Konflikten in der Außenwelt nicht berühren lässt. Dies zeigt ein verkürztes Menschenbild, in welchem die grundlegende Intersubjektivität und Sozialität menschlicher Existenz zu wenig beachtet oder ganz ausgeblendet werden. Zur Kritik von solchen anthropologisch verkürzten, individualistischen Zielvorstellungen insbesondere der humanistischen Psychologie schreibt Astrid Schreyögg: „Auf dem Hintergrund expressionistischer Positionen der 40er und 50er Jahre wurde ein Individuum zum positiven Prototyp, das sich lebenslang entfaltend kreativ und spontan allen einengenden gesellschaftlichen Verpflichtungen den Rücken kehrt." Eine solche „fragwürdige anthropologische Position (...) ist im Wesentlichen charakterisiert durch tendenzielle Negativierung von Rationalität und Sozialität im Sinne von sozialstrukturellem Eingebunden-Sein." So wird bei der „Suche nach dem wahren Selbst" oder der „wahren Natur" des Menschen, der „aus seinen gesellschaftlichen Determinierungen befreit werden soll", die Tatsache ausgeblendet, „dass menschliche Identität immer nur in sozialen Interaktionen und einem sozialen Kontext entstehen kann" (Schreyögg 1989, S. 265) - und damit eben auch in sozialen Widersprüchen und Konflikten. Je individueller die jeweiligen Glückswelten sind, desto rosiger sind sie ausgemalt: Ihnen fehlt das Außer-Sich, die Bezogenheit auf das andere, auf die engeren und weiteren Kontexte, in denen der Einzelne steht, auf die gesellschaftliche und politische Mitverantwortung. Es bleibt nur das narzisstische Gefühl, das nur noch sich selbst zelebriert. Kitschphänomene können sich also bei Entgleisungen nach zwei Seiten zeigen: einerseits in der kritiklosen Anpassung an äußere Normen in den Wertvorstellungen, Äußerungen und Lebensweisen - hier fehlt die Bezogenheit auf sich selbst - , die Individualität und Subjektivität werden unterbewertet; andererseits im Rückzug auf innere Erlebniswelten - hier fehlt die Bezogenheit auf das andere, die Sozialität wird unterbewertet. Auch mit dieser Perspektive gilt es, die Spannung zwischen beiden Polen auszuhalten und beide Seiten als integrierende Bestandteile der Persönlichkeit anzuerkennen.

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2.5 Das Klischee als Ausdruck von Entfremdung Das Klischee lässt sich unter verschiedenen Aspekten beschreiben: (1) als Ausdruck einer Routinisierung in Denken und Handeln: Die jahrelange Wiederholung derselben Formeln bei vergleichbaren Situationen kann bei einem Psychotherapeuten eine Verflachung seines Erlebens verursachen, so dass die „Tiefenstruktur" einer Aussage bzw. einer Intervention verloren geht und nur die „Oberflächenstruktur" übrig bleibt. Dies wäre eine Art Abnutzung durch allzu häufigen Gebrauch; (2) als Ausdruck einer Standardisierung, einer vermeintlichen Objektivität, in der das Persönliche, Individuelle, Subjektive keinen Platz hat; (3) als Ausdruck einer Vermeidung von unabsehbaren Gefühlstiefen, wenn ein Klient sich lieber mit sentimentalen Bildern befasst, die den Anschein von Tiefe erwecken, statt sich auf evtl. schmerzhafte Erfahrungen einzulassen. Auch hier ist mit einem Wechselspiel zwischen Therapeut und Patient zu rechnen: Das Bedürfnis des Patienten nach leicht verdaulicher Kost kann den Therapeuten dazu animieren, es zu befriedigen. Ein gemeinsamer Nenner zwischen beiden mag die Angst vor der Unsicherheit in der Therapiesituation sein: Die „bewährte Metapher", die bekannte, oft reproduzierte Formulierung oder Vorstellung scheint den Beteiligten einen Rückhalt zu geben. Die leichte Plausibilität erlaubt es, eine kathartische Erschütterung zu vermeiden. So betont z.B. Gion Condrau (mit Bezug auf Heidegger), dass das „Gerede" bzw. das Viel-Sprechen nicht gewährleisten kann, dass es zu einem wirklichen Verstehen kommt; vielmehr „kann das ,weitläufige Bereden' verdecken und das Verstandene in die Scheinklarheit, in die ,Unverständlichkeit der Trivialität' bringen" (Condrau 1982, S. 525). Wenn es das übergreifende Ziel von Psychotherapie ist, die „Individuation" eines Menschen, d.h. seine Personwerdung, zu unterstützen, dann wäre ein Verharren in Klischees eher deren Verhinderung. Ein Beispiel ist die stereotype, schulmäßige Wiederholung eines Deutungsschemas aufgrund einer bestimmten psychologischen Theorie: In einer Selbsterfahrungsgruppe, die von einem renommierten Psychoanalytiker geleitet wurde, berichtete eine Frau von einem häufig wiederkehrenden Traum, dass sie von ihrem Vater mit einem Messer bedroht werde. Der Analytiker kommentierte sogleich, das Messer sei ein Symbol männlicher Sexualität und sie habe sicher einen verborgenen Wunsch nach Sexualität mit ihrem Vater. Die Teilnehmerin erwiderte, das glaube sie nicht, denn der Vater habe sie als Kind tatsächlich mit einem Messer bedroht und dieses Schockerlebnis lasse sie nicht los. In emotionsorientierten Therapieverfahren wie z.B. der Gestalttherapie besteht durch die Zentrierung auf das Gefühl eine besondere Gefahr, dass Emotionen nur klischeehaft reproduziert werden. Hier ist eine besondere Aufmerksamkeit für die Entgleisung im Kitsch vonnöten: Wenn in Workshops, Therapiegruppen oder auch in Einzeltherapiesitzungen nur der Ausdruck von Gefühlen unterstützt wird, ohne dass deren Authentizität im Kontext der persönlichen Geschichte überprüft wird, dann kann dies zu einem Pseudoerleben führen. Und dies wäre eine „Parodie von Katharsis" (Adorno). Das Anliegen dieser Verfahren ist, die erstorbene, abgestumpfte oder betäubte Sinnlichkeit wieder zum Leben zu erwecken bzw. in die

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Persönlichkeit zu integrieren und die einseitige Betonung der Rationalität zu überwinden. Wenn nun andererseits die rationalen Zugänge zur Wirklichkeit pauschal entwertet oder als irrelevant abgetan werden (wie es lange Zeit z.B. in der Gestalttherapie üblich war), dann entsteht eine problematische Einseitigkeit andersherum. Gefühle allein sind noch kein Kriterium für Wahrheit. Ein kathartisches Erleben und Überwinden von alten Traumatisierungen und von zerstörerischen Emotionen sowie die Entwicklung der Persönlichkeit erfordern über das emotionale Erleben hinaus auch den vernunftbezogenen Diskurs, die soziale Einbettung des Erlebens und den reflektierenden Bezug auf seinen Sinn. Je mehr die Therapiekultur im Alltag und auch in den Medien Eingang findet, desto eher kann Therapie zu einem Ersatzleben werden, zu einem klischeehaften Kunstprodukt, durch das neue Formen der Entfremdung produziert werden. Ausdruck davon sind z.B. die grassierenden Talkshows vieler Fernsehprogramme, in denen intimste Erfahrungen öffentlich preisgegeben werden. Wenn das Ziel von Therapie nicht nur in der Überwindung von krankhaften psychischen Störungen, sondern auch von individueller und kollektiver Entfremdung liegt, dann kann Therapie durch eine unkritische (unbewusste) Reproduktion von Klischeevorstellungen und -handlungen jedoch zu weiterer Entfremdung bzw. zu einer Unterstützung des „falschen Selbst" beitragen: Sie bestärkt das Klischee von Individualität bzw. Subjektivität, Sentimentalität statt Gefühl, Anpassung an verbreitete Standards statt einer Wahrnehmung von authentischen Bedürfnissen und zugleich einen Zwang zum „Glücklichsein". Traurigkeit, Kummer, Enttäuschung, Verzweiflung erscheinen als eine Art moralischer Defekt, den man durch Therapie auszubügeln versäumt hat („das hast du wohl in deiner Therapie noch nicht genügend durchgearbeitet"). Demgegenüber können Krankheitssymptome als „Störungen" des idyllischen Klischees geradezu die Valenz von authentischen Äußerungen gewinnen. 3. Schlussfolgerung In der psychotherapeutischen Situation lässt sich die Beurteilung eines Einzelphänomens als Kitsch nur schwer und oft nicht eindeutig fallen. Sie ist von den jeweiligen situativen und persönlichen Kontexten und vor allem von der Beziehung zwischen den Beteiligten abhängig. Grundsätzlich bleibt hier - ebenso wie zwischen Kunst und Kitsch - eine nicht auflösbare Spannung bestehen, denn Psychotherapie soll einerseits Bestehendes verstören und verändern und andererseits auch ankommen und Gefallen finden, denn sonst bleibt sie wirkungslos. Es geht also um eine Balance zwischen Tiefe und Oberfläche, zwischen Authentizität und Darstellung: Ohne Tiefe hat die Oberfläche keinen Gehalt, und ohne attraktive Oberfläche ist eine Tiefe nicht erreichbar (vgl. Buer 2004). Um zu meiner Ausgangsthese zurückzukommen, dass in Kitschphänomenen ein verkürztes Menschenbild zum Ausdruck kommen kann, möchte ich zusammenfassend dazu folgende Aspekte nennen: die Ausklammerung von Antinomien und Ambivalenzen und der dadurch bedingten Spannungen; regressive Tendenzen, mit denen die Notwendigkeit eines lebenslangen Fortschreitens in der persönlichen Entwicklung ausgeklammert wird;

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das Versprechen von schnellen, leichten Erfolgen, mit dem das mühsame Wachsen in der Zeit ausgeklammert wird; das Versprechen von unbegrenzten Glückserfahrungen, mit dem die Möglichkeit von schicksalhaften Einbrüchen, von tragischen oder schuldhaften Verstrickungen oder von existenziellem Scheitern ausgeklammert wird. Die Reflexion von solchen anthropologischen Verkürzungen ist allerdings eine wichtige Aufgabe, damit Psychotherapie nicht die Kraft verliert, Entfremdungsphänomene als solche wahrzunehmen und zu ihrer Überwindung beizutragen. Zitierte Literatur Adorno, Th. W. (1970): Ästhetische Theorie. Ges. Schriften, Bd.7. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Benjamin, W. (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp (Orig. franz., Zeitschrift für Sozialforschung 5,1936). Buer, F. (2004): Über die professionelle Kompetenz, Professionalität kompetent darzustellen. Und welche Rolle die Supervision dabei spielt. In: Buer, F., Soller, G. (Hrsg.): Die flexible Supervision. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 161 -201. Bystrina, I. (1985): Kitsch im Kontext der Kultur. In: Pross, H. (Hrsg.): Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage. München: List, 11-18. Carnegie, D. (1986): Sorge dich nicht - lebe! München: Scherz. Condrau, G. (1982): Die Bedeutung des Wortes in der Psychotherapie. In: Kindlers „Psychologie des 20. Jahrhunderts. Psychologie der Kultur", Bd. 2. Weinheim, Basel: Beltz, 520-527. Freud, S. (1919a, zit. n. 1982): Wege der psychoanalytischen Therapie. StA, Ergänzungsband. Frankfurt/M.: Fischer, 239-249. Giesz, L. (1960): Phänomenologie des Kitsches. Heidelberg: Wolfgang Rothe. Picht, G. (1986): Kunst und Mythos. Stuttgart: Klett-Cotta. Rauen, C. (2005): Coaching-Newsletter 4/2005. www.coaching-newsletter.de. Schmidt-Lellek, C .J. (1995): Narzisstischer Machtmissbrauch. In: Schmidt-Lellek, C. J., Heimannsberg, B. (Hrsg.): Macht und Machtmissbrauch in der Psychotherapie. Köln: EHP. Schmidt-Lellek, C.J. (2006): Ressourcen der helfenden Beziehung. Modelle dialogischer Praxis und ihre Deformationen. Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie. Schreyögg, A. (1989): Supervision therapeutischer Arbeit in Organisationen. Kritik und Neubestimmung. Integrative Therapie, 15 (3-4), 260-283. Winnicott, D. W. (1983): Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Aus den „Collected Papers". Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag.

IV Psychotherapie im Spannungsfeld von Wissenschafts- und Berufspolitik

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Der andere Mensch als Objekt und als Subjekt Warum Psychotherapeuten gerade heute darauf bestehen müssen, dass in einer therapeutischen Beziehung der Patient nicht nur als Objekt, sondern auch als Subjekt gesehen werden muss, wenn sie gelingen soll Ferdinand Buer Vorbemerkung Ich bin weder Psychotherapeut noch Psychotherapieforscher. Ich bin allerdings Psychodramatiker, Supervisor und Sozialwissenschaftler. Und aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht von außen und aus einer supervisorischen Sicht von innen möchte ich „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur" untersuchen und Sie damit ermutigen, für eine unverzichtbare Professionalität der therapeutischen Arbeit einzutreten. Mit 22 Thesen möchte ich die Diskussion anregen: These I Die heutige Psychotherapie ist eine spezifische Form der Beziehungsarbeit zwischen einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin und einem oder mehreren Patienten weiblichen oder männlichen Geschlechts mit dem Ziel, die psychische Gesundheit des oder der Patienten zu verbessern. Bei dieser Tätigkeit handelt es sich - sozialwissenschaftlich betrachtet - um eine personenbezogene, immaterielle Dienstleistung. Das heißt: Die Dienstleistung kann nur erbracht werden, wenn der Patient sie mit ihrer Produktion auch zugleich konsumiert. Der Dienstleister ist also davon abhängig, dass der Kunde mitmacht. Zudem soll diese Tätigkeit - und das ist gesellschaftlicher Konsens - auf besonders hohem Niveau erbracht werden; das bedeutet: professionell. These II Psychotherapie steckt aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Professionstheorie in einem strukturellen Dilemma, dessen Antinomien wie Nähe- oder Distanzhalten, Mitmachen oder Raushalten, Unterstützen oder Kontrollieren, Vertrauenschenken oder Argwöhnen aus einem Grundwiderspruch resultieren: Auf der einen Seite müssen Professionelle und Klienten einen persönlichen Kontakt herstellen, in dem der Klient sich jenseits aller Konventionen, Hemmungen und Sicherheitsstrategien vertrauensvoll öffnen kann und in dem sich auch der Psychotherapeut als ganze Person offen und ehrlich einbringen muss. Denn nur so kann der Klient zu einem gedeihlichen Mitmachen motiviert werden. Auf der anderen Seite müssen beide die Beziehung strategisch als ergebnisorientierte Arbeit betrachten. Denn beide wollen ja keine Freundschafts-, Liebes- oder Lebensbeziehung eingehen. Der Patient will Hilfe in einer bestimmten, eingegrenzten Hinsicht, und der Psychotherapeut will mit begrenzten Ressourcen ein Ziel erreichen, für das er angemessen bezahlt wird.

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These III Eine psychotherapeutische Tätigkeit ist aber nur dann professionell, wenn der Psychotherapeut mit diesem nicht aufhebbaren Widerspruch so umgehen kann, dass keine Seite die Überhand gewinnt. Denn wenn er als Person dem Patienten zu nahe kommt, überschreitet er die vom Patienten gesetzten Grenzen - das wäre „unethisch" und zudem kontraproduktiv - und löst zudem die Form seiner Tätigkeit als berufliche Arbeit auf. Das macht ihn arbeitslos. Wenn er dagegen nur noch strategisch vorgeht, verliert er den Kontakt zum Patienten und weiß schon bald nicht mehr, ob der Patient überhaupt noch mitmacht und an sich arbeitet. Auch das wäre kontraproduktiv. Denn das verlängert den Psychotherapieprozess ins Unendliche und fuhrt wohl auch zu einer Verschlimmerung der Erkrankung. These IV Auf dem einen Pol der professionellen Beziehungsarbeit wird also der andere Mensch, hier der Patient, als Subjekt konstruiert. Seine Würde, sein Selbstbestimmungsrecht, seine Eigenverantwortlichkeit werden gesehen, anerkannt und gefordert. Diese Subjekt-Subjekt-Beziehung möchte ich Begegnung nennen. Auf dem anderen Pol wird der andere Mensch als Objekt konstruiert. Hier ist der Patient ein Arbeitsgegenstand, an dem möglichst effizient und effektiv eine spezifische Veränderung vorgenommen werden soll, die allerdings von ihm selbst in Auftrag gegeben wurde. Diese Subjekt-Objekt-Beziehung möchte ich - wie allgemein üblich - Arbeit nennen. Wie gesagt: Professionell kann eine Tätigkeit nur dann genannt werden, wenn sie für jeden konkreten Fall einen einmaligen Mittelweg zwischen diesen beiden Polen von Symmetrie und Asymmetrie findet. These V Der Begründer des Psychodramas, Jakob Levy Moreno, hat mit seinem Konzept der psychodramatischen Gruppenpsychotherapie ein Modell entwickelt, in dem dieser Mittelweg gefunden werden kann: Der Leiter etabliert strategisch bestimmte Kontexte: das Arbeiten in einer stabilen Therapiegruppe, einem klaren Setting, einem ritualisierten Ablauf, einem angemessenen Arrangement auf der Bühne, mit einer bestimmten Technik. Innerhalb dieser Arbeitskontexte soll ein Spielraum eröffnet werden, in dem Spontaneität im Kontakt mit konservierten Strukturen freigesetzt wird, so dass ein kreativer, d.h. schöpferischer Neu-Umgang des Protagonisten mit seinen Antagonisten möglich wird. Dieser kreative, offene und ehrliche Umgang mit den Antagonisten im Als-ob kann als Begegnung bezeichnet werden. Damit das möglich wird, hat der Leiter hart an den Kontexten zu arbeiten und den Protagonisten zur Mitarbeit zu bewegen. Das macht die Professionalität der Regiearbeit aus. Der Clou bei der psychodramatischen Inszenierungsarbeit liegt aber darin, dass die Begegnungsqualität nicht mehr nur in der Beziehung Patient Therapeut liegt, sondern auch in der therapeutischen Art der Rollenspiele zwischen Protagonist und Mitspielern als Hilfs-Ichs und vor allem in der offenen und ehrlichen Als-ob-Begegnung mit den Antagonisten im Spiel. Es wird also auf drei Ebenen begegnet und zugleich gearbeitet. Durch diese Ausdifferenzierung wird der Berufstherapeut dabei entlastet, allein diese Spannung zwischen Begegnung und Arbeit handhaben zu müssen.

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These VI Psychotherapie wird also von Moreno nicht nur als Arbeit, sondern auch als Begegnung gefasst. Schon in seiner Wiener Zeit bis 1925 hat er die Idee der Begegnung als des zentralen Heilfaktors entwickelt und hat damit Martin Buber, der in dieser Zeit in Wien mit ihm Kontakt hatte, stark beeinflusst. Buber hat 1923 in Wien, also zur gleichen Zeit und am gleichen Ort, seine Dialogphilosophie in seiner Schrift „Ich und Du" zu Grunde gelegt. Die Begegnung fasst er hier als Ich-DuRelation, die Arbeit als Ich-Es-Relation. Den Modus, in dem in der Psychotherapie wie in der Erziehung beide Seiten berücksichtigt werden, nennt er „Umfassung". Die Initiierung und Steuerung dieser Spannung von Begegnung und Arbeit als unverzichtbare Bedingung für Heilungsprozesse ist in allen humanistischen Psychotherapieverfahren explizit - und ich glaube, man kann sagen, in allen anderen zumindest implizit - zur professionellen Arbeitsgrundlage geworden. These VII Psychotherapie möchte ich wie alle Formate der professionellen Beziehungsarbeit als eine Kunst betrachten, als eine Kunstfertigkeit. Diese Kunstauffassung entspricht der „techne" bei den alten Griechen und der „ars" bei den alten Römern. Damit stehen die heutigen „Beziehungskünste" historisch in der mittelalterlichen Tradition der Handwerkskünste der Zünfte wie der „artes liberales", die damals als Vorstufe zum wissenschaftlichen Studium galten. Nicht umsonst wird auch heute noch der Standard einer professionellen Tätigkeit „state of the art" genannt. Es ist nun Kennzeichen einer professionellen Kunstfertigkeit, allgemeine wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien mit eigenen beruflichen Erfahrungen zu verbinden, um im konkreten Fall fachlich handeln zu können. Psychotherapie ist somit keine Wissenschaft; Psychotherapeuten sind keine Wissenschaftler. Psychotherapie ist dabei noch nicht einmal auf nur eine akademische Wissenschaft bezogen, wie sich etwa Pfarrer auf die Theologie beziehen, die Ärzte auf die Medizin oder die Juristen auf die Jurisprudenz. Sie muss sich ihr Wissen von verschiedenen Referenzwissenschaften holen, z.B. der Psychologie, der Medizin, der Soziologie, der Biologie, der Philosophie etc. Das heißt aber nicht, dass die Psychotherapie nicht ein eigenständiges Wissensfeld markieren kann; sie stellt nur keine Wissenschaftsdisziplin dar. Das schwächt aber ihre Anerkennung in der Gesellschaft. These VIII Wegen dieser schwachen Legitimität ihrer Profession sind viele Psychotherapeuten versucht, ihre Tätigkeit durch Anbindung an möglichst unbezweifelbare, so genannte objektive Erkenntnisse der Wissenschaften absichern zu lassen. Und das Wissen, das eben das zu garantieren scheint, ist ein Wissen, das empirisch nach harten naturwissenschaftlichen Standards gewonnen wurde. Dieses Unternehmen ist aber aus zwei Gründen illusorisch: Zum einen: Erkenntnistheoretisch bzw. wissenschaftstheoretisch betrachtet, bietet die Objektivität der Naturwissenschaften keinesfalls mehr objektive Gewissheit. Zum anderen: Eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung kann den Begegnungscharakter der Psychotherapie gar nicht begreifen. Sie ist für die Erfassung dieses spezifischen Gegenstands ungeeignet. Beide Behauptungen will ich im Folgenden begründen.

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These IX Zunächst zur Behauptung, Erkenntnisse, die in naturwissenschaftlichen Forschungsprozessen gewonnen werden, seien haltbarer, belastbarer, härter, unbezweifelbarer, also objektiver als die Erkenntnisse, die Sozialwissenschaftler gewinnen: Die soziologische Laborforschung zeigt auf, dass das nicht stimmt. Als Beispiel möchte ich die Forschungen der Soziologin Karin Knorr Cetina anfuhren: Sie hat schon vor über 20 Jahren den Forschungsprozess in einem amerikanischen Forschungslaboratorium monatelang im Einzelnen durch Beobachtungen und Interviews dokumentiert und analysiert, von der Idee über die Umsetzung bis hin zur Erstellung einer wissenschaftlichen Publikation, die die Erkenntnis präsentiert. Dieser wissenschaftliche Erkenntnisprozess stellt sich dann als sozialer Prozess dar, an dem viele Akteure mit ihren Vorstellungen und Interessen mitwirken, von den Forschern selbst über ihre Institutskollegen, die Wirtschaft, die an den Ergebnissen Interesse hat, den Behörden, die Forschungsgelder bewilligen, bis hin zu den Gutachtern, die einer Publikation zustimmen müssen, und den Kollegen, deren positive Reaktion man erhofft, um mit dem Ergebnis Karriere machen zu können. Außerdem ist diese Forschung oft davon abhängig, welche Untersuchungsapparate gerade zur Verfügung stehen oder angeschafft werden können. Knorr Cetina spricht daher von der „Fabrikation der Erkenntnis": Das Ergebnis wird eben nicht idealistisch nach rein naturwissenschaftlichen Standards generiert, Es ist allen möglichen Kontingenzen unterworfen und wird durch alle möglichen Interessen kanalisiert. Und bei diesem sozialen Konstruktionsprozess werden ständig Entscheidungen getroffen, die Ergebnis von kontextabhängigen Bedeutungszuschreibungen und Folgenabwägungen sind. Sie kommt zum Ergebnis, dass sich die Unterscheidung von Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften nicht halten lässt. Der Unterschied liegt allein in den unterschiedlichen Themen. Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse - ob naturwissenschaftlich oder sozialwissenschaftlich gewonnen - sind soziale Konstruktionen, ob sie sich nun auf „Natur" oder „Kultur" beziehen. These X Als weiteren Beleg für meine Behauptung möchte ich ein Gespräch zwischen dem Neurobiologen Gerhard Roth und dem Sozialpsychologen Harald Welzer anfügen, das im Februar dieses Jahres in „DIE ZEIT" erschienen ist. Hier wird deutlich, dass das Gehirn als ein plastisches Organ aufgefasst werden muss, das durch Erfahrung aus Interaktion und Kommunikation strukturiert wird. „So gesehen", meint Roth in diesem Gespräch, „wird die Neurobiologie nicht nur zur Geisteswissenschaft, sondern am Ende zur Sozialwissenschaft. Das Gehirn ist ein soziales Organ. Was wir als Neurobiologen direkt studieren können, ist der Apparat selbst, aber nicht das, was er an Bedeutung verarbeitet. Das sagen uns die Geistes- und Sozialwissenschaften." Und Welzer stellt fest: „Niemand geht aus einem Gespräch in derselben Verfassung heraus, in der er hineingegangen ist." Und weiter: „Vielleicht ist die Seele sogar in der Interaktion." Damit wären wir beim Begriff des „Zwischen" bei Buber, beim Begriff des „Tele" bei Moreno oder auch beim Begriff der „symbolischen Interaktion" bei George Herbert Mead. Dieser sah bekanntlich das „Seif als Kombination aus dem „I", einer spontanen, kaum fassbaren Subjektivität, und dem „Me" als dem Objekt der Interaktionen mit den anderen Men-

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sehen. Also auch hier im Dialog zwischen Roth und Welzer: Nicht nur der Forschungsprozess lässt die Unterscheidung von Natur- und Sozialwissenschaft obsolet werden. Auch der Gegenstand der Forschung muss in Kooperation von Naturund Sozialwissenschaft einheitlich definiert werden: Das Gehirn als Resultat und Akteur bedeutungsvoller Interaktionen. These XI Als dritten Zeugen dafür, dass naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr Objektivität zugeschrieben werden kann als sozialwissenschaftlichen, möchte ich den Philosophen, Psychologen und Pädagogen John Dewey anführen. Gegenstand eines Forschungsprozesses sind nach ihm immer Erfahrungen, ob wir sie nun der natürlichen oder der sozialen Umwelt zuschreiben. Reichen diese Erfahrungen nicht mehr aus, um angemessen handeln zu können, fangen wir an nachzudenken. Ein wissenschaftlicher Forschungsprozess ist im Prinzip nichts anderes; er ist nur wesentlich komplexer angelegt. Eine Erkenntnis wird dann akzeptiert, wenn sie als Lösung für das Ausgangsproblem betrachtet werden kann und sich in der Folge als praktikabel erweist. Diese Ergebnisse können also immer nur als Zwischenergebnisse betrachtet werden. Dewey bezeichnet diese Erkenntnisse daher als „warranted assertions", also als berechtigte Behauptungen, man könnte auch sagen: als belastbare Arbeitshypothesen. Objektive, also unbezweifelbare Erkenntnisse sind sowieso nicht zu gewinnen. Zwar suche der Mensch immer wieder gern nach Gewissheit. Leider sei sie aber prinzipiell nicht zu bekommen. These XII Daraus ergibt sich: Die Hoffnung, dass sich wenigstens durch naturwissenschaftliche Forschung sichere, unbezweifelbare, objektive Erkenntnisse gewinnen lassen, die die Psychotherapie besser legitimieren könnten, ist eine Illusion. Was wir durch Forschung gewinnen können, sind berechtigte Behauptungen, deren Berücksichtigung die Praxis möglicherweise verbessern kann. Diese ständige Verbesserung der Praxis sollten wir daher nicht allein den Wissenschaften überlassen. Denn jeder Psychotherapeut kann seine Praxis selbst diesem Forschungs- und Evaluationsprozess unterziehen. Gerade Dewey macht deutlich, dass sein Untersuchungsmodell, seine „Theory of Inquiry", eben nicht nur für die Wissenschaften gilt, sondern für jeden Erkenntnisprozess, so auch für psychotherapeutische Untersuchungen. Deshalb generieren gute Falldarstellungen von Praktikern genauso „ berechtigte Behauptungen " wie wissenschaftliche Forschungsprojekte. These XIII Nun aber zum zweiten Argument gegen die Fixierung auf die Naturwissenschaft: Sie kann den Begegnungscharakter der Psychotherapie gar nicht erfassen. Wenn ich gerade aufgezeigt habe, dass Natur- und Sozialwissenschaften gar nicht so weit auseinander liegen, wie das gemeinhin angenommen wird, dann habe ich mich auf Positionen bezogen, die zwar gut begründet sind, die leider aber keineswegs die gegenwärtige Wissenschaftslandschaft bestimmen. Denn die etablierte Trennung von Natur- und Sozialwissenschaften ist jahrhundertealt und gesellschaftlich so machtvoll institutionalisiert, dass an eine durchgängige Aufhebung gar nicht zu denken ist - jedenfalls nicht in absehbarer Zeit. Als Schlaglicht dazu ein Zitat von

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Gerhard Roth aus dem eben genannten Gespräch vom Februar 2006: „Es gibt bisher nur eine Handvoll Hirnforscher in Deutschland, die überhaupt eine rudimentäre Ahnung von Sozialwissenschaft haben." These XIV In der gegenwärtig empirisch mehrheitlich anzutreffenden Sicht von Naturwissenschaftlern wird der zu untersuchende Mensch als Objekt konstruiert, der möglichst unabhängig von subjektiven Verzerrungen erfasst werden soll. Mit dieser Vorentscheidung wird geleugnet oder gar verdrängt, dass der untersuchte andere Mensch mit dem Forscher in ebendiesem Prozess in Interaktion steht. Diese symbolischen Interaktionen gehen selbstverständlich in die Ergebnisse ein und müssten also solche auch sichtbar bleiben. Stattdessen wird der Mensch im dominanten „Mainstream" als ein Fremder konstituiert, als sei er sozial tot. Die Ergebnisse können daher nur „Feststellungen" sein, Beschreibungen eines zuvor durch den Forschungsprozess „Festgestellten", der eben wie ein Toter behandelt wird. Dass dieser auf diese „Feststellung" nicht eben freudig reagiert, dürfte sicher sein. Wenn also der andere wie ein totes Objekt behandelt wird und nicht als ein interagierendes Subjekt, sagen die Forschungsergebnisse eben wenig über lebendige Menschen aus. Sie sagen nur etwas aus über „festgestellte" Menschen, über sozial isolierte, objektivierte, d.h. vergegenständlichte, verdinglichte, also einer fremden Herrschaft unterworfene. Damit können sie den symmetrischen Begegnungscharakter der psychotherapeutischen Beziehung überhaupt nicht in den Blick bekommen. These XV Mit diesen objektiven Konstruktionen werden die Menschen in den öffentlichen Diskursen immer schon als beherrschte, somit als beherrschbare, verplanbare ausgeliefert. Und das passt nun gut mit einem Gesundheitswesen zusammen, das die Kosten beherrschbar machen will. Der Mensch erscheint in dieser Sicht primär als objektiver Kostenfaktor. Genau an dieser Stelle gibt es ein Zusammenwirken zwischen dieser Art der Forschung und den Verplanungsinteressen der Entscheider im Gesundheitssektor. Typisch dafür ist die Quantifizierung. Hinter dem Menschen als Zahl verschwindet sein unverfügbares Recht auf individuelle Selbstbestimmung. Und damit kommt sein Menschenrecht, das, was er ganz persönlich als ein gutes, glückliches Leben, als seine Version von Gesundheit versteht, selbst bestimmen und realisieren zu können, nicht einmal mehr zur Sprache. These XVI Hier arbeitet ein berechnendes Gesundheitswesen mit einer rein quantifizierenden Version naturwissenschaftlicher Forschung zusammen. Schlimm wird es aber erst, wenn auch noch Psychotherapeuten diesen Verdinglichungsprozess nicht durchschauen, sich völlig unkritisch darauf einlassen und auf rein technologische Behandlungsformen setzen. Genauso problematisch handeln Psychotherapeuten, wenn sie der Objektivierung eine Subjektivierung entgegensetzen, also den Behandlungscharakter verleugnen und nur noch auf Begegnung machen. Wenn Objektivierung wie Subjektivierung aber nicht mehr austariert sind, sägen sich Psychotherapeuten selbst den Ast ab, auf dem sie sitzen: Denn die Psychotherapien, die unter diesen Bedingungen stattfinden, werden immer unwirksamer werden müssen.

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Jedenfalls werden sie den Ansprüchen von an Selbstbestimmung interessierten Subjekten nicht entsprechen können. Jeder Psychotherapieansatz, der das nicht sieht, muss daher klar und deutlich kritisiert werden, auch von Kollegen. Er entzieht der Psychotherapie die professionelle Arbeitsgrundlage. These XVII Denn damit wird der Begegnungscharakter der therapeutischen Beziehung zerstört: Psychotherapeuten und Patienten verlieren den Kontakt, hilfreiche Zusammenarbeit wird verhindert. Und das ist auch der zentrale Grund, warum jede Kostendämpfung, die die Menschen nur als quantifizierbare Kostenfaktoren sieht, scheitern muss. Entweder kränkt sie die Patienten zusätzlich, oder sie verlängert die Behandlung ins Unendliche: Beide Konsequenzen fuhren zu Kostensteigerungen. Es kann allerdings auch sein, dass mancher Patient diese Objektivierungsprozesse nicht länger mitmacht, sich jeglicher Behandlung entzieht und womöglich früher stirbt. Beides wirkt natürlich im Ergebnis kostendämpfend. Vermutlich ist das nicht intendiert. Man kann aber den Eindruck gewinnen, dass solche Folgen zumindest in Kauf genommen werden. Beides ist ethisch in keinem einzigen Fall zu rechtfertigen. These XVIII Das Unbehagen in der Psychotherapiekultur mache ich also fest an zunehmenden Tendenzen der Objektivierung von konkreten Menschen. Akteure sind diejenigen Entscheider im Gesundheitswesen, die nur noch Kostenfaktoren sehen, diejenigen Patienten, die nur konsumieren wollen, diejenigen Wissenschaftler, die ihre Erkenntnisse nur am „Festgestellten" gewinnen, aber auch diejenigen Psychotherapeuten, die ihre Patienten nur behandeln, d.h. bearbeiten wollen und jegliche Begegnung verweigern oder zumindest vernachlässigen. These XIX Daher plädiere ich dafür, dass Psychotherapeuten, die ihre Tätigkeit im oben von mir definierten Sinn als professionelle verstehen, ihr eigenständiges und spezifisches Wissen über ethisch verantwortbare und erfolgreiche Psychotherapie nicht verstecken, sondern immer wieder in die Diskussion einbringen: Psychotherapie darf eben nicht nur als ergebnisorientierte Arbeit gesehen werden, die durchaus kostensparend eingesetzt werden muss und somit die berechtigten Intentionen der Kostendämpfung aufnimmt. Sie muss aber ebenso über die nötigen Ressourcen in Eigenverantwortung verfugen dürfen, um sich auf einen unvorhersehbaren und daher unplanbaren Begegungsprozess einlassen zu können. Das gelingt aber nur, wenn eine Vertrauenskultur aufgebaut wird, in dem jeder dem anderen - ob Patient, ob Therapeut, ob Vertreter des Gesundheitswesens - glaubt, dass dieser seine Verantwortung angemessen wahrnimmt. Eindeutig überprüfen und feststellen lässt sich das sowieso nicht. These XX Dieses eigenständige Wissen der Psychotherapie sollte aber auch selbstbewusst behauptet werden gegenüber den Wissenschaften. Psychotherapie ist eine Beziehungskunst, die neben der Berücksichtigung wissenschaftlichen Wissens eben auch Praxiswissen aufnimmt, über das Wissenschaftler gerade nicht verfugen. Erst diese

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Kombination macht die eigentliche Professionalität aus. Dieser ständige Kombinationsprozess zwischen abstraktem, allgemeinem Wissen und konkretem, einmaligem Wissen hat der Philosoph Charles Sanders Peirce als „Abduktion" bezeichnet, in Abgrenzung zu Induktion und Deduktion. Psychotherapeuten sollten daher nur mit denjenigen Wissenschaftlern zusammenarbeiten, die diese Eigenständigkeit respektieren und zudem ihre eigenen Forschungsprozesse als symbolische Interaktionsprozesse verstehen, in denen die untersuchten Menschen nicht als tote Fremde behandelt, sondern als lebendige, selbstständige Subjekte ernst genommen, ja in diesem Subjektivierungsprozess unterstützt werden. Ich denke, auf dem Symposium hier sind eine ganze Reihe dieser Forscher versammelt. These XXI Nun ist es keineswegs so, dass es für diese Kombination von Wissenschaft und Praxis in der Geschichte der Psychotherapie keine Vorbilder gäbe. So hat Moreno eben nicht nur das Psychodrama erfunden. Er hat seit den 1930-er Jahren in den USA auch das Verfahren der Soziometrie entwickelt. Ausgangspunkt ist das Interesse einer Gruppe von Menschen, gemeinsame Probleme auch gemeinsam zu untersuchen. Die Forscher haben keine andere Funktion, als die dazu nötigen Forschungstechniken zur Verfügung zu stellen. Diese Menschen werden also nicht objektiviert, nicht festgestellt. Sie werden im Gegenteil dabei unterstützt, das, was sie interessiert, zu untersuchen und diese Erkenntnisse in einem gemeinsamen Lernprozess auch sozial verträglich umzusetzen. In diesem Prozess dient die Soziometrie der Untersuchung und das Psychodrama der Umsetzung dabei gewonnener Erkenntnisse. Damit war Moreno ein Pionier der Aktionsforschung. Dieses Verfahren ist eben nicht so einfach einer Wissenschaft zuzuordnen. Es fristet daher auch in den Wissenschaften eher ein randständiges Dasein, sei es in der Psychologie, in der Soziologie oder in der Erziehungswissenschaft. Das hängt damit zusammen, dass es völlig falsch gesehen wird. Es ist eben keine reine Wissenschaftsmethode, es ist vielmehr eine eigenwillige Kombination von Wissenschaft und Praxis, die diese Trennung aufhebt zugunsten bestimmter an Selbsterforschung interessierter Menschen. Aber das wird leider weder von den Wissenschaftlern, noch von den psychodramatischen Therapeuten angemessen wahrgenommen. These XXII Ich möchte Sie also ermutigen, das Unbehagen nicht weiter zu kultivieren, sondern gemeinsam an einer eigenständigen Vertrauenskultur zu arbeiten, die gut für die Patienten ist, gut für das Gesundheitswesen und auch gut für Sie selbst. Nur so lässt sich vernünftig und verantwortungsvoll arbeiten. Und eben das macht Professionalität aus. Was das im Detail ist, können nur die Professionellen selbst definieren; das können Unprofessionelle eben nicht. Sie müssen allerdings von diesen Konstruktionen überzeugt werden. Diese Selbstdefinition von Professionalität sollten Psychotherapeuten aber auch gemeinsam erarbeiten und selbstbewusst in den öffentlichen Diskurs einbringen. Und sich dabei keine Vorschriften machen lassen, auch nicht von den Referenzwissenschaften. Das erfordert allerdings einen selbstbewussten Umgang mit Unsicherheiten, was viele Patienten und viele Entscheider im Gesundheitswesen gar nicht gut haben können. Aber das ist das Risiko des Menschseins schlechthin. Sie sollten alle Akteure im Gesundheitsbereich ermuti-

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gen, sich ihm offen und ehrlich zu stellen. Wenn das Psychotherapeuten nicht schaffen, wer dann? Literatur Bauman, Z. (1995): Postmoderne Ethik. Hamburg. Bauman, Z. (1996): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt/M. Bauman, Z. (2003): Flüchtige Moderne. Frankfurt/M. Buber, M. (1984): Das dialogische Prinzip. Heidelberg. Buber, M. (1986): Reden über Erziehung. Heidelberg. Buer, F. (1992): Morenos Projekt der Gesundung. Therapeutik zwischen Diätetik und Politik. In: Ders. (Hrsg.): Jahrbuch für Psychodrama, psychosoziale Praxis & Gesellschaftspolitik. Opladen, 73-109. Buer, F. (Hg.; 1999): Morenos therapeutische Philosophie. Zu den Grundideen von Psychodrama und Soziometrie. Opladen (1. Aufl. 1989). Buer, F. (2004a): Unsicherheiten im Beratungsdiskurs. Wozu Berater und Beraterinnen Philosophie brauchen - Pragmatismus zum Beispiel. OSC 11,2,127-150. Buer, F. (2004b): Morenos therapeutische Philosophie und die psychodramatische Ethik. In: Fürst, J. u.a. (Hrsg.): Psychodrama-Therapie. Ein Handbuch. Wien, 30-58. Buer, F. (2004c): Über die professionelle Kompetenz, Professionalität kompetent darzustellen. Und welche Rolle die Supervision dabei spielt. In: Buer, F.; Siller, G. (Hrsg.): Die flexible Supervision. Wiesbaden, 161-201. Buer, F. (2005): Managementkompetenz und Kreativität - psychodramatisch betrachtet. OSC 12,2,117132. Dewey, J. (1995): Erfahrung und Natur. Frankfurt/M. (1. Aufl. 1922). Dewey, J. (2001): Die Suche nach Gewissheit. Frankfurt/M. (1. Aufl. 1929). Dewey, J. (2002): Logik. Die Theorie der Forschung. Frankfurt/M. (1. Aufl. 1931). Dörner, K. (2001): Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart. Dörner, K. (2004): Das Gesundheitsdilemma. Woran unsere Medizin krankt. Zwölf Thesen zu ihrer Heilung. Berlin. Dollase, R. (1981): Gegenstand, Ziel und Methode der soziometrischen Aktionsforschung. In. Moreno, J. L. (Hrsg.): Soziometrie als experimentelle Methode. Paderborn, 7-15. Frank, J. D. (1985): Die Heiler. Über psychotherapeutische Wirkungsweisen vom Schamanismus bis zu den modernen Therapien. München. Fürst, J.; Ottomeyer, K.; Pruckner, H. (Hrsg.; 2004): Psychodrama-Therapie. Ein Handbuch. Wien. Gamm, G. (2004): Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität. Berlin. Grossinger, R. (1985): Wege des Heilens. Vom Schamanismus der Neuzeit zur heutigen alternativen Medizin. München. Huber, E.; Langbein, K. (2005): Gesundheits-Revolution. Radikale Wege aus der Krise. Was Patienten wissen müssen. Berlin. Joas, H. (1989): Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead. Frankfurt/M. Jörke, D. (2003): Demokratie als Erfahrung. John Dewey und die politische Philosophie der Gegenwart. Opladen. Knorr Cetina, K. (2002): Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft. Frankfurt/M. Moreno, J. L. (1981): Soziometrie als experimentelle Methode. Paderborn (1. Aufl. 1951). Nagl, L. (1992): Charles Sanders Peirce. Frankfurt/M. Neubert, St. (1998): Erkenntnis, Verhalten und Kommunikation. John Deweys Philosophie des „experience" in interaktionistisch-konstruktivistischer Interpretation. Münster.

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Roth, G., Welzer, H. (2006): Die Seele gehört nicht mir. Gespräch in: „DIE ZEIT" vom 23.2.2006,36f. Schmidt-Lellek, Ch. (2006): Anthropologie der helfenden Beziehung. Grundlagen, Formen, Deformationen. Unveröffentlichte Dissertation. Suhr, M. (1994): John Dewey zur Einführung. Hamburg. Tschuschke, V. (1998): Nützt mir Psychotherapie? Hilfen zur Entscheidung. Göttingen. Waldl, R. (2005): J. L. Morenos Einfluss auf Martin Bubers Ich und Du. ZPS 1,175-191. Wolf, S. (1992): Martin Buber zur Einfuhrung. Hamburg. Yalom, I. D. (2002): Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten ausmacht. München.

Jenseits des Unbehagens Günter Schiepek Wie in jedem Leben Gefühle unterschiedlicher Art vorkommen, so natürlich auch „Unbehagen", Enttäuschung oder Ärger. Das gilt nicht zuletzt für die Ausübung von Psychotherapie(-Forschung) und Psycho-Berufspolitik. Gründe gibt es genug, und folgt man der einschlägigen „Betroffenheitsrhetorik", dann befinden sich die psychosozialen und psychomedizinischen Professionen in einer Dauerkrise - mal mehr, mal weniger. Aber ebenso wie in der praktischen psychotherapeutischen Arbeit mit Klienten sollte man sich überlegen, wie lange und intensiv man sich mit solchen negativen Gefühlen auseinandersetzen und wie intensiv sich der Klient diesen hingeben sollte. Denn es geht ja in der Therapie auch darum, Alternativen zu Problemmustern zu entwickeln, Annäherungsziele zu verfolgen und Ressourcen zu aktivieren. So gibt es zwar ein Unbehagen an manchen Entwicklungen in Forschung, Praxis und Berufspolitik, aber es gibt auch Alternativen, die sich zu verfolgen lohnen. Eine Quelle möglichen Unbehagens betrifft den vielfach als „Königsweg" propagierten Ansatz so genannter „Randomized Controlled Trials" (RCT). Dies bedeutet, die Wirksamkeit von Psychotherapiemethoden in Vergleichsgruppenstudien mit randomisierter Zuweisung der Patienten/-innen zu den Treatments zu untersuchen. Das Unbehagen bereitet dabei nicht der forschungsmethodische Zugang allein, sondern das damit transportierte Menschenbild, die dahinterstehende Auffassung von Behandlungsprozessen und Interventionswirkungen sowie der monopolistische Anspruch auf das, was „Wissenschaftlichkeit" in der Psychotherapie bedeuten soll. Randomized Controlled Trials realisieren (quasi-)experimentelle Vergleichsgruppendesigns mit gruppenstatistischen Auswertungsmethoden (Mittelwertsvergleiche, Varianzanalysen etc.). Der Fokus liegt auf der Outcome-Erfassung (efficacy), wobei meist eine Homogenität in den untersuchten Störungsbildern/Diagnosen angestrebt wird, die Untersuchungen in relativ artifiziellen und praxisfernen Settings stattfinden und die Behandlungen in manualisierter Form durchgeführt werden. Die Kritik daran ist weitgehend bekannt und gab in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder Anlass zu Diskussionen und kritischen Stellungnahmen (siehe z.B. das einschlägige Themenheft der „Psychologischen Rundschau" aus dem Jahr 1992 oder das Buch von Wampold 2001). Genannt werden unter anderen folgende Punkte: - Das Menschenbild der RCT entspricht dem eines Ziegelsteins. Dies bedeutet, dass die Bewegungen, die das Objekt ausführt, im Wesentlichen von äußeren Kräften bestimmt werden. Natürlich rechnen viele Treatments auch mit mediierenden Variablen wie Kognitionen und Traits, aber die hat ein Ziegelstein auch, z.B. Masse oder Oberflächenbeschaffenheit. Das Vorbild für diese Forschung sind die Doppelblinddesigns pharmakologischer Studien.

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- Der Gruppenstatistik wird der Vorzug gegeben, was bedeutet, dass die Individualität von Therapieprozessen gar nicht oder nur am Rande berücksichtigt wird. - Das primäre Interesse an der Wirkung (Outcome-Messungen) verstellt meist den detaillierten Blick auf Prozesse. Allenfalls gibt es manchmal Aussagen über grobe Trends in den (differentiellen) Entwicklungen oder Hinweise auf frühe Verlaufsprädiktoren. - Die Behandlungen werden idealerweise manualisiert durchgeführt, d.h., sie sind standardisiert und erlauben eine flexible und adaptive Vorgehenswiese nur in engen Grenzen. Der Vorteil soll sein, Treatments kontrolliert zu applizieren und in normierter Weise generell anwenden zu können. - Die Zielrichtung der Forschung orientiert sich daran, evidenzbasierte Treatments zu legitimieren, die gegenüber anderen Behandlungsformen besser oder überlegen sein sollen. Es ist allerdings auch nach Jahrzehnten intensiver Wirkungsforschung nicht ausgemacht, dass es solche überhaupt gibt. Die alte Nullhypothese, auch „Dodo-Bird-Effekt" genannt, dass unter dem Strich und am Ende des Tages alle (zumindest bisher ernsthaft untersuchten) Therapieansätze ungefähr gleichwertig sind, ist nach wie vor nicht widerlegt, zumindest wenn entsprechend angelegte Metaanalysen noch bestimmte Kovariaten berücksichtigen (z.B. die Identifiziertheit der beteiligten Behandler und Forscher mit dem favorisierten Treatment oder andere Biases, s. z.B. Beutler et al. 2004; Lambert & Ogles 2004; Wampold 2001). - Kosten und Mühen, die in diese Art der Legitimierungsforschung investiert werden, könnten nach Meinung renommierter Therapieforscher besser in andere Arbeitsfelder investiert werden, z.B. in die Erforschung von Misserfolgen und Behandlungsabbrüchen, in die Entwicklung von Behandlungskonzepten für „schwierige" Klienten und problematische Settings oder Behandlungsverläufe, sowie in die Entwicklung von Feedback-Methoden, um auf ungünstige Entwicklungen oder kritische Therapiesituationen optimal adaptiv reagieren zu können. - Die Vergleichsgruppen-Wirkungsforschung billigt der Bedeutung von Behandlungsmethoden einen hohen Stellenwert zu. Dieser Stellenwert ist aber nach dem Stand des Wissens der Wirkfaktorenforschung nicht gerechtfertigt. Aspekte wie Klientenvariablen (Persönlichkeitsmerkmale, Behandlungsmotivation und andere), Persönlichkeits- und Kompetenzmerkmale des Therapeuten (z.B. auch dessen eigene psychische Gesundheit), Merkmale des Behandlungssettings und des sozialen Umfelds sowie diverse Bedingungen, die sich erst im Therapieprozess aus dem Zusammenspiel dieser und anderer J a k toren" ergeben, spielen eine mindestens genauso große Rolle wie die Behandlungstechniken. Insbesondere gibt es Hinweise darauf, dass die Wirkung vieler Treatments nicht so zustande kommt, wie von diesen selbst vermutet. Ein Beispiel sind die so genannten „rapid early responses" - zum Teil sehr spezifische Effekte, die aber im Behandlungsverlauf eintreten, bevor die entsprechenden Treatment-Komponenten überhaupt zum Einsatz kommen.

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- Der menschliche Organismus und insbesondere das Gehirn sind hochkomplexe nicht-lineare Systeme. Somit müssten auch die psychischen Prozesse, die in der Psychotherapie stattfinden, ebenso wie viele andere Prozesse mentaler, emotionaler und behavioraler Natur durch Selbstorganisation zustande kommen. Nach jahrelanger Forschung können wir davon ausgehen (siehe Haken & Schiepek 2006; Schiepek 2003). - Selbstorganisation findet in der Psychotherapie nicht nur intraindividuell, sondern auch interindividuell, d.h. in der therapeutischen Beziehung und in den sozialen Systemen, statt, in denen diese eingebettet ist (Haken & Schiepek 2006). So weisen Behandlungsprozesse auf unterschiedlichen Zeitskalen (von Sekundenbruchteilen in der Neurodynamik bis hin zu Zeiträumen von Wochen und Monaten) nicht lineare Dynamiken auf (deterministisches Chaos, instationäre Übergänge zwischen Prozessgestalten, veränderliche Resonanz- und Kopplungsmuster usw.). Psychotherapien sind gestaltbar, aber im Detail des Verlaufs - nicht selten sogar auch in großen Zügen - nicht vorhersehbar. Das Problem an all dem besteht weniger darin, RCT-Forschung überhaupt durchzuführen. Es gibt sicher Projekte, bei denen ein sehr rigides experimentelles Design mit hochselektiven Einschlusskriterien (z.B. was Diagnosen betrifft) absolut Sinn macht, z.B. bei expliziten Outcome-Fragestellungen oder bei Studien zu neurobiologischen Effekten psychotherapeutischer Behandlungen. Bei solchen Studien muss man in doppelter Hinsicht experimentell sauber zu Werke gehen: einmal, was die Anlage der gesamten Studie betrifft, und zum anderen, was das Messparadigma und -vorgehen im fMRT- (funktionelle Magnetresonanztomographie) oder PET-Scanner (Positronenemissionstomographie) betrifft - dies ist gewissermaßen ein Experiment im Experiment. Das Problem besteht vielmehr darin, dass im Feld der Psychotherapie die lineare Forschung der genannten Art synonym mit Wissenschaftlichkeit überhaupt geworden ist. Wer nicht diese Wissenschaftlichkeit will, der wolle überhaupt keine. Dabei handelt es sich mit Blick auf die Komplexität und Nichtlinearität menschlicher Lebensprozesse im Grunde um einen obsoleten Ansatz. Angesichts der intensiven Entwicklungen im Bereich psychologischer, biologischer und physiologischer Messmethoden (z.B. bildgebende Verfahren in den Neurowissenschaften, computerbasierte Erfassung von Erleben und Verhalten im Feld) sowie im Bereich der nicht linearen Zeitreihenanalyse und mathematischen Systemmodellierung kann man heute nicht einmal mehr sinnvoll argumentieren, dass RCT, lineare Methodik und lineale Ursache-Wirkungs-Konzepte ein sinnvoller erster Schritt seien. Lineale Modelle und lineare Statistik sind ein Rand- und Spezialfall einer Wissenschaft nicht linearer, komplexer dynamischer Systeme (d.h. der darin möglichen Empirisierung und Modellierung). Das Unbehagen sollte an dieser Stelle allerdings nicht dazu führen, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Es geht nicht darum zu behaupten, psychische oder mentale Phänomene seien nicht messbar oder Seelisches sei nicht quantifizierbar. Es handelt sich um eine Argumentation pro und nicht kontra komplexe mathematisch-statistische Verfahren und Modelle in der Psychologie. Es handelt sich auch nicht um grundsätzliche Einwände gegen neurowissenschaftliche Methoden in der Psychologie, sondern um die Einsicht, dass das komplexe bio-psycho-soziale

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System „Mensch" verstanden werden kann, wenn wir auch die beteiligten und zugrunde liegenden neuronalen und biochemischen Prozesse verstehen. Aber gleichzeitig wissen wir, dass neurobiologische Befunde nur so gut sind, wie die psychischen Vorgänge konzeptualisiert und operationalisiert sind, zu denen jene ein biologisches Korrelat darstellen sollen. Es geht im Übrigen auch nicht darum, in qualitativen und hermeneutischen Methoden das Heil zu suchen. Letztere können und sollten dazu genutzt werden, neurobiologische und psychologische Messergebnisse besser zu verstehen und die quantitativen und mathematischen Aussagen in einen Sinnzusammenhang einzuordnen. Fatal wäre es, wenn die Unbehagens-Rhetorik zu einer Nothing-goes-Mentalität fuhren würde. Alternativen sind längst entwickelt, wahrscheinlich mehrere. Eine sei in kurzen Punkten hier skizziert (vgl. ausführlich Haken & Schiepek 2006; Strunk & Schiepek 2006), wobei ich mich speziell auf das Anwendungsfeld „Psychotherapie" beziehe: - Statt sich nur auf die Globaleffekte von Treatments (im Sinne von Vorhernacher-Effekten) zu konzentrieren, kann man in Prozess-Outcome-Studien die dynamische Entfaltung von Interventionen im Behandlungsprozess untersuchen. Hochfrequente Messungen (z.B. täglich) ermöglichen den Blick auf die Zeitstruktur von Veränderungen und auf kritische Momente im Behandlungsprozess. Zudem ermöglichen sie - sofern mehrere Aspekte gemessen werden - eine Modellierung von nicht linearen Wirkzusammenhängen. - Ein bio-psycho-soziales Verständnis des Menschen macht Operationalisierungen auf verschiedenen Ebenen möglich (wobei natürlich nicht alles in einer einzigen Studie gemessen werden kann). Unter anderem können psychologische Konstrukte (und ihre Operationalisierungen) mit neurobiologischen Korrelaten (z.B. funktionelle Bildgebung spezifischer Hirnaktivität) im Behandlungsverlauf erfasst werden. Andere Aspekte sind z.B. immunologische und endokrinologische Marker von Stress oder auch von positiven Emotionen, die man kontinuierlich messen kann (vgl. Schubert & Schiepek 2003; Haken & Schiepek 2006). Qualitative Interviews geben ein ergänzendes Bild von der Psycho- und Soziodynamik eines Veränderungsprozesses. - Qualitative und quantitative Methoden ergänzen sich in einem solchen Forschungsparadigma ebenso wie psychologische und biologische Methoden (z.B. funktionelle Bildgebung, EEG, biochemische Analysen etc.). - Therapeut und Treatment (d.h. die eingesetzten Behandlungstechniken) sind in einem prozessorientierten Verständnis nicht „unabhängige Variablen" oder „Input", sondern Teil einer Dynamik, die durch das (nicht lineare) Zusammenspiel von Therapeuten-, Klienten- und Settingvariablen sowie durch das soziale Umfeld zustande kommt. Die Effekte bestimmter Treatments beispielsweise können sich nur unter geeigneten Bedingungen und in bestimmten Phasen einer Therapie entfalten, wobei unter anderem die Aufhahmebereitschaft und die intrinsische Veränderungsmotivation des Klienten eine wesentliche Rolle spielen. Für die therapeutische Haltung ist es wichtig, den Klienten/Patienten grundsätzlich als eigenverantwortlichen und informierten Partner in einem gemeinsamen Veränderungsprojekt zu betrachten.

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- Neue Informationstechnologien (z.B. Handheld-PCs mit funkbasiertem Internetzugang) und innovative zeitreihenanalytische Methoden zur Identifikation dynamischer Muster und Musterveränderungen machen es möglich, Therapieverläufe kontinuierlich zu erfassen. Tägliche Selbst- oder/und Fremdratings können mitlaufend ausgewertet und visualisiert werden, so dass ein datenbasiertes Real-Time-Monitoring der persönlichen Entwicklung eines Patienten entsteht. Das hierfür entwickelte Synergetic Navigation System führt durch die Turbulenzen selbstorganisierender Prozesse. Die Ergebnisse kann der Therapeut jederzeit einsehen und zusammen mit seinem Klienten auswerten. Therapeutische Schritte können auf dieser Basis geplant werden. Damit erhält der Klient eine sehr aktive Rolle bei der Prozessgestaltung. - Betrachtet man Psychotherapie als bio-psycho-sozialen Selbstorganisationsprozess, so wird Therapie zur intendierten Anwendung eines umfassenden theoretischen Modells, nämlich der Synergetik. Mit dieser Theorie der Selbstorganisation wird ein integratives Verständnis psychotherapeutischer Prozesse möglich. Zudem leiten sich konkrete Regeln für die Gestaltung von Selbstorganisationsprozessen ab (sog. generische Prinzipien). Zahlreiche Befunde der Therapieforschung können mit Hilfe der Synergetik integriert und neu interpretiert werden, viele prüfbare Fragestellungen leiten sich ab. - Für die Integration der Therapieschulen ergibt sich daraus eine Art „unifying paradigm" - Psychotherapie als synergetisches Prozessmanagement. Die integrative Klammer kommt durch die Theorie, die Art der Prozessgestaltung und die dabei genutzten Entscheidungsregeln sowie durch das datenbasierte Prozessmonitoring (einschließlich Qualitätssicherung) zustande. Auf der Ebene der konkreten Therapietechniken lässt das Modell dem Therapeuten weitgehend freie Hand und ist durchaus eklektisch, so dass sich die Persönlichkeit, Kompetenz und Authentizität des einzelnen Praktikers /der Praktikerin entfalten kann. Das synergetische Prozessmanagement ist eine Art allgemeine oder integrative Therapie, ohne in die Paradoxie zu verfallen, selbst wieder eine (n+lte) Therapieschule zu sein. So besteht zumindest aus dieser Sicht kein Grund zum Unbehagen, aber auch nicht zum Gegenteil: Behagen oder Behaglichkeit im Sinne eines Sich-bequemEinrichtens auf den Ruhekissen der Bestände. Vielmehr geht es darum, die Entwicklungen im Rahmen eines sinnvollen Paradigmas voranzutreiben und hierfür die geeigneten Strukturen zu schaffen. Literatur Beutler, L. E., Malik, M.; Alimohamed, S.; Harwood, T. M.; Talebi, H.; Noble, S. & Wong, E. (2004): Therapist Variables. In: M. J. Lambert (ed.): Bergin and Garfield's Handbook of Psychotherapy and Behavior Change. New York: Wiley, 227-306. Haken, H. & Schiepek, G. (2006): Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten. Göttingen: Hogrefe. Lambert, M. J. & Ogles, B. M. (2004): The Efficacy and Effectiveness of Psychotherapy. In: M. J. Lambert (ed.): Bergin and Garfield's Handbook of Psychotherapy and Behavior Change. New York: Wiley, 139-193.

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Psychologische Rundschau 43 (1992): Themenheft „Psychotherapieforschung zu Beginn der neunziger Jahre". Schiepek, G. (Hrsg.; 2003): Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Schubert, C. & Schiepek, G. (2003): Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie: Psychosozial induzierte Veränderungen der dynamischen Komplexität von Immunprozessen. In: G. Schiepek (Hrsg.): Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer, 485-508. Strunk, G. & Schiepek, G. (2006): Systemische Psychologie. Einfuhrung in die komplexen Grundlagen menschlichen Verhaltens. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Wampold, B. E. (2001): The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings. Mahwah, N. J.: Lawrence Erlbaum Associates.

Profession und empirische Forschung - Souveränität und Integration1 Michael B. Buchholz Einführung Eine berühmte Freud'sehe Formel ist das „Junktim vom Heilen und Forschen". Damit beschreibt er die Position der Psychoanalyse. Was ich hier sagen will, ist der Versuch, dieses Junktim auf eine neue Weise zu denken. Psychoanalyse und Forschung Psychoanalytiker hatten nie Schwierigkeiten, sich als wissenschaftliche oder ärztliche Praktiker zu beschreiben und einzuschätzen. Stimmen, die unser wissenschaftliches Bemühen anzweifelten, konnten leicht dadurch beruhigt werden, dass man auf das berühmte „Junktim" hinwies: Unser Handeln war forschendes Handeln. Aber die eigenen Forschungen, ich nenne nur die Wallerstein-Studie, erteilten eine Lektion. Es war die, dass niemand genau erklären kann, was Psychoanalyse eigentlich ist. Alle Studien haben nämlich gezeigt, dass Formeln wie z. B. „das Unbewusste bewusst machen" nicht ausreichen. Denn in einer Psychoanalyse geschieht mehr; der psychoanalytische Prozess braucht subtilere Beschreibungen; und die Dinge entwickelten sich völlig anders, als dies erfahrene Kliniker vorhergesagt hatten. Die besten Absichten, einen gemeinsamen Nenner (common ground) zu finden, erwiesen sich als Weg zur Hölle der Vielfalt. Auch die so genannten „klinischen Fakten" boten anscheinend keine sichere Basis, von der aus man in das psychoanalytische Universum hätte aufbrechen können. David Tuckett, der in diesen Jahren Herausgeber des „International Journal of Psychoanalysis" war, schrieb 1993, dass wir keine Fakten hätten, die von der Theorie unabhängig seien. Was wir hätten, seien kleinianische, winnicottsche, kohutianische und sonstige Perspektiven auf die klinische Situation. Er zog den Schluss: „Alle Überlegungen zu dem Thema müssen damit beginnen, dass wir akzeptieren, kein externes und definiertes Untersuchungsobjekt zu haben" (S. 1181). Und dann provozierte er die psychoanalytische Gemeinschaft mit den Worten, dass die Fallpräsentation „eine soziale Funktion" haben könnte, „die in der Angst wurzelt, dass die psychoanalytische Bewegung (!) unwiderruflich auseinanderbrechen könnte" (S. 1179). Wie lässt sich nun ein Bezugsrahmen finden, der eine so regellose chaotische Situation in einen geordneten Kosmos verwandelt? Wie lässt sich aus der Unordnung (disorder) eine Ordnung (order) schaffen? Manche gingen davon aus, dass einzig strenge empirische Forschung der Weg zur Heilung sein könnte. Die Ergebnisse sind ermutigend. Psychoanalytische Behandlung hält in einer hinreichend hohen Zahl von Fällen, was sie verspricht. An prominenter Stelle sind hier die schwedische Studie von Rolf Sandeil und die deutsche Studie von Mari1

Dieser Symposiumsvortrag ist zuerst erschienen in Psyche 60, Heft 5 (2006), S. 426-454.

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anne Leuzinger-Bohleber und Mitarbeitern zu nennen. Man könnte die Liste der im psychoanalytischen Feld tätigen Forscher ergänzen, die sich auf die Behandlung bestimmter Störungen spezialisiert und die Wirksamkeit der psychoanalytischen Behandlung nachgewiesen haben. Hier ist vor allen Dingen die Arbeit von Peter Fonagy und Anthony Bateman zu nennen, die Menschen mit einer BorderlinePersönlichkeitsstörung behandelt haben (Übersicht in Buchholz 2004). Und nicht vergessen werden dürfen die Arbeiten von Horst Kächele und seinen Mitarbeitern in Ulm, die Menschen mit Essstörungen behandelten, und die Arbeiten weiterer Autoren des Bandes „Research on psychoanalytic psychotherapy with adults" (Richardson, Kächele & Renlund 2004). Im Untertitel des Buches „Von der Konfession zur Profession" von Grawe u. a. tauchten zwei Wörter auf, die nahezu unbemerkt geblieben sind. Subtil wird die Psychoanalyse als Konfession charakterisiert und mit Religion gleichgesetzt; doch die bessere Wahl scheint die Profession zu sein, die mit wissenschaftlicher Forschung gleichgesetzt wird. An diesem Punkt haben bei mir als Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler die Alarmglocken geklingelt. Die Fachliteratur zum Thema „Profession" ist sehr umfangreich, doch im Buch von Grawe u. a. wird davon nichts erwähnt. Könnte es sein, dass die stille Gleichsetzung von Profession und Wissenschaft hinterfragt werden müsste? Liegt in dieser Gleichung eine unbewusste Phantasie? Die Phantasie nämlich, dass die psychotherapeutischen Bemühungen nur durch empirische Forschung verbessert werden können? Wird die Forschung vielleicht als „Erlösung" von den Schwierigkeiten der Profession gesehen? Die letzten zehn Jahre scheinen diese Fragen zu bejahen, doch ernüchtert müssen wir feststellen, was die empirische Forschung leisten kann. Michael Lambert und Clara Hill kommen in der fünften Auflage (2004) von „Bergin and Garfield's Handbook of Psychotherapy and Behavior Change" zu dem Schluss, dass sich die Messung der Wirksamkeit einer Therapie in einem chaotischen Zustand befindet, der unter den Forschern keinen Konsens darüber ermöglicht, welches Instrument man für welchen Zweck verwenden sollte. Das Fazit dieser bekannten Autoren ist genau das gleiche wie vor zehn Jahren (Lambert 2004, S. 124). Und jüngst versandte David Orlinsky (2006) ein Papier, in welchem er die abstrakte Natur der empirischen Forschung einer nachhaltigen Kritik unterzog: Sie befasse sich einfach nicht mit dem, was gute Therapeuten könnten, sondern reduziere Therapie zu einem „Set" von Techniken, abstrahiere sie zu einer manualisierbaren Prozedur, die auf der Illusion basiere, man könne den Therapeuten beliebig auswechseln, und folge damit einem kulturbedingten Glauben, dass man die Dinge am besten untersuche, indem man sie in ihre Komponenten auseinandernehme. Jedes Kind kann schon wissen, dass man die Fliege tötet, wenn man ihr auf der Suche nach dem Lebendigen die Beine ausreißt. Orlinskys Kritik heißt also, dass diese Art der Forschung den Namen „empirisch" gerade nicht verdient, und sie kommt von einem der einflussreichsten Vertreter selbst - wie immer erst dann, natürlich, wenn dessen Karriere nach über 40 Jahren bereits am Ende angekommen ist. Heute haben wir die Gelegenheit, die Annahme zu überdenken, wonach allein die empirische Forschung das beste Mittel ist, um uns vom Chaos zum Kosmos zu bringen. Und ich will die Voraussage wagen, dass das, was hier in Bezug auf die Psychoanalyse geschehen ist, über kurz oder lang auch mit anderen therapeutischen

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Schulen geschehen wird, wenn dort die Dominanz des sog. empirischen Paradigmas über die Profession beibehalten wird. Wir haben eine sehr hitzige Debatte über empirisch abgesicherte Therapien und randomisierte kontrollierte Versuche erlebt. Wir haben erlebt, wie versucht wurde, die psychoanalytische Praxis mit Hilfe wissenschaftlicher Verfahren zu beherrschen, und wir wissen, wie unangemessen dies war. Im Jahr 1998 formulierte William Henry, ein bekannter empirischer Forscher aus den USA, die ernsthafte Warnung: „Wenn ich diesen Vortrag vor einigen Jahren gehalten hätte, hätte ich sagen können, dass meine größte Befürchtung darin bestanden habe, die psychotherapeutische Forschung habe keine Auswirkung auf die klinische Ausbildung. Heute besteht meine größte Befürchtung darin, dass sie eine haben wird - dass die psychotherapeutische Forschung wirklich eine tief greifend negative Auswirkung auf die zukünftige Ausbildung hat" (Henry 1998, S. 126).

Heute können wir einige solcher zweifelhafter Annahmen über den Einfluss der empirischen Forschung auf die professionelle Praxis im Einzelnen identifizieren. Erstens: die von Drew Westen et al. (2004) formulierte Annahme der Geschmeidigkeit, d.h. die Vorstellung, dass psychische Störungen in jede beliebige Richtung beeinflusst werden können - vorausgesetzt, man findet die richtige Methode. Man müsse die experimentellen Bedingungen nur lange genug manipulieren und könne dann jedes beliebige Ergebnis erzielen. Zweitens: die Annahme, dass die meisten Patienten nur ein Problem haben. Für dieses Problem muss ein Behandlungsdesign entworfen werden, um die experimentellen Bedingungen kontrollieren zu können. Wenn ein Patient ein zweites und ein drittes Problem hat, muss er eine zweite und eine dritte Behandlung bekommen, was sich empirisch als erfolgreich erwiesen hat. Da wir uns diese Denkweise angeeignet haben, haben wir den Ausdruck „Komorbidität" erfunden. In der therapeutischen Praxis aber ist „eine allein auftretende Störung eher die Ausnahme als die Regel" (Westen et al. 2004). Es kommt einem manchmal so vor, als ob man die Kopfschmerzen mit Aspirin behandelt und die Meningitis und das Fieber anderen Behandlungsarten überlässt. Der negative Einfluss auf die professionelle Praxis besteht darin, dass wir verlernt haben, die klinische Gestalt eines Problems zu sehen. Drittens: die Notwendigkeit, dass sich empirische Forscher auf diagnostische Systeme wie z. B. DSM oder ICD beziehen. „Die besten Daten sowohl aus krankheitsgeschichtlichen Forschungen als auch aus Gemeindestudien weisen darauf hin, dass etwa ein Drittel bis die Hälfte der Patienten, die wegen psychischer Probleme behandelt werden, nicht nach dem DSM diagnostiziert werden können, weil ihre Probleme nicht den vorhandenen Kategorie entsprechen bzw. Grenzfälle sind (siehe Howard et al. 1996, Messer 2001). Die Forderung von Drittmittelgebern, wonach die Forscher ihre Behandlungsstudien auf DSM-defmierte psychiatrische Zustände fokussieren sollen, so hat Goldfried (2000) beobachtet, hat im Grunde genommen die Forschung über solche Probleme ausgeschaltet, die einst das psychotherapeutische Forschungsfeld dominierten, z. B. Angst vor dem Sprechen vor einem Publikum, zwischenmenschliche Probleme oder Probleme, die zwischen und während Episoden häufig mit Angst und Depression verbunden sind, z. B. die schwierige Steuerung des Selbstwertgefühls" (Westen et al. 2004).

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Solche empirische Forschung betreiben heißt also, dass man sich einem Kategoriensystem verpflichtet fühlt, das nicht unbedingt zu den Erfordernissen der Profession passt. Aber es passt zu den Forderungen der Wissenschaft. Und wenn eine Diagnose gestellt wird, scheint dies nur auf ein Wissen schließen zu lassen, das man in der konkreten Psychotherapie gar nicht hat. Inzwischen hat in medizinischen Zeitschriften wie z. B. „The Lancet" eine ernsthafte Debatte über den Wert einer empirisch basierten Praxis eingesetzt; es bestehen ernsthafte Zweifel, wie man statistische Ergebnisse auf individuelle Patienten anwenden kann (Rothwell 2005). Wenn wir uns zu sehr auf diagnostische Klassifikationen verlassen, gehen wir das Risiko ein, die „negative Begabung" (negative capability, Keats 1819) zu verlieren, d. h. die Haltung des „Nichtwissens". Viertens: die Annahme, dass nach der ICD- oder DSM-Klassifikation diagnostizierte Symptome einander gleich sind und deshalb losgelöst von der Persönlichkeit des Patienten gesehen werden können. „Wie es aussieht, ist es z. B. unwahrscheinlich, dass die Techniken, die einem depressiven Patienten mit situativ bedingten Gefühlen der Unzulänglichkeit (z. B. nach dem Verlust des Arbeitsplatzes) helfen, auch für die Behandlung von Personen mit einem chronischen Gefühl der Unzulänglichkeit immer optimal sind, ganz zu schweigen von der Behandlung von Personen, die das gleiche Symptom (Depression) zeigen und sich z. B. ihre Homosexualität nicht eingestehen können, die als Kinder missbraucht worden sind und als Erwachsene an den Spätfolgen leiden, die mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung älter werden oder bei denen die majore Depression in der Familie liegt" (Westen et al. 2004). Was gleichartig scheint, erweist sich bei professioneller Betrachtung als unterschiedlich. Professionelle Kliniker laufen Gefahr, das Gespür dafür zu verlieren, zwischen Vorder- und Hintergrund unterscheiden zu können. Fünftens: die wissenschaftliche Methodologie, die auf „reine" Stichproben zielt. Dies fuhrt dazu, dass bei Screeningverfahren viele Patienten ausgeschlossen werden, die Hilfe brauchen. In zahlreichen Studien über Interventionen bei depressiven Störungen wurden etwa jene Patienten ausgeschlossen, die suizidale Gedanken äußerten. Dies entsprach nämlich nicht den Kriterien der Studien. Es besteht die Gefahr, dass wir unsere professionellen Fähigkeiten verlieren, den Menschen zu helfen, die von Studien ausgeschlossen sind und deren Probleme folglich nicht im Anwendbarkeitsspektrum von Behandlungsmanualen für die weniger schweren Störungen berücksichtigt werden. Sechstens: das wissenschaftliche Ziel, Manuale zu entwickeln, die leicht erlernbar und einfach anzuwenden sind. Das Manual legt fest, wie die „Intervention" aussieht. Diese empirische Notwendigkeit hat zwei Konsequenzen für die Praxis der Profession. Zum einen beschreiben Manuale besonders gut jene Therapien, die weniger als 16 Sitzungen umfassen. Mit zunehmender Anzahl der Sitzungen steigt jedoch die Komplexität so sehr, dass man auf der Verhaltensebene nicht mehr beschreiben kann, was der Therapeut zu tun hat. Doch je genauer definiert wird, was der Therapeut zu tun hat, desto eher hat man eine standardisierte Intervention, die dann wissenschaftlich erforscht werden kann. Folglich werden Kurztherapien unter 16 Sitzungen bevorzugt und finanziert. Sie können am besten evaluiert werden. Zum anderen führt die Manualisierung dazu, dass das Handbuch festlegt, was der

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Therapeut zu sagen hat. Was es aber nicht festlegen kann, ist das, was der Therapeut zu hören bekommt. Die beste experimentelle Prozedur ist die, dass die Intervention definiert wird. Je mehr jedoch ein Patient über scheinbar „irrelevante" Themen spricht, desto weniger lässt sich das Manual anwenden. Aber dies ist Alltag unserer Profession. Inzwischen hat die Vorstellung, den Therapieablauf in einem Manual zu regeln, in den USA zu einer grundlegenden Veränderung der therapeutischen Ausbildung geführt. Angehende Therapeuten lernen handbuchorientierte Therapie, und sie sind angeblich besonders gut ausgebildet, je mehr Manuale sie beherrschen. „Mittel und Wege kehren sich allmählich um, wobei Manuale nicht nur bequeme Möglichkeiten sind, Behandlungen im Labor zu operationalisieren, sondern sie definieren auch die Merkmale der Behandlungen an sich ... Die Paradoxie der Manualisierung ... besteht darin, dass die aktive Mitwirkung des Patienten an der Behandlung darüber entscheidet, ob die Therapie klinisch wirksam ist, sich aber der experimentellen Kontrolle entzieht" (Westen et al 2004, S. 638 f.). Dies scheint für die Praxis der Profession ein schwerer Nachteil zu sein. Dies sind einige schwerwiegende Einwände gegen die Vorstellung, die bestmögliche Therapie dadurch konstruieren zu können, dass die Profession der empirischen Forschung folgt. Einige bekannte Forscher beginnen, sich von diesem Programm zu distanzieren. Peter Fonagy und Anthony Roth (2004) schlussfolgern, dass empirische Forscher einem Praktiker der Profession nicht vorschreiben können, wie er beim einzelnen Patienten vorzugehen hat. Marvin Goldfried, behavioristisch orientiert, verkündete als Präsident der Society of Psychotherapy Research ihren Mitgliedern zum Auftakt des neuen Jahrhunderts (2000), dass die Forschung noch in den „Kinderschuhen" stecke und dass Forscher und Praktiker der Profession in verschiedenen Welten lebten. Bateman und Fonagy (2004) erklären, weshalb dies so ist: weil nämlich auch Therapeuten und Teammitglieder ihre eigene Erfahrung und persönliche Bewertung, ihre lokal gegebenen Bedingungen, ihre individuellen Begabungen und Zwänge akzeptieren müssten, wenn sie ein Programm zur Behandlung eines Patienten wegen einer bestimmten Störung durchführen. Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition von Psychotherapie. Es sieht so aus, als ob die Psychotherapie zwar allgemein nicht definiert, immer aber individuell durchgeführt werden kann. Der Grund ist, dass Psychotherapie keine Form angewandter Wissenschaft ist, sondern Profession. Die Praxis der Profession Dies bringt mich zu der wichtigen Frage, was man unter einer Profession versteht. Auf keinen Fall ist sie mit empirischer Forschung gleichzusetzen. Es gibt dazu umfangreiche sozialwissenschaftliche Literatur. Lernen können wir daraus viel. Erstens müssen sich auch andere Professionen, z. B. der Berufsstand der Lehrer (Schön 1991), mit einem solchen Problem befassen, wie wir es zwischen der psychotherapeutischen Forschung und der psychotherapeutischen Praxis festgestellt haben (Wolff 1994). Wenn ein Lehrer genau das anwenden würde, was er in Form eines Universalgesetzes über Bildung, kognitive Entwicklung, Umgang mit einer Klasse und Unterrichtsorganisation gelernt hat, würde er weder über Unterrichtsprognose noch über die Wirksamkeit seiner Tätigkeit nachdenken dürfen.

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Oder wenn der Personalmanager (Svensson 2003) nur das anwenden würde, was er in einem Handbuch über die Führung einer Organisation gelesen hat, wird er nicht erfolgreich sein. Oder wenn ein Rechtsanwalt seine weinende Klientin beruhigen muss, weil deren Ehemann die Scheidung will, und er in dieser Situation lediglich nach seinen Paragraphen vorgeht, wird er seine Klientin verlieren. Auch jeder gute Handwerker hat ein Gefühl für das Material, mit dem er arbeitet (Polanyi 1958), und kann dem Architekten sagen, welche seiner Kalkulationen funktionieren werden und welche nicht. Dieses Gespür für Situationen und Materialien lässt sich schwer erklären, doch es ist ein wesentlicher Teil des praktischen professionellen Handelns in Berufen wie z. B. dem des politischen Strategen (Tänzler 2003), des Mediators (Maiwald 2003), des Sozialarbeiters (Schütze 1992) und des Arztes (Schachtner 1999). Diese Professionen haben die gleiche Art von Problemen im Hinblick auf akademisches und wissenschaftliches Wissen wie unsere Profession. Sie alle arbeiten mit Wissensbereichen, die sich nicht leicht durch Fragebogen erschließen lassen. Diese Art des Wissens scheint mit dem vergleichbar zu sein, was der berühmte u. a. an der Oxford University lehrende Philosoph Isaiah Berlin einst über die Freundschaft gesagt hat. In unseren Beziehungen zu Freunden wissen wir etwas über die andere Person, doch die Quelle dieses Wissens lässt sich nicht leicht verstehen. Wir wissen, wenn sensible Themen nicht berührt werden sollten, wann wir vom anderen Hilfe erwarten können, und wir können die Zeiten auseinanderhalten, in denen wir dies nicht tun sollten. Wir sehen die Stimmung auf dem Gesicht des anderen, doch wir haben eine Beziehung zu dieser Art von Wissen und können deshalb nicht sagen, dass wir es „anwenden". Es ist ein gelebtes Wissen, das unter bestimmten Umständen aktualisiert wird und verloren geht, wenn die Umstände sich ändern. Dieses Wissen von einer anderen Person hat nicht die Form einer symbolischen Repräsentation, es hat die Form einer aktualisierten Partizipation. Manchmal kann es verbalisiert werden, doch in den meisten Fällen beginnen wir bei diesem Versuch zu stottern. Wir haben es voll und ganz präsent, wenn der andere anwesend ist, doch wenn wir darüber reden sollen, spüren wir, wie armselig dieses Wissen wird. Diese Art des Wissens darf nicht mystifiziert werden. Es kann experimentell bestätigt werden. Schwartz und Wiggins (1987), um nur ein Beispiel zu nennen, beurteilen die Kompetenz von Therapeuten, einen weiteren Suizidversuch bei Patienten vorherzusagen. Die Autoren haben die Therapeuten ein paar Tage, nachdem der erste Suizidversuch ihrer Patienten fehlgeschlagen war, interviewt. Was die Therapeuten verbal vorhersagten, war nicht überwältigend, doch ihrem videographierten Gesichtsausdruck aus den ersten Minuten des Interviews konnte man entnehmen, dass sie weitaus besorgter aussahen, wenn sie mit Patienten mit einem hohen Risiko eines weiteren Suizidversuchs sprachen. Man konnte ihre Sorgen regelrecht auf ihrem Gesicht sehen. Die Vorhersage lag auf dem Gesicht des Therapeuten. In diesen Minuten muss sich ein bestimmtes Wissen gebildet haben, das aber unausgesprochen blieb. Bei dieser Art von Forschung wird das Objekt von Interesse nicht direkt untersucht. Man beobachtet vielmehr einen Beobachter des Objekts, an dem wissenschaftliches Interesse besteht. Man praktiziert eine Beobachtung zweiter Ordnung

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und macht sich dabei die verfeinerte menschliche Kompetenz des Objekts als Lehrer zunutze. Es geht nicht um Instruktion, sondern darum, von dem Lehrer zu lernen, den man beobachtet. Interessant ist, dass diese Art von Forschung seit 1980 noch in einem anderen Bereich durchgeführt wird. Der locus classicus ist Donald Schöns Buch „The reflecting practitioner", das den interessanten Untertitel trägt: „How professionals think in action" (1983). Donald Schön war Wissenschaftler an der Harvard University und interessiert an einer „reflektiven Wende", wie er es nannte. Er distanzierte sich von der Annahme, dass wir nicht denken könnten, während wir handelten, und bewies das genaue Gegenteil: „wie Professionelle beim Handeln denken". Zu diesem Zweck beobachtete er mehrere Professionelle, u. a. Manager, Lehrer, klinische Supervisoren. Er transkribierte die Gespräche zwischen ihnen und ihren Klienten sehr genau und entwickelte seine Befunde zu einer Theorie der Eigenart von professionellen Situationen. Und genau mit solchen Besonderheiten von Situationen müssen Professionelle umgehen lernen. Professionelle Situationen haben mehrere Besonderheiten. Erstens: Professionelle Situationen sind komplex. Also muss sich der Professionelle entscheiden, in welcher Situation er sich gerade befindet. Und er weiß, dass er die Situation nicht extern definieren kann, weil seine Entscheidung einer Definition der Situation gleichkommt. Bis er entscheidet, ist die Situation vielfaltig und „offen", und sie erwartet eine Definition; doch in einer „offenen" Situation kann man nicht handeln. Ein Aspekt therapeutischer Kunst ist, dass man eine Situation offenhält, das Ansteigen der Komplexität bis zu einem gewissen Grad aushält und den Punkt der Dringlichkeit findet, an dem man die schwebende Aufmerksamkeit aufgibt (Thomä & Kächele 1985). Die schwebende Aufmerksamkeit muss sich „niederlassen". Wenn der Therapeut zu sprechen beginnt, ist dies eine Unterbrechung seiner schwebenden Aufmerksamkeit; er definiert die Situation, d. h., er wählt bestimmte Aspekte aus und entscheidet sich dafür, andere Aspekte zu ignorieren. Und diese Entscheidung wird stark von der Interaktion mit dem Patienten beeinflusst. Spence und Dahl (1994) präsentieren eine sehr interessante Forschungsarbeit. Ihr Datenmaterial besteht aus der Transkription einer über mehr als 600 Stunden dauernden Analyse. Darunter sind Sitzungen, in denen der Patient ein Personalpronomen benutzt und kurz darauf den Analytiker erwähnt, z. B.: „Gestern, als ich hereinkam, schauten Sie irgendwie ..." Der interessante Punkt ist die Beziehung zwischen dem „Ich" und dem „Sie". Sitzungen, in denen diese Konstellation häufig vorkommt, nennen die Autoren eine „bezogene Stunde". Sitzungen, in denen dieses Phänomen nicht auftaucht, werden als „isolierte Stunden" bezeichnet. Die Forscher stellen fest, dass in „bezogenen Stunden" der Analytiker nicht nur mehr redet, sondern auch früher in der Sitzung zu reden beginnt. Die auf der sprachlichen Ebene liegende „Ich-Sie-Beziehung" scheint ein unbewusstes Mittel zu sein, die Reaktionsbereitschaft des Analytikers zu steigern, und dadurch erhöht sich die Komplexität der Situation. Zweitens: Situationen sind unsicher. Es lassen sich unendlich viele Reaktionen oder Lösungen finden, aber keine kann als definitiv „richtig" betrachtet werden. In jeder therapeutischen Sitzung gibt es viele Arten, den Kuchen anzuschneiden, und viele Einflüsse auf Seiten des Therapeuten: die Theorie, der man sich verpflichtet

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fühlt; persönliche Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat; die individuelle Tagesform. Drittens: Situationen sind nicht stabil, sie sind ein Augenblick in einem Ereignisstrom. Ärzte kennen Situationen, in denen man keine zeitaufwendigen Nachforschungen anstellen darf, sondern handeln muss. Auch Ingenieure kennen derlei Situationen. Man muss sich auf sein Gefühl, seine Erfahrung verlassen, und jeder weiß, dass Erfahrung nicht gelehrt werden kann. Wissen kann gelehrt werden. Diesen besonderen Aspekt hat Daniel Stern (2004) in seiner Theorie berücksichtigt: nämlich dass es mehr „Momente" der Veränderung gibt, als man denkt, und dass sie eben nicht mehr als Augenblicke sind. Sie fließen vorbei im Ereignisstrom, und wenn man nicht aufpasst, werden sie nicht bemerkt. Viertens: Situationen sind einzigartig. Jeder Patient ist für sich genommen ein Universum und will als solches behandelt werden. Als Therapeut lernt man in der Ausbildung, was Patienten gemeinsam haben, doch wenn man dann in die Praxis kommt, stellt man schockiert fest, dass man es mit einzigartigen menschlichen Wesen zu tun hat. Fünftens: Situationen verlangen Entscheidungen, die sich mit dem Wertesystem des Therapeuten, seinen Normen und seinem Umfeld decken müssen. Das Umfeld kann aus einem Supervisor, dem Institut, einer bevorzugten Theorie oder sonst etwas bestehen. Und ich möchte Donald Schöns Liste um eine sechste Besonderheit ergänzen. Professionelle handeln in Situationen, von denen sie selbst ein Teil sind. Das bedeutet, dass nur der Professionelle das detaillierte und flüchtige Wissen hat, sein eigenes Denken über die Situation, von der er ein Teil ist, eingeschlossen. Andere Forscher im Feld (Stichweh 1996) sind sich darin einig, dass das, was professionell Handelnde - z. B. Rechtsanwälte, Lehrer, Manager und Psychotherapeuten - tun, mit drei Merkmalen beschrieben werden kann: Professionelle beschäftigen sich mit der Lösung existenzieller Probleme ihrer Klienten; sie sprechen mit ihren Klienten über individuelle Formen von Problemen von großer Bedeutung; und dies tun sie in einem formalen Rahmen, in dem sie zugleich über sehr intime Themen auf eine äußerst individualisierte Interaktionsweise sprechen können. Wo sonst kann es geschehen, dass zwei einander fremde Personen in den ersten 20 Minuten ihrer Bekanntschaft über sexuelle Gewohnheiten sprechen, als in einem Erstinterview? Intimität, persönliche Interaktion und existenzielle Bedeutung sind die Markenzeichen dessen, was Professionelle tun. Andere Forscher haben Ärzte beobachtet, um herauszufinden, wie diese sich in solchen Situationen verhalten. Christina Schachtner (1999) hat festgestellt, dass praktische Ärzte nach einem spezifischen Denkschema vorgehen und ein spezielles sprachliches Format benutzen. Ihr Denkschema ist weder eine kategoriale Strategie „von oben nach unten" noch eine induktive Strategie „von unten nach oben". Es ist eher ein Assoziationsnetz; sie fühlen sich durch einen Patienten erinnert an das, was zuvor war; sie erlauben sich einen träumerischen Bewusstseinszustand, um Assoziationen entstehen zu lassen; und sie bewegen sich von einem Gedanken zum anderen. Beim Sprechen verwenden sie häufig Metaphern als sprachliches Instrument, mit dem sie aus vielen Blumen ein Sträußchen binden.

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An dieser Stelle können wir zu Freud zurückkehren. Er beschrieb die psychoanalytische Tätigkeit mit Metaphern aus dem Arbeitsfeld eines Chirurgen, eines Archäologen, manchmal eines Lehrers; und er empfahl, sich als Therapeut wie ein Spiegel zu verhalten. Viele haben erkannt, wie widersprüchlich Freuds Empfehlungen waren - wenn man diese als wissenschaftliche Theorie lesen würde. Wenn man sie jedoch als Theorie des professionell Handelnden liest, versteht man, dass er sich einer professionellen Strategie bedient hat. Vor diesem Hintergrund ist mein Vorschlag zu verstehen, die Welt der empirischen Forschung und die Welt der Praxis der Profession auseinanderzuhalten. Was in der empirischen Welt einen Beitrag zur babylonischen Sprachverwirrung leistet, stellt in der professionellen Welt eine Lösung dar. Man könnte sagen, dass die vielen Zungen des professionellen Pfingsten auf die babylonische Sprachverwirrung antworten. Bei so vielen Zungen muss es eine Basis der Übersetzbarkeit geben, und meiner Ansicht nach haben wir diese Basis dann erreicht, wenn wir den Schritt zur Beobachtung zweiter Ordnung tun. Bei der Beobachtung erster Ordnung herrscht Konfusion, weil man hier das Konzept „Wahrheit" so behandelt, als ob es nur eine einzige Herangehensweise gäbe. Bei der Beobachtung zweiter Ordnung sieht man allmählich, dass die Wahrheit nicht ein Ding an sich ist, dem man sich nähern kann. Sie ist eher eine Art und Weise, Dinge zu tun und zu sehen. Die Suche nach der persönlichen Wahrheit ist das, was der Psychotherapeut und sein Patient gemeinsam tun, und darüber wird man nie unabhängiges Wissen gewinnen. Doch man kann beobachten, wie sie dies tun, z. B. folgendermaßen (Cox & Theilgaard 1987, S. 78 f.): Eine Gruppe forensischer Patienten, Gewalttäter, die meisten von ihnen Borderline-Patienten, und ein psychotischer Patient sitzen im Aufenthaltsraum. Als der Therapeut den Raum betritt, hört er ihre begeisterte Unterhaltung über die Fernsehsendung, d. h. die Olympischen Winterspiele, die sie gerade anschauen. Ihre Aufmerksamkeit ist auf den Gewinner der Goldmedaille im Eisschnelllauf gerichtet. Cox und Theilgaard bemerken dazu: „Nachdem ich ihren fortgesetzten überschwänglichen Erinnerungen eine Weile zugehört hatte, wurde eine Frage gestellt. Und in der restlichen Stunde konnte der Therapeut so gut wie keine Lücke finden, um auch zu Wort kommen zu können! Trotzdem stand zweifellos fest, dass am Ende der Sitzung alle Patienten über ihre schmerzlichen Erinnerungen gesprochen hatten. Und dies hatten sie mit einer solchen Tiefe getan, die ohne die mehrdeutige, aber stabilisierende Wirkung einer wandelbaren Metapher unvorstellbar gewesen wäre" (S. 79).

Die Frage, die der Therapeut gestellt hatte, lautete: „Wer wird wohl die Goldmedaille im Schnelllauf auf dünnem Eis gewinnen?" (S. 79). Ich führe dieses wunderbare Beispiel deshalb an, weil es mir zeigt, dass sich das Tun des Therapeuten sehr wohl beobachten lässt, aber auf verhaltensbezogener Ebene nicht gelehrt werden kann. Die Frage des Therapeuten impliziert mehrere Aspekte: Es gibt das offenkundige Thema, über das die Gruppenmitglieder sprechen. Dieses offenkundige Thema wird als Anspielung auf ihr unbewusstes Wetteifern gesehen. Und da ist die Präsenz des Therapeuten und seine schwierige Aufgabe, über schwierige Dinge zu reden. Mit seiner Frage gibt der Therapeut eine Interpretation der unbewussten Situation, und zugleich lädt er die Gruppenmitglieder

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ein, einen Schritt auf dem dünnen Eis ihrer Lebensgeschichte zu tun. Diese Art der Herstellung wandelbarer Metaphern kann nicht definiert werden, weil sich Kreativität nicht per definitionem festlegen lässt. Sie ist Teil der äußerst idiosynkratischen Erlebensweise des Therapeuten und kann deshalb nicht manualisiert werden. Man kann keine Situationskategorien definieren, auf die bestimmte Metaphern anzuwenden wären; und folglich kann man keine empirische Interventionsforschung durchführen. Wir müssen nach anderen Forschungsmethoden suchen, die unsere professionellen Leistungen genauso inspirieren wie das oben erwähnte Beispiel. Für diese Art von Forschung ist die Arbeit des Finnen Peräkylä (2004) exemplarisch. Er will wissen, wie Psychoanalytiker ihre Interpretationen vorbereiten und in welchen Situationen sie diese präsentieren. Deshalb hat er eine Reihe therapeutischer Interaktionen mit Hilfe der so genannten Konversationsanalyse, einer von Harvey Sacks in den 1970ern entwickelten mikroanalytischen Methode der Analyse menschlicher Interaktion (Silverman 1998; Donellon 1996), untersucht. Er stellt fest, dass Psychoanalytiker auf besondere Weise strukturelle Identitäten einer Situation berücksichtigen. Der Patient spricht von seiner Kindheit, und der Therapeut macht eine Bemerkung über die Art der Bezogenheit zu den Kindheitsfiguren. Ein paar Minuten später redet der Patient von einem Streit mit seiner Frau, und wiederum lenkt der Therapeut seine Aufmerksamkeit auf die Beziehungsstruktur. Und wenn die Dinge gut laufen, wird er noch hinzufügen, dass sich die gleiche Beziehungsstruktur in der Therapeut-Patient-Beziehung finden lässt. Hier könnte man einwenden, dass dies nichts Neues ist. Doch das Gute daran ist, dass es sich dabei um eine Art des analytischen Zuhörens handelt, das nun empirisch bestätigt wird. Und überraschend daran ist, dass der Forscher kein Psychoanalytiker ist, sondern ein Sozialwissenschaftler, der sich normalerweise dafür interessiert, wie Menschen in Situationen außerhalb des therapeutischen Settings miteinander sprechen. Und er findet das, was Karl Menninger vor vielen Jahren als das „Dreieck der Erkenntnis" bezeichnet hatte. Wenn man die strukturellen Identitäten einer Kindheitssituation, einer konkreten Situation der Außenwelt und der Übertragung hat, dann ist der Punkt erreicht, an dem man die schwebende Aufmerksamkeit aufgeben und sich „niederlassen" kann Ich finde es interessant, dass sich in den letzten Jahren eine Forschung entwickelt hat, deren einziger Nachteil darin besteht, dass sie sich wenig um die schon geleistete Arbeit der professionellen Beobachter und um die Studien zum mikroanalytischen Austausch in den Sozialwissenschaften kümmert. Dabei denke ich an die sehr gute Arbeit von Daniel Stern (2004) und seiner Bostoner Forschungsgruppe. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, woher diese Art des interpersonalen Wissens stammt, was dann von Beobachtern zweiter Ordnung beobachtet werden kann, folgt man am besten einem von Sterns (2004) glänzenden Beispielen. Auch dieses Beispiel „führt uns auf das Eis": Ein junger Mann und eine junge Frau verabreden sich zum ersten Mal zu einem Spaziergang an einem Winternachmittag. Sie kennen einander nicht sehr gut. Auf ihrem Spaziergang kommen sie an einer Eisbahn vorbei und beschließen, eislaufen zu gehen. Beide sind unerfahren im Eislaufen. Auf geliehenen Schlittschuhen

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bewegen sie sich unsicher auf dem Eis und mühen sich schwerfällig mit einem Tanz ab. „Fast fällt sie nach hinten. Er greift nach ihr und stabilisiert sie. Dann verliert er das Gleichgewicht und kippt nach rechts. Sie streckt eine Hand nach ihm aus, und er erfasst diese. (Beide nehmen neurologisch und empirisch an dem Körpergefuhl teil, das auf den anderen gerichtet ist. Und beide wissen in dem Augenblick, dass der jeweils andere weiß, wie es sich im Körper des anderen anfühlt.) Schritt um Schritt bewegen sie sich gemeinsam nach vorne, halten sich an den Händen mithilfe der unterschiedlichsten spontanen Muskelkontraktionen, die von einer Hand und einem Arm ausgehen und in denjenigen des anderen übergehen, um zusammenzubleiben, sich zu stabilisieren und zu bewegen."

Nach dieser lebhaften Beschreibung sagt Stern: „Über eine Reihe gemeinsamer Gefuhlsreisen sind sie stellvertretend im Körper und Geist des anderen gewesen" (Stern 2004, S. 174). Meiner Ansicht nach ist die Formel der „gemeinsamen Geftihlsreise" genau zutreffend. Wie kann man dieses Phänomen in eine solche Formel kleiden? Ist die Rede davon „im Körper und Geist des anderen sein" nun eine Metapher oder eine empirische Beschreibung? Wenn es eine Beschreibung ist - dann von welcher externen Realität? Wie kann man seine gängigen Fähigkeiten, mit deren Hilfe man die Realität überprüft, anwenden? Hier hat man mit einer Beobachtung zweiter Ordnung kein Problem. Man kann bei diesem Tanzpaar sehen, wie es gemeinsam etwas praktiziert und zugleich eine neue und gemeinsame Realität konstruiert. Diese Fähigkeit, neue und einzigartige gemeinsame Realitäten zu schaffen, passt zu meiner Beschreibung dessen, was Professionelle tun. Ihr Tun ist einzigartig, individuell, interaktiv, und es hat eine existenzielle Dimension. Doch eine Profession ist keine Liebesgeschichte, und genau dieser Unterschied macht natürlich einen Unterschied. Wie wir jedoch von Freud gelernt haben, ist die therapeutische Profession ohne eine Art von Liebe, die die Erschaffung wandelbarer Metaphern ermöglicht, überhaupt nicht möglich. Diese professionelle Kompetenz scheint Wurzeln in der Evolution zu haben, wofür ich nur ein Beispiel anfuhren will. Der Physiker Wolfram Schommers (2002, S. 159) hat das Verhalten der Schmetterlingsraupe aus Assam, biologisch als Attacus edwardsii bezeichnet, beschrieben. Diese Raupe trennt mit ihren Zähnen ein Blatt vom Baum, fixiert aber das Blatt zuvor mit einem gesponnenen Faden, damit es nicht herunterfallt. Das Blatt vertrocknet, rollt sich zusammen und bildet eine ideale Röhre oder einen Kanal, um hineinzukriechen und dort die Eier abzulegen, damit diese sich zu einem Falter entwickeln. Doch zu leicht wird das trockene Blatt braun und könnte unter den grünen Blättern von einem Vogel bemerkt werden, der es genauer untersuchen und schnell die wohlschmeckende Larve verspeisen könnte. Die Fortpflanzung dieser Tierart wäre also in höchster Gefahr. Und was tut der Attacus edwardsii? Seine Lösung sieht so aus, dass er weitere fünf oder sechs Blätter abbeißt und diese um die gefüllte Blattröhre herum fixiert. Ein Vogel, der diese Attrappe untersucht, würde keine Larve finden und wäre nicht motiviert, weitere Blätter zu erforschen. Die evolutionäre Intelligenz dieses Tieres ist von besonderer Art. Um zu überleben, muss es die Reaktion des Vogels antizipieren und sich genauso anpassen, wie es das Tanzpaar auf dem Eis in Sterns Beispiel tut. Es ist eine Form der Interaktion, in der die Antizipation von Ereignissen, die noch nicht eingetreten sind,

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eine wichtige Rolle spielt. Vielleicht könnte man mit Daniel Stern sagen, dass auch in diesem Fall der eine im Körper und Geist des anderen ist. Die Fähigkeit des „Gedankenlesens" ist ein wichtiger Faktor (Meltzoff et al. 1999; Tomasello 2001, 2003). Die Bostoner Forschungsgruppe hat dafür den Ausdruck „synchronisiert sein" geprägt. Die Fähigkeit, sich mit unterschiedlichen Menschen auf individuelle Weise synchronisieren zu können, d. h. mit ihnen in großer Vertrautheit zu agieren, ohne eine Liebesbeziehung zu ihnen zu haben, und sich als Teil der Situation zu verstehen, ist das, was unseren Beruf als Profession qualifiziert. Und genau dies differenziert ihn vom wissenschaftlichen Bemühen der empirischen Art. Vor 20 Jahren schrieb Hans Loewald, der in der entstehenden Szene der relationalen Psychoanalyse in New York um Stephen Mitchell mit vielen anderen eine wichtige Rolle gespielt hat, ein paar Sätze, die ich hier zitieren möchte: „Darauf zu beharren, dass die analytische Tätigkeit streng wissenschaftlich ist (und nur wissenschaftliche Ergebnisse und Methoden verwendet), heißt, dass man sie mit der Würde der Wissenschaft vereint. Für Freud war der Wissenschaftler die am höchsten in Erscheinung getretene Form der menschlichen Entwicklung" (Loewald 1986, S. 217).

Freud wollte das magische und religiöse Denken überwinden. Doch Loewald gibt dieser Intention eine kritische Wendung: „Es ist nicht so einfach zu verstehen, weshalb ein Forschungsprojekt einen therapeutischen Effekt auf seinen Gegenstand haben sollte."

Vorsichtig bezweifelt Loewald, dass dem von Freud privilegierten Junktim vom Heilen und Forschen automatisch ein therapeutischer Wert zugeschrieben werden kann. Etwas hat sich geändert. Wie wir wissen, erfordert die empirische Forschung heute völlig andere Qualifikationen als diejenigen, die man als Therapeut oder Psychoanalytiker hat. Vergleicht man die Tätigkeit des empirischen Forschers mit der Tätigkeit des Therapeuten, dann stellt man fest, dass beide völlig verschiedene Fragestellungen verfolgen, unterschiedliche Strategien haben und unterschiedliche Lösungen anstreben. Ferner ist ein neuer und moderner Forschertypus entstanden, der nicht psychologisch ausgerichtet ist, sondern Informatik, Linguistik oder Mathematik studiert hat und der empirisch forschen, aber nicht psychotherapeutisch tätig sein will. Aus dieser Situation kann weder der eine noch der andere für sich folgern, dem jeweils anderen überlegen zu sein. Häufig wird die Metapher der Ehe zwischen Praxis und Forschung benutzt, doch unter heutigen Bedingungen kann dies nur dann eine glückliche Ehe werden, wenn beide gleiche Rechte haben. Dies erweckt in mir den Eindruck, dass wir Freuds Junktim in Form einer institutionalisierten Zusammenarbeit noch einmal überdenken müssen. Dazu meine abschließenden Folgerungen. Schlussfolgerung Zum Glück nähern sich einige empirische Forscher wie Orlinsky und professionelle Praktiker heute wieder einander an. Eine Denklinie hat der britische Chemiker und Philosoph Michael Polanyi aufgegriffen, der beobachtet hat, wie Wissenschaftler nicht nur Datenmaterial anhäufen, sondern auf Vorahnungen und Visionen basierte Theorien formulieren. Sie ignorieren Fragen, die sie auf dem Hintergrund ihrer intuitiven Visionen nicht beantworten können. Polanyi zieht dar-

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aus den Schluss, dass sich Wissenschaftler von einer unausgesprochenen impliziten, aber dynamischen Vision verborgener Realität leiten lassen. Er hat eine Art Beobachtung der zweiten Ordnung praktiziert, d. h., er hat Wissenschaftler bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit beobachtet. Und er hat eine Theorie der Intuition formuliert und Intuition als eine Fähigkeit gedeutet, Kohärenz wahrzunehmen. Ohne dieses gesteigerte Kohärenzgefühl könne kein Problem formuliert und keine Lösung gefunden werden. Wenn man die Berichte von Physikern über die Entdeckung der Quantentheorie liest (Malin 2004; Görnitz & Görnitz 2002), bekommt man den Geist der Intuition zu spüren. In diesen Bereichen entwickelt sich ein neues Verständnis von Forschung, das von der Forschung, wie sie im therapeutischen Forschungsfeld praktiziert wird, nicht weit entfernt ist. Wissenschaftler haben das, was Polanyi als „stillschweigendes Wissen" bezeichnet. Theodore L. Brown, Professor für Chemie, beschreibt stillschweigendes Wissen: „Diese Art des Wissens gewinnt man durch Erfahrungen in der Welt; es bildet die weitgehend unbewusste (!) Basis eines Großteils unseres Denkens und Handelns. Das stillschweigende Wissen ist nicht kommunizierbar; auch wenn wir es tagtäglich benutzen, vermitteln wir dieses Wissen nicht explizit - weil wir dies nicht können." Wenn man Wissenschaftler bei ihrer Arbeit beobachtet, erkennt man, wie intensiv sie z. B. durch den häufigen Gebrauch von Metaphern auf dieses unbewusste Wissen zurückgreifen, dessen sie sich nicht bewusst sind (Knorr Cetina 1995). Lässt sich Intuition definieren? Ja, der Kognitionswissenschaftler A. S. Reber (1999) gibt eine Definition, die unseren Interessen als Psychoanalytiker ziemlich nahe kommt. Intuition ist seiner Meinung nach: „ein kognitiver Zustand, der unter spezifischen Bedingungen hervortritt und dahin gehend wirkt, dass er einem Individuum hilft, Entscheidungen zu treffen und sich in bestimmten Handlungskategorien zu bewegen. Ein intuitives Gefühl zu haben, was richtig und angemessen ist, eine vage Vorstellung von dem Ziel zu haben, zu dem ein langer Denkprozess führen kann, ,den Punkt zu erfassen', ohne dass man verbalisieren könnte, was da erfasst worden ist, sind Fähigkeiten, die man durch implizite Lernerfahrungen und durch die Entwicklung der erforderlichen Basis repräsentativen Wissens gewinnt, um solche Entscheidungen treffen zu können" (S. 233).

Wenn ein Forscher seine Intuition gebraucht, ist das vergleichbar der klugen List des Odysseus, der sich, um nicht den verführerischen Gesängen der Sirenen zu erliegen, an den Mast des Schiffes binden und seinen Gefährten die Ohren mit Wachs verschließen ließ. Wenn wir die doppelte Gefahr, angebunden oder taub gemacht zu werden, vermeiden wollen, sollten wir in dem Versuch, Forschung und Praxis zu integrieren, zwei Ebenen auseinanderhalten. Auf der allgemeinen Ebene ist meine Formel angesiedelt, dass Forschung und Profession unterschiedliche Systeme sind, die füreinander Umwelten bilden. Dies impliziert, dass die Systeme die unterschiedlichen Welten, in denen sie leben, beachten und respektieren. Auf dieser allgemeinen Ebene findet man jedoch die unbewusste Phantasie, dass die Psychotherapie von empirischer Forschung gesteuert werden könnte - und diese Phantasie hat sich als zerstörerisch erwiesen. Die psychotherapeutische Praxis wird nicht von der empirischen Forschung bestimmt. Die Profession der Psychoanalytiker sollte empirisch informiert sein, und empirische

Buchholz: Profession und empirische Forschung - Souveränität und Integration

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Forscher sollten umgekehrt klinisch orientiert sein - und nicht nur methodologisch (Lambert 2004). Psychoanalytiker und Forscher müssen miteinander kommunizieren, weil sie sich in verschiedenen Systemen bewegen. Gegenseitige Unterrichtung führt dazu, dass beide Bereiche als souverän geschaffen und erhalten werden. Souveränität möchte ich als die Fähigkeit bezeichnen, wechselseitige Abhängigkeit anzuerkennen. Als Professionelle sind wir abhängig von Patienten, von wissenschaftlichem Denken, das auf empirischer und sonstiger Forschung beruht, um unsere Ansichten korrigieren und uns mit neuen Ideen versorgen zu können. Forschung ist abhängig von Theorien, von Drittmitteln, von Praktikern und deren Teilnahme mit Patienten an Studien. Souveränität kann nicht bedeuten, dass man herrschen will, sondern dass man Kommunikation akzeptiert. Kommunikation ist nur dann sinnvoll, wenn wir den anderen Bereich auf nicht hierarchische Weise akzeptieren und von ihm akzeptiert werden. Die psychotherapeutische Praxis kann nicht die Forschung dominieren, und die Forschung kann nicht die Praxis dominieren. Wo hierarchische Dominanz war, soll Kommunikation werden. Ansonsten laufen wir Gefahr, eine Art von Forschung zu haben, vor der uns William Henry und andere gewarnt haben; sie würde uns nicht nur taub machen, sie würde auch die Sirenen zum Verstummen bringen. Neben der allgemeinen Ebene gibt es die Ebene der individualisierten Praxis. Auch auf dieser Ebene müssen wir gegenseitig unsere Souveränität akzeptieren. Die Kommunikation auf dieser Ebene sollte unter einem besonderen Thema stehen: Wie kann man als Analytiker seine Intuition so gestalten, dass der Patient davon profitiert? Wir müssen nach einer langen erfolglosen Diskussion über einen „gemeinsamen Nenner" akzeptieren, dass es ohne Person oder, besser gesagt, ohne Persönlichkeit keine „Methode" gibt. In der Forschung könnte vielleicht Interesse daran bestehen, mit welcher Art von Ausbildung man gute Psychotherapeuten hervorbringen kann, also ein „coming out": seine intuitive Kraft und sich selbst zeigen dürfen! Die Praktiker unserer Profession sollten dazu ermuntert werden, in klaren Konzepten zur Forschung beizutragen und ihr Denken so klar wie möglich zu demonstrieren. Doch ihre Beiträge sollten nicht nur nach den Kategorien bewertet werden, die ausschließlich dem Forschungsbereich entnommen sind. Mit dem Begriff „Theorie" verbinden beide Felder, die Praxis und die Forschung, völlig unterschiedliche Vorstellungen. In der empirischen Forschung kann man eine Theorie testen, sie muss Vorhersagen machen können und wird nach wahr oder unwahr bewertet. In der Forschung braucht man keine besondere persönliche Erfahrung, um verstehen zu können, um was es in der Theorie geht. In der Profession aber braucht man Theorie, um die eigene Erfahrung verstehen zu können (Lear 2003). Hier hat „Theorie" eine andere Bedeutung. Theorie ist hier Instrument subtiler Verfeinerung unserer Fähigkeit, im Körper und im Geist eines anderen zu sein. In den Humanwissenschaften ist Theorie nichts anderes als eine Form der Intuition, die sozusagen ihre Geduld verloren hat.

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.Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse ..." ? Zur störungsbezogenen Indikation von Psychotherapieverfahren, die unter Berufung auf die Wissenschaft vertreten wird, in der Wissenschaft selbst aber keine Grundlage findet* Inge Frohburg Ausgangslage Psychotherapeuten erfahren in verschiedenen Zusammenhängen eine störungsbezogene Bewertung und Indikation ihrer Verfahren und sehen sich - zum großem Teil mit beträchtlichem Unbehagen! - der Tatsache ausgesetzt, dass aus diesem störungsbezogenen Psychotherapieverständnis weitreichende und folgenschwere Schlussfolgerungen abgeleitet werden. Das ist beispielsweise der Fall, - wenn sich der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie bei der Prüfung der Wissenschaftlichkeit von psychotherapeutischen Verfahren auf „Anwendungsbereiche" bezieht, denen er Störungsbilder der ICD-10 zugrunde legt und für die er jeweils gesonderte Wirksamkeitsnachweise erwartet (WBP 2000, 2002, 2003a), - wenn in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ausgeschriebenen Förderschwerpunkt Psychotherapieforschung die Entwicklung und Wirksamkeitsprüfung von störungsspezifischen Psychotherapieverfahren und damit im Zusammenhang weitere Psychotherapie-Leitlinien und Behandlungsmanuale fur spezielle nach ICD-10 definierte Störungsbilder vorgesehen werden (BMBF 2004, WBP 2003b) und - wenn es in Überlegungen zu sozialrechtlichen Neuregelungen darum geht, bestimmte Psychotherapieverfahren nur noch segmentiert für einzelne störungsbezogen definierte Indikationsbereiche zuzulassen und die kassenärztliche Abrechnungsbefugnis für einzelne Psychotherapieverfahren diagnosebezogen einzuschränken (Hess 2005). Nun ist weitgehend unstrittig, dass es sinnvoll und notwendig ist, Psychotherapie als heilkundliche in die medizinische Versorgung integrierte Behandlungsmöglichkeit indikationsbezogen anzuwenden. Eine Indikation für Psychotherapie ist nach den vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen beschlossenen „Psychotherapierichtlinien" im Versorgungskontext der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann gegeben, wenn Patienten unter „seelischen Krankheiten" leiden, die ihrerseits als krankhafte Störungen der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen verstanden werden. Zugleich muss als allgemeine Indikationsbedingung gesichert sein, dass die Motivationslage des Patienten, seine Umstellfahigkeit oder Eigenheiten seiner neurotischen Persönlichkeitsstruktur und seiner Lebensumstände 1 Dem Beitrag liegt ein Manuskript zugrunde, das zwischenzeitlich im Psychotherapeutenjournal, Heft 2/2006, S. 130-139 veröffentlicht worden ist. In dieser Fassung werden die einzelnen hier angesprochenen Aspekte ausführlicher und mit umfangreichen Literaturverweisen dargestellt.

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dem Behandlungserfolg nicht entgegenstehen (Rüger, Dahm & Kallinke 2005, S. 30). Die eingangs genannten Psychotherapiedokumente basieren auf einem etwas anderen Indikationsverständnis. Die in den Psychotherapierichtlinien allgemein gefasste Indikationsstellung „Psychotherapie bei seelischen Krankheiten" weiterführend und ergänzend, wird offenbar angenommen, dass unterschiedliche symptomatische Ausprägungen seelischer Krankheiten auch unterschiedliche psychotherapeutische Vorgehensweisen, also unterschiedlichen Psychotherapieverfahren, nahelegen. Mit Bezug auf die diagnostizierte Störung (Symptomatik) soll deshalb nicht nur entschieden werden, ob „Psychotherapie" indiziert ist, sondern zugleich, welches psychotherapeutische Verfahren angewendet werden soll. Die pauschal formulierte Behandlungsmaxime „Indikation von Psychotherapie" wird damit ausgedehnt auf „Indikation von Psychotherapiever/a/zre«" und der Begriff „Indikation" zugleich eingeengt auf ^törungsbezogene Indikation". In dieser Situation ist zu fragen, ob der in Anwendung gebrachte Störungsbezug tatsächlich ein angemessenes, wissenschaftlich begründetes Kriterium bei der Bewertung von Psychotherapieverfahren und hinsichtlich verfahrensbezogener (differentieller) Indikationsentscheidungen ist. Dieser Problemstellung wird im Folgenden unter Bezug auf theoretische Aspekte, auf Ergebnisse empirischer Forschungsarbeiten und auf Erfahrungen klinisch tätiger Psychotherapeuten nachgegangen. Zur kritischen Reflexion des störungsbezogenen Indikationsverständnisses ... aus theoretischer Sicht Ein störungsbezogenes Psychotherapieverständnis entspricht einem traditionellen ätiologisch orientierten medizinischen Krankheitsmodell. Es geht davon aus, dass Krankheiten auf jeweils charakteristische Ursachen zurückzuführen sind, die durch unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten beseitigt oder gebessert werden können (Wampold 2001). Die Indikationsfrage heißt dann: „ Welche Behandlungsmaßnahme ist für die Beseitigung welcher Krankheit angezeigt" („selektive bzw. differentielle Indikation")? Ein solches störungsbezogenes Indikationsverständnis findet sich in vielen Lehrbüchern zur Klinischen Psychologie und Psychotherapie, indem die anwendungsorientierten Teile störungsbezogen in Kapitel gegliedert sind, die jeweils „Psychotherapie bei ..." beschreiben. Das Gleiche gilt für diverse Fallbücher, die Kasuistiken anhand der ICD-Klassifikationen darstellen und zudem für immer wieder neue Bücher, die Psychotherapie bei Angststörungen, Borderline-Störungen, Persönlichkeitsstörungen, bei Zwängen und Phobien, Essstörungen, Alkoholabhängigkeit usw. zum Inhalt haben. Mit dieser Art der Darstellung wird von den jeweiligen Autoren ein störungsbezogenes Indikationsverständnis von Psychotherapie dokumentiert, tradiert und dem Leser nahegelegt. Das sog. medizinische Krankheitsmodell mit seiner linearen, monokausalen Ausrichtung wird heute jedoch - auch in der Medizin selbst - zunehmend in Frage gestellt, und zwar zugunsten eines multimodalen konditionalen Krankheitsverständnisses, nach dem Krankheit wesentlich auch von den Lebensumständen und deren Interpretation durch den betroffenen Patienten abhängt und nach dem der Arzt

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selbst zum diagnostischen Instrument und zum therapeutischen Agens wird (SVR 2001). Diese alternative Sichtweise gilt in besonderem Maße für den Bereich der seelischen Krankheiten und der Psychotherapie, die unterschiedliche und vielfaltige Erlebens- und Verhaltensaspekte des Menschen berühren. Hier reichen die auf wenige Merkmale reduzierten Beschreibungen - wie die Kennzeichnung des Patienten durch seine Störung - nicht aus. Sie müssen vielmehr durch differenziertere, der Komplexität des individuellen Erlebens und Verhaltens Rechnung tragende Beschreibungsmodalitäten ersetzt werden. Psychische Störungen und ihre psychotherapeutisch induzierten Veränderungen werden deshalb, dem heutigen Wissensstand entsprechend, in engem Zusammenhang mit der Person des Patienten, seinen biographischen Erfahrungen und seiner aktuellen Lebenssituation gesehen und einem multimodalen (mehrdimensionalen, komplexen) biopsychosozialen Krankheitsmodell zugeordnet. Mit einfachen Worten: „Psychotherapeuten sehen nicht Störungen, sondern Menschen mit Störungen." Die erweiterte und im Detail von verschiedenen Autoren variierte Indikationsfrage lautet dann: „Welches Therapieverfahren ist bei welchem Patienten mit welchen Störungen durch welchen Therapeuten und zu welchem Zeitpunkt mit welchen Zielsetzungen angezeigt?" (zuerst Kiesler 1969). Eine solche differenziertere Sicht soll die der bisherigen Psychotherapieentwicklung abträglichen „Uniformitätsmythen" überwinden (Kiesler 1966) und im speziellen Fall die Indikationssicherheit erhöhen bzw. Fehlindikationen reduzieren. Dementsprechend wird auch in den kassenärztlichen Psychotherapierichtlinien darauf hingewiesen, dass in der Praxis und für die Praxis die bereits genannten Behandlungsindikatoren ebenso zu berücksichtigen sind, wie es nötig ist, die „die Differentialindikation nicht nur an der Persönlichkeit des Patienten und der Art seiner psychischen Erkrankung, sondern ebenso sorgfaltig an den Gegebenheiten des Umfeldes und der sozialen Situation des Patienten zu orientieren" (Rüger, Dahm & Kailinke 2005, S. 30). ... aus empirischer Sicht Obwohl es seit Langem eine große Anzahl von empirischen Indikationsstudien gibt, ließen sich keine eindeutigen Zusammenhänge zwischen störungsbezogenen Indikationskriterien und psychotherapeutischen Ergebnissen ermitteln. Die aus unterschiedlichen Untersuchungen stammenden Einzelergebnisse sind inhaltlich oft widersprüchlich und zusammenhanglos. Letztendlich finden sich in allen Störungsgruppen Patienten, die mit unterschiedlichen Psychotherapieverfahren mehr oder weniger erfolgreich behandelt wurden, und alle Psychotherapieverfahren fuhren bei störungsspezifischer Anwendung zu mehr oder weniger guten Therapieergebnissen. Das bedeutet, dass sich aus der empirischen Forschung bis heute keine konkreten Vorstellungen darüber ableiten lassen, welches Psychotherapieverfahren für Patienten mit welchen Störungen erfolgversprechender) ist (zuletzt Lambert & Ogles 2004). Bei der Frage nach störungsspezifischen Therapieeffekten ist kritisch zu bedenken, dass die nach der Symptomatik gebildeten Störungsklassen (z.B. der ICD) keine in sich homogenen Gruppierungen darstellen. Das belegen u. a. empirische

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Befunde zur Indikation der Gesprächspsychotherapie bei psychosomatischen Patienten. Schon vor längerer Zeit ließ sich zeigen, dass Gesprächspsychotherapie für einige der psychosomatisch Erkrankten ein erfolgversprechendes Behandlungsangebot darstellt, für andere - nämlich die alexithymen psychosomatischen Patienten - nicht. Das hängt damit zusammen, dass nur etwa ein Fünftel der psychosomatischen Patienten die für diese Patientengruppe charakteristisch gehaltene Alexithymie zeigen, ca. zwei Fünftel sind ähnlich wie neurotische Patienten unter den Bedingungen einer Gesprächspsychotherapie zur differenzierten Wahrnehmung, Reflexion und sprachlichen Codierung emotionaler Erlebensinhalte, d. h. zu einem hohen Ausmaß an Selbstexploration, fähig und erreichen bei Abschluss einer Gesprächspsychotherapie positive Behandlungsergebnisse, weitere zwei Fünftel bilden eine Zwischengruppe mit fraglichen Therapieeffekten. Deshalb sind die Wirksamkeitsaussagen, die aus globalen, die Gruppe der Psychosomatiker insgesamt betrachtenden Effektivitätsstudien abgeleitet werden, nicht zutreffend: Erfolge und Nichterfolge in den Untergruppen mittein sich im Extremfall zu null und lassen dann die Gesprächspsychotherapie als für die Behandlung von psychosomatischen Patienten als nicht indiziert erscheinen. Diese falsche Aussage ist ein Artefakt einer undifferenzierten Fragestellung und einer darauf bezogenen methodisch falschen, weil sachlich unangemessenen Untersuchungsplanung (Frohburg & Helm 1984). Hier zeigt sich an einem Beispiel deutlich, dass die Indikationsfrage „Psychotherapieverfahren X für Patienten der Störungsgruppe Y - ja oder nein?" zu kurz greift. Da sich die Datenvarianzen der Effektivitätsmaße durchgängig allein mit Bezug auf die Störungsspezifik der Patienten nur unzulänglich aufklären ließen, ist weiterhin in Betracht zu ziehen, dass es über die Symptomatik bzw. die störungsbezogene Diagnose hinausgehende indikationsrelevante Kriterien gibt, deren Stellenwert es im Einzelnen zu eruieren und bei Indikationsaussagen bzw. -entscheidungen zu berücksichtigen gilt. Untersucht wurde in diesem Zusammenhang z. B. die Aussagekraft des vom Patienten empfundenen Leidensdruckes, seiner Veränderungsbereitschaft und seiner Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Indikationsforschung erfolgte deshalb in den letzten Jahrzehnten - dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand mit seinem multimodalen Krankheits- und Therapieverständnis entsprechend - zunehmend differenzierter. Es gehört seit Längerem zum methodischen ABC der Psychotherapieforschung, indikative Ausgangsbedingungen, psychotherapeutische Prozessmerkmale und Effektivitätskriterien in einem wechselseitigen Zusammenhang zu analysieren und dabei zusätzlich zu berücksichtigen, dass jeder dieser Bereiche zu untergliedern ist. Damit geht es auch nicht mehr um aus einzelnen Merkmalen (z.B. Symptomatik, Diagnose) abgeleitete Indikationsempfehlungen und Erfolgsprädiktionen, sondern um den indikativen bzw. prognostischen Wert von Datenprofilen. Entsprechende Forschungskonzepte sind in den ergebnisreichen komparativen Indikations- und Effektivitätsstudien von Grawe & Plog 1976, im Hamburger Kurzzeittherapie-Vergleichsprojekt von Meyer u.a. 1981 und in der Berner Therapievergleichsstudie von Grawe 1988, Grawe, Caspar & Ambühl 1990 umgesetzt worden. In den „Psychotherapie-Richtlinien" findet sich im Übrigen hinsichtlich der Indikationsempfehlungen von Psychotherapieverfahren angesichts der unbefriedi-

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genden empirischen Befundlage konsequenterweise die Feststellung, dass verfahrensdifferentielle Indikation Sache der Berufsausübung ist und der weiteren Forschung anheim gestellt bleibt (Rüger, Dahm & Kallinke 2005, S. 31). ... aus klinischer Sicht Indikation zur Psychotherapie wird in der Praxis selten nur aus der Störung des Patienten abgeleitet. Bei gleicher Diagnose sind für praktizierende Psychotherapeuten im Rahmen der Indikationsstellung z. B. die Dauer der Symptomatik und ihr Chronifizierungsgrad relevant, weiter die Therapiemotivation und die Veränderungserwartungen und daraus ableitbar die zu erwartende „Compliance" des Patienten. Praktiker weisen zudem darauf hin, dass psychische Symptome und Störungsbilder oft diffus und damit schwer klassifizierbar sind und dass sie häufig auch Wandlungsprozessen unterliegen. Neben der Beschreibung und Klassifikation der psychischen Störung ist für sie nicht selten auch die Ableitung der Störungsätiologie mühsam. Unzulänglichkeiten der ätiologischen Betrachtungsweise in den Berichten an die Gutachter, die zur Kostenübernahme der Psychotherapie durch die Krankenkassen erforderlich sind, stellen die am häufigsten beobachtete Schwierigkeit dar (Rüger, Dahm & Kallinke 2005). Insbesondere aber machen praktisch tätige Psychotherapeuten im Zusammenhang mit störungsbezogenen Indikationsentscheidungen auf die häufige Komorbidität psychischer Störungen aufmerksam. Dem Bundesgesundheitssurvey 1998 ist in diesem Zusammenhang zu entnehmen, dass 48% derjenigen, bei denen nach DSM-IV oder ICD-10 eine voll ausgeprägte psychische Störung diagnostiziert wurde, zum Zeitpunkt ihrer Untersuchung angaben, unter zwei oder mehr psychischen Störungen zu leiden (Wittchen & Jacobi 2002). Andere Autoren sprechen sogar davon, dass in der therapeutischen Praxis eine allein auftretende Störung eher die Ausnahme als die Regel ist (Westen, Novotny & Thompson-Brenner 2004). Zusammenfassung Werden die theoretischen Überlegungen, die empirischen Forschungsergebnisse und das Expertenwissen klinisch tätiger Psychotherapeuten zusammengefasst, dann ergibt sich übereinstimmend und eindeutig, dass das ausschließlich störungsbezogene Indikationsverständnis für die Anwendung psychotherapeutischer Verfahren unangemessen und unzureichend ist. An psychopathologischen Symptomen (Syndromen) orientierte diagnostische Klassifikationen (wie die ICD, das DMS oder die vom WBP definierten Anwendungsbereiche) bilden keine valide Grundlage für Indikationsaussagen und Effektprognosen von Psychotherapieverfahren . Das bedeutet zugleich, dass störungsbezogene Bewertungen einzelner Psychotherapieverfahren nicht dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechen. Und das wiederum bedeutet, dass (die tradierten) Fragen nach störungs-

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bezogenen Indikationen bzw. Effekten der einzelnen Psychotherapieverfahren nicht (mehr) gestellt werden sollten.2 Wissenschaftlich begründete Indikationsmodelle Als wissenschaftlich besser begründete Alternativen zum störungsbezogenen Indikationsmodell wurden - wie bereits kurz erwähnt - mit Bezug auf das biopsychosoziale Krankheitsverständnis verschiedene komplexere Indikationsmodelle entwickelt und in der Praxis erprobt (ausführlicher in Frohburg 2006). Das sind im Einzelnen - multimodale Indikationsmodelle mit konzeptionell möglichst therapienahen Indikationskriterien wie z. B. unterschiedliche aus der Verhaltensthe-rapie bekannte problemanalytische Verfahren, verschiedene phänomenologisch prozessrelevante Merkmale in der Gesprächspsychotherapie sowie die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) für Erwachsene bzw. für Kinder und Jugendliche, - kontextuelle Indikationsmodelle, die auf eine optimale Abstimmung der komplexen Wechselbeziehungen von Patienten- und Therapeuten ausgerichtet sind und sich vorrangig an den „Passungen" in dem von Orlinsky & Howard entwickelten „Allgemeinen Modell der Psychotherapie" orientieren, - adaptive Indikationsmodelle, nach denen Indikationsentscheidungen nicht mehr (nur) vor Aufnahme einer Psychotherapie getroffen, sondern in den Therapieprozess selbst verlegt werden, indem gezielte, d.h. bedingungsabhängige Variationen des therapeutischen Vorgehens erfolgen, in der Regel als Anpassung an besondere situative oder vom Patienten in die Therapie eingebrachte Bedingungen oder von ihm verursachte Probleme, probatorische Indikationsmodelle, auf denen die in den Psychotherapierichtlinien vorgesehenen „probatorischen Sitzungen" beruhen bzw. die systematischere Prüfung der „Ansprechbarkeit des Patienten für das vorgesehene Behandlungsangebot", wie sie in der Gesprächspsychotherapie entwickelt wurde. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Das störungsbezogene Indikationsverständnis wird - wie sich übereinstimmend aus den theoretischen Reflexionen, den empirischen Forschungsarbeiten und dem Expertenwissen ergibt - dem komplexen Bedingungsgefüge „Psychotherapie" nicht gerecht und greift deshalb auch bei Indikationsüberlegungen und -entscheidungen zu kurz. Das heißt: Ausschließlich an psychopathologischen Symptomen (Syndromen) orientierte diagnostische Klassifikationen haben sich für Indikationszwecke ebenso wie für Effektnachweise und damit allgemeiner für die Bewertung von Psy2 Vor diesem Hintergrund haben sich die Teilnehmer des 5. Deutschen Psychotherapeutentages am 23. 4. 2005 mit der geplanten Anerkennungspraxis durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (siehe das einleitend genannte Beispiel 3) befasst und einstimmig eine Resolution verabschiedet, in der sie sich gegen die Zergliederung psychotherapeutischer Verfahren in „Anwendungsbereiche" aussprechen.

Frohburg: „Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse..."?

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chotherapieverfahren als theoretisch unangemessen und praktisch wenig brauchbar erwiesen. Deshalb wurden komplexere Modellierungsansätze entwickelt, die, über den in der Symptomatik bzw. der Diagnose erfassten Störungsbezug hinausgehend, die Relevanz von störungs- bzw. effektdeterminierenden und -modifizierenden Bedingungen ebenso wie die störungsunspezifischen Indikatoren berücksichtigen. Das störungsbezogene Indikationsverständnis, das den eingangs genannten Dokumenten zugrunde gelegt wurde, kann sich nicht auf den aktuellen Kenntnisstand der zuständigen Fachdisziplin stützen. Es steht zu ihm sogar ausdrücklich in Widerspruch, weil es wissenschaftliche Entwicklungen und Erkenntnisse der letzten 30 bis 40 Jahre nicht berücksichtigt. Weitere Bemühungen um die Klärung praktischer Indikationsfragen sind dringend notwendig, weil es in der Psychotherapiepraxis einen nicht unerheblichen Anteil von Fehlindikationen und dadurch verursachten Therapieabbrüchen und Mehrfachbehandlungen gibt. Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass die Indikationsproblematik in das Forschungsforderprogramm Psychotherapie aufgenommen wurde (WBP 2003b). Zu hoffen bleibt, dass Fragestellungen und Untersuchungsmethoden wenigstens in diesem Zusammenhang auf den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand ausgerichtet werden. Literatur Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMFB) (2004): Richtlinien über die Förderung von Forschungsverbünden zur Psychotherapie. Bundesanzeiger Nr. 237 vom 14. 12. 2004 und im Internet: ,Jittp://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/foerderung/bekanntmachungen". Frohburg, I. (2006): Zum Postulat der störungsspezifischen Indikation psychotherapeutischer Verfahren. Psychotherapeutenjournal, Heft 2,130-137. Frohburg, I. & Helm, J. (1984): Möglichkeiten und Grenzen der Gesprächspsychotherapie bei psychosomatischen Patienten. Vorträge auf dem Symposium „Medizinische Psychologie" der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, 16.-18. 4. 1984 in Erfurt sowie dem XI. Kongreß der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, 26.-29. 3. 1985 in Neubrandenburg Grawe, K. (1988): Psychotherapeutische Verfahren im wissenschaftlichen Vergleich. Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik, 33,153-167. Grawe, K., Caspar, F. & Ambühl, H. (1990): Differentielle Psychotherapieforschung: Vier Therapieformen im Vergleich, insb. Die Berner Therapievergleichsstudie: Fragestellungen und Versuchsplan (294-315), Wirkungsvergleich und differentielle Indikation (338-361), Zusammenfassung und Schlussfolgerungen (362-376). Themenheft der Zeitschrift für Klinische Psychologie, 19, Göttingen u.a.: Hogrefe. Grawe, K. & Plog, U. (1976): Differentielle Psychotherapie, 2 Bände. Bern: Huber. Hess, R. (2005): Perspektiven der evidenzbasierten Psychotherapie. Notwendige gesetzliche und vertragliche Weichenstellungen für den Transfer gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse der Psychologie in das deutsche Gesundheitswesen. Referat auf dem BPtK-Symposium zur evidenzbasierten Psychotherapie am 5.4.2005 in Berlin. Kiesler, D. J. (1966): Some Myths of Psychotherapy Research and the Search for a Paradigm. Psychological Bulletin, 65, 110-136, deutsch. (1977): Die Mythen der Psychotherapieforschung und ein Ansatz für ein neues Forschungsparadigma. In: F. Petermann (Hrsg.): Psychotherapieforschung. Weinheim: Beltz, 7-50. Kiesler, D. J. (1969): A Grid Model for Theory and Research in the Psychotherapies. In L. D. Eron & R. Callahan (Eds.): The Relation of Theory and Practice in psychotherapy. Chicago: Aldine, 115-145.

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Psychotherapeutische Praxis, Grundlagen des Fachs und (versorgungs-)politische Folgerungen Norbert Bowe I

Ich beginne mit einer Krankengeschichte zum Verständnis von Störungsgeschehen: Frau L. kommt erstmalig in Begleitung ihrer auffallend jung aussehenden Mutter zur Praxis. Sie erzählt, mit dem Unfalltod ihres Mannes vor sechs Jahren nicht zurechtzukommen. Sie habe sich gerade endgültig von Ihrem derzeitigen Partner getrennt, habe Erziehungsschwierigkeiten mit dem inzwischen siebenjährigen Sohn, der dem damals verunfallten Mann brutal ähnlich sehe. Er lasse sich nicht knuddeln, sei so ernst, widersetze sich ihr, und sie habe ihm gegenüber nicht die Muttergefühle wie zu dem zweiten Kind, das sie vom jetzigen Partner in Trennung habe. Frau L. kommt aus einer ländlichen Gegend mit traditionell starken Familienbindungen, ist einziges Kind der fürsorglichen Eltern; zur jungen Mutter (+18) besteht fast ein Verhältnis wie zu einer großen Schwester; wenn sie sich trotzig widersetzte, hat die Mutter sich nicht durchgesetzt, sondern mehr an ihr gezerrt. Das Verhältnis zum Vater ist herzlich. Die Beziehung zum verunfallten Mann war auch die erste Liebesbeziehung, sie zog von zu Hause zu ihm in eine Einliegerwohnung bei den Schwiegereltern. Der Mann verunglückte vor sieben Jahren auf einer Motorradtour mit Freunden tödlich, sie hatte keine Gelegenheit, sich von ihm zu verabschieden. Dass sie danach bei den Schwiegereltern auszog, hing damit zusammen, dass sie sich von der Schwiegermutter beobachtet fühlte, ohne dass diese aufdringlich oder kontrollierend war. Sie holte gleich den neuen Partner zu sich in die Wohnung, weil sie nicht allein sein konnte, und hielt an ihm fest, obwohl sie bald merkte, dass er emotional nicht zu ihr passte. Er kam aus schlimmen häuslichen Verhältnissen, wurde vom Vater, der sich zeitweise dem Alkoholkonsum hingab, von früh auf zu schweren Arbeiten herangezogen - ohne Anerkennung, ohne Liebe, ohne Pardon. Ohne Familie und liebevolle Beziehungen erfahren zu haben, ging er den nicht leiblichen Sohn mit den autoritären Forderungen der eigenen Erziehung an und wurde der Patientin z.T. emotional unheimlich. Seitensprung und Unfähigkeit, auf ihre Anregungen einzugehen, trugen zum Trennungsschritt bei. In den wenigen Sitzungen dieser vermutlich auch nicht lang andauernden Therapie konnten bisher folgende Bezüge besprochen werden: Frau L. hatte sich bisher noch nie in ihrem Leben von jemandem getrennt: Durch eine persistierend geschwisterlich anmutende Beziehung zur Mutter, die eigenständiges Auftreten vermied, blieb auch ein unhinterfragtes Vater-Tochter-Verhältnis bestehen. Als Einzelkind brauchte sie die Liebe mit keinen Geschwistern zu teilen, was sie als partielles Verlusterleben hätte verarbeiten müssen. Vom Elternhaus zog sie direkt mit ihrem Mann zusammen in die schützende Nähe der Schwiegereltern. Der plötzliche Tod ihres Mannes blieb bis zur jetzigen Therapie so „unwahr", dass sie nur mit Hassgefuhlen an ihn denken konnte. Diese waren begleitet von Vorstellungen, er würde gleich klingeln und hochkommen oder er habe sich mit einer anderen Frau zusammengetan. Sie konnte keine Bilder von ihm aufhängen, zog bei den

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Schwiegereltern aus, weil sie ihr Symptom (ihren Hass) verstecken musste. Es war ihr unmöglich, den Ehering abzuziehen, und eine Qual, den Friedhof zu besuchen. Wichtig erschien mir, ihr in der Therapie die Einsicht zu ermöglichen, dass sie ohne vorangegangene Verlusterlebnisse - mit dem Verlust ihres Mannes ganz abrupt erstmalig einem massiven Trennungserleben ausgesetzt war. Sie stemmt sich nach Kräften dagegen wie gegen eine unmögliche Zumutung. Ihre Schwierigkeit, sich in ihren älteren Sohn einzufühlen, hängt einerseits mit seiner Ähnlichkeit mit dem Vater, d.h. mit dem Erinnertwerden, und der Ersatz-Vaterrolle des Sohnes zusammen, andererseits mit ihrer mangelhaften Fähigkeit, die Verlustreaktionen ihres Sohnes interpretieren zu können, wo sie als Mutter doch mit dem kleinen Bruder „fremdging". Mit einer Bearbeitung dieser psychodynamischen Zusammenhänge beginnt sie erstmalig, ihr Alleinsein zu genießen, erlebt sie erstmalig heftige Trauergefuhle beim Begräbnis der Großmutter einer Freundin, beginnt sie, sich ihrem älteren Sohn gegenüber mehr als Mutter zu verhalten und zu fühlen, während ihr Sohn sich mehr wieder als Kind zu verhalten und sich ihr anzuschmiegen beginnt. Sie kann sich erstmalig klarer abgrenzend (auch verbal) behaupten, sowohl dem Sohn als auch dem bisherigen Partner gegenüber. Sie beginnt nach Jahren aus einem inneren Wunsch heraus, die unberührte Umzugskiste mit den Sachen ihres verstorbenen Mannes aufzumachen, Bilder von ihrem Mann aufzuhängen. Verwundert beobachtet sie, wie ihr Sohn dem Freund das just aufgehängte Bild des Vaters zeigt - mit den fast sachlichen Worten, dass das sein Vater sei. Paradoxerweise kann der Mann und Vater jetzt in ihnen weiterleben, nachdem es ihr gelingt seinen Tod, anzuerkennen. Diese Kurzdarstellung kann bereits die mannigfaltige Verknüpfung von aktuellem Trauma, Symptomen, Beziehungsschicksalen, charakterlichen Bildungen und systemischen Wirkungen bei der Bearbeitung verdeutlichen. Ich habe diese leicht Erkrankte gewählt, weil bei schwerer Erkrankten eine adäquate Darstellung u.U. mehr als einen Abend füllen würde. Diese Patientin hatte keine deutliche Charakterpathologie, sondern nur eine umrissene fixierte Entwicklungshemmung. Es ist leicht nachvollziehbar, welche Varianzen es allein auf der Achse Charakter/Struktur geben kann, wenn man sich Charakterstörungen unterschiedlichster Ausprägung differenter Strukturanteile, mit unterschiedlichen Graden von ich-syntoner Verankerung, bis hin zu tief sitzendem Leiden an sich selbst sowie unterschiedlichste Mischungen zugrunde liegender Entstehungsbedingungen von der ererbten Anlage über intrauterine und frühe Prägung bis hin zur traumatisch bedingten Charakteränderung späterer Jahre vorstellt. Dieses Fallbeispiel soll verdeutlichen dass das Störungsgeschehen sich nicht ansatzweise an der Oberfläche der unmittelbar beobachtbaren oder erschließbaren Symptomatik beschreiben, geschweige denn erfassen lässt. Psychische Störung ist in keiner Weise beschreibbar, ohne systemische Zusammenhänge zwischen betroffenen unterschiedlichen Strukturebenen herzustellen und ohne auf lebensgeschichtlich entstandene Bedeutungszusammenhänge zurückzugreifen. Systemische und Bedeutungszusammenhänge verunmöglichen per se, ein Störungsgeschehen nur einer Kategorie zuzuordnen. II

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Ich möchte nun näher auf die ICD-10-Diagnostik mit ihren deskriptiven Zuordnungen in meiner Praxis kommen. Ich arbeite psychotherapeutisch in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Gemeinschaftspraxis; ich nehme alle Patienten an, bei denen ich eine Psychotherapieindikation stelle, auch bei Krisensituationen. Das Spektrum umfasst Patienten mit unterschiedlichsten Sprachfahigkeiten und Bildungsvoraussetzungen. Ich habe meine 39 Patienten des letzten Quartals auf meine ICD-10-Diagnostik hin untersucht: Lediglich elf hatten nur eine ICD-10-Diagnose, die übrigen zwei (= 27) und einer drei ICD-10-Diagnosen. Von den elf mit einer ICD-10-Diagnose waren zwei Psychotiker, mindestens sieben hätten eigentlich mit mindestens zwei Diagnosen verschlüsselt gehört. Wenn ich meine diagnostische Zuordnung dieser sieben und der 28 Patienten mit zwei und drei Diagnosen (das sind 35 oder 90% der Patienten) daraufhin befrage, inwieweit dort Komorbiditäten i.S. zweier unterscheidbarer Krankheiten vorlagen, so stelle ich fest, dass nur drei als solche bezeichnet werden können, bei allen anderen das Krankheitsbild kompromisshaft mit zwei Diagnosen umschrieben wurde. Bei sieben hing eine akute Belastungssituation eng mit charakterlichen Störungen zusammen, bei acht bestand ein engerer Zusammenhang zwischen Partnerschaftskrise und neurotischer Störung bzw. Charakterstörung, bei sechs war eine tiefgreifende Charakterstörung in unterschiedlicher Weise mit einer Symptomatik verbunden, bei sieben waren sehr ausgeprägte Traumatisierungen in der Kindheit wesentliche Grundlage des Geschehens, und bei fünf standen akute Belastungen im Vordergrund - mit zusätzlichen psychischen Symptomen. Hauptsächlich bei Vorliegen einer Psychose ist eine eindeutigere Zuordnung möglich. Komorbidität in engerem Sinn kommt bei meinen Patienten nur bei diesen Krankheitszuständen vor. Komorbidität könnte ggf. auch neben dem Vorliegen isolierter Symptome (wie isolierten Phobien) vorkommen. D.h., dass am ehesten an den Rändern des psychotherapeutischen Behandlungsspektrums die ICD-10-Diagnostik m.E. eindeutigere diagnostisch relevante Zuordnungen erlaubt. III Ich schwenke jetzt zu ein paar Bruchstücken aus dem erkenntnistheoretisch spannenden Buch „Theorie der Humanmedizin. Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns" von Thure v. Uexküll und Wolfgang Wesiack (1988). Darin wird m.E. wissenschaftlich profund ein Paradigmenwechsel in der Naturwissenschaft durch Einführung des Subjektes dargelegt. Unter Bezug auf diese Autoren zumindest könnte der im Einladungstext für das Symposium dargelegte Antagonismus zwischen Natur- und Humanwissenschaft vielleicht relativiert werden. 7. Bruchstück: Funktionskreis und inter subjektive Prozesse „Bei jeder Interaktion mit dem Patienten, gleichgültig ob sie verbaler, nonverbaler oder instrumenteller Art ist, erweitern wir unsere Kenntnis, also unsere Diagnose. Gleichzeitig verändert sich aber auch das Erleben und der Zustand des Patienten. Nur wenn wir reduktionistisch-mechanisch denken, können wir uns der Illusion hingeben, der Patient ändere sich durch diagnostische Maßnahmen nicht und sei danach noch derselbe, der er vor diesem Eingriff war. Diagnostik und Therapie sind also im Prinzip unendliche Prozesse, die sich spi-

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ralenförmig immer weiter fortsetzen und erst dann beendet werden, wenn die Arzt-PatientBeziehung - aus welchen Gründen auch immer - an ein Ende gekommen ist." „Wenn hinter jeder Beschreibung eine Absicht steht, so dürfen wir uns nicht mehr mit den Beschreibungen begnügen, so faszinierend sie auch sein mögen. Wir müssen nach den Absichten fragen, die sich hinter ihnen verbergen. Sobald wir damit beginnen, fällt das Dogma der Natur ohne Absichten in sich zusammen. Dann zeigt sich nämlich, dass hinter unserer Beschreibung der Kräfte unsere Absicht einer technischen Beherrschung und Ausbeutung der Natur steht. Diese Absicht verstellt uns den Blick auf mögliche Absichten der Natur, die unseren Absichten im Wege stehen könnten. Da ist es bequemer, die Möglichkeit ihrer Existenz zu leugnen."

Der Erkenntnisprozess verläuft im wissenschaftlichen wie auch im vorwissenschaftlichen Bereich stets über die Stufen der „Wahrnehmung", „Interpretation" und „Realitätsprüfung". Das, was wir Wirklichkeit nennen, ist daher niemals eine objektive, sondern immer eine vom beobachtenden Subjekt interpretierte Wirklichkeit. 2. Bruchstück: Systemtheorie Mit der Bildung eines Systems treten sprunghaft, unvorhersehbar und von den Eigenschaften der einzelnen Elemente unableitbare neue Eigenschaften auf. Diese Tatsache nennt man Emergenz. Beispiel: System Zelle, das nicht mit den chemischen und physikalischen Einzelteilen erfassbar ist. Emergenz, die Neuschöpfung neuer Eigenschaften, ein neues System entsteht nur aufgrund von Restriktionen der Freiheitsgrade der einzelnen Elemente: Nur die Aktivitäten kommen zum Tragen, deren Kooperation das System erhält. Das System ist das Resultat einer Ordnung durch Verbote entlang an Systemgesetzen. Das gilt für den Einzeller wie für die internationalen gesellschaftlichen Systeme. Da jede Systemebene ihre Gesetze und ihre Sprache hat, d.h. ihre über Zeichenprozesse geregelten Systemprozesse, gibt es auch für die verschiedenen Systemebenen unterschiedliche, nicht aufeinander reduzierbare Sprachen. Lebende Systeme sind zielstrebig, sich selbst erzeugend. Lebende Systeme sind Fließgleichgewichte, deren physikalische und chemische Bestandteile ständig ausgetauscht werden. Identität lebender Systeme ist verbunden mit der Paradoxie von Identität der Strukturen und deren Veränderung im Zeitlauf (in der eigenen Geschichte), und zwar vom Einzeller bis zum Menschen. Begrenzt gilt das auch für Gesellschaften. Die Systemebenen sind über Zeichenprozesse miteinander verknüpft, an denen entlang es Aufwärts- und Abwärtseffekte gibt, die psychische Folgen haben (Aufwärtseffekte z.B. durch Veränderungen an Botenstoffen/Hormonen wie Schilddrüsenhormon; Abwärtseffekte: Spannungen in Familie/Beruf, die über psychische Zwischenglieder wie häufiger dysstress z.B. zu Bluthochdruck/Herzinfarkt o.Ä. führen). 3. Bruchstück: Zeichentheorie Information erfolgt durch Zeichen. An jedem Zeichen lässt sich ein materieller Zeichenträger feststellen (wie z.B. Schallwellen für Laute, Töne, Worte/Sätze),

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aber weder Zeichenbegriff noch Informationsbegriff lässt sich auf Masse und Energie reduzieren. Erst die Kombination aus beidem lässt ein Zeichen entstehen. Die Zeichenbeziehungen habe eine dreiteilige Struktur: Das Bezeichnende (das am Objekt, was für das Subjekt bezeichnend ist), das Bezeichnete (das Objekt) und die Bedeutung, die die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem für ein Subjekt hat (Bezeichnung = den Dingen ein Zeichen anheften, einen Namen geben (s. Schöpfungsgeschichte: primäre menschliche Aktivität im Paradies). In Zeichen-Systemen sind Zeichenkombinationen und Regeln/Gesetze für diese Kombinationen festgelegt. Jedes der unzählbaren Zeichensysteme hat somit ein eigenes „Zeichen-Universum", in dem nur seine Zeichen verstanden werden, also auch Außengrenzen. Daher gibt es zweierlei Zeichenbeziehungen: a) die innerhalb des Systems (syntaktisch) und b) die, die unterschiedliche Zeichensysteme miteinander verbinden. Programme, Modelle, Schemata i.S. Piagets bezeichnen systemisch aufgebaute Bedeutungsverknüpfungen über Systemgrenzen hinweg. Diese sind nie kausal zu erfassen, auch wenn darin kausale gekoppelte Zwischenglieder vorkommen. Alle Zeichen werden von Lebewesen erzeugt. Alle Zeichen sind Modifikationen eines ersten Zeichensystems, des Selbst mit seiner Fähigkeit zu merken und zu wirken. Eine Grundkategorie ist dabei Selbst und Nichtselbst, die Grenzziehung zwischen innen und außen. Das gilt schon für den Einzeller. Automaten hingegen simulieren nur Zeichenprozesse, erzeugen diese aber nicht. 4. Bruchstück: Subjekt, Lebensgeschichte und Psyche Die Konsequenz aus der Bedeutung von Zeichensystemen ist, dass das interpretierende Subjekt konstitutiver Teil der Zeichenvorgänge ist. Alles, was ein menschlicher Beobachter (objektiv) feststellen kann, ist von seinen Rezeptor- und Effektoreinrichtungen geprägt und abhängig von dem Code, den er benutzt. Es ist niemals eine objektive (i.S. einer subjektunabhängigen) Realität. Zeichenbeziehungen stellen zwischen heterogenen Phänomenen Verbindungen her, wie z.B. zwischen der Laut- oder sichtbaren Buchstabenzeichenfolge S-T-E-IN und einer Art von Gegenständen, die nichts mit kausalen Verknüpfungen zu tun haben, aber nicht weniger wirkungsvoll sind und nur scheinbar objektiv, (objekthaftend) tatsächlich intersubjektiv gelten. Z.B. kann die Physiologie von Speicheldrüse und Magenaktivitäten der Pawlow'sehen Hunde nur individuell biographisch verstanden werden, wobei ZeichenBedeutungs-Koppelungen entstanden sind, die sie von anderen Hunden unterscheidet. Die Bedeutungskoppelungen, d.h. Übersetzungen, erreichten zweierlei: a) eine Bedeutungserteilung für einen bisher neutralen (d.h. nicht existenten) Umgebungsaspekt (spez. Geräusch o.a.). Es wurde Signal. Damit wurde die subjektive Umwelt erweitert.

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b) neue Verbindungen/Koppelungen zwischen Umwelt und Innenvorgängen. Entlang diesen Verbindungen können Aufwärts- und Abwärtseffekte entstehen. Abwärts: Signal im Umweltbereich - Frustration - Krankheit. Krankheiten so verschiedener Art wie Autoimmunkrankheiten, Konversionssyndrome und Phobien können auf Übersetzungsfehler von Zeichensystemen zurückgeführt werden. „Die Methode des kausalen Schließens vermag den Abgrund zwischen Ganglienzelle und seelischem Geschehen nicht zu überbrücken. Die Methode des kausalen Schließens fuhrt lediglich von einem Bewegungsvorgang zum anderen." Die materiell/räumlichen Ebenen/Ursachen werden stets interpretiert über Zeichenprozesse. Die der inneren Beobachtung zugänglichen Phänomene wie Gedanken, Gefühle, Empfindungen sind nicht räumlich, werden nicht mit motorischen Zeichen verknüpft und bleiben daher außerhalb des Bereichs der Bewegungsphänomene (einschließlich der neurologisch sichtbaren Veränderungen). Die Verbindung zwischen elektrophysiologischen und biochemischen Vorgängen in der Großhirnrinde und Empfindung und Bewusstsein ist der Zusammenhang von Zeichenträger und Zeichen sowie der Übersetzungen von einem Zeichensystem in ein anderes, d.h. nicht kausal, nicht räumlich. Modelle für Erklären (mechanische Zusammenhänge, Ursache-Wirkungs-Koppelung) können als reduktionistische Ausschnitte aus den komplexeren zirkulären Modellen für Verstehen abgeleitet werden, aber nicht umgekehrt. Der unbeteiligte/"objektive" Beobachter „erklärt" die Phänomene, indem er sie nach Regeln zergliedert und wieder zusammensetzt. Dem entspricht der Anspruch, die Natur zu beherrschen und auszubeuten. Kausalverknüpfungen entsprechen dem Bedürfnis, die Phänomene für den Gebrauch der Willkürmotorik zu interpretieren. Demgegenüber ist der Beobachter als Subjekt Teilnehmer eines Interaktionszusammenhanges; dabei geht es darum, aufgrund angeborener und erworbener Deutungs- und Handlungsprogramme „in Erscheinung treten zu lassen". Psychische Aktivität lässt sich hier als Phantasie auffassen. Psyche kann verstanden werden als die Summe der Programme/der Codes, über die ein Lebewesen verfügt, um seine subjektive Welt, die Welt des Selbst und seiner Umwelt, mit Hilfe seiner Sinnes- und Bewegungsorgane aufzubauen. Das gilt für Mensch und Tier. Bei der menschlichen Psyche kommt die Innenwelt der Phantasie dazu, mit der Auseinandersetzungen mit Objekten der Umwelt in der Vorstellung als Probehandlungen vorweg getestet werden. IV Zurück zur Praxis: Eine rein handlungsbezogene psychotherapeutische Praxis würde sich darauf verlegen, den Patienten den eigenen oder gesellschaftlich bestimmten Absichten und Ansprüchen/Wertsetzungen zu unterwerfen, ihn zum Objekt zu machen. Eine Systematik der psychischen Störungen, die die beobachtbaren oder mit Beobachtung erschließbaren Phänomene psychischer Krankheit zum entscheidenden Kriterium erklärt, reduziert ein komplexes Geschehen auf die Ebene von einfachen Verknüpfungen, die für Kausalitäten typisch ist, und öffnet Tür und Tor für pragmatische Beherrschung und Unterwerfung unter Fremdabsichten, unterwirft ökonomischen Zwängen, macht zum Objekt.

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Eine Beobachtung des Symptoms ohne Beachtung des Bedeutungscharakters lässt das andere Subjekt nicht in Erscheinung treten und schneidet die Phantasie ab, d.h. die Bereitschaft, die eigenen Programme in der Begegnung mit dem anderen zu verändern, anzupassen, um antworten zu können und ein Verstehen zu erreichen. Das Subjekt als Organisator der eigenen Welt nimmt dabei ständig Assimilationen des Erlebten/Wahrgenommenen in seine Programme vor und veranlasst durch die bei der Assimilationsarbeit nicht zu integrierenden Reste Akkommodationen, d.h. Umschreibungen/Überarbeitungen seiner Programme des Wahrnehmens und Interpretierens. Es leistet fortlaufende Übersetzungsarbeit als Verknüpfungen, als Brücke zum Erkennen, Deuten und Kommunizieren der eigenen Welt (Selbst) mit der seiner Bezugsobjekte (der anderen). Dies geschieht intersubjektiv in einem auf Erweiterung (= Erkenntniszuwachs) ausgelegten Dialograum. Das Symptom, sein In-Erscheinung-Treten in einer umrissenen lebensgeschichtlichen Situation kann als zusammenfassender Ausdruck einer innerlich-äußeren Entwicklung aufgefasst werden, in der die Auseinandersetzung innerer Kräfte und Strebungen mit den Mit- und Umweltbedingungen an eine Überforderung der systemischen Prozesse der Selbstbalance geraten sind, wobei nicht gedeutete, unverstandene lebensgeschichtlich erworbene Bedeutungskoppelungen eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Überforderung spielen. Psychotherapie ist dabei Erforschungsarbeit, Detektivarbeit, bei der Kriminalstatistik und Labor zur Spurensicherung nur Hinweise geben können. Hier geht es primär um eine Evidenz im Sinne eines Sichzusammenfügens von Bruchstückhaftem. Diese Evidenz im Therapeuten und im Patienten erweist sich dann als stichhaltig, wenn zum einen daraus eine erklärende Potenz fur weitere Zusammenhänge entsteht (semantische Dimension), zum anderen, wenn in und außerhalb der Therapie Veränderungsschritte erfahrbar werden (= pragmatische Dimension). Das ist ähnlich spannend wie ein guter Krimi. Diese Art der Evidenz kann durch keine „evidenzbasierte Medizin" (EbM) ersetzt, nur durch sie ergänzt werden. V Wir sind damit in den Niederungen der Berufspolitik angelangt. In vier aktuellen Politikbereichen spielt das bisher Ausgeführte eine wichtige Rolle. 1. Evidenzbasierte Medizin (EbM) Kurz zu den Auseinandersetzungen um die „evidenzbasierte Medizin". Sie ist dann hilfreich, wenn sie sich in den Prozess des Deutens und Verstehens einfügt, diesen weder verfremdet noch ihn dominiert. Dann liefert sie wertvolle Hinweise, wirkt sie als zusätzlicher Messfuhler, dessen rückgemeldeten Merkmale in ihrer Bedeutung interpretiert und integriert werden können. Sie wird dann zur Gefahr für die Psychotherapie, wenn sie mit kurzschlüssigen Praxiskonsequenzen verbunden wird, als unmittelbares Werkzeug unter Umgehung der Interpretationsprozesse und der Eingliederung in die erkennbaren Systemzusammenhänge. Sie eignet sich allerdings auch dazu, fortgesetztes Versagen von Therapeuten offenzulegen, d.h. ein ständiges Fehlen des Evidentwerdens - und diese Möglichkeit verführt dazu, im Sinne eines Grundmisstrauens die gesamte Psychotherapie damit zu überziehen. Da

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sind wir bei der Lust der Krankenkassen, aber auch anderer Gruppierungen, sich hier weitreichende Kontrollmöglichkeiten zu eröffnen, die auf den ersten Blick auch berechtigt erscheinen, auf den zweiten Blick aber die Beziehungskultur durch Misstrauen vergiften können und das Beziehungsgeschehen in einengender Weise festlegen würden. 2. Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) Wir haben in den Auseinandersetzungen um die Verfahrensordnung des GBA erfahren müssen, dass unsere gewählten Gremienvertreter praktisch nicht in der Lage waren, die Psychotherapie vor einer Fremdbestimmung durch EbM zu schützen. Die Verfahrensordnung soll die sozialrechtliche Zulassung jeglicher medizinischer Neuerungen nach einem einheitlichen Verfahren des Wirksamkeits- und Nutzennachweises regeln können, angefangen bei einer neuen Labormethode bis hin zu dem komplexen Gebilde eines Psychotherapieverfahrens. Buchstäblich auf der letzten Auffanglinie, als es schon zu spät schien, kam Hilfe von außen: von Patientenvertretern, Vertretern anderer medizinischer Fächer und zusätzlich auch von uns da draußen. Es konnte vor dem Aufsichtsorgan Bundesministerium (BMG) eine Kompromissformel erwirkt werden, die das Gewicht vom Nachweis höchster Evidenzstufen wieder etwas zurückverlagerte hin zur Versorgungsrelevanz der Wirksamkeitsstudien. Dieses seltsame Versagen der offiziellen Psychotherapievertreter, ihr fortgesetztes Schweigen, ihr Versäumnis, die so zukunftsentscheidenden Fragen als Fach- und Sachfragen in der Fachöffentlichkeit zu diskutieren, bedarf dringend der Interpretation. Immerhin würde kein Fach so grundlegend und so breit durch zu enge EbM-Kriterien eingeschränkt wie die Psychotherapie. Man muss feststellen, dass in den Gremien Übersetzungsarbeit von unseren Vertretern nicht hinreichend geleistet wird und dass die Brisanz verkannt oder verleugnet wird. 3. Psychotherapierichtlinien Seit gut einem Jahr steht im Raum, die Psychotherapierichtlinien umzuschreiben. Dies zum einen, um sie kompatibel mit einer Evidenzbasierung und mit der darauf rekurrierenden neuen Verfahrensordnung zu machen, zum anderen, um mit dieser Änderung den unendlichen Kampf der Gesprächspsychotherapie (GPT) um sozialrechtliche Anerkennung regelungsfest entscheiden zu können. Dabei wird erwogen - oder gar angestrebt -, dieses als umfassend anzuwendende wissenschaftlich anerkannte Psychotherapieverfahren nur für einen Teil der sogenannten Anwendungsbereiche zuzulassen. Diese Frage ist also verknüpft mit geplanten umwälzenden Neubestimmungen, die Psychotherapie zukünftig in Ausbildung und Anwendungspraxis an den beschreibenden Syndromkriterien des ICD-10 definieren und festlegen sollen. Sollte es tatsächlich so weit kommen, dann werden künftig Behandlungslizenzen nur noch für einzelne dieser neuen Planquadrate der Psychotherapie vergeben. Es scheint, dass in einem ersten Schritt die Psychotherapierichtlinien dafür präpariert werden, die wichtigen Begriffe wie „Störung", „Diagnose", „Indikation" in verengte Begrifflichkeiten festzuschreiben, um dann als Werkzeuge funktionalisiert werden zu können in Verträgen mit den Krankenkassen: Denkbar wäre z.B., dass nur

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sogenannte versorgungsrelevante Diagnosegruppen in den Versorgungsverträgen berücksichtigt werden und Ähnliches mehr. Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) hatte für die Aufgabe, neue Psychotherapieverfahren auf das Kriterium „wissenschaftlich anerkannt" zu prüfen, sein Vorgehen dahin gehend operationalisiert, dass er den Wirksamkeitsnachweis durch hinreichend evidenzbasierte Untersuchungen in wenigstens fünf von zwölf sog. Anwendungsbereichen (orientiert an Syndromkategorien des ICD-10, Kapitel F) bzw. in vier der Hauptanwendungsbereiche verlangte. Diese mögliche Operationalisierung ist nur so weit sinnvoll, als sie sich als Stichprobe aus dem gesamten Behandlungsspektrum zur Überprüfung einer hinreichenden „Anwendungsbreite" versteht. Dieses Verständnis haben die ehemaligen WBR-Vorsitzenden Hoffmann und Margraf in einer jüngst veröffentlichten Stellungnahme noch einmal bekräftigt. Im GBA hatte zwischenzeitlich jedoch eine konkretistische Umdeutung des WBR-Vorgehens stattgefunden, die nach F-Diagnosegruppen der ICD-10 strukturierten „Anwendungsbereiche" als bestgeeignetes Klassifikationssystem aufzufassen, um das Spezifische der psychotherapeutisch zu behandelnden seelischen Störungen erfassen zu können. Darin ist implizit eine gefahrliche Banalisierung des Begriffs „seelische Störung" enthalten, die bisher in den Psychotherapierichtlinien als komplex strukturiert - auf mehreren miteinander interagierenden Störungsebenen - verstanden wurde. Das neue Zauberwort heißt jetzt „Versorgungsrelevanz". Doch Vorsicht, so überzeugend das Wort klingt, so fraglich wird es als Kriterium im Zusammenhang von Bestimmung und Ausgrenzung von dem, was Psychotherapie und Psychotherapieverfahren zu sein haben oder nicht. Versorgungsrelevanz wird im GBA derzeit - wieder - monokausal verknüpft verstanden oder besser: missverstanden als Häufigkeitsverteilungen von Diagnosegruppen. Aber schon die innere Heterogenität dieser Diagnosegruppen ist so groß, und deren definitorische Begrenzungen sind so wenig valide, dass sie ihren Zweck gar nicht erfüllen können. Wenn ich „versorgungsrelevant" definieren sollte, fallen mir verschiedenste Achsen ein: 1. Schwere der Erkrankungen, 2. Komplexität der Erkrankungen, 3. Häufigkeit von Erkrankungen, 4. Heilungsaussichten und Verbesserung der sozialen Folgeerscheinungen, 5. Umfassende Versorgung entsprechend der Bedürftigkeit der Erkrankten etc. Unter den derzeitigen Versorgungsbedingungen sind immerhin noch alle als Krankheit anerkannten Zustände durch Ärzte und Psychotherapeuten zu behandeln, somit versorgungsrelevant. Es reicht nicht, z.B. nur die häufigsten oder die schwersten Erkrankungen zu behandeln. Relevant für die Fähigkeit eines Psychotherapeuten ist es nicht, die häufigsten Erkrankungen behandeln zu können, oft ist die Fähigkeit, komplexe Krankheitszustände behandeln zu können, auch relevanter für die Befähigung, ein breites Behandlungsspektrum behandeln zu können. Ein Chirurg, der nur die häufigen Routineoperationen kann, ist auch nicht gut vorbereitet, versorgungsrelevant zu behandeln. Der Rückgriff auf eine Häufigkeitsverteilung muss als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Vorbereitung interpretiert werden, damit über vereinfachte und vereinfachende Handlungsmaximen verfügen zu können, um pragmatisch zu exekutieren und Komplexität kurzschlussartig zu umgehen (kurzen Prozess zu machen), sei es in der Forschung, sei es in der Aufteilung des Versorgungsspektrums.

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Für die Versorgung entscheidender dürften qualitative Untersuchungen sein, in denen überzeugend dargelegt wird, wie mit der Methode die Komplexität von Störungsgeschehen erfasst und mit spezifischen Interventionen beantwortet wird. Auch die Verhaltenstherapie, die ursprünglich bei syndromspezifischen Behandlungen angesetzt hatte, hat über die „kognitive Wende" inzwischen die Bedeutung von Emotionen und Beziehungserleben anerkannt. Grawe schreibt: „Fast alle Patienten mit schweren psychischen Störungen haben eine Vorgeschichte von Verletzungen ihres Bindungs- und Kontrollbedürfnisses in ihrer frühen Kindheit, wie es in einem unsicheren Bindungsstil zum Ausdruck kommt. Ihr Problem lässt sich deshalb nicht auf die zuletzt entwickelte Störung reduzieren. Sie ist nur ein letztes Glied in einer langen Kette verletzender Erfahrungen, die schließlich zu so hoher Inkonsistenz gefuhrt haben, dass ein qualitativ neues Mittel zu ihrer Reduktion erforderlich wurde. Für die Patienten selbst ist es auch klar, dass die psychopathologische Störung im engeren Sinn nur einen Teil ihrer behandlungsbedürftigen Probleme ausmacht. Nur 9% aller Patienten geben die Besserung ihrer Störung als einziges Therapieziel an. Drei von vier Patienten geben Probleme zwischenmenschlicher Natur als eines ihrer drei wichtigsten Probleme an."

Angesichts dieser Konvergenz der Ansichten nimmt es umso mehr Wunder, dass jetzt bei der Strukturierung der Psychotherapielandschaft ein rein deskriptives System zum entscheidenden Ordnungssystem und zur entscheidenden Prüfkategorie erhoben werden soll. Ich erinnere an die Katastrophe von Babylon, die mit dem sich Ncht-Verständigen-Können ihren Lauf nahm. Dies hat seinen tieferen systemischen und zeichentheoretischen Grund: Hat man erst einmal die Begriffe verwirrt, kommt es zu abstrusen Konstruktionen am Bau und mittelfristig zu dessen Zusammenbruch. Um solche Begriffsverwirrungen, die Bemächtigungsabsichten enthalten, handelt es sich, wenn man einfache Gleichsetzungen durchsetzen kann: z.B. höchste Wissenschaftlichkeit = höchste Evidenzstufe (systemisch und zeichentheoretisch ein Unsinn, weil eine Isolation von Einzelmerkmalen deren Bedeutungszusammenhang zerreißt). Oder: Bedeutungszusammenhänge = Faktoren; damit werden Systemgrenzen geleugnet und hochsignifikante Bedeutungskoppelungen zwischen Systemen aufgelöst. Oder: Störungsspezifität = ICD-Zuordnung. Oder: Indikation = ICD-10-Zuordnung. Oder: Versorgungsrelevanz = Häufigkeit einer Störung etc. Die Werbebranche weiß längst, wie wichtig es ist, Bedeutungskoppelungen künstlich unter Umgehung der Realitätsprüfung herzustellen, um im Sinne eigener Absichten beeinflussen zu können. Der Begriff „Störungsspezifität" beinhaltet eine suggestive Konkretheit, die durch den Inhalt gar nicht gedeckt ist. Störung wird von uns Praktikern verstanden als das komplexe Zusammenwirken von Genese, Auslösern, Strukturbildungen und Symptomen. Hier sei daran erinnert, dass Symptom nichts anderes als „Zeichen" heißt. Ein Zeichen für die Sache selbst zu nehmen, heißt, seine Bedeutungen nicht entschlüsseln zu können und etwas als objektives Objekt misszuverstehen. Es soll abschließend auf mögliche emanzipatorische Funktionen von Psychotherapie im gesellschaftlichen Kontext hingewiesen werden. Gerade angesichts immer neuer Gesundheitsreformwellen mit immer mehr Wettbewerbs- und Reformrhetorik zur Legitimierung von Einschnitten an der Substanz der Versorgung und immer weniger Rücksicht auf die tatsächlich erforderlichen ökonomischen und öko-

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logischen Bedingungen fur eine wirksame und sparsame Medizin und Psychotherapie kann der Psychotherapie eine Schlüsselfunktion zukommen, soweit sie sich nicht selbst einem Prozess der Verdinglichung unterwirft, um sich gesellschaftsfähig modern zu gerieren. Innerhalb der Medizin könnte die Psychotherapie, soweit sie sich nicht ihres subjektiven Kerns beraubt oder berauben lässt, die unter Machbarkeitskriterien mehr und mehr an den Rand gedrängte Bedeutung der subjektiven Sinnzusammenhänge einfordern, mit deren Vermittlung nur sinnvolle Kriterien gefunden werden können für den Einsatz des Machbaren. Medizin kann nur für den Patienten heilend wirksam sein, wenn Psychotherapie und somatische Medizin sich durchdringen und aufeinander bezogen bleiben wie zwei Pole in einem eliptischen gemeinsamen Gebilde. In der Gesellschaft kann Psychotherapie dazu beitragen, das Unbehagen an der Kultur nicht zu zerstörerischen Antagonismen anwachsen zu lassen, sondern zu einer Vermittlung zwischen Individuum und gesellschaftlichem Entwicklungsprozess beizutragen, im Dienste des Individuums und seiner Entwicklungsmöglichkeiten, unter der Prämisse, dass nur ein entwicklungsfähiges Individuum auch in der Lage ist, konstruktiv gestaltend den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess zu beeinflussen.

V Zu Philosophie und (Forschungs-) Praxis der Psychotherapie: Narration, Imagination, Verstehen und Revolte

Erzählen als Zugang zu existenziellen Erfahrungen Heiner Legewie Vorbemerkung Während die so genannte evidenzbasierte Psychotherapie noch als Speerspitze der fortschrittlichen Psychotherapie propagiert wird, erscheint ein Buch mit dem Titel „Narrative-based Medicine - Sprechende Medizin" (2005), dessen Herausgeber, Trisha Greenhalgh und Brian Hurwitz, zu den Mitbegründern der evidenzbasierten Medizin gehören. Das Buch belegt einmal mehr, dass narrative Zugänge zum Patienten in Medizin, Psychotherapie und Psychotherapieforschung unverzichtbar sind - ohne allerdings den soziolinguistischen und sozialwissenschaftlichen Kenntnisstand zur Erzählung als Zugang zu lebensgeschichtlichen Entwicklungen einzubeziehen. Nachdem ich mich mit dem pseudowissenschaftlichen Unfug des „Goldstandards" randomisierter Doppelblindstudien in der Psychotherapieforschung schon in einem Beitrag in der Zeitschrift „Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung" kritisch auseinandergesetzt habe (Legewie 2000), möchte ich heute über Theorie und Methodik narrativer Zugänge zu biographisch relevanten bzw. existenziellen Erfahrungen sprechen. Ich möchte meinen Ausführungen zwei Warnungen vorausschicken: Zum einen bin ich kein Psychotherapeut, sondern meine Schwerpunkte sind Gemeindepsychologie und qualitative Sozialforschung. Ich spreche also hier aus der Perspektive eines freundlich-kritischen Beobachters der Psychotherapiekultur, meine Beispiele entstammen meiner gemeindepsychologischen Forschungspraxis. Zum anderen liegen die Erfahrungen, von denen ich sprechen werde, teils mehr als 20 Jahre zurück. Es liegt eine besondere Ironie darin, dass die von mir und anderen Kolleginnen und Kollegen vertretene sozialwissenschaftliche Psychologie gegenwärtig allenthalben abgewickelt wird, während jenseits der akademischen Psychologie, z.B. in den Gesundheits-, Technik- und Umweltwissenschaften, der Bedarf an qualitativen Methoden als unverzichtbar entdeckt wird. Anstelle einer Definition des Begriffs „existenzielle Erfahrung" möchte ich mit der Geschichte eines Forschungsprojekts beginnen, das mir die Bedeutung von Erzählungen als Zugang zu existenziellen Erfahrungen auch in der psychologischen Forschung erschlossen hat. Als ich 1977 eine Professur für Klinische Psychologie an der Technischen Universität Berlin antrat, hatte ich 20 Jahre mit statistischen, experimentellen und psychophysiologischen Methoden gearbeitet, zuletzt in der Abteilung für Klinische Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. An der Technischen Universität erhielt ich die Chance, gemeinsam mit Ursula Plog und anderen Psychologinnen und Psychologen mit Fördermitteln der Psychiatrie-Enquete die Modelleinrichtung einer psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle aufzubauen, den „Treffpunkt Waldsstraße" in Berlin-Moabit. Die Arbeit im „Treffpunkt Waldstraße" regte mich zu einem ungewöhnlichen Forschungsprojekt an: Ich wollte den Alltag im Moabiter Kiez jenseits der Beratungsstelle erkunden. Durch eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Vertretungsprofessur 1980-81 konnte ich mich für anderthalb Jahre frei

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von Lehrverpflichtungen der gemeindepsychologischen Stadtteilforschung widmen. Ich zog damals in eine kleine Altbauwohnung im Moabiter Stephanviertel. Die Leute in diesem Viertel hätten mit dem Kopf geschüttelt, wenn ich ihnen einen Fragebogen vorgelegt hätte. So orientierte ich mich in meiner Forschung an der ethnologischen Feldforschung und an den soziologischen Stadtteilstudien der „Chicagoer Schule" aus den 1920er Jahren: Ich verbrachte meine Tage mit Gesprächen und Interviews mit Menschen aus dem Stephankiez, die ich im Hausflur, auf der Straße, in Kneipen und in ihren Wohnungen führte, mit der stundenlangen Niederschrift meiner Erfahrungen in Feldnotizen und dem Abhören und Auswerten der auf Tonband registrierten ethnographischen Interviews (Legewie 1987). Für Ethnologen gilt die erste eigene Feldforschung in einer fremden Stammeskultur als Grenzerfahrung und Initiationsritual und wird in ihrer prägenden Wirkung mit der Lehranalyse verglichen. Auch für mich war die Feldforschung im Stephanviertel eine existenzielle Krisenerfahrung: Die Konfrontation mit den Menschen im Wohnviertel und mit deren Freuden und Hoffnungen, aber auch mit Elend, Krankheit, Aggression und Ekel erlebte ich als Feldforscher hautnah, ohne dass ich mich hinter einer distanzierenden Fragebogenmethode oder Therapeutenrolle hätte verstecken können. Hinzu kam der Verlust meiner gewohnten akademischen Lebenswelt, bedingt durch das Eintauchen in die mir fremde Lebenswelt, aber auch durch das Unverständnis meiner akademischen Kollegen. (Als mich damals ein Soziologe für die Teilnahme an einem Sonderforschungsbereich zur Biographieforschung bei alten Menschen vorschlug, wurde dieser Vorschlag von einem prominenten Kollegen mit dem Hinweis abgeschmettert: „Der Legewie hat sich aus der scientific sommunity' verabschiedet.") Die Erfahrung meines ersten Feldforschungsprojektes wurde zu einem beruflichen Wendepunkt und hat mein Selbstverständnis als Psychologe, meine Forschung und Lehre und meine Auseinandersetzung mit der qualitativen Sozialforschung bis heute geprägt. In meinem Vortrag kann ich nur wenige Aspekte streifen, die mir aus dieser Arbeit für das Thema des Symposiums wichtig erscheinen. Für eine ausführlichere Darstellung verweise ich auf meine im Internet zugängliche Vorlesungsreihe „Qualitative Diagnostik und Evaluation" (Legewie 2000-2004). Ein Beispiel aus der Feldforschung Was sind Erzählungen existenzieller Erfahrungen? Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, das aus der ersten von mir im Stephanviertel recherchierten Fallgeschichte stammt. Die Bäckersfrau hatte mir von einer alten Frau erzählt, die seit 60 Jahren in einer Einzimmerwohnung in einem benachbarten Abrisshaus lebte: „Die alte Frau Heidfeld, die muss nun raus. Die Arme hat ja morgen ihren 90. Geburtstag." Mit einem Blumenstrauß in der Hand habe ich mich am anderen Tag in die Schar der Gratulanten aus der Nachbarschaft eingereiht. Am nächsten Tag hatte ich Gelegenheit, mit Frau Heidfeld ein längeres ethnographisches Interview zu führen.

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Auszug aus einem Gespräch mit Frau Heidfeld (Stephanviertel 1980) - Sie werden lachen, ich wollt' mir schon mal's Leben nehmen. Und das soll ich nicht tun. Wissen Sie, wie das war? Ich hab mir besorgt 60 Tabletten und will die abends spät einrühr'n, zum Trinken, was. Da klopft es ... Und ich denk mir nichts dabei, und ich geh da hin und mach auf, da ist das der Herr gewesen, der mal hier bei uns im Haus gewohnt hat. Ein Herr! Abends so spät! Der kommt denn immer so spät. Und ich wollt' ihn nicht reinlassen, und da hat er gesagt: „Weg" und ist hier reingegangen; da sagt er: „Was soll das sein?" Ich sag: „Hab Durst, will trinken." „Ach Quatsch", sagt er, „wissen Se, was das sind, das sind doch Tabletten! Was wollen Sie denn machen?" Da sag ich: „Ich will nicht mehr leben, bin alt genug." Und der hat mir alles weggenommen. Die Tabletten, alles hat er mir weggenommen. - Und warum wollten Sie sich denn da das Leben nehmen? - Ja ... Weil ich nicht gewusst hab, wo ich hinsoll, wo ich mit die Klamotten hinsoll und wo ich mit allem hinsoll. Hab ich mir gedacht: „Denn weißte von nischt.. Weg!" Und das hab ich mir im Kopf gesetzt und wollte es tun. Und der Herrgott hat mir einen hergeschickt, der musst' mir das klauen. Also sollte ich leben - da glaube ich daran. Hab ich gesagt: „Lass es drauf ankommen, wie's kommt, wird's kommen." Hab wieder gleich den Mut gehabt. (Legewie 1987) Diese spontane Erzählung ist in mehrfacher Hinsicht für unser Thema aufschlussreich: 1. Es handelt sich um eine „echte Erzählung", d.h. die Erzählung eines singulären Ereignisses. 2. Es geht um die Geschichte eines lange vorbereiteten Selbsttötungsversuchs angesichts einer Krisenerfahrung von Einsamkeit, Verlassenheit und Hilflosigkeit durch bevorstehenden Wohnungsverlust. 3. Auf dem dramatischen Höhepunkt der Geschichte, dem Auflösen der Tabletten, erscheint ein unerwarteter Besucher und verhindert durch sein Eingreifen den Suizid. 4. Der unverhoffte Besucher wird von der Erzählerin als Gottesbote interpretiert, dessen Botschaft Weiterleben lautet. 5. Diese Erfahrung führt zur Bewältigung der Existenzkrise, die Erzählerin schöpft neuen Mut für die Zukunft. Die Erzählung erscheint als Geschichte einer Bekehrung oder religiösen Erweckung. Für die Interpretation ist es zweitrangig, ob der zufällige Besuch eines Nachbarn beim Auflösen von Tabletten tatsächlich stattgefunden hat oder ob die Geschichte eine Verdichtung der Krisenbewältigung angesichts einer hochambivalenten Selbsttötungsabsicht darstellt. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die Darstellung einer Entwicklung von einem Ausgangszustand A über eine Handlungskomplikation zu einem Zustand B. Die Geschichte demonstriert uns idealtypisch das Potenzial von Erzählungen als Zugang zur Verarbeitung einer existenziellen Krise.

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Erzähltheoretische Überlegungen Jedes Erzählen setzt Erinnern gelebten Lebens voraus und ist zugleich ein Akt der subjektiven Sinngebung. Schütz (1974) zeigt in seiner phänomenologischen Lebensweltanalyse, dass die subjektive Sinngebung eine grundlegende menschliche Bewusstseinsleistung ist. Im spontanen Hinleben des Bewusstseinsstroms hat unser Erleben noch keinen Sinn. Erst wenn wir uns diesem Erleben in reflexiver Einstellung zuwenden, lassen sich daraus vergangene oder künftige Erfahrungen überhaupt erst ausgrenzen. Eine neue Erfahrung erhält ihren subjektiven Sinn, indem sie aus gegenwärtiger Sicht in die Schemata der Erfahrung des Subjekts eingeordnet wird. Diese Einordnung kann sich ebenso auf Einzelerfahrungen, auf größere Lebenszusammenhänge wie auf das gesamte Leben beziehen. Habermas (1981, S. 206) stellt das phänomenlogische Lebensweltkonzept von Schütz auf eine kommunikationstheoretische Grundlage. Erzählungen haben in der Alltagskommunikation eine lebenswichtige Bedeutung: Durch Erzählungen verleihen Individuen und soziale Gruppen den ihnen widerfahrenden Geschehnissen Sinn und versichern sich damit ihrer Identität: „Sie (d.h. die Personen und Gruppen) können nämlich eine persönliche Identität nur ausbilden, wenn sie erkennen, dass die Sequenz ihrer eigenen Handlungen eine narrativ darstellbare Lebensgeschichte bildet, und eine soziale Identität nur dann, wenn sie erkennen, dass sie über die Teilnahme an Interaktionen ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen aufrechterhalten und damit in die narrativ darstellbare Geschichte von Kollektiven verstrickt sind." Daraus ergibt sich für Habermas zugleich die methodische Fruchtbarkeit der sozialwissenschaftlichen Analyse von Erzählungen: „An der Grammatik von Erzählungen läßt sich ablesen, wie wir Zustände und Ereignisse, die in einer Lebenswelt auftreten, identifizieren und beschreiben; wie wir die Interaktionen von Gruppenangehörigen in sozialen Räumen und in historischen Zeiten zu komplexen Einheiten vernetzen und sequenzieren; wie wir die Handlungen von Individuen und die Ereignisse, die ihnen zustoßen, wie wir die Taten von Kollektiven und die Schicksale, die sie erleiden, aus der Perspektive der Bewältigung von Situationen erklären" (S. 207). Habermas betont aber auch die Grenzen der Erzählbarkeit: Die Handelnden sind - nach einer Wortprägung von Schapp (2004) - „in Geschichten verstrickt", d.h., sie sind nicht nur Handelnde, sondern immer auch Erleidende, die ihren „Geschichten" mehr oder weniger hilf- und verständnislos ausgeliefert sind. In der Lebensbewältigung stellen sich Probleme der „äußeren" ebenso wie der „inneren Not". Die Menschen beherrschen und durchschauen ihre objektiv gegebene Lebenssituation und ihre inneren Konflikte nur zu einem kleinen Teil. Erzählungen existenzieller Erfahrungen sind deshalb einerseits mehr oder weniger fragmentiert und verzerrt, andererseits tragen sie zur Integration von Krisenerfahrungen in die persönliche bzw. soziale Identität und im günstigen Falle zur Selbstaufklärung bei. Die zentrale Bedeutung von Erzählungen wird auch aus kognitionspsychologischer Sicht unterstrichen. Erzählungen gelten als Basisstrukturen der Repräsentation biographischer Erfahrungen, wobei die emotionale Erlebnisbeteiligung von besonderer Bedeutung ist (Wiedemann 1986).

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Durch welche Besonderheiten sind Erzählungen diagnostisch so ergiebig? Es handelt sich um komplexe Sprechhandlungen, die gegenüber einfachen sprachlichen Äußerungen einen doppelten Situationsbezug aufweisen: Sie sind eingebettet in das Hier und Jetzt der Situation, in der erzählt wird (Erzählsituation), und erhalten von daher ihre kommunikative Funktion. Sie beziehen sich auf das Damals und Dort der Situation, über die erzählt wird (erzählte Situation), und überschreiten von daher das Hier und Jetzt der Erzählsituation. Wegen des Überschreitens der Erzählsituation kann der Erzähler nicht davon ausgehen, dass der Hörer die Situation schon kennt. Er ist vielmehr genötigt, die erzählte Situation - soweit es fur das Verständnis des Handlungsablaufs erforderlich ist - ausdrücklich zu beschreiben. In dieser Erzählverpflichtung liegt zugleich die sozialwissenschaftliche bzw. diagnostische Fruchtbarkeit von Erzählungen, denn sie verpflichtet den Erzähler, seine Sichtweise des Damals und Dort (die erzählte Geschichte) explizit darzustellen. Dass nicht nur literarische Erzählungen eine kunstvolle Form besitzen, haben die soziolinguistischen Untersuchungen von William Labov (1978) in den Slums von Harlem gezeigt. Labov ließ schwarze und puertoricanische Jugendliche von ihren Erlebnissen berichten (z.B. mit dem Erzählanstoß: ,flattest du schon einmal eine Schlägerei mit einem Typ, der stärker war als du?" Oder: „Bist du in einer Situation gewesen, in der du in Lebensgefahr schwebtest?"). Er stellte fest, dass die gesammelten Stegreiferzählungen mehr oder weniger einem idealtypischen Darstellungsschema folgten. Labov spricht von einer Grammatik des Erzählens, die auch in anderen sozialen Schichten und Sprachgemeinschaften nachgewiesen werden konnte. Das Erzählschema zeichnet sich unter anderem durch eine idealtypische Abfolge von Erzählphasen mit jeweils unterschiedlichen Funktionen aus. Durch das Abstract (= Ankündigung oder Titel der Erzählung) bereitet der Erzähler nicht nur den oder die Zuhörer auf seine Geschichte vor, sondern er sichert sich auch das Rederecht, d.h.: Erzähler und Zuhörer stellen sich für die Dauer der Erzählung auf eine asymmetrische Kommunikation ein. Die Orientierung dient dazu, den oder die Zuhörer mit den Gegebenheiten der Geschichte aus Sicht des Erzählers vertraut zu machen. Das dramatische Zentrum, die Pointe der Erzählung, ist die Handlungskomplikation (Complication): Nur was „aus dem Rahmen fallt", d.h. der Routineerwartung widerspricht, ist überhaupt erzählenswert. Die Auflösung ist nicht zwingend: In einem Beratungsgespräch wird der Ratsuchende am Ende seiner Geschichte anstelle einer eigenen Auflösung den Berater oder Therapeuten nach einer Lösung fragen. Die Evaluation („Was soll das Ganze?") bildet nicht regelmäßig eine abgrenzbare Erzählphase, sondern sie kann auch implizit vermittelt werden oder aus bewertenden Einzelkommentaren in verschiedenen Phasen bestehen. Die Coda (Schluss) zeigt gegebenenfalls die Rückkehr zum symmetrischen Gespräch an.

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Phase/Funktion

Beispiel

Abstract: Worum soll es gehen?

... ich wollt' mir schon mal's Leben nehmen.

Orientation: Wer, wann, wo, weshalb?

Ich hab mir besorgt 60 Tabletten und will die abends spät einrühr'n, zum Trinken, was.

Complication: Was passierte dann?

Da klopft es ... Ein Herr! Abends so spät! Und ich wollt' ihn nicht reinlassen, und da hat er gesagt: „Weg" ...

Resolution: Wie ging es aus?

Die Tabletten, alles hat er mir weggenommen.

Evaluation:

Und der Herrgott hat mir einen hergeschickt. Also sollte ich leben - da glaube ich daran.

Was soll das Ganze?

Und warum wollten Sie sich denn da das Coda: Das war's (alternativ: Frage des Leben nehmen? Zuhörers) In Alltagsgesprächen ebenso wie in Beratung und Psychotherapie können Erzählungen spontan auftreten oder durch Nachfragen bzw. Erzählanstöße provoziert werden. In den verschiedenen psychotherapeutischen Richtungen werden Erzählungen unterschiedlich genutzt; überspitzt formuliert ergibt sich folgendes Bild: Für die Psychoanalyse ist die Sequenz verzerrte Erzählung - freie Assoziation - rekonstruierte Erzählung charakteristisch. Der Klient erzählt die Geschichte seines Symptoms, eine Alltagsbegebenheit oder einen Traum. Daran anschließend folgen die freien Assoziationen des Klienten zu den Einzelheiten seiner Erzählung. In der abschließenden Deutungsarbeit versuchen Therapeut und Klient gemeinsam, eine neue, unverzerrte Geschichte zu (re-)konstruieren. In der Gesprächstherapie stellt sich der Therapeut als empathischer, wertschätzender und authentischer Zuhörer der Erzählungen des Klienten zur Verfügung, wobei er vor allem den emotionalen Gehalt hervorhebt und gegebenenfalls zur Stärkimg der Ressourcen eine Neubewertung positiver Aspekte der erzählten Geschichte durch den Klienten unterstützt (narratives Reframing). In der Verhaltenstherapie geht es im Gegensatz zu Psychoanalyse und Gesprächstherapie nicht um Erzählungen als eigenständige Gegenstände der therapeutischen Arbeit, sondern als diagnostische Zugänge zur Entstehungsgeschichte und Bedingungsstruktur von Symptomen (Verhaltensanalyse). Obwohl also Therapeuten unterschiedlicher Orientierung intuitiv vielfaltig mit Erzählungen arbeiten, erfahrt der angehende Psychotherapeut gewöhnlich nichts von der Existenz der Erzählgrammatik und anderer Aspekte der Erzähltheorie. Für eine systematische Weiterentwicklung der therapeutischen Technik erscheint es mir lohnend, nicht nur die Erzählform, sondern auch die soziolinguistischen Besonderheiten und Stärken unterschiedlicher sprachlicher Darstellungsformen wie

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freie Assoziation, Erzählung und Argumentation vergleichend zu reflektieren und gezielt zu nutzen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Gefahren einer durchrationalisierten „bürokratischen" Kommunikation im beraterisch-therapeutischen Kontext. In Fragebogen, aber auch in Beratungsgesprächen oder manualisierten „Psychotherapien", die auf zeitökonomisch effiziente Problemlösung setzen, werden Erzählungen entweder nicht zugelassen (im Fragebogen) oder als störend und abschweifend erlebt und entsprechend abgeblockt. Um diesem Trend entgegenzuwirken, ist es erforderlich, angehende Berater und Therapeuten in der Ausbildung für die besonderen Stärken von Erzählungen eigens zu senibilisieren und sie im Hervorlocken und in der Analyse von Erzählungen zu schulen. Erzählen in Diagnostik und Forschung Im Anschluss an die erzähltheoretischen Überlegungen möchte ich auf zwei Instrumente der qualitativen Diagnostik, Therapie und Forschung eingehen: das narrative und das biographische Interview. Beispiel eines narrativen Interviews • Vorgabe des thematischen Rahmens „Ich möchte in dem folgenden Interview mit Ihnen über Ihre persönlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit Ihrem Herzinfarkt sprechen ..." • Erzählaufforderung „Können Sie bitte erzählen, wie es zu dem Herzinfarkt gekommen ist?" • Haupterzählung Aktives Zuhören • Immanente Nachfragen „Sie erwähnten, dass Sie ziemlich lange auf den Rettungswagen warten mussten. Vielleicht können Sie von dieser Wartezeit noch etwas ausführlicher erzählen?" • Exmanente Nachfragen (fakultativer Leitfaden) „Mich würde noch interessieren, was Ihnen durch den Kopf gegangen ist, als die starken Schmerzen einsetzten. Können Sie dazu noch etwas sagen?" • Interviewabschluss Bilanz der „Geschichte" (fakultativ) Feedback zum Interview Das narrative Interview wurde von Fritz Schütze (1976) für gemeindesoziologische Untersuchungen über informelle kommunale Strukturen im Kontext von Gemeindezusammenlegungen in Nordrhein-Westfalen entwickelt. Schütze nahm an, dass Erzählungen über eine emotionsbesetzte Entscheidung für seine Fragestellung ergiebiger sein würden als eine direkte Befragung der beteiligten Gemeindepolitiker. In der Untersuchung forderte er seine Gesprächspartner auf, zu erzählen, wie es zur Entscheidimg für den Namen der neu gebildeten Gemeinde gekommen ist.

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Das narrative Interview ist eine gleichzeitig sehr offene und eine sehr strenge Interviewform, in deren Mittelpunkt die Erzählung einer selbst erlebten „Geschichte" steht. Das obige Schema gibt den Ablauf eines narrativen Interviews am Beispiel einer existenziellen Erfahrung - dem Erleiden eines Herzinfarkts wieder. Schütze spricht im Zusammenhang mit dem narrativen Interview von drei so genannten Erzählzwängen: Der Detaillierungszwang ist die Verpflichtung des Erzählers, die für das Verständnis des Geschehens notwendigen Einzelheiten mitzuteilen. Der Kondensierungszwang ist die Verpflichtung, sich beim Erzählen auf das Wesentliche zu beschränken. Der Gestaltschließungszwang ist die Verpflichtung, einmal begonnene Erzählstränge auch abzuschließen (wer A sagt, muss auch B sagen). Die Bezeichnung Erzählzwänge erscheint mir unglücklich und sollte durch Erzählverpflichtungen ersetzt werden: Beim Erzählen geht es nicht um Zwänge, sondern um Regeln, die natürlich gebrochen werden können. Abgesehen von ethischen Bedenken, halte ich die Erwartung von Schütze für überzogen, aufgrund der Erzählzwänge würden im narrativen Interview Einzelheiten sozusagen unfreiwilllig preisgegeben. Gesprächspartner wissen sehr genau, was sie wem wann und wie detailliert erzählen können. In Untersuchungen mit narrativen Interviews habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass bei brenzligen Themen die Reichhaltigkeit einer Erzählung gewöhnlich abflacht und der Interviewte zum Stil eines trockenen Berichtes übergeht, weil er sich bewusst ist, dass eine „echte" Erzählung zu viel preisgeben würde. Psychologisch ergiebig sind narrative Interviews vor allem, weil sie einen Zugang zu implizitem Wissen und zu impliziten subjektiven Handlungs- und Entwicklungstheorien liefern, wobei insbesondere auch die enge Verflechtung kognitiver und emotionaler Aspekte thematisiert wird. Das biographische Interview (bzw. die biographische Anamnese) bezieht sich anders als das narrative Interview - nicht auf eine singuläre lebensgeschichtliche Episode, sondern auf ein biographisch relevantes Lebensthema, einen Lebensabschnitt oder auf die gesamte Lebensgeschichte. Die eigene Lebensgeschichte lässt sich nicht in Form einer Narration im Sinne Labovs erzählen, vielmehr wird der Erzähler wechseln zwischen unterschiedlichen Darstellungsformen: zusammenfassenden Berichten, Situationsbeschreibungen, „echten" Narrationen (den dramatischen Höhepunkten einer Lebensgeschichte), argumentativen Darstellungen, Frauge-Antwort-Sequenzen und wertenden Bilanzierungen. Hier ist es wiederum wichtig für die Durchführung und Analyse der biographischen Interviews, dass der Diagnostiker bzw. Forscher die unterschiedlichen Darstellungsformen beherrscht. Als methodisch interessantes Beispiel für biographische Interviews in der Identitätsforschung möchte ich eine qualitative Studie über beruflich integrierte und marginalisierte Jugendliche von Keupp u.a. (1999) anführen. Die Autoren haben sich in ihren Interviews auf so genannte biographische Kernnarrationen zu Lebensthemen konzentriert, denen eine zentrale Bedeutung für die Identitätskonstuktion von Jugendlichen unterstellt werden kann:

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Biographische Kernnarrationen Für die Identität zentrale Geschichten, z.B. Herkunft und Kindheit, Schulzeit, Berufswahl und -entwicklung, erste Liebe, Kennenlernen des Lebenspartners, Familiengründung, Hausbau, schwere Krankheit, Behinderung Sinnstiftender Endpunkt Einengung auf relevante Ereignisse Narrative Ordnung Kausalverbindungen (nach Keupp u.a. 1999) Existenzielle Erfahrungen in der Erzählwerkstatt Welche Potenziale besitzt das Erzählen existenzieller Erfahrungen jenseits des Kontexts von Diagnostik und Forschung in der Aus- und Weiterbildung und für die psychosoziale Praxis? Ich möchte abschließend kurz eingehen auf die „Erzählwerkstatt", ein gruppendynamisches Verfahren, an dessen Entwicklung ich im Rahmen des gemeindepsychologischen Gesprächskreises 1987-88 beteiligt war. Unsere ursprüngliche Zielsetzung war es, auf einer Arbeitstagung jenseits der üblichen Referate einen lebendigen Austausch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer über ihre berufliche Sozialisation und Praxis zu ermöglichen (s. Stark 1992). Die gemeindepsychologische Erzählwerkstatt arbeitete mit heterogen zusammengesetzten Kleingruppen (Praktiker und Forscher, Berufsanfanger und „alte Hasen"). In der Kleingruppe erzählte zunächst ein Teilnehmer von seinem beruflichen Werdegang und seiner gemeindepsychologischen Arbeit. Daran anschließend diskutierten die Zuhörer zunächst Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich ihrer eigenen Berufsbiographie. Anschließend erfolgte eine Reflexionsphase, in der die biographischen Erfahrungen ausgewertet und „auf den Begriff gebracht werden sollten. Die Kleingruppen dokumentierten die Ergebnisse der Reflexionsphase auf einem Poster. Im anschließenden Plenum wurden die Ergebnisse anhand der Poster präsentiert und vergleichend diskutiert. Stark (S. 33) resümiert das Ergebnis der gemeindepsychologischen Erzählwerkstatt wie folgt: „An diesem Wochenende vollzog sich ein intensiver Austausch von Erzählungen verschiedener berufsbiographischer Entwicklungen, die sich als Sammlung individueller ,empowerment'- und ,burn-out'-Erfahrungen herausstellten. Ergebnisse im klassischen Sinne hatte dieses Experiment am Ende nicht vorzuweisen: Es wurde kein Katalog der Bestimmungsstücke gemeindepsychologischer Perspektiven formuliert. Die gemeinsamen Diskussionen in den Plena im Anschluss an die Erzählungen entwickelten aus der gewonnenen biographischen Geschichtlichkeit ein Gesicht oder ein Profil des Feldes, das über die bislang gepflegten programmatischen Erklärungen hinausging." Im Jahre 2003 habe ich die Methode der Erzählwerkstatt in Empoli (Toskana) eingesetzt in einem Weiterbildungsworkshop für so genannte „Volontari" (Ehrenamtliche), die in der offenen Arbeit mit Jugendlichen aus Problemfamilien tätig waren. Ziel des sechsstündigen Workshops war es, die Volontari für die

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Erzählungen der Jugendlichen als Zugang zu deren Lebenswelt zu sensibilisieren. In der Erzählwerkstatt sollten eigene existenzielle Erfahrungen thematisiert werden. Nach einer Einfuhrung in die Thematik des Erzählens wurden die 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in drei Arbeitsgruppen aufgeteilt. Die Arbeitsgruppen einigten sich zunächst zwanglos darauf, wer bereit war, eine für ihn existenzielle Erfahrung zu erzählen. Ein zweiter Teilnehmer übernahm die Rolle des Interviewers, die restlichen Gruppenmitglieder hatten die Aufgabe, während des Gesprächs bzw. Interviews auf die Interaktion und die Einzelheiten der erzählten Geschichte zu achten und ihre Beobachtungen zu protokollieren. Nach der Erzählphase erfolgte eine Reflexionsphase, in der die Teilnehmer das Interview unter vier Gesichtspunkten analysieren sollten: Gesprächsinteraktion, Inhalt der Geschichte, Selbstoffenbarung des Erzählers, soziale Beziehungen, Intentionen des Erzählers. Die Ergebnisse der Analyse wurden zum Abschluss der Reflexionsphase in einem Poster zusammengefasst, das als Grundlage für die Präsentation und Diskussion im Plenum diente. Die Erzählungen der drei Gruppen bezogen sich auf folgende Erfahrungen: Tod des Vaters, Trennung von einem Lebenspartner, Liebesgeschichte. Die folgende Tabelle zeigt das Poster der Liebesgeschichte von Anna und Gianni auf deutsch: Interaktion:

Annas Geschichte: Gianni bei Ausbildung kennengelernt Anfangs nur gute Kameradschaft Gefühle erst nicht bemerkt Spannung und Aussprache Entscheidung für Partnerschaft Soziale Beziehungen'. Selbstoffenbarunz: Glücksgefühl und Anfangs hänseln Freunde Dankbarkeit Später Konflikte („keine geringes Zeit") Selbstbewusstsein Freundlichkeit von Giannis Familie Intentionen des Erzählers: - Mitteilungsbedürfnis des eigenen Glücksgefühls und Bestätigungssuche anfangs leichte Befangenheit einfühlsame Zuwendung große Offenheit

In der Feedback-Runde betonten die Teilnehmer zum einen, dass ihnen die im Workshop vermittelten Erzählmethoden für ihre Arbeit mit den Jugendlichen sehr nützlich erschienen und neue Anregungen gegeben hätten. Ebenso wichtig jedoch war den Teilnehmern die Auseinandersetzung mit den eigenen existenziellen Erfahrungen, der die Mehrzahl (nicht nur die Erzähler) eine quasi gruppentherapeutische Wirkung zusprach.

Legewie: Erzählen als Zugang zu existentiellen Erfahrungen

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Ausblick Erzählungen werden in der Psychotherapie als Zugang zu existenziellen Erfahrungen bisher überwiegend intuitiv genutzt. Soziolinguistische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu Theorie und Methodik von Erzählungen sind nach meiner Einschätzung geeignet, Theorie und Praxis der Psychotherapie um wichtige Aspekte zu erweitern. Insbesondere in der Psychotherapieforschung könnten narrative Methoden der qualitativen Sozialforschung dazu beitragen, die Sackgasse rein quantifizierender Ansätze wissenschaftlich fundiert zu überwinden. Literatur Greenhalgh, T. & Hurwitz, B. (Hrsg.; 2005): Narrative-based Medicine - Sprechende Medizin. Dialog und Diskurs im klinischen Alltag. Bern: Verlag Hans Huber. Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 2). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Keupp, H. u.a. (1999): Identitätskonstruktionen. Reinbek: Rowohlt. Labov, W. (1978): Der Niederschlag von Erfahrungen in der Syntax von Erzählungen. In: Labov, W. (Hrsg.): Sprache im sozialen Kontext (Bd. 2). Königstein: Scriptor, 58- 99. Legewie, H. (1987): Alltag und seelische Gesundheit. Gespräche mit Menschen aus dem Berliner Stephanviertel. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Legewie, H. (2000): Goldstandard für die Psychotherapieforschung: Kontrollierte oder ökologisch valide Studien? Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung, 2,125-128. Legewie, H. (2000-2004): Vorlesungsreihe „Qualitative Diagnostik und Evaluation". Download: www. ztg.tu-berlin.de/download/legewie/Dokumente/downloads.htm. Schütz, A. (1974): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (stw). Schütze, F. (1976): Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung. In: Arbeitsgemeinschaft Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Kommunikative Sozialforschung. München: Fink, 159-260. Schapp, W. (2004): In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Klostermann Seminar, Bd. 10. Stark, W. (1992): Gemeindepsychologische Geschichte(n): Zur Bedeutung von Geschichten für eine gemeindepsychologische Perspektive. Fünf Annäherungen. In: Böhm, I. et al. (Hrsg.): Gemeindepsychologisches Handeln: ein Werkstattbuch. Freiburg: Lambertus, 28-44. Wiedemann, P. M. (1986): Erzählte Wirklichkeit. Zur Theorie und Auswertung narrativer Interviews. Weinheim: Psychologie Verlags Union.

Alltagsverstehen und die Kunst des Verstehens1 Jürgen Hardt I

Eine Patientin könnte eines Tages zu mir kommen und mit der Klage beginnen: „Ich verstehe mich selbst nicht mehr." Und sie könnte vielleicht verzagt hinzufugen: „Ich weiß nicht mehr weiter und kann mir nicht erklären, warum." Was eine Patientin explizit sagen könnte, sagen alle Patienten tagtäglich, wenn sie uns als Psychotherapeuten aufsuchen. Immer drücken sie aus, dass sie mit ihrem Wissen am Ende seien und weder verstehen, warum, noch, wozu das so sei. Und sie führen uns deutlich vor Augen, dass Verstehen im psychologischen Bereich viel mehr heißt als Erkennen und Wissen. Es heißt zugleich: mit den Dingen, dem Leben zurechtkommen. Menschen verstehen sich normaler Weise selbst und wissen sich in einem mehr oder weniger großen Bereich selbst zu helfen; so wissen sie, mit seelischem Leid zurechtzukommen, und haben Techniken gelernt, es zu behandeln. Die Breite des Selbstverstehens und die Feinheit der Selbstbehandlung sind wertvolle kulturelle Güter. Erst wenn sie versagen, hat das professionelle Verstehen seinen gerechtfertigten Einsatz. Ihr Alltagsverstehen, ihre Alltagspsychologie versagt, wenn sie eine Psychotherapie suchen. Sie suchen Hilfe, wenn sie nicht mehr weiterwissen, wenn sie nicht einordnen können, nicht verstehen können, was sie bewegt. Sie haben auch keine alltäglichen Mittel mehr, die weiterhelfen; und das bedeutet, dass auch ihre Alltagspsychotherapie am Ende ist. Das Alltagsverstehen leitet unser Sinnverstehen, und unsere Alltagspsychotherapie ist ein wichtiges Reservoir, auf das wir alltäglich zurückgreifen, wenn wir seelisches Leiden verspüren. Erst wenn dieses Reservoir erschöpft ist, wissen die Patienten nicht mehr weiter, „sie wissen sich nicht mehr zu helfen", und sie müssen sich an einen Experten wenden, der, zumindest wenn er psychodynamisch, gar psychoanalytisch ausgebildet ist, vom Versagen der Kompetenz ausgeht und dann versucht, die alltägliche Kompetenz wiederherzustellen. Psychotherapeuten reagieren unterschiedlich auf das Versagen des alltäglichen Verstehens. Je nach Ausrichtung werden wir nur das Versagen des alltäglichen Verstehens selbst alltäglichen Selbstverstehens feststellen und uns nicht weiter darum kümmern. Dann werden wir Störungen von Krankheitswert klassifizieren und mit einem Maßnahmenkatalog verbinden, um anschließend normgerechte Interventionen einzusetzen. Die Alltagspsychologie spielt scheinbar keine Rolle in solchem als wissenschaftlich verstandenen psychotherapeutischen Tun. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Alltagspsychologie nicht ausgesetzt wird, sondern sich unverändert durchsetzt. (Das kann man z.B. in Analogie bei der Interpretation von ausgearbeiteten Testverfahren sehen, die ja in Beratungsverhältnisse umgesetzt werden müssen. Gibt es keine transformierte, 1

Zusammenfassung der Thesen, die meinem Vortrag beim Symposium zugrunde lagen.

Hardt: Alltagsverstehen und die Kunst des Verstehens

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ausgebildete Kunst des Verstehens, also keine transformierte Alltagspsychologie, wird dieser Umsetzungsprozess ganz mit alltagspsychologischen Mitteln vollzogen.) Um dem Patienten weiterzuhelfen, müssen wir selbst „Verstehen" gelernt haben. Manchmal reicht dazu die bloße Lebenserfahrung, die, wenn man bereit ist, aus Erfahrungen zu lernen, „Verstehen" lehrt. Oft bedarf es aber mehr. Wir stehen dann mit dem Patienten zusammen vor der Aufgabe, das zuerst Unverständliche in verständlichen Zusammenhängen neu zu denken, d.h. zu verstehen. Das, was „wir" an uns verstehen, ist in einer kulturell angebotenen und sozial/familiär vermittelten Alltagspsychologie organisiert, die mehr oder weniger explizierbar ist und ständiger Veränderung unterliegt. (So sind z.B. Konzepte der Psychoanalyse und der Auflösung ihres strengen systematischen Inhaltes in das Alltagsverstehen eingedrungen und haben sich dabei mehr oder weniger gründlich verändert. Zur Entschuldigung kann man heute sagen: „Oh, das habe ich wohl verdrängt.") Die Alltagspsychologie ist als Organisation für das Zusammenleben unabdingbar. Mit ihr ist zugleich ein Umgang mit zu erwartenden Störungen verbunden; Meist wissen „wir" in normalen Krisen, mehr oder weniger zu helfen. Dieses Können, mit der Alltagspsychologie eng verbunden, wie diese mehr oder weniger explizierbar oder organisiert, nenne ich die Alltagspsychotherapie. („An was anderes denken" oder „sich nichts daraus machen", aber auch „etwas mal überschlafen" und „sich mal gehen lassen" sind triviale Beispiele der alltagspsychotherapeutischen Kompetenz.) Selbstverstehen und Selbstbehandlung können in psychotherapeutischen Prozessen erheblichen Widerstand gegen neue Formen der Problembewältigung (Gesundung) darstellen; die entscheidende psychotherapeutische Arbeit besteht oft darin, die selbstverständlichen alltagspsychologischen und alltagspsychotherapeutischen Konzepte der Patienten zu transformieren. Dazu gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Strategien oder Traditionen. II Karl Jaspers hat sich ausführlich mit dem Problem des Verstehens und speziell des Sinnverstehens auseinandergesetzt. Er zeigt die Breite des Verstehens auf, untersucht seine Leistung und will die Grenzen des Verstehens erweitern, indem er es bildet und vertieft. Zugleich beschreibt er die Vorbedingungen des Verstehens. Entscheidend ist bei diesem Bemühen der Bezug auf das verstehende „Wir", das er immer wieder benennt, ohne genauer zu sagen, was darunter zu verstehen ist; es scheint sich von selbst zu verstehen. Dieses „Wir" - wie und was „wir" verstehen - ist Appell und Norm zugleich: ein kulturelles Produkt, das weiterer Kultivierung (Verfeinerung/ Bildung) unterworfen werden soll. Jaspers erweitert das Verstehen, ohne das verstehende „Wir" selbst in Frage zu stellen. Das Verstehen bleibt so im konventionellen und traditionellen Kreis eingeschlossen. Den Kreis zu durchbrechen, wie es z.B. die Psychoanalyse tut, indem sie nach dem Interesse des Subjekts am Verstehen und Nichtverstehen fragt, erscheint Jas-

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

pers wie ein Frevel, eine Auflösung des selbstverständlichen „Wir" mit schweren Gefahren. Seine Abgrenzung gegen das psychoanalytische Projekt gipfelt folglich im empörten Ausruf: „Die Psychoanalyse will alles verstehen" und, so muss man hinzufügen, macht vor nichts Halt, nicht einmal vor den kulturtragenden Werten. Die Verfeinerung des Alltagsverstehens bleibt bei Jaspers der Konvention verhaftet. Deswegen nenne ich sein Verstehen nicht eine Kunst des Verstehens; sie ist eher ein Kunsthandwerk des Verstehens. Weil der Bezug auf das verstehende „Wir" immer wieder betont und erhalten wird, muss Jaspers die Grenzen des Verstehens markieren, Grenzen, die von Tradition und Konvention geboten sind und nicht überschritten werden dürfen. Die Grenzen des sich selbst verstehenden „Wir" sind mehrere: Das verstehende „Wir" kann seine Bedingungen des Verstehens selbst nicht verstehen. Das resultiert aus dem philosophischen Vorurteil von Jaspers. Noch weniger allerdings sind die Werte verständlich, denen das „Wir" unterworfen ist; diese Werte sind einfach hinzunehmen. Eine Psychologisierung der kulturellen Werte ist nach Jaspers nicht statthaft. Das Verstehen findet eine weitere undurchdringliche Grenze am Körperlichen. Körperliche Vorgänge sind nicht verstehbar, sie können und müssen erklärt werden. Diese Grenze resultiert aus platonisch-cartesischem Vorurteil, das wie eine natürliche Selbstverständlichkeit das bürgerliche Denken des Philosophen durchzieht. Aber es resultiert auch daraus, dass Jaspers sich als Arzt dazu bekennt, dass ihm zuerst der Körper als zu erklärendes Objekt anvertraut ist. Das Seelische zu verstehen, tritt demgegenüber zurück. Mit dem ärztlichen und zugleich traditionellen naturwissenschaftlichen Vorurteil ist eine weitere Grenzsetzung verbunden, die bei Jaspers nur diskret angedeutet wird, aber im Kreis seiner Schüler deutlich zum Ausdruck kommt: Das Verstehen des „Wir" hat seine Grenze an der Krankheit. Und zwar weil Krankheit im eigentlichen Sinne immer eine körperliche Ursache haben muss, denn das selbstverständliche und sich selbst durchsichtige „Wir", das Subjekt des Verstehens, kann nicht krank sein. Es ist als Bezugspunkt und Norm jeglichen Inhaltes leer, reine Reflektion, abstrakter Selbstbezug und insofern auch keiner Störung unterworfen. Mit diesen Grenzsetzungen wird das Verstehen auf das Normale und das Seelische, das in einer Kultur akzeptiert wird, eingeschränkt. „Wir" als abendländische (Bildungs-)Bürger verstehen, was wir zu verstehen gelernt haben, was uns gewohnt und erlaubt ist; wir verstehen, was sich gehört. Diese Enge des Verstehens hat eine Reihe von Voraussetzungen, die so selbstverständlich in unseren Denktraditionen erscheinen, dass sie nicht als Setzungen erkennbar sind. Diese Setzungen sind eng miteinander verknüpft. Sie sind in zwei Denktraditionen organisiert, deren Hauptströmungen erstens: als platonisch/galileisch/cartesisch/moderne und zweitens: als aristotelische, anti-, prä- oder postmoderne Denktraditionen bezeichnet werden (vgl. Rorty 1981 und Wright 1974). Auch das zentrale Methodenproblem der Psychologie - die Dichotomie von Erklären und Verstehen - hängt mit diesen beiden Traditionen zusammen.

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III Henrik von Wright - ein Schüler des späten Ludwig Wittgenstein - entfaltet die Geschichte und den Problemkreis der Methodologie von Erklären und Verstehen. Die vielfaltige Beziehung - Gegensatz und Ergänzungsverhältnis, Gültigkeit und wissenschaftliche Leistungsfähigkeit - der beiden „Ableitungsformen" (W. Salber) durchzieht die Geschichte des gesamten wissenschaftlich-methodologischen Denkens. Von Wright unterscheidet zwei Hauptströmungen, die sich im Laufe der Geschichte gegenseitig ablösen, sich überlagern, in Gegensatz zueinander treten, aber selten ergänzen: die platonisch/galileische und die aristotelische Auffassung von wissenschaftlicher Methodik. Er betont bei seiner historischen Übersicht, dass im Alltagsverstehen die angeblich gegensätzlichen Methoden - Erklären und Verstehen - keine Gegensätze sind, sie können sich stattdessen vertreten, fordern sich heraus und ergänzen sich. Leider versäumt es von Wright, die Problematik von Erklären und Verstehen als die zweier Sprachspiele oder gar Lebensformen aufzufassen. Das würde die methodologische Tradition erweitern und das Methodenproblem mit anderen Grundproblemen abendländischer Kulturentwicklung verbinden. Dieser Ansatz, das Methodenproblem im Zusammenhang mit der gesamten Denktradition zu skizzieren, ist entscheidend für die folgenden Gedanken. Die platonisch-galileische Wissenschaftsauffassung lässt nur das Erklären nach dem mechanistischen Typus zu. „Teleologische" Erklärungen, die bei Aristoteles eine große Rolle spielen, haben keinen legitimen Erklärungswert. Das ergibt ein eingeengtes Erklären, das in Verbindung der Zweisubstanzenlehre des jungen Descartes zu sehen ist, in der ausgedehnte, räumliche Natur der vollständigen mechanistischen Erklärungsableitung unterworfen werden kann und zugleich das Muster jeglicher Wissenschaft abgibt. Dieses Konzept hat der modernen Naturwissenschaft zu außerordentlichem Erfolg verholfen. Nach diesem Erklärungsmuster sind Voraussagen, Experiment und Herstellenkönnen Bedingungen, um wissenschaftliche Wahrheit zu erreichen. Verstehen hat nur alltägliche - vorwissenschaftliche und private - Bedeutung und im Kanon wissenschaftlicher Methodik keinen legitimen Platz. Seelische Vorgänge aber, von der Natur grundsätzlich unterschieden und damit aus dem Weltgeschehen herausgelöst und ihm gegenübergestellt (Freud), gelten in dieser Tradition als grundsätzlich nicht erklärbar, es sei denn, sie werden als Epiphänomene körperlicher Prozesse aufgefasst. Der seelischen Phänomenen adäquate wissenschaftliche Erfassungsprozess ist das Verstehen, das von einem sich selbst verstehenden, sich selbst transparenten und nach zureichender kritischer Bearbeitung völlig reinen und damit leeren Subjekt ausgeht. Dieses sich selbst verständliche und rationale Subjekt ist ein Kunstprodukt, das durch eine kritische Prozedur zustande kommt, die der junge Descartes in seinem jugendlichen Gefühlsaufruhr in sich zustande brachte, um sich so vor weiterer Dekompensation zu retten. Dieses leere Ich, dessen Vielzahl das normative „Wir" ergibt, an das Jaspers immer wieder appelliert, ist ein Bezugspunkt reiner, kritischer Überlegung. So wird das klare und deutliche Überlegen zum Maß

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seelischer Prozesse. Gefühle, Empfindungen oder gar Phantasien und anderes mehr sind nur als verdunkelte oder verunreinigte Denkprozesse zu begreifen. Ich bezeichne die Zweisubstanzenlehre und das mit ihr verbundene Methodenproblem der Dichotomie von Erklären und Verstehen und den Entwurf einer Psychologie, die sich auf ein reines und selbstverstehendes Subjekt bezieht, als den Entwurf des jugendlichen Descartes, weil er im Laufe der Lebenserfahrung, nach dem Tod seiner einzigen Tochter, und seiner Tätigkeit als Psychotherapeut („Doktor der Seele") einer prominenten Adligen die Zweisubstanzenlehre mehr oder weniger explizit aufgab und ein „Drittes" konzipierte, den lebendigen Leib. Dieser lebendige Leib ist nach Descartes eine Verbindung der beiden als grundsätzlich unterschiedlich anzusehenden Substanzen, was letztlich sehr schwer zu denken ist, denn Substanzen können sich nicht verbinden, sondern sie können nur allein auftreten. Trotzdem konzipierte Descartes eine solche Verbindung, die ideologisch äußerst bedenklich war und derentwegen sein der Kirche ansonsten sehr genehmes Werk indiziert wurde. Das führte später dazu, dass diese Denkansätze aus seinem Werk entfernt wurden. Allerdings ist die Konzeption des beseelten Leibes als grundsätzlich verschieden vom nur räumlichen Körper in einzelnen Briefen erhalten. Dieser Denktradition steht der aristotelische Ansatz diametral entgegen.2 Das Verhältnis von Körper und Seele, Geist und Natur - damit zugleich das Methodenproblem der Wissenschaft von Geist und Natur, Erklären versus Verstehen wird bei Aristoteles ganz anders aufgefasst. Die Seele steht nicht der Natur gegenüber. Seelische Prozesse beginnen mit der gerichteten Selbstbewegung, entfalten sich über das Empfinden, steigern sich zum Wahrnehmen und entwickeln sich über das Denken bis zur wahren Erkenntnis. So haben schon die Pflanzen eine Seele, selbstverständlich die Tiere und die Menschen in unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Ein Gegensatz zur Natur ergibt sich nur im erkennenden Geist, der zwar an andere seelische Prozesse gebunden ist, aber zugleich eine Unabhängigkeit von der Natur erreicht. Aristoteles lässt nicht nur eine wissenschaftliche Methode zu, sondern er fordert, dass wissenschaftliche Methoden ihren Gegenständen adäquat sein müssen. Dass Gegenstände immer schon mit Methoden der Auffassung verbunden sind, hat W. Salber ausführlich beschrieben. Die Forderung nach Methodenadäquanz, zusammen mit der Auffassung von der Seele als einem natürlichen Gegenstand, relativiert zugleich den Gegensatz von Erklären und Verstehen. Es zeigt sich, dass die Einschränkung des Erklärens auf das Muster „Vorbedingung eines Ereignisses zusammen mit einem allgemeinen Gesetz" keine zureichende Erfassungsweise für natürliche Prozesse sein kann, weil natürliche Vorgänge immer schon mit Zielen verbunden sind. D.h.: Die künstliche Trennung, die dem experimentellen Denken zugrunde liegt - Vorbedingung, allgemeines Gesetz, Ergebnis als Muster der Erklärung (Hempel-Schema) - greift zu kurz. Natürliche Prozesse sind nur als Ganzes zu erfassen: Ausgangsbasis - Prozess - Ziel oder Endzustand. In den natürlichen Vorgängen sind immer nur komplette Prozesse als Ganzheit zu erfassen.

2 Dabei ist daran zu erinnern, dass Descartes mit dem kritischen Zweifel die trivial-aristotelische Tradition der Scholastik ablösen wollte.

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Alle natürlichen Prozesse streben also auf ein Ziel, auf einen Endzustand hin. So ist die Ausgangssituation zusammen nur mit einem Ziel als Wirkungsfaktor verbunden. Die Erfassung solcher Zusammenhänge nennen wir Verstehen. IV Auch von Wright beschäftigt sich ausführlich mit dieser Problematik. Er sucht nach Möglichkeiten, die „teleologische" Erklärung des Aristoteles in moderner Sprache zu formulieren. Dabei zeigt er eine Fülle von Unklarheiten in der modernen methodologischen Terminologie und Konzeptbildung auf, die viel mehr an Unsicherheit verraten, als sie Propagandisten einer unhinterfragten Naturwissenschaft zugeben möchten. Er diskutiert dabei die kybernetischen Denkansätze, die bis heute als Muster für einen allumfassenden Erklärungsansatz gelten, so dass der Modus des Erklärens auch auf biologische, soziale und psychische Phänomene ausgeweitet werden kann, um damit das Verstehen als Zugangsweise überflüssig zu machen. Von Wright weist nach, dass diese Ansätze aus grundsätzlichen Überlegungen nicht einlösen können, was sie versprechen. Das Verstehen hat nach wie vor einen unaufhebbaren legitimen Platz im Arsenal der wissenschaftlichen Methoden. Letztlich kann man - von Wright folgend - sagen, dass die Dichotomie von Erklären und Verstehen auf die Legitimation teleologischer „Erklärung" hinausläuft, als einer Auffassung, die dem Gegenstand belebter Natur adäquat ist. Fasst man natürliche Prozesse ganzheitlich auf, dann fällt der Gegensatz von Erklären und Verstehen insofern zusammen, weil natürliche Prozesse immer ganzheitlich aufzufassen sind, von einer Ausgangslage (Ausgangsbasis bei W. Salber) ausgehend, auf Ziele, Endzustände zulaufen. Nur in solchen komplexen ganzheitlichen Zusammenhängen sind sie zu erfassen. Das gilt für biologische, soziale und erst recht für höhere psychische Prozesse. V In der Psychoanalyse gehen Erklären und Verstehen ineinander über, sie vertreten sich gegenseitig, fordern sich heraus und befruchten sich. Freuds psychologisches Projekt wird von ihm selbst am entschiedensten in seiner letzten, kurzen und wenig bekannten Schrift umrissen: „Some Elementary Lessons in Psychoanalysis". Für unser Thema wird darin deutlich, dass auch die Psychoanalyse vom alltäglichen Verstehen des Seelischen ausgeht. Sie versucht, das Verstehen zu erweitern, wählt dabei aber einen Weg, der dem von Jaspers diametral entgegengesetzt ist. Sie beginnt nicht da, wo das Seelische sich von selbst versteht, sondern setzt am Versagen des Verstehens an, und zwar in einer besonderen Weise. Sie setzt dort an, wo wir eine Ahnung haben, dass wir zwar nicht sofort verstehen, aber vermuten, dass ein anderer, geheimer, unbewusster Sinn am Werke war. Solche Ahnungen, Gewissheiten sogar, kennt auch die aufmerksame alltagspsychologische Beobachtung. „Wir" ahnen, meinen zu wissen, dass Fehlleistungen besonders gehäufte Fehlleistungen: Vergessen oder Ungeschicklichkeiten - einen Sinn haben, lassen die Erklärungen, dass es nicht so gemeint war, nicht gelten, sondern beginnen zu deuten, auch gegen den Willen und die Beteuerung dessen, der die Fehlleistung begangen hat. So werden wir annehmen, dass wir jemandem nicht so wichtig sind, wie er/sie beteuert, wenn sie/er wiederholt unseren Geburtstag „vergessen" hat.

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Auch Witze hören wir mit der Ahnung, dass sie nicht nur lustig sind, obwohl sie so gehandelt werden. Oft können wir über Witze nicht lachen, weil wir verspüren, dass damit verleugnete, verpönte Tendenzen sich durchsetzen, die wir nicht teilen, auch wenn jemand beteuert und alle sich darüber einig sind und jemand selbst davon überzeugt ist, dass doch alles ganz harmlos gemeint sei. Mit Träumen hat es eine besondere Bewandtnis. Auch lange vor Freuds systematischer Traumdeutung galten Träume als geheime Botschaften dunkler Kräfte im Menschen, die jenseits, unterhalb oder oberhalb des Bewusstseins tätig sind. Immer gab es ein Wissen, dass es sich beim Traum um eine Äußerung handelt, die in besonderer Weise verstanden werden muss und kann. Das Deuten der Träume ist eine alte Kunst des psychologischen Verstehens; Freud hat sie mit einer komplexen Theorie des Seelischen verbunden, die das Alltagsverstehen überschreitet. Freud fugt dem bewussten Seelischen nicht ein Unterbewusstsein hinzu; er hält die Bewusstheit nur für eine besondere, nach wie vor rätselhafte Qualität unbewusster seelischer Prozesse. Entschieden formuliert er (S. 144): „Das Psychische an sich, was immer seine Natur sein mag, ist unbewusst, wahrscheinlich von ähnlicher Art wie alle anderen Vorgänge in der Natur, von denen wir Kenntnis genommen haben."

Damit tritt seine Auffassung in schroffen Gegensatz zum alltäglichen Verständnis, zur Alltagspsychologie, die meist in der Bewusstheit das entscheidende Merkmal des Seelischen sieht. Das bewusste „Wir" verliert damit aber nicht jegliche Bedeutung, es bleibt „das einzige Licht, das uns im Dunkeln des Seelenlebens leuchtet und leitet" (S. 147). Mit diesem Ansatz wird in aristotelischer Tradition das Seelische als natürlicher Vorgang aufgefasst. Die psychischen Vorgänge werden nicht mehr „aus dem Zusammenhang des Weltgeschehens herausgerissen und allem anderen fremd gegenübergestellt" (S. 143), sondern das Seelische (auch das Bewusstsein) bekommt einen Platz in der Natur, ist wieder in der Welt. Die basalen seelischen (unbewussten) Prozesse werden als komplette Abläufe verstanden. So sind Triebe bei Freud immer komplette Handlungskreise und nicht nur Motive. Sie sind durch eine Quelle, d.h. Ausgangssituation, und Endzustände, die als Ziel seelischer Prozesse zu verstehen sind, gekennzeichnet. So ist ein Triebprozess, der eine Handlung erklärt, in anderer Weise aufgefasst ein verständlicher, verstehbarer Prozess. Wenn wir etwas mit einem Trieb erklären, können wir „verstehen", was jemanden bewegt, der einen Triebanspruch befriedigt. Unsere Erklärung soll das Verstehen des Patienten erweitern. Solch ein psychologischer Ansatz muss von der Alltagsbeobachtung mit all ihren Setzungen und Vorannahmen ausgehen, will er Relevanz im Leben behalten. Die Psychoanalyse verlässt das Alltagsverstehen, stellt es radikal in Frage, versucht, seine Vorbedingungen und Vorurteile aufzudecken. Sie „dekonstruiert" (J. Derrida) kunstvoll das alltägliche „Wir" des Karl Jaspers. Solche Art von Verstehen, das sich von der Norm des alltäglichen „Wir" befreit, läuft Gefahr, willkürlich zu werden, wenn es nicht an Regeln und an vertiefte Erfahrung gebunden ist. Deswegen braucht diese Verstehenskunst eine zureichende Selbsterfahrung.

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Die Psychoanalyse setzt an den Lücken des Verstehens an, dort, wo die Ahnung aufkommt, dass das Versagen des Verstehens selbst einen Sinn hat. Sie benutzt dabei zuerst Mittel, die immer schon verwendet worden sind.3 Auch die Technik des automatischen Schreibens war lange vor der Psychoanalyse bewusst. Die Psychoanalyse selbst schloss in ihrer Krankenbehandlung an die Technik der Beichte an, mit der die soziale Norm vorübergehend ausgesetzt wird und eine strenge Zusicherung der Diskretion besteht. So können die Menschen frei über sich reden und sich einen anderen Zugang zu sich selbst gestatten. Mit solchen Techniken - freie Einfalle als Ersatzbildung, die in der Tat an unbewusste Sinnzusammenhänge gebunden sind - erweitert die Psychoanalyse die bewusste Wahrnehmung seelischer Prozesse, die sich als in natürliche Vorgänge eingebettet erweisen. Deswegen spielen generative Vorgänge, die Bildung und Behauptung des Individuums, zusammen mit organisierenden sozialen und kulturellen Prozessen die entscheidende „Erklärungs-Rolle". Die Psychoanalyse macht tatsächlich mit ihrem Verstehenwollen vor nichts Halt; sie will alles verstehen - was ihr Karl Jaspers vorwarf. Diese Art eines kunstvollen Verstehens, das das alltägliche Verstehen auflöst, hinter sich lässt und erst nach dessen Dekonstruktion wieder rekonstruiert, ist nicht mehr als ein Kunsthandwerk zu betreiben. Das ist eine wahre Kunst, eine Rekonstruktion der Welterfahrung, um in schöpferischer Weise das Alltägliche neu erfahrbar zu machen. Literatur Freud, Sigmund (1938, zit. n. 1972): Some Elementary Lessons in Psychoanalysis, G.W. Bd. XVII. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 139-147. Hardt, Juergen (1991): „Bemerkungen zur letzten Psychoanalytischen Arbeit Freuds: Some Elementary Lessons in Psychoanalysis", Jahrbuch der Psychoanalyse, 35, 65-85. Hardt, Juergen (2001): „Die Erfindungen des Herrn Descartes und das Problem der modernen Psy chosomatik". In: Milch, E. W. und Wirth, H-J.: Psychosomatik und Kleinkindforschung. Jaspers, Karl (1923,19658): Allgemeine Psychopathologie. Berlin - Heidelberg - New York: Springer. Rorty, Richard (1981): Der Spiegel der Natur: eine Kritik der Philosophie. Wright, Henrik von (1974): Erklären und Verstehen. Frankfurt a. M.: Athenäum.

3 Beim Namenvergessen gibt es die alltägliche Technik der Ersatzbildung. Man fragt sich, wie er denn noch heiße, es fällt einem nicht ein und sinnvollerseise fragt man sich, ob er nicht X heißt oder Y, vielleicht doch eher Z, vielleicht auch A oder B, und schließlich fällt einem doch der richtige Name ein.

Erzählung und Inszenierung Thomas Schwinger Übersicht Ich werde folgende Themen behandeln, und zwar aus einer sozialpsychologischen Perspektive: - Wer eine Geschichte aus seinem Leben erzählt, der inszeniert sie auch. (Auf solche Geschichten beschränke ich mich in diesem Text.) - Die Zuhörer fungieren dabei auf sublime Weise als Mitwirkende und auch als Publikum, und sie bestätigen die Geschichte (oder auch nicht). (Der Einfachheit halber werde ich von Erzählern und Zuhörern sprechen. Es sind aber immer Männer und Frauen gemeint.) - Frage: Wie kann es dann eine exzentrische Position eines Berater/Psychotherapeuten geben? - Wer erzählt, gibt Auskunft, wer er ist, wer er geworden ist. - Von der Idee eines festen und einheitlichen Selbst ist Abschied zu nehmen. - Eine wichtige Frage ist: Gibt es alternative Geschichten? - Ich werde diese Themen aus der Sicht der psychodramatischen Methode behandeln - und mich auf Alltag und Beratung/Psychotherapie beziehen.

Geschichten aus dem eigenen Leben und dem der Zuhörer Menschen, die Geschichten aus ihrem Leben erzählen - über ihre Arbeit, ihre Familie, ihre Kindheit - , haben einen Zuhörer. Die Geschichte fordert den Zuhörer heraus, Stellung zu nehmen, und zwar zu den Höhepunkten und Wendungen der Geschichte. Eine spannende Geschichte, die aus einem Anwesenden einen involvierten Zuhörer macht, hat bestimmte Merkmale: Der Akteur hat Ziele, und diesen stellt sich unerwartet ein Hindernis entgegen, das er überwinden muss1. Damit sind Geschichten mit Wünschen und Ängsten, mit Scheitern und Gelingen verbunden. Sie erzeugen Sinn im menschlichen Handeln - durch menschliche Absichten oder auch übergeordnete Zwecke2. Die Wendepunkte werden durch besondere Intonierung, durch Mimik u.a. hervorgehoben. Zur Stellungnahme herausgefordert ist der Zuschauer, weil eine solche Geschichte das Leben des Erzählers mit den alltagsweltlichen Bedeutungen verbindet und damit auch den Zuhörer einbezieht. Wie er die Geschichte versteht, besagt ja auch: wie er die Welt und sich selbst versteht. Die Geschichte ist dem Zuhörer prinzipiell vertraut - auch er hat Ziele, hat Erfolg oder scheitert - im Meer des alltäglichen Unverbundenen, Zufalligen und nicht Überblickbaren (s. Straub 1998). Dazu gehören die alltagsüblichen Interpretationsfolien für moralisches, zweckmäßiges Verhalten oder deren Gegenteil. Gemeinsam stehen die beiden vor der Entscheidung, entweder Unterschiede zwischen privaten Welten anzuerkennen - dass sie sich beide nachvollziehbar auf die Interpretationsfolien beziehen lassen - oder aber sich auf eine einzige gültige In1 „Problematic event" bei Bruner (1986), „the initiating" bei Stein und Mitarbeitern (1979, 1984); „destabilisierendes Ereignis" bei Boothe (1994). Dieses Hindernis ist eine Abweichung von den üblichen Ereignisfolgen - wie es bewältigt wird, das geschieht selbst wieder auf eine verständliche Art und Weise („kulturell kanonisiert" nennen das Echterhoff und Straub 2004). Die Variationen als Tragödie, Komödie, Tragikomödie oder Komokitragödie zeigen Formen solcher Arten. 2 Nach Bruner (1986) stellen die Erzähler zwei Bezirke her, den des Handelns und den des Bewusstseins. Handeln stellt den Protagonisten ins Zentrum (in bestimmten Umständen), Bewusstsein stellt die Überzeugungen und Gefühle des Protagonisten/Erzählers ins Zentrum.

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terpretation zu einigen. Der Erzähler braucht dabei eine Bestätigung seiner Sichtweise, andernfalls wird er „zum Schweigen gebracht": Der erzählte Teil seines Lebens, sein Erleben, ist dann interpersonal nicht vorhanden. Inszenierung Erzählungen werden im Alltagsleben inszeniert - indem direkte Rede wiedergegeben wird, durch Mimik und Gestik, durch das Übergehen ins Hier und Jetzt, und wenn die Gegenwartsform benutzt wird oder Dialoge nachgespielt werden. Was uns da als selbstverständlich erscheint, hat eine besondere Form. Das wird durch Vergleiche zwischen autobiographischen Erzählsituationen deutlich - in verschiedenen Milieus und Kulturen. Psychodramatisch gesehen - auch Psychoanalytiker werden zustimmen - kann man sagen: Es wird gemeinsam in der Vorstellung eine Bühne errichtet, auf der die Lebensgeschichte nachgespielt wird (Boothe 1994, 30 ff.). Der Erzähler fungiert als Protagonist, als Regisseur und als Kommentator. Inszenierung wird nun oft so verstanden (im Alltag wie auch in der Psychologie), als würde einer wahren, echten Person ein falscher Anschein gegeben3. Diese Vorstellung eines echten Persönlichkeitskerns, der gezeigt oder verborgen wird, ist eine (insbes. seit Rosseau) gängige Interpretation von Menschen4. Man kann das Verhältnis aber auch anders sehen: Das Selbstbild kann nur durch eine Inszenierung zugänglich werden (Markus & Nurius 1987; Markus & Ruvob 1989) - aber auch durch Imagination einer solchen. Selbst und Selbstinszenierung sind daher nicht voneinander trennbar. Involvierung des Zuhörers Wie ist der Zuhörer involviert? Er muss auf die Geschichte ja reagieren, sie in seiner Sinnwelt unterbringen, gerade wenn sie verstörend ist wie in Beratung/Psychotherapie5, ihr einen Sinn geben. Gemeinsam bringen die beiden die Geschichte zu Ende - nehmen zu ihr Stellung und verankern so wieder in der alltagsweltlichen Gegenwart. Sieht man Geschichten als das Wirklichkeitserzeugende unserer Kultur an (Gergen 1996), durch die auch die Personen konstituiert werden, dann stellt sich für beide die Frage, wer sie denn nun sind. Und darüber gilt es einen Konsens zu finden. Die Herausforderung fur den Zuhörer ist: Kann er in dieser Geschichte vorkommen, kann sie Teil seiner Welt sein? Dazu ist zu bedenken: Bei Mangel an Resonanz ändern Erzähler ihre Geschichten. Ferner darf auch nicht jeder immer seine Geschichte erzählen. Kindern 3 Vgl. die Forschungen zur positiven Selbstdarstellung beim Ausfullen von Persönlichkeitsfragebogen (z.B. Schütz & Markus 2004). 4 Die dem Schlussfolgern von Handlungen auf Motive zugrunde liegt (Jones & Davis 1965). 5 Ich sehe den Unterschied zwischen Beratung und Psychotherapie vor allem in der Form der Institutionalisierung, weniger der Methoden oder der Aufgaben. Wesentliche Merkmale der Differenz scheinen mir die Aufforderung in der Beratung zu lebensweltlichem Bezug, raschem Transfer und die Verwendung von Modellen bzw. Metaphern für Modelle, die der Klienten-Lebenswelt nahe sind

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z.B. werden ihre Geschichten eher in den Mund gelegt („Du warst heute in der Schule? Und wie war's in Mathe?"), Verdächtige verlieren ihre Geschichte an die Sprache der polizeilichen Tataufnahme (Linell & Jonsson 1991, zit. n. Ochs u. Capps 1996) - Geschichten von Opfern wird oft das Zuhören verweigert.6 Der Zuhörer kann empathisch mit dem Protagonisten (Schütz 1960) sein, und er wird bestätigen oder verwerfen. Frage: Wenn der Zuhörer so involviert ist, wie kann es dann eine exzentrische Position zu Geschichten geben? Antwort: Er kann die Geschichte auf die aktuelle Situation anwenden - „Warum erzählst du mir das gerade jetzt?" - bzw. in einer Übertragungsanalyse7, und er kann danach fragen, was die Geschichte beim Erzähler bewirkt: „Was geht in Ihnen vor - jetzt, nach dieser Erzählung?" Und es gibt noch eine wichtige Frage. Die Frage nach alternativen Erzählungen Dazu ein Beispiel: Heimito von Doderer, ein österreichischer Romancier, wurde vom Verleger um eine autobiographische Skizze gebeten und schrieb daraufhin ,»Meine 19 Lebensläufe". Hier einige Partien: „Versuchen wir's einmal mit einer soliden deutschen Schriftstellerbiographie: Ich bin im Jahre 1886 zu Unkel am Rhein als Sohn einfacher, aber unappetitlicher Leute geboren. Da meine Eltern nicht die Mittel hatten, mir eine höhere Bildung angedeihen zu lassen, war es mein gütiger Oheim Wilhelm Albrecht Beschorner, welcher mir den Besuch des altehrwürdigen Gymnasiums zu Hildburghausen ermöglichte, wo ich, zu Füßen Friedrich Albert Schröters sitzend, zum ersten Mal den Duft der antiken Kultur in mich einsog. Das geht so keinesfalls. Ich bitte darum, das einsehen zu wollen. (Obendrein: Es ist alles nicht wahr.) Wir bieten lieber dafür einige echantillons oder Muster von Autobiographien in Kürze an. (Vielleicht auch so 5) Umdrängt von Gefahren, immer benachbart ihren nahen Wetterschlägen, lebte ich zufällig noch weiter und gleichsam zwischen den Zeilen. In diesen selbst, wo's ja logisch zugeht, würde ich längst nicht mehr existieren. Noch ein Versuch: 13 Dieser Mensch ist so schwer nicht zu begreifen. Im Grunde weich, feig und lümpisch, wollt1 er sich immer wieder zusammenbasteln, um auf das Postament seiner Prätentionen steigen zu können: freilich ohne was aus der Hand zu lassen, bewahre; mit Sack und Pack, und Päckchen und Kinkerlitzchen, hübsch arrangiert, in große Entschlüsse einzuwandern, das hätte ihm behagt. So wollt' er sich etablieren."

6 Man braucht nur an die Opfer des Massenmords des NS-Regimes und seiner Helfershelfer zu denken. 7 Boothe 1994, S. 48: Die Erzählung „(inszeniert) das Modell einer inneren Beziehungskonstellation und Handlungsorientierung" und stellt Facetten eines Übertragungsentwurfs dar.

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Zwar verabschiedet sich Doderer von einer einfachen Geschichte, aber in seinen 18 Folgegeschichten produziert er eine Gesamtgeschichte von Verzweiflung und Beharrlichkeit, die um das Schreiben kreist. Das Schreiben als Ausweg? Als Symptombildung? Wer war dieser Heimito von Doderer? Und damit sind wir bei einem Thema, das mit Geschichten eng verbunden ist. Geschichten und Selbst Dass Erzählen eigener Geschichten eine Art Selbsterzeugung darstellt, ist (mittlerweile) weithin anerkannt. Geschichten machen die eigenen Erfahrungen zu einem Gegenstand des Bewusstseins (Schütz 1960) - sie drücken aus, wie wir uns zu den Ereignissen stellen, welche Gefühle wir dabei haben und wie wir uns selbst - zu einem Teil - sehen und wofür wir Bestätigung wünschen oder Verwerfung furchten8. So kann man folgern, dass unsere autobiographischen Geschichten unser Leben formen (und nicht umgekehrt!). Weil aber verschiedene Geschichten erzählt werden können und auch erzählt werden, folgt, dass es mehrere Selbste gibt - etwa zu verschiedenen Zeitpunkten (wie ich früher war, wie ich heute bin; vgl. Ricoeur 1988) oder als öffentlich vs. privat (Goffmann 1969, 71, 77). Unsere Kultur und unser Selbstverständnis Selbst und Selbste Die öffentliche Debatte über Identität und Identitäten, über multiple Persönlichkeiten zeigt an, dass eine Sicht auf das Selbsterleben von Menschen fragwürdig geworden ist, die im Europa der Renaissance entstand (Elias 1991; Kon 1983) und im 19. Jahrhundert gleichzeitig einen Höhepunkt und eine Krise durchlief (vgl. Logan 1987): die des autonomen, abgeschlossenen Menschen (Elias 1991).

8 Wir können auch einen Schritt weiter gehen und unsere gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit als ineinander verwobene Geschichten betrachten, die uns die Welt erklären und damit auch aufnötigen, dass es Personen mit Absichten geben muss, Helden und Dumme, Magieopfer, Kollektivselbste oder autonome Homoclausus-Menschen etc.

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Offenbar beschreibt man die Selbstinterpretation in modernen westlichen Kulturen nicht mehr adäquat mit einer ein für alle Mal erarbeiteten Identität (so die Kritik von Keupp u. a. 1999 an Eriksons Modell)9. Die Auflösung der Milieus, der rasche Wandel und die damit verbundene soziale und ökonomische Labilisierung fuhren zu einer anderen Selbstinterpretation - verschiedene mögliche Selbste sind je nach Situation wirksam (Markus & Nurius 1987), werden aufgenommen und abgelegt10. Identität als Prozess Derzeit sind in unserer Gesellschaft Kohärenz und Konsistenz des individuellen Selbstausdrucks und Selbsterlebens die Voraussetzung dafür, eine sozial akzeptable Person zu sein. Auch und gerade bei Veränderung und Wechsel. Das wird von Soziologen und Sozialpsychologen seit längerer Zeit betont (z.B. G. H. Mead, E. Goffman, E.-H. Erikson, T. Parsons, J. Habermas). Das muss allerdings nicht wieterhin so sein, ist auch nicht auf der ganzen Welt so (vgl. z. B. Shweder & Bourne 1984; Harre 1981) und war auch in Europa nicht immer so (Kon 1983).11 Am besten geht man von einem Identitätsprozess aus - ich folge hier der Konzeption von G. H. Mead (1968, 1934; 1987, 1913). Der Identitätsprozess schafft aus den möglichen Selbsten ein aktuelles Selbst, das gerade jetzt stimmig ist, eine Metaerzählung ermöglicht, die zustimmungsfahig ist (aber eben auch verwerfbar (s. Goffman 1972,1974). Die Bedeutung der Erzählung für den Erzähler In Beratung/Psychotherapie ist m.E. eine zentrale Frage: Was wird gesucht, die Bestätigung der Erzählung oder die Alternative - oder beides? (Ich kann meine Geschichte so und auch so erzählen, und immer bin ich es, der sie erzählt.) Entscheidend ist nicht die Geschichte selbst, sondern die Kohärenz zwischen Geschichten - die Kontinuität und/oder die Folgerichtigkeit bei Wechsel.12

9 Beobachtungen ähnlicher Art wurden bereits vor längerer Zeit gemacht. In Zurchers Theorie des variablen Selbst werden Entwicklungsformen des Selbst beschrieben - sie wurden aus der Analyse von Selbstbeschreibungen gewonnen (Zürcher 1977): Das „reflexive Selbst" ist nach Zürcher unabhängig von sozialen Rollen - Selbstdefinitionen erfolgen unabhängig von sozialen Situationen durch Kennzeichnung eigener Eigenschaften. Das „ozeanische Selbst" schließlich, das nach Zürcher den gegenwärtigen sozialen Bedingungen am besten entspricht, zeichnet sich durch Selbstbeschreibungen mittels abstrakter Ideen, transzendentaler Prozesse, mystischer Offenbarungen etc. aus. 10 "Working self, possible selves, ought and ideal selves" u. a. m. (Markus & Ruvolo, 1989) 11 Das könnte bei anderen kulturellen Vorstellungen von Personen anders sein: Man kann ja auch Geschichten über sein Dorf und seine eigene Verwobenheit darin erzählen und diese Erzählungen gemeinsam teilen, einander zustimmen (Lurija 1986, Kap. 7). Wir haben ja auch derzeit Unpersonen (kleine Kinder, Geisteskranke, Behinderte, Kriminelle), deren Personheit als fraglich beurteilt wird und denen eine andere Art von Menschsein angesonnen wird als die des autonomen, selbstreflexiven Subjekts, das sich seine Identität zusammenstellt. 12 „Biographizität" bei Alheit 2002.

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Nun sind wir in der psychosozialen Arbeit kaum mit Leuten zusammen, die an einer Debatte über den Identitätsbegriff teilnehmen. Sie erleben Flexibilisierung materiell und physisch: Steigende Labilisierung der materiellen Reproduktion, die ihnen materielle Verluste und existentielle Unsicherheit beschert.13 Die Methoden in Beratung/Psychotherapie müssen sicherstellen, dass Kohärenz erlebt wird. Und deshalb ist es m.E. wichtig, dass man, gerade bei Geschichten über Sorgen, Kummer, Leid, Niederlagen, Scheitern, nicht nur bestätigt und innerlich und auch erkennbar auf die Geschichte eingeht14, sondern auch auf die Situation des Erzählens und die Frage nach Alternativen. Das nenne ich die exzentrische Position. Um das zu verdeutlichen, gehe ich auf die ausführliche Inszenierung von Geschichten im Psychodrama ein. Auch deshalb, weil das auch modische Interesse an Erzählungen zu einer Verdinglichung der Lebensgeschichte fuhren kann. Die ausführliche Inszenierung von Geschichten im Psychodrama Zwei Seiten der Rollentheorie des Psychodramas Die Rollentheorie hat zwei Seiten: (1) Sie beschreibt mit einem soziologischen Vokabular das Verhältnis von Person und Gesellschaft - soziale Rollen haben klare Strukturen, sie enthalten15: Handlungsmuster, Kontexte und Akteure, die Beziehungen der Akteure mit ihren Regeln, Machtpositionen und Austauschformen. Ferner enthalten sie die entsprechenden gedanklichen Modelle der Akteure und ihrer Emotionen. In diesen Rollen treten gesellschaftliche Strukturen als normative Rollenerwartungen auf; von ihnen kann man nicht beliebig abweichen. Dazu gehört immer: Zwischen der Person und ihrer Rolle besteht ein Unterschied (Goffman 1977; Dreitzel 1980; Krappmann 1969). (2) Die zweite Seite ist die des Rollenspiels: Hier wird diese Begrifflichkeit auf einen anderen Bereich angewandt, den persönlicher, informeller Beziehungen. Man kann auch sie als Handlungsmuster usw. beschreiben. Aber hier kann man Handlungsmuster nicht sinnvoll als gesellschaftliche Normen verstehen - sie sind vielfaltig und veränderbar. Und in persönlichen Beziehungen wird nicht zwischen Rolle und Person getrennt. Schließlich besteht nur selten ein Vokabular fur solche Rollen.16

13 Soll man ihnen mit einem Begriff des Identitätsprozesses kommen? Wird das nicht als „multiple Persönlichkeit" verstanden werden? Die sogenannte Postmoderne zeichnet sich m.E. auch durch Ungleichzeitigkeit aus - die kulturellen Deutungsschemata älterer Zeiten leben fort, und wir sind von widersprüchlichen Selbstinterpretationen umgeben. Das Modell des autonomen, reflexiven und innengelenkten Subjekts, das von anderen getrennt ist, wird jedenfalls auch in der Postmoderne von zentralen Institutionen vertreten, wie z.B. der Strafjustiz oder dem Bankwesen. 14 Damit validiert man die Geschichte durch Konsens, wie H. S. Sullivan das nannte. 15 Diese Aufzählung orientiert sich an Williams 1989. 16 In informellen Beziehungen sind soziale Rollen immer erst zu konkretisieren (Blumer 1969; Turner 1976), ihre begrifflichen Etiketten aus der Sprache der sozialen Rollen haben etwas Metaphorisches an sich. („Du benimmst dich wie ein alter Ehemann", sagt die Frau zu ihrem Mann.)

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Drei Ebenen der Interaktion Die erste Ebene behandelt die sozialen Rollen im öffentlichen Bereich: Damit sind die soziale Struktur, Positionen von Menschen in dieser Struktur und entsprechende Erwartungen verbunden. Die gemeinsame Grundlage des Denkens und Bewertens sind diese Erwartungen. In formalen Organisationen gilt dies zum Teil die kollektiven Stereotypen (wie Moreno 1946, S. 158 das nannte) sind allerdings interpretationsbedürftig. Ebene zwei sind persönliche Beziehungen. Auch in formellen Organisationen müssen für persönliche Beziehungen Rollen ausgehandelt werden17. Verbale Explikation ist dann schwierig - das gilt noch mehr in informellen Beziehungen. Hingegen können Handlungsmuster, Regeln, Arten des Austauschs und der Machtverhältnisse beschrieben werden18. Gleichzeitig gilt aber, dass die Interagierenden an soziale Rollen appellieren, als normative Grundlagen ihrer Gestaltungswünsche. Die Art, wie sie ihre Beziehungen auffassen, kann man als Beziehungskonstrukte auffassen.19 Auf der Ebene drei geht es um das Selbsterleben des Einzelnen. Damit ist eng verbunden dessen Interpretation des Interaktionspartners durch Wahrnehmung und (mehr oder weniger adäquate) Perspektivenübernahme und Empathie. Verbale Beschreibungen sind v.a. solche von Eigenschaften (das nenne ich Personkonstruktion). Das psychodramatische Rollenspiel20 Im Rollenspiel, der Gestaltung einer Fiktion, wird die Welt der persönlichen Beziehungen behandelt wie eine soziale Welt. Freundschaft, Ehe, Familienbeziehungen werden dargestellt wie soziale Rollen - z.B. Königin und König oder König und Leibeigene usw. Dazu werden Hilfswelten aus der sozialen Welt oder aus imaginären Welten (etwa von Märchen21) verwendet. Im Rollenspiel zeigt das Handeln nicht auf die Person zur Gänze. Daher beinhaltet das Rollenspiel immer auch eine Konfrontation mit möglichen Selbsten, die in der konkreten Interaktion gerade wirksam oder latent sind. Wer bin

17 Zur Führung im mittleren Management beschreibt z.B. Mühlbacher (2003), wie individuelle Zuschreibungen von bestimmten Führungsstilen sich erst zu kollektiven Erwartungen verdichten. Er untersuchte durch Interviews mit einzelnen Mitarbeitern Beschreibungen von Führungskräften und entwickelte auf dieser Basis Rollenprofile als Zuschreibungsmuster zum Führungsverhalten. Er argumentiert, dass durch Zuschreibungsprozesse und ihre Verzerrungen solche Rollen als Prototyp Gegenstand des sozialen Systems werden. Die gefundenen Rollenmuster verglich er mit den Ergebnissen von anderen Studien zur kollektiven Bewertung von unterschiedlichen Führungsstilen und stellte Übereinstimmungen fest, u.a., dass im mittleren Management vor allem mitarbeiterorientierte und autoritative Führung erwartet wird und auch effektiv ist. 18 Sozialpsychologische Sicht zu Austausch und Austauschprinzipien: Kayser et al. 1984; zu allgemeinen Regeln: Argyle & und Henderson 1986; aus der Sicht der Sozialarbeit: Geiser 2000; StaubBernasconi 1995. 19 Schwinger (1993), Kurzfassung auf der Homepage der EFHD (www.efh-darmstadt.de). 20 Ich beschränke mich hier auf das Psychodrama in Gruppen. 21 Andere Hilfswelten sind Folklore, Mythen, Filme. Dabei gilt die Annahme, dass die zentralen Themen dabei aufrechterhalten werden - wie wenn jemand zu seiner Lebensgeschichte ein passendes Märchen findet (Franzke 1985,1992).

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ich selbst, wer will ich sein?22 Daher geht es immer auch um Selbst-Konstruktion und den Identitätsprozess. Prinzipien Handeln: Es wird vom Handeln ausgegangen, nicht vom Erkennen. Die inneren Modelle von anderen, von der eigenen Person usw. werden durch Handeln erforscht - das Spiel erleichtert das Finden und Ausprobieren von Alternativen. So kommt der Berater/Psychotherapeut in die exzentrische Position: Er muss weder zustimmen noch ablehnen, sondern kann (und sollte) Alternativen als möglich anerkennen und zu Selbstkonfrontation auffordern. Die Fragen sind: Und wer willst du sein? Und wie kommst du damit durch - in den persönlichen Beziehungen, in der sozialen Umwelt? Wechsel des Bezugssystems: Die Handlungsmuster in persönlichen Beziehungen werden verbalisierbar durch einen Wechsel des Bezugssystems. Das nennt man im Psychodrama die „Hilfswelt". Durch Rückgriffe auf soziale Rollen können Themen wie Dominanz konkretisiert werden: „Du verhältst dich zu mir wie ein Polizist" und schon wird die soziale Rolle des Polizisten gespielt. Auch andere Hilfswelten, wie z.B. Märchen, können verwendet werden. Subjektiver Sinn: Im Psychodrama geht es um den subjektiven Sinn von Rollen eben nicht um die sozialen Erwartungen. Die eigenen Rollen (und das sind mögliche Selbste!) werden vom Protagonisten handelnd gestaltet23 und differenziert. Das geschieht durch Perspektivenwechsel, und zwar mit dem Koakteur, mit Außenstehenden, sowie aus einer distanzierten Position auf sich selbst und seine Interaktion auf der Bühne und schließlich in der Nachbesprechung außerhalb der „Erzählung". Erzählungen im psychodramatischen Rollenspiel Koakteure sind die Mitspieler - nicht der Berater/Psychotherapeut. Es gibt Zuhörer: das Publikum. Alternative Geschichten: Der Protagonist findet alternative Geschichten durch Probieren. Das wird unterstützt: (a) durch die Verwandlung in Bühnenrollen, (b) durch die „Schleife" Handeln - körperliche Veränderungen - Handeln und (c) durch Einfälle zu anderen eigenen Rollen (möglichen Selbsten). Ferner handelt er (d) auch in anderen Rollen und sieht sich selbst aus anderen Perspektiven. So schafft er sich Zugang zu alternativen Selbsten und/oder ordnet seine möglichen Selbste anders an, z.B. indem er sein „inneres Team" inszeniert - und eben das ist eine Konkretisierung des Identitätsprozesses.24 Ob ein Klient eine Geschichte nur als Opfergeschichte erzählt oder auch als eine Geschichte eines Überlebenden, ist bedeutsam. 22 Yardley (1987) berichtet über schriftliche Selbstbeschreibungen als Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?" Ich habe diese Frage in zahlreichen Seminaren und Fortbildungen verwendet. Es wurden überwiegend soziale Rollen und Eigenschaften (oft als Grund) genannt. 23 Oder in einer Hilfswelt imaginiert und dann handelnd gestaltet, siehe Clayton 1994. 24 Bei der „parts party" von Virgina Satir (nach Leveton 1975) entdeckt er sich selbst. Der Protagonist fungiert als Regisseur seiner selbst (siehe Clayton 1994; Stelzig 2003).

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Der Berater/Psychotherapeut lenkt das Spiel so, dass die subjektive Bedeutung aller Rollen konkret wird und damit im Handeln gestaltet werden kann. Ich denke, dass damit auch allgemeine Prinzipien deutlich werden. Zusammenfassung In Beratung und Psychotherapie stehen im Fokus: Die subjektive Modellierung von Handeln und Beziehungen. Wie erzähle ich meine Geschichte - was sagt sie mir? Welche Handlungen kommen dabei zum Tragen? Das ist auch beim Erzählen ohne materielle Bühne bedeutsam - wenn auch weniger auffallig. Die Zuhörer sind Koakteure der Erzählung und der geschilderten Ereignisse, und sie bestätigen die Geschichte (oder auch nicht). Der soziale Raum ist ein besonderer: Keine Geschichte ist verboten, wird zum Schweigen gebracht. Und schließlich die Frage nach alternativen Geschichten.25 Folgerungen (1) Es ist wichtig, zwischen sozialer und interpersonaler Ebene zu unterscheiden. Es ist ein Missverständnis, wenn Rollen im Psychodrama oder in Erzählungen als soziale Rollen aufgefasst werden. In Inszenierungen sind Menschen nicht in sozialen Rollen, sondern sie nehmen auf diese Bezug, appellieren an sie. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil sonst die dargestellten/berichteten Handlungen in zwischenmenschlichen Beziehungen banalisiert werden. Die besondere Beziehung z.B. eines konkreten Ehepaars wird zu einer trivialen Allerweltsgeschichte, wenn wir sie auf ein Rollenverhältnis von Ehemann und Ehefrau reduzieren würden. Es gilt vielmehr, die spezifischen Handlungsmuster der Partner verständlich zu machen und zu verstehen.26 (2) Soziale Ebene: In unserer Epoche herrscht ein Ausschließungsdiskurs (vgl. dazu Anhom & Bettinger 2005). Nicht die vertikale Gliederung der Gesellschaft steht im Fokus, sondern eine horizontale: Welche Gruppen sind randständig, sind ausgeschlossen? Bei Bedrohung der materiellen Existenzgrundlagen wirkt die Ausschließung anderer (wenigstens kurzfristig) beruhigend, kann die eigene Gruppe und die eigene Person aufwerten (vgl. Mielke 2000). Dass soziale Rollen weniger verbindlich erscheinen, hat m.E. auch eine Rückseite: Der Staat als Solidargemeinschaft schwindet, die Ausgrenzung wird erleichtert. (3) Ebene der Selbstkonstruktion: Die beschriebene Flexibilität in der Selbstauffassung bedeutet auch, dass der Bezug zu übergeordneten, allgemeinen Auffassungen, was ein Mensch ist und sein sollte und was er dazu braucht, geringer

25 Sie entwickeln sich in Erzählgemeinschaften und in Psychodramagruppen entlang den vorgetragenen Geschichten. 26 Dazu können im Psychodrama die Hilfswelten verändert werden - siehe Fußnote 9.

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wird und dass dies den zuvor genannten Ausschließungsprozess verstärkt, ihn subjektiv plausibel machen kann. (4) Eine Facette dieses Prozesses scheint es mir zu sein, wenn in der Psychotherapie individuelle Leidensgeschichten nach Normenkatalogen in eine symptomorientierte Klassifikation gebracht werden sollen. Auf diese Weise muss der Bezug von psychischem Elend zu sozialen Verhältnissen verloren gehen.27 Die individuenzentrierte Logik unseres Gesundheitswesens setzt in der Psychotherapie durch solche Kataloge eben ein reduziertes Menschenbild durch: Wie Einzelne sozialen Ausschluss bewältigen, wird auf diese Weise notwendig zu ihrem Defekt. (5) Und eine letzte Frage: Sind wirklich alle Elemente und Strukturen von Erzählungen in der Psychotherapie unbedingt vertraulich? Geht dann nicht der Rückbezug zur sozialen Ebene verloren? Ein Vorschlag: Es gibt bereits einen jährlichen Armutsbericht. Gut wäre es m.E., wenn es einen regelmäßigen Bericht zum psychischen Elend im Lande gäbe, veröffentlicht von den Psychotherapeuten; in einem solchen Bericht könnte statt einer Statistik der Symptomatiken, orientiert an Lebensgeschichten, der Zusammenhang sozialer Miseren und individuellen Leids deutlich werden. Literatur Alheit, P. (2002): Identität oder „ B i o g r a p h i z i t ä t " ? Beiträge der neueren sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung zu einem Konzept der Identitätsentwicklung. In: H. Petzold (Hrsg.): Lebensgeschichten erzählen. Paderborn: Junfermann, 6-25. Anhorn, R. & Bettinger, F.(Hrsg.) (2004): Sozialer Ausschluß und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Arbeit. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Argyle, M. & Henderson, M. (1986): Die Anatomie menschlicher Beziehungen. Spielregeln des Zusammenlebens. Paderborn: Junfermann. Blumer, H. (1962): Symbolic interactionism. Perspective and Method. Englewood Cliffs, N. J.: Prentice Hall. Blumer, H. (1969): Der methodische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1, Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek: Rowohlt, 80-146. Boothe, B. (1994): Der Patient als Erzähler in der Psychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bruner, J. (1986): Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge: Harvard Univ. Press. Clayton, M. (1994): Role theory and its application in clinical practice. In: P. Holmes, M. Karp & M. Watson (Eds.): Psychodrama since Moreno. London: Routledge, 121-144. Doderer, H. von (1966): Meine neunzehn Lebensläufe und neun andere Geschichten. München: Biederstein. Dreitzel, H. P. (1980): Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Stuttgart: Enke. Echterhoff, G. & Straub, G. (2004): Narrative Psychologie. In: Jüttemann, G. (Hrsg.): Psychologie als Humanwissenschaft. Ein Handbuch. Paderborn: Junfermann, 102-133. Elias, N. (1991): Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

27 Das menschliche Leiden zeigt sich in einer sinnverstehenden Psychotherapie. Dass es Firmen gibt, die gegen Bezahlung Hilfsdienste dafür anbieten, wie dieses Leiden in Normenkataloge zu übersetzen ist, verdeutlicht diese Reduktion und die Widersprüche, in die die Psychotherapie geraten kann.

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Die Bedeutung von Imaginationen für den psychotherapeutischen Prozess Beate Steiner Bei der Thematisierung des „Unbehagens in der (Psychotherapie-)Kultur" (vor allem Quantifizierung des Seelischen, seine Reduzierung auf die Hirntätigkeit, evidenzbasierte Psychotherapie) kommt es ganz wesentlich auf die Bedeutung des Seelischen und des Kommunikativen an. Beides ist von Bildern getragen. Unsere Fähigkeit, in Bildern zu denken, zu erleben und zu kommunizieren, basiert auf dem psychischen Akt, ständig Bedeutungen zu generieren. Sie kann naheliegender Weise „von einer auch noch so präzisen Registrierung neuronaler Erregungsprozesse nicht erfasst werden" (Soldt 2005, Einleitung), da Seelisches eben nicht als bloße Begleiterscheinung der Hirntätigkeit aufgefasst werden kann und auch nicht in das Prokrustesbett des Quantifizierbaren zu pressen ist. Wenn ich nun als psychotherapeutische und psychoanalytische Praktikerin in meiner psychotherapeutischen Praxis immer wieder mit Imaginationen arbeite, bedeutet dies: Ich nähere mich der psychischen Realität, dem Erleben einer Patientin und damit dem Wahrnehmen, Denken und Fühlen im psychischen Innenraum nicht nur mittels sprachlicher Symbolisierung an, sondern gezielt auch mittels induzierter Tagträume. Steht im Blickpunkt des psychotherapeutischen Prozesses vor allem die psychische Realität eines Menschen, so geht es nicht primär um die Veränderung unerwünschten Verhaltens und unerwünschter Symptome, sondern um „Selbsterfahrung und SelbstverständnisBeide zusammen beschreibt Luborsky (1995) im Rahmen tiefenpsychologischer Psychotherapie als Wirkfaktor von höchster Priorität, ergänzt durch die Nutzung einer positiven psychotherapeutischen Beziehung, einschließlich supportiver Elemente und einer vergleichsweise aktiven Haltung der Psychotherapeutin zur Steuerung regressiver Prozesse (vgl. Dieter 2001, 2005). Wie induzierte Tagträume zur Verwirklichung dieser zentralen Wirkfaktoren beitragen können, möchte ich im Folgenden ansatzweise aufzeigen. Da ich in der Arbeit mit induzierten Tagträumen die Methode der Katathym Imaginativen Psychotherapie, in ihrer Abkürzung KIP genannt, anwende, möchte ich diese zunächst kurz beschreiben und dann darlegen, wie Imaginationen definiert werden können. Danach werde ich stichpunktartig die Vorteile der Arbeit mit Imaginationen vorstellen und ihre Bedeutung vor allem für den tiefenpsychologischen psychotherapeutischen Prozess1 erläutern. Imagination und Katathym Imaginative Psychotherapie (KIP) Die Psychotherapie mit dem Tagtraum, ein von H. Leuner entwickeltes, seit 1954 eingeführtes tiefenpsychologisch fundiertes Verfahren, anfanglich unter den synonymen Begriffen „Katathymes Bilderleben" (KB) und „Symboldrama" bekannt, heißt heute im offiziellen Sprachgebrauch „Katathym Imaginative Psycho1

Induzierte Tagträume können auch im Rahmen analytischer Psychotherapie eingesetzt werden.

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therapie". Diese Methode ist im Rahmen des Richtlinienverfahrens der tiefenpsychologischen Psychotherapie bis dato gesetzlich verankert, unterliegt aber dem Druck, wie alle Psychotherapieverfahren, deren Qualität2 sich nicht auf das Quantitative reduzieren lässt, sich dem naturwissenschaftlichen Streben nach dem Quantitativen und Messbaren zu unterwerfen und so seine Effektivität unter Beweis zu stellen Das Verfahren der KIP basiert auf emotionsnah gestalteten Imaginationen, die in einen psychotherapeutischen Prozess eingebunden sind. Es beinhaltet ein ausdifferenziertes methodisches Vorgehen, um Tagträume psychotherapeutisch zu induzieren und zu begleiten. Dabei berücksichtigt es, fußend auf dem theoretischen Fundament der Psychoanalyse, deren wesentliche Parameter (z.B. Übertragung und Widerstand) und schenkt symbolischen Prozessen besondere Aufmerksamkeit. Die katathymen Imaginationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie grundsätzlich alle Sinnesmodalitäten umfassen und sich in Handlungsvollzügen von Tagtraumcharakter entfalten. Das Beiwort „katathym" soll darauf hinweisen, dass die evozierten Vorstellungen stark „aus dem Gefühl heraus" beeinflusst werden. Für den Umgang mit diesen Tagtraumbildern hält die Methode der KEP eine Vielzahl lehr- und lernbarer therapeutischer Interventionen sowie eine Reihe von Standardmotiven bereit, die in mittlerweile fünf Jahrzehnten beständig ausdifferenziert und weiterentwickelt wurden. Auf der Bildebene des induzierten Tagtraums präsentiert sich die Erfahrung der Patientin mit sich selbst, der Welt und dem anderen, kommen neben der aktuellen Befindlichkeit u.a. ihre Wesenzüge, Verhaltenseigentümlichkeiten, Ressourcen, Motivationsstrukturen und ihre zentralen unbewussten Beziehungskonflikte symbolisch zur Darstellung. Immer wieder verbildlicht sich auch „Übertragung" als Resultat des unbewussten Drangs, die therapeutische Beziehung als eine Neuauflage vergangener Beziehungserfahrungen zu erleben. Die Motive, die der Patientin vorgeschlagen werden, können durch das thematische Feld, mit denen sie assoziiert sind, u.a. auch eine Darstellung unbewusster Konfliktbereiche samt deren Abwehr anregen3. Daneben wird aber auch konfliktfreies Material, in Form der Wunscherfüllung und Befriedigung regressiver oder primärer Antriebsbedürfnisse, spontan geträumt; zusätzlich werden, wenn Ich-Stärkung und -Stabilisierung

2 Um dem Qualitativen auf die Spur zu kommen, erforschen Pokorny & Stigler (2000) u.a. mit computergestützter Inhaltsanalyse die Hypothese, dass die KIP in besonderem Maße geeignet ist, die drei Phasen: 1 .Aktivierung von emotionalem und implizitem Erleben, 2. bildliche oder narrative Übersetzung, 3. Reflexion (Mergenthaler & Bucci 1999), zu realisieren, die es braucht, um therapeutische Verständigung in Gang zu bringen. Die computergestützte Inhaltsanalyse, die sich auf eine transkribierte Einzelfallsitzung bezieht, bestätigen die Vermutung, dass die KIP den drei postulierten Stufen der Verständigung gerecht wird: emotionale und prozedurale Schemata werden aktiviert, diese gelangen über bildliche Szenarien zum Ausdruck und durch deren narrative Einfassung zur Mitteilung, bevor sie Gegenstand gemeinsamer Reflektion werden. In einer neu angelegten Evaluationsstudie ist Bahrke von der Universität Halle dabei, die Ergebnisse einer vorherigen Studie (v. Wietersheim, Wilke u.a. 2001) auf eine breitere empirische Basis zu stellen. 3 So kann in den erzeugten Bildern das jeweilige neurotische Schicksal erscheinen, wird Abgewehrtes in spezifisch entstellten Bildern zur Darstellung gebracht und machen sich die konfliktbesetzten Erlebnisbereiche vorwiegend in Form so genannter fixierter Bilder fest. Sie werden immer wieder im Tagtraum aufgesucht und be- und durchgearbeitet (Leuner 1985).

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intendiert ist, von der Psychotherapeutin gezielt sogenannte Motive zur narzisstischen Restitution vorgegeben. Die kognitiven und affektiven Inhalte des Tagtraumgeschehens, die narrativ vermittelt werden, können unter verschiedenen Gesichtspunkten verstanden und therapeutisch aufgegriffen werden, um sie von bewusstseinsnahen Oberflächenschichten her langsam und vorsichtig in die Tiefe unbewussten seelischen Geschehens zu verfolgen. Neben der Behandlung neurotischer Störungen hat sich das Spektrum der Indikationen auch auf andere psychogene Erkrankungen (strukturelle Ich-Störungen, psychotraumatische Belastungsstörungen, Fischer & Riedesser 1999) erweitert. Hier geht es m.E. vor allem darum, der Patientin auf der Basis der Spiegel-, Holding und Containing-Funktion der Psychotherapeutin einen Phantasieraum zur Verfügung zu stellen, der eine aktive Modifizierung von traumatischen Erfahrungen ermöglicht (Fonagy et al. 2004) und damit eine Regulation der Affekte sowie Resymbolisierung und Desomatisierung (Krystal 1978)4. Für psychosomatische Erkrankungen hält das Verfahren schonende und effektive Behandlungsansätze bereit (vgl. Wilke u.a. 1990, 1996). Neben der Einzeltherapie (mit besonderen Möglichkeiten der Fokaltherapie, der Krisenintervention und Psychotraumabehandlung) eignet sich die Tagtraumtechnik auch für die Paar-, Familien- und Gruppentherapie sowie für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Dazu bietet die Arbeitsgemeinschaft für katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie (AGKB) neben der Möglichkeit, das Standardverfahren5 zu erlernen, diese Spezialisierungen an. Was ist eine Imagination, und wie soll sie verstanden werden? Ganz allgemein steckt in dem Begriff Imagination das lateinische Wort „imago", das „Bild", „Vorstellung" bedeutet. Ob wir nun träumen, phantasieren oder tagträumen, stets sind diese Vorgänge von Bildern geprägt. Aber auch unsere Denkprozesse, so lehrt uns unsere Erfahrung, sind davon durchsetzt. Anschaulichkeit scheint ein allgemeines Merkmal bewusster und vorbewusster seelischer Prozesse zu sein. Denn der denkende und fühlende Mensch ist immer auch ein imaginierendes, beständig Bilder produzierendes und sie auch ständig von außen empfangendes Wesen, das über die natürliche Fähigkeit zur Imagination verfügt. Diese mentale symbolische Fähigkeit des Menschen, in Bildern zu denken und zu erleben, 4 Resymbolisierung bedeutet, das zu denken, was eigentlich nicht vorstellbar ist, was einem nicht in den Kopf hineinwill und wofür es keine Worte gibt. Gelingt diese, kann sich das Somatisierte und damit auch das ins Körperliche Verschobene desomatisieren und wieder anderen Ausdrucksformen zugeführt werden. Ist dies möglich geworden, kann die Psychotherapeutin ihr Verhalten dann auch wieder auf das tiefenpsychologische/analytische Ziel ausrichten, der Patientin Einsicht in unbewusste, konflikthafte Objektbeziehungen zu vermitteln, in deren Entstehungsgeschichte und ihre Auswirkungen auf das Selbstbild und auf die narzisstische Regulation und die gegenwärtigen Interaktionen mit anderen. 5 Die Fortbildung zum/zur Psychotherapeuten/-in in Katathym Imaginativer Psychotherapie umfasst mindestens 120 Stunden in tiefenpsychologisch fundierter Theorie mit der KIP und Behandlungstechnik, mind. 100 Stunden Supervision und mind. 70 Stunden Einzellehrtherapie. Ein Therapeutenkolloquium auf der Grundlage einer schriftlichen Fallvorstellung schließt die Weiterbildung ab.

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wird als bedeutungsvolle und Bedeutungen generierende psychische Tätigkeit begriffen (vgl. Soldt 2005), die, externalisiert6 und in ein Narrativ eingebunden, der Kommunikation und der Verständigung dient und darüber hinaus mit dazu beiträgt, unsere Affekte zu regulieren (vgl. Fonagy et al. 2004, S. 298 f.). Auf diese bedeutungsvolle Fähigkeit des Menschen greifen wir auch im psychotherapeutischen Prozess ganz gezielt zurück, wenn wir Imaginationen einsetzen, die immer auch Abkömmlinge unbewusster Phantasien und Vorgänge enthalten und sich in bildlich-symbolischen Szenarien, samt ihrer begleitenden Affekte, komprimiert und konkret zu präsentieren vermögen. Sind Imaginationen gleichbedeutend mit Phantasien, worin besteht die Abgrenzung? Für Freud ist der so zentrale Begriff der Phantasie stets mehrdeutig geblieben, trotzdem lassen sich folgende Bedeutungen unterscheiden (vgl. Laplanche & Pontalis 1992; Bittner 1981): Phantasie als das Vermögen zu imaginieren i. S. von Einbildungskraft; Phantasien als Inhalte der phantasierten, imaginären Welt; Phantasie als die schöpferische Aktivität, die diese Inhalte belebt. Phantasieren setzt entwicklungspsychologisch bei einem Kind voraus, bereits über Vorstellungsrepräsentanzen zu verfugen. Das zunächst noch signalgebundene Phantasieren weitet sich mit der Sprachentwicklung in der Vorstellungswelt aus und kann dann auch zurückliegende oder zukünftige Ereignisse umfassen. Im Laufe der Zeit verändern sich die zentralen Phantasien entsprechend der psychosexuellen Entwicklung. Dabei werden manche Phantasien aufgegeben, andere regressiv beibehalten, andere unterliegen der Verdrängung, weil ihre Inhalte angstmachend oder beschämend sind. Was die Inhalte angeht, können wir unterscheiden: zwischen realitätsbezogenen Vorstellungen, die aber stets als Repräsentationen der Wirklichkeit der permanenten Dynamik der Umformung ins Eigene unterliegen, und Phantasien, die eher eine Szenen- oder Handlungsabfolge beinhalten, bei der die Realitätsprüfung mehr oder weniger suspendiert wird. Phantasien können sowohl flüchtige Bilder von primärprozesshafter Qualität (Primärvorgang) enthalten als auch elaborierte Geschichten mit einer logischen Abfolge aufweisen7. Sie können an real Erlebtes anknüpfen oder Elemente davon

6 Externalisierung wird hier als Phänomen (Als-ob-Spiel, symbolische Zeichnungen oder Bilder, Theater und Drama, Rezeption von Märchen, künstlerische Produktivität, Phantasieren, Tagträumen) verstanden, bei dem die Realitätsprüfung unbeeinträchtigt bleibt und Affektregulierung möglich bleibt; davon zu unterscheiden ist Externalisierung als defensive Verzerrung der Realitätswahrnehmung (Fonagy et al. 2004, S. 299). 7 Übertragen auf Phantasien in induzierten Tagträumen, ist anzunehmen, dass ein ständiges Hin- und Herwechseln zwischen primärprozesshaft gefugten Bilder und Imaginationen und ihrer sekundären Bearbeitung stattfindet, die wiederum zur Voraussetzung einer neuerlichen regressiven Verwandlung erfolgt (vgl. Soldt, S. 225). Eine solche Sichtweise beinhaltet, dass jeweils das eine oder andere Prinzip im

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verwenden. Phantasien können voll bewusst oder vorbewusst, aber auch unbewusst sein, wenn ihre Inhalte verdrängt werden mussten. Die vorbewussten und bewussten Abkömmlinge unbewusster Phantasien können sich in harmloseren Vorstellungsbildern wie zum Beispiel in Tagträumen, aber auch in der freien Assoziation einer psychoanalytischen Sitzung manifestieren. Jedoch müssen unbewusste Phantasien trotz dieser Verbindungsmöglichkeit grundsätzlich von bewussten Tagträumen unterschieden werden, da Letztere prinzipiell verfugbar und kontrollierbar sind (Inderbitzin & Levy 1990 in Mertens 1992, S. 175). Beim Tagträumen hat das Phantasieren verschiedene Funktionen der Selbstregulierung: es hilft, Lust, Wohlbehagen und das narzisstische Gleichgewicht zu stabilisieren; es hilft bei der Anpassung an die Realität und verschafft dem Phantasierenden auch eine gewisse Unabhängigkeit von dieser; Phantasien lassen sich zur Abwehr bedrohlicher oder beschämender Erfahrungen verwenden; und schließlich sind sie auch eine wichtige Quelle kreativer Handlungen (vgl. Mertens 1992, S.175 ). Im psychotherapeutischen Kontext können induzierte Tagträume als spontan auftretende sinnliche, vor allem bildlich-symbolische Szenarien, samt ihrer begleitenden Affekte, all diese eben genannten Funktionen und Qualitäten beinhalten. Doch kommen wesentliche weitere hinzu, die bei normalem Tagträumen für sich alleine nicht gegeben sind. Fallbeispiel Dorothea Bevor ich einige dieser Funktionen, die im Arbeiten mit psychotherapeutisch induzierten Imaginationen enthalten sind, benenne und teilweise etwas ausfuhrlicher darstelle, soll eine kurze Fallvignette veranschaulichend darauf vorbereiten. Es sei hier angemerkt, dass die Fallvignette aus einer Psychotraumabehandlung mit der KIP stammt, die sowohl Ich-stabilisierend (Spiegel-, Holding- und ContainingFunktion) arbeitet als auch die konfliktbesetzten Erlebnisbereiche im Tagtraum beund durcharbeitet.

Es geht um eine Patientin, Dorothea, die nach dem Verlust einer langjährigen nahen Freundin durch Brustkrebs und nach einer Myomoperation an der Gebärmutter in tiefe Traurigkeit verfiel und sich mit Selbstzerstörungsphantasien plagte, mit Vorstellungen, sich zu suizidieren, zu ritzen und zu schlagen, die ihr Erleichterung verschafften. Sie kannte diese Phantasien schon lange, auch tauchten sie in Träumen auf und in Konfliktsituationen. Sie schämte sich für ihre Gefühle, sogar für ihre ganze Person, erlebte sich in ihrem zwiespältigen Gefühlskampf als lächerlich und wollte mit ihrer Schwachheit und ihren Gefühlen, die sie vor anVordergrund stehen kann und damit ein jeweils mehr primär- beziehungsweise sekundärprozesshaft geprägtes anschaulich bildliches Denken das Tagtraumgeschehen bestimmt.

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deren zu verstecken suchte, nicht mehr leben. In dieser Phase der Destabilisierung und der psychischen Regression gab ich ihr zur Ich-Stabilisierung das Motiv eines sicheren und geschützten Ortes vor, an dem die erwachsene Patientin sich wohl und geborgen erleben konnte. Sie imaginierte sich auf einem Berg und spürte einen starken Wind, der ihr gut tat. Sie wusste nicht, ob sie fliegt, schaute aber auf jeden Fall aufs Meer, was sie wiederum als sehr wohltuend empfand. Sie spürte, wie angenehm es ist, wenn die Gedanken mit dem Wind weggehen, es aber auch immer wieder eine Tendenz gibt, sich wieder in der Arbeit zu verwickeln. Insgesamt unterstützte ich fortwährend Dorothea durch entsprechende Interventionen darin, an ihrem sicheren, geschützten Ort dem Angenehmen zu folgen, es zu spüren und das zu tun, was Sie gerne tun möchte. Zu Beginn der nächsten Stunde sagt sie: Der Tagtraum war für mich sehr entspannend, und ich konnte meine Arbeit mit wesentlich mehr Ruhe tun. Einige Sitzungen später kam sie deprimiert und enttäuscht zur Stunde, da ihre Eltern nicht akzeptieren wollen, dass sie keinen Kontakt zu den Verwandten will, die sie als Kind in sexuelle Spiele gezwungen hatten. Ich bot ihr im Rahmen des Sprechens über ihre Enttäuschung an, sich psychisch im Tagtraum wieder zu stärken, indem ich ihr anbot, in ihrer Vorstellung zunächst wieder an ihren sicheren geschützten Ort zu gehen und dann dort ihrem inneren unverletzten Kind zu begegnen, das tun könne, was es gerne tun möchte, und dem so viel Freiraum eingeräumt werde, wie es braucht. In ihrem Tagtraum spaziert dann Dorothea im Wald, zusammen mit einem Kind, das um sie herumspringt und tanzt, beide lachen sehr viel zusammen. Schließlich tanzt Dorothea mit diesem vie-jährigen Kind, woraufhin sie sich eine Fuge von Bach vorstellt, wie sie sie spielt, und dabei die Musik hört. (Ja, wie schön, stellen Sie es sich intensiv vor.) In der nächsten Stunde sagt sie, wie gut der Tagtraum ihr getan hat, dass sie gleich nach Hause ging und nach der Fuge guckte und sie geübt habe und dann gut ihre Texte habe lernen können, sich sehr ruhig gefühlt habe und gut habe schlafen können. Das Wort „unverletzt" habe ihr sehr gut getan, und sie habe sich lebendiger gefühlt. „Bei den Tagträumen entdecke ich immer wieder, dass ich die Freude an der Musik immer wiederfinde und die Pflicht mehr in den Hintergrund tritt. Ohne Vorschriften spielen war es, einfach aus mir heraus, und das kommt langsam zurück. - Ich glaube, das steckt alles in dem Wort „unverletzt" drin, und es tut gut, wenn das mehr Gewicht bekommt im Gegensatz zu verletzt". Um diesen Erlebenszustand zu stabilisieren, schlage ich ihr erneut vor, dem unverletzten Kind zu begegnen: Wir schwimmen wieder im See, und es ist sehr befreiend und reinigend. (- Schweigt -) Wir tauchen auch sehr viel. Wir sind da ganz alleine und können tun und lassen, was wir wollen, und das ist ein sehr schönes Gefühl. (- Schweigt -) Wir gehen immer wieder raus und wärmen uns, und dann gehen wir wieder ins Wasser. (- Schweigt -) In der folgenden Sitzung meldet Dorothea zurück: Der Tagtraum war sehr erlösendfür mich, und zu Hause weinte ich, und es war ein ganz erlösendes Weinen. Diese Bilder kommen immer wieder zurück, und wenn meine Ängste kommen und Lampenfieberschübe, kann ich es mir zurückholen, um wieder ruhiger zu werden.

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In meinem Kopf entsteht Musik. Als ich am Freitag nach Hause kam, setzte ich mich ans Klavier und schrieb die Musik auf die mir in den Kopf kam, und es war sehr beglückend. Das, was in mir an Beruhigung und Entspannung entsteht, setzt sich um in Musik. Es hat auch viel mit den Farben zu tun, die ich im Tagtraum sehe und die ich in Töne umsetze. Es ist ein Glücksgefühl in mir, dass es auch diese Seiten in mir gibt, was mir die Tagträume deutlich machen. Es ist ein Gegengewicht gegen die Traurigkeit, das spüre ich sehr stark, und dann gelingt es mir auch besser, mich auch dem, was damit verbunden ist, wieder zuzuwenden. Die Intensität der Gefühle lasse ich ja nie zu, schon gar nicht hier. Ich schäme mich für jedes Gefühl, möchte es gar nicht zeigen, bin verunsichert, es zu zeigen.

Die Bedeutung von Imaginationen für den psychotherapeutischen Prozess Nach diesem kurzen, doch, wie ich glaube, eindrücklichen Einblick in die psychotherapeutische Arbeit mit Imaginationen, möchte ich zurückkehren zur Bedeutung und Funktion, die diese im psychotherapeutischen Prozess haben können. Ich nenne hier vor allem: 1. Umgestaltung der Phantasiewelt mittels der regulatorischen Kraft des Mentalen und des Einbezogensein des Tagtraumgeschehens in die psychotherapeutische Beziehung (Stichworte: Spiegel-, Holding- und Containing-Funktion, Als-ob-Modus des Phantasieraums, Affektregulation, Resymbolisierung, Desomatisierung); 2. Möglichkeit des gezielten Hinwendens zu sinnlich Erfahrbarem in der Imagination und Generieren veränderter Subjekt-Objekt-Interaktionen; 3. Durchbrechen des Wiederholungszwangs und die Transformation von Konflikten, Paradoxien und Widersprüche in Ich-Erweiterung. Zu 1.: Umgestaltung der Phantasiewelt mittels der regulatorischen Kraft des Mentalen und des Einbezogenseins des Tagtraumgeschehens in die psychotherapeutische Beziehung Wenn wir für uns alleine tagträumen, bleiben wir mit unserer psychischen Realität alleine (verstanden als die Widerspiegelung der bewussten und unbewussten Phantasien und der Außenwelt, entstanden und permanent entstehend aus der Interaktion von äußerer und innerer Realität, vgl Achilles 2004, S. 505). Wenn wir Imaginationen in der Psychotherapie nutzen, teilen wir dieses innere Geschehen einem anderen mit, treten so die psychische Realität der Patientin und die der Psychotherapeutin direkt in Interaktion und speist sich das, was im imaginativen Raum neu entsteht, aus diesen beiden psychischen Realitäten. Dabei ermöglicht die Psychotherapeutin es der Patientin mittels ihrer Fähigkeit, eine Spiegel-, Holdingund Containing-Funktion auszuüben und angemessene Vertreterin der äußeren Realität zu sein, einen potenziell veränderbaren psychischen Raum zu gestalten. In diesem können dann neue Erfahrungen gewagt werden, können neue Lösungsmöglichkeiten für bestehende ungelöste Konflikte gefunden und negative Affekte abgeschwächt, modifiziert und verändert werden. Auf diese Weise kann der

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psychische Innenraum der Patientin zum potenziellen Raum und damit zum Möglichkeitsraum im Sinne Winnicotts werden, kann die Heilkraft der Phantasie, wie sie auch dem schöpferisch künstlerischen Prozess zugrunde liegt, freigesetzt werden. Die Realität im Als-ob-Modus induzierter Tagträume zu erleben, gibt der Patientin die Möglichkeit, die imaginierte Szene aktiv zu kontrollieren, zu gestalten und nach Belieben zu modifizieren; dadurch kann sie ihre Affekte anders als in realen Situationen erleben, probeweise oder abgeschwächt (vgl. Domes 2004, S. 186; Fonagy et al. 2004). Während sich die Patientin, die zum Beispiel einer traumatisierenden Trennung passiv ausgeliefert war, sich angesichts dieses realen, im Gedächtnis repräsentierten Vorgangs als hilfloses Subjekt erlebte, wird sie in einer entsprechend psychotherapeutisch begleiteten imaginativen Reinszenierung zur aktiv Handelnden, die den Verlauf der Als-ob-Episode kontrolliert (vgl. Fonagy et al. 2004, S. 300). Im sicheren Als-ob-Modus einer fiktiven repräsentationalen Welt ermöglicht eine solche qualitativ transformierte Reinszenierung eine emotional korrigierende Erfahrung, da sie positive Affekte der Urheberschaft und Wiedervereinigung erzeugt (zum Beispiel im Fall von Trennung oder Verlust mit dem verloren geglaubten anderen). Diese positiven Affekte und Vorstellungen wirken der negativen Erinnerung, wie sie mit dem Originalvorgang assoziiert ist, entgegen (vgl. Fonagy et al., 2004, S. 300 f.). Auf diese Weise kann auf der Basis allmählich entstehender Sicherheit und wachsenden Vertrauens zur Psychotherapeutin mit Hilfe von induzierten Tagträumen und deren schöpferischem Potenzial die Phantasiewelt im Verlauf der Psychotherapie langsam umgestaltet werden und so „eine neue Formung von Konfliktlösungen in der Auseinandersetzung mit Traumatisierung und überwältigenden Affekten" (Wurmser 1994, S. 10) ermöglicht und erreicht werden. Diese regulatorische Kraft des Mentalen, die im probeweisen Als-ob der imaginativen szenischen, aktiven und modifizierenden Gestaltung liegt, erlaubt es der Patientin, sich vor allem auch Abgespaltenes allmählich resymbolisierend wieder anzueignen und damit isolierte Fragmente langsam wieder zusammenzufuhren und Distanz zu überflutenden Affekten aufzubauen. So kann Spaltung und Dissoziation nach und nach aufgehoben und auch traumatische Erfahrung allmählich als zur eigenen Biographie gehörig angenommen werden. Zu 2.: Möglichkeit des gezielten Hinwendens zu sinnlich Erfahrbarem in der Imagination und das Generieren veränderter Subjekt-Objekt-Interaktionen Die Haltefunktion der Psychotherapeutin besteht bei Ich-geschwächten Patientinnen zunächst in dem Angebot, sich zu stabilisieren und neue Sicherheit zu gewinnen, was in der Imagination mit Hilfe sogenannter Motive zur narzisstischen Restitution erreicht werden kann. Damit können maligne Regressionen aufgehalten oder unterbunden werden, und ein entängstigteres, stabileres Ich kann sich auf den weiteren psychotherapeutischen Prozess einlassen. Dabei hat die Fokussierung auf sinnlich Erfahrbares, das in der KIP eine lange Tradition hat, eine wichtige Funktion. Einerseits ermöglicht die Psychotherapeutin der Patientin in der Imagination, das Vorgestellte über alle Sinnesmodalitäten feinstabgestuft wahrzunehmen, wodurch Selbsterleben und -verstehen vertiefend unterstützt und Selbstfursorge lang-

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sam in Gang gesetzt und wohlwollend begleitet werden kann. Andererseits können sinnlich Erfahrbares und die damit einhergehenden Gefühle als Affektbrücke zu verdrängten Szenen der Vergangenheit dienen und psychotherapeutisch genutzt werden. Der gesamte psychotherapeutische Prozess zielt wesentlich darauf, sowohl auf der Basis neuer Erfahrungen in der psychotherapeutischen Beziehung, als auch mittels des imaginativen Erlebens und Interagierens, des bildhaften und wortsprachlichen Symbolisierens und Modifizierens allmählich veränderte Selbst-, Objekt- und Interaktionsrepräsentanzen aufzubauen. Dieser Vorgang verändert nicht nur die intrapsychische Situation, sondern hat konkrete Auswirkungen auf aktuelle zwischenmenschliche Interaktionen und die gesamte Lebensgestaltung. So kann eine neue Art und Weise des „Selbst-mit-dem-Anderen" (Fonagy, Target & Allison 2003, S. 846) entstehen, weil z. B. traumabedingte Beziehungsstörungen nicht weiter lebensprägend bleiben. Zu 3.: Das Durchbrechen des Wiederholungszwangs und Transformation von Konflikten, Paradoxien und Widersprüchen in Ich-Erweiterung Das Durchbrechen des Wiederholungszwangs geschieht durch die gezielt dosierte, auch imaginativ induzierte Auseinandersetzung mit sowohl konflikthaften als auch traumatischen Erfahrungen und Reaktionen. Stehen traumatische konflikthafte Erfahrungen im Vordergrund wird stets das beobachtende Ich der erwachsenen Patientin angesprochen, das nun in der psychotherapeutisch begleiteten imaginativen Reinszenierung zur aktiv Handelnden werden kann. Auf diese Weise kann ein „Verstehensrahmen für die bis dahin unbegreiflichen Einbrüche traumatischer Realität" (Bohleber 2000/2003) entstehen, der es dem stabilisierten Ich der Patientin erlaubt, langsam die Wahrnehmungs- und Bedeutungsverleugnung und damit die Ich-Spaltung, die Dissoziation, aufzuheben. In einem länger dauernden Prozess der Behandlung können mittels induzierter Tagträume verinnerlichte Traumata, die Bestandteil der inneren Struktur im Sinne der Introjektion geworden sind und sich in stetiger Selbsterniedrigung und -bestrafung, imaginativ und sprachlich symbolisiert äußern, im Als-ob-Modus der Phantasie langsam modifiziert und so be- und durchgearbeitet werden. Mit Hilfe von Phantasie und Imagination wird so versucht, dem Schöpferischen einen Weg zu öffnen, um in einer übergreifenden Synthese vor allem dem Unerträglichen Worte zu geben. So kann ein Prozess in Gang gesetzt werden, bei dem langsam das Traumatisierende psychisch repräsentiert, kontrolliert und allmählich integriert werden kann (vgl. Steiner & Krippner 2005, 2006). So betrachtet, beinhaltet der gesamte psychotherapeutische Prozess den Versuch, die durch die Traumata bewirkten Konflikte, Paradoxien und Widersprüche, die das Seelenleben der Patientinnen zerreißen, so miteinander zu vermitteln, dass eine Transformation gelingt und Ich-Erweiterung möglich wird (vgl. Wurmser 1987; Fischer 1998) und damit ein verändertes Selbsterleben, in dem das Gefühl, lebendig zu sein und ein eigenes Selbst beanspruchen zu dürfen, u.U. überhaupt erst gewonnen wird. Ein eigenes Selbst beanspruchen zu dürfen, bedeutet auch, sich das Recht auf ein selbst verantwortetes und -verantwortliches Leben zu nehmen, eigene Vorstellungen, Bilder davon zu entwerfen und die emanzipatorische Kraft zu nutzen, die darin liegt, nicht mehr länger sich nur als

Steiner: Die Bedeutung von Imaginationen für den psychotherapeutischen Prozess

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Opfer der Verhältnisse zu erleben, sondern Unbehagen wahrnehmen zu dürfen, darüber reflektieren zu können und sinnvolle lebenspraktische Schritte zur Veränderung einzuleiten. Literatur Achilles, P (2004): Psychische Realität und Subjektbegriff. Psyche, 58 (6), 487-515. Bittner, G. (1981): Die imaginären Szenarien. In: A. Schöpf (Hrsg): Phantasie als anthropologisches Problem. Würzburg: Königshausen und Neumann, 95-113. Bohleber, W. (2000): Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. Psyche, 54 (9/10), 797839. Bohleber, W.(2003): Erinnerung und Vergangenheit in der Gegenwart der Psychoanalyse. In: Vergangenheit in der Gegenwart. Zeit - Narration - Geschichte. Psyche, 57 (9/10), 782-788. Dieter, W. (2001): Die Katathym Imaginative Psychotherapie - eine tiefenpsychologische Behandlungsmethode. Imagination, 23 (3), 5-41. Dieter, W. (2005): Warum sind Imaginationen hilfreich? Überlegungen zu einigen Wirkfaktoren der KIP aus tiefenpsychologischer Sicht. In: Kottje-Birnbacher, L.; Wilke, E.; Krippner, K.; Dieter, W. (Hrsg.): Mit Imaginationen therapieren. Neue Erkentnisse zur Katathym Imaginativen Psychotherapie. Lengerich: Pabst Sience Publishers, 90-97. Domes, M. (2004): Über Mentalisierung, Affektregulierung und die Entwicklung des Selbst. Forum der Psychoanal. 20 (2),175-199. Fischer, G. (1998): Konflikt, Paradox und Widerspruch - Für eine dialektische Psychoanlyse. Frankfurt a. M.: Fischer. Fischer, G. & Riedesser, P. (1999): Lehrbuch der Psychotraumatologie. 2. Aufl. München & Basel: Ernst Reinhardt. Fonagy, P., Target, M., Allison, L. (2003): Gedächtnis und therapeutische Wirkung. Psyche, 57, 2003, 841-56. Fonagy, P.; Gergely, G.; Jurist, E. L.; Target, M. (2002, zit. n. 2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Krystal H. (1978): Trauma and affects. Psychoanal Study Child, 33, 81-116. Laplanche, J. & Pontalis, J.-B. (1992): Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie. Frankfurt a. M.: Fischer. Leuner, H. (1985): Lehrbuch der Katathym Imaginativen Psychotherapie. Bern: Huber. Luborsky, L. (1988): Einfuhrung in die analytische Psychotherapie. Ein Lehrbuch. Berlin: Springer. Pokorny, D. & Stigler, M. (2005): Beziehungschemata in der realen und imaginierten Welt: mit der Clusteranalyse der Verschiebung auf der Spur. In: Kottje-Birnbacher, L.; Wilke, E.; Krippner, K.; Dieter, W.: Mit Imaginationen therapieren. Neue Erkentnisse zur Katathym Imaginativen Psychotherapie. Lengerich: Pabst Sience Publishers, 108-314. Mertens, W. (1992): Kompendium psychoanalytischer Grundbegriffe, München: Quintessenz, 174-178. Soldt, Ph. (2005): Denken in Bildern. Zum Verhältnis von Bild, Begriff und Affekt im seelischen Geschehen - Vorarbeiten zu einer Metapsychologie der ästhetischen Erfahrung. Lengerich: Pabst Science Publishers Steiner, B. (2001): Aspekte der Behandlung mit der KIP bei Krebspatienten in Bahrke, U. & Rosendahl, W. (Hrsg.): Psychotraumatologie und Katathym Imaginative Psychotherapie. Lengerich: Pabst Science Publishers, 285-295. Steiner, B. & Krippner, K. (2005): Psychotraumatherapie mit der KIP - eine Übersicht: in KottjeBirnbacher, L.; Wilke, E.; Krippner, K.; Dieter, W. (Hrsg): Mit Imaginationen therapieren. Neue Erkentnisse zur Katathym Imaginativen Psychotherapie. Lengerich: Pabst Sience Publishers, 281314. Steiner, B. & Krippner, K. (2006): Psychotraumatherapie. Die tiefenpsychologisch-imaginative Behandlung traumatisierter Patienten. Stuttgart, New York: Schattauer.

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

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Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendpsychotherapie Methodik und Ergebnisse eines Praxisforschungsprojekts Klaus Fröhlich-Gildhoff 1. Einleitung In diesem Beitrag werden Methodik und Ergebnisse eines Praxisforschungsprojektes dargestellt. Seit April 2001 treffen sich regelmässig acht bis zehn approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutlnnen - mit personenzentriertem Hintergrund und tiefenpsychologischer Weiterbildung und entsprechender Approbation (drei in angestellten, sieben in freiberuflichen Arbeitsverhältnissen; Praxis- und Berufserfahrung zwischen 15 und 20 Jahren) - zu ein- bis zweitägigen Workshops zweimal im Jahr. Ziel dieser Arbeitstreffen ist es, Psychotherapieprozesse von Kindern und Jugendlichen aus einer Metaperspektive heraus zu analysieren, um Wirkfaktoren im therapeutischen Prozess zu identifizieren. Ausgangspunkt war dabei zunächst das Konzept der theorieschulenübergreifenden Wirkfaktoren, wie es in der Arbeitsgruppe um Grawe (1994, 1998; Grawe u.a. 1994) aus der Metaanalyse von Erwachsenen-Therapievergleichs- und Effektivitätsstudien entwickelt worden ist. Methodisch wurde dabei bewusst versucht, ein ganzheitliches Herangehen zu praktizieren und eine entsprechende Methodik immer weiterzuentwickeln und nicht bedingungsvariierend vorzugehen bzw. den Therapieprozess (experimentell) zu zerlegen. Insgesamt wurden dabei bisher ca. 1000 Therapiestunden einer (Video-) Analyse unterzogen. Dieser Prozess insgesamt war und ist für die Beteiligten1 sehr anstrengend, weil es für ein solches Vorgehen nur wenige Vorbilder gibt, im Prozess immer wieder neue Forschungsfragen auftauchen, dann „geordnet" weiterbearbeitet werden müssen. Zwischen den Workshops stellt sich die Arbeitsgruppe „Hausaufgaben": Es werden nach gemeinsamen Aufgabenstellungen Therapieprozesse systematisch dokumentiert, Videobänder analysiert und Bezüge zu theoretischen Konzepten hergestellt. Psychotherapeutisches Handeln lässt sich wie folgt darstellen (vgl. Abb. 1): Die konkrete Intervention basiert auf der Grundlage der Beziehungsgestaltung zwischen Therapeutin und Kind/Jugendlichem. Auf dieser Basis wird eine - durch die Person des Therapeuten, dessen Ausbildung und Erfahrung geprägte - Haltung realisiert; die Beziehungsgestaltung sollte in hohem Maße selbstreflexiv sein. Es werden dann konkrete Methoden eingesetzt und eben spezifische Wirkfaktoren realisiert.

1 An dem Projekt sind beteiligt: Stephan Jürgens-Jahnert, Hildegard Steinhauser, Gerhard Hufnagel, Hans-Georg Derx, Katharina Heinen, Klaus Horstkötter, Wolfgang Siedenbiedel, Jutta Hoßfeld. Diesen gilt ein besonderer Dank.

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Abbildung 1: Grundprinzip psychotherapeutischen Handelns Ausgehend von diesem grundsätzlichen Gedankenmodell, wurden und werden die Psychotherapieprozesse analysiert. Besonders hervorzuheben ist, dass die Psychotherapie mit Kindern gegenüber der Erwachsenentherapie insofern komplexer ist, als jeweils die Äußerungen des Kindes auf einer spielerischen Ebene verstanden und „übersetzt" werden müssen. Nach dem Verstehen und Einordnen in ein Referenzsystem folgt eine „Rückübersetzung" wieder in verbale oder nonverbale Interventionen, die zumeist auf die Spielebene bezogen sein müssen (vgl. FröhlichGildhoff et al. 2004; Fröhlich-Gildhoff 2006). Im Folgenden wird zunächst das empirische Vorgehen der Arbeitsgruppe dargestellt. Dann wird auf die zugrunde liegende therapeutische Beziehung eingegangen, bevor ausfuhrlicher die Bedeutung der Wirkfaktoren dargestellt wird. 2. Empirisches Vorgehen Zentraler Kern des empirischen Vorgehens sind Analysen von Videobändern über Therapiestunden von Kindern im Alter von sechs bis zum Alter von vierzehn Jahren. Die beteiligten Praxisforscherinnen zeigen sich in der Gruppe ganze Therapiestunden oder Ausschnitte davon, und in einem zunächst hermeneutischen, hypothesenbildenden Prozess werden diese Bänder einer Analyse unterzogen. In einem zweiten Schritt werden Bezüge zu theoretischen Konzepten hergestellt, bevor dann eine systematische, kategoriengeleitete Analyse erfolgt (analog dem Prinzip der qualitativen Inhaltsanalyse z.B. nach Mayring 1999, 2000). In dieser Analyse wird immer wieder darauf geachtet, eine Interraterreliabilität herzustellen, bevor dann auf der Basis der vorgenommenen Operationalisierungen das Material einer quantitativen statistischen Analyse unterzogen wird. Hieraus ergeben sich wiederum neue Fragen, und im Sinne eines Kreislaufprozesses wird die Arbeit fortgesetzt. Die Methode ist im folgenden Schaubild dargestellt.

Fröhlich-Gildhoff: Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendpsychotherapie

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Methodik

Abbildung 2: Methodik des Praxisforschungsprojekts Zur Validierung wurde das Konzept auf verschiedenen Fachtagungen, Kongressen und Fortbildungen erfahrenen Psychotherapeutinnen vorgestellt. Sie wurden in die Denkweise des Konzeptes eingeführt und hatten dann die Aufgabe, prototypische Videoausschnitte ihrerseits zu raten. Es ergab sich ausnahmslos eine hohe Übereinstimmung der Einschätzungen dieser externen Psychotherapeutinnen mit den Operationalisierungen und Konstrukten des Konzeptes; die von der Forschungsgruppe beschriebenen Wirkfaktoren ließen sich als wesentliche Prozesselemente auch von Externen identifizieren. 3. Erkenntnisse zur Therapiebeziehung Zumindest in der personzentrierten und in der tiefenpsychologischen bzw. psychoanalytischen Therapietradition wird die psychotherapeutische Beziehung als der zentrale Wirkfaktor angesehen. Diese Position wird durch die Erkenntnisse der empirischen Psychotherapieforschung bestätigt. Exemplarisch seien die Erkenntnisse der Arbeitsgruppe von Grawe zitiert, weil sich diese um einen therapieschulenunabhängigen Ansatz bemüht hat: „Für die Einzeltherapie ist die Bedeutung der Qualität der Therapiebeziehung für das Therapieergebnis über alle Zweifel erhaben nachgewiesen, und zwar für ganz unterschiedliche Therapieformen" (Orlinsky, Grawe & Parks 1994). „Wenn man alle je untersuchten Zusammenhänge zwischen bestimmten Aspekten des Therapiegeschehens und dem Therapieergebnis zusammennimmt, dann sind Aspekte des Beziehungsgeschehens diejenigen Merkmale des Therapieprozesses, deren Einfluss auf das Therapieergebnis am besten gesichert ist" (Grawe, Donati & Bernauer 1994, S. 775). „Die Therapiebeziehung ist... zunächst einmal das zentrale Mittel, das positive Potential des Patienten zu aktivieren" (Grawe & Fliegel 2005, S. 691). „Eine reflektierte Gestaltung der Therapiebeziehung (sollte) den Kern jeder Therapieausbildung darstellen" (ebd. S. 692).

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Hiervon ausgehend, stellt sich die Frage nach den Kennzeichen einer „guten" bzw. „erfolgreichen" Therapiebeziehung. Ein zentrales Element ist das der „Passung" zwischen Therapeutin und Patientin. Dabei scheint es so, dass das, was diese Passung ausmacht, vor allem „Sympathie", relativ schwer empirisch zu fassen ist (vgl. z.B. Huf, 1992). Orlinsky & Howard (1987) haben versucht, den komplexen Prozess der Passung genauer in Kategorien zu fassen: (1) die Passung zwischen Behandlungsmodell und Störungsmodell, (2) die Passung zwischen Patient und Behandlungsmodell, (3) die Passung zwischen Therapeut und Patient, (4) die Passung zwischen Therapeut und Störung des Patienten. Zwischen diesen Ebenen bestehen vielfaltige Wechselwirkungen: Behandlungsmodell des Therapeuten

"Erkrankung"/ "Störung" des Patienten

Philosophisches Menschenbild Diagnostische Beurteilung der Erkrankung des Pat. Interventionstechniken Zwischenmenschliche Haltung zum Patienten

Erscheinungsbild des Krankheitserlebens des Patienten Konzeptionelle Schlußfolgerungen daraus

(z.B. die Depression wird als Ausdruck unbewältigter Erfahrungen angesehen)

therapiebezogene Merkmale

therapiebezogene Merkmale

(z.B. selbstexplorativ)

(z.B. empathisch)

THERAPEUT personale Merkmale

(z.B. wirkt vertrauenserweckend)

PATIENT

' « B M J L M M '

personale Merkmale

(z.B. löst Fürsorgeimpulse aus)

Abbildung 3: Passung in der Psychotherapie (nach Orlinsky & Howard 1987; Abb. modifiziert übernommen aus Eckert, o. J.) Die Passung ist übrigens auch in sozialpädagogischen Prozessen ein wesentliches Element für den Erfolg von Interventionen (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003, Fröhlich-Gildhoff u.a. 2006). Während auf Seiten des/der Therapeutin offensichtlich die Realisierung entwicklungsforderliche Beziehungsparameter - vor allem die so genannten „Basisvariablen" (Empathie, Echtheit, Akzeptanz, Kongruenz sowie Halt und Strukturbildung) - sowie die Gestaltung „korrigierender emotionaler Erfahrungen" (vgl. Cremerius 1979) von Bedeutung sind, spielt auf Seiten des/der Patientin insbesondere die Motivation und Veränderungsbereitschaft eine bedeutsame Rolle. Weitere Kennzeichen einer guten, entwicklungsfördernden Therapiebeziehung sind:

Fröhlich-Gildhoff: Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendpsychotherapie

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(1) das Ausstrahlen von Kompetenz, das Sicherheit vermittelt („Insgesamt gelangt man aufgrund der Forschungsergebnisse zu dem Schluss, dass ein als kompetent, glaubwürdig und sicher beurteilter Therapeut größere Einflussmöglichkeiten auf den Klienten hat...", Huf 1992, S. 174); (2) volle Zuwendung und Aufmerksamkeit (Präsenz); (3) Ausstrahlen von Wärme und Engagement, was auch durch Tonfall, Mimik und Körperhaltung ausgedrückt wird; (4) respektvolles und wertschätzendes Eingehen; (5) Feinföhligkeit (vgl. Ainsworth et al. 1978); (6) Sensibilität fiir die Regungen des Patienten und entsprechende, auch nonverbale Begleitung; (7) Kommunikation „auf derselben Wellenlänge" (Grawe, Regli, Smith & Dick 1999, S. 212); (8) Dasein fur den Patienten, „ohne ihn zu dominieren" (Grawe 1998, S.537); (9) „verständnisvoll gewährend sein, aber gleichzeitig führend und strukturierend, wenn der Patient Unterstützung braucht" (ebd.); (10) gezielte Koregulation affektiver Zustände. Wie aus der psychoanalytischen/tiefenpsychologischen Tradition hinlänglich bekannt, finden sich in jeder psychotherapeutischen Beziehung immer Aspekte einer Übertragungs- und einer Realbeziehung: (1) In der Übertragungsbeziehung kommt es zu einem Aktualisieren wichtiger vergangener Beziehungserfahrungen. Dabei werden „schwierige", aber auch „gute" Erfahrungen übertragen; es zeigen sich Probleme und Wünsche. (2) Die Realbeziehung ist hingegen die reale aktuelle Beziehung zwischen Therapeutin und Kind. (3) Real- und Übertragungsbeziehung werden in ihrer Intensität kindspezifisch (= personzentriert) realisiert. Wirksame und gute Psychotherapie heißt nicht: die Therapie ist gut, wenn viel Übertragung stattfindet. Es ist davon auszugehen, dass die Wirkung der Therapie dann gesteigert wird, wenn das Verhältnis von Real- und Übertragungsbeziehung gut individuell auf das Kind abgestimmt ist. (4) In den Stunden-Ratings wurde deutlich, dass die beiden Beziehungselemente überhaupt nicht miteinander korrelieren (r = -0.1). Dies bedeutet, dass es sich offensichtlich um zwei voneinander zunächst unabhängige Beziehungsdimensionen handelt. Beide Beziehungselemente finden sich (in fast) jeder Szene der Therapie und sind gemeinsam oder in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden: In dem angeführten Praxisforschungsprojekt wurde deutlich, dass die Dimension der Bezogenheit besondere Bedeutung zumindest in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie hat. So lässt sich sowohl auf Seiten des/der Therapeutin als auch auf Seiten des/der Patientin eine Dimension mit den Polen „völliger Selbst"bzw. „völliger Fremdbezug" unterscheiden. Bei einem sehr hohen Selbstbezug findet nur sehr geringer innerer Kontakt zum anderen statt. Es ist wenig empathisches Verständnis vorhanden, und der/die andere wird als Gegenüber kaum wahrgenommen. Auf dem Gegenpol kommt es bei einem sehr hohen Fremdbezug

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

zu einer weitgehenden Selbstaufgabe und einer hohen Orientierung am anderen. Sowohl in einzelnen Situationen, aber auch im therapeutischen Prozess insgesamt lässt sich eine „Zone optimaler Begegnung" bestimmen, in der ein beidseitig größtes Ausmaß an Authentizität von Therapeutin und Patientin realisiert wird.

Abbildung 4.Dimension der Bezogenheit im Psychotherapieprozess In dieser Zone optimaler Begegnung lassen sich am ehesten wechselseitige Veränderungsprozesse initiieren (von einem ähnlichen Ansatz geht Tscheulin 2006 mit seinem Konzept der Komplementarität aus; auch Stern 1998 beschreibt mit seinem Konzept der „Now-moments" einen zumindest tendenziell ähnlichen Ansatz). Der/die Psychotherapeutin wird zunächst relativ stark auf den/die Patientin bezogen sein. Es gibt eine therapeutische Baseline der Bezogenheit, ohne sich jedoch völlig aufzugeben. Im therapeutischen Prozess wird es das Ziel sein, die Beziehungsgestaltung auf diese „Zone optimaler Begegnung" hin zu orientieren. Dabei wird es sich allerdings nicht um einen geradlinigen Prozess handeln, sondern der/die Patientin wird, ausgehend von der Baseline, Vertrauen schöpfen, bis bspw. der völlige Selbstbezug aufgegeben wird; dann kann der/die Therapeutin größere Authentizität zeigen, z.B. stärker konfrontieren. Möglicherweise fuhrt dies zu Rückzug oder Widerstand des/der Patientin, worauf dann der/die Therapeutin sich wieder stärker auf das Kind beziehen muss. So wird ein Oszillieren um die gedachte „optimale Entwicklung" zu dem Bereich gegenseitiger größter Authentizität kommen; in diesem Bereich sind dann besonders gut Veränderungsanstöße, die Ermöglichung „korrigierender emotionaler Erfahrung" (s.o.) bzw. die Aktivierung von innerpsychischen Schemata möglich.

Fröhlich-Gildhoff: Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendpsychotherapie

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völliger Selbstbezug

völliger Fremdbezug

Abbildung 5: Entwicklung im Therapieprozess 4. Exkurs Interventionsebenen (Dieser Abschnitt ist eine erweiterte Form des Abschnitts 5 in Fröhlich-Gildhoff 2006.)

Grundsätzlich lassen sich - auf dem Hintergrund einer tragenden und entwicklungsforderlichen therapeutischen Beziehung - folgende Interventionsebenen unterscheiden:

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Bezugspunkte für die Intervention sind die jeweilige aktuelle Situation („Hier und Jetzt") und die „Lebensthematik" (die Inkongruenzen bzw. intrapsychischen Konflikte, die bisherigen zentralen Beziehungserfahrungen, die Ressourcen und Bewältigungsformen usw.). Diese verschiedenen Interventionsmöglichkeiten sollen an einem Beispiel verdeutlicht werden: Ein siebenjähriger Junge kommt in die Therapiestunde und kündigt an: „Heute mache ich was Großes", und fangt an, mit den verschiedensten Baumaterialien einen Turm zu bauen, der allerdings von vornherein so wackelig gebaut ist, dass er in relativ geringer Höhe zusammenbricht. Das Kind sagt nur „Oh, doof, jetzt passiert mir das schon wieder", und fangt sofort in gleicher Weise wieder mit dem Bauen an. (1) Handlungsebene: Das Beobachtete wird vom/von der Therapeutin beschrieben - hier gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, Akzente zu setzen (und z.B. spezifisch ressourcenorientiert zu intervenieren): „Der Turm ist dir zusammengebrochen, jetzt machst du einen neuen Versuch." Diese Verbalisierungen des Geschehens auf der Handlungsebene machen einen großen Teil der Interventionen aus. Sie sind für die Kinder hilfreich, weil sie erleben, dass ein Erwachsener sich für sie interessiert und sie begleitet. Sie stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und werden „gespiegelt"; damit wird an frühe positive Interaktionserfahrungen angeknüpft, oder es werden neue Beziehungserfahrungen ermöglicht. (2) Emotionale Ebene: Die - vielleicht auch nur latent - gezeigten Emotionen werden verbalisiert (hier wird auf die „klassische" klientenzentrierte Methode des „Verbalisierens emotionaler Erlebnisinhalte" zurückgegriffen): „Du bist ein wenig enttäuscht, dass der Turm zusammengebrochen ist, hast aber genug Mut, wieder neu anzufangen." Auch auf dieser Ebene hat das Spiegeln an sich eine große Bedeutung. Ebenso wichtig ist, dass durch die Verbalisierung die Emotionen auf einer bewussten Ebene verdeutlicht werden; das Kind kann sich jetzt damit auseinandersetzen. (3) Ebene der handlungsleitenden innerpsychischen Struktur: Hier kann - wenn der/die Therapeutin dazu klare Hypothesen hat - der Bezug zum „Lebensthema", zu den Inkongruenzen, den „handlungsleitenden Kognitionen" (Kognitive Verhaltenstherapie) oder dem „internal working model" (Bindungstheorie) - hergestellt werden. Es kann „Klärung" i.S. des Grawe'schen Wirkfaktors (Grawe 1994, 1998) stattfinden: „Du bist überzeugt, dass du etwas Großes schaffen kannst, und gibst nicht gleich auf." Oder: „Es klappt oft nicht, was du erreichen willst." Oder: „Du nimmst dir etwas ganz Großes vor und strengst dich an, und dann geht es meistens schief." - Solche Interventionen setzen präzise Kenntnisse der Geschichte des Kindes und seiner Lebensbewegungen voraus. Kinder gehen zumeist auf ein derartiges Angebot nicht direkt ein, aber auch auf dieser Ebene wird bisher „Unbewusstes" auf die Bewusstseinsebene „gehoben". (4) Beziehungsebene: Interventionen auf dieser Ebene setzen gewachsenes Vertrauen zwischen Therapeutin und Kind voraus. Es wäre auf der Ebene der Realbeziehung möglich, dem Kind vorsichtig Hilfe anzubieten („du hast das bisher ganz alleine gemacht, und es kippt immer um. Wenn du möchtest, kann ich dir ein wenig helfen"), es auf der Handlungsebene zu unterstützen - das Kind könnte Erfolge

Fröhlich-Gildhoff: Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendpsychotherapie

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erzielen, seine Selbstwirksamkeit erhöhen und zugleich die Beziehungserfahrung der hilfreichen Unterstützung durch einen Erwachsenen machen. Möglicherweise reproduziert das Kind zugleich eine „alte" Beziehungserfahrung („ich muss allein da durch, es gibt niemand, der mir hilft" - und: „ich scheitere sowieso"). Diese Erfahrung wird in der therapeutischen Situation reinszeniert; die Wiederholung kann angesprochen werden („du willst das ganz alleine machen, weil immer keiner da ist, der dir hilft"). Diese oder ähnliche Interventionsebenen lassen sich überwiegend auch in der Jugendlichen- und Erwachsenentherapie beschreiben - in der Kindertherapie werden sie jedoch nicht nur auf verbaler, sondern ebenso auf symbolischer, also auf der Spielebene realisiert. Es wird zudem deutlich, dass es die richtige bzw. in ihrer Absolutheit perfekte Intervention an sich nicht gibt. Das Handeln des/der Therapeutin ist immer auf das jeweilige Kind bezogen, eben auf die Person zentriert. Auf welcher Ebene die Intervention erfolgt, ist vor allem vom Entwicklungsstand des Kindes und vom Stand des therapeutischen Prozesses abhängig. 5. Wirkfaktoren im therapeutischen Prozess Die Arbeitsgruppe um Grawe identifizierte auf der Grundlage ihrer Metaanalysen schulenübergreifend vier Wirkfaktoren in der Psychotherapie mit Erwachsenen: Ressourcenaktivierung (1), Hilfe zur Problembewältigung (2), Klärung (3) und prozessuale Aktivierung (4). Im dargelegten Praxisforschungsprojekt konnten anhand der Videoanalysen diese vier Faktoren gleichfalls in Kinderpsychotherapien identifiziert und wie folgt operationalisiert werden: (1) Ressourcenaktivierung'. Dabei geht es nicht darum, dass Ressourcen nur gezeigt werden (von Patientin), sondern um das gezielte Aktivieren (Ansprechen oder Anregen von vorhandenen Ressourcen bzw. Stärken). Es geht also um „schlummernde" Fähigkeiten, die von dem/der Patientin (noch) nicht ausreichend genutzt werden. Beispiele für Ressourcen sind motivationale Bereitschaften, Interessen, Fähigkeiten, psychische Merkmale, zwischenmenschliche Beziehungen (Netzwerke). (2) Aktive Hilfe zur Problembewältigung: Das Problem wird verstanden als ein Nichtkönnen auf Verhaltensebene. Es geht um ein reales praktisches Arbeiten an der Lösung des Problems inklusive der Etablierung auf der Verhaltensebene. Elemente sind: Schwierigkeiten ernst nehmen, Problem identifizieren, gemeinsame Problemdefinition, Analyse des Problems (Darstellen, Besprechen, Zielanalyse), Suche nach Lösungs-/Bewältigungsmöglichkeiten (Passung, Teilschritte ...), reale Bewältigung, z. B. durch Probehandeln: stellvertretende Lösung (Problemlösung in der Spielhandlung), Reflexion der Lösungen (Erfolge organisieren, Selbstwirksamkeit (-serwartung) verbessern!). (3) Klärung: In Abhebung zur Problembewältigung ist dies die „vertikale" Ebene, die „Arbeit an der Psyche"; die Patientinnen sollen sich über sich selbst klar werden, neue Zusammenhänge sollen erkannt und hergestellt werden; Unbewusstes soll zu Bewusstem werden. Dies bedeutet im Einzelnen: an die „Grenze der Gewahrwerdung gehen", sich Sachverhalte bewusster machen, das Eigene sehen (kön-

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

nen), Arbeiten an den „inneren Prozessen", Bewusstmachung des innerpsychischen Konfliktgeschehens, Zusammenhang zu „Deutung", Er-Klären, „Vermutungen anbieten". (4) Prozessuale Aktivierung: Prozessuale Aktivierung ist eng an die Aktivierung innerpsychischer Schemata gebunden. Es geht darum, diese Schemata durch die Kopplung mit Erleben und Emotionen zur Aktivierung, zum Schwingen zu bringen und damit einen Umbau zu ermöglichen. Prozessuale Aktivierung geschieht durch: Organisierung korrektiver Erfahrung, den Patientinnen die Möglichkeit geben, sich selbst neu zu erleben (auch im Handeln), gezieltes Anregen von Denken, Fühlen und Handeln, ein von bisherigen Mustern abweichendes Verhalten des Therapeuten, auch durch Konfrontationen, Abweichen vom normalen Erregungsniveau, „Ausnahme vom Alltäglichen" (Anstöße geben). Prozessuale Aktivierung verstärkt die anderen Wirkfaktoren. (5) Allgemeiner Kompetenzerwerb: Zusätzlich wurde ein fünfter Wirkfaktor des allgemeinen Kompetenzerwerbs identifiziert: In Kinder- und Jugendlichentherapien kommt es immer wieder dazu, dass Kinder durch das Spiel/Handeln auf einer realen Ebene neue Fähigkeiten erwerben (sie lernen zum Beispiel beim Spiel an der Werkbank, in angemessener Weise Nägel einzuschlagen, beim Türmebauen verbessern sich die Fähigkeiten hierzu usw.). In einer dezidierten Zwischenanalyse von 22 Therapien von fünf Behandlerinnen konnten aufgrund der Ratings von insgesamt 483 Therapiestunden (Stand: November 2004) nach statistischer, v.a. korrelativer Analyse folgende Zusammenhänge ermittelt werden: (1) Das Ausmaß der Realisierung der Wirkfaktoren sagt etwas darüber aus, wie gut oder wie schwierig eine Therapie verläuft: a) Das Ausmaß ist größer bei gut/erfolgreich verlaufenden Therapien (und umgekehrt), b) Das Ausmaß ist größer bei erfahrenen Therapeutinnen, c) Das Ausmaß hängt von der Bedürftigkeit des Patienten und seiner emotionalen Offenheit ab. (2) Die Realisierung der Wirkfaktoren hängt allgemein vom zeitlichen Stadium der Therapie ab: a) Zu Therapiebeginn sind die Faktoren generell weniger verwirklicht als im späteren Verlauf (am Anfang stärker: Ressourcenaktivierung und prozessuale Aktivierung), b) In nicht so gut verlaufenden oder letztlich abgebrochenen Therapien sinkt am Ende die Realisierung der Wirkfaktoren ab, in erfolgreichen Therapien tritt tendenziell ein umgekehrter Effekt auf. (3) Die Wirkfaktoren korrelieren insgesamt nur schwach miteinander. Es scheint aber therapeuten- oder klientenspezifische Besonderheiten zu geben (Verhaltenscluster). Bedeutsam können dabei folgende Zusammenhänge auftreten: a) allgemeiner Kompetenzerwerb - aktive Hilfe zur Problembewältigung; b) allgemeiner Kompetenzerwerb - Ressourcenaktivierung; c) Klärung - aktive Hilfe. (4) Wirkfaktoren und Beziehungsfaktoren korrelieren nur sehr schwach miteinander. (5) Die fünf Wirkfaktoren werden wahrscheinlich bei Therapien mit folgenden Klientinnen in hohem Ausmaß realisiert: a) Ressourcenaktivierung: bei offensichtlich selbstunsicheren Patientinnen; b) aktive Hilfe zur Problembewältigung: bei Patienten, die sprachlich oder symbolisch klar Probleme einbringen und für

Fröhlich-Gildhoff: Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendpsychotherapie

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entsprechende Rückmeldungen offen sind; c) Klärung: bei Patienten, die voller Ideen und „Handlungsimpulse" in die Therapiestunden kommen; d) allgemeiner Kompetenzerwerb: bei Patienten mit deutlichen ,Ausgangsdefiziten" (soziale Ängstlichkeit, Gehemmtheit, Retardierung). Insgesamt ist zusammenfassend festzustellen, dass die Wirkfaktoren unterschiedlich realisiert werden: a) je nach Setting (z.B. Einzeltherapie gegenüber der Gruppentherapie); b) zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Therapieprozesses (deutlicher Unterschied zwischen Anfangsphase und Ende); c) je nach altersmäßigem und vor allem „psychischem" Entwicklungsstand des/der Patientin; d) nach aktuellem Thema, aber auch „Störungsbild" des Kindes/Jugendlichen. 6. Zusammenfassung Zusammenfassend lassen sich aus den Ergebnissen des Praxisprojektes folgende therapieprozessleitende Erkenntnisse formulieren: (1) Die „Passung" zwischen Therapeutin und Kind/Jugendlichem ist zumindest zu Beginn der Therapie ein wesentlicher Faktor, der über einen positiven Verlauf entscheidet. Es muss Energie in das reflektierte Herstellen dieser Passung investiert werden. (2) Es lassen sich Parameter einer entwicklungsforderlichen Beziehungsgestaltung formulieren. Neben den klassischen Basisvariablen ist dies Halt und Strukturgebung, aber auch eine Koregulation affektiver Zustände. (3) Je nach Entwicklungsgeschichte, psychischer Struktur und Konfliktdynamik des/der Patientin ist es bedeutsam, die Möglichkeit zu „korrektiven Erfahrungen" (Grawe) bzw. „korrigierenden emotionalen Erfahrungen (Cremerius) in der Beziehung mit dem/der Therapeutin zu gestalten. (4) Zu einem erfolgreichen Therapieverlauf trägt ein „Jonglieren" mit den einzelnen therapeutischen Wirkfaktoren je nach dem Stand des/der Patientin und des Therapieprozesses bei. (5) Darüber hinaus ist es wichtig, auch gezielte „Anstöße" zu geben, zur Veränderung auf einer Schema(Selbstruktur)ebene. Hierzu trägt im Wesentlichen die Beziehungsgestaltung bei; insbesondere auf der Ebene des Spieles können allerdings auch neue herausfordende und erlebnisaktivierende Methoden gezielt eingesetzt werden. Literatur Cremerius, J. (1979): Gibt es zwei psychoanalytische Techniken? Psyche 32, Heft 7,577-599. Eckert, J. (o. J.): Schulenübergreifende Aspekte der Psychotherapie. Ringvorlesung Interventionsmethoden WS 04/05. Online: wwwl.uni-hamburg.de/psych-3/homepages/schwab/ eckert_allgem.ppt. (Zugriff: 21. 7.2006). Fröhlich-Gildhoff, K. (2006): Die Kraft des Spiel(en)s - Personzentrierte Psychotherapie mit Kindern. Psychotherapie im Dialog 7, Heft 1,42-49. Fröhlich-Gildhoff, K. (2003): Einzelbetreuung in der Jugendhilfe. Münster: Lit. Fröhlich-Gildhoff, K.; Hufnagel, G. & Jürgens-Jahnert, S. (2004): Auf dem Weg zu einer Allgemeinen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie - die Praxis ist weiter als die Therapieschulen. In: Michels, H.-P. & Dittrich, R. (Hrsg.): Auf dem Weg zu einer allgemeinen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Eine diskursive Annäherung. Tübingen: DGVT-Verlag, 161-194.

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

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Dialog und Fragen zum Verstehen des bedrohten Selbst und seiner salutogenen Ressourcen in der (personzentrierten) Psychotherapie Gert-W. Speierer In der Psychotherapie sollte kein Gegensatz zwischen der individuellen Einmaligkeit und den störungsbedingt überindividuellen Gemeinsamkeiten von Patienten konstruiert werden. Beide sind Grundlagen eines Verstehens, das, so meine ich, seinen Sinn in therapeutischen Veränderungen findet, die unter Einbeziehung des Verständnisses des Individuums und seiner Störung erleichtert werden. Ein professionelles Verstehen kann sowohl mit introspektiven Daten als auch mit Fremdbeobachtungen bzw. -beurteilungen von Patienten erfolgen und empirisch evaluiert werden. Es wird am Beispiel des personzentrierten Verstehens in der Gesprächspsychotherapie dargestellt. Als Grundlage des personzentrierten Verstehens soll die Inkongruenztheorie des „Differenziellen Inkongruenz Modells" der Gesprächspsychotherapie (Speierer 1994, 2005) dienen. Sie thematisiert und differenziert als psychopathologische Verständnisgrundlage mehrere Formen und Quellen der Selbstbedrohung. Sie sind in Abb. la und Abb. lb dargestellt.

Abb. la: Die Inkongruenztheorie des DIM (Speierer 1994,2005)

Inkongruenz: Ein Zustand persönlichen Erlebens von Selbstbedrohung aus unterschiedlichen Quellen mit unterschiedlichen Formen 1. Konfliktinkongruenz Unverträglichkeit, Inkompatibilität, Nichtübereinstimmung oder Nonkonformität innerhalb des Selbstkonzepts aus dispositionellen, sozialkommunikativen und lebensereignis- bzw. lebenssituationsbedingten Quellen Unverträglichkeit, Inkompatibilität, Unvereinbarkeit oder Nonkomformität zwischen dem Selbstkonzept als Ganzem und der Erfahrung - der Selbstwahrnehmung einschließlich Körperwahrnehmung - der bedeutsamen Bezugspersonen - der Interaktion der Person mit diesen Personen - der persönlich bedeutungsvollen situativen und gesellschaftlichen Faktoren

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Abb. lb; Die Inkongruenztheorie des DIM (Speierer 1994,2005)

Inkongruenz: Ein Zustand persönlichen Erlebens von Selbstbedrohung aus unterschiedlichen Quellen mit unterschiedlichen Formen

2. Nicht konflikthafte Inkongruenz oder „Stressinkongruenz". Das Individuum wird von Erfahrungen überwältigt, welche selbstunverträglich sind, das Selbst in Frage stellen oder zerstören. Dabei fehlt jegliches Konflikterleben. Jede Form der Inkongruenz kann die Grundlage für individuell und störungsbedingt unterschiedliche Störungssymptome bilden.

Die Kongruenztheorie der seelischen Gesundheit des „Differenziellen Inkongruenz Modells" thematisiert die therapeutischen Veränderungen bei seelischen Störungen als Folgen der Bewältigung von Selbstbedrohung und des Findens selbstverträglicher Erfahrungen und Problemlösungen. Sie differenziert dazu auch mehrere Formen von salutogenen Ressourcen. Sie sind in den Abb. 2a und 2b dargestellt.

Abb. 2a: Die Kongruenztheorie des DIM (Speierer 1994,2005)

Kongruenz: Ein Zustand persönlichen Erlebens von selbstverträglichen Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen aus unterschiedlichen Ressourcen 1. Einklang, Kompatibilität, Übereinstimmung oder Konformität innerhalb der dispositionellen, sozialkommunikativen und lebensereignisbedingten bzw. lebenssituativen Teile des Selbst 2. Einklang, Kompatibilität, Verträglichkeit, Übereinstimmung oder Konformität zwischen dem Selbstkonzept und den Erfahrungen - mit sich selbst - mit den persönlich bedeutsamen Bezugspersonen - aus der Interaktion mit ihnen - der persönlich bedeutsamen situativen und gesellschaftlichen Faktoren

Speierer: Dialog und Fragen zum Verstehen des bedrohten Selbst

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Abb. 2b: Die Kongruenztheorie des DIM (Speierer 1994,2005) Kongruenz: Ein Zustand persönlichen Erlebens von selbstverträglichen Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen aus unterschiedlichen Ressourcen 3. „Friedliche" Koexistenz von Widersprüchen innerhalb der Teile des Selbstkonzepts (s.o.) 4. „Friedliche" Koexistenz von Widersprüchen zwischen Teilen des Selbstkonzepts und den Erfahrungen aus multiplen Quellen (s.o.) 5. Salutogene Ressourcen: Inkongruenztoleranz: Die Fähigkeit bzw. Einstellung Widersprüche im Selbst und zwischen Selbst und Erfahrungen zu akzeptieren. Aktualisierungstendenz: Kongruenzfördernde Einstellungen und Fähigkeiten vorzugsweise kognitive Copingstrategien, um Inkongruenzerleben zu bearbeiten und selbstverträgliche Lösungen zu finden. Beziehungserfahrungen der Wertschätzung, Empathie und Kongruenz

Die Therapietheorie des „Differenziellen Inkongruenz Modells" verwendet personenzentrierten Dialog im Erstgespräch oder in Anfangsgesprächen und Patientenbefragung mit dem „Regensburger Inkongruenz Analyse Inventar" (RIAI) Mittel des personzentrierten Patientenverständnisses in Form der Inkongruenzanalyse. Inkongruenzanalyse ist in den Abb. 3a und 3b dargestellt.

den die als Die

Abb. 3a: Die Inkongruenzanalyse des DIM als Mittel des Patientenverständnisses (Speierer 2005)

Gegenstände der Inkongruenzanalyse: Merkmale und Skalen zum Verständnis des bdrohten Selbst und seiner salutogenen Ressourcen Formen der Inkongruenzanalyse: - Die Transkriptanalyse - Der Beurteilungsbogen (Checkliste) (In beiden wird die Fremdbeurteilung therapeutischer Dialoge als Datenquelle verwendet.) - Das „ Regensburger Inkongruenz Analyse Inventar " (RIAI) (Seine Datenquelle sind Fragen zur Selbstbeurteilung der untersuchten Personen.)

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Abb. 3b: Die Inkongruenzanalyse des DIM als Mittel des Patientenverständnisses (Speierer 2005)

Hauptziele der Inkongruenzanalyse: Patienten personzentriert verstehen, um eine korrekte Indikation und Prognose einer Gesprächspsychotherapie zu stellen mögliche individuelle Schwerpunkte und Gegenstände einer Behandlung zu erkennen person- und störungsbezogenes Patientenerleben in den speziellen Kategorien der personzentrierten Theorie und Praxis zu dokumentieren spontane und therapiebezogene Änderungen methoden- und störungsbezogen zu evaluieren die personzentrierte Störungs- und Therapietheorie am Patientenerleben zu überprüfen

Die Hauptkategorien (Merkmale) der Transkriptanalyse zum Verständnis des Stellenwerts von Inkongruenz und Kongruenz im Erleben von Gesprächspsychotherapiepatienten sind in Abb. 4a und Abb. 4b dargestellt.

Abb. 4a: Hauptkategorien der Transkriptanalyse des DIM (Speierer 2005)

Rangreihe von zehn Merkmalen der Inkongruenz bei Gesprächspsychotherapiepatienten bei Therapiebeginn IÜ = mangelhaft erlebte Selbst- u. Verhaltenskontrolle, überwältigende und überschießende Reaktionen SK = subjektive Krankheitstheorie: Person bzw. Ich-nahe gegenüber person- bzw. Ich-fernen externen Verursachungshypothesen II = (erlebte) Inkongruenz der Erfahrungen mit dem Selbstkonzept I(Seko)NS = negative Selbstbewertung, mangelndes Selbstvertrauen, Selbstmitleid IB- = Insuffizienzerleben, Leistungsversagen, Belastungsintoleranz IG = generalisiertes, negatives bzw. Symptomerleben QskP- = erlebtes Unverständnis anderer signifikanter Bezugspersonen, befürchtetes Unverständnis bzw. negative Kritik seitens der Mehrzahl fremder Personen IVE- = Verhaltens-, Erfahrungs- u. Erlebniseinschränkung Sekol- = unerreichbare Seins- u. Perfektionsideale SekoWI = Belastung durch fremde bzw. unorganismische Wertintrojekte

Speierer: Dialog und Fragen zum Verstehen des bedrohten Selbst

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Abb. 4b: Hauptkategorien der Transkriptanalyse des DIM (Speierer 2005) Rangreihe von zehn Merkmalen der Kongruenz bei Gesprächspsychotherapiepatienten bei Therapieende KVE+ = Verhaltenserweiterung, Sammeln neuer Erfahrungen, Erlebenserweiterung KE = Einsicht in die „selbst gemachte" Symptom- und Problemproduktion sowie deren Reduktion bzw. Beseitigung KSekoSV+ = Selbstvertrauen, Selbstbestimmung, Zuversicht, Selbstverwirklichung, Selbstannahme, Zufriedenheit, Gelassenheit KEÄ = „gesunde" Einstellungsänderung KR = realistischere Selbsteinschätzung und Situationseinschätzung KD = Differenzierung, Eingrenzung, Relativierung KB+ = größere Belastbarkeit, anderes Erleben von Belastung, Belastungen werden durchgestanden, gesteigerte Leistungsfähigkeit, vergrößerte Toleranz gegenüber eigenen Fehlern (K)SekoO/I = organismische Werte statt fremder Wertintrojekte, realistische statt perfektionistische Ziele und Seinsvorstellungen KP+ = veränderte, positiver bewertete Beziehungen und positiver bewertetes Verhalten zu anderen Personen KK = Kongruenz des Verhaltens bzw. der Erfahrungen mit dem Selbstkonzept

Ein Beispielfiir inkongruenzanalytisches Patientenverständnis aus dem therapeutischen Dialog Zwölf fortlaufende Aussagen einer 16-jährigen Patientin mit einer Schulphobie (ICD F40) in der zweiten Sitzung einer Gesprächspsychotherapie sind in den Abb. 5a und 5b dargestellt. Die Auswertung zeigt das personzentrierte Verständnis individueller und störungsbezogener Merkmale des Patientenerlebens und dessen Bedeutung für eine Indikation und Prognose der GPT. Abb. 5a: Transkriptauswertung mit den Hauptkategorien der Inkongruenzanalyse Gesprächspsychotherapie, Einzeltherapie, Verlaufsprotokoll, Th.-Nr. 154, Person Z 48, weiblich 2. Sitzung (Ausschnitt) (Merkmale und Kategorien der Inkongruenzanalyse sind eingetragen) 1. Kl.: Zurzeit ist es wieder besonders stark irgendwie ... (IG) Th.: Hm. Sie erleben so Angst vor so vielen Dingen oder so 'ne unbestimmte Angst? 2. Kl.: Es ist wirklich manchmal ganz unbestimmt. Die tritt manchmal auf, also bei ganz normalen Dingen. (GBS-) Th.: Hm .... 3. Kl.: Dann denke ich, von mir selbst kommt das schon her (SK+), dass ich denke, dass ich das nicht schaff (IB-), dass ich mir persönlich überhaupt nichts zutraue (IsekoNS, IB-, IG). Das ist sehr oft jetzt, ja (IG). Th.: Ja, Sie halten sich selbst für jemanden, der recht schwach ist, der nicht viel schafft 4. Kl.: Ja, das hat sich jetzt so entwickelt. Th.: Hm.

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Abb, 5b: Transkriptauswertung mit den Hauptkategorien der Inkongruenzanalyse (Fortsetzung) 5. Kl.: Und deshalb diese Unsicherheit, wenn das manchmal noch bestätigt wird in Situationen, die eigentlich (II) nicht viel bedeuten (GBS-), dann trifft mich das ganz furchtbar, II. So geht es mir oft. Th.: Hm, Sie können das nicht ertragen, wenn Sie das Gefühl haben, Sie schaffen irgendwas nicht? 6. Kl.: Ja, irgendwie ... dann hab' ich auch keinen Mut mehr (ISekoNS). Th.: Hm..., hm... dann geben Sie die nächsten Dinge auch gleich wieder auf 7. Kl.: Ja, dann denk' ich, das klappt auch nicht (IB-), und dann überlass' ich das lieber den anderen (IVE-), obwohl ich das eigentlich... (II) früher hab' ich das nicht gemacht (GBS+). Th.: Hm ... 8. Kl.: Aber jetzt mittlerweile da wird das schon so, dass ich dann lieber nichts mache (IVE-). Th.: Hm, Sie wollen nicht das Risiko eingehen, irgendwie, was nicht zu schaffen 9. Kl.: Genau, ja. Da hängt es immer dran, (SekoO/I-) ja. Das ist dann auch mit dem, dass ich dann so nervös werde (GBS-), (KE), so furchtbar nervös (IG). Th.: Wenn Sie dann so diese Angst kriegen, dann merken Sie auch, dass Sie dann körperlich nervös werden, unruhig? 10. Kl.: Hm ... das ist einfach, wenn ich das richtige Gefühl habe, dass ich das jetzt nicht schaffe, dann ist es bei mir, dann kann ich mich nicht konzentrieren (IVE-) ... (SekoO/I, GBS-), (KE) Th.: Hm, ja, Sie stehen auch unter so einem unheimlichen Druck, so einem Leistungsdruck. 11. Kl.: Ja, genau (KE). Th.: Sie wollen das schaffen, und dann geht's immer weniger, wenn Sie diesen Druck verspüren? 12. Kl.: Das ist auch jetzt in der Schule so. Es waren jetzt wieder Montag, Dienstag, Mittwoch waren wieder drei Arbeiten (GBS-), und dann immer (GERU) das Gefühl, dann bin ich für nichts zu gebrauchen (ISekoNS, IB-). Ich weiß, dass ich das verstehe, aber (II) wenn ich dann in der Schule sitze und dann schreiben soll, dann ist das bei mir total (GERU), dann fang' ich an zu schwitzen IG (GBS-) Th.: Hm ... aber eigentlich trauen Sie es sich schon zu, weil Sie wissen, eigentlich kann ich's ja, ne? 13. Kl.: Ja, das ist es, ja (II). Th.: Aber gefühlsmäßig kommen Sie da so in diese Angst rein? 14. Kl.: Ja, nachher, wenn das vorbei ist, da kann ich mich unterhalten, so und so geht das (GBS+), aber während der Arbeit, wenn ich in der Situation drin bin, da kann ich diesen Leistungsdruck nicht ertragen (KD), (KE). Auswertung: IG: 5, IB-: 4, IsekoNS: 3, SekoO/I: 2, II: 5, IVE-: 2, GERU: 2, (GBS-: 6), SK+: 1, KE: 4, KD: 1, (GBS+: 2), Kongruenzindex: 6K: 231 = 0,3.

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Symposium: Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur

Die Inkongruenzanalyse aus dem personzentrierten Dialog ermöglicht, eine Person entsprechend der personzentrierten Theorie sowie auch individuell zu verstehen in Form der individuellen Inkongruenzdynamik, d.h. in den Kategorien und Formen der Inkongruenz, in den Kategorien und Formen der Kongruenz und der Ressourcen sowie der Belastung durch Leitsymptome seelischer Störungen der DSM-Achse 1. Hinweise fiir die Indikation und Prognose einer

Gesprächspsychotherapie:

a)

Eine positive Indikation und positive Prognose für eine Gesprächspsychotherapie kann aus der o. a. Auswertung aufgrund des deutlichen Vorhandenseins von selbstbedrohlich erlebtem Inkongruenzerleben (1:23) (Kongruenzindex mit 0,3 erheblich