Zum Unbehagen in der Kultur. Psychoanalytische Erkundungen der Gegenwart [1. ed.] 9783837930894, 9783837977790

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Zum Unbehagen in der Kultur. Psychoanalytische Erkundungen der Gegenwart [1. ed.]
 9783837930894, 9783837977790

Table of contents :
Inhalt
Editorial (Helga Klug, Markus Brunner, Julia Skip-Schrötter)
Zeitdiagnosen
Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen (Gordana Jovanović)
Entfremdung des Dings (Jan Hahndorf)
Bedrückende »Zeitkultur« (Thomas Pröll)
Kultur versus Individuum posthuman (Anna Schor-Tschudnowskaja)
Politische Artikulationen des Unbehagens
»Political Correctness« (Bekir Ismail Doğru)
Majdan 2013/2014 in der Ukraine (Julia Skip-Schrötter & Markus Brunner)
Das Unbehagen in der Arbeitswelt
Das Unbehagen in der Arbeitswelt (Lutz Eichler)
Unbehagen in der Arbeitskultur? (Gianluca Crepaldi)
Das Unbehagen in der Pandemie
Und wo bleibt der Eros? (Helga Klug)
Bedrohung, Angst und Macht (Markus Fäh)
Unbehagliches Behagen in der Kultur (Alexandra Moritz)

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Helga Klug, Markus Brunner, Julia Skip-Schrötter (Hg.) Zum Unbehagen in der Kultur

D

as Anliegen der Buchreihe Bibliothek der Psychoanalyse besteht darin, ein Forum der Auseinandersetzung zu schaffen, das der Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft, als Human- und Kulturwissenschaft sowie als klinische Theorie und Praxis neue Impulse verleiht. Die verschiedenen Strömungen innerhalb der Psychoanalyse sollen zu Wort kommen, und der kritische Dialog mit den Nachbarwissenschaften soll intensiviert werden. Bislang haben sich folgende Themenschwerpunkte herauskristallisiert: Die Wiederentdeckung lange vergriffener Klassiker der Psychoanalyse – wie beispielsweise der Werke von Otto Fenichel, Karl Abraham, Siegfried Bernfeld, W. R. D. Fairbairn, Sándor Ferenczi und Otto Rank – soll die gemeinsamen Wurzeln der von Zersplitterung bedrohten psychoanalytischen Bewegung stärken. Einen weiteren Baustein psychoanalytischer Identität bildet die Beschäftigung mit dem Werk und der Person Sigmund Freuds und den Diskussionen und Konflikten in der Frühgeschichte der psychoanalytischen Bewegung. Im Zuge ihrer Etablierung als medizinisch-psychologisches Heilverfahren hat die Psychoanalyse ihre geisteswissenschaftlichen, kulturanalytischen und politischen Bezüge vernachlässigt. Indem der Dialog mit den Nachbarwissenschaften wiederaufgenommen wird, soll das kultur- und gesellschaftskritische Erbe der Psychoanalyse wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Die Psychoanalyse steht in Konkurrenz zu benachbarten Psychotherapieverfahren und der biologisch-naturwissenschaftlichen Psychiatrie. Als das ambitionierteste unter den psychotherapeutischen Verfahren sollte sich die Psychoanalyse der Überprüfung ihrer Verfahrensweisen und ihrer Therapie-Erfolge durch die empirischen Wissenschaften stellen, aber auch eigene Kriterien und Verfahren zur Erfolgskontrolle entwickeln. In diesen Zusammenhang gehört auch die Wiederaufnahme der Diskussion über den besonderen wissenschaftstheoretischen Status der Psychoanalyse. Hundert Jahre nach ihrer Schöpfung durch Sigmund Freud sieht sich die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen gestellt, die sie nur bewältigen kann, wenn sie sich auf ihr kritisches Potenzial besinnt.

Bibliothek der Psychoanalyse Herausgegeben von Hans-Jürgen Wirth

Helga Klug, Markus Brunner, Julia Skip-Schrötter (Hg.)

Zum Unbehagen in der Kultur Psychoanalytische Erkundungen der Gegenwart Mit Beiträgen von Markus Brunner, Gianluca Crepaldi, Bekir Ismail Doğru, Lutz Eichler, Markus Fäh, Jan Hahndorf, Gordana Jovanović, Helga Klug, Alexandra Moritz, Thomas Pröll, Anna Schor-Tschudnowskaja und Julia Skip-Schrötter

Psychosozial-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2021 Psychosozial-Verlag, Gießen E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Pieter Bruegel der Ältere, Zwei Affen, 1562 Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar Satz: SatzHerstellung Verlagsdienstleistungen Heike Amthor, Fernwald ISBN 978-3-8379-3089-4 (Print) ISBN 978-3-8379-7779-0 (E-Book-PDF)

Inhalt

Editorial

7

Helga Klug, Markus Brunner, Julia Skip-Schrötter

Zeitdiagnosen Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

15

Gordana Jovanović

Entfremdung des Dings

47

Das Unbehagen in der Kultur und der Beitrag Lacans Jan Hahndorf

Bedrückende »Zeitkultur«

67

Thomas Pröll

Kultur versus Individuum posthuman

81

Was wird von dem ursprünglichen Antagonismus bleiben? Anna Schor-Tschudnowskaja

Politische Artikulationen des Unbehagens »Political Correctness«

103

Der Kampf um und gegen das Unbehagen Bekir Ismail Doğru

Majdan 2013/2014 in der Ukraine

125

Ein Versuch, das Unbehagen zu durchbrechen? Julia Skip-Schrötter & Markus Brunner

5

Inhalt

Das Unbehagen in der Arbeitswelt Das Unbehagen in der Arbeitswelt

155

Lutz Eichler

Unbehagen in der Arbeitskultur?

187

Überlegungen zum psychoanalytischen Arbeitsbegriff Gianluca Crepaldi

Das Unbehagen in der Pandemie Und wo bleibt der Eros?

203

Psychoanalytische Betrachtungen über das Unbehagen in der Kultur in Zeiten der Finanz- und Corona-Krise Helga Klug

Bedrohung, Angst und Macht

225

Psychoanalytische Überlegungen zur Coronakrise und deren individueller und gesellschaftlicher Bewältigung Markus Fäh

Unbehagliches Behagen in der Kultur Alexandra Moritz

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243

Editorial »Why this sudden bewilderment, this confusion? (How serious people’s faces have become.) Why are the streets and squares emptying so rapidly, everyone going home lost in thought? Because night has fallen and the barbarians haven’t come. And some of our men just in from the border say there are no barbarians any longer. Now what’s going to happen to us without barbarians? Those people were a kind of solution.« C.P. Cavafy: »Waiting for the Barbarians«

Das Unbehagen in der Kultur gilt als die wohl bekannteste kulturtheoretische Schrift Freuds. Mit dieser hat er neben anderen Werken den Grundstein für eine psychoanalytische Betrachtung und Kritik gesellschaftlicher Phänomene gelegt. Seit der ersten Publikation im Jahr  1930, ein Jahr, nachdem die New Yorker Börse zusammengebrochen war und damit den Beginn einer Weltwirtschaftskrise markiert hatte, sind nun 90 Jahre vergangen. Wirtschaftliche, politische, soziale Veränderungen und Krisen, wie zuletzt die Corona-Krise, laden ein, die Schrift wieder zu lesen und dem zwiespältigen Verhältnis von Individuum und Kultur, wie es sich heute gestaltet, nachzugehen. Dieses Verhältnis hat Freud ins Zentrum seines Textes gestellt und mit einer symbolischen Titelgebung als Unbehagen in der Kultur in Worte zu fassen und zu begreifen versucht. »[H]eute habe ich den letzten Satz niedergeschrieben«, liest man im Brief an Lou Andreas Salomé vom 28.7.1929. Von Krankheit geplagt, verbringt Freud die Sommerferien in Berchtesgaden und verfasst Das Unbehagen in der Kultur »ohne Bibliothek«, wie man in diesem Brief nachlesen kann. »Sie [die Arbeit] handelt von Kultur, Schuldgefühl, Glück und ähnlich hohen Dingen und kommt mir, gewiß mit Recht, sehr überflüssig vor, zum Unterschied von früheren Arbeiten, hinter denen doch immer irgend ein Drang steckte. […] Ich schrieb, und die Zeit verging mir ganz angenehm. Ich habe die banalsten Wahrheiten während dieser Arbeit neu entdeckt« (Pfeiffer, 1966, S. 198).

7

Editorial

Um welche banalen Wahrheiten geht es dabei? Freud beschreibt in dieser Schrift – das als Manuskript den Titel »Das Unglück in der Kultur« trug (vgl. Paskauskas, 1993, S. 663) – die prekäre Stellung des Menschen in der Kultur, die im Tausch für Sicherheit ihm einen ständigen Triebverzicht auferlegt und so der Suche nach dem persönlichen Glück zuwiderläuft. Die Kultur wird daher zum Ziel aggressiver Strebungen, die das Individuum aber unter dem Druck der Kultur wieder – hierfür steht die Instanz des Über-Ichs – gegen innen wendet. Der Preis für diese Befriedung ist ein unbewusstes Schuldgefühl, eben das berühmte Unbehagen. Freud erhebt die Frage, »ob und in welchem Maße es […] [der] Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden«, zur Schicksalsfrage für die Menschheit (Freud, 1930a, S. 506). Den Herausgeber*innen ist es ein Anliegen, Autor*innen unterschiedlicher Generationen, Nationalitäten, Disziplinen und beruflicher Verortungen zu Wort kommen zu lassen. In ihren Beiträgen werden die an die Individuen gerichteten Kulturforderungen unter die Lupe genommen und sichtbar gemacht und dem daraus resultierenden Unbehagen in der Gegenwart eine Stimme gegeben. Freud zeigt uns in seinem Text eindrucksvoll, wie sich die Psyche, nicht nur in Krisenzeiten, unter Einwirkung sozialer, ökonomischer, gesellschaftlich-politischer Faktoren formt. Seinen Impuls einer psychoanalytischen Betrachtung seiner Gegenwart greifen wir mit diesem Sammelband auf, um unsererseits aus einer psychoanalytischen Perspektive und vor dem Hintergrund der Überlegungen Freuds unsere Gegenwart zu ergründen. Die Autor*innen im Band knüpfen an Freuds Überlegungen an, denken sie weiter, historisieren sie aber auch und betonen, dass sie heute unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen aktualisiert werden müssen. Der Sammelband ist in vier Abschnitte gegliedert, in denen konkrete Ausdrucksformen eines Unbehagens in der Kultur der Gegenwart beschrieben und analysiert werden. Der erste Abschnitt Zeitdiagnosen beschreibt den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse seit Freud und zeichnet nach, wie sich dieser in innerpsychischen Prozessen und Strukturen manifestiert. Gordana Jovanović befasst sich in ihrem Beitrag »Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen« mit wechselseitigen Prozessen zwischen »Innen« und »Außen«, die konstituierend für die Subjektgenese und jener des Sozialen sind. Gegenwärtig führt der steigende Exter8

Editorial

nalisierungsdruck zu neuen Formen des Unbehagens. Die Autorin bringt die Anfälligkeit für Spektakel oder für fake news damit in Zusammenhang, genauso wie den steigenden sozialen Druck und die Setzung von Konformismus und Anpassungsfähigkeit als absolute Werte. Jan Hahndorf untersucht in seinem Aufsatz »Entfremdung des Dings. Das Unbehagen in der Kultur und der Beitrag Lacans« den Wandel der ideologischen Formationen bürgerlicher Vergesellschaftung vor dem Hintergrund der Überlegungen der sogenannten »Schule von Ljubljana« und deren Bestreben, Lacan für die Sozialkritik fruchtbar zu machen. Er zeigt auf, wie das unbewusste Begehren mit den bestehenden Gesellschaftsstrukturen verzahnt ist und wie sich im Übergang zum Neoliberalismus Herrschaftsinstanzen ins Innere der Subjekte verlagern und dort unbewusst verankern. Wie sich der steigende Druck nach ständiger Selbstveränderung und -optimierung auf das Subjekt in der Spätmoderne auswirkt, beschreibt Thomas Pröll in seinem Text »Bedrückende ›Zeitkultur‹«. Er verzeichnet eine dadurch hervorgerufene massive »Gegenwartsschrumpfung«, welche die Quelle einer kontinuierlichen Unruhe, eines Unbehagens sei, das er mit dem auftretenden Sinnlosigkeitsgefühl in Zusammenhang bringt und erörtert. Anna Schor-Tschudnowskaja schließlich konfrontiert in ihrem Beitrag »Kultur versus Individuum posthuman: Was wird von dem ursprünglichen Antagonismus bleiben?« Freuds kulturtheoretische Ausführungen mit zeitgenössischen soziologischen Klassikern, die sich ebenfalls mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auseinandersetzten. Davon ausgehend fragt sie nach Wandlungen dieses Verhältnisses in der Gegenwart, insbesondere in Auseinandersetzung mit technologischen, sozialen und philosophischen Strömungen, die man unter die Begriffe »Transhumanismus« und »Posthumanismus« fasst. Der zweite Abschnitt Politische Artikulationen des Unbehagens beschäftigt sich damit, wie politische Auseinandersetzungen auf ein gegenwärtiges Unbehagen verweisen und wie sich dieses im politischen Feld niederschlägt. Bekir Ismail Doğrus Beitrag »›Political Correctness‹ – der Kampf um und gegen das Unbehagen« widmet sich dem leidenschaftlich umkämpften Feld der »Political Correctness«. Sein besonderes Augenmerk richtet sich, von Freuds Ausführungen ausgehend, auf die »typischen« Strategien der Aggressionsbewältigung von einerseits Anhänger*innen der »Critical Whiteness« und andererseits der »Neuen« Rechten. Der Autor zeigt, wie 9

Editorial

letztere ihrer Anhänger*innenschaft eine aggressive »Triebbefreiung«, insbesondere gegen die Institutionen der Kultur, in Aussicht stellt. Im darauffolgenden Beitrag »Majdan 2013/2014 in der Ukraine – ein Versuch, das Unbehagen zu durchbrechen?« untersuchen Julia SkipSchrötter und Markus Brunner den Majdan 2013/2014 in der Ukraine. Sie beleuchten die Rolle und Wirkung eines historisch und gesellschaftlich spezifisch situierten Unbehagens im Zuge des Aufstands und gehen dabei insbesondere auf die Aggressions- und Zerstörungsdynamiken ein. Zentral fragen sie nach den regressiven und progressiven Momenten des Majdan: Zeigen sich hier Dynamiken eines Wiederholungszwangs oder einer der Symbolisierung zuarbeitenden Wiederholung, die Neues ermöglicht? Der dritte Abschnitt widmet sich dem Unbehagen in der Arbeitswelt. Im gleichnamigen Beitrag geht Lutz Eichler vor dem Hintergrund von Herbert Marcuses Überlegungen zum spezifisch gesellschaftlichen Charakter der »Lebensnot« der Frage nach, wie sich unter aktuellen Bedingungen das Verhältnis zur (Lohn-)Arbeit gestaltet. Er unterscheidet zwei Aneignungsvorgänge: einerseits eine verstärkte Identifikation mit Arbeit, weil diese an vielen Orten Sublimierungspotenziale birgt, die aber mit einem verschärften Zeitdruck kollidieren, andererseits die Introjektion des Objekts »Arbeit überhaupt« als einen autoritären Gegenpart, der mit der projektiven Verfolgung von vermeintlich »Faulen« einhergeht. Gianluca Crepaldi zeigt in seiner Arbeit »Unbehagen in der Arbeitskultur? Überlegungen zum psychoanalytischen Arbeitsbegriff« auf, dass trotz der zentralen Bedeutung des Arbeitsbegriffs für die psychoanalytische Terminologie dieser bislang erstaunlich wenig diskutiert wurde. Freud koppelt im Begriff der Kulturarbeit Kultur und Arbeit unauflöslich aneinander, erweitert so verdienstvoll den Arbeitsbegriff, ontologisiert ihn aber zugleich auch auf problematische Weise. Crepaldi verbindet diese Überlegungen mit Analysen der gegenwärtigen Arbeitskultur und zeigt, dass der psychoanalytische Diskurs einer kritischen Reflexion seines Arbeitsbegriffes bedarf, um dem emanzipatorischen Anspruch in Theorie und Praxis gerecht zu werden. Im letzten Abschnitt Das Unbehagen in der Pandemie werden die Auswirkungen der Corona-Krise und verschiedene Antworten und Formen des Umgangs mit ihr aus psychoanalytischen Perspektiven betrachtet. Helga Klug untersucht in ihrem Beitrag »Und wo bleibt der Eros? Psychoanalytische Betrachtungen über das Unbehagen in der Kultur in Zeiten der Finanz- und Corona-Krise« den Umgang mit diesen beiden Krisen im 10

Editorial

Hinblick auf die Rolle des Staates, die Angst vor dem Nächsten und das Verhältnis zum Sterben und zum Tod. Sie zeichnet eine Entwicklungslinie nach, die bereits vor den Krisen ihren Anfang nahm, und stellt die Kehrseite eines auf neoliberalen Prinzipien gründenden Individualismus und das damit verbundene Unbehagen in seinen vielfältigen Repräsentationen dar. Markus Fähs Beitrag »Bedrohung, Angst und Macht. Psychoanalytische Überlegungen zur Coronakrise und deren individueller und gesellschaftlicher Bewältigung« beleuchtet die Covid-19-Pandemie und ihre psychischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen im Lichte von Freuds Arbeit. Besonderes Augenmerk richtet er auf die Wechselwirkungen zwischen dem Funktionieren des psychischen Apparats und den in unserer Gesellschaft ungewohnten überwältigenden und frustrierenden realen Einwirkungen, die Symbolisierungsdefizite, Über-Ich-Stärkung und die Reaktivierung unbewusster Konflikte mit sich bringen. Die theoretischen Überlegungen werden mit Fallbeispielen illustriert. Alexandra Moritz befasst sich zum Abschluss in ihrem Beitrag »Unbehagliches Behagen in der Kultur« mit der Situation von Eltern und Kleinkindern in der Zeit der Corona-Pandemie. Anhand von Fundstücken zeigt sie auf, wie die einzelnen Familienmitglieder mit der neuen Situation umgehen, wie sich Beziehungen innerhalb der Familie verändern oder auch gleichbleiben und welche Forderungen von der Gesellschaft an die Familie gestellt werden. Sie schließt mit der Frage, ob die Krise auch eine Chance sein darf. Die hier versammelten Beiträge der Autor*innen zeigen, so hoffen wir, dass psychoanalytisches Denken ein fruchtbares Instrument ist, um gegenwärtige Verhältnisse zu begreifen. Wir danken der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, mit der wir alle verbunden sind, für den Druckkostenzuschuss zu diesem Band. Helga Klug, Markus Brunner und Julia Skip-Schrötter

Literatur Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419–506. Paskauskas, R. A. W. (1993). The Complete Correspondence of Sigmund Freud and Ernest Jones, 1908–1939. Bd. 1. London: Harvard University Press. Pfeiffer, E. (Hrsg.). (1966). Sigmund Freud  – Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Frankfurt a. M.: Fischer.

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Zeitdiagnosen

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen Gordana Jovanović

Einführung Die berühmte Freud’sche Diagnose über das Unbehagen des Menschen in der Kultur, ausgesprochen in den 30er Jahren des später als kurz bezeichneten 20.  Jahrhunderts, zielte auf Allgemeingültigkeit und Unveränderbarkeit. Die so gemeinte Aussage eines Denkers, der ständig auf der Suche war, hinter dem anscheinend Festgelegten doch Entwicklungsprozesse und Geschichten aufzudecken und dadurch die Veränderlichkeit als das Hauptmerkmal des Menschlichen zu bezeugen, mag erstaunlich klingen, aber eben deshalb ist sie einer Auslegung bedürftig und wert. Freuds Beschreibung der Stellung des Menschen in der Kultur als unbehaglich geht davon aus, dass der Mensch notwendigerweise in der Kultur lebt. Im Ursprung der Kultur steht das Motiv eines Gesellschaftsvertrags – der Verzicht des Individuums zugunsten des Staates bzw. der Kultur. Im traditionellen Modell des Gesellschaftsvertrags geht es um den Verzicht der Individuen auf einige ihrer Freiheiten, um im Gegenzug vom Staat Sicherheit und Schutz gewährleistet zu bekommen, wozu sonst kein Individuum allein fähig wäre. In der Psychoanalyse geht es bei der Genese der Kultur um den beträchtlichen Verzicht auf Triebbefriedigungen. Die Unveränderbarkeit des Unbehagens des Menschen in der Kultur ist, in Freuds Auffassung, eine notwendige Folge einerseits der Unhintergehbarkeit der Kultur für menschliches Leben und andererseits des unvermeidlich repressiven Charakters der Kultur selbst. Über die vereinfachten Modelle des Gesellschaftsvertrags hinaus, die am Anfang der entstehenden Moderne formuliert wurden, wie etwa bei Hobbes (1651) in seinem Leviathan, und die mindestens implizit auch in Freuds Psychoanalyse übernommen wurden, wird in neueren 15

Gordana Jovanović

logischen Theorien argumentiert, dass Kultur schon in die Entwicklung der Menschengattung eingegangen ist, also nicht erst der biologisch vollendeten Entwicklung des Menschen folgt. Das neue Kulturprinzip der Menschenentwicklung hat die Annahme einer unveränderbaren biologisch bestimmten Menschennatur ersetzt, behauptet Clifford Geertz (vgl. 1973) in seiner symbolisch ausgerichteten Anthropologie. Anstatt des Modells eines unveränderbaren homo clausus wird der Mensch als ein immanent zur Welt offenes Wesen neu bestimmt – als »the animal most desperately dependent upon such extragenetic, outside-the-skin control mechanisms, such cultural programs, for ordering his behavior« (ebd., S. 44). Dadurch wird das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Kultur von Grund auf anders aufgefasst. Äußerliche Mechanismen werden zu Regulatoren des Inneren des Menschen. Aber eben dadurch wird der Mensch zu seinem eigenen Schöpfer, wie von Geertz ausgeführt: »By submitting himself to governance by symbolically mediated programs for producing artifacts, organizing social life, or expressing emotions, man determined, if unwittingly, the culminating stages of his own biological destiny. Quite literally, though quite inadvertently, he created himself« (ebd., S. 48). Paradoxerweise wird durch die Zurückverlegung der konstitutiven Wirkung der Kultur in die Gattungsentwicklung des Menschen ein Prinzip der Selbstkonstituierung des Menschen eingeführt und dadurch auch eine Möglichkeit des Kulturoptimismus begründet: »[C]ulture, rather than being added on, so to speak, to a finished or virtually finished animal, was ingredient, and centrally ingredient, in the production of that animal itself« (ebd., S. 47). Angesichts dieser die Rolle der Kultur anders bewertenden anthropologischen Auffassung sollte daran erinnert werden, dass Freud seinerzeit anthropologische und ethnologische Bestätigungen für seine psychoanalytischen Einsichten erwartete. Andererseits haben viele Anthropologen, schon zu Freuds Zeit, psychoanalytische Begriffe und Erklärungsmuster in ihren Untersuchungen angewendet (Boas, Malinowski, M. Mead). Im Hinblick auf eine so lange Geschichte der Beziehungen zwischen der Anthropologie und der Psychoanalyse ist es erstaunlich, dass auch in neueren Abhandlungen, die sich mit dieser Beziehung beschäftigen (vgl. z. B. Gammeltoft & Buch Segal, 2016; Rivera, 2017), Geertz bzw. seine symbolische und umwertende Anthropologie überhaupt nicht diskutiert wird. Geertz selbst hat zwar Freud’sche Beiträge zum Verständnis besonders von religiösen Phänomenen anerkannt, aber gleichzeitig gefordert: »[W]e must 16

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

place them in a much broader context of contemporary thought« (Geertz, 1973, S. 88). Wie sind Freuds Kulturtheorie im Allgemeinen und seine kulturpessimistische Diagnose über das Unbehagen in der Kultur als unabänderliches Schicksal des Menschen im Kontext des gegenwärtigen Denkens und der Lage des Menschen zu verstehen? Kann ein Kulturoptimismus, wie etwa der von Geertz begründete, Freuds Kulturpessimismus überwinden? Oder wird eher Freuds Kulturpessimismus der heutigen Lage des Menschen in der Kultur gerechter? Dass die beiden Denker zu entgegengesetzten Urteilen über das Schicksal des Menschen kommen, bestätigt noch einmal, dass eine grundlegende, ja strukturelle Offenheit des Menschen in sich verschiedene Möglichkeiten birgt, die ja dann auch unterschiedlich interpretiert werden können. Zur Offenheit des Menschen gehört es, dass er auch selbstzerstörerische Wege gehen kann, die ja eine besondere interpretative Herausforderung darstellen. Trotz vieler Unterschiede teilen Geertz und Freud die Auffassung, dass die Bestimmung des Menschen in den unauflösbaren Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und der Kultur liegt. Der Mensch kann nur in und mit der Welt bestehen und bestimmt werden. Die Wechselbeziehungen gestalten sich durch Bezüge des Inneren (des Menschen) auf das Äußere (der Kultur) und durch Aneignungen des Äußeren in das Innere. Das bedeutet, dass das Innere des Menschen vom Äußeren abhängt. Das bedeutet weiterhin, dass, wie der Mensch denkt, fühlt, handelt, sich zu anderen und sich selbst verhält, davon abhängt, was die jeweilige Kultur und Gesellschaft als Ganzes zur Verfügung stellen, welche Deutungsmuster zum Welt- und Menschenverständnis entwickelt und gefördert oder eben verdrängt werden. Da selbstverständlich Gesellschaft kein Naturereignis ist – auch wenn diskursive Naturalisierungen des Sozialen so verbreitet sind und sich aufdrängen –, sind Menschen für die Gesellschaften, in denen sie leben, verantwortlich. Letztendlich braucht der Mensch eine gute Gesellschaft, um richtig denken zu können. Und er braucht richtiges Denken, um eine gute Gesellschaft denken zu können. Und er braucht mehr als nur ein richtiges Denken, um eine gute Gesellschaft auch zu schaffen. Soziale, kulturelle und ontogenetische Geschichten der Verwandlungen des Äußeren und Inneren im Menschen und in der Welt zeigen, dass sie sowohl emanzipatorischen als auch repressiven Zwecken dienen können. Es ist zu befürchten, dass die gegenwärtige Lage des Menschen und der 17

Gordana Jovanović

Welt eher viele Gründe für pessimistische Schlüsse bietet. Dass es aber nicht so sein muss, kann uns die Geschichte lehren, in der es auch einmal anders war als heutzutage. Die Unterscheidung zwischen Äußerem und Innerem gehört zu den grundlegenden Koordinaten des individuellen menschlichen Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Handelns, wie auch des gesellschaftlichen Zusammenseins. Diese Unterscheidung ist aber nicht a priori gegeben, sondern eine Leistung, die aufgrund von mehr oder weniger komplexen Entwicklungsprozessen hervorgebracht werden kann und meistens auch hervorgebracht wird. Das gilt sowohl für die individuelle Entwicklung als auch für die Unterscheidungen, die sich auf der Ebene der jeweiligen Gesellschaft abspielen. Aber so wie diese Unterscheidungen keinen Beginn a priori haben, so haben sie auch kein im Voraus festgelegtes Ende. Die Unterscheidung zwischen Äußerem und Innerem ist im ständigen Wandel begriffen, da das ehemals Äußere zu einem Inneren werden kann und das Innere zum Äußerem. Die erste Art der Verwandlungsprozesse wird üblicherweise Internalisierung genannt, und die zweite Externalisierung. Das Unterscheiden-Können und -Müssen ist eine Aufgabe, mit der Einzelne und Gesellschaften unaufhörlich zu tun haben. Dadurch wird das Unterscheiden zwischen Äußerem und Innerem zu einem Spiegelbild sowohl der individuellen als auch der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. In diesem Beitrag werde ich versuchen, einige dieser Verwandlungsprozesse, die sich zwischen Äußerem und Innerem abspielen, zu verfolgen. Der sozial-historische Bezug, der die Spanne vom Übergang zur Neuzeit bis zur Gegenwart umfasst, hat eine zweifache Funktion: Einerseits kann das zur Begründung der Gegenwartsdiagnose verhelfen, andererseits wird dadurch für eine sozial- und kulturhistorische Verankerung von Subjektivitätsformen argumentiert. Was die Gegenwartsdiagnose betrifft, so wird auf viele Prozesse verwiesen, die zur Abschaffung ganz wichtiger Errungenschaften der Moderne geführt haben und weiterhin führen. Die Veränderungen beziehen sich auf alle Bereiche der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Bildungswesen, Kultur, Medien) und haben notwendigerweise Auswirkungen auf Sozialisationsbedingungen und Subjektivitätsformen, die unter solchen Bedingungen herausgebildet werden. Der Neoliberalismus ist in der Gegenwartsdiagnose unhintergehbar, da er schon alle Lebensbereiche so tief umstrukturiert hat – von der Wirtschaft bis zur Bildung und zum Gesundheitswesen. Gleichzei18

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

tig sind aber auch Prozesse der Neu-Feudalisierung zu beobachten, die den einzigartigen hybriden Charakter der Gegenwart noch verstärken. An die Veränderungen in den Subjektivitätsformen, die unter solchen hybriden und konflikthaften Bedingungen entstehen, werde ich hauptsächlich, obwohl nicht ausschließlich, aus psychoanalytischer Perspektive herangehen. Neben der Freud’schen Psychoanalyse wird auch die psychoanalytisch inspirierte und mehr noch psychoanalytisch fundierte Kritische Theorie (Frankfurter Schule) herangezogen, hauptsächlich die von Herbert Marcuse, da meines Erachtens seine Analysen der Auswirkungen der sozialen Veränderungen in massenindustriellen Gesellschaften auf psychische Strukturen nichts an Bedeutung und Aktualität verloren haben, obwohl sie vor mehreren Jahrzehnten durchgeführt wurden. Darüber hinaus können sie als frühe, rechtzeitige Warnungen verstanden werden, die leider nicht entsprechend wahrgenommen wurden. Die vorgeschlagenen Analysen sollten die im Titel dieses Beitrags angedeutete These bekräftigen. Die tiefgreifenden Transformationen in Internalisierungsprozessen und folglich internalisierten psychischen Strukturen haben Auswirkungen auf das Soziale. Gleichzeitig entstehen die veränderten psychischen Strukturen unter den Bedingungen starker sozial-kultureller Umbrüche. Folglich werden sowohl »das Innere« als auch »das Äußere« bzw. sowohl die so sozialisierten Subjektivitäten als auch das entleerte, zersplitterte, verfallene Soziale gleichermaßen beschädigt. Dadurch verlieren sie ihre bildende Kraft, sowohl für das Innere wie auch für das Äußere. Woher sollte dann die so dringlich benötigte Änderung kommen, die nach Posthumanismus, Postmoderne oder Post-truth wieder den Weg zu Menschen findet, die eine gerechte Gesellschaft als Bedingung der Möglichkeit ihres Menschseins einfordern und bilden können?

Moderne Die Moderne ist unhintergehbar, wenn man die Verwandlungsprozesse, die das Äußere und das Innere durchlaufen haben, bis in ihre gegenwärtigen Formen verfolgen und dadurch auch die hier vertretene These vom Zusammenhang zwischen den Transformationen der Internalisierung und dem Verfall des Äußeren und Sozialen begründen möchte. Die Moderne im Allgemeinen steht im Zeichen der Wende vom Menschen, der der göttlichen, unergründbaren Allmacht überlassen wurde, 19

Gordana Jovanović

zum befreiten Menschen als Hauptakteur seines Lebens. Folglich trägt er die Verantwortung sowohl für sich selbst als auch die Geschichte im Allgemeinen und für die sich differenzierenden Teilbereiche der entstehenden modernen Gesellschaft (Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst). Diese epochale Verwerfung der theologisch abgeleiteten Heteronomie und Einführung der Autonomie des Menschen als Grundlage seines sich neu entwickelten Selbstverständnisses kann als ein epochales anthropologisches Internalisierungsprojekt verstanden werden. In dieser Abwendung von der jenseitigen Bestimmung des Menschen ist Internalisierung konstitutiv für den modernen Menschen und für die Moderne im Ganzen. Wie Hans Blumenberg (1966) in seinen Studien zur Legitimität der Neuzeit gezeigt hat, hat das sich auflösende und schon delegitimierte heteronome christliche Mittelalter eine Leere hinterlassen, die eigentlich zur Freiheit, aber auch zur Aufgabe wurde, sie zu füllen – es gab niemanden mehr als den Menschen selbst, der sein Schicksal in eigene Hände hätte nehmen können. Die so erworbene Selbstbehauptung und Selbstbestimmung des Menschen hat entscheidend das moderne Zeitalter geprägt. In diesem Sinne kann dieses mit guten Gründen als anthropozentrisch bezeichnet werden. Im Zentrum stand nun der vereinzelte Mensch, verstanden als autonomes Individuum. Eine solche Auffassung des Menschen hat viele Bereiche des Lebens und der entstehenden Gesellschaft gekennzeichnet, sodass der Individualismus zur generativen Struktur des modernen Zeitalters geworden ist. Seine stärkste Ausprägung fand er im sogenannten possessiven Individualismus, der ja die ideologische Grundlage der kapitalistischen Wirtschaftsordnung bildet. Die moderne Zeit beansprucht als ihre Hauptselbstcharakterisierung, eine »neue Zeit« zu sein, womit sie sich von den alten und antiken Zeiten streng unterscheiden und trennen wollte. Hier wurde schon eine Dialektik der Umwandlung des Inneren und Äußeren in spezifischere Formen, aber auf der epochalen Ebene, in Gang gesetzt. So wird das Neue als das zum Inneren der Moderne gehörend und das Alte als das zum Äußeren der Moderne gehörend aufgefasst. Das Bewertungsmuster, das das positiv besetzte Neue und negativ besetzte Alte enthält, wird dann in vielen Bereichen angewendet – in der Wirtschaft, im Konsumverhalten, auch im privaten Leben (Drang nach Neuem, ständiger Druck, neue Kompetenzen zu erwerben, alte Gewohnheiten loszuwerden, von Neuem anzufangen, neu bzw. jung auszusehen usw.). Aber das ist keine Widerspiegelung des ontolo20

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

gischen Status des Neuen bzw. des Inneren und des Alten bzw. des Äußeren. Ganz im Gegenteil – das ist eine Folge von Konstruktionsprozessen, die ja von Bewertungsprozessen begleitet werden, denn das Neue muss, um neu zu sein, zunächst dem Bestehenden, das heißt der Moderne, nicht angehören bzw. ihr äußerlich sein. Gleichzeitig war das Alte einmal Bestandteil des Bestehenden, gehörte also dem Inneren der Moderne an. Durch die ständige Aneignung des Neuen in der Moderne wird das ehemals Äußere internalisiert und das ehemals Innere externalisiert und folglich verworfen. Durch diese Identifizierung des Modernen mit dem Neuen ist seine Zukunftsoffenheit gewährleistet. Auf eine besondere moderne Dynamik, die darin enthalten ist, verweist Habermas: »Weil sich die neue, die moderne Welt von der alten dadurch unterscheidet, daß sie sich der Zukunft öffnet, wiederholt und verstetigt sich der epochale Neubeginn mit jedem Moment der Gegenwart, die Neues aus sich gebiert. […] [D]ie Gegenwart genießt als Zeitgeschichte innerhalb des Horizonts der Neuzeit einen prominenten Stellenwert« (Habermas, 1985, S. 15).

Mit solchen epochalen Denkmustern sind kognitive Grundlagen auch für andere prägende Merkmale der Moderne gelegt – vor allem für einen starken modernen Individualismus, der mit einer zurückhaltenden Einstellung gegenüber dem Anderen als Individuum und noch stärker mit einer Abneigung gegen die supraindividuellen Strukturen wie Staat und Gesellschaft oder das Soziale im Allgemeinen zusammenhängt. Das findet seinen Ausdruck in politischen Ideologien und in diesen entsprechender Praxis – der Liberalismus ist dafür ein paradigmatisches Beispiel. Seine gegenwärtige Fassung als Neoliberalismus ist eine noch radikalere Form des Individualismus und der Missachtung und Verachtung des Sozialen, das als eine Gefährdung der individuellen Autonomie aufgefasst und dadurch von vornherein diskreditiert wird. Philosophisch wird René Descartes noch immer aufs Engste mit der Moderne assoziiert, auch wenn inzwischen für andere Deutungen des philosophischen Anfangs der Moderne plädiert wird, wie zum Beispiel von Stephen Toulmin (1994), der neben Descartes Montaigne für den Begründer der modernen Philosophie hält. In seiner berühmten Abhandlung Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie betrachtet Husserl Descartes als »urstiftenden Genius der gesamten neuzeitlichen Philosophie« (Husserl, 1982 [1936], S. 80). 21

Gordana Jovanović

Hegel hat in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie Descartes hochgepriesen, in Anerkennung seiner Rolle eines Denkers der neuen Zeit. Hegel bezieht sich gerade auf den Wandel in den Beziehungen zwischen dem Äußeren und Inneren als entscheidend für Descartes und die moderne Zeit. Ausgehend von der Innerlichkeit kommt man in die Welt, oder anders gesagt: Die Welt braucht die Legitimierung durch die Innerlichkeit. »Das allgemeine Prinzip ist jetzt, die Innerlichkeit als solche festzuhalten, die tote Äußerlichkeit, Autorität zurückzusetzen, für ungehörig anzusehen. Nach diesem Prinzip der Innerlichkeit ist nun das Denken, das Denken für sich, die reinste Spitze des Innersten, diese Innerlichkeit das, was sich für sich jetzt aufstellt; und dies Prinzip fängt mit Descartes an. […] Dies hat zugleich den Sinn, daß dies Denken allgemeines Geschäft, Prinzip für die Welt und die Individuen ist: das, was gelten, was festgesetzt sein soll in der Welt, muß der Mensch durch seine Gedanken einsehen; was für etwas Festes gelten soll, muß sich bewähren durch das Denken« (Hegel, 1971 [1832–1845], Dritter Teil, S. 121).

Hegels Interpretation von Descartes stimmt überein mit dessen Selbstverständnis seiner Denkwege, die vom denkenden Ich ausgehend sichere Grundlagen des Denkens schaffen sollten. Descartes zielt auf die Allgemeingültigkeit seiner »Methode des richtigen Vernunftgebrauchs« (Descartes, 1982 [1637]). Descartes’ lebensgeschichtlicher Weg ist auch durch die Abwendung von Autoritäten und die Hinwendung zu sich selbst gekennzeichnet, allerdings nachdem er vorher »im Buche der Welt« (ebd., S. 11) studiert hatte. In dieser wie auch immer mehrfach vermittelten und abgeleiteten Weltbezogenheit des modernen Prinzips der Innerlichkeit liegt, meiner Meinung nach, der entscheidende Unterschied zu dem schon im Mittelalter, bei Aurelius Augustinus, formulierten Prinzip der Innerlichkeit. In De vera religione (Über die wahre Religion) (1986 [390], S. 72) forderte Augustinus den Menschen auf: »Noli foras ire, in te ipsum redi; in interiore homine habitat veritas.« (»Geh nicht nach außen, zu dir selbst kehre zurück; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.«) Was noch weit über seine Zeit hinaus bei Augustinus formuliert war, ist eben die so klar die moderne Zeit ankündigende »Selbstgewißheit der Innerlichkeit« (Windelband, 1957 [1892], S. 237). 22

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

Descartes hatte Verdienste auch in Bezug auf die moderne Hinwendung zum Nominalismus, im Streit, der schon im Mittelalter zwischen Realisten und Nominalisten geführt wurde. Der Unterschied zwischen dem Wesen und den Eigenschaften einer Sache wurde nominalistisch so aufgelöst, dass es kein anderes Wesen gibt außer der Ganzheit der Eigenschaften. Heinrich Rombach (vgl. 1965, S. 343) hat die Denkprozesse in nominalistischen ontologischen Auffassungen mit eindrucksvollen Metaphern beschrieben, als ob der Körper zusammenschrumpfen und in Extremitäten verschwinden würde oder das Seiende als ein Insekt dargestellt wäre, das in Extremitäten verlegt würde. Hier sollte vorausgeschickt werden, dass die nominalistischen Tendenzen, die den Anfang der Moderne bezeichnen, sich in den weiteren geschichtlichen Prozessen nur verstärkt haben – bis in unser posthistorisches, posthumanistisches, postmodernes und post-truth-Zeitalter, in dem inzwischen nicht nur das Wesen, sondern auch die Eigenschaften aufgelöst werden und an deren Stelle ein unendliches selbstgenügsames Zeichenspiel tritt, in dem auch die Referenz auf außersprachliche Objekte verschwindet. Jean Baudrillard hat das so zum Ausdruck gebracht: »[Es] öffnet sich die Ära der Simulation durch Liquidierung aller Referenziale, schlimmer noch: durch deren künstliche Wiederauferstehung in verschiedenen Zeichensystemen, die ein viel geschmeidigeres Material abgeben als der Sinn. […] Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen« (1978, S. 9).

Auch wenn ursprünglich der nominalistische Ausgang des alten mittelalterlichen Streits am Anfang der Moderne Befreiungseffekte hatte, erzeugt seine weitere Radikalisierung heutzutage schon besorgniserregende Folgen. Es bleibt zu verfolgen, was aus dieser ursprünglich prinzipiell produktiven Verschränkung beider Prinzipien – der Innerlichkeit und Äußerlichkeit – in der weiteren historischen Entwicklung geworden ist und wie sich die Psychologie in ihrer Geschichte dazu verhält.

Psychologie im modernen Projekt Was die moderne Zeit zu einer so geschichtsträchtigen Epoche machte, war ein umfassendes Projekt der Neubegründung der Welt, in dem Begriffe, 23

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die sich auf die subjektive, innere Erfahrung beziehen, unhintergehbar für die neue Auffassung und den neuen Aufbau der Welt geworden sind. Aufgrund des starken Subjektivitätsparadigmas und wachsender Differenzierungen in der Moderne geraten Positionen von Subjekten in verschiedenen Lebens- und gesellschaftlichen Bereichen in den Mittelpunkt des Interesses. In diesem breiten Zusammenhang ist der eigentliche Geburtsort der Psychologie zu suchen, weil Bedingungen geschaffen wurden, unter denen der Bedarf nach einer systematischen und organisierten Erforschung von subjektiven Prozessen auch als gesellschaftlich relevant anerkannt wurde. Insofern geht die sozial-historische Genese der Psychologie ihrer formellen institutionellen Gründung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts voran. Das ist nicht nur eine chronologische Angelegenheit – es geht vielmehr um ein anderes Verständnis von Wissenschaft und wissenschaftlicher Erkenntnis, das über die Ideengeschichte hinausgeht und Erkenntnis und Wissenschaft, und in diesem Fall Psychologie, als sozial-geschichtlich bedingt und verankert sieht (vgl. z. B. Danziger, 1990; Jaeger  & Staeuble, 1978; Jovanović, 1997; Rose, 1998). An die Phänomene der Erfahrungen und Handlungen von Individuen als Subjekte wird dabei aber mittels einer bestimmten wissenschaftlichen Methodologie herangegangen. Das bedeutet, dass Psychologie aus den Phänomenen, die die Lebenserfahrungen von Individuen ausmachen, ihren Gegenstandsbereich erst konstruiert, der sich von den ursprünglichen Phänomenen im Leben von Menschen notwendigerweise unterscheidet. Psychologie assimiliert Erfahrungen von Individuen, die sie untersucht, in eigene Schemata oder sie internalisiert sie, nachdem vorher eine bewusste oder unbewusste Vorauswahl von Phänomenen und Individuen, denen Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, stattgefunden hat. Selbstverständlich ist auch die wissenschaftliche Methodologie vielfach vermittelt und sozial-historisch bedingt und keinesfalls ein rein intellektuelles Instrument (vgl. Jovanović, 2011). Als ein lehrreiches Beispiel kann die Forderung nach Quantifizierung von Eigenschaften von Phänomenen angegeben werden. Damit ist die Forderung nach Messung verbunden, die inzwischen fast zu dem bestimmenden Kriterium der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt erhoben wurde. Wie aber Theodore Porter in seinem Buch Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life (1995) gezeigt hat, haben sowohl Quantifizierung als auch der damit verbundene Anspruch auf Objektivität eher eine soziale Herkunft, Geschichte und Bedeutung. Der Ursprungsort der Objektivität ist nicht 24

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

die Wissenschaft; diese Forderung wird von außen an die Wissenschaft gestellt. Quantifizierung setzt notwendigerweise das Auslassen des Einmaligen, Abweichenden, Individuellen voraus. All dies wird externalisiert, als ob es nicht zu den erforschten Phänomenen gehöre. Und gerade dadurch wird Macht hergestellt – und zwar über große Zahlen: »[Q]uantification works to project power over large territories and a diversity of objects« (Porter, 1995, S. 89). Insofern ist es angebracht, auch von der politischen Philosophie der Quantifizierung zu sprechen, behauptet Porter. Dass Quantifizierung eine sehr wichtige Rolle in der Psychologie spielt, wird als selbstverständlich angenommen. Gegen Kants Behauptung, dass Psychologie nie »Seelenwissenschaft « werden kann, eben weil die Anwendung der Mathematik auf seelische Phänomene nicht möglich sei (Kant, 1983 [1786], A X-XI, S.  15f.), hat sich die Psychologie die Quantifizierung und das Messen von psychischen Phänomenen großzügig angeeignet (internalisiert), obwohl sie die Probleme, die damit zusammenhängen, wie etwa die grundlegende Frage der Messeinheit, nicht gelöst hat, worauf zum Beispiel Piaget (1973) hingewiesen hat. Joe Michell ist noch provokativer in seinen gut begründeten Ausführungen, die darauf hinauslaufen, dass die Psychologie zwar misst, aber nicht weiß, was sie misst (Michell, 1997). Dank ihrem Gegenstandsbereich, aber auch infolge des übernommenen naturwissenschaftlichen Erkenntnismodells hat sich die Psychologie als sehr geeignet für die Weitergabe und Stärkung von modernen Strukturen erwiesen. Mit ihren Begriffen, der Theoriebildung, Methodologie und mit ihren unreflektierten Annahmen hat sie rückwirkend an der Stärkung des Individualismus, an der Legitimierung von individualistischen Einstellungen und Wertbestimmungen, sogar an der spezifischen Gestaltung der Demokratie Anteil gehabt: »Psychology plays such a significant role in technologies of government within liberal democracies. […] Through its capacity to inscribe and translate subjectivity, to provide a technology that would link up the will of citizens with the decisions of authorities, such a social psychology was to portray itself as no less than a science of democracy« (Rose, 1998, S. 75).

Die Teilnahme der Psychologie an den Technologien der Verwaltung und Beherrschung ist eine Fortführung des Projekts der Beherrschung, das die Moderne seit ihren Anfängen kennzeichnete. Aus einem instrumentellen Verhältnis zur äußeren Natur, das durch schnellen technischen 25

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schritt, begründet auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, berechtigt und weiter verstärkt wurde, bildete sich ein verallgemeinertes Paradigma der Beherrschung und Unterwerfung heraus. Das gehört zum Hauptprogramm der Aufklärung, wie von Horkheimer und Adorno mit dialektischkritischer Zuspitzung gleich am Anfang ihrer Dialektik der Aufklärung beschrieben wurde: »Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen« (Horkheimer & Adorno, 1985 [1947], S. 8). Auch hier findet sich eine dialektische Verwandlung des Äußeren und Inneren. Durch ihr Wissen wollen die Menschen sich die Natur aneignen, sie zu eigenem Besitz machen, über sie verfügen. Gleichzeitig wird dieses Wissen veräußerlicht, in Technik verwandelt und dadurch zum Mittel der weiteren Beherrschung. Die technische Objektivierung und Veräußerlichung des Wissens wird immer mächtiger, sodass sich die Welt der Technik, zunächst als Vermittler zwischen Menschen und Natur operierend, immer mehr von ihrem Schöpfer (Menschen) verselbstständigt – und tendenziell beherrschend auf ihn zurückwirkt. Die Beherrschung vollzieht sich auch durch die in der Technik objektivierten Form der Rationalität. Ihrem unmittelbaren Zweck nach ist diese Rationalität instrumentell, ihrem Wesen nach ist sie sowohl dem Menschen als auch der Realität fremd, aber nichtsdestoweniger wirkt sie totalisierend. Auf diese sozial-politischen und psychologischen Aspekte der Wissenschaft und Technik in fortgeschrittenen industriellen Gesellschaften hat Herbert Marcuse in seinen kritischen Analysen schon vor mehr als 50 Jahren hingewiesen: »Die Wissenschaft von der Natur entwickelt sich unter dem technologischen Apriori, das die Natur als potentielles Mittel, als Stoff für Kontrolle und Organisation entwirft.  […] Das technologische Apriori ist insofern ein politisches Apriori, als die Umgestaltung der Natur die des Menschen zur Folge hat […]« (Marcuse, 1998 [1964], S. 168). Es ist sehr wichtig, diesen Zusammenhang zwischen der Technik, den Subjektivitätsformen, der Organisation der Gesellschaft und der Politik, auf den Marcuse kritisch verweist, nicht aus den Augen zu verlieren. Die Technik verkörpert nicht nur eine bestimmte Form des Denkens, nämlich eine instrumentelle Rationalität, sondern auch ein Ethos, das auf Verfügung zielt, das dann zum Kriterium des Erfolgs erhoben wird. Wegen des Totalitätsanspruchs der Technik werden auch die technologische, instrumentelle Rationalität und Verfügungsethik verallgemeinert, sodass sie sowohl die subjektive wie auch die soziale Welt besetzen. 26

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

Auf diese Weise werden vielfache Prozesse der Internalisierung und Externalisierung in Gang gesetzt, die dann entsprechend subjektive und soziale Welten prägen. Es scheint, dass gerade diese Prozesse der Internalisierung und Externalisierung eine ganz wichtige Rolle spielen, weil sie eine neue Topografie schaffen, in der ausgewählte erwünschte Aspekte hervorgehoben werden und wenig geschätzte oder unerwünschte unsichtbar gemacht werden. Daraus ist zu schließen, dass es eine Homologie zwischen solchen Prozessen auf der individuellen und sozial-kulturellen Ebene gibt.

Psychoanalyse und moderne Nervosität Die Psychoanalyse ist in einer Zeit entstanden, in der schon viele Risse im modernen Subjektivitätsparadigma und im Funktionieren des modernen gesellschaftlichen Gefüges zum Vorschein gekommen sind. Diese Risse in beiden Bereichen und besonders ihre Entstehungszusammenhänge haben allmählich auch ein wissenschaftliches Interesse erweckt. Hermann Glaser hat den Zusammenhang beider Bereiche und den daraus bestehenden Bedarf nach wissenschaftlicher Hilfe so beschrieben: »Die Entwicklung des Individuums zum gesellschaftsfähigen Bürger wie die soziale Phylogenese, die Entwicklung der Gesellschaft zu einem höheren Stadium von Aufgeklärtheit, bedarf ›helfender‹ wissenschaftstheoretischer Verfahren« (Glaser, 1979, S. 11). Für die durchdringenden Einsichten in ihre Gegenstandsbereiche stehen da paradigmatisch Psychoanalyse und Marx’sche Theorie. Die unbehaglichen individuellen Erfahrungen begannen also Aufmerksamkeit zu erwecken und heilende Hilfe zu erwarten. Die methodischen Regeln zum »richtigen Vernunftgebrauch« reichten nicht aus, weil die Vernunft nicht das Ganze des Menschen ausmacht und sie doch nicht imstande war, ihr Anderes völlig und zuverlässig zu beherrschen. Gleichzeitig hat auch der beschleunigte Fortschritt, vorangetrieben durch die industrielle Produktion, ihre andere Seite gezeigt – im Preis, der sich im wachsenden Leiden des Menschen ausdrückt. Die von Menschen geschaffene Gesellschaft wirkte immer mehr als eine fremde bedrohliche Macht, wie von Helmut Dahmer beschrieben: »Unfrei vergesellschaftete, ihrer selbst nicht mächtige Subjekte haben in der Vergangenheit kollektive Institutionen (Familie, Privateigentum, Staat,

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ligion, …) hervorgebracht und reproduzieren sie in der Gegenwart. Diese gesellschaftlichen Institutionen bilden den Rahmen von Lebensgeschichten, deren Kalamität die Individuen zu jenen privaten Reaktionsbildungen und Kapitulationen nötigt, die wir Neurosen und Psychosen nennen« (Dahmer, 2019, S. 235f.).

Das so erzeugte Leiden von Individuen, das sich nicht nur in den dem ärztlichen Blick und der ärztlichen Hand schon zugänglichen körperlichen Beschwerden ausdrückt, sondern auch in rein seelischen Formen von sich aufdrängenden, merkwürdigen, unverständlichen Gedanken und Affekten – das ist der Bereich, dem sich die Psychoanalyse widmet, als Deutungsund Heilkunst, aber auch als eine kritische Instanz, die den ohnmächtigen, verstummten, auch sich selbst fremd gewordenen Individuen wörtlich ein offenes Ohr bietet, das sich als wissenschaftlich verstehen will. Die Psychoanalyse ist vielfach dem Aufklärungsprojekt der Moderne verbunden, sie hat dieses Projekt noch radikalisiert – über die Vernunft hinaus bis in die Tiefe des dem Bewusstsein unzugänglichen Triebhaften und Unbewussten. Aber gleichzeitig zeigt sich diese Radikalisierung auch als ein besorgtes Infrage-Stellen von totalisierenden Vernunftansprüchen – im Namen der polymorphen Menschennatur, deren Verdrängung zur »modernen Nervosität« führt. Insofern ist die Psychoanalyse auch eine moderne Errungenschaft, allerdings eine Errungenschaft der anderen, dunklen Seite der Moderne – oder eine der Reaktionen auf »die katastrophale Entwicklung der kapitalistischen Weltgesellschaft«, wie das Helmut Dahmer zugespitzt formuliert (ebd., S. 236). Die historisch konstituierten sozial-kulturellen Zusammenhänge gehören aber nicht nur zur Ursprungsgeschichte der Psychoanalyse, sie bilden ihren Gegenstand, allerdings als verschlüsselte Texte, deren Rolle in der Verursachung von Leiden es zu enträtseln gilt. Und da setzt in Freuds Psychoanalyse eine sonderbare Dialektik der Aufklärung ein – nämlich in der Erstarrung von Einsichten in das sozio-kulturell bedingte Leiden, ohne folglich die Forderung nach der Notwendigkeit der Veränderung krankmachender Verhältnisse zu stellen. Bekanntlich hat Freud (1930a) weder an soziale Reformen noch an Revolutionen geglaubt. So wird das Unbehagen in der Kultur zur unabänderlichen Diagnose des Menschenschicksals. Aber es sollte nicht vergessen werden, dass diese Freud’sche Kulturdiagnose, ausgesprochen gegen Ende seines Lebens, eine Vorgeschichte hatte, in der sich sowohl Freuds Anklage gegen die krankmachenden Verhält28

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

nisse als auch eine gewisse Hoffnung in Bezug auf Kultur und Gesellschaft finden. Schon relativ früh, nämlich 1908, hat Freud in seiner Schrift »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« die »wachsende Nervosität« als Folge der Forderungen der »kulturellen« Sexualmoral verstanden. Über die »kulturelle« Sexualmoral hinaus hat Freud seine allgemeine These über die Beziehung zwischen Trieben bzw. ihrer Unterdrückung und der Entstehung der Kultur formuliert: »Unsere Kultur ist ganz allgemein auf der Unterdrückung von Trieben aufgebaut. Jeder Einzelne hat ein Stück seines Besitzes, seiner Machtvollkommenheit, der aggressiven und vindikativen Neigungen seiner Persönlichkeit abgetreten; aus diesen Beiträgen ist der gemeinsame Kulturbesitz an materiellen und ideellen Gütern entstanden. Außer der Lebensnot sind es wohl die aus der Erotik abgeleiteten Familiengefühle, welche die einzelnen Individuen zu diesem Verzichte bewogen haben« (Freud, 1908d, S. 150).

Trotz dieser These, die die Triebunterdrückung in die Möglichkeit der Kultur schlechthin einbaut, schließt Freud seine Schrift mit folgender Frage: »[S]o darf man wohl die Frage aufwerfen, ob unsere ›kulturelle‹ Sexualmoral der Opfer wert ist, welche sie uns auferlegt, zumal, wenn man sich vom Hedonismus nicht genug frei gemacht hat, um nicht ein gewisses Maß von individueller Glücksbefriedigung unter die Ziele unserer Kulturentwicklung aufzunehmen« (ebd., S. 167).

Freud wagt es zweifach: einmal die Frage nach dem menschlichen Opfer der Kultur zu stellen und dann weitergehend noch den Hedonismus als Maß zur Beurteilung des Werts der Kultur hinzuzufügen. Der Verweis auf den Hedonismus ist von besonderer Bedeutung für die gegenwärtige Diagnose, da in der Tat in heutigen Gesellschaften die individuelle Befriedigung zu einem wichtigen Bewertungskriterium erklärt worden ist. Aber darin liegt ein Widerspruch, der Freud an dieser Stelle entgangen ist, den aber Herbert Marcuse noch zu Freuds Lebzeiten, 1938, in der Zeitschrift für Sozialforschung im Artikel »Zur Kritik des Hedonismus« ausführlich diskutiert hat. Marcuses Kritik zufolge geht es darum, dass der Hedonismus das Glück rein subjektiv, individualistisch auffasst und sich dadurch der Allgemeinheit entzieht, die aber für jede gute und gerechte 29

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schaft notwendig ist. Marcuses Kritik des Hedonismus ist in der heutigen individualisierten Befriedigungskultur noch aktueller als in der Zeit, als sie formuliert wurde. In 1930er Jahren widmete sich Freud erneut der Kultur als dem Hauptgegenstand seiner Analysen. Nachdem er wieder zu seiner ursprünglichen These über die Unvereinbarkeit von kulturellen Forderungen und menschlichen Neigungen in der Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930a) zurückgekehrt ist, hatte er ein paar Jahre später doch noch seine Hoffnung auf Kultur ausgesprochen, diese allerdings anlässlich der Frage »Warum Krieg?«, über die er sich mit Albert Einstein austauschte. Aber auch unabhängig von dem konkreten Anlass, der zum Briefaustausch zwischen Freud und Einstein führte, nämlich der Krieg, gehört das Problem der Gewalt zu einer der wichtigsten Herausforderungen der Moderne. Einer der Unterschiede der Moderne im Vergleich zur mittelalterlichen Ordnung bezieht sich einerseits auf die Zentralisierung des Gewaltmonopols in staatlichen Institutionen und andererseits auf normative Forderungen zur Affektkontrolle im Allgemeinen und zur Kontrolle der Aggression im individuellen Handeln im Besonderen (vgl. Elias, 1976 [1939]). Was auch sehr wichtig ist und zu den Merkmalen der Moderne und zu ihrem starken Subjektivitätsparadigma gehört, ist das Gebot einer inneren, eigentlich internalisierten Kontrolle, die wirkungsvoll sein sollte, und dies auch ohne Kontrolle von außen. Allerdings haben diese Verschiebungen im Lokus der Affektkontrolle die Gewalt nicht zum Verschwinden gebracht. Die Moderne hat auch spezifische Formen der Gewalt generiert, bei denen nicht-physische Mittel gebraucht werden, aber nichtsdestoweniger Gewalt ausgeübt wird – auch in Form vom ständigen Druck zur Selbstkontrolle. Insofern ist das Problem der Gewalt sehr relevant für die Psychoanalyse. Das ist Freud nicht entgangen. Nach der Analyse des Gegensatzes zwischen Recht und Gewalt formuliert Freud in seinem Brief an Einstein eine selbstverständlich psychoanalytisch begründete, aber immerhin nur »theoretisch denkbare« These, wie die Gewalt überwunden werden könnte: »die Überwindung der Gewalt durch Übertragung der Macht an eine größere Einheit, die durch Gefühlsbindungen ihrer Mitglieder zusammengehalten wird« (Freud, 1933b, S. 16). Mit anderen Worten, es wird auf die Macht der einzelnen Individuen verzichtet und diese wird auf eine Einheit vieler, also eine Gemeinschaft, übertragen, wodurch sie zum Recht wird – »das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft« (ebd.). Das ist die Grundsituation, die der Gesell30

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schaftsvertrag voraussetzt. Aber Freud bemerkt gleich, dass die theoretisch denkbare Zuteilung der Macht an den Einzelnen und des Rechts an die größere Einheit durch die Tatsache getrübt wird, dass Macht auch unter Mitgliedern der größeren Einheit operiert, dass Macht ursprünglicher ist als das Recht und das Recht auch durch Gewalt gestützt wird. Zusätzlich wird der zerstörerischen Macht eine triebhafte Grundlage verliehen, die vom Todestrieb kommt, dessen Existenz Freud schon früher in seiner Schrift Jenseits des Lustprinzips postuliert hat (Freud, 1920g). Nun ist der Todestrieb selbst in eine Dynamik der Verinnerlichung und Veräußerlichung verwickelt, die einerseits »durch die Wendung der Aggression nach innen« (Freud, 1933b, S. 22) zur Entstehung des Gewissens, andererseits durch die Wendung nach außen zur Destruktion führt. Dabei ist es »gar nicht so unbedenklich« (ebd.), warnt Freud vor den Folgen der Internalisierung: »[W]enn sich dieser Vorgang in allzu großem Umfang vollzieht, es ist direkt ungesund« (ebd.). Im Gegenteil dazu wird der Mensch entlastet durch die Externalisierung der Aggression. Auch wenn »es keine Aussicht hat, die aggressiven Neigungen des Menschen abschaffen zu wollen« (S. 23), so findet Freud doch »die indirekten Wege zur Bekämpfung des Krieges« (ebd.). Auch denen verleiht Freud eine triebhafte Grundlage – diese schafft der Eros. »Wenn die Bereitwilligkeit zum Krieg ein Ausfluß des Destruktionstriebes ist, so liegt es nahe, gegen sie den Gegenspieler dieses Triebes, den Eros anzurufen. Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muß dem Krieg entgegenwirken. Diese Bindungen können von zweierlei Art sein. Erstens Beziehungen wie zu einem Liebesobjekt, wenn auch ohne sexuelle Ziele. […] Die andere Art von Gefühlsbindung ist die durch die Identifizierung. Alles, was bedeutsame Gemeinsamkeiten unter den Menschen herstellt, ruft solche Gemeingefühle, Identifizierungen hervor. Auf ihnen ruht zum guten Teil der Aufbau der menschlichen Gesellschaft« (ebd.).

In diesen Ausführungen hat Freud über »die Wege zur Bekämpfung des Krieges« hinaus auch die Frage nach dem Aufbau der Gesellschaft kurz beantwortet. Selbstverständlich ist seine Antwort psychoanalytisch begründet. Ich sehe Freuds Verdienst schon darin, dass er nicht bei der Frage nach dem Ursprung der Gesellschaft stehen geblieben ist. Was den Ursprung betrifft, so gehört seine Auffassung dem klassischen Modell des Gesellschaftsvertrags an, das am Anfang der Moderne formuliert wurde. Freud 31

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hat aber darauf hingewiesen, dass menschliche Gesellschaft mehr als nur Vertragsverpflichtungen ihrer Mitglieder braucht. Das klassische Modell des Gesellschaftsvertrags ist im Grunde ein atomistisches Modell der Gesellschaft, dem zufolge Individuen einen Vertrag mit dem Staat schließen. Dem Vertrag geht die Einsicht der Individuen voran, dass ein Zustand, in dem sie zwar frei handeln können, so auch gewalttätig, aber dann in ständiger Furcht vor dem freien Handeln anderer leben, das heißt, auch deren Gewalt ausgesetzt sind, auf die Dauer nicht haltbar ist. Der Schutz vor anderen, den der Staat gewährleistet, ersetzt die Furcht vor anderen, die das Leben von Individuen im vorgesellschaftlichen Zustand beherrschte. Für Freud bedarf es aber stärkerer, und zwar affektiv positiver Bindungen zwischen den Individuen, um die menschliche Gesellschaft aufrechtzuerhalten  – eben »Gemeingefühle« oder der Identifizierung mit den anderen aufgrund von »bedeutsamen Gemeinsamkeiten«. Dabei ist sehr wichtig, dass, nach Freud, die Gemeinsamkeiten hergestellt werden können. Obwohl Freud nicht weiter erklärt, wie dies geschieht, ist dieser Behauptung implizit, dass dies letztendlich die Verantwortung der Gesellschaft bzw. ihrer Institutionen sein muss. Eine solche Auffassung widerspricht den biologistischen Deutungen der Freud’schen Psychoanalyse, die nur die Triebbestimmtheit des menschlichen Schicksals berücksichtigen. Da die heutigen Gesellschaften gerade durch Fragmentierung, Atomisierung gekennzeichnet sind, ist der Hinweis darauf, dass Gemeinsamkeiten hergestellt werden können und auch müssen, wegweisend. Das wäre auch ein bedeutender Beitrag zur Aufgabe der Moderne, auf deren epochaler Tagesordnung ein neuer Aufbau der Gesellschaft stand. Angesichts der Ergebnisse der bisherigen Versuche, die allerdings sehr individualistisch ausgerichtet waren, ist die weitere Suche nach anderen Begründungen des Aufbaus der Gesellschaft höchst aktuell. Die Stellung der Freud’schen Psychoanalyse im Projekt der Moderne zusammenfassend, kann man sagen, dass sie aus den Errungenschaften dieses Projekts hervorgegangen ist, aber gleichzeitig auch seine misslungenen und unerkannten Aufgaben einer kritischen Analyse unterzogen hat. Auch wenn das Projekt der Moderne ursprünglich ausgesprochen anthropozentrisch ausgerichtet war, scheint es, dass im Laufe der Entwicklung das Maß des Menschen zugunsten anderer partieller Ziele verdrängt wurde. Vor den Folgen dieser Menschenvergessenheit hat die Psychoanalyse gewarnt und dadurch zu einem reflektierteren Umgang mit dem Aufbau der menschlichen Zukunft beigetragen. 32

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Internalisierung und Externalisierung in der individuellen psychischen Entwicklung Die Dynamik der Internalisierung und Externalisierung in der Entwicklung der individuellen Psyche wird sowohl von der psychoanalytischen Theorie als auch von den kognitiven Entwicklungstheorien erforscht. Die ersten Phasen der psychischen Entwicklung des Kindes zeigen noch keine Differenzierung zwischen der äußeren Welt und dem Kind, bzw. seiner senso-motorischen Aktivität. In Begriffen von Piagets Theorie ausgedrückt – das Kind assimiliert die äußere Welt in seine senso-motorischen Schemata und verkennt auf diese Weise ihre objektiven Eigenschaften. Die psychische Entwicklung vollzieht sich als eine allmähliche Überwindung des Egozentrismus, was eine Differenzierung dessen, was der äußeren Welt und was dem Subjekt gehört, voraussetzt. Das ist eine Errungenschaft der Entwicklung, die in der Interaktion zwischen dem Kind und seiner Umgebung herausgebildet wird (vgl. Piaget, 1972b [1947]). Es entwickeln sich kognitive Strukturen, in denen entsprechende Operationen durchgeführt werden können und die die Perspektivenübernahme, das heißt die Übernahme der Perspektive der Anderen in der Außenwelt in die Innenwelt des Kindes, ermöglichen (Piaget, 1972a [1923]). Die Perspektivenübernahme ist sowohl eine kognitive als auch eine kommunikative Leistung. Einerseits ist ohne Perspektivenübernahme kein realitätsgerechtes und kein logisch gültiges Denken möglich, aber auch keine verständnisvolle Kommunikation. Andererseits werden durch die Kommunikation kognitive Operationen der Perspektivenübernahme gefördert. Außer Jean Piaget hat auch Georg Herbert Mead so argumentiert, allerdings in einem evolutionstheoretischen, also weiteren Zusammenhang. Dem entsprechend kommt Mead zu allgemeineren Schlussfolgerungen bzw. zu »der gesellschaftlichen Theorie des Bewusstseins« und der Identität (Self ): »Man entwickelt insoweit eine Identität, als man die Haltung anderer einnehmen und sich selbst gegenüber so wie gegenüber anderen handeln kann« (Mead, 1978 [1934], S. 214). Ideengeschichtlich, aber auch sozialgeschichtlich ist es beachtenswert, dass gleichzeitig, aber weit entfernt von Mead und unter ganz anderen, dazu aber historisch einmaligen Umständen, Lev Vygotsky in der Sowjetunion auch eine starke sozialgenetische Auffassung der psychischen Entwicklung des Menschen formulierte. Sein Ausgangspunkt war die Marx’33

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sche Theorie, nach der der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist. Diesen Standpunkt annehmend, hat Vygotsky ihn weiter psychologisch konkretisiert und gezeigt, dass höhere psychische Funktionen, die die Menschen auszeichnen (logisches Gedächtnis, verbales Denken, willentliches Handeln), durchaus gesellschaftlicher Natur sind (vgl. Jovanović, 2015). In der Geschichte der Psychologie ist Vygotskys Theorie bis heute die einzige, die eine umfassende kultur-historische Auffassung psychischer Funktionen, von ihrer Herkunft bis hin zu ihrer Struktur und Funktionsweise, entwickelt hat. In dem Sinne ist Vygotsky radikaler als Georg Herbert Mead, der auf einer allgemeineren Bestimmung der gesellschaftlichen Natur der Psyche blieb: »All higher mental functions are the essence of internalized relations of a social order. […] the mental nature of man represents the totality of social relations internalized and made into functions of the individual and forms of his structure« (Vygotsky, 1997 [1931], S. 106). Vygotsky verweist auf die Internalisierung von äußeren sozialen Beziehungen als das Entwicklungs- und Gestaltungsprinzip von höheren, das heißt spezifisch menschlichen psychischen Funktionen. Die menschliche innere psychische Welt ist nicht gegeben, sie entsteht als ein Ergebnis von Internalisierungsprozessen. Das bedeutet, dass das Äußere dem Inneren vorausgeht, das Äußere die Bedingung der Möglichkeit des Inneren ist. Das Äußere bedeutet für Vygotsky das Soziale, das internalisiert wird und auf diese Weise das Innere, das Psychische des Subjekts, konstituiert: »Through others we become ourselves, and this rule refers not only to the individual as a whole, but also to the history of each separate function. […] Every higher mental function was external because it was social before it became internal, strictly mental function; it was formerly a social relation of two people« (ebd., S. 105).

Vygotsky bestimmt das Soziale selbst vorwiegend aus einer kulturalistischen Perspektive: Alles Kulturelle ist seinem Ursprung nach sozial, es entsteht im gesellschaftlichen Leben. Ferner: Zeichen, wie auch Werkzeuge im Allgemeinen, befinden sich außerhalb des Organismus und werden als soziale Mittel benutzt und sind ein Bestandteil des Sozialen. Obwohl kein Psychologe, hat Norbert Elias in seinem Buch Über den Prozeß der Zivilisation – dessen erste Auflage vor dem Zweiten Weltkrieg unbeachtet blieb und dessen zweite Auflage erst Ende der 1960er Jahre 34

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Aufmerksamkeit erweckte – neben soziogenetischen auch psychogenetische Verwandlungen analysiert. Im Mittelpunkt stehen »Zusammenhänge zwischen dem langfristigen Wandel der menschlichen Individualstrukturen in der Richtung auf eine Festigung und Differenzierung der Affektkontrollen und dem langfristigen Wandel der Figurationen, die Menschen miteinander bilden, in der Richtung auf einen höheren Standard der Differenzierung und Verlängerung der Interdependenzketten« (Elias, 1990 [1939], S. X). Das, was einmal historisch gebildet wurde, gilt heutzutage als das Sozialisationsziel der ontogenetischen Entwicklung. Obwohl oft biologistisch missinterpretiert, ist Freuds Psychoanalyse auch eine sozialgenetische Theorie der Psyche. Schon Freuds Auffassung des Triebes, also eines der psychoanalytischen Hauptbegriffe, zeugt davon, dass die Struktur des Triebes, im Unterschied zu den Instinkten, weder in Objekten noch in der Art und Weise der Befriedigung oder ihrer Verschiebung fixiert ist. Das macht eben die Triebschicksale aus (Freud, 1915c). Auch bei der Herausbildung von psychischen Instanzen geht es, nach Freud, um Verwandlungen des Äußeren, Sozialen in innere Strukturen – Freud spricht metaphorisch von Introjizierung, wie zum Beispiel bei der Erklärung des Untergangs des Ödipuskomplexes: »Die Objektbesetzungen werden aufgegeben und durch Identifizierung ersetzt. Die ins Ich introjizierte Vater- oder Elternautorität bildet dort den Kern des Über-Ichs, welches vom Vater die Strenge entlehnt, sein Inzestverbot perpetuiert und so das Ich gegen die Wiederkehr der libidinösen Objektbesetzungen versichert« (Freud, 1924d, S. 399). Bekanntlich sind für die Psychoanalyse Verdrängung, Introjizierung und Identifizierung wichtige Prozesse bei der Herausbildung von psychischen Strukturen. Auf ihnen beruhen aber auch die Konstitution von sozialen Gruppen wie auch der Kultur im Allgemeinen: »Von den psychologischen Charakteren der Kultur schienen zwei die wichtigsten: die Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt, und die Verinnerlichung der Aggressionsneigung« (Freud, 1933b, S. 26). Die hier angeführten psychoanalytischen Verweise auf Verdrängung, Verinnerlichung und Identifizierung, aber auch anderswo auf die Projektion als Abwehrmechanismen, können auf einen gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden: In ihrer Herkunft, Struktur und Funktionsweise sind sie Verwandlungen des Äußeren ins Innere, wobei das Innere wiederum veräußerlicht werden kann. Gerade durch diese Verwandlungsprozesse wird das 35

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Innere auch Zeuge von äußeren Prozessen und kann auch Einspruch gegen äußere Bedingungen erheben. Dieser Einspruch wird bei Freud mehrmals explizit erhoben  – von seinen frühen Schriften bis zu späteren Werken (paradigmatisch in Das Unbehagen in der Kultur, 1930a). Darin zeigt sich Freud’sche Psychoanalyse als eine mögliche kritische Subjekt- und Kulturtheorie. Helmut Dahmer hat wieder an diese Möglichkeit erinnert, und zwar in Bezug auf die psychoanalytische Therapie: »Ist die analytische Therapie ihrem Wesen nach – mit allen Ritualen des Settings – eine ›talking cure‹ (Anna O.), dann besteht stets auch die Möglichkeit, dass sie in Kulturkritik übergeht. […] Die Möglichkeit der Kulturkritik wird vom Establishment aus politischer Furcht – Freud sprach von ›loyaler Denkhemmung‹ – tabuiert« (Dahmer, 2018, S. 22).

Es scheint, dass gerade die Kultur die Möglichkeit der Kritik in eine Unmöglichkeit verwandelt. Davor hat Marcuse vor mehr als 50  Jahren gewarnt – »vor der Paralyse der Kritik und der Gesellschaft ohne Opposition«: »Hier aber konfrontiert die fortgeschrittene Industriegesellschaft die Kritik mit einer Lage, die sie ihrer ganzen Basis zu berauben scheint. Ausgeweitet zu einem ganzen System von Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest im Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwerer Arbeit und Herrschaft zu besiegen oder zu widerlegen scheinen. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden« (Marcuse, 1998 [1964], S. 14).

Diese Tendenzen haben sich inzwischen nur vielfach verstärkt. Sowohl Kritik als auch vielfache Krisen haben ihre transformativen Potenziale verloren ( Jovanović, 2021). Krisen sind ursprünglich als Wendepunkte verstanden worden, an denen auch Veränderungen zum Besseren, zur Heilung entstehen können. Kritik, die mit der Krise die gleiche griechische Wurzel teilt – κρίνειν: krinein (urteilen, entscheiden) –, ist auch auf Veränderung des Bestehenden ausgerichtet. Die gegenwärtige Situation zeugt eher von der Ohnmacht der Kritik und der Normalisierung der Krisen. 36

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

Quo vadis? Welche Einsichten aus den historischen und theoretischen Analysen sind für die Gegenwartsdiagnose relevant? Einsichten in formative Verwicklungen der äußeren sozialen Welt und der psychischen Strukturen von Individuen zeigen, dass sowohl die Entwicklung der Persönlichkeit als auch die Entwicklung einzelner psychischer Funktionen, eingeschlossen das Selbstbewusstsein, das Soziale verlangen, das nicht nur eine äußere unverbindliche Umgebung, sondern vielmehr konstitutiv und formativ für die Möglichkeit der psychischen Entwicklung ist. Deshalb kann die Frage nach der Psyche nicht ohne die Frage nach der Kultur und Gesellschaft gestellt werden. Weiter kommt es darauf an, wie Psyche, Kultur und Gesellschaft aufgefasst werden. Das Soziale selbst wirkt meistens, aber nicht ausschließlich durch Interaktionen, die für die meisten psychologischen Theorien das Soziale überhaupt repräsentieren. Auch wenn dazu noch kulturelle »Werkzeuge« hinzukommen (Sprache, materielle Kultur, Diskurse und Narrative), wird damit das Soziale nicht erschöpft. Es gibt noch tiefer liegende und länger dauernde Strukturen und Zusammenhänge, die den unmittelbaren Erfahrungen von Individuen nicht zugänglich sind, obwohl sie sehr wirksam ihre Macht über diese ausüben. In der Rückführung des Sozialen oder der Gesellschaft auf Interaktionen und eine Summe von Individuen oder in der Ausblendung des Sozialen schlechthin sind die Auswirkungen des Individualismus zu erkennen. Die Psychologie in ihren Hauptströmungen ist leider ein lehrreiches Beispiel dafür. So spricht John Greenwood sogar von »disappearance of the social« in der amerikanischen Sozialpsychologie: »[I]n contemporary American social psychology, cognition is characterized as social merely by virtue of objects to which is directed, namely other persons or social groups, not by virtue of its orientation to the represented cognition of members of social groups (i. e. the adjective ›social‹ is employed to qualify only the objects of cognition, not cognition itself )« (Greenwood, 2004, S. 5f.).

Als Gründe für das Verschwinden des Sozialen in der Sozialpsychologie nennt Greenwood herrschende kulturelle Denkmuster und Werteinstellungen: »In part it appears to have been a product of the apparent threat posed by the social dimensions of psychological states and behavior to cherished

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Gordana Jovanović

ciples of autonomy and rationality, which were integral to the special form of moral and political individualism embraced by many American social psychologists« (ebd., S. 8).

Eine der Folgen solch diskursiver Strategien ist auch eine diskursive und – damit verbunden – praktisch-politische Ausblendung der Gesellschaft und der fundamentalen Frage, in welcher Gesellschaft Menschen leben wollen. Ein Symptom eines solchen Zustands ist auch die Tatsache, dass es heutzutage keine großen Theorien (grand theories) gibt, die die Gesellschaft als Ganzheit zum Gegenstand hätten. Stattdessen bemüht man sich, sowohl praktisch-politisch als auch theoretisch, um Interaktionen, als ob Interaktionen in einem gesellschaftsfernen Raum stattfänden. Die immer schnellere und differenziertere Fragmentierung des Wissens und auch der Praxis und Institutionen trägt zu der Unübersichtlichkeit der Gesellschaft bei. Dank der technischen Entwicklung vollzieht sich noch eine andere Art der Verwandlung von Interaktionen – sie werden immer mehr aus einer realen Umgebung in eine virtuelle, dem Menschen äußere, nicht lebendige übertragen, die paradoxerweise eine Illusion der unbegrenzten Möglichkeiten fördert. Die »Umwandlung der menschlichen Erfahrung in Verhaltensdaten« (Zuboff, 2018, S. 13) zu Zwecken der Vorhersage – das war vor mehr als 100 Jahren das Programm des Behaviorismus in der Psychologie. Nachdem die kognitive Revolution in den 1960er  Jahren dieses reduktionistische Programm abgelöst hat und danach auch andere Strömungen, zum Beispiel die cultural psychology, versucht haben, den Weg zurück zur Sinnbildung und Sinnhaftigkeit der menschlichen Erfahrung und der menschlichen Welt zu finden, kommt der Behaviorismus, diesmal als ein gesamtgesellschaftliches Massenprojekt, zurück. Eine radikale und massenhafte Entäußerung des Menschen, eine Umwandlung des Menschen in Verhaltensdaten wird spiralenhaft reproduziert  – denn man weiß, dass man »die aussagekräftigsten Verhaltensdaten überhaupt durch den aktiven Eingriff in den Stand der Dinge bekommt« (ebd.). Obwohl den Verhaltensdaten menschliche Erfahrung vorangeht, wird nur mit Verhaltensdaten gearbeitet, sie werden von beiden Bedeutungsressourcen – von der inneren subjektiven Welt und der äußeren historischen Kulturwelt – getrennt, als quasi autonom existierende Daten, die maschinenhaft bearbeitet werden können. Auf diese Weise wird nicht nur das Innere, die subjektive Welt entleert, sondern nicht weniger auch die sozial-kulturelle Welt, in der eine instrumentäre Macht die höchste Entscheidungsinstanz geworden ist. Ein entleertes, 38

Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

sowohl subjektiv als auch sozio-ökonomisch verunsichertes Subjekt, das in einer von instrumentellen Interessen beherrschten Welt lebt, ist sowohl für Spektakel und fake news als auch für populistische Ideologien sehr anfällig. Auch wenn es scheinen mag, dass diese Formen so unterschiedlich sind, beruhen sie auf ähnlichen, kognitiv sehr mangelhaften Denkmustern und einem Ethos der Verfügung und Instrumentalisierung von Menschen, sowohl ihrer Schwäche als auch ihrer Bedürfnisse und Wünsche. Eine zum gleichen Ziel führende Veränderung bezieht sich auf den Status der Theorie in diesem großen Unternehmen der Beobachtung und Kontrolle. Theorie wird überflüssig – Chris Anderson hat schon 2008 »das Ende der Theorie« erklärt – »The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete«. Selbst das positivistische Einheitsmodell der Wissenschaft wird weiter reduziert – auf ein Einheitsmodell der Daten. Je größer die Daten – big data ist das Schlüsselwort –, desto kleiner die Menschen. Husserl hat schon in den 1930er Jahren von der »positivistischen Reduktion der Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft« geschrieben und daraus den warnenden Schluss gezogen: »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen« (Husserl, 1982 [1936], S. 3f.). Unter dem Stichwort »das Veralten der Psychoanalyse« hat Marcuse schon in den 1960er Jahren davor gewarnt, dass sich die Lage des Objekts der Psychoanalyse, nämlich des Individuums, in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften radikal verändert hat: »The evolution of contemporary society has replaced the Freudian model by a social atom whose mental structure no longer exhibits the qualities attributed by Freud to the psychoanalytic object« (Marcuse, 1970 [1963], S. 47). Marcuse hat darauf hingewiesen, dass Massenmedien und Jugendgruppen die Sozialisationsrolle des Vaters ersetzen und das sich noch im Entstehen befindende Ich verwalten: »The socially necessary repressions and the socially necessary behavior are no longer learned – and internalized – in the long struggle with the father – the ego ideal is rather brought to bear on the ego directly and from ›outside‹, before the ego is actually formed as the personal and (relatively) autonomous subject of mediation between him-self and others. These changes reduce the ›living space‹ and the autonomy of the ego and prepare the ground for the formation of masses. The mediation between the self and the other gives way to immediate identification« (ebd.).

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Gordana Jovanović

Marcuse hat zusätzlich einen neuen Mechanismus der Sozialisation, nämlich die repressive Entsublimierung identifiziert. »Es scheint, daß eine solche repressive Entsublimierung in der sexuellen Sphäre tatsächlich vor sich geht, und hier erscheint sie, wie bei der Entsublimierung der höheren Kultur, als das Nebenprodukt der gesellschaftlichen Kontrollen über die technologische Wirklichkeit, welche die Freiheit erweitern und dabei die Herrschaft intensivieren« (Marcuse, 1998 [1964], S. 92).

Der klassische Mechanismus der Verdrängung der Befriedigung, die repressive gesellschaftliche Strukturen und Normen auferlegen, führt zur Einschränkung der Autonomie des Denkens, Fühlens und Handelns und macht Individuen auf diese Weise anfällig für Unterwerfung und Gehorsam den Autoritäten gegenüber. Aber so registriert die Verdrängung die ausgeübte Gewalt und Unterdrückung. Der neue Mechanismus der massenhaften Entsublimierung mobilisiert Libido selbst, um befriedigte Individuen einer falschen, ungerechten Wirklichkeit anzupassen, sie auf diese Weise zu kontrollieren und letztendlich alles zu unterdrücken, was sich nicht anpassen will oder kann. Man kann noch gegen Verdrängung handeln bzw. ihre Aufhebung einfordern. Aber wie können befriedigte Individuen, mit eingeimpftem positivem Denken, glücklichem Bewusstsein und ohne strenges, strafendes Gewissen, protestieren? So beschreibt Marcuse (ebd.), wie eine Gesellschaft ohne Opposition gesichert ist – nicht durch Terror, sondern durch Befriedigung, allerdings eine manipulierte Befriedigung. In den so entäußerten Individuen wirken keine internalisierten Instanzen (etwa Gewissen). Gleichzeitig tendiert die Gesellschaft dazu, sich selbst alles einzuverleiben, in sich zu internalisieren und auf diese Weise zu kontrollieren. Sie lässt keine Äußerlichkeit, keine Transzendenz zu. So arbeiten heutzutage ein Denken, das vom Sichtbaren geleitet wird, dann eine subjektivistische und individualistische Ethik und ein Hedonismus als normierende Weltanschauung zusammen an dem Verfall des Sozialen und an der Ausschließung des möglichst Anderen, für die ein Begriff der Allgemeinheit notwendig ist: »Dem Hedonismus bleibt das Glück ein ausschließend Subjektives; das besondere Interesse des einzelnen wird so, wie es ist, als das wahre Interesse behauptet und gegen jede Allgemeinheit gerechtfertigt. Das ist die Grenze des Hedonismus, seine Gebundenheit an den Individualismus der Konkurrenz. Sein Glücksbegriff kann nur durch die Abstraktion von der Allgemeinheit

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Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen

gewonnen werden. Das abstrakte Glück entspricht der abstrakten Freiheit des monadischen Individuums« (Marcuse, 1965 [1938], S. 185).

Die damals in Gang gesetzten Tendenzen haben sich seither nur noch verschärft. Prozesse werden so weit veräußerlicht, dass keine Internalisierungen mehr stattfinden, die dem Individuum doch eine gewisse Reflexionsarbeit über Normen und eigene Handlungen erlauben würden. Ohne Gewissen kann man weder eigene noch Untaten der Gesellschaft beurteilen. Das Zeitalter der unaufhaltsamen Beschleunigung lässt auch keine Zeit für mühsame Selbstanalysen und gesellschaftliche Kritik. Wenn die frühe Moderne vor Jahrhunderten das Wesen der Sache nominalistisch in ihre Eigenschaften aufgelöst hat, hat die späte Moderne, und dann noch eifriger die Postmoderne, auch Eigenschaften, die immerhin auf eine relativ stabile Identität verwiesen, abgeschafft – zugunsten von vorläufigen, transitorischen, unverbindlichen äußeren Zeichen, die sich immer mehr als Elemente eines selbstgenügsamen Designs erweisen statt als notwendige Denkmittel, um eine eigene subjektive Welt zu äußern, um sie den anderen epistemischen Subjekten zugänglich zu machen und sich mit ihnen über die gemeinsam geteilte Welt auszutauschen. Nachdem der formative Mechanismus der Herausbildung von psychischen Strukturen in einem ständigen Austausch mit den Anderen, die sich sowohl in sozialen Beziehungen als auch als internalisierte Instanzen in einem innerlichen Dialog als unabdingbar für die Subjektwerdung und Bildung einer gemeinsamen Welt erweisen, aufgelöst wurde, gibt es keine Möglichkeit mehr weder für die Entwicklung autonom Denkender und Handelnder noch für die Gestaltung einer ihnen gerechten sozialen Welt. Marcuse hat die sozialen Folgen der Abkehr von der Innerlichkeit erkannt: »Die Abkehr von der Innerlichkeit deutet auf die Tatsache hin, daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft der Möglichkeit einer Materialisierung der Ideale gegenübersteht« (Marcuse, 1998 [1964], S. 77f.). Parallel zur Desozialisierung von Individuen, deren Folgen sich, unter anderem, auch immer öfter in unberechenbaren Ausbrüchen der Aggression zeigen – in Schulen, in Bahnhöfen, Einkaufszentren –, die eher feudalen Affektmustern entsprechen als dem modernen Gebot der Affektkontrolle, dann in psychopathischer Gleichgültigkeit gegenüber jeglichen Normen, die aber für ein gemeinsames Leben unabdingbar sind, in Willkür jeder Art, in feindlichen Einstellungen gegen Andere – vollzieht sich auch eine massenhafte Psychologisierung vom Sozialen, bzw. eine Übersetzung 41

Gordana Jovanović

der strukturellen sozialen Probleme in individuelles Versagen. Eindrucksvoll wird das von Zygmunt Bauman beschrieben: »Die gründliche, harte und kompromißlose Privatisierung aller Interessen war der Hauptfaktor, der die postmoderne Gesellschaft so spektakulär immun gegen systemische Kritik und radikalen gesellschaftlichen Dissens mit revolutionärem Potential gemacht hat.  […] Die postmoderne Gesellschaft hat sich als eine nahezu perfekte Übersetzungsmaschine erwiesen – eine, die jede bestehende und zukünftige soziale Streitfrage als private Sorge interpretiert. […] Die fruchtbarste aller Privatisierungen war die Privatisierung der menschlichen Probleme und der Verantwortung für ihre Lösung« (Bauman, 1996, S. 318).

Gleichzeitig verläuft auch eine sonderbare Tyrannei der Intimität, die sich dem Öffentlichen aufdrängt. Richard Sennett (1986 [1977]) hat das als »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens« beschrieben. Die Folgen dieser sonderbaren Übersetzungsarbeit sind verheerend – ein Perpetuum mobile der Paralyse wird erzeugt, die zu einer neuen ständigen Quelle von Traumatisierungen wird. So wie für die Herausbildung der subjektiven Welt die soziale Welt notwendig ist, was nicht so einfach einzusehen und anzuerkennen ist, so geht der Verfall der subjektiven mit dem Verfall der sozialen Welt einher. Um mit Norbert Elias zu sprechen – der Mensch kann sich nicht als Homo clausus entwickeln. Aber der Homo vacuus ist auch keine vielversprechende Alternative. Eine andere Welt muss nicht nur möglich, sondern auch nötig sein, um den Menschen aus den beiden drohenden Abgründen zu retten.

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Biografische Notiz Gordana Jovanović, Prof. Dr., ist ordentliche Professorin für Psychologie. Sie hat jahrzehntelang an der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad unterrichtet und wurde mehrmals durch die Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert, um Forschungsprojekte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, an der Freien Universität Berlin und an der Humboldt-Universität zu Berlin durchzuführen. Im Jahre 1999 war sie Stipendiatin der British Psychological Society und 2019 wurde ihr das Stipendium Thesaurus Poloniae verliehen. Im Sommersemester 2018–2019 war sie Lehrbeauftragte an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen in serbischer, englischer und deutscher Sprache zu verzeichnen. Jovanović war Gastredakteurin des

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Transformationen der Internalisierung und der Verfall des Sozialen Sonderhefts der Zeitschrift History of the Human Sciences (2015): »Vygotsky in his, our and future times«. Zuletzt erschienen: Psychoanalysis and Critical Theory. In W. Pickren (Hrsg.), Oxford Research Encyclopedia of Psychology. New York: Oxford University Press, 2020.

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Entfremdung des Dings Das Unbehagen in der Kultur und der Beitrag Lacans Jan Hahndorf

»Genießen und Begehren sind zwei Antworten, zwei Ökonomien, ich würde sogar sagen: zwei Positionen des Subjekts im Hinblick auf das Unbehagen in der Kultur.« Recalcati (2018, S. 79)

Interferenzen Aktuelle gesellschaftstheoretische Lacan-Rezeptionen scheinen im deutschsprachigen Raum mit einigen Ausnahmen eher begrenzt Widerhall zu finden und treten damit zuweilen hinter die weitaus prominentere Kritische Theorie als psychoanalytisch fundierte Gesellschaftstheorie zurück. Dieser Beitrag möchte nun aufzeigen, inwiefern diese Lacan-Rezeptionen mit den Zeitdiagnosen Freuds aus dem Unbehagen in der Kultur verwoben sind respektive inwiefern sie auf diesen basierend relevante Aktualisierungen einer Gesellschaftskritik formulieren. Indem im Kontext freudomarxistischer Ansätze die warenförmige Vermittlung sozialer Beziehungen als Hintergrund der psychischen Konstitution theoretisiert wird, ermöglichen diese gegenüber Freuds eigenen Perspektiven eine ungleich differenziertere Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge. Jacques Lacan selbst stellt bereits in seinen Arbeiten Referenzen zu marxistischer Theorie her, welche in ihrer gesamten Tragweite politisch gleichwohl nicht seinem Selbstverständnis als einem liberalen entsprochen haben mag (vgl. Tomšič, 2015, S.  1). Nichtsdestoweniger wurden Lacans Theorien von der linksintellektuellen Schule Ljubljanas stetig angereichert und als Instrument eines akademischen Antikapitalismus etabliert. Während Freuds Unbehagen in der Kultur als eines seiner umfassendsten gesellschaftsanalytischen Werke erst 1930 in seiner späteren Schaffensphase erschien, nimmt Lacan besagten Nexus von Individuum und Gesellschaft bereits zu Beginn seiner Theorien in den Fokus. Im Fortgang seiner Theoretisierung bezieht er sich dabei primär auf das Jenseits des Lustprinzips, lässt aber sowohl implizite wie zuweilen auch explizite Bezüge zum 47

Jan Hahndorf

Unbehagen in der Kultur aufscheinen. Die lacanianische Theorie und mit ihr die Schule Ljubljanas ermöglichen in ihrer Ausprägung letztlich ganz entscheidend die Analyse neoliberaler Verhältnisse, welche mit den freudschen Modellen nur unzureichend erfasst werden können. Die postödipale Gesellschaft tritt in diesem Zusammenhang als psychoanalytisch fundierter Begriff neoliberaler Vergesellschaftung an, mittels dessen der Wandel in den Herrschaftsstrukturen umfasst werden kann. Ihre Konstitution soll im weiteren Verlauf dieses Textes umrissen werden. Als Ordnungsbegriff umfasst er zunächst jene spätmodernen Gesellschaftsformationen1, die sich nicht mehr ausschließlich innerhalb patriarchaler Familien- und Gesellschaftsstrukturen und Glaubenssysteme bewegen, sondern diese zuweilen überschreiten, obgleich nicht vollständig ablösen. Die Pluralisierung von Lebensentwürfen auf phänomenologischer Ebene ist dabei nicht lediglich Befreiungsaspekt, sondern ebenso Ausdruck veränderter Herrschaftsformen. Psychoanalytisch gesprochen bezieht sich der Begriff überdies auf den Tod des symbolischen ödipalen Vaters, wie ihn Freud in Totem und Tabu herleitet. Im Folgenden soll daher skizziert werden, welche Anpassungen Jacques Lacan an den freudschen Konzeptionen vorgenommen hat und inwiefern er damit analytisch der Formierung einer neoliberalen Gesellschaft nahezu vorausgreift. Zu betonen gilt dabei, dass dieser Beitrag einen begrenzten Ausschnitt der lacanianischen Konzepte und dem damit korrespondierenden Vokabular behandelt und die Denkbewegungen Lacans damit nur fragmentarisch aufzeigt. Viele – mitunter auch wesentliche – Referenzpunkte lacanianischer Theorie bleiben im Bestreben ungenannt, einen leicht verständlichen Einstieg in eine mögliche Relektüre des Unbehagens in der Kultur mit Lacan zu liefern. »Ich möchte eintreten ganz behutsam in das, was ich Ihnen reserviert habe für heute, was, für mich, bevor angefangen wird, mir halsbrecherisch scheint« (Lacan, 1986, S. 31).

Lacans Konzepte und ihre Orientierung am Jenseits des Lustprinzips Freud beschreibt im Unbehagen in der Kultur die Differenzierung des Ich von der Außenwelt. Während das Ich ursprünglich alles – damit einher1

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Eine zusammenfassende und gleichsam differenzierte Skizze dieser Formation liefert Antje Schrupp in ihrem Artikel »Das Ende des Patriarchats« (Schrupp, 2019).

Entfremdung des Dings

gehend die Vorstellung, es allein sei die Welt – enthält, scheidet es seine Außenwelt später von sich ab, um eine Distanz zwischen sich, den unvermeidlichen Schmerz und die Unlustempfindungen zu bringen (vgl. Freud, 1930, S. 424). Weiterhin führt Freud die Erkenntnis an, dass »im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt und unter geeigneten Umständen, z. B. durch eine so weit reichende Regression, wieder zum Vorschein gebracht werden kann« (Freud, 1930, S. 426). Dies aufgreifend formuliert Lacan ein Modell, welches das unbewusste Streben der Subjekte nach einem phantasmatischen2 Urzustand uneingeschränkter Befriedigung konzeptualisiert. Wenngleich dieses unbewusste Streben nicht nur von Lust, sondern auch von Leid geprägt ist, nennt Lacan es Genießen oder jouissance. Um diese gewissermaßen antagonistische Konzeption des Genießens verstehen zu können, bedarf es zunächst eines Rekurses auf Freuds Jenseits des Lustprinzips. Dort beschreibt Freud das Lustprinzip als auf Konstanz ausgerichtet und damit der Suche nach psychischer Stabilität verbunden, die letztlich in dem Streben nach absoluter Spannungslosigkeit gipfelt (vgl. Freud, 1920, S.  5). Im lacanianischen Theoriegebäude knüpft sowohl der bereits erwähnte Begriff des Genießens, aber auch der des Begehrens an dieses Streben an. Mit dem Begriff des Begehrens bezieht sich Lacan einzig auf das »unbewusste Begehren. Dieses ist ausschließlich sexuell« (Evans, 2002, S. 53). Jenes Begehren leitet er als psychisch bleibenden Rest her, der bestehen bleibt, nachdem physische Bedürfnisse durch den Anderen3 erfüllt wurden. In diesem Zusammenhang ist der Andere »sowohl ein anderes Subjekt, in seiner radikalen Alterität und unassimilierbaren Einzigartigkeit, wie auch die symbolische Ordnung, welche die Beziehung mit dem anderen Subjekt vermittelt« (Evans, 2002, S. 39). Lacan wendet jedoch ein, dass die Bedeutung des Anderen als symbolische Ordnung Vorrang gegenüber der als einem anderen Subjekt habe, da der Andere zunächst als Ort verstanden werden müsse, an dem das sprechende Ich sich überhaupt konstituieren 2

3

Im Begriff des Phantasmas finden sich Bezüge zur freudschen Fantasie als Begriff subjektiver Imaginationen und ihrer Abwehr-Funktion gegenüber der symbolischen Ordnung. Das Phantasma bleibt dabei nie individuell, sondern ist diskursiv eingebunden. »Das Phantasma ist immer ›ein Bild, das in einer Bedeutungsstruktur zur Wirkung gebracht wird‹« (Lacan, 1958, zit. n. Evans, 2002, S. 231). Lacan unterscheidet grundsätzlich zwischen dem kleinen anderen und dem großen Anderen. In diesem Kontext sei jedoch zunächst letzterer betrachtet.

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Jan Hahndorf

kann (vgl. Lacan, 1989, zit. n. ebd.). Da das menschliche Subjekt in einem Zustand der Hilflosigkeit und Angewiesenheit geboren wird, ist es auf jenen Anderen angewiesen. Um sein Bedürfnis an ein anderes Subjekt gerichtet artikulieren zu können, ist es letztlich auf die symbolische Ordnung und die sie konstituierende Sprache in ihrer Funktion als Signifikanten angewiesen. »Doch bald gewinnt die Präsenz des Anderen eine Bedeutung an sich, die über die Bedürfnisbefriedigung hinausgeht: Die Präsenz als Symbol der Liebe des Anderen. [Dieser] kann die absolute Liebe, nach der sich das Subjekt sehnt, nicht geben« (Evans, 2002, S. 55). Der unbefriedigte Rest, den die Sehnsucht nach absoluter Liebe hinterlässt, wird von Lacan als Begehren bezeichnet. Vor diesem Hintergrund kann es daher nie eine vollständige Befriedigung erfahren und »übt einen konstanten und immerwährenden Druck aus. Die Verwirklichung des Begehrens ist nicht dessen Erfüllung, sondern das Hervorbringen von Begehren selbst« (ebd., Hervorh. im Original). Korrespondierend mit dem Begehren führt Lacan zudem den Begriff des Objekts klein a ein. Damit umreißt er ein Konzept, welches zu beschreiben sucht, was ein Subjekt im und am anderen findet, was es fasziniert und bindet und letztlich doch »überhaupt kein anderer ist, da er wesentlich mit dem Ich verbunden ist, in einer Beziehung, die immer reflexiv und austauschbar ist« (Lacan, 1964, zit.  n. Evans, 2002, S.  205). Er verweist damit auf ein Gefühl der Unvollständigkeit, einen Mangel im Subjekt, auf sein Begehren, welchen es durch den Kontakt zum anderen zu schließen sucht. Der Mangel – später auch als Riss betitelt – changiert damit zwischen den narzisstischen Strebungen der Subjekte und ihrer primordialen Sozialität. Objekt a ist letztlich etwas, das nie erreicht werden kann, jedoch stets als greifbarer Teil des Begehrens verfolgt wird. Es ist »der Grund des Begehrens […] und nicht das, worauf das Begehren hinzielt. Deshalb bezeichnet Lacan es nun als den Objekt-Grund des Begehrens« (ebd., Hervorh. im Original). Das Genießen erfährt in der lacanianischen Theorie einen bedeutenden Wandel. Abseits seiner vorigen Konzeptionen als Befriedigung physischer Bedürfnisse oder aber als Inbegriff des Orgasmus erscheint hier vornehmlich eine spätere Wendung relevant. Diese wiederum ist – wie bereits zuvor eingeführt – eng an Freuds Arbeiten zum Jenseits des Lustprinzips gekoppelt. Während das Lustprinzip auf eine andauernde Spannungslosigkeit gerichtet ist, »agiert [es] als Einschränkung des Genusses; es ist ein Gesetz, das dem Subjekt befiehlt, ›so wenig wie möglich zu genießen‹« (ebd., S. 114). Dennoch strebt das Subjekt nach diesem Genuss jenseits des Lust50

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prinzips, wenngleich es diesen nicht ausschließlich als Lust erfahren kann. Stattdessen erlebt es einen Genuss über die Schwelle der ertragbaren Lust als Schmerz. Mit dieser »schmerzhaften Lust« (ebd.) geht einher, dass sie innerhalb der symbolischen Ordnung4 – ein Begriff für die bestehende gesellschaftliche Ordnung, den Lacan semiologisch herleitet – verboten ist, ihre Erreichbarkeit jedoch stetig suggeriert wird. Ein Begriff, der in den früheren Arbeiten Lacans mit dem Genießen assoziiert ist, ist das Ding, welches sich »dem Subjekt also als das Allmächtige Gute [präsentiert]« (Evans, 2002, S. 77, Hervorh. im Original). Was in diesem Ausdruck inbegriffen ist, geht jedoch in den späteren Werken in den Begriffen des Genießens wie auch des Objekt a auf. Der nun mit dem Genießen erweckte Wunsch nach Überschreitung des Verbots findet sein terminologisches Fundament ferner im freudschen Todestrieb. Wird das Lustprinzip überschritten, folgt daraus letztlich keine Intensivierung der Lust, sondern stattdessen ihre Auflösung (vgl. Hammermeister, 2008, S. 77). »Das Genießen ist das, was die Menschenwesen gefangen nimmt und sie zu ihrer Zerstörung treibt. Einzig Lacan hatte den Mut, das Denken des [Freuds des Jenseits des Lustprinzips] aufzunehmen und aus ihm gar Zentrum seiner Rückkehr zu Freud zu machen« (Recalcati, 2018, S. 10).

Bei jener von Lacan selbst explizierten Rückkehr handelt es sich vornehmlich um eine Rückkehr zum revolutionären Moment der Psychoanalyse, bestehend in dem Potenzial, eine radikale Aufklärung über die unumgängliche Verwobenheit des Subjekts in die kapitalistische Totalität zu leisten. Lacan nimmt in seinem Rekurs eine Spaltung Freuds vor. Einerseits befasst er sich mit dem Freud »der Traumdeutung, der die Funktionslogik des Unbewussten als eine symbolische und rhetorisch-linguistische Logik bestimmt« (Recalcati, 2018, S. 32). Andererseits rezipiert er zentral den Freud des »Jenseits des Lustprinzips, der nicht etwa den unbewussten Sinnbildungen besondere Bedeutung verleiht, sondern das unheimliche Schweigen des Todestriebes und des Es und die Macht der Wiederholung 4

Die symbolische Ordnung existiert als eine von drei lacanianischen Ordnungen, die eng mit ihren Nachbarordnungen des Imaginären und des Realen verwoben ist. »Da die Grundform des Tauschs die Kommunikation ist […], und da die Begriffe von Gesetz und Struktur ohne Sprache nicht denkbar sind, ist das Symbolische im Wesentlichen eine linguistische Dimension« (Evans, 2002, S. 299).

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in den Vordergrund rückt« (ebd.). Ebenjene Konzepte stellen nicht nur einen zentralen Bezugspunkt in Freuds Argumentation im Unbehagen in der Kultur dar, sondern bilden ein ebenso bedeutsames Moment der lacanianischen Theoretisierungen. Letztere rücken »Freuds Anstößigkeit[,] […] gezeigt zu haben, dass das Subjekt den Hang besitzt, das eigene Leiden zu wollen« (ebd., S. 39), in den Mittelpunkt der Beschäftigung. Auf diesem Zusammenhang aufbauend formulierte Lacan sein Konzept von Genießen und Begehren.

Die Ideologiekritik der Schule Ljubljanas Unter der bereits erwähnten Schule von Ljubljana firmiert eine Gesellschaftstheorie, welche sich sowohl auf die Annahmen Lacans, aber auch Marx’ stützt. Mit Samo Tomšič – diese Schule vertretend – kann die Psychoanalyse als ideologiekritisches Instrument gefasst werden. Anschließend an Lacan decke sie Lücken in Welterklärungsmustern des Bestehenden initial auf, statt sich einer ideologischen Schließung dieser Lücken zu verschreiben. Sie kritisiert damit den Versuch ebenjener Erklärungsmuster, psychische Anteile und Dynamiken, die aus der symbolischen Ordnung – dem Beschreibbaren – herausfallen, unmittelbar in ihre Wissensbestände und Kategorisierungen aufzunehmen. Stattdessen halte eine materialistisch-ideologiekritische Psychoanalyse diese Lücken offen, um diese als Ausgangspunkt kritischer Analysen zu nutzen (vgl. Tomšič, 2015, S.  4). »Es ist eine Ideologiekritik, die Ideologie nicht ausgehend von einem falschen Bewusstsein versteht, sondern die Wirkungsweise von Ideologie in der Gestaltung des unbewussten Geniessens [sic!] aufsucht« (Soiland, 2013, S. 143f.). Anders also als die Konzeption von Ideologie als notwendig falschem Bewusstsein setzt der Ideologiebegriff der Schule von Ljubljana bereits bei der Konstitution des Subjekts an. Nach Lacan erfolgt die Subjektgenese eng entlang eines Seinsmangels, welcher sich durch die Aporie des vollständigen Genießens vermittelt. Insofern die Subjekte unbewusst diesen Mangel zu beseitigen, das Loch zu stopfen suchen, konstituieren sie sich und damit korrespondierend ein für sie spezifisches Objekt a. Ideologiekritik setzt demnach nicht nur an der Konstitution der Subjekte, sondern auch an den gesellschaftlichen Deutungsangeboten zur Schließung der Lücken an. Allerdings ist es ebenso das Subjekt selbst, das »nur als Riss im Diskurs« existiert (Fink, 2006, S. 66). 52

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Die Schule Ljubljanas legt damit eine Lesart von Marx nahe, die sich am Scheitelpunkt der Negativität entwickelt. Marx verortet das revolutionäre Potenzial weniger in einem bestimmten Bewusstsein, sondern vielmehr in einer strukturellen Negativität, welches sich genau an dem Ort findet, an dem die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise offenbar werden: der Arbeitskraft. Mittels der Psychoanalyse kann das Narrativ eines Subjekts ohne Negativität vor diesem Hintergrund als Fiktion entlarvt werden (vgl. Tomšič, 2015, S. 5). Allein durch die Wiedereinführung dieser Negativität und dieser Widersprüche scheint eine kritische Analyse und ein Denken sozialen Wandels – somit auch eine Konzeptualisierung eines Subjektverständnisses jenseits der Wertform – möglich. Marx’ Arbeitswerttheorie beinhalte ebenso eine Subjekttheorie, an die Lacan mit der Konzeption eines Subjekts des Unbewussten anschließe (vgl. ebd.). An Hegel und dessen Begriff der Negativität anknüpfend, entwickelt Slavoj Žižek einen Subjektivitätsbegriff, den er gewissermaßen mit einem emanzipatorischen Ideal verknüpft. »Damit etwas wirklich Neues entstehen kann, muss das Alte erst beseitigt werden. Eine einfache Verneinung (Negation) reicht dazu nicht aus, da sie innerhalb des Bestehenden bleibt, da sie nicht das Ganze, sondern nur Teile des Ganzen verneint. […] Eine einfache Verneinung bleibt immer abhängig von dem, was sie verneint« (Heil, 2010, S. 9).

Stattdessen bedürfe es der hegelschen bestimmten Negation, um eine handfeste Kritik zu formulieren. Mit dem Begriff der bestimmten Negation grenzt sich Hegel von einer abstrakten Negation von beispielsweise Sein oder Moral ab und stellt ihr eine Wendung gegenüber, in der stets auch ein konkreter Gegensatz zum Negierten enthalten ist. Die bestimmte Negation stellt sich demnach nicht als eine Leere dar, sondern als substanzielle Negation. In Form dieser bestimmten Negation reflektiert Hegel die Bindung der Gedanken sowie auch Triebe an die gesellschaftliche Totalität. »Sie nimmt die unvermittelte Unmittelbarkeit, die Formationen, welche die Gesellschaft und ihre Entwicklung dem Gedanken präsentiert, tel quel an, um durch Analysis ihre Vermittlung freizulegen, nach dem Maß der immanenten Differenz der Phänomene von dem, was sie von sich aus zu sein beanspruchen« (Adorno, 2003, S. 48).

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Žižek schreibt vor diesem Hintergrund gegen die »selbstgewählte Unmündigkeit« an, deren Ausdruck er in dem Umstand sieht, dass die Menschen begonnen haben, den Kapitalismus als einen Herren, »dessen Herrschaft so total ist […], zu lieben oder zumindest seine Herrschaft als alternativlos zu akzeptieren« (ebd.). Die Negativität beschreibt ferner die Unvereinbarkeit zwischen dem Individuum und einem gesellschaftlichen An-sich-Sein als Erkenntnisgegenstand. Sie bezeichnet damit beiderseits einen Mangel – einen Mangel an Erkenntnismöglichkeiten, aber auch einen Mangel im Erkanntwerden. Dieser Mangel als solcher stelle den Anknüpfungspunkt der Psychoanalyse Lacans dar (vgl. Heil, 2010, S. 29f.). Dies entspricht folglich dem, was Theodor W. Adorno mit dem Begriff der Nichtidentität zu fassen sucht. In Abgrenzung zum traditionellen Denken, welches die »begriffliche Ordnung [befriedigt] vor das [schiebt], was Denken begreifen will« (Adorno, 2003, S. 17), formuliert er seine negative Dialektik, welche darauf zielt, »das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen« (ebd., S. 21). Indem das traditionelle Denken also absolute Kategorien auf die betrachteten Gegenstände stülpt, nimmt sie nicht nur Normierungen vor, sondern sichert gesellschaftliche Zwangsmomente epistemologisch ab. Stattdessen gelte es, »den Begriff mit dem von ihm Gemeinten so lange zu konfrontieren, bis sich zeigt, dass sich zwischen einem solchen Begriff und der von ihm gemeinten Sache gewisse Schwierigkeiten herstellen« (Adorno, 2015, S. 18). Eine psychoanalytisch fundierte materialistische Analyse, die sich dieser subjektkonstituierenden Lücken sowie auch der Negativität bewusst ist, kann nun die logischen Zusammenhänge, die dem kapitalistischen lien social5 zugrunde liegen, aufdecken und das freudsche Unbehagen in der Kultur um die zentrale Dimension der Ideologiekritik neoliberaler Gesellschaftsformationen ergänzen. Einen weiterer Referenzpunkt des Lacan-Marxismus der Schule Ljubljanas stellt Lacans Seminar D’un Autre à l’autre dar. Jenes Seminar folgte den Ereignissen des Mais 1968, welche für Lacan einen wichtigen Wendepunkt seiner Analyse markieren. Ein elementarer Bestandteil dessen ist die 5

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»Was den einen als gemeinschaftlicher Halt erscheint, ist den anderen schon Fessel. Deutlich wird damit, dass Bindung kein Wert an sich ist und ihre Bewertung vom Kontext und der jeweiligen Qualität der Beziehung abhängt« (Bedorf & Herrmann, 2016, S. 11). Der kapitalistische »social link« sei gerade keine Beziehung von Subjekten, sondern eine Nicht-Beziehung von Subjekten vor dem Hintergrund einer Beziehung von Objekten, von Waren (vgl. Tomšič, 2015, S. 168f.).

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tiefgehende theoretische Hinwendung zu Marx, welche Lacan erst durch die Einführung des Objekt a möglich war. Im Zuge dieser theoretischen Schwerpunktlegung formuliert er für dieses Objekt  a korrespondierend zum marxschen Mehrwert den Begriff des Mehr-Genießens, da beide Konzepte – Mehrwert und Genießen – sowohl der gleichen Logik folgen wie auch ähnliche strukturelle Widersprüche, Spannungen und Sackgassen aufweisen. Damit verortet er die gesellschaftsspezifische Existenzform des Unbewussten zunächst im kapitalistischen lien social, während sie gleichsam als dessen Effekt verstanden werden kann (vgl. Tomšič, 2015, S. 49). Die »capitalist colonisation of the mental apparatus« (ebd., S. 59) stellt dabei eine besonders drastische Formulierung der Sozialisation der Subjekte innerhalb der kapitalistischen Totalität dar. Lacans Referenzen auf den vornehmlich in der biologischen Systematik gebräuchlichen Begriff der Homologie drückt gewissermaßen aus, dass Organismen – in diesem Fall die kapitalistisch vergesellschafteten Subjekte – auf einen gemeinsamen Ursprung oder Bauplan zurückzuführen sind, während sie in Funktion und Aussehen gänzlich unterschiedlich sein können. Weisen also etwa die Gliedmaßen verschiedener Säugetiere eine ähnliche Knochenanordnung auf, stellen sie sich sowohl phänotypisch sowie auch funktional völlig anders dar. Gleichsam sollte gesellschaftliche Pluralität nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Subjekte einige psychologische Grundstrukturen gemein haben respektive einer allgegenwärtigen Sozialstruktur entstammen und demnach mindestens stellenweise der Logik dieser Struktur unterworfen sind. Demnach gebe es auch keinen einfachen Ausweg aus diesen Strukturen. »In homology there is no place for the opposition of the subjective and the social« (ebd.). Der Widerspruch zwischen fundierter Analyse und konkretem Gesellschaftsleben drückt sich schon in der marxschen Formel »Sie wissen das nicht, aber sie tun es« (Marx & Engels, 2013, S. 88) aus. Lacan weist in Referenz auf Marx auf die Spaltung von reflektiertem, bewusstem Wissen und unbewusstem Wissen, ausgedrückt in sowohl dem Denken als auch dem Handeln der Menschen (vgl. Tomšič, 2015, S. 58). Laut Slavoj Žižek erweitert Lacan die Formel Marx’ folgendermaßen: »Sie wissen sehr wohl, wie die Dinge sind, aber gleichwohl handeln sie, wie wenn sie es nicht wüssten. […] Auch wenn wir die Dinge nicht ernst nehmen oder sogar eine ironische Distanz zu ihnen haben, wir fahren fort, sie zu tun« (Žižek, 1989, zit. n. Soiland, 2013, S. 148).

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Vor diesem Hintergrund lässt sich das Ziel der lacanianischen Psychoanalyse einerseits präzise als Aufklärung beschreiben. Andererseits lässt es sich erweitern, indem es nicht nur Aufklärung bieten will, sondern auch einen »exit from the capitalist discourse […] for everyone« (Tomšič, 2015, S. 233). Dabei sei die Wissenschaft eines der zentralen Terrains eines politisch-emanzipatorischen Kampfes (vgl. ebd., S. 238). Ebenjener Ausstieg aus dem kapitalistischen Diskurs zeitigt sich im Festhalten an der Negativität als emanzipatorischem Moment der Kritik. Die Aufklärung wäre also an dem Punkt zu leisten, an dem der Kapitalismus vorgibt, die Negativität aufheben zu können.

Der Diskurs der Universität Diese nun bereits fragmentarisch umrissene Negativität als Ausgangspunkt einer psychoanalytisch fundierten Gesellschaftstheorie unter Bezugnahme auf sowohl Freud wie auch Lacan konkretisiert nun das von Freud aufgerufene Realitätsprinzip, welches der Triebbefriedigung zunächst entgegenzustehen scheint, als die kapitalistische Totalität. Diese versagt den Subjekten zwar weitgehend ihre Triebbefriedigung, stabilisiert sich selbst jedoch durch die phantasmatische Setzung eines erreichbaren Befriedigungszustandes, der alle Entbehrungen überwiegt. Die Mehrdeutigkeit des von Lacan aufgerufenen Begriffs des Mehr-Genießens wird erst in seiner französischen Originalfassung deutlich. Plus-de-jouir kann im Französischen sowohl als ein Mehr-Genießen als auch ein Nicht-mehr-Genießen gelesen werden. Damit bezieht er sich auf eine zentrale freudsche These, die – im übertragenen Sinne – besagt, dass das Genießen kein rechtes Maß kenne und beispielsweise im »pursuit of egoistic private interests« einhergehe mit einem »structural loss« (ebd., S. 64). In der Unterwerfung unter die kapitalistischen Imperative und daran anschließend dem Streben nach egoistischer Selbstaufwertung gehen also unwiederbringlich und notwendigerweise individuelle Entfaltungs- und Befriedigungsmöglichkeiten verloren. Gegenüber früheren Gesellschaftsformationen tritt gegenwärtig keine äußere Autorität als Instanz des Verbots der Befriedigung respektive der Einschränkung der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten auf. Die Unterwerfung vollzieht sich stattdessen in einem zutiefst konflikthaften Vorgang der unbewussten Internalisierung dieser einst äußeren Autorität. 56

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Neben der Produktion unerreichbarer gesellschaftlicher Idealbilder des modernen bürgerlichen Subjekts findet somit zudem eine Umstrukturierung des Über-Ichs statt, die sich vornehmlich in der steten Aufforderung zum uneingeschränkten Genießen ausdrückt. In der lacanianischen Terminologie entspricht dies dem Übergang vom Diskurs des Herren zum Diskurs der Universität6. Diesen Übergang formuliert er in seiner Betrachtung der universitär angebundenen 68er-Bewegung und ihrer Wendung gegen sowohl ihre Elterngeneration, aber auch gegen eine Gesellschaft, die einerseits als eine postnazistische und andererseits als in einer neoliberalen Transformation befindliche auftritt. In der Abkehr von den alten Werten steckt zudem auch die Abkehr von den alten Herren, welche sowohl personell wie auch in Form strikter gesellschaftlicher Konventionen und Gesetze verstanden werden können. Dieses Gesetz und diese Herren negierend, legten die 68er jedoch den Grundstein zu einer neuen Herrschaftskonstellation. Unter Rückgriff auf jenes in diesem Kontext oft zitierte Graffito »Structures do not march on the streets« (ebd., S. 19) führt Tomšič Lacans – dennoch wohlwollende – Kritik der 68er ein. Diese sahen ihr Handeln den Strukturen, der symbolischen Ordnung, als diametral entgegengesetzt und genau darin läge ein kapitaler Fehler. »Instead of thinking the events as an outburst of the structural real, they were guided by the fantasy of a pure real outside structure« (ebd., S. 21). Stattdessen sei auch die Bewegung um ‘68 innerhalb der Strukturen situiert, indem sie den Übergang vom Diskurs des Herren zum Diskurs der Universität einläute. Sie hoben die Herrschaft nicht einfach auf, sondern verlagerten sie ins Innere der Subjekte. Der Diskurs der Universität beschreibt damit die Transformation einer externen Macht, die das Subjekt am Genießen hindert, zu einem internalisierten Gewissen – zu einem Schuldgefühl, wie sich mit Freud formulieren lässt –, das zum unbeschränkten Genießen ausruft. An die Stelle einer externen Macht, die ge- und verbietet, tritt ein kulturelles Ideal, das die Subjekte anruft, ihm zu folgen. Die Mittel zur Erreichung dieses Genießens werden überdies vollständig in das Subjekt 6

Lacans Diskursbegriff zielt auf die Intersubjektivität der Sprache und ihre stete Bezogenheit auf sowie ihre Gerichtetheit an ein anderes Subjekt. »Diskurs bezeichnet nun ein ›in der Sprache gründendes soziales Band‹. Lacan unterscheidet vier mögliche Typen sozialer Bindungen […]. Diese sind: der Diskurs des Herrn, der Diskurs der Universität, der Diskurs des Hysterikers und der Diskurs des Analytikers« (Evans, 2002, S. 78, Hervorh. im Original).

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verlegt. Es erfolgt eine Anrufung zur Selbstoptimierung qua Wissensvermehrung und Leistungssteigerung. Vor diesem Hintergrund gilt die Prämisse, das eigene Handeln so einzurichten, nicht einem versäumten Genießen schuldig zu sein.

Leidensquellen und Linderungsmittel Freud wirft im Unbehagen in der Kultur drei Leidensquellen auf, welchen neoliberale Ideologie auf verschiedene Art und Weise begegnet. »Von drei Seiten droht das Leiden, vom eigenen Körper her, der, zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit übermächtigen unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen« (Freud, 1930, S. 434).

Die Unzulänglichkeiten des eigenen Körpers werden ideologisch überschattet vom Dogma der Selbstoptimierung. Die Unterlegenheit gegenüber der Natur wird verschleiert von Vorstellungen ihrer Beherrschbarkeit und Kontrolle ohne die Berücksichtigung ihrer Folgen. Das soziale Leiden hingegen, welches Freud als stärkste Quelle des Unbehagens ausmacht, wird schlichtweg verdrängt, indem die Vereinzelung und Entfremdung der Menschen fortschreitet. Das neoliberale Credo der unbegrenzten Möglichkeiten stellt in diesem Zusammenhang die gesellschaftlich manifeste Ausprägung des phantasmatischen Genießens dar. Die strukturelle gesellschaftliche Realität des Neoliberalismus spitzt die soziale Quelle des Leidens weiter zu. Einem »Verein freier Menschen« (Marx & Engels, 2013, S. 92) als potenzielle Möglichkeit zur Leidensreduzierung wird eine fortschreitende Vereinzelung der Subjekte unter Ökonomisierung weiter Lebensbereiche entgegengestellt. Die Erlösung vom Leid erfolgt so nicht etwa durch eine Umgestaltung menschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Zusammenhänge, sondern durch eine Verdrängung des Leids und eine Projektion feindseliger, gesellschaftlich negativ konnotierter Regungen auf die anderen als Kontrahent*innen. »Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe zueinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben« (Freud, 1930, S.  473). Überdies geschieht damit 58

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auch eine strukturell geforderte und geförderte Sublimierung der individuellen Triebregungen, insofern, dass die »Triebziele solcherart [verlegt werden], daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können« (ebd., S. 437f.). An die Stelle des ursprünglichen Triebziels tritt in der neoliberalen Ideologie die Lohnarbeit und die eigene Verdinglichung, welche eine immense libidinöse Besetzung erfahren und damit Bindungspunkt für »narzisstische, aggressive und selbst erotische« (ebd., S. 438) Anteile werden. Im Fortgang der Zivilisation haben die Menschen die Leidensquellen des eigenen Körpers und der Übermacht der Natur so weit verdrängt, dass ihnen ihre Abhängigkeit von ebenjenen nicht mehr unmittelbar zugänglich ist. Die Abwehr, wie sie im Verhältnis bürgerlicher Subjektivierung zur Natur konstituiert ist, präsentiert sich daher als äußerst funktional zur Minderung einiger Leidensmomente. Die soziale Quelle des Leidens wird hingegen nicht vollständig verdrängt und ist daher mit einem gewissen – zuweilen auch bewussten – Hadern verknüpft (vgl. ebd., S. 444f.). Doch auch jenes Hadern tritt nur sehr zögerlich an wenigen Stellen ins Bewusstsein, da das bestehende soziale Gefüge ideologisch als naturgegeben legitimiert und abgesichert wird. Die Anpassung der Subjekte an das Realitätsprinzip in Form der bestehenden Gesellschaftsformation bleibt daher stets ambivalent. Im Unbehagen in der Kultur führt Freud ebenso auch einige »Linderungsmittel« an, die »das Leben, wie es uns auferlegt ist« (ebd., S. 432), erträglich machen. »Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen, Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen« (ebd.). Wenngleich diese nicht völlig in dieser Dreigliederung aufgeht, führt Freud dabei auch die Religion an. Diese sei ein »System von Lehren und Verheißungen, das [dem Subjekt] einerseits die Rätsel dieser Welt mit beneidenswerter Vollständigkeit aufklärt, andererseits ihm zusichert, daß eine sorgsame Vorsehung über sein Leben wachen und etwaige Versagungen in einer jenseitigen Existenz gutgemacht wird« (ebd., S. 431). Übt die Religion gegenwärtig diese Funktion zwar nach wie vor aus, so lässt sich die neoliberale Ideologie im Diskurs der Universität mit ähnlichen Attributen versehen. Die gesamtgesellschaftliche Partizipation an der kapitalistischen Totalität mit all ihren Entbehrungen legitimiert sich einerseits über die Heilsversprechen bürgerlichen Glücks und bietet andererseits Entlastungsoptionen des eigenen Schuldgefühls durch externalisierende Projektion der Schuld auf andere. Die Manifestation dieser 59

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chen stellen wiederum die gesellschaftlichen Idealbilder dar. Einerseits finden diese nach wie vor ihre Verkörperung in Göttern, in den neoliberalen, weltlichen Gesellschaften jedoch viel eher im Bild der selbstoptimierten Warenmonade7. Können sich die Menschen noch so sehr diesem Kulturideal annähern, so können sie es dennoch nie vollständig erreichen. Hier setzt die Internalisierung des Schuldgefühls im Diskurs der Universität an. »Das Über-Ich, das ist der Imperativ des Genießens – Genieße!« (Lacan, 1986, S. 9). Während die ödipalen Subjekte sich ehemals im Verborgenen gegenüber einer als äußerlich imaginierten Autorität stets unterschiedliche primäre Triebbefriedigungen zugestanden haben, wenngleich diese sozial sanktioniert waren, entbehren die postödipalen Subjekte dieser Option. Vor dem internalisierten Gesetz der Kultur in Form des Über-Ichs lassen sich diese verbotenen Triebregungen in Gedanken und in der Tat nicht verbergen. Das lacanianische Genießen beschreibt vor diesem Hintergrund die nahezu vollständige Unterwerfung unter das Gesetz der Kultur. Im Versuch, den Kulturidealen zu genügen, suchen die Subjekte eine Position zu erlangen, die ihnen das Genießen zugesteht, und können und  – noch viel mehr  – wollen dabei nicht wahrhaben, dass dieses Ziel nie erreichbar war und ist. Die Unmöglichkeit dieser Erkenntnis liegt begründet im ideologisch vermittelten unbewussten Charakter des Schuldgefühls eines verpassten Genießens. Das wichtigste Legitimationsmittel neoliberaler Herrschaft ist damit die Introjektion: »Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren […] überwachen läßt« (Freud, 1930, S. 483).

Die gesellschaftliche Ordnung wird ferner selbst libidinös besetzt. Sie kommt einer Art »Wiederholungszwang [gleich], [der] durch einmalige Einrichtung entscheidet, wann, wo und wie etwas getan werden soll, sodaß man in jedem gleichen Falle Zögern und Schwanken erspart« (ebd., S. 452). 7

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Dieser Begriff ist unter anderem Stephan Grigat entlehnt und beschreibt die unumgängliche Einbindung vereinzelter Subjekte in die bürgerliche Ökonomie (vgl. Grigat, 1999).

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Die Zähmung des Triebs Neben der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die das Individuum als soziales Wesen anstrebt, bietet die gesellschaftliche Ordnung zudem Halt und Orientierung, gewissermaßen eine Gewissheit im Ungewissen (vgl. Benjamin, 1993, S. 22f.). Die Individuen gehen also dazu über, diese Gemeinschaft zu stärken, zu verteidigen und zu lieben, obgleich dies einige individuelle Triebentbehrungen für sie bedeutet. Die Unterordnung unter die Wertemaßstäbe der Kultur, die Annahme des Guten wie des Bösen, »kann am besten als Angst vor dem Liebesverlust bezeichnet werden« (Freud, 1930, S.  483). Da die Individuen jedoch nur bedingt Halt in diesem Verhältnis finden und sich der stete Triebverzicht dennoch niederschlägt, bricht die Ambivalenz unweigerlich aus ihnen heraus: »Ein gut Teil des Ringens der Menschheit staut sich um die Aufgabe, einen zweckmäßigen, d. h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist« (ebd., S. 456).

Insbesondere zur Eindämmung der Aggressionstriebe bietet die  – und damit gewissermaßen auch die Subjekte selbst – einige Energie auf und knüpft dabei an die narzisstischen Strebungen der Subjekte an, indem sie ihnen eine Aufwertung ihres Selbst in der Gemeinschaft verspricht. In der Lesart der Schule von Ljubljana ist die Antwort auf jenes Schicksalsproblem eindeutig. Weder ein Ausgleich zwischen individuellen und kulturellen Ansprüchen noch eine Befreiung der Triebe scheint ihr möglich. »Es gibt für Lacan keinen nicht-gesellschaftlich vermittelten Trieb, weshalb ein Trieb auch nicht einfach befreit werden kann« (Soiland, 2018, S.  100). Diesen Konnex von Trieb und Gesellschaft leitet Lacan daraus ab, dass das durch die symbolische Ordnung generierte Verbot des Genießens konstitutiv für ebendieses auftritt. Würde das ursprüngliche Verbot nicht existieren, würde das Phantasma eines allumfassenden Genießens als Fiktion, als Unmöglichkeit offenbar. »Verboten kann nur werden, was existiert« (ebd., S. 103). Der Übergang zum Diskurs der Universität und damit einhergehend die Liberalisierungen der Sozialstruktur können nun präziser umfasst werden. Die Auflösung der 61

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ödipalen Gesellschafts- und Familienstrukturen mitsamt ihren Verboten bringt nun nicht etwa eine befreite Subjektivität hervor, sondern erzeugt zunächst ein Vakuum. Dieses besteht seinerseits darin, dass das aufgelöste Verbot nun die Erreichbarkeit des Genießens suggeriert, welches sich sogleich als unmöglich zeigen muss. Als Reaktion auf dieses sich in drohender Auflösung befindliche Genießen – und somit die drängende Erkenntnis des vermeintlichen Mangels des Subjekts – findet eine Transformation der Über-Ich-Strukturen statt. »Man könnte auch sagen, dass das Ich-Ideal, das unser Über-Ich maßgeblich prägt, sich nicht länger entlang von Verboten herausbildet, sondern sich nun paradoxerweise unmittelbar mit dem Genießen selbst verbindet« (ebd., S. 105). Die spezifische Gerichtetheit der Transformation zeigt sich beeinflusst durch die ideologischen Setzungen kapitalistischer Vergesellschaftung. Es ist daher nicht allein der vermeintliche Mangel in den Subjekten, der abgewehrt wird. Darüber hinaus erfolgt eine Abwehr des Umstands, dass die Negativität der Subjekte, ihre Nichtidentität, eine gesellschaftliche Unmöglichkeit darstellt; eine Unmöglichkeit, die auf einer sowohl begrifflichen wie auch im Denken wirksamen Verdrängung und Verdinglichung fußt. Die ideologische Aufrechterhaltung des Genießens sichert die Funktion des Kapitalismus insofern ab, dass sie den Subjekten ein kulturelles Ich-Ideal aufprägt, verabsolutiert und dieses derart überhöht, dass ein Heraustreten aus dem Streben nach diesem Ideal, ein Nicht-Mitmachen, einer Aufgabe menschlicher Bindung gleichzukommen scheint (vgl. Soiland, 2013, S. 143).

There is no sexual relation Auf das Kulturelle entfällt somit ein Gutteil der psychischen Energien, aggressiver wie auch libidinöser Anteile, welche damit dem Sexuellen unverfügbar sind. Diese Verteilung ist von substanzieller Bedeutung für das Fortleben der symbolischen Ordnung, sodass jene zuvor geschilderte Unterwerfung der menschlichen Triebregungen unter das Kulturelle vom Beginn der Enkulturation an eingeübt wird. Einen zentralen Aspekt dieser Unterwerfung stellt die Essenzialisierung der Heteronormativität sowie die kulturelle Höherbewertung sich fortpflanzender Sexualität gegenüber reinen Lustakten dar. Damit einher geht auch  – übersetzt man Freuds Formulierungen in die Gegenwart – eine Abwehr und zuweilen ein Ausschluss 62

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jeglicher Formen weiblicher, aber auch queerer8 Sexualität (vgl. Freud, 1930, S.  464). Trotz der Liberalisierungen der Sexualnormen setzt sich »die in [der Heteronormativität] kundgegebene Forderung eines für alle gleichartigen Sexuallebens […] über die Ungleichheiten in der angeborenen und erworbenen Sexualkonstitution der Menschen hinaus, schneidet eine ziemliche Anzahl von ihnen vom Sexualgenuß ab und wird so eine Quelle schwerer Ungerechtigkeit« (ebd.). Die Beständigkeit dieser Ungerechtigkeit soll im Folgenden fragmentarisch umrissen werden. Zunächst unterliegt sie nicht etwa einem Relativismus, sondern zeigt sich als universelles Charakteristikum bürgerlich-moderner Subjektivität sowie auch der Mehrwertorientierung des Kapitals.9 So sei hier erneut auf die Abkehr und Abwehr der Natur als konstitutives Moment bürgerlicher Subjektivität verwiesen. Historisch wurden Frauen aus diesem Subjektbegriff ausgeschlossen und blieben so dem Bereich des Natürlichen verhaftet. Darauf rekurrierend bleibt die Frau als Mutter im Prozess der kindlichen Individuation stets ein Objekt, welches mit den Attributen der Internalität sowie der bedingungslosen Sorge assoziiert bleibt. »So wie die Macht der Mutter nicht ihr selbst, sondern dem Kind gehören soll, so soll entsprechend auch die Frau nicht die Freiheit haben, zu tun, was sie will; sie ist nicht Subjekt ihres Begehrens« (Benjamin, 1993, S. 88). Die Subjektkonstitution des Kindes erfolgt vor diesem Hintergrund trotz aller Liberalisierungen ungebrochen unter patriarchalen Vorzeichen. Lacan seinerseits verbindet nun das Phantasma einer ursprünglichen Ganzheit mit der Zugriffsmöglichkeit auf den Körper der Mutter und setzt dabei an eben jenem auch von Benjamin bestimmten Objektstatus der Frau an. Die unbewusste Idee eines Genießens durch einen Zugang, eine Rückkehr zum Körper der Mutter, gilt mit der Abkehr vom Diskurs des Herren nicht mehr als verboten, sondern als grundsätzlich erreichbar. Inwiefern sie dabei dennoch nicht einlösbar bleibt, wurde bereits im vorigen Kapitel allgemeiner skizziert. »Fassen wir Lacans Spätwerk auch als Frage danach, wie eine Schranke [zum Körper der Mutter] jenseits eines Verbotes denkbar wäre, […] so kreist auch 8 9

Mit queer sei an dieser Stelle nicht unmittelbar auf die Queer Theory verwiesen, sondern lediglich auf die Funktion eines Sammelbegriffs nicht heteronormativer Sexualität. An dieser Stelle sei auf Silvia Federicis historische Herleitung des Verhältnisses von Frauen(-körpern) und der ursprünglichen Akkumulation (Federici, 2017) sowie auch auf Roswitha Scholz’ Wertabspaltungstheorem (Scholz, 2011) verwiesen.

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sein eigenes Denken um  […] die Aporie nämlich, dass sie frühkindliche Dyade als ein Phantasma ex post gerade Effekt der sie angeblich unterbindenden Schranke ist, und die sich daran anschließende Frage, wie sonst sich eine kulturnotwendige Schranke denken ließe, die nicht zum Vornherein die Subjektlosigkeit und damit die Bedrohlichkeit der Mutter setzt, wogegen sie dann einen Schutz errichten soll« (Soiland, 2018, 111f.).

Das lacanianische Axiom »There is no sexual relation« (Tomšič, 2015, S. 129) drückt nun einerseits aus, dass es keine direkte Beziehung der unterschiedlichen Geschlechtspositionen geben kann, die ohne eine Vermittlung der symbolischen Ordnung auskommt. Gleichsam tritt im ursprünglichen Verlust, der sich als Rest im Subjekt niederschlägt, eine phallische Prägung hervor, die eine asymmetrische Anordnung der Geschlechterpositionen in der symbolischen Ordnung nach sich zieht. Überdies stehe dieser symbolischen wie auch materiellen Asymmetrie unbewusst keine direkte Geschlechtsbeziehung zwischen zwei Subjekten gegenüber, sondern lediglich »zwischen einem Subjekt und einem (Partial-)Objekt« (Evans, 2002, S. 123). Die Genitaltriebe und mit ihnen korrespondierend das unbewusste Begehren richten sich demnach nicht auf ein reales Subjekt, sondern nehmen spezifische Objektbesetzungen vor, indem sie beispielsweise (primäre) Geschlechtsorgane fokussieren. Die in der symbolischen Ordnung vorgenommene heteronormative Zurichtung stellt sich daher vornehmlich als Phantasma dar, welches eine für die kapitalistische Vergesellschaftung spezifische Ausprägung des Objekt a in Form jeweils kontingenter dichotomer Geschlechterpositionen mitsamt heterosexuellem Begehren formt. Die weibliche Geschlechtsposition bleibt dabei stets mit dem Bild »einer allgewährenden Mutter« (Soiland, 2018, S. 110) und dem Körper dieser Mutter als Ort des Genießens verbunden.

Resümee Die Leistungen Lacans und darauf aufbauend die Synthesen der Schule von Ljubljana resümierend, hat dieser Beitrag dargelegt, inwiefern sie geeignet sind, die ideologischen Strukturen neoliberaler Vergesellschaftung präziser zu fassen, als dies allein mit Freud möglich ist. In den politischen Analysen der Gegenwart fällt zuweilen ein Fokus auf individuelle Agency und die Handlungsoptionen gegenüber und innerhalb der symbolischen Ordnung 64

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auf. Ein Lacan-Marxismus hingegen würde die dahinterliegenden Strukturen in den Fokus rücken. Die Analyse dieser Strukturen bewegt sich wiederum um die Unmöglichkeit der Befreiung innerhalb des Bestehenden, wie sie etwa auch von der Kritischen Theorie theoretisiert wurde. So versucht sie begreiflich zu machen, wie durch die Abschaffung der Negativität den Subjekten die Verständnismöglichkeiten ihrer Unterdrückung genommen werden. Es existiert nunmehr kein reiner Kampf gegen verbietende Institutionen, welche die Subjekte am Genießen hindern, sondern eine Verlagerung der Hindernisse in die Subjekte selbst. Das Narrativ davon, dass nur entsprechende Fähigkeiten oder entsprechendes Wissen notwendig wären, um zu einem doch unerreichbaren Genießen zu gelangen, kann nur schwer als ideologische Fiktion dechiffriert werden. Die Schuld an etwa einem verpassten Genießen wird also notwendigerweise im Subjekt platziert. Exakt an diesem Angelpunkt setzt die lacanianische Marx-Interpretation an, um ihr Ziel der Aufklärung einerseits und der Schaffung eines Auswegs aus dem kapitalistischen Diskurs für alle zu schaffen. Dieser Ausweg käme somit einer Auflösung der Entfremdung sozialer Beziehungen sowie auch der Transformation des Dinges, dem Genießen der Subjekte sowie der Annahme ihrer Negativität gleich, um letztlich die Entfremdung des Dinges hinter sich zu lassen. Maßgebliche Voraussetzung eines solchen Ausbruchsversuchs aus der kapitalistischen Totalität stellt daher die Genese eines neuen Subjektbegriffs dar, welcher sich gegen die kapitalistische Aneignung des Subjekts stelle (vgl. Tomšič, 2015, S. 235). Literatur Adorno, T. W. (2003). Negative Dialektik, Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2015). Einführung in die Dialektik. Berlin: Suhrkamp. Bedorf, T. & Herrmann, S. (2016). Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Begriffs. Frankfurt a. M.: Campus. Benjamin, J. (1993). Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt a. M.: Fischer. Evans, D. (2002). Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien: Turia & Kant. Federici, S. (2017). Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Berlin: Mandelbaum. Fink, B. (2006). Das Lacansche Subjekt: Zwischen Sprache und jouissance. Wien: Turia & Kant. Freud, S. (1920g). Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, 3–69. Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 421–506.

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Jan Hahndorf Grigat, S. (1999). Nationalismus, Emanzipation und Öcalan. trend. http://www.trend. infopartisan.net/trd0999/t140999.html (27.10.2020). Hammermeister, K. (2008). Jacques Lacan. München: Beck. Heil, R. (2010). Zur Aktualität von Slavoj Žižek. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lacan, J. (1986). Das Seminar, Buch 10: Encore. Weinheim: Quadriga. Marx, K. & Engels, F. (2013). Das Kapital. Bd. 1. Berlin: Dietz. Recalcati, M. (2018). Der Stein des Anstoßes. Lacan und das Jenseits des Lustprinzips. Wien, Berlin: Turia & Kant. Scholz, R. (2011). Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Kapitals. Bad Honnef: Horlemann. Schrupp, A. (2019). Das Ende des Patriarchats. Jungle World. https://jungle.world/artikel /2019/32/das-ende-des-patriarchats (27.10.2020). Soiland, T. (2013). Lacan und Marx. Das Subjekt und die Ideologie. Widerspruch: Beiträge zu sozialistischer Politik, 32(62), 140–154. Soiland, T. (2018). Der Umsturz des Ödipalen. Ein feministisches Dilemma. In C. Busch, B. Dobben, M. Rudel & T. D. Uhlig (Hrsg.), Der Riss durchs Geschlecht. Feministische Beiträge zur Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag. Tomšič, S. (2015). The Capitalist Unconscious. Marx and Lacan. London: Verso.

Biografische Notiz Jan Hahndorf, B. A., lebt in Hannover und studierte im Bachelor Sozialwissenschaften an der Leibniz Universität Hannover. Gegenwärtig absolviert er den Masterstudiengang Geschlechterforschung an der Georg-August-Universität Göttingen; seine Studieninteressen stellen Sozialpsychologie, Geschlechterforschung und materialistische Analysen dar; aktuell befasst er sich in seiner Masterarbeit mit linken Männlichkeiten und ihrer Verhandlung von sexueller Gewalt.

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Als Freud (1930a) im Unbehagen in der Kultur die drei aus seiner Sicht zentralen Leidensquellen des Menschen nannte, die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit des eigenen Körpers und die Beziehungen der Menschen zueinander, nahm er unter diesen keine explizite Gewichtung vor. Auch wenn die Auswirkungen von Naturkatastrophen, der körperliche Verfall sowie die Bedrohung durch die Möglichkeit des »Nicht-mehr-Seins« für viele Menschen sehr leidvoll oder überwältigend sein mögen, so scheint es doch gerade die Kultur mit ihren alltäglichen Anforderungen zu sein, die für den größten Teil des menschlichen Elends und Missvergnügens verantwortlich ist. In einer frühen kulturtheoretischen Schrift hat Freud (1908d) bereits festgehalten, dass der moderne Mensch kontinuierlich vor neue Anstrengungen gestellt wird, sich immer öfter Phänomene von Ermüdung, Reizüberflutung und Überforderung zeigen und sich die Zeit zur Erholung sukzessive verkürzt. »Die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit des einzelnen im Kampf ums Dasein sind erheblich gestiegen, und nur mit Aufbietung all seiner Kräfte kann er sie befriedigen« (S. 145f.). Was müsste er heute erst alles konstatieren? Unter Bedingungen der Beschleunigung erhält die Einsicht, dass die Geschichte der Kultur stets auch eine der Unterdrückung von Bedürfnissen war und ist (vgl. Marcuse, 1965, S. 17f.), jedenfalls entsprechendes Gewicht. Dazu passend resümiert Marcuses Zeitgenosse Adorno: »Die Vorstellung vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb zehrt von jenem bürgerlichen Naturbegriff, der von je einzig dazu getaugt hat, die gesellschaftliche Gewalt als unabänderlich, als ein Stück gesunder Ewigkeit zu proklamieren« (Adorno, 2003, S. 178).

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Häufig zeigt sich, dass diejenigen, die diese ge- und besetzten Zukunftsund Fortschrittsverherrlichungen infrage stellen, sich ihrer gar zu entziehen versuchen, als Fortschrittsverweigerer diffamiert werden, denn die Verfügung über die »Eigenzeit« (Safranski, 2015, S. 201) wird unter Vorschiebung vermeintlicher Alternativlosigkeit des Entwicklungstempos nur noch sehr begrenzt eingeräumt (vgl. auch Baier, 2000, S. 11). »Das, was ist, wird heute zur Ideologie seiner selbst«, schreibt Adorno (1971, S. 73). Langsamkeit, Nachsinnen oder das funktionslose Verweilen sind längst zu einer Untugend gemacht worden. Derlei Zeitnormen und vermeintliche Selbstverständlichkeiten neueren Datums, der Zwang zur permanenten Eile, die angeblich alternativlose Forderung nach Selbstveränderung bzw. Selbstoptimierung, die ständige Anpassungsnotwendigkeit an technische Veränderungen und die rasende Beschleunigung von Innovation pro Zeiteinheit (vgl. Lübbe, 1996, S. 53) wirken besonders belastend, so die These meines vorliegenden Essays. Die Unterordnung unter ein zu größeren Teilen auch unbewusst gemachtes Zeitregime, einen »Fremdzwang durch die Zeit« (Elias, 1988, S. XXXII), deren Kontrolle dem Einzelnen trotz gegenteiliger Einbildungen entweder gänzlich entzogen ist (vgl. Levine, 2000, S.  166) oder durch einen Verinnerlichungsprozess vom Fremdzwang zum Selbstzwang mutierte, trägt entscheidend zum gegenwärtigen Unbehagen in der Kultur bei. Projektieren, Konkurrenzieren, Fluten von Daten und Verarbeiten von Informationen und das Fehlen von »Raumdistanzschutz« (Safranski, 2015, S. 100) unter ständigem Zeitdruck und der Angst, Zeit – ähnlich einem Gegenstand (ebd., S. 106) – zu verlieren, fordert zu einer Art »Wahrnehmungsverpanzerung« heraus. Man selbst spaltet sich von körperlichen Warnsignalen ebenso ab, wie man den anderen – jenseits seiner »Vernützlichung« – nicht mehr wahrzunehmen in der Lage ist. Dabei zeigen sich einerseits vermehrt narzisstische Symptome eines »klinischen Nihilismus« (Kaempfer, 1994, S. 228) der Gefühllosigkeit, eine Verbindung von überwertiger Selbstbezogenheit und Sinnlosigkeitsgefühlen (vgl. Stroeken, 1998, S. 18), andererseits Gefühlszustände permanenter Unruhe und einer melancholischen »Herabsetzung des Selbstgefühls« (vgl. Freud, 1916– 1917g [1915], S. 429). »Das Ziel gebietet Eile und die Eile ist das Ziel« (Baier, 2000, S. 23). Der domestizierte menschliche Körper orientiert sich an der Maschine. Der empfundene Mangel an Menschlichkeit und die Enttäuschung über das Ausbleiben der von der Aufklärung und Moderne in Aussicht gestellten paradiesischen Zustände brechen sich trotz erheblicher 68

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Anstrengungen der »Kulturindustrie« ihre Bahn. Kompensationsübungen zur Linderung einerseits aggressiver, andererseits depressiver Zustände erweisen sich als in ihrer Wirkung unbeständig. Die Moderne, die in ihr obwaltenden Prozesse einer rasanten Industrialisierung und der darauf folgenden Transformation in eine noch schnellere Informationsgesellschaft gleichen dem Bild einer globalen Mobilmachung. Das Potenzielle muss stets unumwunden seiner Realisierung zugeführt werden. Dieses Projekt eines enthemmten Vorwärtsdrangs, in welchem sich die Gegenwart zugunsten einer schon antizipierten Zukunft ständig verkleinert, vernichtet Sinnstrukturen und erzeugt »Leerläufe« in bisher ungekanntem Ausmaß. Mit dem Abnehmen des modernen Fortschrittsoptimismus, etwa durch die Klimaproblematik oder durch die Frage nach der Selbstabschaffung des Menschen durch transhumanistische Visionen und Ähnliches, stößt die Manie innovationsradikaler Gegenwartsüberwindung mit der Melancholie eines neuen Zukunftspessimismus zusammen. Gefühle der Unbehaglichkeit und Zweifel an der Sinnhaftigkeit gegenwärtiger »Raserei« nehmen zu. Dabei ist insbesondere die Beziehung dieses »Zeitregimes« zum Sinnlosigkeitsgefühl in den Blick zu nehmen.

Zeit-(Un)-Verständnis In der Moderne, deren Grundidee die Zeitlichkeit1 ist (vgl. Weichert, 2011, S. 32) und eine mit ihr einhergehende »selbstantreibende Steigerungslogik« (vgl. Rosa, 2016, S. 237), setzten sich Bewegungskräfte frei, welche schon vorher in Strebungen nach Höherem – vornehmlich Transzendentem  – wirksam waren und sich nun zu immanenten Beschleunigungsprozessen potenzierten. Der Mensch wird infolgedessen grundlegend mit Forderungen und Tendenzen einer Dynamik konfrontiert, deren Takt einen immer ungebremsteren Tagesablauf, eine ständige Veränderungsbereitschaft im Berufsleben und eine Flexibilisierung aller Lebensbereiche vorantreibt und dabei die grundlegenden und damit gattungsgeschichtlich gewachsenen Bedürfnisse des Menschen nach Zurückgezogenheit, Überschaubarkeit und Komplexitätsreduktion massiv vernachlässigen muss. 1

Damit steht ein Zwang zur Nutzung der Zeit in Verbindung, der als eine Art »Beschleunigungsdogmatismus« die Konzentration auf eine Ereignisvermehrung pro Zeiteinheit fordert und nur dadurch Fortschritt und Entwicklung gewährleistet sieht.

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Trotz moderner Freiheitspostulate und des Ideals des autonomen Subjektes sind die Fremdzwänge2, etwa permanente Kommunikations- und Innovationsaufforderungen, normierte Setzungsakte bezüglich Schönheit, Bildungsstand oder Ernährungsweise, das Herantragen ständiger Selbstfindungs-, Selbstdarstellungs- und Selbstvermarktungsanstrengungen und ein maßloser Konkurrenzkampf um zahlreiche digitale Anerkennungsformen, erheblich größer geworden. Angeleitet werden diese Prozesse durch eine permanente Zeitdisziplin, wo Apparaturen den Lebenstakt diktieren (vgl. Levine, 2000, S. 88). Statt in der ersehnten Freiheit findet man sich unversehens im Modus des »Müssens« wieder (vgl. Rosa, 2016, S. 238). Einerseits wird der Andere zum Dauerärgernis, zur ständigen Kränkung des eigenen Narzissmus, aber man benötigt ihn als Zuschauer bei der eigenen Zur-Schau-Stellung, als Empfänger eigener »Innovationsbotschaften«, zugleich fürchtet man auch sein Urteil, sein gleichzeitiges Um-Treiben auf denselben Anerkennungsfeldern. Andererseits verstellen gerade die gehäuften Eindrücke, Inputs und digitalen »Beschäftigungsprogramme« die Wahrnehmung des Anderen als lebendige Person. Handlungsabfolgen mit und an einer zumeist unverstandenen Apparatur, eine technisch hochkomplexe Kommunikation können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zwischenmenschliche Interaktion sich dabei auf einem niedrigen, der Abstumpfung dienlichen Reiz-Reaktions-Niveau vollzieht. Darüber hinaus bearbeiten und berechnen lernfähige Algorithmen und alles registrierende Maschinen nicht nur menschliche Äußerungen und Verhalten, sondern sind ihrerseits »Produzenten« von Sinninhalten, wobei der menschliche Kommunikator zusehends die Kontrolle über die Wege und Absichten seiner kommunikativen Aktivitäten verliert (vgl. Baecker, 2018, S. 20f.). Die Korrelation von Konkurrenz, Zeitdruck und Feindseligkeit (vgl. Levine, 2000, S. 208) verwundert dabei nicht. Auch die »Welt der Objekte« ist davon in Mitleidenschaft gezogen. Mit der Subjekt-Objekt-Setzung3 ging eine Reduktion des Planeten als bloße 2

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Norbert Elias, der Zeit als eine Beziehungsform definiert, wandte sich gegen einen individuellen Erfahrungsbegriff der Zeit und insistierte darauf, dass nicht der Einzelne, sondern die Zwänge des Sozialen bzw. die Erfahrungen vieler Generationen diesen bestimmen (vgl. Elias, 1988, S. 3f.). Die westliche Metaphysik hat die Um-Welt als Gegenstände bzw. Objekte – als dem erkennenden Subjekt Gegenübergestelltes – gesetzt, welche vom Menschen beliebig genützt und/oder zerstört werden können, da ihr Wert ausschließlich von der Subjektseite bestimmt wird.

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Energiequelle zur Mobilmachung einher. »Machet euch die Erde untertan«, wie es in der Genesis heißt, bedeutet im Konkreten, dass die Wertsetzung betreffend der auf der Erde befindlichen Materie und der Lebensformen dem Menschen vorbehalten ist, dessen oberste Maxime die einst erträumte Ablösung der Lebensnot durch selbstbestimmte Arbeit bedeutet (vgl. Sloterdijk, 1989, S. 312). Aufgrund der damit korrelierenden Eigendynamik und des fanatischen Willens zum Zukünftigen überholte das Abstrakte das Zyklische und wurde die vormalig notwendige Anbindung an Naturabläufe zugunsten einer neu gewonnenen Autonomie und Herrschaft über eben jene Zyklen aufgegeben. Auch wenn die damit einhergehende Verfügungsgewalt – nicht zuletzt erwirkt durch einen enormen Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnisse und systematischer Planung – erstaunliche Ausmaße angenommen und erheblichen ökonomischen Nutzen mit sich gebracht hat, ist sie in ihrer Wirksamkeit überschätzt worden. Theodor Adorno und Max Horkheimer machten in der Dialektik der Aufklärung – sich dabei auf Bacon beziehend – darauf aufmerksam, dass der Glaube an die Beherrschung der Natur auf einer Fehleinschätzung basiert. Menschheitsgeschichtlich betrachtet hat die Moderne das Verhältnis zwischen Mensch und Natur zwar revolutioniert und die Kontrolle über die Natur schien in greifbarer Nähe, doch war und ist dem Moment des vermeintlichen Kontrollgewinns der Verlust schon eingeschrieben. Unter Zuhilfenahme ständig neuer technischer Innovationen wird zwar die »Wiedergewinnung« derselben ersehnt, das menschliche Potenzial zur Herrschaft durch rationale Verfahrensweisen beschworen. Zusehends macht sich aber die Einsicht breit, dass wir bei einer Bewegungsintensität angelangt sind, welche die Unfalls-Potenzialität vervielfacht (vgl. Kaempfer, 1994, S. 63), die Zukunft als Projektionsraum diverser immanenter Heilserwartungen desavouiert (vgl. Nowotny, 1996) und dieser Vorwärtsrausch uns mittelbar an den Rand der Vernichtung führen könnte. Es fühlt sich unbehaglich an, die Kontrolle zu verlieren, mitgerissen zu sein, anstatt gestaltend zu agieren, in einem Wirbel, der den Sturz ins Bodenlose, den »rasenden Stillstand«4 (vgl. Kaempfer, 1994, S. 61) inkludiert. Nicht die Erde steht auf dem Spiel, sondern die Lebensgrundlagen für den Menschen selbst. 4

Ein Begriff, der sich auch in Virilios gleichnamigem Essay findet wie auch in Rüdiger Safranskis Ausführungen zur Zeit, in welchen er die verminderte Verarbeitungsmöglichkeit von Ereignissen unter dem gegenwärtig ungehemmten Zeitdiktat beklagt (vgl. Safranski, 2015, S. 123).

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Die Spaltung zwischen dem naturwüchsigen Maß des Leibes, der benötigten Dauer, technische und damit auch soziale Neuerungen zu verarbeiten und der Grenzenlosigkeit abstrakter Projektionen (vgl. ebd., S. 260f.) hat vorher bestehende Zyklen und Rhythmen sowie die Lust am Verweilen und einer Sache »nach-zu-denken« ins Wanken gebracht. Das gedanklich Abstrakte verdrängt die sinnliche Anschauung. Selbst die Freizeit unterliegt einer Durchstrukturierung, ist gekennzeichnet von der Gleichzeitigkeit verschiedenster Prozesse und diszipliniert zur ständigen Zeitwahrnehmung (vgl. Weis, 1996, S. 39ff.) und damit einer gesellschaftlichen Kontrolle über die Bereitschaft zum Konsum als »praktischem Nihilismus« (Safranski, 2015, S. 32). Wir werden zur digitalen Dauerkommunikation und einem damit einhergehenden Erregungspotenzial konditioniert, das durch unzählige mediale Kommunikationskanäle evoziert wird (vgl. Baecker, 2018, S. 14). Zu dieser Erregtheit passt auch der naturmetaphorische Totalitätscharakter der Geldwirtschaft, in der ständig von Blüte, Wachstum und Reife die Rede ist.

Rasante Gegenwartsreduktion Das Setzen auf den technizistischen Fortschritt, auf eine instrumentelle Vernunft der Lebenspraxis, vernichtet den geistigen Horizont kontemplativer, nichtfunktionaler Tätigkeiten, welche eine entlastende Wirkung entfalten könnten. Das Innovationspostulat mit seiner abstrakten Projektierung erwirkt eine Totalausrichtung auf Zukünftiges und ordnet die Erfahrung von Verweilen einer Dauerbeschleunigung von Zeit-Einheiten unter. Man hat sich damit abzufinden, in einer Welt von Vorläufigkeiten und Übergängen zu leben, deren Vermittlungswille und Vermittlungskompetenz zwischen Altem und Neuem rapide sinkt (vgl. Weichert, 2011, S. 37f.). Durch die Veränderungsgeschwindigkeit wird das Vergangene immer schneller als ein zu Vergessendes – weil bedeutungslos Gewordenes – oder als etwas Fremdes wahrgenommen (vgl. Lübbe, 1996, S. 54), das Gegenwärtige schrumpft zu einer bloßen Übergangszeit (vgl. Weichert, 2011, S. 39). Dabei handelt es sich überwiegend um technische Wiederholungsakte einer Gegenwartsflucht. Der Zwang zur Prozessbeschleunigung geht mit dem oben beschriebenen Fortschrittsparadigma hausieren, welches die Liquidierung des Gegenwärtigen als Befreiungsakt verklärt und eine nihilistische Negation auf ihre Agenda setzt (vgl. Jaeger, 2008, S. 77f.). Es wird so getan, als ob der 72

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Bestand der Menschheit nur dadurch zu garantieren sei, indem man alles Bestehende für rückständig und daher überwindenswert erklärt. Damit muss das Gegenwärtige selbsterklärend zu einem Ungenügenden, zu einem Ärgernis verkommen. Als Verkürztes, als Augenblick, bleibt es bestehen, vermag allerdings nur noch Unzufriedenheit, Unruhe und Unbehagen auszulösen. Am Ende dieser Raserei in das Neue, Schnelllebige und Zukünftige, in der der Mensch zusehends zu einem Fremdkörper wird, steht seine sinnliche Leiblichkeit selbst zur Disposition. »Die zum Selbstzweck gewordenen systemischen oder strukturellen Wachstums- und Beschleunigungszwänge der modernen Gesellschaft, die keinen außerhalb der Konkurrenzsphäre liegenden Endzweck mehr haben, manifestieren sich auf diese Weise in den kognitiven-evaluativen Landkarten der Subjekte« (Rosa, 2016, S. 237).

Die optimierungsfanatischen »Innovationen« transhumanistischer Provenienz spielen schon mit allerlei Gedanken der Substitution des vermeintlich überflüssigen – weil fehler- und krankheitsanfälligen – Körpers durch Prothesen (vgl. Kaempfer, 1994, S. 267f.).

Zeit-Geist-Sinn Ich habe mein Augenmerk hier auf die problematischen Auswirkungen einer gesellschaftsimmanenten Zeitdisziplinierung gerichtet, deren rasende Dauerprojektierung und deren stillstandsfeindlicher Anforderungscharakter (vgl. Weis, 1996, S. 39) das Erleben von Sinnhaftigkeit erschwert und zum Teil sogar verunmöglicht. Dabei kann Sinn grundsätzlich in zwei Richtungen gedacht werden. Einerseits als ein Nach-Denken über das Dasein und die Entwicklung des Menschen an sich, andererseits als ein BezugNehmen zum individuellen Leben und seinen Sinnhorizonten. Wendet man sich Ersterem zu, so begegnet man gegenwärtig der wissenschaftlichen Arbeitshypothese, wonach alle Vorstellungen eines tieferen Sinns mindestens mit höchster Skepsis zu begegnen, wenn nicht gar überhaupt zu verwerfen wären (vgl. Eagleton, 2008, S. 33). Durch diese Haltung verringert sich zwangsläufig das gesellschaftlich-normative Sinnangebot (ebd., S. 41). Der Verringerung gesellschaftlicher Sinnangebote folgt vermehrt ein Markt von Sinnprodukten, welche als erwerb- und konsumierbar angepriesen 73

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werden. Wir haben es gegenwärtig, wie häufig in Phasen des Umbruchs, mit einer Flut an selbsterklärten Sinnstiftungen und vermeintlichen Zukunftsratgebern  – politischer, religiös-sektiererischer, wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Provenienz – zu tun. Man kann geradezu von einer Sinnsuche- und Sinnbeförderungsindustrie sprechen, vielleicht gerade als Komplementarität zunehmender Sinnlosigkeitsgefühle. Die »Produkte der Sinnindustrie«, verstanden als Kompensationsversuche sich verflüchtigender Evidenzen, erweisen sich häufig als wenig wirkungsvoll für jene Sehnsüchtigen, welche in der allgemeinen Raserei den Sinn im Leben verloren haben. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Sinnfrage zumeist dann einzustellen beginnt, wenn vorher wichtige Aspekte des Lebens ins Wanken geraten, tragende Säulen der Orientierung infrage zu stellen oder vollständig abhandengekommen sind. Die Sinnfrage ist also auch ein Phänomen der Krise. Freud schreibt einmal an Marie Bonaparte: »Im Moment, da man nach dem Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat, und irgend etwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art Gärung, die zu Trauer und Depression führt« (Freud, zit. n. Schaeppi, 2004, S. 18).

Das Auftauchen von Phänomenen der Krise ist aber gerade nicht nur mit individuellen Lebensereignissen verbunden, sondern häufig Folge kultureller Ereignisse und Veränderungen, zuallererst durch die oben angeführten Aspekte einer strukturellen Verkleinerung des Gegenwärtigen zugunsten ständiger Zukunftsprojektionen, aber auch in Bereichen der Arbeits- und Wirtschaftswelt durch die zunehmende Digitalisierung und die technischen Möglichkeiten im Allgemeinen, sowie bei Fragen zur Umwelt, zum Klima und zum Überleben der Menschheit selbst, welche aber naturgemäß auf den individuellen Bereich zurückwirken. Daher bewirkt eine Auseinandersetzung mit der Sinnfrage nicht nur eine intensive Begegnung mit sich selbst, sondern dient auch der Klärung und Einordnung neuer gesellschaftlicher Entwicklungsrichtungen (vgl. Schaeppi, 2004, S. 9) und hilft bei der Verarbeitung der kontinuierlichen Zunahme von Veränderungsaufforderungen an jedes einzelne Mitglied der modernen Welt. Sichtbar werden konkurrierende Normen und Werte. Die Ausweitung von Optionen des Individuums und die Verbreitung von pluralistischen Wissensbeständen 74

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drängen zu verstärkter persönlicher Auseinandersetzung mit der Sinnfrage, um eine stabile Beziehung zwischen dem Einzelnen und der ihn umgebenden Welt erst zu ermöglichen. Abgesehen davon, dass die Sinnfrage seit jeher mit den existenziellen Fragen des menschlichen Seins – Fragen nach dem Ursprung des Lebens, dem Wieso, Wohin und Wodurch  – verbunden war, ist vom gegenwärtigen Standpunkt aus festzustellen, dass eine zeitgeistige Zentrierung auf einen Sinn, der über das Eigene hinauszuweisen versteht, wiederum als eine Gegenreaktion auf einen Nihilismus aufzufassen ist, der spätestens seit dem 19. Jahrhundert in die abendländische Geistesgeschichte Einzug gehalten hat. Dem modernen, sich in seiner Grundstimmung unbehaglich fühlenden Menschen ist der institutionelle Halt, die Orientierung an den Traditionen abhandengekommen und der kontinuierliche Veränderungsdruck, das Dogma der Authentizität und Identität, hat die Idee der Gemeinschaft nachhaltig zurückgedrängt und die Vereinzelung und Vereinsamung vorangetrieben (vgl. Bolz, 1997, S. 12). Heute scheint es für jeden zur vordringlichsten Aufgabe zu gehören, alle zentralen Fragen des Lebens, seines Wertes, seines Gelingens und seiner Eigentlichkeit – letztere verstanden als positive Selbstbezüglichkeit zum Sein – abgetrennt von einer wie auch immer gearteten Idee von Mensch-Sein abklären und bestimmen zu müssen. Gleichzeitig ist man, wie es Heidegger formulierte, einem »Zuhause der Öffentlichkeit« zugewandt (Heidegger, 2001, S. 189), welches dem Wirklichkeitsgehalt des Allgemeinsten huldigt und einen blanken Positivismus und Fortschrittsoptimismus bzw. -zwang verherrlicht. Darüber hinaus geht die Wissenschaft – als dominante Nachfolgerin eines früher metaphysisch bestimmten Wahrheitspostulats – mehr als einmal an den lebensweltlichen Problemen und spirituellen Sehnsüchten der Menschen vorbei. Wurde früher der Sinn vom Kosmos oder vom Transzendenten her abgeleitet, so überantwortet das Postulat der Autonomie dieses nun dem Einzelnen, dem vom zusammenhängenden Ganzen Abgetrennten, selbst (vgl. Kriza, 2018, S. 10). Die westliche Spätmoderne hat komplexe Gesellschaftsgebilde mit einem hohen Maß an individuellen Freiheiten, aber auch neuen Unsicherheiten geschaffen. Diese verlangen dem Menschen ein gehöriges Maß an – freudianisch formuliert – Kulturleistung ab. Es finden sich in ihnen kaum noch Werte und Normen, die unumstritten wären und eine Gemeinschaft normativ zu tragen vermögen. Zusammengehalten werden sie durch politische Strukturen, staatliche Institutionen und gemeinsame wirtschaft-

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liche Interessen. Die Veränderungen der letzten 200 Jahre waren beispiellos, doch gerade innerhalb der vergangenen drei bis vier Jahrzehnte haben sich kulturelle und wertmäßige Gewichtungen nochmals rasant verschoben, kommunikative Strukturen und ökonomische Ausrichtungen unterlagen massiven Umwandlungen. Selbst Konersmann (2017), der in seinem Werk Die Unruhe der Welt explizit keine Kulturkritik der Beschleunigung vornehmen wollte, sondern in der Unruhe den Kern der europäischen Zivilisationsgeschichte sehen will (vgl. S.  317), kommt bei seinen Ausführungen zu dem Schluss, dass das »Kulturprimat der Unruhe« (ebd., S. 12) als Ziel keine Endpunkte oder Resultate, sondern lediglich neue Anfänge, Vorläufigkeiten und Übergänge kennt (ebd., S. 8f.). Das permanente »AmLaufen-Halten« befördert einen Werterelativismus und fordert kontinuierlich Optimierung ein. Es zählt nicht der Augenblick, »sondern immer nur der nächste« (ebd. S 9). Dies verunmöglicht es dem Einzelnen zusehends, auf ein stabiles, vermeintlich gesichertes und vertrautes Weltbild zu bauen. Jedes Individuum ist – bei gleichzeitiger Einhaltung institutioneller Regeln – gefragt und gefordert, sich selbst ein flexibles Weltbild, ein eigenes Ideal zu »zimmern«. Heute ergibt sich Sinn durch die Unbestimmtheit der (Aus-)Wahl von Lebensentwürfen, begleitet von einer Erkenntnis über die existenzielle Irrelevanz jedes Einzelnen (vgl. Kriza, 2018, S. 16). Unter den benannten Umständen hat die Suche nach dem Sinn, dem Eigentlichen oder dem Wertvollen Hochkonjunktur und ist möglicherweise auch ein Indiz für die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, Sicherheit und Halt, gleichermaßen ein Symptom für Diffusions- und Zukunftsängste. Existenzielle Sinnleere wird auch dadurch hervorgerufen, dass sich naturwissenschaftliches Denken von früheren Sinnbezügen ablöst, das methodische Gewinnen und Analysieren von wissenschaftlich-naturalistischen Forschungsergebnissen – etwa neurobiologischen Gesetzmäßigkeiten hinsichtlich mental-geistiger Zustände – den früher gültigen Denkweisen und kulturellen Narrativen ihre Richtigkeit und Wahrheit abspricht (vgl. ebd., S. 15f.). Gleichzeitig hat die Spätmoderne den Bestand an sinnstiftenden Orientierungspunkten dahingehend sukzessive verringert, dass sie in den Geisteswissenschaften eine grundsätzliche Relativität postuliert. Zwar ist die prinzipielle Ausrichtung auf eine vernunftbasierte Normsetzung und Wertbegründung begrüßenswert, diese zeigt sich aber in zweierlei Hinsicht als problematisch. Zum einen, da sie  – nicht ganz zufällig  – den selbstgesteckten Ansprüchen herrschaftsfreier und wohlwollender Austauschformen bisher nicht gerecht werden konnte und zum anderen, dem Aus76

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bleiben des Ersteren folgend, hauptsächlich jener Teil vorangetrieben wird, der vorherig Gültiges, zumindest Bedeutsames, negiert, verwirft, moralisch verurteilt, nicht selten ohne es ausreichend zu kennen. Alles Vergangene, vor allem aber Gegenwärtige, wurde und wird eilfertig zur Dekonstruktion freigegeben, dadurch gleichbedeutend bzw. unbedeutend gemacht und profanisiert. Bestehen bleibt, neben der Aussicht ins Zukünftige, ein bloßer »Funktionssinn« (Bolz, 1997, S.  45). Dieser »Funktionssinn« scheint dafür verantwortlich, dass viele durch eine gefühlte Sinnleere zermürbt sind. Die Sehnsucht nach Tiefgründigkeit und Beständigkeit, nach Sinn und Bedeutung, birgt die Gefahr, der gegenwärtigen Sinndiffusion mit Strategien der Denkerleichterung und unterkomplexen Vorstellungen über die Welt zu begegnen, sich dogmatisch hinter vermeintliche Wahrheiten und heilsame Traditionen zu »verbunkern«. »Im Fanatismus kehrt sich der Sinn gegen die Wirklichkeit – und provoziert prompt den Zynismus, der die Wirklichkeit gegen den Sinn mobilisiert«, wie Bolz (1997, S. 21) es treffend ausdrückt. Bei Orientierungslosen und Zeitdruckgeschädigten scheint die Zuwendung zur Sinnfrage einer Bekenntniskultur, der Notwendigkeit von Klarheit, Zugehörigkeit und Zweifelsfreiheit zu folgen, Phänomene, die auf eine Reinheitssehnsucht hinauslaufen. Die Einschätzung nach dem Gelingen respektive dem Misslingen des Lebens verklammert sich mit neu gewonnenen Sinnstrukturen, etwa Visionen einer moralisch besseren Zukunft und der Rettung der Welt, erwirkt entweder durch die Wiedergewinnung vergangener Sittlichkeit oder – im Gegenteil – durch die Auflösung alles »Alten«, der Erlösung des Menschen von körperlichen Leiden und Mängeln oder der Huldigung selbst zusammengestellter Ersatzreligionen aller Art. Dabei verweist gerade die Idee von Sinn auf einen Mangel, welcher eben nur temporär, nicht aber grundsätzlich aufgehoben werden kann. Dem angesprochenen Mangel, der Leere, kann nur prozesshaft nachgegangen werden. Diese Suche benötigt aber Zeit, eine Unterbrechung rastloser, projektiver Unruhe. Der zu betreibende Aufwand, den Mangel zu beheben, ist es, was letztlich Sinn stiftet (vgl. Lange, 1989, S. 14). »Das heißt zugleich: Kritik des zeitvorstellenden Denkens, Kritik des zielvorstellenden Handelns, Kritik der antizipatorischen Vernunft, die Endzustände ausmalt, Kritik der dramaturgischen Vernunft, die den Weltprozess auf einen Schlussakt hin inszeniert, wie er geschrieben steht – kurzum Kritik

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der geschichtemachenden Vernunft, die in die Mobilmachung des Planeten mündet« (Sloterdijk, 1989, S. 303).

Möglicherweise verhält es sich so, dass »je wissenschaftlicher und technischer unsere Welt wird, desto unmöglicher ist es, sie als ›sinnvoll‹ zu erfahren« (Bolz, 1997, S. 52); vielleicht liegt es aber auch an der zeitgeistigen Unruhe, die sich ein Innehalten verbietet und durch ihr geistraubendes Tempo die Möglichkeit einer sinnvollen Lebens- und Weltdeutung verstellt. Wenn Sinn zum menschlichen Dasein gehört – und nur zu diesem –, aber nicht per se zur Verfügung steht (vgl. Lange, 1989, S. 13), dann stellt sich nicht die Frage nach einem »Ob«, sondern einem »Wie«. Aus gesellschaftlicher Sicht wäre es wünschenswert zu klären, wie Sinnstiftung unter den gegebenen Bedingungen permanenter Gegenwartsschrumpfung ermöglicht werden kann. Es wäre lohnend, sich mit ein paar Fragen zu konfrontieren; zum Beispiel, ob nicht nur eine Gegenwartsschrumpfung, sondern damit eine Sinnschrumpfung zu attestieren ist, es heute also tatsächlich weniger Sinn als in früheren Zeiten gibt? Ob moderne Gesellschaften bzw. ihre Teilnehmer Sinnangebote beobachtbar häufiger verweigern und wenn ja, wieso? (vgl. Lange, 1989, S. 13) Oder ob als sinnvoll Erfahrbares – möglicherweise aufgrund dessen, was die Frankfurter Schule einst die »Kulturindustrie« und den »universalen Verblendungszusammenhang« nannte – heute wirklich schwerer zu entdecken ist? Solche und ähnliche Fragen scheinen vor dem Hintergrund kultureller Sinnleere und Unbehaglichkeit produktiver zu sein als die rasende Flucht nach vorn mitsamt ihrem unterkomplexen Dogmatismus.

Literatur Adorno, T. W. (1971). Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, T. W. (2003). Minima Moralia. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Baecker, D. (2018). 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Berlin: Merve. Baier, L. (2000). Keine Zeit. München: Verlag Antje Kunstmann. Bolz, N. (1997). Die Sinngesellschaft. Düsseldorf: ECON. Eagleton, T. (2008). Der Sinn des Lebens. Berlin: Ullstein. Elias, N. (1988). Über die Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (1908d). Die »kulturelle« Sexualmoral und die moderne Nervosität. GW VII, 143–167. Freud, S. (1916–1917g [1915]). Trauer und Melancholie. GW X, 428–446. Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419–505.

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Bedrückende »Zeitkultur« Heidegger, M. (2001). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer. Jaeger, M. (2008). Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart. Berlin: wjs. Kaempfer, W. (1994). Zeit des Menschen. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel. Konersmann, R. (2017). Die Unruhe der Welt. Frankfurt a. M.: Fischer. Kriza, T. (2018). Die Frage nach dem Sinn des Lebens. Hamburg: Meiner. Lange, D. (1989). Wider Sinn und Bedeutung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Levine, R. (2000). Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen. München & Zürich: Piper. Lübbe, H. (1996). Schrumpft die Zeit? In K. Weis (Hrsg.), Was ist Zeit? (S. 53–79). München: dtv. Marcuse, H. (1965). Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nowotny, H. (1996). Wer bestimmt die Zeit? In K. Weis (Hrsg.), Was ist Zeit? (S. 81–100). München: dtv. Rosa, H. (2016). Warum wir leben, wie wir leben. Zur Philosophie, Soziologie und Politologie der Lebenspraxis. In M. Haus & S. de la Rosa (Hrsg.), Politische Theorie und Gesellschaftstheorie. Zwischen Erneuerung und Ernüchterung (S. 219–247). BadenBaden: Nomos. Safranski, R. (2015). Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. München: Hanser. Schaeppi, W. (2004). Braucht das Leben einen Sinn? Zürich: Verlag Rüegger. Sloterdijk, P. (1989). Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stroeken, H. (1998). Psychotherapie und der Sinn des Lebens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weichert, N. (2011). Zeitpolitik. Legitimation und Reichweite eines neuen Politikfeldes. Berlin: Nomos. Weis, K. (1996). Zeitbild und Menschenbild. In K. Weis (Hrsg.), Was ist Zeit? (S. 23–52). München: dtv.

Biografische Notiz Thomas Pröll, Dr., lehrt an der pädagogischen Hochschule Tirol und leitet dort den Hochschullehrgang »Ethik«. Als langjähriger Lehrbeauftragter an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck hält er Seminare zu psychoanalytischer Kulturtheorie. Seit 2015 ist er als Psychotherapeut in Ausbildung unter Supervision tätig.

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Kultur versus Individuum posthuman Was wird von dem ursprünglichen Antagonismus bleiben? Anna Schor-Tschudnowskaja

Sigmund Freud meinte seinen berühmten Satz – »[M]an möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (2018 [2009], S. 42) – keineswegs ironisch. Beherrscht das Lustprinzip die Leistung des menschlichen »seelischen Apparates von Anfang an«, widerstreben ihm, so zeigte sich Freud überzeugt, »alle Einrichtungen des Alls« (ebd.). Dieses dramatische Bild legt die Vermutung nahe, dass das Lustprinzip, unter dem Freud »Glück« im engeren Sinne des Wortes verstand, nicht aus unserem »All« stamme, sondern quasi aus einer anderen Dimension. In diesem eigenartigen Weltbild ist der Mensch mit seinem Glücksbestreben ein Fremdkörper. So ist es nicht überraschend, dass Freud im gleichen Text seine Unfähigkeit bezeugt, das religiöse Gefühl »der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt« zu teilen (ebd., S. 32). Ein solches hielt er für Illusion, für den »Versuch einer religiösen Tröstung« oder für die »Ableugnung der Gefahr«, die »das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt« (ebd., S. 39). Freuds 1930 erschienene Arbeit Das Unbehagen in der Kultur (welche an einer Stelle im Text »Untersuchung über das Glück« genannt wird) behandelt unüberwindbare Abgründe, immerwährende Antagonismen und unversöhnliche Gegensätze – Grund genug, um im Unbehagen an der ganzen Welt zu versinken. Freud interessierte sich aber explizit nicht für eine ganze »Welt an sich«, sondern für Quellen der Unzufriedenheit mit der Kultur – die berechtigte Annahme, dass es sich dabei um die Kultur seiner Gegenwart handelt, stößt allerdings an vielen Stellen im Text auf Versuche, eine universelle Kulturtheorie zu formulieren. Im Folgenden möchte ich nicht nur Freuds Kulturbegriff in dieser Abhandlung nachgehen, sondern ihn auch mit den Vorstellungen weiterer Denker aus seiner Zeit kontrastieren bzw. ihn entsprechend erweitern. 81

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Meine zweite Aufgabe soll es sein, anhand von einigen gegenwärtigen technologischen, sozialen und philosophischen Strömungen, die man unter den Begriffen »Transhumanismus« und »Posthumanismus« subsumieren kann, zu analysieren, welchen Wandel der Kulturbegriff seit Freud erfahren hat und welche bemerkenswerten Parallelen, aber auch nicht minder bedeutenden Gegensätze zwischen dem damaligen und einem gegenwärtigen »Unbehagen in der Kultur« bestehen.

Kulturbegriffe bei Sigmund Freud, Max Weber und Georg Simmel Freud fasst seine Auffassung von »Kultur« wie folgt zusammen: »Es genügt uns also zu wiederholen, daß das Wort ›Kultur‹ die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen bezeichnet, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander« (ebd., S. 56f.).

Entscheidend für ein solches Verständnis von Kultur ist die Abgrenzung des Menschen von der Tierwelt, woraus sich die Notwendigkeit eines »Schutzes« des Menschen vor der Natur ergibt. Sein Überleben ist nicht mehr nur eine in der Natur verankerte, sondern auch eine kulturelle Aufgabe, und je mehr sich der Mensch zum Kulturwesen wandelt, desto konfliktreicher gestaltet sich sein Verhältnis zur Natur. Aber beinahe noch wichtiger ist in Freuds Kulturverständnis ein anderer Gedanke, nämlich der des Friedens: Es geht um ein menschliches Miteinander, das möglichst harmonisch und friedlich sein sollte. Das kulturelle Element, so Freud, war mit dem ersten Versuch, die sozialen Beziehungen zu regeln, gegeben. An einer anderen Stelle schreibt er: »Der erste Kulturerfolg war, daß nun auch eine größere Anzahl von Menschen in Gemeinschaft bleiben konnten« (ebd., S. 66). Bei diesem eher bescheidenen Kulturerfolg fällt jedoch auf, dass er in der Tierwelt auch schon vorhanden ist. Die für den Kulturbegriff von Freud notwendige Abgrenzung des Menschen von der Tierwelt ist damit noch nicht wirklich erfolgt. Aber bereits dieser erste Kulturerfolg fordert Opfer. Im Namen des Zusammenhalts in der Gemeinschaft etablierte sich ein fundamentaler und 82

Kultur versus Individuum posthuman

letzten Endes unlösbarer Widerspruch zwischen Trieben einerseits und der menschlichen Kultur, die für Freud vor allem Triebverzicht und damit Zwang bedeutete, andererseits. Bedenkt man, dass sich für Freud »die Phänomene des Lebens« »aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken« von Eros und Todestrieb erklären lassen (ebd., S. 82), sieht man ein, wie bedeutend für ihn die Folgen der Triebunterdrückung für das menschliche Leben waren. Allerdings differenziert sich die Rolle der beiden Triebe bei Freud noch weiter, da nur ein bestimmter Trieb in einem besonderen Gegensatz zu Kultur stehe. Diese sei »ein Prozeß im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle. […] Diesem Programm der Kultur widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstrieb der Menschen, die Feindseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen« (ebd., S. 85).

Wieder einmal ist der Gedanke an ein friedliches Miteinander bei dem Versuch, »den Sinn der Kulturentwicklung« (ebd.) zu finden, entscheidend. Die kulturellen Güter sind also dazu da, den Aggressionstrieb zu begrenzen. »Schönheit, Reinlichkeit und Ordnung« (ebd., S. 59), sie alle würden als kulturelle Anforderungen dem Eros folgen. Und so wird auch auf der Triebebene ein unversöhnlicher Gegensatz postuliert, nämlich zwischen der sich der Kultur stark widersetzenden Aggressionsneigung (vgl.: »daß die Kultur ihr stärkstes Hindernis in ihr findet«, ebd., S. 85) und dem eher kulturschaffenden Eros. Die Kulturentwicklung muss nach Freud »den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht« (ebd., S. 85f.). Dieser Kampf erinnert sehr an Pieter Bruegels Gemälde Kampf zwischen Karneval und Fasten aus dem Jahr 1559: Chaos trifft auf Ordnung, Zügellosigkeit auf Sittlichkeit – und tatsächlich ist bei Bruegel kein einziges glückliches oder wenigstens fröhliches Gesicht zu sehen. Bei diesem zutiefst antagonistischen Weltbild erscheint eine Hoffnung auf ein friedliches Miteinander als vollkommen utopisch. Folgt man dem »Sinn der Kulturentwicklung« nach Freud, fällt auf, dass er den Zielen und Produkten der kulturellen Entwicklung viel Platz widmet, sich allerdings eher vorsichtig und sparsam darüber äußerst, was denn der Ursprung der kulturellen Entwicklung sein könnte. Am eindeutigsten ist das noch zu Beginn des vierten Kapitels formuliert: »Nach-

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dem der Urmensch entdeckt hatte, daß es – wörtlich so verstanden – in seiner Hand lag, sein Los auf der Erde durch Arbeit zu verbessern, konnte es ihm nicht gleichgültig sein, ob ein anderer mit oder gegen ihn arbeite« (ebd., S. 64). Und etwas weiter seine berühmte Feststellung, dass Eros und Ananke die Eltern der menschlichen Kultur seien (ebd., S. 66). Diese Elternschaft wird aber in einer langen Fußnote etwas weiter aufgeschlüsselt: »Am Beginne des verhängnisvollen Kulturprozesses stünde also die Aufrichtung des Menschen. Die Verkettung läuft von hier aus über die Entwertung der Geruchsreize und die Isolierung der Periode zum Übergewicht der Gesichtsreize, Sichtbarwerden der Genitalien, weiter zur Kontinuität der Sexualerregung, Gründung der Familie und damit zur Schwelle der menschlichen Kultur« (ebd., S. 65).

An dieser Ausführung wird noch einmal deutlich, wie sehr die Kultur nach Freud »im Dienste des Eros« steht. Aber wirklich klar wird das Bild nicht. Und an einer späteren Stelle fügt Freud dem ehrlich hinzu: »Warum das [die Zusammenfassung von Menschen zu immer größeren Einheiten] geschehen müsse, wissen wir nicht; das sei eben das Werk des Eros« (ebd., S. 85). Aber was ist das eigentlich Psychische oder Kulturelle an dem Eros? Im Laufe der individuellen Entwicklung formiert sich nach Freud das Psychische als das Produkt zweier Mächte bzw. einer Konfrontation zwischen ihnen: Es entsteht aus einer Zügelung oder gar Unterdrückung der natürlichen Triebansprüche durch die Kultur. Nach Gerhard Benetka (2020) ist das ein Nachhall der alten Herbart’schen Philosophie: Das Psychische verdankt sich einer Störung, es ist aus einem Mangel heraus entstanden. Umgemünzt auf die Geschichte der Kulturentwicklung heißt es: Wäre die Triebbefriedigung immer gleich möglich gewesen, wäre kein psychischer Apparat entstanden (ebd.). Aber welcher Art waren jene Mächte, die der Triebbefriedigung Grenzen aufgezwungen haben: biologischer oder psychischer und somit auch kultureller Natur? Sollte es die Lebensnot, die Ananke gewesen sein, bleibt die Frage, warum die von ihr gesetzten Grenzen beim Lebewesen Mensch eine Kultur hervorbringen, ist doch die Lebensnot in der Natur kein genuin menschliches Phänomen. Beinahe möchte man meinen, dass beim Analytiker Freud – oder zumindest in seiner Kulturtheorie – dort, wo es um die Entstehung von Kultur 84

Kultur versus Individuum posthuman

gehen müsste, das Psychische zu wenig Anerkennung findet. Auch kann es gewesen sein, dass Freud sich für die Entstehung der Kultur wenig interessierte. Da er allerdings Das Unbehagen in der Kultur nicht ausschließlich auf die Individualentwicklung bezogen formuliert, wäre eine solche Frage berechtigt: Welche dem Eros eigenen psychischen Mechanismen schaffen die Kultur? Freud selbst sagt in seiner Untersuchung über das Glück gleich im zweiten Kapitel: »Hier kann man den interessanten Fall anschließen, daß das Lebensglück vorwiegend im Genusse der Schönheit gesucht wird, wo immer sie sich unseren Sinnen und unserem Urteil zeigt, der Schönheit menschlicher Formen und Gesten, von Naturobjekten und Landschaften, künstlerischen und selbst wissenschaftlichen Schöpfungen. […] Ein Nutzen der Schönheit liegt nicht klar zutage, ihre kulturelle Notwendigkeit ist nicht einzusehen, und doch könnte man sie in der Kultur nicht vermissen« (ebd., S. 49).

Und ein paar Zeilen weiter: »Leider weiß auch die Psychoanalyse über die Schönheit am wenigsten zu sagen« (ebd.). Mit anderen Worten, zu den Triebregungen gehört das Bedürfnis nach Schönheit nicht, wenn überhaupt ist es eine »Ableitung aus dem Gebiet des Sexualempfindens« (ebd.). Ich finde es bemerkenswert, dass innerhalb einer Kulturtheorie gerade das Bedürfnis nach Schönheit unerklärt bleibt. Ein weiteres bemerkenswertes Geständnis macht Freud zu Beginn des siebten Kapitels: »Warum zeigen unsere Verwandten, die Tiere, keinen solchen Kulturkampf ? Oh, wir wissen es nicht« (2018 [2009], S. 86). Auch hier stößt er mit seiner kulturtheoretischen Argumentation an Grenzen. Vielleicht meinte Freud das deswegen nicht zu wissen, weil für ihn – zumindest bezogen auf die Individualentwicklung – das Psychische das Ergebnis des Kampfes zwischen Trieb und Kultur ist – und nicht die Ursache von diesem Kampf. Vielleicht wäre bei der Entstehung der Kultur notwendig, die Ebene der Individualentwicklung zu verlassen. Vielleicht zeigt sich darin mehr denn je, dass Freud ein praktisch orientierter, um das Wohlergehen seiner Patienten besorgter und bemühter Therapeut war: »Freud, der Arzt, nahm […] eindeutig Partei für die widerstrebenden Träger und Opfer der Kultur, die aus der Distanzierung von Animalität erwächst, auf Zwang und Triebverzicht setzt und viel zu viele Individuen ›erdrückt‹« (Dahmer, 2012, S. 39). 85

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Bei der Erwähnung der positiven Seiten dieser »erdrückenden Kultur« betonte Freud immer wieder, dass Menschen ohne sie nicht überleben könnten. Aber geht es bei der Kultur alleine um biologisches Überleben? Dass Kultur auch Emanzipation von den animalischen Zwängen bedeutet, dass sie neue Wahrnehmungsmodi und neue Bezüge zur Welt und damit neue Handlungsspielräume eröffnet und den Menschen mit einem gewaltigen Vorrat an symbolischen Ordnungen (allen voran der Sprache) beschenkt, bleibt bei Freud unterbelichtet und beinahe nebensächlich. Das ist umso erstaunlicher, als er, der Analytiker, den »Opfern der Kultur« vor allem mittels Sprache helfen wollte. Die von der Kultur »Erdrückten« sollten erzählen und in der narrativen wie dialogischen Begegnung mit dem Analytiker ein Stück Freiheit von den quälenden verinnerlichten sozialen Zwängen erlangen. Mit anderen Worten: Es war schon immer die Kultur, die einen Weg der Befreiung von den Zwängen eröffnete. Dass aber dieser Aspekt der Kultur in dem Text, der der Unglückseligkeit ihrer »Opfer« gewidmet war, wenig Beachtung fand, könnte auch darin begründet sein, dass der Ursprung des Kulturellen weder soziologisch noch psychologisch weiter eruiert wurde. So ist in diesem Zusammenhang wieder an die interessante Bemerkung von Benetka (2020) zu denken, dass das Psychische bei Freud einer Störung verdankt, dass es aus einem Mangel heraus entstanden ist. Der Philosoph und Heidegger-Interpret Benno Hübner (1931–2016) argumentierte genau umgekehrt: Das Psychische entstand aus einem Überschuss, aus einem Zuviel an einem Gefühl (auch der Schönheit), aus einem spezifischen Reichtum an einer (auch ästhetischen) Wahrnehmung, an einer sinnlichen Beziehung zur Außenwelt. Aber auch: aus der Langeweile, die für ein Lebewesen charakteristisch ist, das zu mehr befähigt ist, als sich nur um sein Überleben zu kümmern und daher angefangen hat, fürs Überleben unnötige, aber für sein Gefühlsleben absolut unabdingbare Produkte zu kreieren (vgl. Hübner, 2008). Die Kultur entsprach demnach bestimmten genuin psychischen Bedürfnissen und auch damit verbundenen neuen Handlungsmöglichkeiten. Auch bei Karl Bühler (1879–1963) kann man einen ähnlichen Argumentationsstrang erkennen, auch er ging von einem Bedürfnis nach ästhetischen Eindrücken und experimentierenden Sinnerfahrungen aus, die Lust erzeugen, so zum Beispiel bei einem Spiel (Bühler, 1930). Dennoch lassen sich im Denken Freuds durchaus klassische soziologische Töne erkennen, entsteht doch die Soziologie dann und dort, wo das 86

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Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft (vorausgesetzt beide Begriffe sind bereits etabliert) als problematisch erkannt wird. So haben die meisten soziologischen Klassiker über diesen umfassenden Konflikt zwischen Autonomieansprüchen des Individuums und den integrativen Ansprüchen der Gesellschaft nachgedacht und geforscht. Der Unterschied zu Freud lag aber darin, dass sie sich im Konflikt der Individuen mit den sozialen Institutionen, die ihnen – vereinfacht formuliert – über den Kopf gewachsen sind, insofern eindeutig auf die Seite des Sozialen stellten, als sie sich primär dafür interessierten, wie dieses entsteht, und es nicht als eine quasi gegebene Macht betrachteten. Für sie »produzierten« Menschen zuerst die Kultur  – diese kann sie aber dann »erdrücken«. Bei Max Weber (1864–1920) fallen gleich zwei Parallelen zu Freud auf. So ist auch Weber um die Antwort auf die Frage bemüht, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Und auch Weber würde wohl dem Satz von Freud zustimmen, dass sich »alle Einrichtungen des Alls« dem Glück des Menschen widersetzen. Weber führt aber weiter eine Kulturbedürftigkeit des Menschen ins Treffen. Im Max Weber-Handbuch (Müller & Steffen, 2014, S. 79) lesen wir dazu: »Wie kulturbedürftig der Mensch ist, zeigt seine Stellung im Kosmos. […] Der Mensch im Kosmos braucht Kosmologie. Ohne sie vermag er sich auf der Welt nicht zurechtzufinden.« Und hier ist gleich eine wichtige kulturtheoretische These Webers enthalten: Der Mensch ist ein Kulturwesen, seine Psyche und sein soziales Leben können nicht von Naturwissenschaften erforscht werden. Die wohl berühmteste Definition von Kultur bei Weber lautet wie folgt: Diese sei »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« (1985, S. 180). Das heißt, dass der Mensch einerseits Sinn hervorbringt und andererseits das Bedürfnis nach einer sinnhaften Lebenswelt hat. Und das Bedürfnis nach Sinn ist zugleich die Quelle einer genuin menschlichen Freiheit: Sinnstiftung ist Freiheit. In der späteren soziologischen Theoriebildung wurde diese Definition um den Aspekt der Intersubjektivität ergänzt: Der Sinn, so hieß es nun, entstehe ausschließlich zwischen Menschen; er sei intersubjektiv. Damit ist auch die genuin menschliche Freiheit nur zwischen Menschen möglich. Im Fokus von Webers Betrachtung stand das Bedürfnis nach Sinn und sinnhafter Ordnung auch und gerade angesichts der Unendlichkeit der Welt und der dazu in einer unerträglichen Diskrepanz stehenden eigenen 87

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Endlichkeit. Weber war mit dieser Sichtweise nicht allein. Auch Hans Blumenberg, George Steiner und Jan Assmann haben dieser wahrgenommenen Diskrepanz zwischen der unendlichen Zeitperspektive der Welt und der eigenen, individuellen Endlichkeit eine große Bedeutung in der menschlichen Kulturentwicklung beigemessen. Auch diese Autoren gehen von einem bemerkenswerten Zuviel bei dem Menschen aus, so schrieb Assmann (2000, S. 13) zum Beispiel: »Der Mensch, durch sein Zuviel an Wissen aus den Ordnungen der Natur herausgefallen, muß sich eine künstliche Welt erschaffen, in der er leben kann. Das ist die Kultur. Die Kultur entspringt dem Wissen um den Tod und die Sterblichkeit. Sie stellt den Versuch dar, einen Raum und eine Zeit zu schaffen, in der der Mensch über seinen begrenzten Lebenshorizont hinausdenken und die Linien seins Handelns, Erfahrens und Planens ausziehen kann in weitere Horizonte und Dimensionen der Erfüllung, in denen erst sein Sinnbedürfnis Befriedigung findet und das schmerzliche, ja unerträgliche Bewußtsein seiner existentiellen Begrenzung und Fragmentierung zur Ruhe kommt.«

Folglich hat Assmann auch die Erfindung der Schrift »explizit im Kontext einer Überwindung des Todes – als Versuch, das rühmliche Leben des Einzelnen festzuhalten und ihm damit Unsterblichkeit zu verleihen«, betrachtet (Krüger, 2004, S. 54). Allen diesen Versuchen, sich den Ursprung der Kulturgenese vorzustellen, liegt die Annahme einer bestimmten Zeitwahrnehmung des Menschen zugrunde. Eine zeitliche (aber auch räumliche) Transzendenz, ein Überschreiten in der menschlichen Zeitwahrnehmung, bringt ihn dazu, über Zeit (und Raum) anders zu verfügen. Der besondere, genuin menschliche Zeithorizont ist zum Beispiel für die Entstehung von Zeichen und Symbolen verantwortlich (vgl. Assmann, 2011). Aleida Assmann verweist in diesem Zusammenhang auf den Literaturtheoretiker Kenneth Burke, für ihn gibt es einen »Urgestus in allem Zeichengebrauch, den er ›transcendence‹ nennt, was wir mit ›Überschreitung‹ übersetzen dürfen. Jedes Symbol ist in diesem Sinne ein Kraftimpuls, mit dem Menschen ihren durch körperliche Reichweite definierten Handlungskreis überschreiten können. Das Symbol führt den, der sich seiner bedient, vom Ich zum Du, vom Hier zum Dort, vom Jetzt

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zum Dann, von der wörtlichen zur übertragenen Bedeutung, von der Materie zum Geist. Es ist diese konsequente Nutzung der im Symbol angelegten Kräfte, die den Menschen aus den engen Grenzen seiner Lebensbezüge befreit und aus einem geschlossenen Milieu in eine offene, von ihm selbst mitgeschaffene Umwelt hinausführt« (Assmann, 2011, S. 32f.).

Auch nach Georg Simmel (1858–1918) entspringt Kultur dem Leben, sie ist die Objektivationen des Geistes, der menschlichen Seele, die sich selbst sucht. Auf die genaue Kulturgenese geht Simmel in seiner Kulturtheorie nicht näher ein. Man erkennt bei ihm auch weitere Parallelen zu Freud: So postulierte Simmel, dass das Leben und die Kultur in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen, aber eben dieser produktive Antagonismus für die Entwicklung der Kultur sorgte. Simmel, der die hastigen, hektischen, unter Zeitdruck stehenden und von der Reizüberflutung gestressten Bewohner und Bewohnerinnen der europäischen Großstädte beobachtete, sprach immer wieder von Überforderung des Individuums, denn, so Moebius (2010, S. 26), »mit fortschreitender Entwicklung der modernen Gesellschaft wachsen […] die Produkte der objektiven Kultur so immens an, dass die Individuen immer weniger in der Lage sind, sie subjektiv anzueignen und als Mittel der Selbstverwirklichung bzw. zur Entfaltung von Individualität kreativ auszuschöpfen«.

Simmel gebraucht wie Freud das Verb »erdrücken« in Bezug auf die Kultur: Der moderne Mensch fühle sich von der Unzahl von Kulturelementen wie »erdrückt«, weil »er sie weder innerlich assimilieren noch sie, die potentiell zu seiner Kultursphäre gehören, einfach ablehnen kann« (Simmel, 1987, S. 233). Den Antagonismus, mit welchem das Kulturwesen Mensch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu tun hatte, beschrieb Simmel beinahe noch düsterer als Freud: »In den Inhalt und das Entwicklungstempo von Industrien und Wissenschaften, Künsten und Organisationen werden nun die Subjekte hineingerissen. […] Unzählige Objektivationen des Geistes stehen uns gegenüber, Kunstwerke und Sozialformen, Institutionen und Erkenntnisse, wie nach eigenen Gesetzen verwaltete Reiche, die Inhalt und Norm unseres individuellen Daseins zu werden beanspruchen, das doch mit ihnen nichts Rechtes

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anfangen weiß, ja, sie oft genug als Belastungen und Gegenkräfte empfindet« (Simmel, 1987, S. 233).

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah Simmel den Antagonismus zwischen Leben und Kultur in ein neues Stadium eingetreten, in dem es nicht mehr produktiv ist: Die Objektivationen des (seelischen) Lebens, seine neuen Formen, sind nur noch gegen die Kultur gerichtet: »Denn kaum je erscheint in dem letzteren Falle die Brücke zwischen dem Vorher und dem Nachher der Kulturformen so ganz abgerissen wie jetzt, so daß nur noch das an sich formlose Leben zu bleiben scheint, um sich in die Lücke zu stellen« (1918, o. S.). Das Übermaß an Kulturelementen führe dazu, dass die Kultur ihre wichtigste Funktion, nämlich Sinn zu stiften, Sinnbilder zu akkumulieren und zu tradieren, und damit der menschlichen Individualität zu dienen, allmählich nicht mehr erfüllen könne. Und so gesehen »erdrückt« die Welt der Kulturobjekte, die keinen Sinn mehr stiften, wie auch das nackte Leben, das wegen dem nachgelassenen Antagonismus mit Kultur immer mächtiger wird, die weitere Kulturentwicklung. Die Grundstimmung einer existenziellen Unsicherheit des Menschen in der Welt wurde zum Gerüst seiner Soziologie. Dazu gehörte ziemlich viel Mut, und viele andere Autoren und Autorinnen waren gerade deswegen von Simmel angetan. Günther K. Lehmann bewunderte bei Simmel in einem Aufsatz mit dem bemerkenswerten Titel »Die Ästhetik des flüchtigen Augenblicks« eine »schmerzfreie Objektivität«: »Themen, die Kierkegaard und Schopenhauer fast krank machten und Nietzsche  […] in den Wahnsinn trieben, andere später zum Selbstmord, lösen sich bei Simmel in Impressionen, phänomenologischen Sequenzen und Ereignissen auf. Sie fügen sich zu einem diffusen Gewebe von geistreichen, heute noch sprachlich beeindruckenden Ideenverbindungen« (Lehmann, 1995, S. 115).

So sehr es Simmel um das Individuum und dessen nicht gerade beneidenswerte Lage geht, so sehr prägte er in der Soziologie den berühmt gewordenen Ausdruck einer Tragödie der Kultur. Sein Mitgefühl mit der Kultur fiel nicht minder stark aus als mit dem Individuum. Für Simmel bedeutete Kultur, womöglich mehr als für die anderen soziologischen Klassiker, vor allem Freiheit. Und die Tragödie der europäischen Kultur seiner (wie auch 90

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Freuds) Gegenwart bestand daraus, dass sie diesem Bedürfnis schließlich nicht mehr entsprach.

Ein Jahrhundert später: Das Unbehagen im eigenen Körper Dem Grundtenor einiger bemerkenswerter Einstellungen und Deutungsmuster in der Gesellschaft der postmodernen Großstädte zufolge gibt es heute, ein Jahrhundert später, Schlimmeres als die Zwänge und den Triebverzicht, die durch eine Kultur auferlegt werden: Das wären zellphysiologische, genetische und andere biologische Beschränkungen, die der eigene Körper dem Menschen auferlegt. Nun stehen diese im Visier der zahlreichen kollektiven Überlegungen, Bemühungen und utopischen Visionen, die man unter den Begriffen Post- und Transhumanismus subsumieren kann. Tatsächlich ist diese biotechnologische Utopie, das Mensch-Sein bezüglich Endlichkeit, Gesundheit und Kürze der Lebensspanne zu verändern, zum Zentrum einer ethischen und philosophischen Debatte geworden (Weinrich, 2004). Oliver Krüger (2004, S. 105) stellte dazu fest: »Abgesehen von kulturphilosophischen und kunstgeschichtlichen Abhandlungen, die sich nur allgemein mit der vom Posthumanismus vertretenen These der Überwindung des biologischen Körpers auseinandersetzen, steht die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Posthumanismus noch in den Anfängen.«

Das ist durchaus erstaunlich. Sowohl soziologische als auch psychologische und psychoanalytische Theoriebildungen hätten schon längst große Aufmerksamkeit auf diese Phänomene lenken müssen. Einige von diesen Phänomenen sind inzwischen integrale Bestandteile der wissenschaftlichen Landschaft geworden. So erstreckt sich das Spektrum des Human Enhancement von der Erforschung der genetischen Basis bisher unbekannter Faktoren und Ursachen von Krankheiten wie Alzheimer und Demenz sowie der Hoffnung, das menschliche Altern aufhalten zu können, bis hin zu futuristischen Ideen einer »transhumanen Rasse«, die das bisher bekannte Mensch-Sein in Hinblick auf »etwas Übermenschliches« überwinden solle (Ethni, 2014; Loh, 2018). Der Schluss, dass es sich dabei ausschließlich um Abwehrstrategien vom 91

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den, hedonistische Bestrebungen und Steigerung der Überzeugung vom eigenen Recht auf Wohlbefinden handelt, ist voreilig. Verschiedene biotechnologische Errungenschaften haben im 20.  Jahrhundert im Verein mit entsprechendem soziokulturellem Wandel den Weg dazu bereitet, dass Menschen wenigstens in der »Ersten Welt« (im Unterschied zu früheren Jahrhunderten) erwarten können, von der Geburt an einen vollen Zyklus von Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter erleben und entsprechend vorausschauend planen zu können. Gegenwärtig darf eine Person, die statistisch zur Bevölkerung eines »Landes mit hohem Einkommen« zu zählen ist, gemäß den World Population Prospects 2017 (UN, 2018) davon ausgehen, zumindest 65 Jahre lang zu leben. Vor dem Erreichen dieses Alters (in dem man in der OECD durchschnittlich in Pension geht, vgl. OECD, 2018) zu sterben, ist bei gesunder Lebensführung, Vermeidung von Verletzungen durch äußere Ereignisse und ohne erhebliche erbliche Belastung im 21. Jahrhundert wenig wahrscheinlich geworden (WHO, 2015). Diese Errungenschaften sind jedoch nur als eine erste Stufe in den Bemühungen der Menschen aufzufassen, sich weiter aus dem Korsett der biologischen Zwänge zu befreien. Die Fortschritte, welche in Evolutionsbiologie, Genetik und Biogerontologie in den vergangenen Jahrzehnten erzielt wurden, machen Hoffnung auf ein Verstehen der Ursachen des menschlichen Alterns in absehbarer Zeit (Gems, 2009; Ethni, 2014). Eine bedeutende Anzahl von privaten biotechnologischen Unternehmungen und Forschungseinrichtungen insbesondere in den USA trachtet gegenwärtig danach, die Lebensspanne des menschlichen Daseins weiter zu prolongieren bzw. den Alterungsprozess nicht nur zu verlangsamen oder anzuhalten, sondern grundsätzlich umkehrbar zu machen. Die Lebenszeitperspektive soll sich nicht mehr wie eine Zeitachse in nur eine Richtung, nämlich von der Jugend bis zum Tod, erstrecken, sondern pluraler und komplexer werden, womit sich auch das allgemeine Zeitverständnis des Menschen entscheidend verändern soll. Damit zielen die gegenwärtigen wissenschaftlichen bzw. biotechnologischen Bestrebungen, die biologische Ausstattung des Menschen zu »optimieren«, nicht mehr nur auf die Steigerung und Fortentwicklung der mentalen, emotionalen und körperlichen Funktionen, sondern auf eine prinzipielle Veränderung des Dispositivs der conditio humana, der Endlichkeit des Menschen, ab (Hülswitt & Brinzanik, 2010; Assmann, 2001). Ein Unbehagen im eigenen Körper ist ein kulturelles Phänomen. 92

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Kehren wir noch einmal zum Text über das Unbehagen in der Kultur von Freud zurück, darin schreibt er: »Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. Er hat übrigens ein Recht, sich damit zu trösten, daß diese Entwicklung nicht gerade mit dem Jahr 1930 A. D. abgeschlossen sein wird. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung wollen wir aber auch nicht daran vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt« (2018 [2009], S. 58).

Wie erwähnt, geht es in Freunds Schrift vorwiegend um das menschliche Glück und den Versuch, zu verstehen, warum dieses in der Kultur nicht möglich ist. Das Mitgefühl mit dem an der Kultur leidenden Menschen steht im Zentrum der Überlegungen des Arztes und Therapeuten Freud, der dieser Unzufriedenheit mit oder gar dem Leiden unter der Kultur bei seinen Patienten nachgehen wollte. Helmut Dahmer brachte mit folgenden Worten (2012, S. 29) auf den Punkt, was die zentrale Schlussfolgerung von Freud war: »Dass wir trotz aller technischer Errungenschaft endliche, bedürftige und leidende Wesen sind, dass unsere leibliche Ausstattung über das, was uns möglich und unmöglich ist, vorab entscheidet und der Stern Erde nur in einer seiner Entwicklungsphasen zum Habitat für unsere Gattung taugt, ist hinzunehmen. An der Naturnotwendigkeit zerschellen unsere Wünsche. Zwang und Freiheit hingegen sind Kategorien unserer [sozialen] Praxis. […] Aller Zwang ist sozialer Zwang […] Als Kinder der Moderne wollen wir soziale Zwangsverhältnisse keinesfalls fraglos hinnehmen« (Hervorhebung im Original).

Tatsächlich betonen die Vertreter und Vertreterinnen verschiedener transund posthumanistischer Überzeugungen und Visionen, dass es ihnen bei der Optimierung oder gar Überwindung »des Menschen« nicht nur um den Körper geht. Ganz grundsätzlich möchte der Posthumanismus den Menschen hinter sich lassen, »indem er mit konventionellen Kategorien 93

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und dem mit ihnen einhergehenden Denken bricht« (Loh, 2018, S. 11). Gemeint ist dabei bei Weitem nicht nur der sogenannte »kritische Posthumanismus«, der sich selbst als aus der Critical and Cultural Theory und dem Poststrukturalismus hervorgegangen sieht (vgl. ebd.) und eher eine radikale philosophische Abrechnung mit den Geisteswissenschaften darstellt. Selbst dem radikalen Transhumanismus, der den menschlichen Körper als defizitär betrachtet und sich eine Ablösung von ihm wünscht, geht es um viel mehr. Loh nennt dieses Mehr den »Drang zur Selbsttranszendierung« (ebd., S. 91). Dazu zählt auch die Vision des Post-Humanen selbst, die offensichtlich nicht nur eine spezifisch humane, sondern vor allem eine spezifische kulturelle Erscheinung der Gegenwart ist (ebd.; Krüger, 2004).

Ein neues »Unbehagen in der Kultur«? Die Pioniere der Medientheorie, so zum Beispiel Marshall McLuhan, haben schon lange vor dem globalen Siegeszug des Internets von einer Kulturrevolution im Zusammenhang mit neuen Medien und Datenübertragungsmöglichkeiten gesprochen, deren Reichweite und Konsequenzen immer noch kaum zu erahnen sind. Die Science and Technology Studies oder die Digital Humanities sind nur einige der neuen Forschungsrichtungen im Zusammenhang mit dieser Kulturrevolution. Digitalität und Virtualität sind nicht nur technologische Errungenschaften, die das Berufs- und Alltagsleben nachhaltig verändern, sondern verankern sich zunehmend als neue soziale Denk- und Deutungsmuster, wenn nicht sogar als neue Menschen- und Weltbilder. Zwar lässt sich noch nicht sagen, wie sich der Gegensatz zwischen Kultur und Individuum darin ausprägen wird, doch deuten sich bereits einige bemerkenswerte Entwicklungen an, die sowohl das Individuum als auch die Kultur in ihren bisherigen Formen obsolet machen könnten. Wir haben gesehen, dass sowohl bei Freud als auch bei Weber der Gegensatz »Mensch vs. Tier« bei der Bestimmung dessen, was Kultur ist, noch federführend war. In beiden Fällen fungierte »Tier« als eine Art »Referenzwert«, und nur im Gegensatz dazu weist die Welt des Kulturwesens Mensch Sinnhaftigkeit (Weber) oder Verschiebung der Triebziele und Einschränkung der Triebregungen (Freud) auf. Dieser »Referenzwert« gilt heute nicht mehr. In einer radikalen Formulierung tendieren die oben beschriebenen Strömungen gegenwärtig zu einer Alteritologie, einer 94

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»Vorstellung also, dass sich keine einzelnen Gattungen, Spezies und Rassen voneinander differenzieren lassen. Vielmehr, so die Konsequenz, leben wir in einem Universum, das von Alteritäten bevölkert ist, die für sich genommen so bunt und vielfältig sind, dass sie sich nicht in Schemata pressen lassen« (Loh, 2018, S. 182).

Auch diese radikale Vision formuliert ein Unbehagen in der Kultur. Ob eine »relationale Ontologie« (Karen Barad), in der »keine singulären, autarken Agenten existieren« (Loh, 2018, S. 150), sondern nur Relationen und Netzwerke, ob eine Welt der (humanen wie nonhumanen) Aktanten (Bruno Latour) oder der anti-essenzialistischen Subjekte (Rosi Braidotti) – alle diese Visionen rebellieren sowohl gegen Zwänge, die durch biologische Grenzen als auch durch semantische Unterscheidungen und kategoriale Festlegungen entstehen. Hier geht es um die Freiheit des »Nichtidentischen« (Theodor W. Adorno) in einem neuen Ausmaß: Nichts mehr soll biologisch, ontologisch wie kulturell festgehalten werden. Es entsteht mitunter der Eindruck, dass sich insbesondere Ontologien wie Kulturen wegen diverser Zwänge historisch betrachtet so sehr schuldig gemacht haben, dass ihre Abschaffung als ein sicheres Emanzipationsmittel daherkommt. In diese neue Vision passt allzu gut die Vorstellung von einem fließenden Übergang zwischen Materialität und Virtualität, zwischen Realität und dem Schein sowie zwischen menschlichem Bewusstsein und einer artifiziellen (errechneten) Intelligenz. Diesem Aspekt möchte ich etwas mehr Aufmerksamkeit widmen, weil sich gerade im Zusammenhang mit der oben betrachteten Kulturauffassung Freuds und einigen seiner Zeitgenossen hier eine besondere Wende andeutete. Wir haben gesehen, dass die Herkunft der Kultur jenseits der Ebene der Individualentwicklung bei Freud sehr vorsichtig angegangen wird, vor allem die Entstehung der Kultur aus spezifisch menschlichen psychischen Bedürfnissen eher unterbelichtet bleibt. Vielleicht aber schien es Freud auch zu offensichtlich, dass das Psychische die Herkunft des Kulturellen ist, als dass er diesem Gedanken viel Platz widmen wollte. Jedenfalls ergänzt um einige zeitgenössische Betrachtungsweisen legt der damalige Kulturbegriff nahe, dass das Psychische und die Kultur nicht wirklich voneinander zu trennen sind: Die kulturelle Produktion ist sowohl das Grundbedürfnis als auch die hauptsächliche Tätigkeit (man kann sagen: Lebensweise) des Psychischen. Und vielleicht kann man diesen Gedanken auch noch so fortführen, als dass die Freiheit, wie die Kultur, nur aus dem Psychischen, aus dem menschlichen 95

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Bewusstsein entstehen kann, genauer: nur aus der Wechselbeziehung von zumindest zwei Bewusstseinen. Manche der gegenwärtigen Vorstellungen vom eigenen Bewusstsein und den Eigenschaften wie Funktionen, die dem menschlichen Gehirn zugeschrieben werden, legen eine künftige Aufhebung der kategorialen Grenze zwischen Mensch (psychisch) und Maschine (digital) nahe. Ich möchte hier die These vertreten, dass diese vielfach in der SF-Literatur und den Medien antizipierte Aufhebung (das heißt die Angleichung von Gehirn und digitalen Technologien, die Suche nach einer für sie gemeinsamen – digitalen – Sprache und den Möglichkeiten der Übertragung des einen in das andere) auf die heute vielfach vorherrschende Naturalisierung der Psyche zurückzuführen ist. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür wären die Worte von Nobelpreisträger Francis Crick aus seinem Bestseller Was die Seele wirklich ist, in dem er argumentiert, dass Menschen aus neurowissenschaftlicher Sicht nichts als eine Ansammlung von Neuronen sind: »Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen« (Crick, 1994, S. 17). In Anschluss an Bennett und Hacker kann man mit Werbik und Benetka (2016) eine solche neurowissenschaftliche Argumentation einen Kategorienfehler oder einen mereologischen Fehlschluss nennen: »Die Mereologie ist die Logik der Teil-Ganzes-Relationen. Den Irrtum, den sich Neurowissenschaftler zuschulden kommen lassen, wenn sie den konstruierenden Teilen eines Lebewesens Attribute zuschreiben, die in logischer Hinsicht nur auf ganze Lebewesen zutreffen, werden wir den ›mereologischen Fehlschluss‹ in den Neurowissenschaften nennen. […] Von menschlichen Wesen, nicht aber von ihren Gehirnen, kann man sagen, dass sie rücksichtsvoll sind; von Tieren, nicht aber von ihren Gehirnen, und schon gar nicht von deren Hemisphären, kann man sagen, dass sie etwas sehen, hören, riechen und schmecken; von Menschen, nicht aber von Gehirnen, kann man sagen, dass sie Entscheidungen treffen oder unentschlossen sind« (Bennett & Hacker, 2012, S. 94; Hervorhebungen im Original).

Weder die Anatomie noch die Physiologie des Gehirns können Akte des Psychischen voll erklären. Exemplarisch ist hier das Konzept des »digitalen Humanismus« (Nida-Rümelin, 2019) zu nennen, das auf einer kate96

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gorialen Sonderstellung des Bewusstseins bzw. des Psychischen besteht. Neben vielen anderen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen (eine gute Übersicht findet sich bei Werbik & Benetka, 2016) wies bereits der australische Physiologe John  C. Eccles, Nobelpreisträger von 1963, unmissverständlich darauf hin, dass Bewusstsein nicht durch das materielle Funktionieren des Gehirns erklärt werden kann (Eccles & Popper, 1989). Allerdings tendieren die Neurowissenschaften, die ein starkes soziales Ansehen genießen und finanziell massiv gefördert werden, seit Jahrzehnten dazu, das Psychische mit den anatomischen und physiologischen Hirnkorrelaten, die der experimentellen Erforschung und Berechnungen zugänglich geworden sind, gleichzusetzen. Das kommt freilich einer Dystopie nahe. Das Dystopische in Bezug auf die Digitalität liegt weniger in der Antizipation von problematischen sozialen, politischen oder auch rechtlichen Folgen der Nutzung von KI, die noch weitgehend Fantasien sind. Vielmehr sind die bereits vorhandenen gegenwärtigen Ursachen des sozialen Denkund Deutungsmusters »Digitalität« dystopisch. Und zu diesen Ursachen zählt vor allem das verheerende Missverständnis von Gehirn und Psyche. Dieses auf der Naturalisierung des Psychischen begründete Missverständnis, so mein Argument, mündet gegenwärtig beinahe zwangsläufig in eine versuchte »Digitalisierung des Gehirns«, wenn dieses heute als eine Art Modell oder Vorbild für Computer Science und digitale Technologien fungiert. Für Loh liegt solchen transhumanistischen Bestrebungen eine »TrivialAnthropologie« (2018, S. 83) zugrunde, eine extreme Trivialisierung des Menschenbildes, nämlich die Vorstellung, dass alles Wesentliche, was das genuin Menschliche ausmacht, in Zahlen auszudrücken sei. Wahrscheinlich eben diese Trivialisierung hat die Streitschrift Kritik der Neuropsychologie von Werbik und Benetka (2016) im Visier, die der systematischen Naturalisierung des Psychischen durch die gegenwärtigen Neurowissenschaften gewidmet ist. Ich schließe mich dem Hinweis der beiden Autoren an, dass in einer solchen, unter anderem von Crick verfochtenen Reduktion des Psychischen auf Hirnvorgänge »die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit des Subjekts« eliminiert wird (ebd., S. 13). Setzt man den Argumentationsstrang der beiden Autoren angesichts der sich verbreitenden Logik der Digitalität fort, wird die Möglichkeit der Freiheit auch durch die Übertragung der Logik der Digitalität auf das menschliche Bewusstsein eliminiert. 97

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Von dieser Entwicklung sind sowohl das Individuum als auch die Kultur bedroht. Mit Hannah Arendt argumentiert in diesem Zusammenhang Loh (2018, S.  47), dass mit einer biotechnologischen oder digitalen »Erlangung der Unsterblichkeit […] unsere Auffassung vom einzigartigen, individuellen menschlichen Leben auf kurz oder lang zu einem nicht-individuellen, homogenen ›Gattungsleben‹ degenerieren« würde. Und so sehr manche Autoren in dem Drang zur Virtualisierung sowie in den Fortschritten der Biotechnologie ein altes Begehren nach Ewigkeit, nach einem Jenseits erkennen (Krüger, 2004), so sehr kann man feststellen, dass gegenwärtige Denkströmungen, die dem Post- und vor allem dem Transhumanismus zuzuordnen wären, die Vision einer Existenz (nicht unbedingt eines biologischen Lebens) jenseits der Todesangst und jenseits aller Triebe, vor allem aber jenseits der Sprache – und das heißt wohl auch: jenseits aller Kultur – verfolgen. Wenn man von Max Webers Kultur-Definition ausgeht, dann strebt der Posthumanismus in seinen mittlerweile zahlreichen Ausprägungen eine Aufhebung der sinnstiftenden und damit der kulturschaffenden Fähigkeit des Menschen an. Diese durchaus alarmistische Sichtweise der Dinge ist alles andere als neu. Wirft man wieder einen Blick in Texte von Simmel oder auch in Studien aus dem Bereich der Kritischen Theorie, erkennt man, dass die Warnungen vor der Vorherrschaft eines »rechnerischen Denkens« bzw. der instrumentellen Vernunft etwa so alt wie das Unbehagen in der Kultur Freuds sind. Wir wollen uns aber an dieser Stelle daran erinnern, dass auch die posthumanistischen und posthumanen Entwürfe nur kulturelle Produktionen – und offensichtlich eine neue Gattung von Utopien – sind. Diese haben eine wichtige kulturelle Funktion: »Die schärfsten Widersacher der geschichtlichen Abläufe sind die Utopisten. Sie legen sich quer zu den Zwängen und Notwendigkeiten. Sie wollen das Wahrscheinliche, von dem sie wissen, daß es unmöglich ist. Utopien gibt es für nahezu alle Bereiche des Lebens, sie scheitern ausnahmslos an ihrer Realisierung. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn Utopien, ob soziale oder technische, sind nicht auf Realisierung, sondern auf Verwirklichung angelegt: Sie wollen wirken, inspirieren und begeistern. Sie ver-rücken Menschen dermaßen von der festgefügten Realität, daß sie das Unmögliche wagen, um das Wahrscheinliche zu realisieren. Utopien sind der brisante Treibsatz der Kultur« (Lehmann, 1995, S. 275).

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Und das neue Unbehagen in der Kultur der posthumanistischen Visionen wird genauer erst in der Zukunft zu erforschen sein. Literatur Assmann, A. (2011). Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt. Assmann, J. (2000). Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Assmann, J. (2001). Tod und Kultur. In R.-M.E.  Jacobi, P. C.  Claussen  & P. Wolf (Hrsg.), Die Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie (S. 399−416). Würzburg: Königshausen & Neumann. Benetka, G. (2020). Psychoanalyse und Kulturkritik. In K. Acham (Hrsg.), Die Soziologie und ihre Nachbardisziplinen im Habsburgerreich. Ein Kompendium internationaler Forschungen zu den Kulturwissenschaften in Zentraleuropa (S.  628–634). Wien: Böhlau. Bennett, M. R. & Hacker, P. M. S. (2012). Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bühler, K. (1930). Die geistige Entwicklung des Kindes. 6. Aufl. Jena: Fischer. Crick, F. (1994). Was die Seele wirklich ist. München: Artemis & Winkler. Dahmer, H. (2012). Sozialer Zwang. In ders., Die unnatürliche Wissenschaft. Soziologische Freud-Lektüren (S. 29–42). Münster: Westfälisches Dampfboot. Eccles, J. C. & Popper, K. (1989). Das Ich und sein Gehirn. München u. a.: Piper. Ethni, H.-J. (2014). Ethik der Biogerontologie. Wiesbaden: Springer. Freud, S. (2018 [2009]). Das Unbehagen in der Kultur. In ders., Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften (S. 29–108). Frankfurt a. M.: Fischer Klassik. Gems, D. (2009). Eine Revolution des Alterns. In S.  Knell  & M. Weber (Hrsg.), Länger Leben? Philosophische und biowissenschaftliche Perspektiven (S.  25–45). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hübner, B. (2008). Die Nacht des Seins. Vierzig Jahre Denken, um nur noch schwarz zu sehen. Martin Heidegger. Wien: Passagen. Hülswitt, T. & Brinzanik, R. (2010). Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie. Berlin: Unseld. Krüger, O. (2004). Virtualität und Unsterblichkeit. Die Visionen des Posthumanismus. Freiburg im Breisgau: Rombach. Lehmann, G. K. (1995). Ästhetik der Utopie. Stuttgart: Neske. Loh, J. (2018). Trans- und Posthumanismus zur Einführung. Hamburg: Junius. Lorenzer, A. & Görlich, B. (2018 [2009]). Einleitung. In S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften (S.  7–28). Frankfurt a. M.: Fischer Klassik. Moebius, S. (2010). Kultur. Bielefeld: transcript. Müller, H.-P. & Steffen, S. (2014). Max Weber-Handbuch. Leben – Werk − Wirkung. Stuttgart, Weimer: J. B. Metzler. Nida-Rümelin, J. (2019). Digitaler Humanismus. MaxPlanckForschung, 2, 10–15.

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Anna Schor-Tschudnowskaja OECD (2018). Ageing and Employment Policies – Statistics on average effective age of retirement. http://www.oecd.org/els/emp/average-effective-age-of-retirement. htm (3.11.2020). Simmel, G. (1918). Der Konflikt der Kultur – ein Vortrag. München, Leipzig: Duncker & Humblot. https://socio.ch/sim/verschiedenes/1918/kultur.htm (15.2.2021). Simmel, G. (1987). Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In ders., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse (S. 116–147). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. UN (2018). World Population Prospects 2017. https://esa.un.org/unpd/wpp/DataQuery/ (3.10.2020). Weber, M. (1985). Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnisse. In ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 146–214). Tübingen: Mohr. Weinrich, H. (2004). Knappe Zeit: Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens. München: Beck. Werbik, H. & Benetka, G. (2016). Kritik der Neuropsychologie. Gießen: Psychosozial-Verlag. World Bank (2018). Data. Country Classification. World Bank Country and Lending Groups. https://datahelpdesk.worldbank.org/knowledgebase/articles/906519 -world-bank-country-and-lending-groups (3.10.2020). WHO (2015). World report on aging and health. http://apps.who.int/iris/bitstream/han dle/10665/186463/9789240694811_eng.pdf?sequence=1 (3.10.2020).

Biografische Notiz Anna Schor-Tschudnowskaja, Dr., Soziologin und Psychologin, ist derzeit Assistenzprofessorin an der Fakultät für Psychologie der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind sozialer Wandel in postsowjetischen Gesellschaften, soziale Erinnerung und utopisches Denken sowie aktuelle Theoriebildung in den Sozialwissenschaften.

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Politische Artikulationen des Unbehagens

»Political Correctness« Der Kampf um und gegen das Unbehagen Bekir Ismail Doğru

Einleitung »[M]an möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch ›glücklich‹ sei, ist im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (Freud, 1930, S. 434). Dieser melancholische Satz ist einer der populärsten aus Freuds Essay Das Unbehagen in der Kultur (1930). Was wie eine resignierte Abrechnung mit den Niederschlägen des Lebens wirkt, ist jedoch als metapsychologisch-philosophische Grundannahme menschlicher Kulturentwicklung schlicht die nüchterne und konsequente Fortführung und damit der Kulminationspunkt von Sigmund Freuds Neurosenlehre. Dieser Beitrag wird einige von Freuds Überlegungen aufgreifen, um sie als Interpretationsrahmen für den leidenschaftlichen Kampf um und gegen »Political Correctness« heranzuziehen. Ein Sammelband, der sich mit unterschiedlichen Aspekten des kulturbedingten Unbehagens auseinandersetzt, ermöglicht, die ansonsten notwendig detaillierte Rezeption des Freud’schen Textes auf ein für die Argumentation benötigtes Minimum zu reduzieren. Deshalb soll in diesem Beitrag grob auf drei Aspekte fokussiert werden: erstens auf die Grundthese, dass das Schuldgefühl untrennbar mit der Kulturentwicklung und der Genese des Ichs, genauer durch die Internalisierung der äußeren Autorität ins Innere als die regulierende Strafinstanz des Über-Ichs verwoben ist (vgl. ebd., S. 482f.). Zweitens darauf, dass die Kultur als Resultat unterdrückter Triebauslebung sowohl anteilig ursächlich als auch durch kulturell geformte Regularien hemmende Instanz für die Aggressionsneigung ist und drittens darauf, dass der unsägliche Lohn für ein »sittliches« Individuum, das rechtschaffend dem Druck der allwissenden inneren Autorität folgend Triebverzicht übt, ein anwachsendes Schuldbewusstsein ist (vgl. ebd., S. 485). Diese drei 103

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te sollen zunächst in ihrem inhärenten Zusammenhang ausgeführt werden, um sie anschließend mit gegenwärtigen Phänomenen am Beispiel der Attraktivität der »Political Correctness« als Technik der Aggressionsbewältigung und am Beispiel »kulturfeindlicher« »neurechter« Bewegungen sowie ihrer Ausdrucksformen zu konkretisieren.

Kultur: die Notwendigkeit des Unbehagens Zunächst greift Freud in Das Unbehagen in der Kultur den klassischen kulturtheoretischen Topos auf, »daß das Wort ›Kultur‹ die ganze Summe der Leistungen und Richtungen bezeichnet, in denen sich unser Leben von denen unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander« (ebd., S.  448f.). Dabei zielt das Glücksstreben des Menschen im vermeintlichen Einvernehmen mit der Kultur auf die Erfüllung des Lustprinzips, sowohl der »Abwesenheit von Schmerz und Unlust« (ebd., S. 434) als auch dem »Erleben starker Lustgefühle« (ebd.). Aber wie bereits der Eingangssatz bezeugt, ist die Erfüllung des Lustprinzips mit drei unumgänglichen, leiderzeugenden Hindernissen konfrontiert: dem Verfall des eigenen Körpers, der bedrohlichen und übermächtigen Außenwelt und der Unlust »aus den Beziehungen zu anderen Menschen« (ebd.). Die Menschheit habe durch ihre wissenschaftlichen Methoden, technischen Instrumente und institutionalisierten Einrichtungen in ihren gesellschaftlichen Beziehungen enorme Fortschritte bei der Beherrschung dieser natürlichen und sozialen Gefahrenquellen gemacht, aber der durch jene Techniken zu einem »Prothesengott« mutierte Mensch fühle »sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich« (ebd., S. 451). Dieses verspürte Unglück in der Sicherheit der Kultur – das bei nicht wenigen den Wunsch hervorruft, in »primitive Verhältnisse zurückzufinden« (vgl. ebd., S. 445) – führt Freud zurück auf den repressiven Ursprung jeder Kulturleistung: dass die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist und dass »die Nicht-Befriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat« (ebd., S. 457). Jedoch reicht es Freud nicht aus, den repressiven Charakter der Kultur in ihrem Ursprung im Sexualtrieb festzustellen, weshalb er auf das destruktive Potenzial der Menschengattung verweist, das sich in seinen vielfältigen grauenvollen Formen der Gewaltausübung gegen Mitmenschen 104

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zeigt: »Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?« (ebd., S. 471). Hier nun verweist Freud auf den Widerpart des Eros, den Todestrieb, der sich als nach außen gerichtete Aggressionsneigung zeigt, gegen den die Kultur alles aufbieten muss, »um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. Daher also das Aufgebot von Methoden, die die Menschen zu Identifizierungen und zielgehemmten Liebesbeziehungen antreiben sollen, daher die Einschränkung des Sexuallebens und daher auch das Idealgebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft« (ebd., S. 471).

Somit wird auch der Aggressionstrieb zum Erhalt der Gemeinschaft durch die Kultur sowohl auf Kosten des Individuums (durch die verhinderte Triebauslebung) als auch für dessen Schutz (zum Schutz vor den Aggressionen seiner Mitmenschen) unterdrückt. Doch wohin wird diese verhinderte Aggression gelenkt? Freud verweist auf deren ursprüngliche Herkunft: »Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ›Gewissen‹ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen läßt« (ebd., S. 482f.).

Daher also das Unbehagen in der Kultur. Das Ich ist nicht bloß genötigt, den Vorgaben der Realität entsprechend sowohl sein Streben nach Lust sozialkonform umzugestalten als auch seine Aggressionsneigung gegenüber seinen Mitmenschen zu bändigen, sondern es wird durch das Über-Ich, das im Gegensatz zur anfänglich äußeren Autorität alles sieht und keinen 105

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Unterschied kennt zwischen »Böses tun und Böses wollen« (ebd., S. 484), belagert. Diese internalisierte Autorität peinigt das Ich noch mit Schuldgefühlen für den letzten geheimen Wunsch und Gedanken. Jener Prozess nun, also die Verlagerung der Autorität ins Innere und damit die Triebunterdrückung aus Angst vor Liebesverlust der äußeren Autoritäten, deren Liebe Sicherheit und der Verlust jener Liebe Bedrohung bedeutet, erzeugt das Gewissen, das nun beständig den Triebverzicht fordert. Was Freud hier entwirft, ist somit ein untrennbar in die Kultur verwobener dynamischer Prozess, in dem die durch den Todestrieb beständig schwelende Aggressionsbereitschaft sich durch das Über-Ich gegen das Subjekt richtet, und dies umso vehementer, je strikter dem Verzicht zur Ausübung der Aggression nachgekommen wird. Für die Abwendung des von außen drohenden Unglücks wurde mit dem Unglück im Inneren bezahlt. Das erstaunliche Paradox des Unbehagens der Kultur pointiert er in seiner Feststellung folgendermaßen: »Es benimmt sich nämlich um so strenger und mißtrauischer, je tugendhafter der Mensch ist, so daß am Ende gerade, die es in der Heiligkeit am weitesten gebracht, sich der ärgsten Sündhaftigkeit beschuldigen« (ebd., S. 485). Diesen Ausführungen Freuds folgend, soll aufgezeigt werden, wo die leidenschaftliche Gegner:innenschaft gegen »political correctness« bei Rechten herrühren könnte und wie die Attraktivität der »politischen Korrektheit« vor dem Hintergrund der Freud’schen Annahmen verstanden werden kann.

Die Attraktivität von (Anti-)PC: dystopische Triebbefreiung versus Ideal der schuldbewussten Sittlichkeit »Wir und damit unsere Ideen sind heute immer noch ›draußen‹, in der Rolle des metapolitischen Belagerers und Partisanen. Wir belagern die Festung ›Political Correctness‹ und versuchen, die emotionale Barriere zu überwinden, die man um sie gezogen hat.« Sellner (2016)

Es braucht keine Belege mehr, um die Feindschaft der Rechten gegen das, was sie als »Political Correctness« bezeichnen, zu bezeugen. Die angeblichen »Maulkörbe« durch politisch korrekte Sprechweisen, wie sie im 106

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rechten Diskursraum imaginiert werden, basieren wie viele der Feindbilder der Rechten auf realen Veränderungen der gesellschaftlichen Realität und des sozialen Diskursrahmens: Diskriminierende oder verletzende Aussagen können in Teilen westlicher Demokratien Folgen für die Sprecher:innen haben, die durch emanzipative soziale Kämpfe errungen wurden. Nicht oft und selten gegen Personen an ökonomisch machtvollen Positionen, wie es sich bei Harvey Weinstein infolge der #metoo-Debatten zugetragen hat, und lokal meist auf urbane Zentren begrenzt. Reale Anteile dieser progressiven Entwicklung werden somit, je nach Intention, bewusst oder unbewusst durch rechte Agitator:innen und ihre Anhänger:innenschaft zu einer bedrohlichen Gefahr überhöht. Kurzum: Aus der Mücke des Versuches einer diskriminierungsfreien Sprachpolitik wird in dem rechten Phantasma ein tiefroter »kulturmarxistischer« Elefant. Es gibt nicht viele Gründe, die Texte rechtslastiger Autoren zu lesen, aber wie das vorangestellte Zitat aufzeigt, präsentieren sie bereitwillig ihre politischen Intentionen. Insbesondere die Identitäre Bewegung mit ihrer österreichischen »Führungsfigur« Martin Sellner bietet tiefgreifende Einblicke in die strategische Ausrichtung der »Neuen« Rechten. Ihnen geht es vordergründig weder um das Verprügeln von »Ausländern« noch um kurzfristige Wahlerfolge, ein Bestreben, das Sellner abfällig Parlamentspatriotismus nennt. Die Alternative sei »die Kulturrevolution von Rechts [sic!]. Es ist die vielfältige und gemeinsame Arbeit von Gegenkultur, Theoriebildung, Aktivismus und Bewegung einer ›Mosaikrechten‹, die nicht auf einen kurzfristigen Wahlsieg, sondern auf eine langfristige Überwindung des ideologischen Staatsapparats abzielt« (Sellner, 2020). Es geht ihnen um die Erlangung der Hegemonie im öffentlichen Diskurs zur Etablierung einer Gegenkultur, die »die politisch korrekten Barrikaden, Sprachbarrieren und Denkverbote wegfegt« (Sellner, 2016). Folgen wir den Annahmen Freuds, erschließt sich ein Blickwinkel auf den Hass gegen »Political Correctness« (PC) und jene Menschen, die damit identifiziert und abschätzig als »Social Justice Warriors« (SJW) bezeichnet werden. Dafür ist es jedoch erst einmal nötig, sich dem Gegenstand der PC-Kultur und der mit ihr verbundenen theoretisch-aktivistischen Weltanschauungen bzw. ihrer Attraktivität für sich als linke oder linksliberal verstehende Personen zu nähern, deren politische Positionierung oft durch identitätslogische Kategorien geprägt ist. Die Betrachtung der Erscheinungsformen des »linken« Aktivismus ist deswegen bedeutend, da nur wenigen Menschen außerhalb linker und links-akademischer 107

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Debatten die teilweise scharfen (oft theoriegeleiteten) Trennlinien im Sammelsurium linker Bewegungsformen bekannt sind. Die Rezeption dieser heterogenen und bis zur Unkenntlichkeit vergrößerten abstrakten politischen Identitätskategorie »Links«, die in Deutschland (und nicht nur dort) selbst feindlich gegenüberstehende Gruppen umfasst, wie antiimperialistische BDS-Unterstützer:innen, »ideologiekritische« Migrationskritiker:innen, russlandbegeisterte Querfrontler:innen, sozialdemokratische Parteipolitiker:innen, aber auch »autonome« antifaschistische und feministische Gruppen, werden in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft, insbesondere bei rechtsaffinen Personen und Nachrichtenagenturen, als miteinander kooperativ agierende Strömungen interpretiert, welche grundsätzlich dieselben Ziele verfolgen würden. Eine solche, in der Öffentlichkeit als exemplarisch als »Linke« wahrgenommene politische Formation ist die aktivistische antirassistische Bewegung des »Critical Whiteness« (CW). »Critical Whiteness« ist als »schwarze« Kritik an den in feministischen Diskursen und der von »weißen« Frauen dominierten Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre in den Vereinigten Staaten entstanden. Als Ausgangspunkt gilt das von Kimberlé Crenshaw (1989) entworfene Konzept der Intersektionalität, das – entgegen einer binären Sicht patriarchaler Gewalt – die Pluralität der Erfahrung von Frauen anhand des Zusammenwirkens unterschiedlicher Marker wie Rassismus, Sexismus und Klassismus und der damit verbundenen Diskriminierung hervorhob (vgl. Crenshaw, 1989, S. 154). Die damit verbundene Erkenntnis war, dass noch immer »Weiße« das Normsubjekt auch in progressiven Bewegungen repräsentierten, wodurch abweichende Erfahrungen nicht berücksichtigt und die als gegeben (nicht-)wahrgenommenen Privilegien nicht erkannt wurden. Das Ausblenden der mit dem »Weißsein« verbundenen Vorteile führte Peggy McIntosh bereits 1989 auf die Sozialisierung der »Weißen« zurück: »As a white person, I realized I had been taught about racism as something which puts others at a disadvantage, but had been taught not to see one of its corollary aspects, white privilege, which puts me at an advantage« (McIntosh, 1989). Damit wurde ein Perspektivwechsel vollzogen, in welcher nicht die von Rassismus Betroffenen in den Fokus der Betrachtung gerückt wurden, sondern die offenen und subtilen Herrschaftspraktiken in der Normalität der »Whiteness« als Dominanzkultur (vgl. Tißberger, 2017, S. 90). Mittlerweile hat sich Critical Whiteness zugleich als Forschungsprogramm und antirassistische Praxis etabliert, das laut Martina Tißberger (2017) das Anliegen hat 108

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»ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie die einzelnen Subjekte in ihrem Alltag in die rassistische Gesellschaftsmatrix verstrickt sind und dort bewusst und unbewusst Rassismus (re-)produzieren. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Weißsein* und Whiteness als machtvollem Signifikanten des kulturellen Symbolischen rassistischer Dominanzkulturen geht also über einzelne antirassistische Aktivitäten hinaus. Es gibt keine ›Komfortzone‹ mehr« (ebd., S. 91).

Jedoch soll sich im Folgenden nicht auf die notwendigerweise differenzierte Kritik der zentralen Prämissen des Konzepts fokussiert werden, sondern auf die Attraktivität des Ansatzes als sowohl »empowernder« als auch »lähmender« Aktionsform, die es ermöglicht, (berechtigte) Aggressionen entlang identitärer Selbstpositionierung unterschiedlich auszutarieren. Für Massimo Perinelli (2019) ist die breite Adaption von Critical Whiteness in Deutschland das Resultat des Zerfalls antirassistischer Bewegungen in den späten 90er Jahren, welche eng mit weltpolitischen Veränderungen, insbesondere den islamistischen Anschlägen und den damit verbundenen antimuslimisch-rassistischen Artikulationsformen, verwoben sind. Die dadurch entstandenen Risse in der antirassistischen und feministischen Arbeit wären nun, unter Ausblendung der Arbeiten hiesiger proletarischer Migrant:innen, durch Theorieansätze aus den USA geglättet worden, die laut Perinelli ungeeignet seien, den Rassismus im deutschen Kontext adäquat zu beschreiben und zu bekämpfen (vgl. Perinelli, 2019, S. 81ff.). Die damit übernommenen Kategorien der »Schwarz-Weiß-Dichotomie«, die die Erkenntnis über das ökonomisch-soziale Verhältnis des Rassismus in den USA erweitert hätte, habe im deutschen linken Diskurs »zwischen Schwarzköpfen und schwarzer Haut eine Spaltung evoziert« (ebd., S. 86) und zu ungewollter Hierarchisierung der unterschiedlichen von Rassismus betroffenen Gruppen geführt (vgl. ebd.). Auch wenn Rassismus im Critical Whiteness strukturell gedacht werde, sei die Konsequenz ein reduktionistisch auf individuelle Sprechakte und Verhaltensformen fokussierender Aktivismus: »Was bleibt ist eine überall zu beobachtende neoliberale Innerlichkeit, die von gesellschaftlicher Veränderung nichts mehr wissen will, sondern nur noch von Ausgrenzung spricht, weil sie das Individuum gar nicht mehr als gesellschaftlich stratifiziert denken kann, sondern nur noch als individuell

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positioniert. Die penetrante Frage ›Wo bin ich rassistisch, wo bin ich weiß, wo werde ich übersehen, wo bin ich privilegiert, wo bin ich traumatisiert, wie rede ich, wie wird mit mir geredet, wie bewege ich mich, wie wirke ich auf jemand anderes, wie fühle ich mich gegenüber den anderen?‹ bedeutet eine permanente Selbstergründung und -optimierung, die das Universelle nicht mehr zu denken vermag« (ebd., S. 87).

Die Konsequenz sei ein paternalistischer Kontrollzwang einer selbstoptimierenden akademischen Avantgarde, die Privilegien, die der gesellschaftlichen Struktur entspringen, zu individuellen Verfehlungen umdeute, um durch repressive Maßnahmen und Schuldzuweisungen die Kränkungen der Gesellschaftsstruktur abzuweisen. Im Kern handelt es sich hierbei jedoch um eine pseudoradikale Verzweiflungstat: Das der übermächtigen gewalttätigen Struktur der Gesellschaft gegenüberstehende ohnmächtige Subjekt ist auf sich zurückgeworfen. Wenn sich schon nicht die rassistischen Strukturen ändern, das ökonomische Ausbeutungsverhältnis überwinden und sich machtvollere sozio-politische Positionen aneignen lassen, so bleiben das »Selbst« und der greifbare Nahbereich, der sich anhand ähnlicher politischer Sozialisation den Überzeugungen und »Spielregeln« des Milieus unterwirft. Wenn diese  – hier nun selbstverständlich verkürzte  – Beschreibung zutrifft, wie lässt sich die anhaltende Attraktivität jenes teils repressiven Aktivismus sozialpsychologisch erklären? Charlotte Busch (2019) verweist auf die Abwehr der eigenen Vergesellschaftung: Statt sich durch die Erfahrung des geteilten Elends zu solidarisieren – welches sich selbstverständlich je nach den Lebensbedingungen massiv unterscheiden kann –, berufen sich Teile des linken Aktivismus auf das einzig Authentische, das als Quelle narzisstischer Selbstaufwertung bleibt, nämlich die Flucht in die »Authentizität« des individuell-subjektiven Opferstatus, der vermeintlich individuellen Beschädigung. Sie bewahrt ihre Träger:innen vor der eigenen nach innen gerichteten Aggression des Über-Ichs, und von »den Genoss_innen [wird] darüber eine Befriedigung der narzisstischen Lust verlangt, anders zu sein« (Busch, 2019, S. 43). Das Eingeständnis in die allgemeine Zurichtung durch die gewalttätige Vergesellschaftung bedroht dieses Refugium der betonten partikulären Beschädigung und Benachteiligungen, das sich in äußeren identitären Differenzen beschreiben und durch die Betonung der Betroffenheit anklagen lässt. Der Bruch im Subjekt durch dessen Nichtidentität gerinnt zur absoluten unversöhn110

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lichen Differenz formalisierter massentauglicher Identitäten: Das »Authentische« besteht in der Addition individuell gedeuteter Verschränkungen von Schablonen gesellschaftlicher Diskriminierung – eine durch die Adaption starrer Lehrsätze über gesellschaftliche Gewaltverhältnisse betreute Selbsterkenntnis, die vor der Einsicht in die geteilte Erfahrung bewahrt. Die Konsequenz ist, dass die Aggression sich allzu selten gegen jene mächtigen Agenturen der Gesellschaft richtet, die jene Beschädigungen erzeugen oder begünstigen, sondern »empowernd« in »harmlosen«1 Dosierungen im »Narzissmus der kleinen Differenz« gegen den sozialen Nahbereich als Selbstvergewisserung (vgl. Freud, 1927, S. 474). Oder in jener nach innen gerichteten Aggression des Über-Ichs in Form des Schuldbewusstseins, das nicht bloß strafende, sondern auch diese Realität abweisende und damit schützende Instanz2 ist, indem das Ich durch die Betonung der aufgeladenen Schuld in die Verwobenheit der schlechten gesellschaftlichen Totalität verhindert wird, aktiv zu werden. Passivität in der Pseudoreflexion, die ausschließlich der partikularen Erfahrung Erkenntnis zuspricht, wird zum Aktivismus erhoben: »Ich gehöre nicht zur Gruppe X, also kann ich zu Y nichts sagen.« In beiden, zuweilen im Mischverhältnis auftretenden Fällen ist die Gefahr gebannt, welche durch die Identifizierung droht: gar nicht so besonders im Ange1

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Harmlos soll hier nicht bezeichnen, dass es keine Konsequenzen für die Betroffenen haben kann. Im Gegenteil, gerade in einem Milieu, welches sich über die geteilten politischen Überzeugungen definiert, können divergente politische Standpunkte, insbesondere wenn diese zu formalisierten Aussagen geronnen sind, zur sozialen Isolation führen oder eine konstruktive Diskussion im Vorfeld unterbinden. Charlotte Busch pointiert jenen Effekt wie folgt: »Das Damoklesschwert potenzieller Verletzbarkeiten führt zu einem Rückzug aufs Eigene, einem beredten Schweigen von sich misstrauisch beäugenden Genoss_innen« (Busch, 2019, S. 44). Freud beschreibt in seiner Schrift «Der Humor» jenen paradoxen Vorgang des Über-Ichs als schützende Instanz: »Wir erhalten also eine dynamische Aufklärung der humoristischen Einstellung, wenn wir annehmen, sie bestehe darin, daß die Person des Humoristen den psychischen Akzent von ihrem Ich abgezogen und auf ihr Über-Ich verlegt habe. Diesem so geschwellten Über-Ich kann nun das Ich winzig klein erscheinen, alle seine Interessen geringfügig, und es mag dem Über-Ich […] leicht werden, die Reaktionsmöglichkeiten des Ichs zu unterdrücken« (Freud, 1927, S. 387). Es ist anzunehmen, dass eine solche, die Handlungsfähigkeit des Ichs durch den Verweis auf dessen Verfehlungen durch identitäre Zugehörigkeit herabsetzende Funktion des Über-Ichs auch hier anzutreffen sein wird, die aber in letzter Konsequenz das Ich vor der Wirklichkeit und Verantwortung abschirmt und diese tatsächlich als politische Praxis moralisch rechtfertigt.

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sicht der feindlichen äußeren gesellschaftlichen »Naturgewalt« zu sein und dass die Überwindung mehr verlangt als den aktivistischen Sprachfokus. Genau hier liegt die Crux, da insbesondere linker Aktivismus prädestiniert ist für jene einsatzlose narzisstische Prämie, indem durch die (mikro-) aggressive Wiederholung von entkontextualisierten Erkenntnissen relativ ungefährlich Anerkennung generiert werden kann. So ist der Beifall der Community der »Woken«, also derer, die für sich beanspruchen, in diesem Sinne ihre Privilegien reflektieren, denen sicher, die den Personen, die mit geflüchteten Menschen arbeiten, entgegenhalten können, dass die Bezeichnung »Flüchtlinge« rassistisch und dehumanisierend sei oder Deutschkurse für Kinder aus solchen Familien doch bloß das fetischisierte Integrationsparadigma3 bedienen würde. Adorno verwies auf diese aus der subjektiven Ohnmacht geborene narzisstische Selbstaufwertung in seiner Abhandlung zur »Theorie der Halbbildung«: »Subjektiv ist der Mechanismus, der das Prestige einer nicht mehr erfahrenen und kaum überhaupt mehr gegenwärtigen Bildung und die verunglückte Identifikation mit ihr befördert, einer von kollektivem Narzissmus. Halbbildung hat das geheime Königreich zu dem aller gemacht. Kollektiver Narzissmus läuft darauf hinaus, daß Menschen das bis in ihre individuellen Triebkonstellationen hineinreichende Bewusstsein ihrer sozialen Ohnmacht, und zugleich das Gefühl der Schuld, weil sie das nicht sind und tun, was sie dem eigenen Begriff nach sein und tun sollten, dadurch kompensieren, daß sie, real oder bloß in der Imagination, sich zu Gliedern eines Höheren, Umfassenden machen, dem sie die Attribute alles dessen zusprechen, was ihnen selbst fehlt, und von dem sie stellvertretend etwas wie Teilhabe an jenen Qualitäten zurückempfangen. Die Bildungsidee ist dazu prädestiniert, weil sie – ähnlich wie der Rassenwahn – vom Individuum bloß ein Minimum verlangt, damit es die Gratifikation des kollektiven Narzissmus gewinne« (Adorno, 1990, S. 114).

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Gerade in solchen Verkürzungen von wichtigen Debatten liegt eine Gefahr für die marginalisierten Personengruppen, indem die gesellschaftsanalytische Erkenntnis, dass die deutsche Sprache als »Integrationskeule« gegen Migrant:innen instrumentalisiert wird, in eine Praxis umgesetzt wird, die die Realität ausblendet, dass der Sprachschatz und die Artikulationsfähigkeit oft das einzige Mittel der Gegenwehr unter anderem gegen die Willkür in Behörden oder im Umgang mit Rassist:innen ist.

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Die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit, die Freud doch gerade so betont und die von jedem und jeder verlangt, mit diesen Ambivalenzen umzugehen, kann ausgeblendet werden. Das Dilemma muss nicht bearbeitet, sondern kann hauptsächlich sprachlich überlagert werden. Hier zeigt sich nun auch der Grund für die bereitwillige Adaption eines politisch korrekten Sprachschatzes als den zentralen politischen sozialen »Kampf« in Teilen der liberalen Mehrheitsgesellschaft: Die Probleme der kapitalistischen Gesellschaftsform können unangetastet erhalten bleiben und die auf Ausbeutung basierenden materiellen Segnungen können zum Preis einer kollektiv vorgegebenen, aber individuell vollzogenen Sprachanpassung4 sogar mit einem narzisstischen Zugewinn weiter genossen werden5. 4

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Erneut soll darauf verwiesen werden, dass es nicht um die Bemühungen einer diskriminierungsfreien Sprache geht – diese ist selbstverständlich lobenswert –, sondern um aktivistische Ausdrucksformen, die bereitwillig formalisierte »Erkenntnisse« bruchlos als umfassende Erklärung sozialer Phänomene übernehmen. Das führt zu fragwürdigen Konstellationen, in welchen unter anderem Muslim:innen, die über ihre Erfahrung ihrer persönlichen Emanzipationsgeschichte und über ihre Probleme in ihren »Communities« berichten, mit Rassismusvorwürfen überzogen werden, da nicht der spezifische Kontext der Begriffe, die »Sprecher:innenorte« und die Orte, an denen die Äußerungen getätigt werden, berücksichtigt werden. So werden dann Veranstaltungen von Wissenschaftler:innen zur mehrdeutigen Konnotation des Kopftuchs, an denen muslimische und nicht-muslimische Podiumsmitglieder teilgenommen haben, durch studentische, mehrheitlich »autochthone« Personen verhindert (vgl. Nicolai, 2020). Problematisch ist ein solcher Aktivismus nicht ausschließlich wegen seiner beruhigenden affirmativen Wirkung auf Subjekte, da diese sich durch jene Ersatzhandlungen den drängenden soziopolitischen Schieflagen entziehen und über die Betonung von Betroffenheiten Anerkennung generieren können. Ein weiterer Aspekt zeigt sich in der medialen und der konservativen/rechten Rezeption. Ein Beispiel ist die Kontroverse um das Plakat des »National Museum of African History & Culture« mit dem Titel »Whiteness«, das in 14 Kategorien Aspekte der weißen Dominanzgesellschaft darstellt und damit eine Diskussionsgrundlage bereitstellen wollte. Neben Hinweisen auf westliche Geschichtsschreibung aus der Erfahrung europäischer Migrant:innen, das Fortwirken protestantischer Arbeitsmoral oder die bürgerliche Kleinfamilie als Norm werden auch unvermittelt Aspekte benannt, deren Konstruktionscharakter selbst einem akademischen Publikum Schwierigkeiten bereitet, da diese einerseits weder selbsterklärend sind und andererseits universalistischen Annahmen widersprechen. So werden »Höflichkeit«, »Entscheidungsfähigkeit«, »das Befolgen von Zeitvorgaben«, »objektives, rational-lineares Denken« oder grundsätzlich positivistisch-naturwissenschaftliche Methoden verkürzt schlicht als Aspekte weißer Dominanzkultur dargestellt. Ein »Skandal« war geboren, der bereitwillig und medienwirksam durch konservative politische Kräfte dramatisiert werden konnte, insbesondere um die »Black Lives Matter«-Proteste infolge des durch

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Jene linke Aktionsformen stehen damit dem »Bürgerlichen« näher, als sie es sich in ihrem Autoritätsprotest eingestehen möchten. Die Aggression wird auch hier durch die aufgeladene Schuld gegen das Ich gerichtet und geschwächt, die durch das Ventil kultureller Techniken in kleinen Dosen »ungefährlich« abgeführt werden kann. Die vorherrschende repressive Realität bleibt weitgehend unangetastet und die an der harmonischen Illusion miteinander Identifizierten können sich zu den Glücklichen zählen, die Guten zu sein, weil sie die Gewalt des Schlechten in weiten Teilen kaum kennen. Diese Form des linken Aktivismus potenziert sich in der öffentlichen Wahrnehmung durch ihren Austragungsort, die Sozialen Medien. Die bereits in der theoretischen Beschäftigung vollzogene Verkürzung steigert sich in Teilen des antirassistischen und feministischen Onlineaktivismus und in den Beschränkungen der Plattformen zu einer Essenz von Klischees, die dementsprechend den Widerspruch nicht oder nur durch die Betonung der eigenen identitären Marker, wie der Sexualität, der geschlechtlichen Orientierung, der Ethnie oder religiösen Zugehörigkeit, dulden. Von außen wirkt das, was einst als Hort sexueller Befreiung und Protest gegen die uneingelösten Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft galt, lustlos und streng, wie eine Bewegung, die den Fehler wittert, um ihn stellvertretend zu verfolgen. Jenes hier kritisierte Strafbedürfnis und die rigiden Ausformungen der politischen Korrektheit stehen jedoch im Dienste des repressiven Eros und damit der Kultur: Es will die Aggressionsneigung des Menschen gegen sich selbst richten und ihn damit entwaffnen – die Fortführung des kulturellen Unbehagens zum Selbsterhalt. Demgegenüber formieren sich zunehmend alte kulturfeindliche Positionen im neuen Gewand: eine humoristisch ausstaffierte »Neue« Rechte. Ihnen geht es nicht um das »Für und Wider« im politischen Diskurs, das jenes Maß der notwendigen Triebunterdrückung versucht auszuloten, welches unter den gegebenen realen gesellschaftlichen Bedingungen gestattet ist oder es sein sollte. Der »Neuen« Rechten geht es um die Mobilisierung der aggressiven und hasserfüllten Affekte, eben jene, die aus der objektiven Struktur entspringen und sich psychologisch manifestieren polizeiliche Gewaltausübung getöteten Afroamerikaners George Floyd zu diskreditieren (vgl. Richardson, 2020). Zahlreiche Akteure des rechten politischen Spektrums, wie Ben Shapiro und Byron York, haben das Schaubild geteilt und zur Verbreitung beigetragen.

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und, wenn sie sich gegen das Subjekt richten, dessen Gefühl der Ohnmacht und Unzulänglichkeit zeitigen. Auf jene Dispositionen haben es die Agitator:innen der faschistischen Propaganda abgesehen, die es ihnen durch den lancierten Kulturkampf ermöglicht, Individuen zur Masse zu regredieren. Ein prominentes Mitglied der rechten »Online-Community« ist der Comedian, Aktivist und Mitbegründer von Vice Media und dem rechtsextremen Männerbund »Proud Boys«6, Gavin McInnes. In dem emotionalen »Werbevideo« der Bewegung richtet sich McInnes explizit an junge Männer, indem er sich wie ein erfahrener großer Bruder7 (situativ mal im Anzug und mal in punkigem Outfit) frontal an sein Publikum wendet und ihnen verspricht, sie »fixen« zu können. Wovon er sie erretten kann, wird in der ersten Hälfte des Videos deutlich, in der er seine »Problemdiagnose« der gegenwärtigen Gesellschaft vorträgt. Wie andere reaktionäre Entfremdungserzählungen prognostiziert er eine sich in Zerfall befindliche Gesellschaft, die nur durch eine nostalgisch ver6

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Die Bewegung der »Proud Boys« ist eine diverse rechtsextreme Organisation mit einer unbekannten Anzahl von ausschließlich männlichen Mitgliedern, insbesondere in den USA und Kanada. Kernbestandteile der Ideologie sind biologistische Geschlechterbilder, Trans- und Frauenfeindlichkeit, rassistische und islamfeindliche Positionen. Antisemitismus wird meist aus strategischem Interesse bei Muslim:innen identifiziert, obwohl beständig antisemitische Denkformen öffentlich artikuliert werden. Besondere Aufmerksamkeit erhielt die Bewegung im US-Wahlkampf, bei dem sie gewalttätig und militarisiert auftraten. Der abgewählte amerikanische Präsident Donald Trump hatte sich im TV-Duell nur zögernd von den »Proud Boys« mit den Worten »stand back and stand by« distanziert, was in den sozialen Netzwerken von den Anhängern als Zustimmung gedeutet wurde (ADL, 2020b). Herbert Marcuse verwies in seinen Pariser Vorträgen bereits auf die veränderten politischen Führerfiguren, deren Beschreibung heute wohl weit mehr zutreffen als in seiner Anwendung auf Nixon: »Wenn Sie sich die politischen Führer heute anschauen, ist es offensichtlich – zumindest ist es offensichtlich für mich –, dass Nixon selbst in den kühnsten Träumen keine Vaterfigur genannt werden kann. Dafür gibt es viele Gründe. Der Vater, wie ich soeben aufgezeigt habe, ist eine moralische Persönlichkeit. Er selbst spielt nach den Regeln. Der Vater ist jemand, auf den man sich verlassen kann, der das Kind oder den Jugendlichen beschützen kann. All diese Qualitäten vereinen die politischen Anführer nicht mehr in sich. Wenn sie keine Vaterfiguren mehr sind, was sind sie dann? Ich würde sagen, dass sie weit mehr Bruderfiguren sind, der größere Bruder, der erfolgreichere Bruder. Und sie sind die Erweiterung und Verlängerung der Macht des Gangleaders, des Anführers in Straßengangs, im Sport, dem Bandleader, oder wo auch immer. Diese Bilder haben das Vaterbild ersetzt« (Marcuse, 2017, S. 74).

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zerrte, in die Zukunft projizierte Vergangenheit bewahrt werden kann. Neben den alten bekannten Feindbildern, wie dem Feminismus, dem »Multikulturalismus« usw., präsentiert er seine »Zehn Gebote«8, um die Vereinigten Staaten wieder in einen »gesunden« und »natürlichen« Zustand zu versetzen. Seine Vorstellungen laufen auf zwei Positionen zusammen: erstens eine vulgär-anarchische Gesellschaftsordnung, in der die Freiheit des Individuums absolut gesetzt ist. Eine Vorstellung von Autonomie, die befreit ist von äußeren, jene vollständige Unabhängigkeit störenden kulturellen, gesellschaftlichen und moralischen Institutionen. Die Öffentlichkeit soll somit entpolitisiert und durch miteinander rivalisierende, jedoch sich ebenbürtig begegnende »Bruderfiguren« bestimmt sein, die sich in ihrem Wirtschaftsinteresse auf einem von jeglicher Regulierung bereinigten Markt begegnen, wobei sich nur »the fittest«, ganz im Sinne sozialdarwinistischer Deutung, erfolgreich durchsetzen. Zweitens eine Vitalisierung der bürgerlichen Kleinfamilie, in der die »natürliche« Geschlechterordnung – der Vater als Oberhaupt, die Mutter als verehrte Hausfrau – wiederhergestellt ist. Dem zugrunde liegt ein ideologisch verzerrtes Welt- und Geschichtsverständnis, in dem der technologisch-gesellschaftliche »Fortschritt« das Resultat mutiger Männer und liebevoller Frauen sei. Es ist somit der Gegenentwurf zur Erkenntnis, dass das Private nicht einer ontologischen Gesetzmäßigkeit entspringt, sondern politisch und damit teil kultureller, insoweit veränderbarer Praktiken ist. Bis hierhin unterscheidet sich McInnes kaum von den unzähligen anderen rechten Agitatoren, die wie Adorno bemerkt, »so gleichförmig [sind], daß man nur die Reden eines einzigen zu analysieren braucht, um sie alle zu kennen« (Adorno, 1971, S. 35). Bemerkenswert an ihm ist jedoch, dass er als ein Prototyp einer neuen Riege von insbesondere auf YouTube und Co. aktiven Akteuren ist, die sich in der Gestalt eines erfahrenen Bruders oder eines ruppigen Kumpels dem vermeintlichen Irrsinn der Linken mal mahnend, mal humoristisch entgegenstellen. Seien es McInnes, Joe Rogen oder Steve Crowder, der mit seinen Videos, die Titel wie There Are Only 2 Genders | Change My Mind tragen, bis zu 40 Millionen Videoaufrufe generiert; 8

Die komplette Aufzählung besteht aus den folgenden Punkten: »Abolish prison, Give everyone a gun, Legalize drugs, End welfare, Close the borders, Outlaw censorship, Venerate the housewife, Glorify the entrepreneur, Recognize the West as the best, Shut down the government« (McInnes, 2020c).

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sie sind die kommerziell erfolgreichen Helden9 dieser transnationalen10 »Neuen« Rechten. Dabei sind ihre Formate stets zugleich hasserfüllt und humoristisch, gewalttätig, doch unterhaltsam, und nicht zuletzt konformistisch und dabei selbstgefällig in der Position des rebellischen »Underdogs« gegen eine imaginäre linke Vorherrschaft. Die gesamte »meme-kompatible« Präsentation verdeutlicht, an wen sich die Ansprache richtet: internetaffine junge Männer, meist Angehörige der Mittelschicht, in westlich(post-)industriellen Gesellschaften. Ausgangspunkt ist stets die Irritation über die Erosion der eigenen gesellschaftlichen Position. Diese (reale und gefühlte) Erosion wird nicht auf die grundlegenden Ausbeutungsweisen und Kränkungstendenzen des zum Mittel regredierten Menschen im Kapitalismus und die spätmodernen Anpassungsleistungen einer flexibilisierten Arbeits-, Produktions- und Distributionsweise zurückgeführt, sondern fast ausschließlich auf die Expansion der vermeintlich »kulturmarxistischen« Indoktrination der jungen Menschen im universitären Kontext. Das Heraufbeschwören der »feindlichen Ideologie« im heimischen akademischen Betrieb stimmt insoweit, dass jene Orte noch immer das Potenzial der Kritik der vorherrschenden Gesellschaftsform repräsentieren und für viele Studierende Freiräume der Politisierung und Selbsterkenntnis sind. Damit Adorno erkannte schon früh, dass die Techniken der faschistischen Agitation sich zunehmend anhand von massenpsychologischen Methoden perfektionieren. Dieser »Selektionsprozess« wird sich durch die Möglichkeiten des Internets umso mehr potenziert haben: »Die Angepaßtheit der Agitatorentricks an die psychologische Basis ihrer Ziele wird noch durch einen anderen Faktor verstärkt. Wir wissen, daß faschistische Agitation zu einem Beruf, zu einer Erwerbsquelle geworden ist. In diesem Prozeß ist Zeit gewesen, die Wirksamkeit der verschiedenen Reize zu erproben, so daß eine Art natürlicher Selektion der zugkräftigsten stattgefunden hat. Ihre Effektivität ist darum selbst eine Funktion der Psychologie ihrer Konsumenten. In einem Erstarrungsprozeß derselben Art, wie er bei sämtlichen Techniken der modernen Massenkultur zu beobachten ist, sind die Propagandaanreize ähnlich standardisiert worden wie die Werbeslogans, die sich zur Umsatzsteigerung als am wirksamsten erwiesen haben. Und diese Standardisierung selbst trifft wieder zusammen mit dem stereotypen Denken, der ›Stereopathie‹, der für die Propaganda Anfälligen und in ihrem infantilen Wunsch nach endloser, unveränderter Wiederholung« (Adorno, 1971, S. 59). 10 Transnationalität bezeichnet hier nicht einen weltweiten Inklusionsgedanken, sondern eine enge Rezeption der unterschiedlichen nationalen Akteure. Wenn sich gewalttätige Ausschreitungen bei den »Coronaprotesten« wie in Leipzig ereignen, berichtet beispielsweise McInnes am nächsten Tag in seiner Sendung Get Off My Lawn darüber und suggeriert so einen gemeinsamen rechten Kampf gegen staatliche Repressionen. 9

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bergen sie jedoch auch individuelles und familiäres Konfliktpotenzial, da sie den normativen Lebens- und Denkformen der »Mehrheitsgesellschaft« widersprechen. Dabei beschwört McInnes immer wieder die »Kultur« des kleinen Mannes, des ehrlich und ungehemmt kommunizierenden »Blue Collar« (der Overall der Arbeiter:innen), die immer weiter von der aus strategischem Eigeninteresse zur Kapitalakkumulation politisch korrekten »White Collar«-Kultur (symbolisch für das weiße Hemd der Angestellten) unterdrückt und zunehmend aufgelöst werde (vgl. McInnes, 2020b). Im Grunde findet sich auch hier eine strukturell dem Antisemitismus verwandte Weltanschauung, in der die umwälzende Kraft moderner Lebens- und Austauschverhältnisse, welche die ehemals festen Säulen der gesellschaftlichen Ordnung bedrohen, personalisiert und projektiv identifiziert werden. Die indirekte Herrschaftsform des Kapitalismus mit seiner permanenten Innovationskraft und Selbstoptimierungsforderung und die aktivistischen Ausdrucksformen abstrakter geisteswissenschaftlich-gesellschaftskritischer Analysen werden in der Projektion in eins gedacht: Diversitätsbestreben in Hollywood mit Judith Butler, »Black Lives Matter«-Merchandise mit Angela Davis, eine androgyne Ästhetik in den Werbeanzeigen von »Calvin Klein« mit Herbert Marcuse – das abstrakte, vermeintlich gesichtslose Kapital und eine kritische Gesellschaftstheorie11 erscheinen als geheime, die Gesellschaft zersetzende Verbündete. Diese konkretistische Weltsicht ist geprägt von dem Bedürfnis der entlastenden Feind:innen im Außen: An der Entwertung der Arbeit, in der Etablierung und Ausweitung eines Niedriglohnsektors ist nicht die marktradikale Stabilisierung globalisierter kapitalistischer Produktion schuld, sondern die »Ausländer:innen« und ihre »billige Arbeit«. Junge Männer befinden sich in einem krisenhaften und orientierungslosen Zustand, woran nicht die überkommenen toxischen Bilder der Idealmännlichkeit schuld sind, sondern die durch den Feminismus effeminierten Männer und verdorbe11 Die »Kritische Theorie« als Feindbild ist in rechten und reaktionären antisemitischen Weltdeutungen weit verbreitet. Immer wieder finden sich Rekurse auf den »cultural marxism« oder »neomarxism«. Von Breivik, der in seinem über 1.000-seitigen Manifest die Wurzel allen Übels darin erkennt (vgl. Saiger, Dumbs & Simon, 2011), über Jordan Peterson, der in hunderten Videos vor dem von ihm bezeichneten Irrsinn der »Neomarxisten« und den sogenannten »3. Welle Feminist:innen« mahnt (vgl. Singleton, 2020), bis hin zu islamistischen Vordenkern wie Said Qutb, der vor der »zersetzenden Wirkung« jüdischer Wissenschaften warnt (vgl. Qutb in Holz & Kiefer, 2010, S. 120) oder den Hasstiraden des ehemaligen Anführers des »Nation of Islam (NOI)« Louis Farrakhan (vgl. ADL, 2020a).

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nen Frauen. Nicht die kapitalistische Ausbeutung reduziert den Menschen zum Mittel der Kapitalakkumulation, sondern geheime, den Blicken der Öffentlichkeit entzogene, doch personell identifizierbare Mächte. Die Feind:innen können im Außen identifiziert und adressiert werden, die Gefahr der eigenen Involviertheit in die irrationale Organisation der gesellschaftlichen Totalität ist in dieser manichäistisch gespaltenen Weltsicht gebannt (vgl. Pohl, 2006, S. 55). Die Arbeiter:innenkultur, deren reale produktive Bedingung tatsächlich in (post-)industriellen Gesellschaften abnimmt und dadurch das durch Autorität und harte Akkordarbeit geformte Subjekt zunehmend obsolet werden lässt, wird als nostalgischer Wunsch beschworen. Die Glorifizierung der Kultur des »kleinen Mannes« ist dabei ein Ausweg aus der Forderung des Gewissens, des Schuldgefühls, das McInnes als genetische und durch die christliche Kultur potenzierte Disposition bei »Weißen« zu erkennen glaubt.12 Aus jener Position des »Realisten«, des in der vermeintlichen »Wirklichkeit« verankerten einfachen westlichen Mannes, kann die Schuld abgewiesen werden. Jene Gleichzeitigkeit von übermenschlichem Größenwahn und dem bodenständigen unverdorbenen »plain, red-blooded American« identifizierte Adorno als einen der »Hauptkunstgriffe« faschistischer Propaganda, wodurch der Wunsch, »sich der Autorität zu unterwerfen und zugleich selbst Autorität zu sein« (Adorno, 1971, S. 50), bedient werde. Dem zugrunde liegt für Adorno das durch die künstlichen Hierarchien des narzisstischen Kollektivs kompensierte Eingeständnis, überflüssig und austauschbar zu sein. Dies wahrscheinlich umso mehr, je weiter die technologischen und kulturbedingten Unterschiede durch 12 McInnes Perspektive auf den Umgang der »Weißen« mit ihrer »vererbten Schuld«: »You know, sometimes I think that it’s the genetic trait in whites, where they love self-flagellation, self-castigation. They don’t like themselves and this could be why Christianity did so well amongst white people, because we all want to be persecuted, we all want to be martyred. I honestly think it might be a genetic trait because the way whites, you know talk about how horrible they are and try to prevent each other from existing. You have all these white women saying I’m not gonna have babies because they’ll be white and I hate whiteness. How many articles have you seen that talk about the unbearable whiteness of blah blah blah and it will be always the white author. I can’t imagine the Japanese person writing that, I can’t imagine the Mexican black person writing about the unbearable blackness of something. […] I think there’s something genetic about white people where they just want to subsume guilt. They want to take on all the world’s problems and that’s the only solution I can think of« (McInnes & Peterson 2018, 4:27–5:32).

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globale Anpassungsprozesse abnehmen und zu einer Annäherung der sozial-ökonomischen Lebensbedingungen führen. Nur so lässt sich propagieren, was im Mittelpunkt der »Proud Boys« zementiert wird, obwohl die reale Machtbasis der Vorherrschaft bröckelt: »Ich bin ein westlicher Chauvinist und ich lehne es ab, mich für die Schaffung der modernen Welt zu entschuldigen. Der Westen ist das Beste!« (vgl. Ismar, 2020). Der Kern der Bewegung besteht somit aus drei zentralen Elementen: erstens wieder ein »richtiger« Mann und damit ungebrochen stolz sein zu können, sich zweitens nicht mehr durch die Schuld des Gewissens in der privilegierten Position terrorisieren zu lassen und dabei drittens ungestraft und ohne Konsequenzen die noch vorhandene Vormachtstellung so zu nutzen, dass Herrschaft über Marginalisierte ausgeübt und zumindest der Status quo erhalten bleibt. Der Witz und der Hang zur Transgression, also die permanente Überschreitung moralischer Grenzen, sind dabei die präferierten Techniken, da sie mithilfe der psychologischen Wirkung des Witzes relativ ungefährlich die kulturbedingten Hemmungen der Aggression umgehen und durch das gemeinsame aggressive Lachen über die erwählten, grotesk überzeichneten Feindbilder eine integrative Komplizenschaft  – einer libidinösen Bruderschaft – hervorrufen (vgl. Doğru, 2020). Adorno identifizierte das aggressive Lachen als eine Kompromissbildung der unvollendeten Zivilisierung des Menschen, »das, wenn die Bedingungen es gestatten, in die physische Gewalttat umschlägt und dabei noch diese zivilisatorisch rechtfertigt, indem sie sich gebärdet, als wäre alles nur Spaß« (Adorno, 1996, S. 237). Die Attraktivität der faschistischen Agitation ist also gekennzeichnet durch die kontrollierte Enthemmung libidinöser (stets auf abstrakte Konstruktionen wie Volk, Nation, Rasse sowie bewunderte Führerfiguren gerichtet) und aggressiver (auf Objekte im Außen gerichtet) Triebäußerungen und dient somit in seiner psychologischen Funktion als institutionalisiertes und reinigendes Erlösungsphantasma zur Entlastung des Subjekts gegenüber der eigenen Sprachlosigkeit. Political Correctness droht als eine weitere Kulturleistung auch diese Form der aggressiven Enthemmung zu versperren, weshalb die Feind:innen verächtlich gemacht und bezeichnenderweise als »Social Justice Warriors« betitelt werden. Die eigene konformistische Haltung wird sich durch die beständige Bestätigung des gleichgesinnten Kollektivs versichert. Diese die Entgrenzung und Allmachtsfantasien befördernden Gemeinschaften stehen somit jenem Aktivismus entgegen, der den Menschen zu seinem Selbsterhalt durch moralische und politische Forderungen begren120

»Political Correctness«

zen möchten. Dieser hat, so scheint es zumindest in den letzten Jahren, mit Bewegungen wie unter anderem den Klima- und Naturschutzbündnissen »Fridays for Future« und »Ende Gelände«, die gegen rassistische (Polizei-)Gewalt gerichtete »Black Lives Matter«-Bewegung oder feministische und gendersensible Bemühungen vielfältiger Organisationen zugenommen und zur Politisierung der jeweiligen Aktionsfelder beigetragen. Die zunehmenden Krisen, seien sie auch vermeintlich natürlicher Art, sind letztendlich Erscheinungen der Konsequenzen des kapitalistischen Anthropozäns und es ist, wie Freud am Ende zum Unbehagen feststellt, nicht zu bestimmen, ob die Anstrengungen der Kultur ausreichen werden, die vielfältigen Äußerungen des Destruktionspotenzials des Menschen zum Erhalt der Menschengattung zu bändigen. Dazu bedarf es wohl letztlich Gesellschaftsformen, in denen der repressive Eros der Herrschaft nicht als Mittel fungiert und Beziehungsweisen, in denen die unmögliche Forderung der »Nächstenliebe« kein individuell unlösbares Dilemma, sondern eine durch die vernünftige Einsicht in die geteilte Welterfahrung gelebte Realität ist, die weder in dem falschen Versprechen nach Harmonie noch in projektiv entäußerten Feindbildern mündet.

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Biografische Notiz Bekir Ismail Doğru, B. A., B. A., hat Sozialwissenschaften an der Leibniz Universität Hannover und Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover studiert. Aktuell studiert er im Masterstudiengang Soziologie in Hannover. Sein Forschungsinteresse fokussiert sich insbesondere auf gesellschaftliche Transformationsprozesse und reaktionäre Vergemeinschaftungsideologien.

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Majdan 2013/2014 in der Ukraine Ein Versuch, das Unbehagen zu durchbrechen? Julia Skip-Schrötter & Markus Brunner

Ohne Übertreiben versinnbildlicht Sonntag, der 1. Dezember 2013, den Moment des Erwachens der ukrainischen Zivilgesellschaft: Eine halbe bis eine Million Kyjiwer*innen nehmen an einer Protestkundgebung gegen die gewaltsame Auflösung einer pro-europäischen Demonstration teil (o. A., 2014, S. 144). Dieser Initialzündung folgt eine monatelang andauernde, zähe und langwierige Konfrontation im kalten Winter, die bald das ganze Land erfasst und über seine Grenzen hinaus wirkt. Die erbitterten Kämpfe kulminieren in der Flucht des amtierenden Präsidenten und in einem politischen Umsturz (ebd., S. 152). Nachträglich zum Symbol erhobene Hundert Menschen1 werden dabei getötet (Bohdanowytsch et al., 2014). Zugleich setzt sich das Kämpfen, Töten und Sterben im russisch-ukrainischen 1

Menschen, die im Zeitraum Dezember 2013 bis Februar 2014 am Majdan gestorben sind, sind in die ukrainische Geschichtsschreibung unter dem Namen »die Himmlische Hundertschaft« eingegangen: »Die Bezeichnung ›Himmlische Hundertschaft‹ wird der ukrainischen Dichterin Tetjana Domašenko zugeschrieben, welche noch am 21. Februar 2014 ein Gedicht mit dem Titel ›Himmlische Hundertschaft der Majdankrieger‹ verfasste und welches religiöse Symbole (sic) und nationale Topoi verbindet. Das sakrale Attribut ›himmlisch‹ geht hier eine Synthese ein mit dem Begriff ›Hundertschaft‹ (ukr. Sotnja), der dem militärischen Sprachgebrauch entstammt und auf kosakische Traditionen zurückgeht. Auf dem Majdan hatten sich die verschiedenen Demonstranten zur Abwehr der Milizen in Hundertschaften organisiert. In der Bezeichnung ›Himmlische Hundertschaft‹ verbinden sich religiöse Vorstellungen mit einer Reminiszenz an das Kosakentum« (Vrublevska, 2019). Am 21. Februar 2014 verabschiedet das Parlament ein Gesetz über staatliche Hilfe für jene Teilnehmer*innen des Majdan, die Opfer geworden sind, und ihre Familien (Zakon Ukrainy 745-VII 2014). Mit dem Gesetz werden ein Opfer-Status anerkannt und die offizielle Erfassung dieser Opfer eingeführt. Zugleich markiert das Gesetz den Beginn einer Symbolpolitik und dokumentiert die Entstehung eines Mythos (vgl. dazu Vrublevska, 2019).

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Julia Skip-Schrötter & Markus Brunner

Krieg in der Ostukraine bis heute fort. Die Ukraine verliert die Halbinsel Krim, die seit März 2014 unter russischer Besatzung steht. Dem Majdan 2013/2014 als politischem Prozess gehen ein Unbehagen und ein sich aufstauender Unmut in einer post-sowjetischen Gesellschaft, die sich auf dem Wege der Transformation in eine Demokratie befindet, nicht nur voran, sondern diese bilden seine Voraussetzung, sind seine Quelle. Der Wunsch nach Veränderung ist dabei das bewusste, treibende Motiv. Aus psychoanalytischer Sicht stellt der Majdan 2013/2014 ein Massenphänomen dar, in dem das Unbehagen in Form eines expliziten Unmuts einen Ausdruck findet und eine sich immer wieder wandelnde Form erhält. In den Berichten von Zeitzeug*innen können wir vermittels der psychoanalytischen Methode der Tiefenhermeneutik nach Alfred Lorenzer auch der unbewussten Dimension, wie sie am Majdan 2013/2014 wirksam wurde, näherkommen.2 Wir werden diese, insbesondere die Aggressionsund Zerstörungsdynamik, vor dem Hintergrund des Freud’schen Originaltextes Das Unbehagen in der Kultur von 1930 und massenpsychologischen Überlegungen zu begreifen suchen. Dabei gehen wir der Frage nach, wo und wie sich das Unbehagen am Majdan gezeigt hat. Im Zuge der Untersuchung wollen wir zudem klären, welche progressiven und regressiven psychischen Tendenzen dabei realisiert werden konnten. Inwiefern war der Majdan Ausdruck eines regressiv-destruktiven Wiederholungszwangs und/ oder ein Durchbruch in einer Wiederholung, der im Sinne eines Reifungsprozesses Neues schaffen konnte?

Zur Methodik Tiefenhermeneutik ist eine sozialwissenschaftliche Methode der psychoanalytischen Kulturforschung, die den narrativen Gehalt von Texten (hier: Facebook-Posts und Kommentare, Zeitzeugenberichte, ein Film) über seine Wirkung auf das Erleben der Interpret*innen untersucht (vgl. König, 2000, S. 556). 2

Das Material, auf dem der Artikel basiert, wurde im Zuge eines Diplomarbeitsprojektes (Skip-Schrötter, 2017) in einer Tiefenhermeneutik-Gruppe unter der Leitung von Dr. Markus Brunner analysiert. Alle in der Übersetzung zitierten Material-Auszüge sind von der Autorin übersetzt worden.

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Majdan 2013/2014 in der Ukraine

Unser Erkenntnisweg setzt sich wie folgt zusammen: Zunächst geht es um die faktische Ebene der tatsächlich stattgefundenen Ereignisse: Was ist wann und wo passiert? Wir werden das Material zum Beginn des Majdan 2013/2014, die Zerstörung des Lenin-Denkmals in Kyjiw am 8. Dezember 2013 sowie aus den blutigsten Tagen des Majdan 2013/2014 mit den meisten Opfern und den Tagen unmittelbar danach untersuchen. Dabei greifen wir auf das auf Alfred Lorenzer (vgl. 2000 [1970], S.  138ff.) zurückgehende szenische Verstehen zurück. Wesentlich dafür sind drei Schritte: Zuerst geht es um das logische Verstehen bzw. das Verstehen des Gesprochenen, im zweiten Schritt folgt das psychologische Verstehen (Einfühlen, Nacherleben; vgl. ebd., S. 100f.) als Verstehen der*s Sprecher*in. Die psychoanalytische Verstehensbewegung wird erst im dritten Schritt vollständig. Für das psychoanalytische Setting formuliert das Lorenzer folgendermaßen: »Psychoanalytisches Verstehen seinerseits wendet sich immer wieder vom Sprecher ab, um statt des Ausdrucks den Sinneszusammenhang der diskursiven Figuren zu suchen. Nicht als Sprecher, sondern als Akteur im Spiel der Szenen wird der Patient verstanden. Zentraler psychoanalytischer Verstehensmodus ist demnach ›szenisches Verstehen‹« (ebd.). »Szenisches Verstehen heißt eben: Interpretation des Verhaltens des anderen auf Grund der Entschlüsselung der szenischen Muster« (Lorenzer, 2000 [1970], S. 212). Die Voraussetzung des szenischen Verstehens ist die Fähigkeit, sich als Teilhaber*in an der Situation mit den zur Verfügung stehenden Beziehungspersonen zu identifizieren (ebd.). Das szenische Verstehen kann auch in der Kulturanalyse zur Erhellung der unbewussten, latenten Interaktionsformen angewendet werden. Lorenzer nennt diese »Enträtselung der unbewußten Bedeutungen« im kulturellen Feld Tiefenhermeneutik (Lorenzer, 1986, S. 27). Diese Hermeneutik zielt, so Lorenzer, auf »die vom gesellschaftlichen Konsens ausgeschlossenen Lebensentwürfe« (ebd.). Dies kann mittels Teilhabe am Text mit anschließender begriffener Teilnahme an der Szene geschehen. Indem die Forscher*in sich auf den Text einlässt, sich mit unterschiedlichen Positionen und Rollen, die der Text beinhaltet, identifiziert, und den Text aus unterschiedlichen Perspektiven »erlebt«, kann sie sich die latenten, verborgenen Anteile der unbewussten Szene, die der Text transportiert, auch zugänglich machen und anschließend deuten, indem sie sie in Worte fasst bzw. symbolisiert. Das heißt, in weiterer Folge werden wir die Szenen vom Majdan 2013/2014 zu verstehen suchen, indem wir Zeitzeug*innen sprechen 127

Julia Skip-Schrötter & Markus Brunner

lassen: Was haben sie erlebt und wie haben sie diese Ereignisse erlebt? Es werden dazu sowohl die einfühlenden, empathischen als auch die irritierenden, die Spannung und den Weg zum Unbewussten (hier: dem Latenten) aufzeigenden Gefühle und Wahrnehmungen der Interpret*innen (ähnlich wie die in der klassischen analytischen Situation erlebte Gegenübertragung) dargestellt und genutzt, um zum latenten Gehalt der Szenen und damit zu einer Deutung ihres psychodynamischen Gehalts zu gelangen.

Zur Geschichte des Majdan Um den Leser*innen zu ermöglichen, sich auf die Erfahrungswelt, von der dieser Beitrag spricht, einzulassen, versuchen wir in den nachfolgenden Passagen das Geschehene in einem Kontext zu verorten. Im Ukrainischen bedeutet das Wort »Majdan« »1. ein großer unverbauter Platz in einer Stadt oder in einem Dorf. 2. Archäologie antike Grabstelle, ausgegraben von oben« (Dubitschyns’kyj, 2006, S. 460). Das berühmte Gedicht von Pawlo Tytschyna Na majdani kolo cerkwy (auf Deutsch: »Am Majdan neben der Kirche«, Tytschyna, 2016, S. 42) aus dem Jahr 1918 hält den ursprünglichen Geist der Revolution von 1917 fest und liefert uns 100 Jahre später den Beweis für den symbolischen Charakter der Majdane in der Ukraine als Orte der Revolution. In Anlehnung an die griechische Agora sind Majdane nicht nur Orte der Revolutionen, sondern Orte, an denen sich wichtige politisch-gesellschaftliche Prozesse ereignen bzw. auch inszeniert werden. Am Beispiel vom zentralen Majdan der Ukraine, dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw, zeigt sich diese Tradition ununterbrochen. Zur Sowjetzeit ist dieser Ort der Ausgangspunkt aller Feste und auch Machtund Stärkedemonstrationen: Die 1.-Mai-Demos, die Militärparaden zu den Siegesfeiern im Großen Vaterländischen Krieg3, die Jahresfeiern der Oktoberrevolution und Silvesterfeiern mit dem obligaten Christbaum des Landes spielen sich hier ab. Die jeweilige Symbolik wird gewissermaßen in Stein gemeißelt. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde der Platz im Stalin-Stil des sogenannten sowjetischen Realismus wiederaufgebaut. Alle Mächte legen Wert darauf, die Spuren der Vorgängerin zu tilgen und ihre eigenen zu hinterlassen. Der Platz erinnert an eine Kultstätte, an der sich die Erinnerungs- und Symbolpolitik abspielen: Bis 1991 heißt der Platz der 3

Der Zweite Weltkrieg in der sowjetischen Geschichtsschreibung.

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Majdan 2013/2014 in der Ukraine

Majdan der Oktoberrevolution, im Jahr der erlangten Unabhängigkeit wird der Ort in den Majdan der Unabhängigkeit umbenannt. Majdan wird aber nicht nur der Platz genannt, sondern auch die Massenproteste selbst. Alle drei Majdane der neueren ukrainischen Geschichte nach der Perestrojka fanden auf dem Majdan in Kyjiw statt. Der erste war der Hungerstreik von Student*innen vom 2. bis 17. Oktober 1990, die sogenannte »Revolution auf dem Granit« (Hurkina, 2011, S. 183). Während die Revolution auf dem Granit für viele unbemerkt vorbeigezogen ist und sich nur auf den Majdan in Kyjiw mit Student*innen und deren Unterstützer*innen aus intellektuellen Kreisen konzentriert hat, hat die »Orange Revolution« 2004 bereits große Massen in Bewegung gesetzt, auch wenn die Geschehnisse immer noch auf dem Majdan in Kyjiw ihre Hauptbühne fanden. Der Majdan 2013/2014 nimmt als »Euromajdan« am 21. November 2013, dem 9. Jahrestag der Orangen Revolution, ebenfalls hier seinen Ausgangspunkt. Alle drei Majdane in der neueren ukrainischen Geschichte markierten wesentliche Umbrüche und entschieden die gesellschaftlich-politischen Konfliktlagen im Sinne der Protestierenden und gegen die Staatsmacht. Das sind jeweils die Momente, zu denen sich Menschen in Gruppen oder Massen organisieren und die Macht ergreifen. Die Revolution auf dem Granit war einer der Höhepunkte des Kampfes für die Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion (vgl. Ginda, 2015). In der Orangen Revolution wird der Wunsch der Bürger*innen, selbst und frei zu wählen, verteidigt (vgl. Hrytsak, 2011, S. 299). Den Anfangsmoment des Majdan 2013/2014 wollen wir im nächsten Kapitel näher untersuchen.

Der Beginn eines Gruppenbildungsprozesses Am 21. November 2013 beschließt die ukrainische Regierung, das Assoziierungsabkommen mit der EU entgegen früherer Ankündigungen nicht zu unterzeichnen (o. A., 2014, S. 143). Am Nachmittag desselben Tages ruft der afghanisch-ukrainische Journalist Mustafa Nayyem4 auf Facebook in vier 4

Nayyem wechselte anschließend an den Majdan 2013/2014 in die Politik und war zwischen dem 27.11.2014 und dem 29.8.2019 ein Parlamentsabgeordneter im Block von Petro Poroschenko, dem Präsidenten der Ukraine zwischen 7.6.2014 und 20.5.2019 (https://itd.rada.gov.ua/mps/info/expage/17978/9 [26.1.2020]).

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Julia Skip-Schrötter & Markus Brunner

Posts dazu auf, gegen diesen Regierungsbeschluss zu protestieren (Nayyem, 2013a, 2013b, 2013c, 2013d). Einige der Angesprochenen folgen seinem Aufruf und die ersten Demonstrant*innen versammeln sich am Abend am Majdan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw (o. A., 2014, S. 143). Nayyems Posts stellen einen Aufruf dar, eine Masse zu bilden. Der Ablauf seiner im ca. 1,5-Stunden-Takt veröffentlichten Beiträge entspricht einer Eskalationsdynamik. Am Beginn steht der dramatische Verweis auf Pandoras Büchse, die unter all dem Leid am Boden auch die Hoffnung in sich barg, den er selbst in einem Kommentar präzisiert: Janukowytsch habe die Büchse längst geöffnet und »wir sind bereits am Boden angekommen« (Nayyem, 2013a). In einem zweiten Post ruft Nayyem (2013b) die Erinnerung an den Majdan 2004 ab und dockt an sie an: »[Es ist] symbolisch, dass man vor neun Jahren gerade an diesem Tag, am Abend des 21. November, auf dem Majdan damit angefangen hat, die ersten Zelte aufzubauen«. Im nächsten, dritten Schritt prüft und mobilisiert Nayyem (2013c) unmittelbar die Handlungsbereitschaft: »Gut, im Ernst, lasst uns Tacheles reden. Also wer ist heute bereit, vor Mitternacht auf den Majdan zu gehen? Likes zählen nicht. Nur Kommentare unter diesem Post: ›Ich bin bereit. Sobald mehr als Tausend da sind, fangen wir an, uns zu organisieren‹«, bis er zum Schluss im vierten Post zum Handeln aufruft und diesem durch Orts- und Zeitangaben einen Rahmen gibt: »Wir treffen uns um 22:30 Uhr beim Unabhängigkeitsdenkmal (Unabhängigkeitsmonument). Zieht Euch warm an, nehmt Regenschirme, Tee, Kaffee, gute Laune und Freunde mit. Reposten wird begrüßt!« (Nayyem, 2013d). Nayyem spricht das vorhandene Leid an, ohne es näher zu spezifizieren. Das erlaubt es allen, sich angesprochen zu fühlen. Die Hoffnung, die am Ende in Aussicht gestellt wird, erleichtert es, sich dem Protest anzuschließen. Die damit verbundenen Gefahren werden dabei heruntergespielt bzw. erst gar nicht explizit erwähnt. Die Symbolik der Büchse Pandoras suggeriert, dass man das Leid schon hinter sich habe. Die Vervielfachung der Likes (von 458 auf über 12.000) und Reposts (von 27 auf über 7.000) der aufeinanderfolgenden Posts zeigen, wie sich die Botschaft ausbreitet und sich eine Masse formiert (vgl. Skip-Schrötter, 2017, S.  51). Die Kommentare auf Facebook (ebd., A.1.1) veranschaulichen uns diesen mitreißenden Gruppenbildungsprozess eindrucksvoll: Die rasante Verbreitung der Posts wird immer wieder jubelnd kommentiert, es wird zum Mitwirken aufgerufen und die Involvierten werden von außen angefeuert; zugleich zeigt sich bei denen, die nicht dabei sein können, Ent130

Majdan 2013/2014 in der Ukraine

täuschung und Neid. Die Stimmung ist die einer getriebenen, rastlosen Euphorie. Leicht ist die Gruppen-Matrix aus Menschen – Ort – Zeit rekonstruierbar: Der Majdan 2013/2014 stellt eine wiederkehrende (zum dritten Mal und mit einem symbolträchtigen Beginn am 9. Jahrestag des Majdan 2004) Versammlung teilweise derselben Menschen, die 2004 dabei waren, am selben Ort (Majdan-Platz in Kyjiw) dar. In den kritischen und vorsichtig mahnenden Stimmen zeigen sich aber auch andere Gefühlslagen: Gezweifelt wird daran, dass sich überhaupt etwas ändern könnte, und gewarnt wird davor, dass korrupte Politiker*innen sich – wie bei den früheren Majdanen auch – an die Spitze stellen werden. Während die Protestierenden vereinzelt verlacht und angegriffen werden, artikuliert sich auch deren Wut über die »Banditen« und »Verbrecher«, die die »ukrainische Erde verraten und geschändet« haben und Rache verdienen. Erniedrigungsgefühle und Ängste sollen in dieser Dynamik in Wut transformiert werden. Zunehmend wird in den Kommentaren auch über manipulierte Berichte und Zensur berichtet, es macht sich eine paranoide Stimmung breit, auf die mit einer immer stärkeren Kampfrhetorik reagiert wird. Wohin die Reise gehen wird, ist aber noch unklar. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Nayyems Aufruf seine Leser*innen dazu angeregt hat, innerhalb kurzer Zeit einen verdichteten psychischen Entscheidungsprozess zu durchleben und sich zu positionieren. Während sich auf dem Majdan also eine Gruppe treffen soll, die für das Festhalten an der proeuropäischen Idee in der Ausrichtung der ukrainischen Politik protestiert, wie die erste Namensgebung von Majdan 2013/2014 – »Euromajdan« – kundtut, machen sich in den FacebookKommentaren vielschichtige untergründige Gefühlslagen bemerkbar. Am Ende der Facebook-Debatte hat sich eine durchaus aggressive Dynamik hochgeschaukelt, die von paranoiden Ängsten und Wut bestimmt ist. Mit Bion (2001, S. 104) treffen wir am Majdan eine Arbeitsgruppe, die zusammengekommen ist, um etwas zu tun. Menschen versammeln sich, um für die Integration der Ukraine in die EU bzw. für ihr Recht, an politischen Entscheidungen mitzuwirken, zu protestieren. Je nach Fähigkeiten kooperieren sie und organisieren sich selbst: Reposts, Hashtags, LiveÜbertragungen, Server-Hosting etc. werden auf die Beine gestellt.5 Dies geschieht freiwillig und baut auf Erfahrungen aus früheren Protesten auf. Hier liegt auch der Bezug zur Realität und Rationalität. Mit Bion (ebd., 5

Basierend auf der Auswertung der Facebook-Kommentare zum Nayyem-Aufruf. Für das übersetzte Originalmaterial siehe Skip-Schrötter, 2017, A1.1, S. 1–38.

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S. 106) treffen wir am Majdan aber auch eine Gruppe, ergriffen von der Wirkung einer der Grundannahmen: der Grundannahme von Kampf und Flucht (ebd., S. 111). Was einen Menschen bewegt, sich dem Majdan 2013/2014 anzuschließen, und die Psychodynamik, die sich dabei entfaltet, lässt sich gut am Text »Warum ich auf den Majdan gehen werde« von Ol’ga Duchnitsch (2014) erkunden. Ihr Zeitzeugenbericht betont das körperlich-emotionale Erleben und kann uns so den Zugang zu den latenten Szenen erleichtern. Der Text ist voller Widersprüche und Ambivalenzen; »ohne zu jubeln und ohne besondere Hoffnung« gehe sie hin, am Ende mache aber der Majdan verstehbar, »dass Du eine Hoffnung hast« (ebd.). Auf dem Majdan gehe es, schreibt die Zeitzeugin, nicht um politische Artikulationen, um Entscheidungen oder Verkündungen, sondern um die Bildung einer Einheit, einer aus der »Vielzahl von Körpern« gebildeten »Einheit der Nation« und ihres Körpers (ebd.). Dieser Volkskörper, die Quelle des sich konstituierenden »Wir«, »demonstriert sich selbst«, er spreche nicht, sei »präverbale Sprache«. Sein einziger verschwommener Ausdruck ist ein Hilferuf, ein »SOS-Zeichen« an die EU (ebd.). Um diesen kollektiven Körper herzustellen, müssen die in den Facebook-Kommentaren sich offenbarenden Aggressionen, politischer Kampf und die sprachliche Artikulation der Konflikte draußen bleiben bzw. unterdrückt werden. Duchnitsch lädt ein, am Majdan teilzunehmen, und verspricht eine verschmelzende Vereinigung in einer Gruppe (ebd.). Dieser regressive, Aggressionen und Konflikte ausschließende Zustand gemahnt an Freuds Ausführungen zum ozeanischen Gefühl, die seine panoramische Untersuchung des Unbehagens in der Kultur (1930a) eröffnen. Was Freud (ebd., S. 422f.) nicht zu kennen angibt und was »die Empfindung der ›Ewigkeit‹«, »ein Gefühl von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem«, »ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt« (ebd., S. 422) sein soll, lässt sich gut entlang des Duchnitsch-Textes nachempfinden und ist eine der Verheißungen des Majdan.

Die Wendung Die entscheidende Wendung am Majdan 2013/2014 geschieht, nachdem die nicht sehr große Gruppe, die nach Nayyems Aufruf tatsächlich auf dem Majdan zusammengefunden hatte, in der Nacht von Freitag auf Sams132

Majdan 2013/2014 in der Ukraine

tag, den 30. November 2013, brutal niedergeschlagen wurde (o. A., 2014, S. 144). Das Unbehagen, das diese Handlung der Mächtigen in vielen auslöst, ist so groß, dass augenblicklich eine Million Menschen auf der Straße stehen (ebd.). Eine Menschenmasse ist entstanden. Der Unmut über die Repressionen durch die Regierung schlägt in Aktion um. Der Majdan 2013/2014 war als eine Protestwelle gegen die Willkür der Staatsmacht ein weiterer wichtiger Schritt in der Entwicklung der politischen Kultur in der Ukraine. Die außergewöhnliche, unverhältnismäßige Brutalität der Staatsmacht im Vorgehen gegen die Protestierenden zerstörte den Konsens über das staatliche Gewaltmonopol. Offenbar wurde, dass die Staatsgewalt weniger zur Sicherung des friedlichen Zusammenlebens, sondern hier sehr dezidiert zum Zweck des Machterhalts eingesetzt wurde. Freuds Ausführungen über die Verschränkung von Staatsmacht, Recht und Gewalt können uns diese Prozesse besser erhellen helfen. 1932 versucht er in seinem Beitrag »Warum Krieg« Krieg und Zerstörung psychoanalytisch zu verstehen. Im Zuge dessen beschäftigt er sich auch mit dem Verhältnis von Recht und Macht, wobei er den Begriff der Macht durch den der Gewalt ersetzt, der diesem, so Freud, eigentlich zugrunde liege (Freud, 1933b, S. 14). Während »Interessenkonflikte unter den Menschen […] prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt entschieden« würden, führe der Weg von der Gewalt zum Recht über die Vereinigung mehrerer Schwacher. »Gewalt wird gebrochen durch Einigung, die Macht dieser Geeinigten stellt nun das Recht dar im Gegensatz zur Gewalt des Einzelnen. Wir sehen, das Recht ist die Macht einer Gemeinschaft. Es ist noch immer Gewalt, bereit, sich gegen jeden Einzelnen zu wenden, der sich ihr widersetzt, arbeitet mit denselben Mitteln, verfolgt dieselben Zwecke. […] Die Einigung der mehreren muß eine beständige, dauerhafte sein« (ebd., S. 15).

Zusammengehalten wird diese größere Einheit, die im Inneren der Gemeinschaft Frieden stiften soll, durch Gefühlsbindungen ihrer Mitglieder (ebd., S. 16). Anders als im Unbehagen in der Kultur betont Freud in diesem Text, dass die Gemeinschaft aber von Anfang an ungleich mächtige Menschen umfasse, weshalb das Recht der Gemeinschaft auch die ungleichen Machtverhältnisse zum Ausdruck bringe: »[D]ie Gesetze werden von und für die Herrschenden gemacht werden und den Unterworfenen wenig Rechte einräumen« (ebd.). Diese so hergestellte Rechtsordnung bleibt umkämpft und 133

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Konsens, das heißt, die Legitimität der mit der Rechtsordnung einhergehenden Herrschaftsordnung bleibt prekär. Wenn sich Verschiebungen von Machtverhältnissen ergeben und sich die Herrschenden gegen diese stellen, wird das vermeintlich friedensstiftende Recht wieder als Gewaltverhältnis sichtbar und es kann »zu Auflehnung, Bürgerkrieg, also zur zeitweiligen Aufhebung des Rechts und zu neuen Gewaltproben [kommen], nach deren Ausgang eine neue Rechtsordnung eingesetzt wird« (ebd., S. 17). Die Dynamik der Ereignisse am Majdan 2013/2014 wird durch Freuds Worte verstehbar. Am Beginn des Majdan steht, dass sich die Regierung über die eigenen Versprechen in Bezug auf die Integration der Ukraine in die EU hinwegsetzt. Das mobilisiert einige, aber noch nicht die Massen. Bereits diese Bewegung wollen die Machthabenden stoppen. Durch die Art der Gewaltanwendung gegen die Protestierenden wird der antidemokratische Charakter der Herrschaftsordnung besonders deutlich. Es kommt daraufhin zur gesellschaftlichen Auflehnung, zur zeitweiligen Aufhebung des Rechts und zu neuen Gewaltproben. Von den Teilnehmer*innen der Proteste und ihren Unterstützer*innen wird der erfolgreiche Aufstand danach als »Revolution der Würde« bezeichnet und so nachträglich in das Geschichtsnarrativ der Ukraine integriert: Es handelt sich um eine Revolution, die eine Bestrebung einer Bevölkerungsmehrheit – nämlich ihr Anrecht auf einen friedlichen Protest – wieder ins Recht setzt und damit auch einen Konsens – nämlich darüber, dass der Staat sein Gewaltmonopol nicht unverhältnismäßig anwenden darf – wiederherstellt.

Opferheldentum am Majdan Der Durchbruch der Aggression im Ritual: Die Zerstückelung eines Lenin-Denkmals als das erste symbolische Ersatzopfer

Der Missbrauch der Staatsgewalt gegen die friedlichen Demonstranten führt dazu, dass der Majdan 2013/2014 zu einer Massenprotestwelle heranwächst. Die Gewalt- und Zerstörungsbereitschaft ist durch gegenseitige Handlungen mobilisiert und entfacht ihre Wirkung. Erst jetzt steht die Büchse der Pandora wirklich offen. Der Majdan 2013/2014 hat auch Möglichkeiten geboten, Impulse auszuleben, die mit Freud als kulturfeindlich (1930a, S. 455f.) oder auch archaisch bezeichnet werden können. Diese Möglichkeiten wurden genutzt. 134

Majdan 2013/2014 in der Ukraine

Als ein Beispiel für ein solches Ausleben archaischer zerstörender Impulse in einem rituell anmutenden Rahmen betrachten wir im Folgenden die Zerstörung des Lenin-Denkmals am Schewtschenko-Boulevard in Kyjiw am Rande einer Massenprotestkundgebung, dem »Marsch der Millionen« am 8. Dezember 2013. In einer achtminütigen Sequenz halten Techynskyi, Solodunov und Stoykov (2014, 16:37–25:006) in ihrem Dokumentarfilm über den Majdan mit dem Titel All Things Ablaze den Augenblick fest. Im Film sehen wir, wie die Lenin-Statue vom Podest heruntergeholt und zerschlagen wird. Zugleich entsteht ein Kampf um die Reste der Statue. Jede*r will etwas von Lenin, sei es ein Stück Stein, sei es ein Foto mit dem Kopf (ebd.). Es scheint, als würde etwas zerstört, um es mitnehmen, einverleiben und aufbewahren zu können. Die Bilder mit den nach den Denkmalstücken greifenden vielen Händen (ebd., 18:40–19:01) wecken unweigerlich den Gedanken an eine Kommunion, und so ist der Eingang in den rituellen, sakralen Teil der Szene möglich. Die Inszenierung fußt auf rituellem Boden. Eine Gruppe zerstört besonders umständlich – im Film mit dem Hammer und unter enormer physischer Anstrengung – ein Lenin-Denkmal. Das Denkmal ist zugleich ein in Stein gemeißelter menschlicher Körper, der Körper einer Person, der für die Geschichte des Landes und damit für die Gruppe, die die Statue zerstört, besondere, fast schon sakrale Bedeutung hat (zum Beispiel ebd., 22:18–22:23). Lenin selbst repräsentiert das radikale Zerstörungsprogramm7 der Kommunisten im Zuge der Oktober-Revolution 1917 und im anschließenden Bau des Sozialismus im damaligen Russischen Reich: Die Zahlenangaben zu dieser Quelle hier und weiter im Text beziehen sich auf die Minuten:Sekunden des Films. 7 Eine künstlerische Fassung dessen findet sich zum Beispiel im Gedicht von Majakowskij: »… Den Weißgardisten findet ihr – ans Wändchen mit ihm. Wurde Raffael vergessen? Vergaßt Ihr Rastrelli? Es ist Zeit, dass die Kugeln an die Museumswände knallen. Mit Hundertzöllern das alte Zeug der Kehlen durchschießen. … Und Zar Alexander auf dem Platz des Aufstandes steht er noch? Dynamit her! …« (zit. n. Altrichter, 2016, S. 28). 6

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Der revolutionären Gewalt fielen Denkmäler und Symbole des Zaren- und Kirchentums zum Opfer (vgl. Altrichter, 2016), die Zarenfamilie selbst wurde erschossen. Die sich anschließend an die Revolutionsjahre etablierten Machthabenden mit Stalin an der Spitze der Sowjetunion wandten exzessiv die Staatsgewalt für die politisch motivierten Massentötungen von Klassen- und Staatsfeinden aller Couleurs an8 (vgl. Snyder, 2014, S. 79ff.). Schließlich brachte die forcierte Industrialisierung und Kollektivierung in den Jahren 1928 bis 1932 auch die Große Hungersnot 1933 in der Ukraine hervor, die Stalin zur Aufstandsbekämpfung nutzte und an der letztlich Millionen von Menschen starben (ebd., S. 43ff.)9. Lenin, dieser Übervater »Nichts in Deutschland ähnelte 1937 und 1938 annähernd der Hinrichtung von fast 400 000 Menschen in 18 Monaten gemäß dem sowjetischen Befehl 00447. In diesen Jahren wurden in Deutschland 267 Menschen zum Tode verurteilt, im Vergleich zu 378 326 Todesurteilen allein bei der Kulakenaktion in der UdSSR. […] Die Kulakenaktion war aber nicht die Gesamtheit des Großen Terrors. Sie ließ sich als Klassenkrieg ansehen oder wurde zumindest so dargestellt. Doch neben Klassenfeinden ermordete die Sowjetunion auch ethnische Feinde. Ende der dreißiger Jahre war das Hitler-Regime bekannt für seinen Rassismus und Antisemitismus. Die erste Erschießungskampagne angeblich feindlicher Nationalitäten fand aber in der Stalins Sowjetunion statt. […] 1937 und 1938 wurde eine Viertelmillion Sowjetbürger aus letztlich ethnischen Gründen erschossen« (Snyder, 2014, S. 104f., 107). 9 Snyder (2014) verbindet in seinem Buch Bloodlands nackte Zahlen mit Lebensgeschichten. Hier führen wir einige Auszüge an, auch weil das Thema in der Öffentlichkeit bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde: »Die Bestrafung der Bauern durch Massendeportation fiel mit dem massenhaften Einsatz von Zwangsarbeitern in der Sowjetwirtschaft zusammen. 1931 wurden Spezialsiedlungen und Konzentrationslager zu einem einzigen System zusammengefasst, der als Gulag bekannt ist. Der Gulag, den die Sowjets selbst ein ›System von Konzentrationslagern‹ nannten, begann parallel zur Kollektivierung der Landwirtschaft und hing von ihr ab. Er umfasste schließlich 746 Lagerkomplexe, in die bis 1953 rund 18 Millionen Menschen geschickt wurden, von denen zwischen anderthalb und drei Millionen während ihrer Haftstrafe starben. Der freie Bauer wurde zum Sklavenarbeiter, der die gewaltigen Kanäle, Bergwerke und Fabriken baute, die nach Stalins Überzeugung die Sowjetunion modernisieren würden« (Snyder, 2014, S. 48). »Ohne Bedrohung von außen oder Herausforderung im Inneren, ohne irgendeine mögliche Rechtfertigung außer dem Beweis für die Absolutheit seiner Herrschaft, entschied sich Stalin in den letzten Wochen des Jahres 1932 dafür, Millionen von Menschen in der Ukraine umzubringen« (ebd., S. 62f.). »Die Hungersnot führte nicht zum Aufstand, sondern zu Amoralität, Verbrechen, Gleichgültigkeit, Wahnsinn, Paralyse und schließlich zum Tod. […] Der Tod war langsam, demütigend, allgegenwärtig und tierisch. Mit einer gewissen Würde an Hunger zu sterben, war fast keinem möglich« (ebd., S. 67). »Überleben war nicht nur ein physischer, sondern auch ein moralischer Kampf. Eine Ärztin 8

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der Revolution und Symbol der sowjetischen Vergangenheit der Ukraine, wird im rituellen Akt getötet. Tatsächlich wird sich bald die Frage stellen, welche neuen Statuen Lenin ersetzen sollen – den Platz leer zu lassen, ihn nicht wieder mit einer symbolträchtigen Figur zu füllen, scheint unmöglich. Das Lenin-Denkmal wird am 8.  Dezember 2013 nicht im Rahmen einer umstrittenen und vielfach kritisierten10 Symbolpolitik, die mit den Entkommunisierungsgesetzen vom 9.  April 2015 (Zakon Ukrainy 314VIII, 315-VIII, 316-VIII, 317-VIII) nachträglich eingeleitet wird, sondern in dem von Freud beschriebenen rechtsfreien Rahmen zerstört, in dem Moment, in dem politischer Kampf zu einem echten Kampf auf den Straßen wird, weil es den Konsens in der Frage, wie der Staat seine Gewalt ausüben darf, zwischen den Regierenden und dem Volk nicht mehr gibt. Somit gibt es in der Zeit keine Macht, die die Gesetze in der Ukraine in der Zeit des Majdan 2013/2014 durchsetzen kann. Lenin ist von der Gemeinschaft als Ziel zur Zerstörung freigegeben. Deswegen entlädt sich die Zerstörung an diesem speziellen Ziel. Es kommt zu einer zeitweisen Regression in der Gruppe. Dabei wird den tieferliegenden Aggressions- und Racheimpulsen, die kannibalistisch anmuten, freier Lauf gelassen. Das sakrale Ritual gibt dieser zerstörerischen Aggression einen Rahmen, ermöglicht die Wiederholung und zügelt das Ausmaß. So können die Wunschregungen, die normalerweise im sozialen Miteinandersein einer Gruppe verpönt und verbannt sind, doch noch ihre Erfüllung finden.

Narzisstische Inszenierungen: Die Geburts- und Todesstunde der Held*innen

Der Höhepunkt der zerstörerischen Gewalt am Majdan 2013/2014 sind aber die Tage zwischen dem 18. und dem 20. Februar 2014, als mehrfach versucht wird, den Majdan mit Spezialkräften zu stürmen (o. A., 2014, schrieb im Juni 1933 an eine Freundin, sie sei noch keine Kannibalin geworden, aber sie sei ›nicht sicher, ob ich es nicht werde, bevor mein Brief dich erreicht‹« (ebd., S. 71). »Es scheint vernünftig, für die Ukraine 1932/1933 eine Zahl von ca. 3,3 Millionen Toten durch Hunger und Folgekrankheiten anzunehmen« (ebd., S. 73). 10 Ein Überblick über die Diskussion ist hier zu finden: o. A. (2015), ein Beispiel der Kritik bei Kojnasch (2015).

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S. 150f.). Für viele sind diese Tage die Tage ihrer Todesstunde: Es sterben 77 Menschen (Bohdanowytsch et al., 2014). Für viele sind es die Tage der Konfrontation mit dem Realtod. Die Zeitzeugenberichte aus diesen Februartagen sind von Angst durchflutet (Sabuschko & Teren, 2014, S. 121ff.). Im mit dem Titel »Die Erschießung« überschriebenen Bericht von Gilead Kroaton (2014, S. 121ff.) geht es um das »Warten auf den Tod«, das Knallen von Schüssen, rundherum liegen Tote und Verletzte und alles ist von Blut überströmt. Der Kampf wird als ungleicher Kampf beschrieben, eigentlich als gar kein Kampf. Die Protestierenden erleben sich als schwach und klein (ebd., S. 123) oder getrieben wie eine Kuh (ebd., S. 108). Sie haben lediglich Stöcke und Flaschen in den Händen (ebd., S.  124). Ihre Würfe können den Feind gar nicht erreichen (ebd.). Dieser Feind erscheint unter solchen Umständen unbesiegbar; die Größe der Gegnerschaft wird stets mit Großbuchstaben markiert: SIE. Hier erleben die Zeitzeug*innen sich und andere Beteiligte als unbewaffnete, erschrockene, verlorene Menschen mit Hoffnungs- und Machtlosigkeit sowie Verzweiflung. Im Kampf wird eine Gemeinschaft hergestellt, gegen den Feind, aber auch eine, von der diejenigen ausgeschlossen sind, die nicht dabei sind; verwiesen wird auf die »Tastaturrevolutionäre« (ebd., S. 121). Diese werden beschämt: Wenn ich aus Angst nicht mitmachen würde, könnte ich mir noch in die Augen schauen? (ebd., S. 122). Die Konfrontation mit der Todesangst belebt und scheint das Lebensgefühl erneut zu entfachen. Unter der Oberfläche zeigen sich euphorische Züge: Jetzt sind wir im richtigen Kampf. Zugleich irritieren die Versuche der Erzählenden, das ohnehin intensive Todesangsterleben mit Pathos zu veredeln, ihm mehr Sinn geben zu wollen, als das blanke Überleben allein es hergeben würde. Die Opfererzählung mündet in einer Heldeninszenierung. Schon der Titel des Berichtes ist irritierend: Die angebliche »Erschießung« soll die des Zeitzeugen sein, der diese überlebt hat, also nicht erschossen worden ist (ebd., S. 125). Einerseits sind die Protestierenden die Opfer, die an diesem Tag von Scharfschützen erschossen werden. Andererseits sind gleichzeitig alle, die diese Erschießung überlebt haben, auch Held*innen. Das ist die psychodynamische Kernszene am Majdan, die sich entfaltet und transportiert wird: aus einer erniedrigenden, passiven, ohnmächtigen Opferposition in eine aggressive, kämpferische, heldenhaft-euphorische Täter*innenhaltung zu kommen. Das Ziel des Aufstandes scheint eine 138

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Wiederermächtigung als Held*in zu sein; der für den Aufstand notwendige Größenwahn, der die Menschen zu mutigen bis zu halsbrecherischen Taten mitreißt – unbewaffnet und ungeschützt unter der Scharfschützenkugel zu laufen –, ist verbunden mit zerstörerischen Lustmomenten und muss in pathetischen Selbstinszenierungen veredelt werden. Die anderen Kämpfer*innen werden durch das gemeinsam Erlebte zu Freund*innen (ebd., S. 124); die Bindung wird »mit Blut besiegelt«. Das hat auch eine symbolische Funktion. Eine solche Bindung hat laut Kappeler den Ukrainer*innen – wir müssen an dieser Stelle präzisieren: in der postsowjetischen Geschichte – noch gefehlt: »Die Ukrainer haben die Unabhängigkeit rasch und ohne größere Konflikte und Rückschläge erreicht. Im Gegensatz zu den Litauern, Esten oder Georgiern fiel ihnen der neue Staat fast kampflos in den Schoß. Für die Staatsbildung fehlt ihnen deshalb die integrative Wirkung des gemeinsamen Befreiungskampfes« (Kappeler, 2000, S. 252).

Mit dem Majdan 2013/2014 ist sie nun nachgeholt.

Ein unterbrochener Trauerprozess

Unmittelbar nach dem Höhepunkt des Tötens und Sterbens am Majdan folgt der Durchbruch und der Sieg des Majdan als ein politischer Prozess: Janukowytsch ist aus dem Land verjagt worden, die alten Eliten scheinbar entmachtet, ein Machtwechsel findet statt (o. A., 2014, S. 151f.). Es gibt Anlass zur Freude. Es ist zugleich die Zeit, die Verstorbenen zu Grabe zu tragen, Zeit zu trauern, Zeit zu weinen (Sabuschko & Teren, 2014, S. 144ff.). Ein Text von Aleksandra Kovaleva (2014, S. 144f.) zeigt aber, dass andere Gefühle die Szene beherrschen. Der Schmerz wird von Ernüchterung und Wut überschattet: »Die Blumen auf den Pflastersteinen sind noch nicht einmal verwelkt und die neuen alten Führer veranstalten bereits einen Tanz auf ihren Knochen: ›Danke, dass ihr für uns den Weg geebnet habt.‹ Wir haben Euch den Weg nicht geebnet, Ihr seid auf diesen Weg hinaufgekrochen. Unverschämt und flegelhaft, wie immer« (ebd., S. 144).

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Obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht, wer an die Macht kommen und wie regiert werden wird, entfachen diese Zeilen eine Wutdynamik, wie wir sie aus den Kommentaren zum Nayyem-Aufruf und in Hinsicht auf die alte Janukowytsch-Regierung am Beginn des Majdan kennengelernt haben (Skip-Schrötter, 2017, A1.1, S. 14f., Z. 266–279; S. 17, Z. 329–353). Der Majdan ist vorbei – die Wut ist geblieben. Die Zeitzeugin konstruiert einen neuen Feind – die »neuen alten Eliten« – in der Gestalt einer »Zecke« oder von »Zynikern« (Kovaleva, 2014, S. 144). Die Spaltung in »ihr, da oben« – »wir, da unten« wird hier erneuert. Es ist eine Zeit der nachträglichen Sinngebung. Nachträglich stellt sich zu obigen Zeilen die Frage nach der Absicht, nach dem Motiv: Warum haben Menschen am Majdan teilgenommen? Es wird ihnen unterstellt, sie hätten es für »eine neue Ukraine« gemacht. Das Ergebnis des Majdan – die Toten, die Opfer einerseits, und die neuen alten Eliten an der Macht andererseits – offenbart sich in diesem Text zunächst als sinn- und hoffnungslos. Die Ernüchterung darüber und die Trauer machen einer neuen Erzählung Platz: »Ich habe ein paar Pflastersteine vom Majdan mit nach Hause genommen. Ich denke, die werden dort derweil nicht gebraucht. Sie sollen bei mir liegen. Auf Vorrat. Denn schon sehr bald werden wir die neuen Zecken entfernen müssen. Sie saugen sich jetzt schon an, nur, falls es jemandem noch nicht aufgefallen ist« (ebd.).

Es ist der Kampf selbst, der zum Symbol wird. Die Zeitzeugin selbst holt sich Pflastersteine vom Majdan – sie gemahnen an die »Helden der Pflastersteine«, so der Titel des Beitrags, stellen aber auch einen Vorrat dar, »[d]enn schon sehr bald werden wir die neuen Zecken entfernen müssen«. Diese Szene markiert den Beginn einer neuen Dynamik: Im Text wird sowohl der »neue alte« Feind für den zukünftigen Kampf als auch die Idee, für die sich die Protestierenden geopfert haben sollten, konstruiert. In den darauffolgenden Passagen gibt die Zeitzeugin Einblick in die Erinnerungs- und Gedenkkultur der Ukraine (ebd., S. 144f.). Sie fürchtet, dass der Majdan mit Asphalt zugewalzt werden wird und dann der Widerstand keine Pflastersteine mehr als Waffen zur Verfügung haben könnte. Die Pflastersteine – eines der wichtigen Symbole des Majdan – könnten bewusst vernichtet werden. Im nächsten Satz äußert sie den Wunsch, dass der Widerstand in den Straßen des Majdan noch verstärkt integriert werden 140

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soll: Sie verlangt nach kleinen Steinen, die sich leichter lösen lassen und weiter geworfen werden können. Alles in allem entsteht die Idee einer permanenten Revolution. Weiters werden wir Zeug*innen eines Symbolwechsels: Statt des Denkmals für Lenin soll ein Denkmal für die Am-Majdan-Gefallenen errichtet werden (ebd., S. 145). Wir erinnern uns an die Lenin-Szene. Hier, am Ende des Kämpfens und Ringens am Majdan, wird die Unmöglichkeit, den Platz leer zu belassen, artikuliert: Auf ein altes Idol muss etwas folgen, laut Zeitzeugin wird unweigerlich etwas folgen. Es ist nur die Frage, wer oder was im Denkmal verewigt werden wird. Wir können uns hier fragen, woran ein Denkmal, das die jungen Gefallenen darstellt, auf unbewusster Ebene erinnern würde: Es wäre ein Mahnmal der Zerstörung. Sie würde, so die Zeitzeugin, dorthin keine Blumen legen, sondern jene Pflastersteine hinbringen, die aus einer Straße herausgelöst und auf den Gegner geworfen worden sind, Waffen des Kampfes und Sinnbilder der Destruktion. Sowohl das Lenin-Denkmal als auch seine Nachfolge sind mächtige Symbole der Zerstörung. Was bedeutet es, wenn die Gewalt in Stein gemeißelt und zugleich als jederzeit abrufbare Kraft verewigt wird? Handelt es sich hier um einen Container für Brutalität und Gewalt, der im Sinne Bions (vgl. Bion, 1962) deren Symbolisierung zuarbeitet, oder um eine Krypta (Abraham & Torok, 1972; vgl. Brunner, 2011a, b), welche die Gewalt nur konserviert? Die Zeit der Zerstörung ist vorbei. Die Steine werden wieder eingesammelt und zum (Wiederauf-)Bau der Straße des Majdan verwendet. So ist in der wiederhergestellten Straße des Majdan die immer mögliche potenzielle Wiederkehr des Kampfes inkludiert. Der Verweis auf die Bibel11 im Text (ebd.), die Mitnahme der Pflastersteine als Trophäen, als Stücke der Erinnerung an Zerstörung, junge Menschen als Opfer-Held*innen, als Märtyrer*innen gemahnen auch in diesem Text an Szenen eines sakralen Opferritus, die uns im Zusammenhang mit dem Lenin-Denkmal bereits begegnet sind. In den Szenen werden vor allem Wut und Schmerz über den Verlust und Enttäuschung und Verbitterung über die Post-Majdan-Realität spürbar. Aus einer manifesten Zerstörung heraus wird in der Fantasie bereits ein Wiederaufbauprozess, der diese Zerstörungsfantasie und -realität mitintegriert, kanalisiert und ihr letztlich einen symbolischen Rahmen gibt, gestar11 »Es gibt eine Zeit, mit Steinen zu werfen, und es gibt eine Zeit, Steine einzusammeln« aus dem Buch Kohelet 3:5.

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tet. In diesem symbolischen Rahmen wird allerdings die Wut mitkonserviert und abrufbereit gehalten. Die Trauer über Tote findet nicht statt. Sie werden zu den notwendigen Opfern und zu Held*innen eines nationalen Befreiungskampfes stilisiert. Der Verlust und die Realität des Todes werden abgewehrt und nicht anerkannt.

Was vom Majdan 2013/2014 bleibt: Trophäe und Triumph Was bleibt auf der symbolischen Bühne des Majdan, nachdem die MajdanProteste weitestgehend vorbei sind, was bleibt also wenige Tage danach am selben Ort, im Zentrum von Kyjiw? – Einblicke darin gewährt ein weiterer Zeitzeug*innenbericht vom 25. Februar 2014 (Sabuschko & Teren, 2014, S. 149f.). Es ist eine Erzählung ohne Autor und Titel, was seinen mythisch-symbolischen Charakter noch mehr hervorhebt: Es bleibt letztlich unklar, ob sich so eine Situation, von der der*die unbekannte Autor*in als Beobachter*in berichtet, wirklich in jenen Tagen in Kyjiw ereignet hat oder ob sich das fiktive Geschehen allein in der Fantasie des*r Autor*in entfaltet. Entlang dieses Textes wollen wir der Verbindung zwischen Trophäe und Triumph vor dem Hintergrund des Aufsatzes »Über Trophäe und Triumph« von Otto Fenichel (1939) nachgehen. Dramatisch wird eine Szene geschildert, die mit einer gewöhnlichen Verkehrssituation im frühmorgendlichen Kyjiw startet: Es herrscht Stau, weil die Polizei den Weg für eine Eskorte frei macht. Da betritt ein Held – ein junger Mann  – die Bühne (Sabuschko  & Teren, 2014, S.  149). Der Moment, als dieser die Skimaske aufsetzt, verändert die Szene: Die Gespräche verstummen. Alle – die Menschen im Linienkleinbus und der*die Autor*in – schauen gebannt diesem Mann zu, beobachten ihn. Die Skimaske tritt als Reminiszenz auf: Die Protestierenden am Majdan waren oft vermummt. Aus dem Kofferraum werden weitere Majdan-Symbole, die zugleich Trophäen sind, herausgeholt: ein Reifendeckel und zunächst undefinierte Fetzen. Die Spannung in der Szene steigt. Unser Held nimmt die Bühne in Besitz – in der Mitte der breiten Kyjiwer Straße stellt er seine Installation auf: »Er stellt den Reifendeckel in die Mitte der Straße, stützt ihn mit einem Stück vom Gehsteigrand ab. Die Fetzen entpuppen sich als eine abgewetzte Jacke in Khakifarben mit den Symbolen der Selbstverteidigungshundert-

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schaft des Majdan und als eine mit etwas Braunrotem verschmierte Fahne der Ukraine. Der Bursche zieht langsam die Jacke an, rollt die Fahne aus, in die, wie es sich herausstellt, ein Schläger eingewickelt war« (ebd., S. 150).

Die Installation richtet sich an die Eskorte der Mächtigen, die dadurch zum Anhalten gebracht wird: »Ein paar Sicherheitsleute springen heraus und gehen auf ihn zu. Was soll das? Ein Majdanutyj [ein vom Majdan verrückt Gewordener, Anm. der Übersetzerin]. Wir werden ihn jetzt einfach unauffällig wegzerren und wenn etwas passiert, ihm ein bisschen Angst einjagen: ›Was’, go!‹ Was macht er dort, lächelt er oder was? Hey Du, Freund! Los, nimm hier Deine Installation auseinander und geh weg, jetzt, komm schon, geh weg! Der Ausdruck in des Burschen Augen versteinert sich. Statt zu antworten tritt er einen Schritt zurück, hebt eine Faust in die Höhe und schreit bestimmt und mit voller Stimme: ›Slawa Ukraini!!! Ruhm der Ukraine!!!‹ Die Sicherheitsleute entspannen sich für einen Sekundenbruchteil und versuchen sich bewusst zu machen: Es ist einfach ein Freak, aber im zweiten Sekundenbruchteil explodiert der ganze Raum des Prospekts mit einem Antwortschrei: ›Herojam Slawa!!! Ruhm den Helden!!!‹ Menschen steigen aus den Autos und Linienkleinbussen aus. Manche setzen Sturmhauben auf, irgendwo im Augenwinkel ist eine rot-schwarze Fahne zu sehen. Eine stumme Szene. In der Ferne beginnt irgendjemand mit Stöcken auf Blech zu schlagen« (ebd., S. 150).

In diesen Passagen werden zwei mögliche Auflösungen der Situation einander gegenübergestellt. Für gewöhnlich wäre der allein dastehende Mann für verrückt erklärt worden und einfach entfernt, verjagt worden. Im Zuge des Majdan sind einige Neologismen entstanden, »Majdanutyj«  – ein vom Majdan verrückt Gewordener – ist einer davon. Tatsächlich ist durch den Majdan auch die zweite Möglichkeit, solche Situationen aufzulösen, entstanden – etwas ist ver-rückt, verändert, bewegt worden. Was danach beschrieben wird, ist ein Moment des Triumphs. Zunächst rein auf der Ebene der Handlungssprache  – der Mann spricht nicht, er tut: einen Schritt zurück, versteinerter Ausdruck in den Augen, eine Faust wird gereckt. Die Faust ist am Majdan des Öfteren als Symbol des Kampfes aufgetaucht. Dem ist auch hier so. Und der Mann schreit. Dieser Schrei 143

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scheint einerseits für Entspannung (»Die Sicherheitsleute entspannen sich für einen Sekundenbruchteil«), andererseits für ein Einschalten des Denkens zu sorgen. Der Moment des Denkens bleibt dennoch nur kurz. Es folgt eine Gruppenekstase, eine Euphorie. Und diese Euphorie ist eine stumme, eine sprachlose. Sie ist das Erlebnis pur. Lediglich durch den Klang auf Blech schlagender Stöcke wird sie verstärkt. Dieser Klang hört sich wie ein Anruf zum Kampf an, wie ein Eintrommeln, ein Einstimmen, ein Anfeuern. So ist es vielleicht nicht mehr verwunderlich, dass die Menschen auf den Majdan gegangen sind: um diesen Moment des Triumphs, des Sieges zu beleben und zu erleben. Und so kann hier gefragt werden, weswegen die Menschen dieses euphorisch-triumphierende Gefühl so dringend gebraucht haben. Der Text gibt auch darauf eine beeindruckende Antwort, indem er zwei Szenen zur selben Zeit an denselben Ort nebeneinanderstellt: die Unterwerfung unter die Mächtigen, die mit ihrer Eskorte die Weiterfahrt der Bevölkerung verhindern, und den Triumph über diese Mächtigen, die nun selbst an der Weiterfahrt gehindert werden. Je weiter man sich vom Epizentrum des Geschehens am Majdan in Zeit und Raum entfernt, umso dringlicher stellt sich die Frage danach, was von dieser Erfahrung bleibt, eine Frage des Ge- und Andenkens, eine Frage der symbolischen Erinnerung. Vom Majdan nehmen die Teilnehmenden Gegenstände mit: Stückchen des zerstörten Lenin-Denkmals, Pflastersteine, herausgelöst aus dem Straßenbelag am Majdan, eine Skimaske bzw. Sturmhaube, eine Jacke, die man trug, einen Schläger. All diese Gegenstände erinnern an den Kampf, sind Symbole des Kampfes am Majdan. Sie sind mitgenommen worden: in die eigene Wohnung bzw. den Kofferraum des Autos. Indem sie in die Privatsphäre, in die Behausungen, hineingetragen werden, werden sie einverleibt. All diese Gegenstände erinnern auch an das triumphierende Gefühl eines Siegers bzw. einer Siegerin, der*die sich, mit dem Fuß auf dem Kopf des*der Besiegten, Trophäenfotos, wie in den Filmszenen um das LeninDenkmal herum geschehen, anfertigen lässt. Die mitgenommenen Andenken können wir als Trophäen aus einem gewonnenen Machtkampf betrachten. Der Majdan 2013/2014 geht in die Geschichte der Ukraine unter dem Namen »Die Revolution der Würde« ein. Die Assoziationen, die im Zusammenhang mit dem Majdan 2013/2014 auftauchen, sind die der »Wiedererstehung des gebeugten Menschen«, die der Bemächtigung bzw. Selbstermächtigung. 144

Majdan 2013/2014 in der Ukraine

Die Trophäen sind die Insignien der Macht: »Der substantielle Machtbegriff ist die Trophäe« (Fenichel, 1939, S. 269). Fenichel betont, es sei wichtig zu erkennen, dass die Trophäe ein Ersatz für die Macht sei (ebd.). Ihre Funktion ist die Aussöhnung, die Beruhigung der aggressiven Strebungen, indem diese, zumindest teilweise, ersatzbefriedigt werden: »Die Illusion einer rein magischen Beteiligung an der Macht kann mit der realen Ohnmacht bis zu einem gewissen Grade aussöhnen« (ebd., S. 271). Fenichel führt weiter zur sozialen Realität aus: »[…] wie es möglich ist, daß sich Gesellschaften erhalten, deren meisten Mitgliedern alle Befriedigungsmöglichkeiten geraubt sind, obwohl die Güter, die zu ihrer Befriedigung notwendig wären, vorhanden sind. Wie können Haßstauungen so gewaltigen Ausmaßes, wie sie sich unter solchen Bedingungen bilden müssen, an der Eruption verhindert werden?« (ebd., S. 272).

Das geschehe durch äußere Gewalt, worunter auch die Staatsgewalt zu subsumieren ist, und durch eine seelische Umstrukturierung im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenlebens (ebd.). Fenichel folgt in seiner Argumentation Freuds Überlegungen aus dem Unbehagen in der Kultur (1930), formuliert diese aber dezidiert machttheoretisch: Freud hatte aufgezeigt, wie die Individuen ihre kulturfeindlichen Strebungen unter dem Druck der Kultur in Form des Über-Ichs nach innen wenden. Das produziere beständige Schuldgefühle, die das ständig schwelende »Unbehagen in der Kultur« konstituieren. Fenichel betont – wie Freud ja in den obigen Ausführungen zum Verhältnis von Gewalt und Recht auch –, dass die Wendung der Aggression gegen innen, die unter ungleichen Machtverhältnissen stattfindet, auch eine Unterwerfung unter gesellschaftliche Autoritäten darstellt. Und er betont, dass dieser Unterwerfung auch ein Machtversprechen innewohnt: Die gesellschaftlich Ohnmächtigen können illusionär magisch an der Macht partizipieren. Die Über-Ich-Bildung bringt er mit dem Erwerb einer Trophäe in Verbindung: Das Kind, das allmählich seine Allmachtsfantasien verlieren müsse, könne den Allmachtsglauben erhalten, indem es die Eltern für allmächtig halte und in Form von Zuneigung durch diese wieder etwas von der verlorenen Allmacht erhalte. Das Über-Ich selbst stelle eine Machttrophäe dar: »Mit Hilfe des Über-Ichs ›partizipiert‹ das Ich an der Macht des mächtigeren Vaters, der Erwerb des Über-Ichs entspricht dem Erwerb einer Trophäe« (ebd., S. 275). Das ist die erste Bewegung: Aus der 145

Julia Skip-Schrötter & Markus Brunner

ren Gewalt bzw. Macht wird eine innere Gewalt/Instanz. Anschließend komme es zur zweiten psychischen Bewegung: Die innere Instanz des Über-Ichs – wir kennen das von Freuds Überlegungen zur Massenpsychologie (1921c) – werde nach außen auf gesellschaftliche Autoritäten projiziert. In den Worten von Fromm (zit. n. Fenichel, 1939, S. 275): »Das Individuum bekleidet die faktischen Autoritäten mit Eigenschaften seines eigenen Über-Ichs. Für diese Art der Projektion des Über-Ichs auf die Autoritäten werden diese weitgehend der rationalen Kritik entzogen«. Dies sei überhaupt das Wesen der Autorität; in der Identifikation mit den Mächtigen könne imaginär an deren Macht partizipiert werden. Die Unterwerfung bleibt aber stets eine ambivalente: Eine »Feindseligkeit, der ›latente Aufstand‹ doch auch irgendwo erhalten ist« (ebd., S. 276), und der Wunsch, die Macht nicht nur illusionär an sich zu reißen, bleibe. Während das Über-Ich im Inneren stets auch das Ich bedrängt, gibt es triumphale Situationen, in denen nicht nur die zweite Bewegung, die Projektion der Macht des eigenen Über-Ichs nach außen, zurückgenommen wird, sondern auch das Ich mit dem Über-Ich zusammenfallen kann. Triumph- und Allmachtsgefühle werden durch das Abwerfen von Schuldgefühlen ermöglicht. »Erfolgt der Wegfall der Schuldgefühle besonders schnell und ausgiebig, so erhält die narzißtische Befriedigung einen übertriebenen, lustigen Charakter, und die plötzlich freiwerdende Energie, die bisher in Schuldgefühlen gebunden war, wird als Lachen und allgemeine Agilität des Ichs abgeführt« (ebd., S. 277). Diesen Zustand kennen wir in Gestalt der Manie bzw. können ihn bei Festen erleben: »Feste sind periodisch wiederkehrende Ereignisse, bei denen sonst gültige gesellschaftliche Verbote aufgehoben sind. […] Der gesellschaftliche Sinn dieser Institution ist somit klar: eine symbolische ›Rebellion‹ ist der bestehenden Ordnung lieber als eine reale. Dem Volk muß man außer ›panem‹ auch ›circenses‹ geben, Gelegenheit, die aufrührerischen, sadistischen Neigungen an einer ungefährlichen Stelle abzuführen« (ebd.).

Im realen oder imaginären Aufstand, der den Mächtigen die Macht entreißt, fallen, so Fenichel, »die Hemmungen fort – und gebunden gewesene Energien werden in maniakalischen [d. h. manischen] Handlungen und Gefühlen frei. Triumph ist der Wegfall von Angst und Hemmungen durch den Trophäenerwerb, Aus-

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Majdan 2013/2014 in der Ukraine

druck der Vereinigung des bisher Ohnmächtigen mit der Macht (auch durch den Wegfall der Angst, die zu besiegen der Machtwille besonders verstärkt worden war). Wie dem Rausch der Kater, kann auch dem Triumph die gesteigerte Angst vor der ihre Sonderexistenz fortführenden Trophäe folgen« (ebd.).

So schließt sich die Bewegung: Am Beginn des Majdan 2013/2014 gehen die Protestierenden auf der Suche nach einer Wiederholung des triumphhaften euphorischen Erlebens des Majdan 2004, wo all diese Affekte Raum gefunden haben, und das einhergehend mit einem Machtwechsel in der Politik – das heißt, das affektive Erleben mündete in dem Erlebnis einer Machtergreifung zum Majdan. Am Ende bleiben ihnen die mit Blut getränkten Trophäen als Erinnerung und Zugangsmöglichkeit in den Raum eines durchaus mythisch angehauchten Triumphs, um das Erlebnis einer zurückeroberten Macht erneut wiederholen zu können. Die physischen Trophäen, Insignien der Macht, erhöhen ihre Besitzer*innen, zugleich lauert in ihnen, so stellt Fenichel im letzten zitierten Satz klar – als ÜberIch-hafte Elemente – auch die Rache der Mächtigen. Paranoide Fantasien begleiten die Erinnerung an den Triumph.

Zwischen Fluch und Segen: Wiederholungszwang und Wiederholung am Majdan Der Majdan 2013/2014 wie die Majdan-Tradition in der Ukraine oszillieren zwischen Wiederholungszwang und der Möglichkeit aktualisierender Wiederholung mit Veränderungspotenzial. Einerseits steckt in ihm ein Abrufen von aggressiv-zerstörerischen, mit Freud könnte man sagen kulturfeindlichen Potenzialen, die im Majdan ein Ventil finden und wiederkehren müssen, solange eine realitätsgerechte Trauer um das Verlorene, sowohl um die wirklich Gestorbenen wie auch um die verlorengegangenen Großmachtsfantasien, unter denen man zwar gelitten, aber auch kollektiv partizipiert hatte, abgewehrt wird. Das bloße Streben nach Wiedererlangen eines Triumphgefühls, in dem die gesellschaftskonstituierenden Schuldgefühle, also das, was Freud das »Unbehagen in der Kultur« nannte, abgeworfen und die innerhalb der ukrainischen Gesellschaft wirkenden politischen Konfliktlagen verleugnet werden können, verunmöglicht es, die Dynamik von Unterwerfung und Rebellion 147

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zu durchbrechen und sich im Sinne einer Demokratisierung von Machtträger*innen zu entidentifizieren. Andererseits steckt das progressiv-wiederholende Potenzial wohl im ritualhaften Charakter selbst, der Inszenierung eines rituellen Triumphs, der beides zugleich ist: sowohl Ersatz für eine Machtpartizipation als auch die Machtpartizipation schlechthin – als ein Ergreifen, gar ein kollektives Entreißen der Macht durch die Masse aus den Händen Einzelner. In diesem Sinne lehrt der Majdan jede*n, der*die die politische Bühne in der Ukraine betritt, auch das Fürchten. Und so leistet der Majdan der Weiterentwicklung der demokratischen politischen Kultur in der Ukraine letztlich doch gute Dienste, wenn auch dieser therapeutisch anmutende gesellschaftspolitische Entwicklungsprozess durchaus manchmal dem Rhythmus »Zwei Schritte nach vorne und wieder drei Schritte zurück« zu folgen scheint.

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Biografische Notiz Julia Skip-Schrötter, MMag.a, ist eine aus der Ukraine stammende und in Wien praktizierende Psychoanalytikerin. Davor hat sie ihre Studien der Wirtschaftswissenschaften in der Ukraine und in Deutschland abgeschlossen und mehrere Jahre in Controlling & Finance sowie in IT in international tätigen Unternehmen gearbeitet. In ihrer analytischen Arbeit widmet sie sich insbesondere den Dynamiken in Gruppen und Paaren sowie psychischen Prozessen im Zuge einer Migrationserfahrung. Sie engagiert sich für das vermittelnde Verstehen gesellschaftlicher Transformationen im postsowjetischen Raum, insbesondere in der Ukraine. Zu politischen Ereignissen am Majdan 2013/2014 in der Ukraine hat sie jahrelang in der Tiefenhermeneutik-Gruppe an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien geforscht. Ihre weiteren Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Psychoanalyse und Kunst, Körpererleben in der Psychoanalyse sowie Gender Studies. Zuletzt ist 2018 ihr Artikel »Was tun mit dem Nichts zwischen Zerstören und Bauen?« bei Der Wiener Psychoanalytiker erschienen. Markus Brunner, Mag. Dr. Phil., studierte Sozialpsychologie und Soziologie in Zürich und Hannover und promovierte zur psychoanalytischen Sozialpsychologie. Er arbeitet als Lehrbeauftragter und Co-Leiter des Psychologie-Master-Studienschwerpunktes »Sozialpsychologie und psychosoziale Praxis« an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, ist Mitherausgeber der Zeitschriften Freie Assoziation, Psychologie und Gesellschaftskritik und der Schriftenreihe Kritische Sozialpsychologie bei Springer VS und Ausbildungskandidat

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Majdan 2013/2014 in der Ukraine am Seminar für Gruppenanalyse Zürich (SGAZ). Er ist Gründungsmitglied der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie (GfpS), der AG Politische Psychologie und der Forschungswerkstatt Tiefenhermeneutik. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Psychoanalyse, psychoanalytischer Sozialpsychologie und Kritischer Theorie.

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Das Unbehagen in der Arbeitswelt

Das Unbehagen in der Arbeitswelt Lutz Eichler

Einleitung Das Unbehagen in der Kultur entsteht in erster Linie aus der Not zur Arbeit. Diese Not ist der Kern des Realitätsprinzips, das dem Lustprinzip entgegensteht. Ein gelungenes Arrangement mit der Erwerbsarbeit müsste das Unbehagen an der Kultur reduzieren. Wie steht es um solche Arrangements heute?1 1

Einige Vorbemerkungen zum Begriff der Arbeit: Der Begriff der Arbeit sei »slippery«, formulierte treffend der amerikanische Arbeitssoziologe Richard H. Hall (1994, S.  3, zit. n. Voß, 2018, S. 15). »Sauber« trennscharfe Definitionen und Unterscheidungen sind schwer und auch in diesem Text wird der Begriff notwendig changieren. Präzision ist bei Begriffen, in denen sich der gesamte historische und gesellschaftliche Prozess spiegelt, nicht zwingend der Weisheit letzter Schluss, da man dadurch mit dem Begriff verbundene Konnotationen und Reminiszenzen abschneiden würde. Was mit Arbeit denn nun genau gemeint sei, kann ich nur bedingt an den Anfang stellen, einiges ergibt sich hoffentlich im Laufe des Textes. Hier ein paar erste Hinweise: Arbeit als anthropologische Naturnotwendigkeit und Arbeit im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise müssen voneinander unterschieden werden, um Lohn- oder Erwerbsarbeit nicht zu naturalisieren. Auch post-kapitalistisch werden wir arbeiten oder besser: tätig sein. Es ist nur zu erwarten und zu hoffen, dass das in Form, Inhalt und Ausmaß etwas völlig anderes werden wird. Empirisch ist die Differenz zwischen überhistorischer menschlicher Tätigkeit und Arbeit im Kapitalismus schwierig, unter anderem, da wir aktuell keine andere Produktionsweise als Vergleichsfolie zur Verfügung haben. Wir können uns nur philosophisch spekulativ eine grobe Vorstellung davon machen, wie es sein könnte. Auf eine der Utopien der Arbeit, ihre Vereinigung mit dem Spiel, komme ich unten zu sprechen. Alltagssprachlich wird unter Arbeit nach wie vor zuerst formelle Erwerbsarbeit verstanden, so auch hier. Damit ist die unbezahlte Reproduktions-, Sorge- oder Carearbeit zunächst nicht mitgemeint, obwohl die darauf verwendete Zeit die der Erwerbsarbeit übersteigt. Mit Nicht-Erwerbsarbeit befasse ich mich im Folgenden nicht, die

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Der Druck, ein solches Arrangement einzugehen, besteht bis heute fort. Ich schlage vor, idealtypisch zwei Arten der Verarbeitung des Konflikts von Lust und Arbeit zu unterscheiden, die mit verschiedenen Folgeproblemen verbunden sind. Sie unterscheiden sich in der Form der Aneignung, analytisch ausgedrückt, der Internalisierung von Arbeit. Die Differenz zwischen den Aneignungs- und Internalisierungsformen ist dimensional zu verstehen, das heißt, die Idealtypen bilden die Endpunkte auf einem Kontinuum. Am einen Ende findet eine Identifikation mit der Arbeit statt, am anderen Ende eine Introjektion. Die beiden Formen versuche ich jeweils in Verbindung mit der politischen Psychologie zu bringen. Die Problematik möchte ich im Rahmen von zwei Debatten entfalten. Im Ausgang der Diskussion um die Subjektivierung der Arbeit hat die arbeitssoziologische Sinnforschung die Frage aufgeworfen, wer, unter welchen Bedingungen und mit welchen Gründen Arbeit als sinnvoll erlebt und was man darunter zu verstehen hat. Diagnostiziert wird eine erhöhte »Aufmerksamkeit für Fragen des Sinns und des Sinnerlebens in der Arbeit, die einerseits auf die stärkere Einbindung und Forderung von Subjektivität in der Arbeit, andererseits aber auch auf zunehmende Belastungserfahrungen« (Hardering, 2017, S. 4) zurückgeführt werden. Wir finden hier ein, zumindest auf den ersten Blick, gelungenes Arrangement mit der arbeit im Care-Sektor hingegen unterliegt den gleichen grundlegenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten wie alle anderen Erwerbsarbeiten. Die Differenz zwischen unselbstständiger und selbstständiger Arbeit ist in bestimmten Dimensionen wichtig, in anderen nicht. Wichtiger ist im folgenden Zusammenhang die Differenz zwischen der Arbeit im wertbildenden Produktionsprozess und der wertrealisierenden Arbeit, also der gesamte Prozess des Kaufens und Verkaufens sowie der gedankliche Vorgriff darauf, also zum Beispiel die Kontrolle des Arbeitsprozesses. Es ist die Arbeit in der Funktion des Lohn- oder Gehaltsempfangenden und die Arbeit in der Funktion der Kapitalistin oder des Kapitalisten. In der Soloselbstständigkeit und bei kleinen Unternehmen fallen die beiden Rollen oft in einer Person zusammen, was an den beiden widersprüchlichen Interessenorientierungen nichts ändert. Freuds Arbeitsbegriff ist opak. Gerade dadurch stellt er aber eine Verbindung her, die durch ein präziseres Begriffsraster womöglich durchgefallen wäre und im Folgenden von Interesse ist: Jede Arbeit ist auch psychische Arbeit. Diese Überlegung ist der Marx’schen, Arbeit sei »Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (Marx, 1977 [1871], S. 58), vorzuziehen. Die Differenz der beiden geht natürlich auf verschiedene Forschungsinteressen zurück. Neben Voß (2018), mit sehr ausführlicher Literaturliste, ist für die Geschichte des Arbeitsbegriffs auch Brocker (1992) sehr lesenswert.

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Arbeit, bei der die Konfliktverarbeitung im Wesentlichen auf Sublimierung beruht. In dieser Variante, also der Aneignungsform Identifikation, stehen die Arbeitenden allerdings unter erheblichem Druck, der zu einer Skotomisierung der Arbeitsverhältnisse im Kapitalismus beitragen kann. In der zweiten Diskussion geht es um einen arbeitssoziologischen Beitrag zur Rechtspopulismusforschung. Rechtspopulist:innen sehen sich selbst als Teil einer Gemeinschaft der Schaffenden, die auf die Imago eines nicht-arbeitenden Außen angewiesen ist. Fremdgruppen werden als faul oder arbeitsunfähig vorgestellt. Auch hier findet eine Aneignung von Arbeit statt, allerdings eine deutlich andere. Autoritäre Orientierungen kann man nicht zuletzt am Bezug zur Arbeit und zur Verarbeitung der »natürlichen Arbeitsscheu« (Freud, 1930a, S. 438, Fn.) unterscheiden. Ein bis heute weit verbreitetes Vorurteil ist, dass andere Reichtum ohne Arbeit haben könnten. Dabei werden nicht in erster Linie jene Personen oder Institutionen mit dem Vorurteil bedacht, die tatsächlich Reichtum aus Vermögen oder Kapitalerträgen generieren, also große Immobilien-, Industrie-, Informations- oder Bankunternehmen, kurz: das Kapital (natürlich helfen uns auch ressentimentgeladene Kapitalismuskritiken nicht weiter, aber das ist hier nicht der springende Punkt). Stattdessen ist das Ressentiment nationalistisch, rassistisch und antisemitisch, es trifft also Personen, die, ganz wie die Vorurteilsbeladenen selbst, fleißig, faul und alles dazwischen sind. Diese, für den Autoritarismus bedeutende Verschiebungsleistung ist bereits umfassend analysiert worden. In diesem Beitrag möchte ich insgesamt nicht direkt an die breite psychoanalytisch-sozialpsychologische Vorurteilsforschung anknüpfen, sondern eher indirekt mit ihr in Dialog treten, indem ich die Szenerie aus der Perspektive der Arbeit beleuchte. Durchaus im Sinne der Autoritarismusforschung richte ich das Augenmerk ganz auf das Subjekt des Vorurteils. Was veranlasst es dazu, an Fremd- und Selbstbilder wie fleißige Wir-Gruppe/faule Fremdgruppe glauben zu müssen? Die naheliegende psychoanalytische Vermutung ist, dass verpönte Selbstanteile hier eine Rolle spielen. Immerhin geht es bei Arbeit um nicht weniger als die »Rechtfertigung der Existenz« (ebd.). Es gibt also nicht nur einen Arbeitszwang, sondern auch einen gehörigen Druck zur Selbstdarstellung als fleißig, leistungsaffin und arbeitsfreudig und zur Verinnerlichung des Arbeitsethos. Liebe lässt sich aber bekanntlich weder anordnen, noch per bewussten Willensakt herstellen, auch die Liebe zur Arbeit nicht. Bei der Versöhnung mit ihr, also der »Möglichkeit, ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten  […] auf die 157

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arbeit […] zu verschieben« (ebd.), muss im Falle der Vorurteilsbeladenen etwas schiefgelaufen sein. Die inneren Konflikte werden offenbar eher, so werde ich argumentieren, mit den Abwehrmitteln der Introjektion, Projektion und Spaltung verarbeitet. Die beiden Diskussionen sollen vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Kulturtheorie betrachtet werden. Zu diesem Zweck rekonstruiere ich zunächst Freuds Auffassung von Arbeit aus kritisch-theoretischer Perspektive, insbesondere im Rückgriff auf Marcuses Freud-Kritik.

Freud und die Arbeit Kultur ist im psychoanalytischen Verständnis repressiv und progressiv. Sie ist uns aufgezwungen und schränkt das Lustprinzip ein. Sie schützt uns aber auch vor der Natur und ermöglicht uns die Trennung von der Primärfamilie. Kultur steht der individuellen Freiheit direkt entgegen, wenn wir darunter die Freiheit des Lustprinzips verstehen, und sie ist ihre notwendige Bedingung, wenn wir ans Inzesttabu, das Tötungsverbot oder an technische und organisatorische Errungenschaften denken. Kultur verschafft uns eine relative Distanz vom natalen Familienzusammenhang und erlaubt den Beginn einer »Kausalität durch Freiheit« (Kant)2 im Gegensatz zur natürlichen Kausalität aus Notwendigkeit  – um den Preis, uns nun ans ethische Gesetz zu halten. Die Kultur hat auch zwei Quellen: »Das Zusammenleben der Menschen war zweifach begründet durch den Zwang zur Arbeit, den die äußere Not schuf und durch die Macht der Liebe. Eros und Ananke sind die Eltern der menschlichen Kultur geworden« (Freud, 1930a, S. 460). Beide bringen uns dazu, uns zu immer größeren Gruppen zusammenzuschließen. Die 2

Immanuel Kant unterschied eine »Kausalität nach Gesetzen der Natur« von einer »Kausalität durch Freiheit«. Er postulierte und bewies in seinen Augen die Möglichkeit der Freiheit des Menschen, der nicht in der Folge von Naturursachen, sondern aus Entschluss und Tat von sich aus Wirkungen hervorrufen könne. Freiheit gibt es Kant zufolge deswegen nur außer- bzw. oberhalb des kausalen Naturzusammenhangs. Die Möglichkeit der Freiheit bindet Kant an das Vernunft- als Reflexionsvermögen. Weil der Mensch über die Natur nachdenken kann, sich also von ihr gedanklich distanzieren kann, kann er sich selbst Gesetze geben und muss nicht den Gesetzen der Natur folgen (vgl. die dritte Antinomie der reinen Vernunft in der transzendentalen Dialektik, Kant, 2005 [1781/1787], S. 426ff.).

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Verhältnisse zwischen den Protagonist:innen bleiben aber kein harmonischer Familienroman. Eros bringt uns dazu, uns der Kulturarbeit und -gemeinschaft zu entziehen. Dennoch fußt auch die Kultur auf Libido, genauer: auf sublimierter Libido. Eine der Hauptbestrebungen der Kultur sei, so Freud, »die Menschen zu großen Einheiten zusammenzuballen« (ebd., S. 462). Aber auch Ananke führt nicht geradewegs zur Arbeits- und Interessengemeinschaft. Nächste sind uns nicht nur Helfer:innen und Mitarbeiter:innen und wir ihnen, sondern auch Konkurrent:innen. Deshalb könne sich die Kultur nicht damit begnügen, die Menschen vernünftig miteinander arbeiten zu lassen, sondern sie müsse die Mitglieder der Gemeinschaft auch, quasi sekundär, libidinös aneinanderbinden, so Freud. Die synthetisierende Kraft der Kultur allein scheint nicht zu reichen, um die aggressiven Tendenzen auszugleichen und durch Triebmischung zu entgiften. Eine Menge von Konkurrent:innen in Liebe aneinander zu binden, funktioniere am sichersten, wenn »nur andere für die Äußerung der Aggression übrig blieben« (ebd., S. 473). Den Hass aufs Fremde, auf »Andere«, führt Freud recht beiläufig durch einen begrifflichen Wechsel von Kultur zu Gemeinschaft ein. Die libidinöse Bindung reicht so nur bis zur Grenze der Wir-Gruppe. Die Spaltung der Kultur in feindliche Gruppen geht Freud zufolge zurück auf die Kombination von Konkurrenzsituation und dem Druck, die Aggression nicht unmittelbar äußern zu können. Die Ambitendenz von libidinöser Bindung und Rivalität zwischen den Arbeitsgemeinschaftsmitgliedern wird mit einer Verlagerung der Aggression auf Fremdgruppen verarbeitet. Diese Psychodynamik ist uns aus der Massenbildung bekannt. Die verlagerte Aggression hat aber eine noch tiefere Ursache: Ananke, die uns zur Arbeit zwingt. Die Natur ist zwar nicht »an sich« aggressiv, wohl aber »für uns«. Und wir wenden die Aggression gegen sie, um unsere Natur zu erhalten, indem wir ihr unsere Lebensmittel abringen. Eine der ursprünglichen Bedeutungen von Kultur ist Urbarmachung. »Das mit Kultur verwandte Wort ›Kolter‹ bezeichnet das Messer vor dem Pflugschar« (Eagleton, 2009, S. 7). »Mutter Natur« ernährt uns nicht einfach so und immerwährend, es bedarf dafür Kulturarbeit – eigentlich nicht nur zur Aneignung unmittelbaren Bedarfs, sondern auch zur Wiederherstellung der Natur, sodass sie uns am nächsten Tag erneut ernährt. Der zweite Teil wurde historisch so lange vernachlässigt, dass Kulturarbeit für einige Generationen liegen geblieben ist. 159

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Man kann der Lebensnot auch entgehen, indem man die Aggression der Natur gleichsam auf die Konkurrent:innen umlenkt und sich die Früchte ihrer Arbeit aneignet, indem man sie zwingt, für sich zu arbeiten. Man bringt sich in den Besitz eines Stücks Natur (zum Beispiel die oder der Feudalherr:in in den Besitz des Ackers) und/oder der Kultur (die oder der Fabrikant:in in den Besitz des Messers des Pflugschars, von Erz, Kohle und Ofen, oder die oder der ®-Herr:in in den Besitz von Wissen um die Produktion von Messern), die zur Aneignung von Lebensmitteln nötig ist, und lindert die Lebensnot der Arbeitenden immer nur soweit, dass sie am nächsten Tag, im nächsten Monat erneut für ihn arbeiten müssen, um an die rationierte Portion Lebensmittel zu gelangen. Während einige Schritt für Schritt ins Reich der Freiheit (Kant/Marx)3 hineinwachsen, verbleiben die anderen im Reich der Notwendigkeit. Während einige Kultur und Lustprinzip vereinen können, gehen die anderen aus erpresster Unlustvermeidung arbeiten. Kultur ist an ein Mehrprodukt gebunden und so scheint es, als hätten jene Kultur, die sie sich aneignen konnten. Sie genehmigen sich also nicht nur ein größeres Stück vom Kuchen, sondern können sich selbst auch als 3

Das »Reich der Zwecke« ist bei Kant die Sphäre, in der der Mensch als vernunftbegabtes Wesen nach selbsterhobenen Prinzipien entscheidet. Das Vermögen dazu unterscheidet ihn vom Tier, das durch seine sinnlichen Antriebe bestimmt ist. Kant nennt das Tierische, psychoanalytisch das Triebhafte, pathologisch, im Sinne von etwas erleiden (pathos [griech.] = Leid). Der Mensch hingegen kann seiner Vernunft folgen, weil er eine Vorstellung von dem, was ihn auch sehr viel später nützlich oder schädlich sein könnte, entwickeln kann. In psychoanalytischer Terminologie ist er zum Triebaufschub fähig. Er kann sich selbst Zwecke setzen und sie verfolgen. Darüber hinaus kann er Gesetze aufstellen, die besagen, was geschehen soll oder nicht und die Zwecke auf ihre Sittlichkeit hin prüfen. Das Reich der Zwecke ist die systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Zwecke. Die letzten Zwecke sind die vernünftigen Wesen selbst. Deshalb stehen die vernünftigen Wesen unter dem Gesetz, dass jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln sollen (vgl. die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs: Kant, 2005 [1785], S. 66). Marx greift Kants Überlegung auf und formuliert »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. […] Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung« (Marx, 1973 [1894], S. 828).

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Kulturträger:innen darstellen. Um im Bild zu bleiben: Ihre Zunge kann Geschmacksnuancen feiner differenzieren. Die sensible Evaluation des Kuchens fällt einer Seite zu, die Zuckerrohrernte der anderen.4 Neben dem materiellen und kulturellen Reichtum wird eine weitere Reichtumsform immer wichtiger: arbeitsfreie Zeit. Fürs Kaffeekränzchen muss man frei haben. Die drei Reichtumsformen oder Kapitalsorten (im Sinne Bourdieus) hängen zusammen und sind zum Teil kompatibel, aber doch nicht vollständig und nur unter bestimmten Bedingungen. Grob klassentheoretisch steht Reichtum an Zeit und Mitteln Arbeit ohne Reichtum gegenüber. Auf der einen Seite wird Kultur produziert und Triebverzicht geübt, auf der anderen wird sie besessen, verwaltet, konsumiert und inkorporiert.

Marcuses kritische Freud-Aneignung Freuds Gleichsetzungen von Kultur mit Unterdrückung und von Arbeitenden mit Kulturfeindschaft leuchten Marcuse nicht ein (1967 [1955], 1968). Er schärft den Blick für Unterscheidungen, die bei Freud angelegt, aber nicht ausformuliert sind. Ananke, die Lebensnot, ist heute, in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, eine durch und durch gesellschaftlich vermittelte, wendet er gegen Freud ein. Er differenziert ein basales, in jeder Kultur unerlässliches Maß an Einschränkung des Lustprinzips und damit an Triebunterdrückung von einem auf Herrschaft zurückführbaren Quantum an »Surplus«-Unterdrückung. Der erste Teil sinkt mit dem Fortschritt an Produktivkräften, der zweite steigt. Ananke ist heute immer weniger durch den Widerstand der Natur bedingt, sondern durch den der Herrschaft. Diese Zweiteilung der Lebensnot ist aus zwei Gründen nicht offensichtlich. Erstens basierte menschheitsgeschichtlich bislang jede Kultur auf Herrschaft und zweitens sind notwendige und zusätzliche Unterdrückung heute bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt. Marx brauchte mehrere Jahre und viel Tinte, um die Differenz von notwendiger Arbeit und Mehrarbeit argumentativ zu begründen (vgl. Marx, 1977 [1871], S. 226ff.). Die 4

Dieses seinerseits wenig differenzierte Bild findet sich durchaus real bis heute. Beispielsweise wissen viele südamerikanische Kaffeeplantagenarbeiter:innen nicht, wie Espresso schmeckt. Sie können ihn sich schlicht nicht leisten. Mit der Transformation von ökonomischem in kulturelles Kapital und klassenspezifischer Geschmacksbildung hat sich Bourdieu, 1982 (frz. 1979) intensiv befasst.

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zum System gewordene Herrschaft kann sich zudem von ihren individuellen Trägern emanzipieren. Die Individuen unterwerfen sich nicht mehr einer klar bestimmbaren Teilgruppe der Menschheit, sondern einem »ungeheuren Produktions- und Verteilungsapparat« (Marcuse, 1968, S. 7). Die Herrschaft werde »immer weniger ›persönlich‹, immer objektiver und allgemeiner […]. Was eigentlich herrscht, ist der zur unteilbaren Einheit gewordene ökonomische, politische und kulturelle Apparat, den die gesellschaftliche Arbeit aufgebaut hat« (ebd., S. 8). Auch Reiche arbeiten und Arbeitende partizipieren am Reichtum. Die Differenz erscheint nicht mehr qualitativ, sondern quantitativ, sodass sich Klassenherrschaft in widersprüchlichen Handlungslogiken und -imperativen (zum Beispiel die Imperative der Verwertung und die des Gebrauchswerts) wiederfindet, die sich der Tendenz nach alle, also Kapitalist:innen und Arbeitende, aneignen müssen. Der Produktionsapparat ist so eingerichtet, dass sein Zweck Mehrwert und Profit ist, während die Gebrauchswerte als Träger von Wert von Interesse sind. Kultur, Herrschaft und Kapital werden so ununterscheidbar. Die Reproduktion der Kultur und damit der Menschheit wird abhängig vom Verwertungs- und Wachstumsimperativ, solange sich keine andere Produktionsweise findet. Der Tendenz nach sind alle vom Reichtum exkludiert oder davon bedroht. Denn abstrakten Reichtum kann man immer auch wieder verlieren, spätestens wenn die Kontinentalplatten der Weltökonomie verrutschen.5 Bei den 99 %6 hingegen schon, wenn ein Virus 5

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Abstrakter Reichtum ist wertförmiger Reichtum, sichtbar zuerst der Reichtum, der in Form von Geld – bar oder auf Konten – oder in Wertpapieren, Eigentumstiteln und dergleichen vorliegt. Darüber hinaus ist jede Ware abstrakter Reichtum, insofern sie Wert »aufbewahrt«, Wert in ihr enthalten zu sein scheint. Das Wertsein der Waren ist allerdings eine fantastische Gegenständlichkeit, sie hat keine sachliche, dingliche Grundlage. »Es handelt sich bei dieser Wertgegenständlichkeit um ein gesellschaftlich praktiziertes Geltungsverhältnis, eine gesellschaftlich gültige Zuschreibung, die allerdings nicht Resultat intensionalen Handelns ist, sondern Effekt einer bestimmten Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs« (Heinrich, 1994). Insofern würde diese Reichtumsform mit der zugehörigen Produktionsweise verschwinden. Da sich das Gefüge der Wertgrößen aber auch während der kapitalistischen Periode dauernd ändert, ist abstrakter Reichtum stets prekär. Die Nützlichkeit der Ware hingegen macht ihren Gebrauchswert aus. Konkreter Reichtum besteht in der Nützlichkeit der Gegenstände. Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des Reichtums (vgl. Marx, 1977 [1871], S. 49ff.). »We are the 99 % percent« war das Motto der Occupy-Wall-Street-Bewegung, die Anfang der 2010er Jahre die steigende ökonomische Ungleichheit anprangerte. Die Rede von den 99 % bezog sich auf die Verteilung der Vermögen und Einkommen. Während 1 %

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auftaucht, ein Aktienkurs fiebert oder Anleger:innen husten. Ananke, die Lebensnot, besteht nun im Angesicht ungeheuren Reichtums7 fort. Die Verselbstständigung der Kultur gegenüber ihren Trägern, den Menschen, erkannte schon Freud. Die Kulturentwicklung sei ein »eigenartiger Prozeß, der über die Menschheit abläuft« (Freud, 1930a, S. 456; fast wortgleich S. 481), schreibt er, erklärt dies jedoch nicht wie Marx gesellschafts-, sondern triebtheoretisch – was aber nur auf den ersten Blick ein Nachteil ist, denn gerade so lassen sich psychodynamische Elemente der Vergesellschaftung entschlüsseln. Die empirisch schwierige, analytisch aber so wichtige Differenz von notwendiger und zusätzlicher Triebunterdrückung (analog zur notwendigen und Mehrarbeit bei Marx) bringt Marcuse zur Konstruktion einer weiteren terminologischen »Verdoppelung« (Marcuse, 1967 [1955], S. 39). Die vorherrschende historische Form des Realitätsprinzips nennt er Leistungsprinzip. »Die Libido wird auf sozial nützliche Leistungen abgelenkt, bei denen das Individuum nur insofern für sich selbst schafft, als es für einen Apparat arbeitet« (ebd., S. 50). Das Verhältnis der vom Kapital initiierten Kooperation und von Herrschaft ist verzwickt. Die Menschen arbeiten nicht nur für einen, sondern

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der Bevölkerung einen großen Teil des Reichtums für sich beanspruche, müssten 99 % mit dem Rest auskommen. Empiriker:innen sozialer Ungleichheit würden das natürlich so nicht stehen lassen wollen. Die enormen nationalen und transnationalen Ungleichheiten sind hingegen unbestritten. Der erste Satz im »Kapital« beginnt: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung« (Marx, 1977 [1871], S. 49). Die Bedeutungen von ungeheuer sind: umfangreich, riesig, enorm; des Weiteren gewaltig, unheimlich, grauenhaft, schrecklich. Ungeheuer sind Monster, die der Fantasie entspringen, also Produkte des Menschen, die diese nicht mehr als die eigenen erkennen, sich vermeintlich verselbstständigen und Menschen Angst machen, angreifen, vielleicht gar verschlingen. Bereits im ersten Satz des »Kapitals« finden sich zentrale Themen der Kritischen Theorie: Entfremdung, Verselbstständigung und Verkehrung (die Warensammlung scheint uns zu beherrschen). Marx formuliert weiter: »die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware« (ebd.). Marx spielt literarisch mit dem Affekt seiner Leser:innen. Während der erste Teilsatz dramatisiert, ernüchtert der zweite. »Wir«, also vielleicht ein väterliches oder pädagogisches er und die/der Leser:in gemeinsam, werden, so sein Angebot, dem Monster das Schreckliche nehmen, indem »wir« es in kleine Teile zerlegen, auf das es übersichtlich werde. Freud zergliedert die Seele, Marx die Ware, beide, um ihnen das Unheimliche zu nehmen.

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auch in einem gemeinsamen Apparat. Sie kooperieren in der konkreten Arbeit und stellen nützliche Dinge her. Freud formulierte diese Dimension libidotheoretisch als die Kraft des Eros, immer größere Einheiten zusammenzuballen. Die gemeinsame Arbeit rührt, freudianisch betrachtet, einerseits negativ aus Unlustvermeidung, um der Lebensnot zu entrinnen, andererseits aber auch positiv aus der Lust an kooperativer Kulturarbeit. Freuds die Menschheit vereinender Eros findet sich in der weltweiten Arbeitskooperation. »Man arbeitet dann mit allen am Glück aller« (Freud, 1930a, S. 435), formuliert er einigermaßen lapidar, nachdem und bevor er begründet, warum Glück für die Menschen im Schöpfungsplan nicht recht vorgesehen und das Leben für die meisten wohl eine ziemliche Enttäuschung sei. Und tatsächlich steht die Realisierung dieser Idee noch aus. Denn der Zweck der Kooperation ist nicht kooperativ ermittelt worden, beispielsweise im Modus eines Habermas’schen praktischen Diskurses (Habermas, 1983) oder in einem institutionalisierten Gefüge wechselseitiger Anerkennungen (Ritsert, 2005, 2007; Eichler, 2013), sondern der Zweck ist unter gegebenen Verhältnissen die Verwertung des Werts. Die Demokratie endet an den Fabriktoren, Bankhauslobbys und Quellcode-Accesses. Die unmittelbaren Produzierenden entscheiden nicht darüber, was wann wo wer produziert. Demokratie ernst genommen würde ja bedeuten, dass dies die arbeitskooperierende Menschheit in durchsichtigen Verfahren und nach vernünftigen Prinzipien selbst bestimmt. Nur dann würde auch jede:r Einzelne als Teil der Menschheit Eigentümer:in des Reichtums der Menschheit, erst dann wäre es ihre und seine gesellschaftliche Kooperation. Der erfahrbare Vorschein des nicht entfremdeten Zustands besteht in der Kooperation der konkreten Arbeiten, die heute die gesamte Menschheit umfasst. Es gibt eine weltweite Arbeitsteilung und insofern eine weltgesellschaftliche Einheit der konkreten Arbeit, die Gebrauchswerte produziert. Die Gebrauchswerte produzierende konkrete Arbeit ist aber nicht der Zweck der Veranstaltung, sondern nur das Mittel des Verwertungszwecks.8 Mit den Gebrauchswerten werden durchaus Bedürfnisse befrie8

Marx unterscheidet die Gebrauchswert hervorbringende von der wertbildenden Dimension der Arbeit. Im Tausch wird vom Inhalt der Arbeit abgesehen. Damit ist wertbildende Arbeit unabhängig davon, was konkret gearbeitet wird. Die Dinge und damit die Produkte der Arbeit tauschen sich nur in unterschiedlich quantitativem Verhältnis.

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digt, allerdings wiederum nur Bedürfnisse, die sich innerhalb des Kapitalismus gebildet haben, und nur solche Bedürfnisse, die als Nachfrage, also zahlungsfähig, und besser noch: zahlungskräftig, sich Gehör verschaffen können. Das Richtige steckt beschädigt und verzerrt im Falschen. Da die Arbeitskooperation den realen Kern vieler Phantasmen der Arbeitswelt bildet, verbleibe ich noch einen Moment bei ihr. Die Arbeitskooperation erscheint uns primär, natürlich, nützlich, überhistorisch und selbstverständlich, während das Kapital als sekundär und darübergestülpt erscheint. Das ist polit-ökonomisch und juristisch falsch. Es ist aber erlebnistheoretisch richtig. Weder »die Arbeit« noch das Arbeitsergebnis sind jemals das Eigentum der Arbeitenden. Und noch mehr: Während des Arbeitsprozesses haben die Produzierenden ihre Arbeitskraft gemäß ihrem Arbeitsvertrag vermietet, sind also ihrerseits während des Arbeitsprozesses (immer verstanden als Erwerbsarbeit) juristisch nicht im Besitz ihrer Kräfte. Das Unternehmen kauft Natur, Kultur (Produktionsmittel) und Arbeitskraft und während des Arbeitsprozesses gehören sie ihm. Allerdings hat es nur Arbeitskraft, modern könnte man sagen, Kompetenz gekauft. Die Performanz steht noch aus. Man kann prügeln, Druck ausüben, kontrollieren, locken – am Schluss bleibt indes immer mindestens ein Rest Subjekt. Die Arbeitskräfte müssen, um wirklich zu arbeiten, vom Subjekt in Gang gesetzt werden. Das bedeutet, dass sich das Subjekt mit seinen Kräften der Tätigkeit widmen muss. Es ist unmöglich, sich während des Arbeitsprozesses ernsthaft als außerhalb seiner Selbst zu begreifen, um Tätigkeiten zu vollziehen, mit denen man nichts zu tun hat. Weil sich Arbeitende ihre Tätigkeit aneignen müssen, irgendeine Variante der Internalisierung vollzogen werden muss, obwohl es nicht im vollen Sinne »ihre« Arbeit ist, erleben sie Arbeit einerseits als ihre, andererseits als entfremdet und enteignet. Einerseits gehören ihre Kräfte während der Arbeit nicht ihnen, andererseits sind sie es, die diese Kräfte mobilisieren und in Gang halten. Entscheidend wird sein, welchen Umgang sie mit diesen Widersprüchen finden können. Ihre Qualität, also, was es ist und wie es hergestellt wurde, welche Art von Arbeit in ihr »enthalten« ist, fällt im Tausch unter den Tisch. Denn im Tausch werden die Leistungen miteinander gleichgesetzt. X Bahnfahrten tauschen sich gegen y FFP2-Masken tauschen sich gegen z Haarschnitte. Marx bezeichnet deswegen die Wertsubstanz als abstrakte Arbeit (Marx, 1977 [1871], S. 56ff.). Da die Verwertung primär ist, ist die konkrete Arbeit sekundär, Mittel zum Zweck der Verwertung.

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Das Richtigere im falschen Ganzen? Kunst, Spiel und Arbeit Freud sah die Schäden, die Arbeit am Subjekt anrichtet, klar. Im »Unbehagen« fordert er vehement eine bessere Entschädigung für das Arbeitsleid, die Früchte der Arbeit sollten gerechter verteilt werden. Wer triebunterdrückende Arbeit leiste, sollte wenigstens einen wie immer zu berechnenden adäquaten Anteil am Reichtum haben dürfen. In aktueller Theoriesprache formuliert, übte Freud Verteilungs- oder Sozialkritik (Boltanski & Chiapello, 2001). Freud befasste sich jedoch auch mit dem Arbeitsinhalt. Er sah in einem gelungenen Arrangement des Einzelnen mit seiner Tätigkeit gar die beste Lösung des Konflikts zwischen Lust- und Realitätsprinzip. Am meisten erreiche man, »wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht« (Freud, 1930a, S.  438). Die Schwäche der Methode liege darin, »nicht allgemein verwendbar, nur wenigen zugänglich« (ebd.) zu sein, Freud schränkt in der Fußnote aber wieder ein, an die Stelle von Kunst und Wissenschaft könne auch »die gemeine und für jedermann zugängliche Berufsarbeit« (ebd., S. 438, Fn. 1) rücken. »Die Möglichkeit, ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten, narzisstische, aggressive und selbst erotische, auf die Berufsarbeit zu verschieben, leiht ihr einen Wert, der hinter ihrer Unerläßlichkeit zur Behauptung und Rechtfertigung der Existenz in der Gesellschaft nicht zurücksteht. Besondere Befriedigung vermittelt die Berufstätigkeit, wenn sie eine frei gewählte ist, also bestehende Neigungen […] durch Sublimierung nutzbar zu machen gestattet« (ebd.).

Arbeit ist nun nicht mehr nur Inbegriff der Triebunterdrückung, wie in den Passagen vorher, sondern Freud eröffnet noch einen anderen Weg. Arbeit kann, unter bestimmten Voraussetzungen, gar ein Objekt sein, das den Lustgewinn steigert. Worin bestehen nun die Unterschiede zwischen triebunterdrückender und lustvoller Arbeit? Bei letzterer denkt Freud unter anderem an die Kunst. Was ist an der Kunst besonders, dass Freud sie als Vorbild eines gelungenen Arrangements mit der Arbeit und dem Realitätsprinzip sieht? Rainer Holm-Hadulla (2008) fasst eine Reihe wiederkehrender Topoi analytischer Kunstbetrachtung zusammen. Kunstwerke stellten »eine praktisch-sinnliche Aneignung der Welt« (ebd., S. 426) dar, 166

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die durch eine besondere Nähe der Kunstschaffenden zum Unbewussten gelinge. Mit Kunst ließen sich Spannungen in der Seele bearbeiten, indem unintegrierte und destruktive psychische Regungen bewältigt werden. Die künstlerische, das heißt symbolisierende Tätigkeit erlaube es, beispielsweise existenzielle Leere (Lacan), Depression und Angst (Klein/Segal) sowie Einsamkeit und Isolation (Kohut) zu bewältigen. Während diese Theorien die Bewältigung von Unlust in den Vordergrund rücken, betonen andere den lustvollen Charakter der künstlerischen Arbeit. Wesentlich sei die Verwandtschaft mit dem kindlichen Spiel (Winnicott). Im Spiel entwickeln und entdecken Kinder, aber auch noch Erwachsene ihre individuellen Eigenschaften und machen Erfahrungen, die sie wegen ihres Als-ob-Charakters gut verarbeiten und integrieren können. Die Idee der Vereinigung oder Annäherung von Arbeit und Spiel geht zurück bis auf Schiller. Er hob die Bedeutung des Spielens hervor und sprach sich gegen Spezialisierung und Mechanisierung aus. Das Spiel sei in der Lage, die Ganzheitlichkeit der menschlichen Fähigkeiten hervorzubringen und auszudrücken.

Sublimierung und Identifizierung Triebtheoretisch formuliert ist gelungene Kulturarbeit Sublimierung, bei der Triebenergien vom ursprünglichen Ziel auf ein verwandtes abgelenkt (nicht abgewehrt) wurden. Sublimierungen erforderten, so formuliert es Otto Fenichel, »ein ähnlich ungehindertes Fließen der Libido wie ein Mühlrad einen ungehinderten und kanalisierten Wasserfluß benötigt. […] Metaphorisch gesprochen treten die Abwehrkräfte des Ich den ursprünglichen Triebregungen nicht geradewegs entgegen, wie dies bei den Gegenbesetzungen der Fall ist, sondern treffen in einem Winkel auf sie auf, der eine Vereinigung von Trieb- und Abwehrenergie in einem befreiten Handeln ermöglicht« (Fenichel, 1983 [1945], S. 203).9

Die pathogene Abwehr unterscheidet Fenichel von der erfolgreichen  – heute würde man vorsichtiger von einer unreifen im Unterschied zur reifen Abwehr sprechen – durch die Notwendigkeit der Gegenbesetzung. Gegen9

Zu ähnlichen Einsichten gelangte später die Theorie des flow (Csíkszentmihályi, 1987).

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besetzung bedeutet, dass Abwehr, Widerstand, die Symptombildungen und die damit einhergehenden Vorstellungen ihrerseits libidinös besetzt werden müssen. Mit der Gegenbesetzung wird der ursprünglich libidinös besetzte Triebwunsch in Schach gehalten. Besonders anschaulich stellt sich das Spiel von Besetzung und Gegenbesetzung in der Zwangshandlung dar. Die Stärke einer Gegenbesetzung des Vorurteils kann man an der Rigidität bemessen, mit der an ihm trotz Aufklärung festgehalten werden muss. Bei Besetzung und Gegenbesetzung ist die Abfuhr blockiert und die Triebspannung bleibt erhalten. Der Trieb verschafft sich im Durchbruch nur kurzzeitigen Ausdruck und ruft, so Fenichel, ein »verkrampftes Verhalten hervor, wiederholt sich immer und immer wieder, erlaubt nie eine vollständige Entspannung und verursacht Ermüdungserscheinungen« (ebd., S. 202). Die Sublimierung als erfolgreiche Abwehr sei im Grunde gleichbedeutend mit einer gelungenen Identifizierung. Identifizierung tritt auf, wenn das (zunächst ödipale) Objekt aufgegeben wird. Das Objekt wird im Ich wieder aufgerichtet und damit die Objektbesetzung durch eine Identifizierung abgelöst. Solche Ersetzung habe, so Freud in Das Ich und das Es, »einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs« und trage wesentlich dazu bei, »das herzustellen, was man seinen Charakter heißt« (Freud, 1923b, S. 257). Das Ich dränge sich so dem Es als Ersatzliebesobjekt auf, »indem es sagt: ›Sieh’, du kannst auch mich lieben, ich bin dem Objekt so ähnlich‹. Die Umsetzung von Objektlibido in narzisstische Libido, die hier vor sich geht, bringt offenbar ein Aufgeben der Sexualziele, eine Desexualisierung mit sich, also eine Art von Sublimierung« (ebd., S. 258). Objektbesetzung und Identifizierung könne man in der frühesten Kindheit, in der oralen Phase, noch nicht genau unterscheiden. In gewissem Sinne regrediert das Ich im Moment der Aufgabe des Objekts auf die orale Phase, verleibt es sich ein und bereichert damit das Ich: eine benigne Regression. Sublimierungen hängen, so Fenichel, von verfügbaren Vorbildern ab, »also von Anregungen, die direkt oder indirekt durch die Umgebung zur Verfügung gestellt werden« (Fenichel, 1983 [1945], S. 204). Was Fenichel beschreibt, kann man als Teil einer psychoanalytischen Theorie der Bildung verstehen. Bildungsinhalte werden via Lehrende im pädagogischen Dreieck angeeignet. Im weiteren Verlauf entsteht aus der Integration der Identifizierungen eine Berufsidentität. Die Kompetenzen sind mit narzisstischer Libido besetzt. Im Bildungs- und Arbeitsprozess wird narzisstische immer wieder erneut in Objektlibido umgesetzt – ein vulnerabler Prozess, 168

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der Angstarmut, Frustrationstoleranz, ein feines Spiel von Regressionen im Dienste des Ich wie auch wohldosierte und gelenkte Aggression erfordert. Denn die Objekte kommen einem nur zum Teil entgegen, das Material ist auch widerständig gegenüber seiner Aneignung. Mit Freud lässt sich noch ein wichtiges Moment hinzufügen. Bislang erschien die Arbeit als Kunst monadisch. »Seine [des Künstlers] Schöpfungen, seine Kunstwerke, waren Phantasiebefriedigungen unbewusster Wünsche, ganz wie Träume, mit denen sie auch den Charakter des Kompromisses gemein hatten, denn auch sie mussten den offenen Konflikt mit den Mächten der Verdrängung vermeiden. Aber zum Unterschied (sic!) von den asozialen, narzißtischen Traumproduktionen waren sie auf die Anteilnahme anderer Menschen berechnet, konnten bei diesen die nämlichen unbewussten Wunschregungen beleben und befriedigen« (Freud, 1925d, S. 90).

In der Arbeit drückt jede und jeder Einzelne also nicht nur ihre und seine je eigene Idiosynkrasie aus, sondern in sublimierter Arbeit ist Allgemeines enthalten, sie ist »auf die Anteilnahme anderer berechnet«. Deswegen verstehen die Rezipient:innen die Kunst nicht nur als Ausdruck der privaten Idiosynkrasie der Künstler:innen, sondern erkennen im Kunstwerk das, was auch sie angeht. Analog dazu wäre die gelungene Arbeit spielerisch, sublimiert, Bewältigung psychischer Spannungen, Integration der Aggression, Ausdruck der Fantasie, und zwar so, dass sich die oder der Andere darin wiedererkennt und die eigenen Nöte, Bedürfnisse und Wünsche befriedigt sieht, ob real oder symbolisch. Das klingt wie aus dem Werbekatalog für Luxuswaren. Sublimierte Arbeit trifft auf sublimierten Konsum. Beide Seiten sind entspannt und beglückt. Geld scheint keine Rolle zu spielen – weil genügend da ist. Das Ideal wird Ideologie, wenn es als bereits verwirklicht ausgegeben wird. Als erst noch zu verwirklichendes und damit als Maßstab der Kritik hat es Bestand.

Sublimierte Arbeit im Kapitalismus Die Differenz zwischen Arbeit auf der einen Seite und Kunst und Spiel auf der anderen ist, dass letztere für gewöhnlich als zweckfrei gelten. Kunst und Spiel sind nicht nützlich für einen außer ihnen liegenden Zweck, sie 169

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sind Selbstzweck, während die Arbeit über ihre Nützlichkeit definiert ist, Mittelcharakter hat. Die Antipoden sind allerdings weniger gegensätzlich, als es auf den ersten Blick scheint. Die gewachsene Produktivität der Arbeit hat Ananke aus erster Natur auf ein Minimum reduziert. Ein gewachsener Teil an Waren spricht in diesem relativen Sinne kulturelle Bedürfnisse an (zum Beispiel Kultur-, Kreativ-, Sport-, Games-, Erlebnis-, Touristikindustrie) und ein wachsender Anteil an Arbeitszeit wird für den immateriellen Gebrauchswert der Waren verausgabt (Distinktion, Wohlfühlen, Erleben oder Ähnliches). Immer mehr Arbeit fließt in Spielzeug, Schönes, Angenehmes, Bequemes. Allerdings sind die Waren Kulturindustrie im Sinne Adornos (Horkheimer & Adorno, 1997) oder Spektakel im Sinne Guy Debords (1996 [1967]). Und wer sie produziert, tut dies kaum, um Kindern und Erwachsenen Glück zu bescheren, sondern das Motiv entstammt der höchst realen Ananke der zweiten Natur. In den Fabrikhallen der chinesischen Spielzeug- und Playstationhersteller findet sich wenig »Als-ob«Qualität. Die Gebrauchswerte stecken in der Warenform und sind dadurch beschädigt und ihre Produktion reproduziert Herrschaft. Das Un-Nötige (im Sinne der ersten Natur) an immer mehr Gebrauchswerten (während nebenan das Allernötigste fehlt) lässt sich als Ausweis möglicher, aber nicht verwirklichter Freiheit verstehen. An noch grundsätzlicherer Stelle steht die Gegenüberstellung von Arbeit und Kunst, von triebunterdrückender und nennen wir es: sublimierender Arbeit in Frage. An einem deutlich gewachsenen Teil von Arbeitsplätzen werden heute Qualitäten und Kompetenzen erwartet, die dem entsprechen, was Freud 1930 mit geglückter Berufsarbeit verband. Für viele ist es heute nicht mehr nur die »Möglichkeit, ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten, narzisstische, aggressive und selbst erotische, auf die Berufsarbeit zu verschieben«, sondern ihr Job. Kunst, Spiel und Wissenschaften sind einem Ökonomisierungs- und Kommodifizierungsprozess ausgesetzt, ja, in einiger Hinsicht sind sie die Speerspitze oder gar der Kern der Modernisierung des Kapitalismus. Der Imperativ des freudigen Arbeitens gilt dabei für einen bestimmten Teil nach wie vor nur ideologisch (wir kommen darauf zurück), aber für einen immer größer werdenden Teil von Arbeit ist sublimierte Libido tatsächlich für die Tätigkeit selbst zur Notwendigkeit geworden. Die Arbeitenden entwickeln neue Produkte und innovative Ideen. Das Außeralgorithmische gewinnt gegenüber dem Algorithmischen eine größere Bedeutung. Sie »brainstormen«, »versuchen was«, »schauen irgendwie«, dass sie »noch ’ne zündende Idee« haben, ihnen »was ein170

Das Unbehagen in der Arbeitswelt

fällt«, damit sie »das hinkriegen«. Was vor 20 Jahren bejubelt wurde (vgl. Florida, 2004), ist für mehr Menschen in den Zentren der Entwicklung Arbeitsalltag. Die Als-ob-Qualitäten des Spiels und das freie Fließen der Libido sind integraler Teil der modernen Arbeitswelt geworden. Über Kreativität hinaus wurde im Rahmen der Debatte um die Subjektivierung der Arbeit darauf hingewiesen, dass viele Tätigkeiten heute neben hohem Fachwissen (Wissenschaft) kommunikative, soziale und emotionale Kompetenzen erfordern. Offenheit für Neues, Flexibilität und Begeisterungsfähigkeit sollten zum Subjektportfolio gehören. Im Anschluss an Marcuses Stichwort der »repressiven Entsublimierung« könnte man das als repressive Sublimierung bezeichnen. Das Repressive daran wird weniger am unlustvollen Charakter der Tätigkeit erfahren als an Zeitnot. Der Kapitalismus hat seine Dynamik deutlich erhöht. Hartmut Rosa hat die Konsequenzen dieses Aspekts kapitalistischer Vergesellschaftung ausbuchstabiert (Rosa, 2011, 2013). Der Effekt der Beschleunigung geht zwar bereits aus der Grundlogik des Kapitals hervor, wird aber zusätzlich durch relativ autonome Prozesse in Technik, sozialem Wandel und Privatleben verstärkt. »Zeit ist Geld lautet die einfache zeitliche Grundformel des Kapitalismus, und wie unter konkurrenzökonomischen Wirtschaftsbedingungen Geld per se knapp ist, so ist auch die Zeit stets knapp, weil Zeit als Arbeitszeit unmittelbar ein Produktionsfaktor ist, sodass Produktivitätssteigerung immer einen Wettbewerbsvorteil bedeutet, der erzielt wird durch Zeitgewinn« (Rosa, 2009, S. 99, Kursivierung im Original).

Dazu kommen die technische Beschleunigung (Transport, Kommunikation, Digitalisierung), die Steigerung sozialer Veränderungsraten und die damit zusammenhängenden Organisationsprinzipien, Bindungsmuster und Wissensbestände, Konsummuster und des Lebenstempos, die den Prozess der Kapitalakkumulation zusätzlich anstoßen (vgl. ebd., S. 100f.). Wachstum, Beschleunigung und Dynamisierung sind aber nicht – oder nicht nur – durch eine höhere Geschwindigkeit des Gleichen möglich, sondern stärker als früher durch Innovation (Erneuerung) und Exnovation (die Abschaffung von nicht mehr wirksamen oder gewünschten Prozessen, Produkten oder Technologien): Schumpeters »schöpferische Zerstörung«. Der Prozess ist keineswegs auf Start-ups beschränkt. Ganz grundsätzlich sind Unternehmen heute stärker auf jene nicht-algorith-

https://doi.org/10.30820/9783837977790

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mische, ebenso flüchtige wie begehrte »subjektive Zutat« angewiesen. Unter anderem um an dieses Potenzial zu kommen, haben viele Unternehmen ihre Kontroll- und Steuerungsstrategien deutlich geändert. Sie gewähren einem größeren Teil der Belegschaften Freiräume im Arbeitsablauf und schalten um auf »indirekte Steuerung« (Peters  & Sauer, 2005), das heißt, es werden In- und Outputgrößen, also materielle, personale, organisationale und finanzielle Ressourcen auf der einen Seite und Ergebnisse in Form von Deadlines oder Steigerungsraten auf der anderen vorgegeben. Anwesenheitskontrollen, Vorgaben für einzelne Arbeitsschritte, Stechuhren etc. haben in diesen Branchen und Abteilungen ausgedient.

Subjektivität unter subjektivierten Verhältnissen Sarah Nies hat Ingenieur:innen einer Entwicklungsabteilung eines Elektrokonzerns befragt (vgl. Nies, 2015), die unter diesen Bedingungen arbeiten. Diese Arbeitenden sind intrinsisch motiviert und mit ihrer Tätigkeit identifiziert. Das wird umgekehrt auch selbstverständlich vorausgesetzt und erwartet. Für einen interviewten Entwickler beispielsweise ist der Beruf Berufung und Hobby. »Ich will ja selber, dass das Gerät funktioniert. Und dass es so wird, wie ich mir das vorstelle« (zit. n. Nies, 2019a, S. 109). Und ein Abteilungsleiter formuliert: »Für mich ist es wichtig, so ein bisschen das Glänzen in den Augen zu sehen, weil dann ist in der Regel auch die Leistung sehr gut« (ebd.). Allerdings, fährt Nies fort: »Die Freiheiten sind aber empfindlich durch gesetzte Rahmenbedingungen und marktbezogene Kennzahlen eingeschränkt: ›[D]ie Ziele, was jetzt die Projekte angeht, sind eigentlich von außen vorgegeben. Sie müssen, zum Tag X müssen sie das fertig haben. Da gibt’s kein Wenn und kein Aber […], Termin ist Termin, das ist das oberste Kriterium‹« (ebd., S. 111).

Es sieht so aus, als könnte alles so schön sein, wenn nur das Zeitregime nicht wäre. Ökonomisch ist es allerdings nicht sekundär, sondern primär. Leistung ist Arbeit pro Zeit, auch bei Arbeitsinhalten, die sich mit dem Zeitkorsett schwer vereinbaren lassen. Beim Arbeiten muss immer auch etwas überwunden werden. Der Arbeitsgegenstand steht einem buchstäblich entgegen. 172

Das Unbehagen in der Arbeitswelt

»In der Arbeit setzen sie [Arbeitende] sich mit einem Gegenstand – dem Material und dem Werkzeug  –, mit einem Problem oder (in interaktiver Arbeit) mit anderen Menschen auseinander. Diese sind widerständig, […] sonst wäre Arbeit nicht anstrengend. […] Dass die Arbeit Auseinandersetzung mit Widerständen ist, bedeutet, dass sie scheitern – und damit auch Quelle von Leiden sein – kann« (Voswinkel, 2019, S. 181).

Die Widerständigkeit, mit der es subjektivierte Arbeit zu tun hat, lässt sich nicht mit Muskeln oder Maschinen überwinden, sondern es bedarf einer speziellen Kombination aus Aufmerksamkeit, Konzentration und Vergessenheit in die Sache, die subjektiv wie objektiv voraussetzungsvoll ist und Angst und Stress nicht gut verträgt. Beschäftigte versuchen sich in diese Gemütslage zu versetzen – vor dem Hintergrund von Zeitnot, Versagensangst und der Drohung des Scheiterns. Arbeitszeiten weiten sich aus, auch, um sich »mal in Ruhe hinzusetzen« und »über etwas nachzudenken«. Routinetätigkeiten können in diesem Rahmen von der Assoziation mit Unterforderung und Ödnis zu einer mit Entspannung und Selbststabilisierung mutieren. Das Unbehagen in der Arbeitswelt beruht hier auf dem Widerspruch von Sublimierung und Zeitdruck. Neugier, Werksinn, Mentalisierung, Sublimierung treten in Konflikt mit den ökonomischen Vorgaben. In der Regel werden diese sozialen Konflikte intrapersonal ausgetragen. Wer »blockiert« ist, wer auf den Bildschirm glotzt und die Seite bleibt leer, der braucht eine Pause, ist ausgebrannt, krank und auf lange Sicht überflüssig. Der Widerspruch besteht in dieser kapitalistischen Kultur in der Forderung nach Sublimierung auf der Gebrauchswert-Ebene und entwicklungspsychologisch primitiveren undifferenzierteren Verarbeitungsformen auf der Tauschwert-Ebene.

Die Gebrauchswertorientierung, ihre Tücken, ihre Grenzen Der Gebrauchswert dieser Waren und Dienstleistungen besteht in der Bearbeitung von außer-algorithmischen Problemen, deren Lösung anfänglich nicht bekannt ist. Sie werden von der Abnehmer:in, meist der Kundschaft, vorgegeben. Arbeitende haben entsprechend zwei »Herr:innen«: Unternehmen, die am Tauschwert, und Kunden, die am Gebrauchswert interessiert sind. Schlussendlich ist das Unternehmen 173

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für die Arbeitenden der gewichtigere, da es ja die Arbeitskraft gekauft hat und dies im Zweifel auch lassen könnte. Auch das Unternehmen ist an den Kunden – bis zu einem gewissen Punkt – gebunden. Arbeitende müssen zudem einerseits mit ihrer Arbeitskraft haushalten, andererseits haben sie sich ein Berufsethos und -habitus angeeignet, der sie verpflichtet, einen Gebrauchswert entsprechender Qualität abzuliefern. Dies führt zu einer zumindest temporären Koalition zwischen Arbeitenden und Kund:innen. Arbeitende haben eine präzise Vorstellung davon, was ein gutes oder gar optimales Arbeitsergebnis ist. Sie hegen »arbeitsinhaltliche Ansprüche, die sich auf die Wirkung der Arbeit beziehen und auf den Vorstellungen der Arbeitenden darüber beruhen, was Sinn und Zweck ihrer Arbeitstätigkeit ist oder aus ihrer Sicht sein sollte« (Nies, 2019a, S. 114). Die internalisierten Normen werden im Anwendungsbezug mit Kunden konkretisiert. Sie geraten immer wieder in direkten Widerspruch zur Gewinnorientierung. Eine Bankangestellte veranschaulicht das Problem plastisch: »Wenn ich einen Kunden in den Fingern habe, dann muss ich schauen, was ich rauswinden kann, wie so ein feuchter Waschlappen, hoffentlich kommen noch zwei, drei Tropfen raus, so ungefähr. Weil wir brauchen ja die Woche noch einen Bausparer. […] Aber ich für meine innere Einstellung sage mir eigentlich, das kann es ja nicht sein. Ich kann ja den Kunden nicht über den Tisch ziehen mit irgendwas, wenn wir diese Woche noch dieses oder jenes brauchen. […] Also ich muss sowohl in der Früh wie auch abends in den Spiegel reinschauen können« (zit. n. Nies, 2019a, S. 115).

Die Gefährdung ihrer Vorstellungen vom Sinn ihrer Arbeit »fordern die Beschäftigten […] zu vehementer Kritik heraus. […] Dass die Beschäftigten sich der unternehmerischen Verantwortung unter Bedingungen indirekter Steuerungsformen schwerlich entziehen können, trägt […] dazu bei, dass das Spannungsfeld von Verwertungs- und Gebrauchswertperspektive nicht nur Potenziale von Eigensinnigkeit und Kritik eröffnet, sondern sich auch als eine Quelle massiver Belastung erweisen kann« (ebd.).

Wer den Spagat zwischen Kunden-, Gebrauchswert- und Tauschwertorientierung nicht schafft, gilt als »überidentifiziert« oder »kann sich nicht abgrenzen«. 174

Das Unbehagen in der Arbeitswelt

In den Widersprüchen drückt sich ein Unbehagen in der Arbeitswelt aus, das gerade durch die Identifikation der Arbeitenden mit der Gebrauchswertseite der Ware zustande kommt. Es sind die internalisierten Normen, die mit der kapitalistischen Realität zusammenprallen. »Die inhaltlichen Ansprüche der Beschäftigten sind – so kleinteilig und partiell sie zuweilen erscheinen – von einer Gebrauchswertorientierung geprägt, die auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang von Arbeit verweist« (Nies, 2019b, S. 17). Dies allerdings nur in einem engen Rahmen: Arbeitende orientieren sich am Nutzen für die direkten Konsument:innen ihrer Produkte. Fragen nach ökologischer oder sozialer Nachhaltigkeit trennen sie davon. »Die weitergehenden Wirkungen und die gesamtgesellschaftliche Einbettung der eigenen Arbeit stellen für sie Rahmenbedingungen dar, die sie mit Antritt des Arbeitsplatzes akzeptiert haben und die damit den innerbetrieblichen Auseinandersetzungen vorgelagert sind« (ebd., S. 18). Auch die Tauschwertorientierung der Unternehmen stellen sie nicht prinzipiell infrage. »Genauso wie für das Unternehmen produktionsökonomische wie gebrauchswertorientierte Kriterien zu einem gewissen Grad unhintergehbar bleiben, machen sich die Beschäftigten auch ökonomische Zielgrößen als eigenen Arbeitsanspruch zu eigen« (ebd.). Sie wenden sich gegen eine Kurzfrist-Ökonomie, zum Beispiel unter Verweis auf langfristige Kundenbindungen, die durch hohe Qualität der Produkte erreicht werden könne. »Die Verletzung arbeitsinhaltlicher Ansprüche repräsentiert für sie umgekehrt dann die Widersinnigkeit zugrunde gelegter ökonomischer Kriterien – allen voran die Ausrichtung am Shareholder-ValuePrinzip und die Vorgabe von abstrakten Renditezielen« (ebd., S. 19). Der systematische Charakter dessen, was als Zeitnot und kurzfristiges Renditestreben erscheint, bleibt skotomisiert und es wird die Vorstellung einer Art gesunden Normal- gegenüber einem aus den Fugen geratenen Betrieb in Stellung gebracht. Friederike Hardering und Mascha Will-Zocholl (2019) trafen in ihren Untersuchungen auf Proband:innen, die versuchten, sich eine Nische zu verschaffen, die möglichst entfernt ist von unmittelbaren ökonomischen Vorgaben, um ihre professionellen Ansprüche bewahren zu können, während andere auch »mal fünf gerade sein lassen«, solange keine sicherheitsrelevanten Aspekte betroffen sind. Zudem stoßen sie auf einen Typus, der sich auch die Logik der Ressourcenknappheit zu eigen macht. In der Untersuchung des Sinnerlebens von Ärzt:innen und Sozialarbeiter:innen wendet sich eine Neurochirurgin gegen ihre Vorgänger: 175

Lutz Eichler

»Ich seh’ das nicht unbedingt negativ, weil früher war es ja so, dass im Grunde […] ein ärztlicher Direktor sich in keinster Weise irgendwie sich mit den wirtschaftlichen Aspekten seiner Klinik auseinander gesetzt hat. Die haben ein Budget bekommen, sie haben einfach irgendwie gehaushaltet, sie haben das Geld ausgegeben, wie es ihnen gepasst hat« (zit. n. Hardering & Will-Zocholl, 2019, S. 286).

Die Probandin identifiziert sich mit dem ökonomischen Imperativ und nutzt dies, um der Eltern-Generation Verschwendung zu unterstellen. Hier sind wir schon auf halbem Weg zu einem anderen Modus der Aneignung, den ich im Rahmen der Populismus-Diskussion vorstellen möchte.

Zwischenfazit Die Verwandlung von Arbeitsvermögen in Leistung wird von den Subjekten verstärkt selbst gesteuert und ihre kreativen, problemlösenden Fähigkeiten, ihre Motivation, ihr Engagement, ihre emotionalen und sozialen Kompetenzen gewinnen an Bedeutung. Sie müssen sich selbst mit den Widersprüchen der verwertungslogischen und produktionsökonomischen Seite auseinandersetzen. Kennzahlen müssen in reale Produkte, die von realen Kunden, die naturgemäß am Gebrauchswert der Produkte interessiert sind, umgesetzt werden. Damit prallen Gebrauchswert- und Tauschwertorientierung direkter im Subjekt aufeinander. Sie erfahren dies an der Differenz der finanziellen, materiellen, personalen und besonders den zeitlichen Ressourcen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden, im Vergleich zu den numerischen Ergebniserwartungen. Auch letztere können den Arbeitenden nicht gänzlich äußerlich bleiben, da der Unternehmenserfolg direkter als früher mit ihrem Interesse am Arbeitsplatzerhalt kurzgeschlossen ist. In diesem Kontext wird auf psychische Prozesse wie Sublimierungsfähigkeit und Identifikation instrumentell zugegriffen. Das Kapital ist zur Seite des Gebrauchswerts auf reife Bewältigungs- und Konfliktverarbeitungsmuster angewiesen, zugleich fordert es unreifere, beispielsweise anale Muster, wenn es um die Tauschwertseite geht. Die Arbeitenden müssen flexibel zwischen den verschiedenen Abwehrmechanismen wechseln können. Dekompensationen scheinen meist nach innen gerichtet zu verlaufen (Burnout, Depression etc.). Im Rahmen einer möglichen sozialstrukturel176

Das Unbehagen in der Arbeitswelt

len Verortung kreativer Arbeit habe ich zusammen mit Daniel Dravenau den Versuch unternommen, die Stellen potenzieller nach außen gerichteter unlegierter Aggression zu eruieren (Dravenau & Eichler, 2012). Wir begründeten die Vermutung, dass die Aggression an den jeweiligen Negativkonstruktionen von Idealisierungen ansetzt, das heißt, sich gegen »Unkreative«, »Unselbstständige« und »Inkompetente« in Form von Distinktion und symbolischer Gewalt wendet. Analog dazu könnte sich im Gefolge der Gebrauchswertorientierung die Aggression gegen »Gierige« und »Geldgeile« oder »Dilettanten« und »Stümper« richten – Vorurteile, die eher der Logik der mittleren sozialen Positionierung entsprechen, da sie sich sowohl nach oben als auch nach unten richten. Wir bewegen uns hier wieder auf einem Streckenstück der Linie, deren Schlusspunkt die Introjektion im Unterschied zur Identifikation mit der Arbeit bildet.

Quo vadis, Arbeitsscheu? Wo ist nun Freuds »natürliche Arbeitsscheu« hingekommen? Die bisherigen Überlegungen ließen dafür kaum Raum. Und tatsächlich ist es schwierig, sie direkt abzufragen. Es gibt weniges, was stärker verpönt ist. Kritik der Arbeit, sei sie philosophisch, literarisch oder subkulturell, argumentierend, provokativ oder leise ironisch, ist rar. Bekannter sind Nietzsche und Lafargue (Lafargue, 1966 [1880]), die Bohème (Murger, 2009 [1851]), die Situationisten, der Punk, die Wertkritik (Gruppe krisis, 1999) und die glücklichen Arbeitslosen (Paoli, 2002). Üblich ist die Idealisierung der Arbeit. Auch während der Kaiserzeit und der Ersten Republik war die Situation nicht anders (vgl. Asholt & Fähnders, 1991). Und dennoch warnte Freud in einer Fußnote: »Die große Mehrzahl der Menschen arbeitet nur notgedrungen, und aus dieser natürlichen Arbeitsscheu der Menschen leiten sich die schwierigsten sozialen Probleme ab« (Freud, 1930a, S. 438, Fn). Arbeitsscheu und Idealisierung schließen sich nicht aus, in einer bestimmten Variante gehören sie womöglich gar zusammen. Einerseits hängt Freud der klassisch bürgerlichen Anschauung an, Armut sei mit Triebhaftigkeit, Amoralität und nachvollziehbarer Kulturfeindschaft verbunden. Deswegen müssten die unteren Schichten ebenso mitleidig wie eindeutig von selbstbeherrschten, moralisch integren Bürgern geführt werden (vgl. Schülein, 1975, S. 206ff.). Andererseits dürfte ihm bekannt gewesen sein, dass die Nazis die arische Rasse als besonders 177

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sam betrachteten, während sie alle anderen, besonders aber Schwarze und Juden, für faul und arbeitsunfähig hielten. Freuds hedonistische Anthropologie zielt darauf, den Arbeitsdruck zu reduzieren und mehr Menschen mit dem unvermeidlichen Teil der Arbeit zu versöhnen. Er widerspricht damit der auf Spaltung beruhenden Anschauung. Und er wusste, dass sich hinter Spaltungen enorme Ambivalenz verbirgt. Seine Bürgerlichkeit versperrte ihm aber wohl doch den klaren Blick darauf, dass die »schwierigsten sozialen Probleme« nicht jene bereiten, die sexuell zügellos sind, bummeln, prokrastinieren, die Arbeit verweigern oder arbeitsunfähig sind, sondern jene, die Arbeit, bar jeden Inhalts, idealisieren, sich auf fatale Weise mit ihr identifizieren oder präziser: bei denen Arbeit ein Introjekt ist. Acht Jahre nach der Veröffentlichung des Unbehagen-Aufsatzes wurden bei der »Aktion Arbeitsscheu Reich« 10.000 Männer als sogenannte Asoziale in Konzentrationslager verschleppt. Und nur weitere vier Jahre später beginnt die systematische Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern; über deren Eingangstoren Arbeit macht frei prangt. Bis heute gehört die Idealisierung der Arbeit und die Verfolgung von Menschen, die vermeintlich nicht arbeiten, zum Kernbestand menschenfeindlicher Ideologien. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antiziganismus, Antisemitismus, die Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Behinderten, Obdachlosen und Asylbewerber:innen als auch die Begründung der Vorrangstellung von Etablierten basieren auf der Idee, die Fremdgruppen könnten oder wollten nicht, nicht so viel oder nicht so gut arbeiten und Leistung erbringen wie man selbst bzw. die Eigengruppe und sie würden sich die Früchte der Arbeit der Eigengruppe aneignen wollen. Umgekehrt gehört es zum Selbstbild, arbeitsam oder leistungsstark zu sein oder einer Gruppe anzugehören, die das ganz prinzipiell (rassisch und/oder kulturell) ist. Die narzisstische Abwertung und Projektion eigener Unlust erhält eine noch gefährlichere Dynamik, wenn die Projektionen sich zum Verfolgungswahn zuspitzen, wenn sich also die Fantasie bildet, die Faulen würden die Fleißigen angreifen.

Paranoia und Projektion der Faulheit Im Folgenden versuche ich, dies bislang weniger beachtete Stück der autoritären, rechtspopulistischen und nationalsozialistischen Ideologie der psychoanalytischen Autoritarismusforschung einzufügen. 178

Das Unbehagen in der Arbeitswelt

Sehen wir zunächst wieder in den Unbehagen-Aufsatz hinein. Freud widmet sich im Abschnitt II einer ganzen Reihe von Tricks zur Leidvermeidung, die er nach potenziellen Quellen der Unlust gruppiert: dem eigenen Körper, der Außenwelt und den Beziehungen zu anderen. Die uneingeschränkte Befriedigung der Lust sei die riskanteste und »straft sich nach kurzem Betrieb« (Freud, 1930a, S. 435). Eine Variante sei die gewählte Einsamkeit und Ruhe, eine andere die Intoxikation oder die Manie, bei der körpereigene Stoffe rauschähnliche Zustände hervorriefen, eine weitere versuche den inneren Quellen der Bedürfnisse Herr zu werden (zum Beispiel Yoga) und eine letzte gehe darauf, eine unleidliche Seite der Wirklichkeit umzubilden. Letztere biete sich auch besonders für Kollektive an. Freud denkt zunächst an Religionen, wobei er sie in einen Kontext mit der Paranoia bringt, das heißt, der Aggression im Rahmen der Wahnbildung besonderen Stellenwert beimisst. Zentrales Merkmal der Paranoia ist eine feindlich und bedrohlich erlebte soziale Umwelt, die auf Projektionen eigener Aggressionen beruht, wobei kognitive und perzeptive Funktionen unbeeinträchtigt bleiben. Es treten keine formalen, sondern nur inhaltliche Denkstörungen auf. Die Paranoia hat ihre Wurzel meist in einer erzwungenen frühen Trennung vom Objekt, sodass eine zuverlässige emotionale Bezugsbasis verlorenging, die zu einer verdrängten Abhängigkeit führt. Die wichtigsten Abwehrmechanismen sind Spaltung in nur-gute und nur-böse Objekte, Introjektion und Projektion. »In psychogenetischer Perspektive hat das paranoide Individuum also seine besondere Verletzlichkeit in dem Spannungsfeld eines bedrohten Autonomiestrebens und extremer Abhängigkeitsbedürfnisse ausgebildet. […] Das Selbstwerterleben des paranoiden Individuums verrät einerseits die Ansprüchlichkeit eines archaischen Größenselbst. Es kann andererseits von minderwertig erlebten Strukturanteilen diktiert werden. […] Die stets aktualisierte Aggressionsproblematik wird entsprechend der polar angelegten Dynamik von Verfolger und Opferintrojekt ausgetragen« (Kapfhammer, 2014, S. 556).

Arbeit ist Teil aller drei Quellen der Unlust: Körper, Außenwelt und Sozialbeziehungen. Sie ist zentrale Kulturanforderung und zugleich ist die »Arbeitsscheu« im hohen Maße verpönt. Wer nicht arbeitet, muss einen ernsten Grund dafür angeben können, er ist sonst sowohl moralisch, sozial und materiell unmittelbar von Exklusion bedroht. Es ist naheliegend, bei 179

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der paranoiden Umbildung der Wirklichkeit diesen Aspekt mitzuberücksichtigen, die Unlust an der Arbeit zu projizieren und bei anderen unterzubringen und ein Bild eigenen Fleißes zu kreieren. Für die Entwicklung der paranoiden Persönlichkeit wird angenommen, dass eine frühe Trennung vom Objekt die Möglichkeiten einer gelungenen Identifikation erschwert. Wahrscheinlich wurde die kindliche Aktivität gebremst und entwertet, Neigungen weder erkannt noch gefördert. Diese Kinder und Jugendlichen werden wahrscheinlich eher als faul, nichtsnützig, nervig, dumm, als Last, die unlustvolle, anstrengende Arbeit (der Eltern) erfordert, gespiegelt. Sie sind früh auf sich gestellt, sodass die Realität ungepufferter auf sie einwirkt und sie schneller selbst zurechtkommen müssen. Die Über-Ich-Bildung findet durch traumatisierende Erlebnisse, also passiv-erleidend statt, während sie bei der gelungenen Identifikation stärker aktiv-willentlich erfahren wird. Die introjizierten Objektrepräsentanzen sind sadistisch und entwertend. Die Außenwelt wird aus zwei Gründen eher als feindlich betrachtet: erstens, da sie real häufig feindlich war, sodass Argwohn und Habachtstellung zur habituellen Grundausstattung werden, und zweitens, weil man die bösen Selbst- und Objektanteile externalisiert und sich von diesen projizierten Anteilen wiederum verfolgt sieht. Mentzos (2009, S. 217ff.) macht darauf aufmerksam, dass Verfolgungswahn weitere stabilisierende Funktionen hat. Er ist strukturierend. Es gibt eine eindeutige Ordnung in Verfolger:in und Verfolgte:r und beide sind wechselseitig gut sichtbar (Ich werde gesehen!). Die Paranoia fungiert insofern als Schutz vor der Destabilisierung der Ich-Grenzen und sie reduziert diffuse Ängste. Im Vorurteil vom Faulen verbergen sich also verpönte Selbst- und Objektanteile, die projiziert werden müssen, um nicht von den Introjekten gepeinigt zu werden. Die Unlust an Arbeit besteht, weil der Prozess der Identifikation mit der Arbeit misslingt und man den Imperativen der sadistischen Introjekte dennoch folgen muss.

Arbeit, Leistung und Wir-Gruppen-Bildung Eine österreichische Forschungsgruppe (Altreiter et al., 2019) hat eine interessante empirische Studie zum Thema Solidarität vorgelegt, die ich zur Illustration und weiteren Differenzierung heranziehen will. Die Gruppe sucht verschiedene »Solidaritätskonfigurationen« sichtbar zu machen, die sich entlang eines Kontinuums 180

Das Unbehagen in der Arbeitswelt

»zwischen idealtypischen Extrempolen aufspannt: Auf der einen Seite steht die universelle Solidarität, die alle Menschen auf der Welt umfasst, also niemanden ausschließt und keine Bedingungen stellt. Auf der anderen Seite finden sich individualistische Positionen, die vor allem auf das eigene Ich und die eigene Familie und ihre Interessen fokussiert sind« (ebd., S. 12).

Die »Solidarität« der vermeintlichen Individualist:innen besteht in der ethno-nationalistischen Wir-Gruppen-Bildung. Die Studie ist zunächst nicht als Beitrag zur Autoritarismusforschung angefertigt, sondern die Autor:innen, aus der Arbeits- und Ungleichheitsforschung kommend, fragten nach berufsbiografischen, arbeits- und lebensweltlichen Themen. »Die Gespräche drehten sich um die berufliche Laufbahn und Erfahrungen in der Arbeitswelt, die eigene Lebenssituation und deren Veränderungen und darüber hinaus um Einschätzungen zum sozialen Zusammenhalt, zu Gerechtigkeit und zu politischen Entwicklungen« (ebd., S. 13). Die Proband:innen, die den ersten beiden der insgesamt sieben Idealtypen zugeordnet wurden, vertreten universalistische Werte, solidarisieren sich mit den Schwachen und Minderprivilegierten, beobachten ihre soziale Position aus einer reflexiven Perspektive, versuchen ihre Arbeit mit ihrer politischen Haltung zu vereinbaren und können dabei auch Diskrepanzen benennen. In allen anderen Gruppen wird in steigendem Maße »Solidarität« an Arbeit und Leistung gebunden. In Gruppe drei steht die Idee des Forderns und Förderns im Zentrum. Die Proband:innen lehnen »Pölsterchen, wo man sich ausruhen kann« ab, da »Gesellschaft dafür da ist, um für das Wohl aller zu arbeiten« (ebd., S. 57). Es besteht aber keine Nationalisierung der Arbeitsidee und sie zeigen Verständnis für »Wirtschaftsflüchtlinge«. Zugewanderten sollte man mit Bildung die Startchancen verbessern. In der vierten Gruppe zeigt sich die Arbeitsideologie und das Ressentiment gegen Arbeitslose ausgeprägter. Sie halten sich selbst für Leistungsträger:innen. Flüchtlinge sind gut, wenn sie arbeiten, wobei geargwöhnt wird, ob sie das denn wollten. »Leistung in Form von Erwerbsarbeit ist das zentrale Kriterium, anhand dessen Fragen der Solidarität behandelt werden« (ebd., S. 76). Während die einen sich abrackern, kriegen die anderen Geschenke, so die Grundvorstellung. Die Solidaritätsfrage wird umgedreht: »Flüchtlinge müssen Solidarität zeigen, indem sie arbeiten« (ebd., S. 82). In Gruppe fünf verhält es sich ähnlich. Arbeit ist Teil einer moralischen Pflichterfüllung (ebd., S. 93). Vorherrschend ist die Idee, man arbeite für eine Gemeinschaft oder für einen Staat. In den Gruppen 181

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sechs und sieben rückt noch stärker die ethno-nationale Wir-Gruppe in den Mittelpunkt. Das Bild einer faulen, schmarotzenden Fremdgruppe ist ubiquitär, reicht aber schon nicht mehr hin, um die Aggression abzuführen. Es treten darüber hinaus Fantasien über sexuelle Themen, Kindesmissbrauch und Mord durch die Fremdgruppe zutage (vgl. ebd., S. 115). Während in den ersten beiden Gruppen die Arbeitsinhalte besetzt sind, rücken sie bei den weiteren Idealtypen in den Hintergrund. Je stärker Arbeit und Leistung der Spaltung dient, desto stärker wird vom Inhalt der Arbeit abstrahiert. Die Frage, was und wozu gearbeitet wird, wird von der, dass gearbeitet wird, verdrängt. In den Gruppen, in denen Arbeit und Leistung unabhängig vom Inhalt idealisiert wird, dient das zugleich der Wir-Gruppen-Bildung und Abgrenzung von der Fremdgruppe, der die antonymen Eigenschaften zugeordnet werden. In den anderen Gruppen wird von den konkreten Tätigkeiten ohne Entwertung der arbeitenden Personen gesprochen, wohl aber die Tätigkeiten und Verhältnisse bewertet. Identifizierung mit der Arbeit heißt entsprechend keineswegs, dass man jede oder »seine« Arbeit gerne mag, auch nicht, dass man sich darüber definiert. Arbeit muss nicht der Identitätsbildung dienen, um mit ihr ein psychisch gesundes, ein gelungenes Arrangement zu haben. Die Achsen faul – fleißig, leistungsstark – leistungsschwach spielen keine oder nur eine nebensächliche Rolle.

Kapitalismus, Arbeits-Introjekt und Arbeits-Identität Das Introjekt »Arbeit überhaupt« zeigt eine überraschende Ähnlichkeit mit der abstrakt-menschlichen Arbeit, wie sie Marx bestimmt (siehe oben). Das Kapital ist gleichgültig gegenüber den Gebrauchswerten und der konkret nützlichen Arbeit, entscheidend ist nur, dass es Arbeit ist, die wertbildend ist. In seiner verwertungslogischen Grundstruktur kommt der Kapitalismus mit narzisstischen und analen Charakteren und den Ergebnissen von Introjektionen besser zurecht als mit Sublimierung und Identifizierung, die den Kapitalismus schnell überfordert. Auf eine wirklich psychisch gesunde Identifizierung mit konkreten Arbeitsinhalten und einer Über-Ich-Bildung, die sich an Normen guter Arbeit orientiert (ohne die eigene Endlichkeit, Abhängigkeit, Begrenztheit zu leugnen), ist der Kapitalismus nicht ausgelegt. Zugleich ist er bei subjektiver Arbeit stärker darauf angewiesen. 182

Das Unbehagen in der Arbeitswelt

Solange der Kapitalismus als zweite Natur erscheint, wird nicht dieses Wirtschaftssystem, sondern werden die Menschen überfordert und es könnte eher noch häufiger zu Dekompensationen kommen. Während die individualpathologische Verarbeitung in Richtung Depression und Burnout weist, könnte die sozialpathologische zu Querdenken, Aluhut, Spinnerei, Esoterik und Pandemieleugnung führen. Hier springen die arbeitsgesellschaftlich geforderte Fantasie und Kreativität aus dem Gleis und befreien sich von ihrem Als-ob-Charakter in Richtung alternativen Wahns. Die Verarbeitung bei der Introjektionsvariante ist uns wohlbekannt. Der Autoritarismus verläuft über eine inhaltsleere Leistungsideologie, die Nationalisierung des Arbeits- und Wirtschaftsverständnisses in Richtung gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die Gefahr wird besonders ernst, wenn sich die beiden Gruppen treffen. Das könnte bei den Demonstrationen am 29.8.20 in Berlin vor dem Reichstag und am 6.1.21 in Washington bei der Erstürmung des Kongresses passiert sein. Literatur Altreiter, C., Flecker, J., Papouschek, U., Schindler, S. & Schönauer, A. (2019). Umkämpfte Solidaritäten. Spaltungslinien in der Gegenwartsgesellschaft. Wien: Promedia. Asholt, W. & Fähnders, W. (Hrsg.). (1991). Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914. Dokumente und Analysen. Frankfurt a. M.: Fischer. Boltanski, L. & Chiapello, È. (2001). Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel. Berliner Journal für Soziologie, 4, 459–477. Bourdieu, P. (1982 [1979]]. Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brocker, M. (1992). Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Csíkszentmihályi, M. (1987). Das flow-Erlebnis: jenseits von Angst und Langeweile. Im Tun aufgehen. Stuttgart: Klett-Cotta. Debord, G. (1996 [1967]). Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat. Dravenau, D. & Eichler, L. (2012). Subjektivierung – Distinktion – Narzissmus. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 4, 421–438. Eagleton, T. (2009). Was ist Kultur? München: C. H. Beck. Eichler, L. (2013). System und Selbst. Arbeit und Subjektivität im Zeitalter ihrer strategischen Anerkennung. Bielefeld: transcript. Fenichel, O. (1983 [1945]). Psychoanalytische Neurosenlehre. Bd I. Frankfurt, Berlin & Wien: Ullstein. Florida, R. L. (2004). The Rise of the creative class. And How It’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life. New York: Basic Books. Freud, S. (1923b). Das Ich und das Es. GW XIII, 237–289. Freud, S. (1925d [1924]). Selbstdarstellung. GW XIV, 31–96.

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Biografische Notiz Lutz Eichler, Dr., Dipl.-Soz., B. A., hat in Nürnberg und Frankfurt Soziologie studiert, danach einige Jahre journalistisch gearbeitet, bevor er bei Tilla Siegel und Jürgen Ritsert zur Soziologie und Sozialpsychologie subjektivierter Arbeit promoviert hat. Von 2007 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie in Erlangen und hat daneben die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im tiefenpsychologischen Richtlinienverfahren am Rhein-Main-Seminar gemacht. Unmittelbar nach der Approbation 2020 wurde er auf eine Professur für gesundheitsbezogene Soziale Arbeit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf berufen. Er arbeitet nebenbei als Therapeut in eigener Praxis.

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Unbehagen in der Arbeitskultur? Überlegungen zum psychoanalytischen Arbeitsbegriff Gianluca Crepaldi

Obwohl Freud (1930a) im Unbehagen in der Kultur »die gemeine, jedermann zugängliche Berufsarbeit«1 (S. 438) als das von der Kultur erzwungene Triebschicksal für die allermeisten Menschen erachtet, bleibt eine systematische Reflexion zum Begriff der Arbeit im Diskurs der Psychoanalyse bis heute aus. Als Wort im Text der Psychoanalyse hat sie jedoch eine auffällige Präsenz. Freuds Schriften weisen quantitativ betrachtet eine hohe Konzentration von Begriffsbildungen mit dem Wort »Arbeit« auf. Rath (2012) zählt an die 400 Erwähnungen des Begriffs »Traumarbeit« und etwa 50 Komposita, die Freud in seinen Gesammelten Werken mit dem Wort »Arbeit« bildet (darunter Entstellungsarbeit, Erinnerungsarbeit, Deutungsarbeit, Trauerarbeit, Witzarbeit und viele andere). Haubl (2000) hält diese Arbeitsmetaphorik der Psychoanalyse für alles andere als zufällig: »In ihr spiegelt sich das bürgerliche Arbeitsethos: Die stetige Anstrengung, sich mit dem eigenen Unbewussten gegen Widerstände zu konfrontieren« (S. 50). In einer der wenigen eigens diesem Thema gewidmeten Publikationen wollen Tuschling und Porath (2012) diese verschiedenen psychoanalytischen Arbeitsbegriffe zwar in den Blick nehmen, vertreten aber die Auffassung, dass es sich hierbei um Metaphern handle, die nicht verbunden werden müssten und woraus sich keine implizite Theorie der Arbeit rekonstruieren ließe; es solle »bezweifelt werden, ob es sich dabei schon um Arbeitsbegriffe als Teil einer Theorie der Arbeit oder auch Ahnungen derselben handelt« (ebd., S. 13). 1

Dass die Berufsarbeit allen zugänglich sei, kann man weder für damalige (1930) noch für heutige Verhältnisse behaupten, doch gerade durch ihre – in Zeiten der Pandemie noch erheblich verschärfte – Verknappung scheint die Arbeit mehr denn je den entscheidenden Mediator für unseren Selbst- und Weltbezug zu bilden.

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Gianluca Crepaldi

Ich möchte im vorliegenden Beitrag die gegenteilige Sichtweise vertreten und zeigen, dass sehr wohl eine stille Einheit dieser Freud’schen Arbeitsbegriffe besteht, welche die psychoanalytische Theoriebildung im Hintergrund zusammenhält und welche vielleicht unbewusst mit dazu beiträgt, den modernen Menschen als ein Subjekt der Arbeit zu reproduzieren. Ist die Arbeit das Verdrängte der Psychoanalyse? Wenn ja: Was kann hier »Arbeit« überhaupt heißen? Oder ist das Unbewusste, wie es Lacan einmal ausdrückt – angesichts seiner vielfältigen Produktionen (Träume, Fehlleistungen, Symptome etc.) – selbst ein »idealer Arbeiter« (zit. n. Pazzini, 2012, S. 92)?

Freuds Begriff der »Kulturarbeit« Eine aufschlussreiche Perspektive auf diese Fragen eröffnet sich, wenn man Freuds Begriff der »Kulturarbeit« nachgeht, über den man gehäuft in der religionskritischen Abhandlung Die Zukunft einer Illusion stolpert (Freud, 1927c, S. 328). Bevor er sich dort dem Topos des Religiösen zuwendet, schickt Freud allgemeine Überlegungen zum Wesen menschlicher Zivilisation (die er vom Begriff »Kultur« nicht unterscheiden will) voraus und spricht von einem ubiquitären »Zwang zur Kulturarbeit«, da nicht gesichert sei, ob bei einem etwaigen »Aufhören des Zwanges die Mehrzahl der menschlichen Individuen bereit sein wird, die Arbeitsleistung auf sich zu nehmen, deren es zur Gewinnung neuer Lebensgüter bedarf« (ebd.), zumal Menschen »spontan nicht arbeitslustig sind« und »Argumente nichts gegen ihre Leidenschaften vermögen« (ebd., S. 329). Aus der Erfahrung heutiger Verhältnisse gesprochen, müssten wir Zweifel anmelden, ob der Mensch wirklich »von Natur aus« so ein arbeitsscheues Wesen ist, denn eine Scheu lässt sich heute wohl eher gegenüber allen möglichen Formen der Nichtarbeit, Faulheit und Passivität beobachten; für Freud hingegen würde gerade diese libidinöse Besetzung von Betriebsamkeit eine neurotische Tendenz bezeugen, die ohne die Kultur nicht existiert. Analog zur Dynamik im Ödipuskomplex wird dieser »Zwang zur Kulturarbeit« nicht als anonymer sozialer Mechanismus begriffen, vielmehr muss man sich die Entbehrungen durch die Kultur immer durch konkrete andere Personen vermittelt vorstellen. Nicht nur eine starke Vaterfigur, sondern eine Art platonischer Philosophenherrscher scheint Freud vor Augen zu stehen, wenn er formuliert: 188

Unbehagen in der Arbeitskultur?

»Nur durch den Einfluß vorbildlicher Individuen, die sie [die Menschen] als Führer anerkennen, sind sie zu den Arbeitsleistungen und Entbehrungen zu bewegen, auf welche der Bestand der Kultur angewiesen ist. Es ist alles gut, wenn diese Führer Personen von überlegener Einsicht in die Notwendigkeiten des Lebens sind« (ebd.).

Neben der gänzlich ahistorischen Feststellung, dass »jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht« (ebd., S.  331), gibt es aber auch ein minimales Zugeständnis an den historischen Materialismus, insofern alle gegenwärtigen Kulturen (der Begriff »kapitalistisch« wird von Freud nicht aufgegriffen) zur Befriedigung einer Minderheit eine Mehrheit unterdrücken würden, so »daß diese Unterdrückten eine intensive Feindseligkeit gegen die Kultur entwickeln, die sie durch Arbeit ermöglichen, an deren Gütern sie aber einen zu geringen Anteil haben« (ebd., S. 333). Die Masse der Menschen ist jedenfalls »durch erschöpfende Arbeit in Anspruch genommen« (ebd., S. 335) und nur wenige haben das Glück und die Bildung, sich durch die Kunst als der hochwertigsten aller »Ersatzbefriedigungen« mit dem Opfer des kulturbedingten Triebverzichts auszusöhnen. Phänomene wie Naturkatastrophen, Krankheit oder Tod würden uns zudem immer »wieder unsere Schwäche und Hilflosigkeit vor Augen [rücken], der wir uns durch die Kulturarbeit zu entziehen gedachten« (ebd., S. 337). Dass das, was Freud als Kulturarbeit denkt, selbst zur Drangsal der menschlichen Existenz beiträgt, tritt bei diesen Überlegungen zunächst in den Hintergrund. Man muss in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Lebensnot, die natürlichen Unbillen – ein der »Schöpfung« inhärenter Mangel, der uns dauerhaft zur Kulturarbeit motiviert –, für Freud zu einem großen Teil auch eine aus dem Inneren des menschlichen Organismus stammende Größe ist (vgl. hierzu auch Kirchhoff, 2014). Körperbedürfnisse, endogene Reize aus Körperzellen, die Quellen des Triebs, zwingen den psychischen Apparat aus der Homöostase, seiner ursprünglichsten Komfortzone, heraus zur psychischen Arbeit bzw. zur unablässigen Produktion von psychischen Gebilden (Traumarbeit, Trauerarbeit, Witzarbeit, Fehlleistungsarbeit etc.) und führen letztlich das durch die Kultur neurotisierte Individuum in die Praxis von PsychoanalytikerInnen und ihrer Deutungsarbeit. Der sowohl äußere als auch innere Transformations- und Reproduktionsprozesse umfassende, den vereinzelten psychischen Arbeitsbegriffen übergeordnete Begriff ist eben jener der Kulturarbeit. 189

Gianluca Crepaldi

Wir fassen zusammen: Mit Kulturarbeit ist im Kontext der Psychoanalyse nicht jene engagierte, häufig ehrenamtlich ausgeübte oder chronisch unterbezahlte Tätigkeit von Menschen im Kunst- und (Sub-)Kulturbetrieb gemeint. Mit seinem Begriff der Kulturarbeit hat Freud etwas viel Allgemeineres im Sinn, er bezeichnet damit eine Gesamtheit von inneren (intrapsychischen) und äußeren (intersubjektiven) Strukturen und Dynamiken sowie alle gesellschaftlichen Einrichtungen und sozialen Praktiken, welche die fortlaufende Enkulturation, Sozialisation bzw. Subjektwerdung des Menschen befördern, indem sie seine triebhaften Anteile auf lebensdienliche, das heißt dem Kulturzerfall entgegenwirkende Weise organisieren. Kulturarbeit ist ein Bemühen um Formung des psychisch und physisch »Rohstofflichen« zu Gunsten einer sozio-symbolischen Wirklichkeit und darin jenem ursprünglichen marxistischen Arbeitsbegriff erstaunlich ähnlich, der die gebrauchswertschöpfende Formung einer naturhaften Materialität durch die Taten eines Subjekts als Arbeit definiert (Marx, 2005 [1867], S. 50ff.). Insofern ist es gerechtfertigt zu sagen, dass Freud mit dem Begriff Kulturarbeit eine ontologische Ebene betritt, was er selbst wohl eher von sich gewiesen hätte. Kulturarbeit verweist auf eine Bewegung der De-naturalisierung und Ent-bestialisierung des Menschen, die nicht an einem bestimmten Punkt der phylogenetischen Entwicklung stattgefunden hat, sondern die sich immer wieder aufs Neue – quasi geschichtlich – her- und herausstellen muss; das schließt die permanente Möglichkeit des Scheiterns bzw. Kollabierens der Kulturarbeit mit ein. Gerade dieser Aspekt ist politisch bedeutsam: Ekkehard Muther (2018) hat in seinem Essay Wider die Hemmungslosigkeit gegenwärtig grassierende antidemokratische Tendenzen, die Aushöhlung rechtsstaatlicher Strukturen, Rechtgläubigkeit und Reinheitsfantasien sowie Abschottungswünsche als »Rückabwicklung der Zivilisation« in exakt diesem Freud’schen Sinne verstanden. Was diesen Kräften des Zerfalls entgegenstehen soll und was ich hier zu problematisieren versuche, ist jene unausgesprochene Grundannahme der Psychoanalyse, die das prozesshafte Wesen des Kulturellen an sich als Arbeit zu verstehen trachtet. Gewollt oder nicht nehmen Freud und NachfolgerInnen mit dieser impliziten Ontologie eine Junktimierung des Kultur- und Arbeitsbegriffs vor (vgl. Crepaldi, 2019), insofern Kultur nur durch Arbeit entsteht, aber Arbeit nur dort statthat, wo auch Kultur ist. Die Kulturarbeit der Psychoanalyse wirkt entgegen ihrer bewussten Absicht am Fortschreiben des Mythos unserer Kultur als einer Arbeitskultur mit. 190

Unbehagen in der Arbeitskultur?

Der Kampf ums Überleben als Motor der Arbeit Aus Sicht von Adorno schwankt Freud bis zuletzt in der Frage, »ob er den Triebverzicht als realitätswidrige Verdrängung negieren oder als kulturfördernde Sublimierung preisen soll« (Adorno, 1980, S. 66). Hinter dieser Uneindeutigkeit des psychoanalytischen Axioms vom Triebverzicht durch Kulturarbeit stehe aber mehr als nur eine Inkonsequenz im Denken Freuds, denn in »diesem Widerspruch lebt objektiv etwas vom Januscharakter der Kultur selber, und kein Lob der gesunden Sinnlichkeit vermöchte ihn zu glätten« (ebd.); aus Sicht der Kritischen Theorie ist es eben eine bestimmte Kultur, die Bedürfnisse befriedigen kann, und es ist in erster Linie auch eine bestimmte Kultur, die Verhältnisse der Versagung und Verknappung erzeugt. Während Freud die Lebensnot als Naturgesetzlichkeit reflektiert, der er wie so oft einen mythischen Namen gibt (Ananke: Göttin der Notwendigkeit) und die er zum Hauptmotor der Kulturentwicklung schlechthin erklärt, denkt Adorno den Mangel an Lebensnotwendigem (an Gütern, an Autonomie, an Glücks- und Befriedigungsmöglichkeiten) als gesellschaftlich reproduziertes Phänomen mit geschichtlichem Index (vgl. Kirchhoff, 2014). Vergesellschaftung müsste für Adorno nicht mehr unter den Vorzeichen des Mangels (den er häufig mit dem leibnahen und konkreten Begriff »Hunger« anzeigt) stehen, und dennoch erleben wir in unseren Gesellschaften paradoxerweise, dass »das Ideal der Vollbeschäftigung das der Abschaffung von Arbeit substituiert« (Adorno, 2003, S. 473.). Für Freud hingegen sind die Nöte des Lebens zuallererst anthropologische Konstanten. Wenn der naturgegebene Hunger uns für immer zur Arbeit zwingt, scheint ein Diskurs über die Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse zweitrangig gegenüber dieser ewigen Wahrheit des Mangels zu bleiben. Diese Kritik an einem »Konservatismus« Freuds wäre aber nur dann in vollem Umfang zulässig, wenn man ihm einen naturalistischen Fehlschluss unterstellen wollte, dass nämlich etwas, das (von Natur aus) ist, auch sein soll. Das berühmte kalenderblatttaugliche Zitat Freuds, wonach der Plan der »Schöpfung« das menschliche Glück nicht vorsehe (Freud, 1930a, S. 434), war aber mit Sicherheit nicht dafür gedacht, sittliche Forderungen oder gar die Vergötzung von Dienstbeflissenheit, Verzicht oder Askese daraus abzuleiten. Ein Beispiel dafür, wie man das Faktum der Lebensnot moralisch interpretieren und damit gewollte oder nicht ungerechte Verhältnisse rechtfertigen kann, findet sich ausgerechnet bei der sozialrevolutionär engagierten christlichen Philosophin Simone Weil, die der Auffassung ist, »daß die Einwilligung 191

Gianluca Crepaldi

in das Gesetz, daß die Arbeit zur Lebenserhaltung unentbehrlich sei, der vollkommenste Gehorsamsakt ist, den ein Mensch vollbringen kann, nur vergleichbar mit der Einwilligung in die Sterblichkeit« (zit. n. Sloterdijk, 2015, S. 233). Hier werden die Schwere des Lebens und entfremdete Plackerei tatsächlich unendliche, nämlich von einer Transzendenz herstammende Konstanten. Simone Weil hat nach Meinung von Sloterdijk (2015) »anachronistisch eine christliche Metaphysik des Arbeiters und den ›freiwilligen täglichen Tod der Fabrikarbeit‹ auf unangemessene Weise heiliggesprochen« (S. 234). Diese Sakralisierung der Arbeit können wir mithilfe von Freuds Lehre als eine Variante des Masochismus verstehen, die »Erotisierung des Leidens« als Perversion des Triebziels (vgl. Pelledeau & Merchand, 2018) im Dienste einer martyriologisch verklärten Arbeitssucht. Während das jüdisch-christliche Erbe noch gebietet, das Brot im Schweiße unseres Angesichts zu essen, ist der (postmoderne) Arbeiter tendenziell übergewichtig und muskulär unterfordert. Neben dem Diskurs über das »erschöpfte Selbst« in der Müdigkeits- und Burnoutgesellschaft (Han, 2016; Ehrenberg, 2008) ist zugleich mit dem gegenteiligen Syndrom zu rechnen: »Im Kern der sogenannten produktiven Arbeit findet man noch erstaunlich große Hohlräume. […] Allgemein dürfte gelten, daß Arbeit immer mit einem Faktor von Arbeitsvortäuschung verbunden ist, inklusive Produktivitäts-, Nützlichkeits- und Unentbehrlichkeitsvortäuschung« (vgl. Sloterdijk, 2015, S. 234). Wie sich gesellschaftlich unbewusste Fantasien über eine anarchistische Leistungszurückhaltung und das Nicht-mehr-arbeiten-Wollen in scheinbar harmlosen populärkulturellen Produkten wie Comedyserien artikulieren, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht (Crepaldi, 2020).

Psychoanalyse zwischen Arbeitsmetaphorik und Arbeitsmetaphysik Obwohl die Psychoanalyse in theoretischer und klinischer Hinsicht als Werkzeug der Ideologiekritik nützlich sein kann, wird dieses Potenzial gerade beim Thema Arbeit nicht ausgeschöpft. Arbeit ist im Diskurs der Psychoanalyse präsent und zugleich eigenwillig verdrängt. PsychoanalytikerInnen neigen meiner Erfahrung nicht selten dazu, ihre eigene Arbeit als emanzipatorischen Gegenentwurf zur Betriebsamkeit des Alltags und zur Vorherrschaft ökonomischer Sachzwänge (etwa im Gesundheitswesen) zu betrachten. Die gleichschwebende Aufmerksamkeit, ausgiebiges Schwei192

Unbehagen in der Arbeitskultur?

gen, hohe Frequenz und lang andauernde Behandlungsprozesse werden gern als Teil einer Kultur der Muße und Langsamkeit gepriesen oder als kritisches Gegenkonzept zur stressreichen Absorption von PatientInnen durch deren tägliche Lohnarbeit verstanden. Zugleich greifen die meisten PsychoanalytikerInnen, wenn sie gefragt werden, welches Ziel die Psychoanalyse als Psychotherapie für ihre PatientInnen verfolge, auf die idiomatische Wendung von der »Liebes- und Arbeitsfähigkeit« zurück, die Freud zugeschrieben wird, aber de facto nicht belegt werden kann.2 Arbeitsfähig zu sein (einem Beruf oder einer Ausbildung nachgehen, für sein finanzielles Auslangen sorgen zu können), wird zum Index psychischer Gesundheit, Arbeitsunfähigkeit hingegen ist behandlungsbedürftig, auch weil sie teuer ist für das Gesundheitswesen, wovon die Psychoanalyse als Heilverfahren etwa in Deutschland und Österreich ein Teil ist. Der französische Psychoanalytiker und Inhaber des Lehrstuhls für Psychoanalyse, Gesundheit und Arbeit am Conservatoire national des arts et métiers (CNAM), Christophe Dejours, hat den, meinem Kenntnisstand nach, bis dato differenziertesten und theoretisch anspruchsvollsten Beitrag zum Arbeitsbegriff der Psychoanalyse vorgelegt, der in der deutschsprachigen psychoanalytischen Fachwelt erstaunlich wenig rezipiert wurde. Das liegt vor allem auch daran, dass seine Schriften – mit Ausnahme eines Sammelbandes (Dejours et al., 2012) – noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden und sein zweibändiges Opus magnum, Travail Vivant [Lebendige Arbeit] (Dejours, 2013), auch nicht in englischer Übersetzung vorliegt. Als 2

Es existiert kein schriftlicher Originalbeleg für dieses angebliche Freud-Zitat. Am nächsten kommt folgender Ratschlag Freuds (1912e), der zur Bescheidenheit bei zu euphorischen Therapiezielen mahnt: »Als Arzt muß man vor allem tolerant sein gegen die Schwäche des Kranken, muß sich bescheiden, auch einem nicht Vollwertigen ein Stück Leistungs- und Genußfähigkeit wiedergewonnen zu haben« (S. 385). Das tönt in seiner Beiläufigkeit jedoch deutlich anders als das hehre Ideal der »Liebes- und Arbeitsfähigkeit«. Keyes (2006) geht der Geschichte dieses »falschen« Zitats auf den Grund und kommt zum Ergebnis, dass es wahrscheinlich eine Passage in einem Buch Erik H. Erikson (1963, S. 258ff.) ist, die diese Mär von einem derartigen Ausspruch Freuds begründet hat (der Ursprung der Aussage ist letztlich auf Leo Tolstoi zurückzuführen, der in einem Brief schreibt: »Man kann vorzüglich in dieser Welt leben, wenn man zu arbeiten und zu lieben weiß« [zit. n. Keyes, 2006, S. 136]). Es mag kein Zufall sein, dass es gerade Erikson war, der Freud die »Arbeitsfähigkeit« in den Mund legt und sie dadurch als Motto bekannt macht; schließlich entwirft er ein lineares Entwicklungsphasenmodell von der Wiege bis zur Bahre, das, bei allem Verdienst, problematische Ähnlichkeiten mit einer klassischen Erwerbsbiografie aufweist, die sich auf der Grundlage eines normativen Familienbildes zu entfalten hätte.

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es vor einigen Jahren zu einer auffälligen Häufung von Suiziden bei großen französischen Konzernen kam (die dafür teilweise auch vor Gericht zur Verantwortung gezogen wurden3), rückt Dejours mit seiner wissenschaftlichen Expertise als Psychoanalytiker ins Rampenlicht der französischen Medien (vgl. Dejours & Bègue, 2009). Sein Hauptinteresse gilt dem Zusammenhang von kapitalistisch organisierter Lohn- bzw. Erwerbsarbeit und psychischer Gesundheit, die auch im deutschsprachigen Raum viel und zum Teil auch heftig diskutiert wird. In der deutschsprachigen psychoanalytischen Sozialpsychologie befasst man sich schon länger damit (vgl. z. B. Volmerg, 1988). Aber auch in jüngerer Vergangenheit ist das Interesse an diesem Thema wieder größer geworden. Man denke etwa an die scharf geführte Debatte ausgehend von Martin Dornes (2015) provokantem Beitrag »Macht der Kapitalismus depressiv?«, in dem er den häufig behaupteten Zusammenhang von gegenwärtigen Wirtschafts- und Arbeitsverhältnissen mit der Zunahme psychischer Krankheiten zu widerlegen bestrebt ist. Ungeachtet dessen will ich versuchen, die für unseren Kontext relevanten Thesen von Christoph Dejours in aller gegebenen Kürze zusammenzufassen und stütze mich, wenn nicht anders angegeben, auf die kompakte und kenntnisreiche Darstellung seines Werks beim Sozialphilosophen JeanPhilippe Deranty (2010). Arbeit umfasst für Dejours all jene Aktivitäten, die Menschen ausführen, um eine (vertraglich, betrieblich, organisational) vorgeschriebene Zielsetzung zu erreichen oder mit anderen Worten den Abstand zwischen einem aktuellen Zustand und einem Zielzustand zu verkleinern. Alles, was der Verkleinerung oder Überbrückung dieses Spalts zuwiderläuft, nennt Dejours das »Reale der Arbeit« (jedoch ohne spezielle lacaniansche Konnotation). Darauf aufbauend behauptet Dejours eine psychologische »Zentralität der Arbeit«, weil ein stabiles Identitätsgefühl letztlich immer ein fragiler Kompromiss bleibt, der unter bestimmten inneren und äußeren Umständen schnell destabilisiert werden kann. Unsere Psychoökonomie sei in wesentlichen Bereichen von der Erfahrung erfolgreicher Arbeit und ihrer »transformativen Macht«, Mühe in sublimierte Lust zu 3

Der CEO der französischen Telekom muss zurücktreten, nachdem sich unter seiner Führung zwischen 2008 und 2009 insgesamt 35 (!) MitarbeiterInnen das Leben genommen haben. Der Autohersteller Renault wird 2012 von einem Gericht der groben Fahrlässigkeit schuldig gesprochen, nachdem sich mehrere MitarbeiterInnen suizidiert hatten (The Guardian hat mehrfach dazu berichtet: https://www.theguardian.com/sustainable -business/suicides-renault-france-telecom-workplace-health [2.11.2020]).

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Unbehagen in der Arbeitskultur?

verwandeln, abhängig. Arbeit spielt eine große Rolle bei der Bildung (und Unbildung), bei der Sozialisation, bei der Entwicklung von moralischer Urteilskraft und kognitiven Fähigkeiten von Menschen – eine Tatsache, die durch den Fokus der klassischen Psychoanalyse auf innerfamiliäre Sozialisation allzu oft übersehen wurde (vgl. hierzu auch Volmerg, 1988). Aus historischen Gründen ist es eben vor allem die Lohn- bzw. Erwerbsarbeit, die heute diesen zentralen Stellenwert für die psychosoziale Gesundheit der Bevölkerung ausmacht. Eine gesundheitsförderliche, ja sogar lebensnotwendige »Zutat«, welche die Aktivität des Arbeitens stets begleiten müsste, besteht nach Dejours in der Anerkennung der Qualität der eigenen inhaltlichen Arbeit durch fachkundige Peers, die diese auf inhaltlicher Ebene realistisch beurteilen können. Neue Methoden des Managements und aktuelle Strategien von HR-Abteilungen (Human Ressources) in Konzernen laufen nach Dejours aber auf das exakte Gegenteil hinaus, zumal diese, nach dem Prinzip »teile und herrsche« grundsätzlich kooperationsbereite KollegInnen, etwa mittels individualisierten Leistungsevaluationen, zu KonkurrentInnen machen und die Verfehlung des vorgegebenen Leistungspensums als individuelles Versagen brandmarken. Wenn das »Reale der Arbeit« aufgrund solcher oder anderer dysfunktionaler intersubjektiver und organisationaler Prozesse zu viel Widerstand leistet, kann unsere Persönlichkeitsstruktur dekompensieren. Das Spektrum reicht hier von der Häufung von Krankenständen zu Erschöpfungsdepressionen, psychosomatischen Erkrankungen bis hin zum Selbstmord. Mit der These von der Zentralität der (Lohn-) Arbeit soll hervorgehoben sein, dass Arbeit, je nach konkreter Ausgestaltung, sehr lebensdienliche oder eben zerstörerische Konsequenzen für die psychische Gesundheit mit sich bringt. Um das fragile Gleichgewicht subjektiver Identität aufrechtzuerhalten, werden unter Stress oft kollektive Formen der Abwehr mobilisiert, um die mentale Desorganisation abzuwenden. Diese beinhalten oft rigide Einstellungen, mobbingähnliche, destruktive Dynamiken, in denen das als »schwach« Identifizierte ausgestoßen werden muss. Dejours begründet seine Sichtweise auf das Verhältnis von (Lohn- bzw. Erwerbs-)Arbeit und Gesundheit auch metapsychologisch und philosophisch und geht hier weiter als die meisten anderen psychoanalytischen Autoren, zumal er die konstitutive Rolle der Arbeit für die Subjektivität erkennt, jene ontologische Ebene, die wir oben bereits angedeutet haben, »the subjectivity-forming power of work« (Deranty, 2010, S.  204). Traumarbeit, Trauerarbeit, Durcharbeiten usw. sind auch für Dejours keine zufälligen Metaphern Freuds, sondern verweisen auf eine psychische 195

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Arbeit, welche, als Reaktion auf die »Arbeitsanforderung«, die der Trieb dem psychischen Apparat aufgibt, unsere grundlegendsten Selbststrukturen stiftet, organisiert und bei Bedarf neu zusammensetzt. Sie besteht genauso wie die Arbeit in der äußeren Realität, die Berufsarbeit, im Bemühen den Abstand zwischen einer Forderung und einem aktuellen Zustand zu überwinden bzw. einen Kompromiss oder Ausgleich zu finden. Die These von der Zentralität der Arbeit ist folglich so zu verstehen, dass produktive Berufsarbeit ohne die psychische Arbeit eines konkreten (und nicht abstrakten und nicht maschinellen) Subjekts, seine individuelle Aneignung der Arbeitsaufgabe und seine je besondere Kreativität nicht denkbar ist. Arbeit ausschließlich von der Ergebnisseite und nicht von einer idiosynkratischen Subjektperspektive her zu begreifen, wirkt sich fatal aus. Freuds Begriff der Kulturarbeit verweist nach Dejours auf den größeren (politischen) Rahmen für die innere und äußere Arbeit, der sowohl individuelle Emanzipationsansprüche als auch gesellschaftliche Kohäsion durch die Ermöglichung lebendiger und kreativer Arbeit sicherstellt und damit kulturauflösenden, destruktiven Tendenzen entgegenwirkt.

Kritische Würdigung und Ausblick Der hier in stark komprimierter Form referierte Ansatz von Christophe Dejours verdient aus meiner Sicht eine viel breitere fachliche Rezeption, nicht nur, weil er ein solides theoretisches Fundament aufweist, sondern auch, weil er engagiert und glaubwürdig auf eine lebensdienliche und gesundheitsförderliche Veränderung der heutigen, nicht selten krankmachenden Erwerbsverhältnisse abzielt. Er ist darin der deutschsprachigen Tradition der psychoanalytischen Sozialpsychologie ähnlich, die die Idee einer »humanisierenden« bzw. »partizipativen Arbeitsgestaltung« (Volmerg, 1988, S. 93) verfolgt, damit es mehr sinnstiftende Arbeit geben möge und Arbeit, die das Subjekt negiert und bloß verwertet, theoretisch desavouiert und politisch zurückgedrängt werden kann. Dejours erkennt als einer der wenigen psychoanalytischen Autoren auch die ontologische Dimension der Arbeit und im Besonderen jene des psychoanalytischen Arbeitsbegriffs, den er aber nie grundsätzlich infrage stellt. Mit der Idee der Zentralität der Arbeit bleibt Arbeit a priori als entscheidender Mediator unseres Selbst- und Weltbezugs gesetzt bzw. wird dadurch sogar weiter fixiert. Indem Erwerbsarbeit nicht nur als potenziell gesundheits196

Unbehagen in der Arbeitskultur?

schädlicher, sondern im günstigen Fall als privilegierter Ort für die Weiterentwicklung von Subjektivität verstanden wird, gewissermaßen als Königsweg zum zufriedenen und kreativen Kulturmenschen gesehen wird, kann der – um auf eine drastische Formulierung zurückzugreifen – »endogene Faschismus der Arbeit« (Hamacher, 2002, S. 156) nicht thematisiert werden. Damit trifft auf den von Freud begründeten und Dejours weiterentwickelten psychoanalytischen Arbeitsbegriff dieselbe Kritik zu, die Martin Heidegger auch am metaphysischen Arbeitsbegriff des Marxismus geltend gemacht hat, dass nämlich vor dem Hintergrund einer solchen Weltauslegung alles »Seiende als das Material der Arbeit erscheint« (Heidegger, 2000, S. 32) bzw. erscheinen muss. Auch Konersmann (2015) thematisiert diesen Prozess einer »Verselbstverständlichung« unseres Weltverständnisses. In der kategorischen »Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen«, macht er ein Kulturgesetz der Unruhe aus, die »eine jener Selbstverständlichkeiten zu sein [scheint], die mit ihrer Umgebung verschmolzen sind und das Suchschema der theoretischen Weltwahrnehmung unterlaufen« (S. 18). Zusammengefasst: Ein Begriffsapparat wie jener der Psychoanalyse und sein Fortleben in der Populärkultur sind eben mit ein Ausdruck dafür, dass wir die innere und äußere Realität beinah selbstverständlich als etwas wahrnehmen, dem ausschließlich und unaufhörlich mit Arbeit begegnet werden muss (an Beziehungen arbeiten, Traumata verarbeiten, die Vergangenheit aufarbeiten, an sich selbst arbeiten und vieles mehr), andere Aspekte der Wirklichkeit oder eine gänzlich andere Beziehung zu inneren und äußeren Welten kommen in unserer Erfahrung kaum mehr oder nur noch sehr schwer zur Geltung. Das zeigt sich unter anderem darin, dass es – allein begrifflich – äußerst schwierig ist, ein »Jenseits der Arbeit« zu bestimmen. Wie soll es denn aussehen? Das Wort »Freizeit« umfasst wohl eher die Sphäre des Konsums und ist längst kein glaubwürdiger Gegenkandidat mehr zur Arbeit; über dem Freizeitspaß schwebt noch immer das Verdikt Adornos und Horkheimers (1981), welche diesen als »Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus« (S. 158) entlarven.4 Es ist sicherlich ein Verdienst von Theoretikern wie Marx und später Freud, den Begriff der 4

Adorno (1980) lotet – im Rückgriff auf Guy de Maupassants Erzählung Sur l’eau – ein lustvoll untätiges »Jenseits« der Arbeit im metaphorischen und auch konkreten Treiben auf dem Wasser aus; in ähnlicher Weise will Sloterdijk (2011) – im Rückgriff auf Rousseaus Anekdote über eine Bootsfahrt auf dem Bieler See – mit dem Bild des absichtslosen Driftens auf dem Wasser die Erfahrung einer sublimen inneren Arbeitslosigkeit bezeugen.

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Arbeit von der Reduktion auf bloße Berufsarbeit zu befreien und ihn um eine ontologische Dimension zu erweitern; zugleich entsteht daraus potenziell eine exklusive Arbeitsmetaphysik, die, weil sie Arbeit zu etwas Ubiquitärem erhebt, diese als zwingendes Bezugssystem ein- und durchsetzt, dem niemand mehr zu entgehen vermag. Es ist eben dieser mächtige Stellenwert der Arbeit im Verweisungszusammenhang der postmodernen Gesellschaft, mit all ihren komplexen psychosozialen Funktionen und ihrer zentralen Bedeutung für unsere persönliche Identität, die nachvollziehbar machen, warum Arbeits- bzw. Erwerbslosigkeit zu psychischer Traumatisierung führen können und empirischen Untersuchungen zufolge Erwerblose nicht selten Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung zeigen (vgl. Barwinski, 2011). Üblicherweise wird daraus der Schluss gezogen, dass möglichst alle »Arbeitsfähigen« arbeiten sollten, sogenannte »Vollbeschäftigung« ist auch in Zeiten von Digitalisierung und Pandemie noch immer das höchste Ideal für politische Akteure unterschiedlichster Couleurs. Das Problem beginnt aber eigentlich dort, wo der Subjektstatus des Individuums von der Arbeit abhängig wird. Will der psychoanalytische Diskurs (insbesondere auch der klinische) dem emanzipatorischen Anspruch in Theorie und Praxis gerecht werden, bedarf er einer eingehenden Kritik seines eigenen Arbeitsbegriffes. Wenn dies ausbleibt, läuft die Psychoanalyse Gefahr, unbewusst Kollaborateurin, also Mit-arbeiterin der Arbeit zu werden.

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Gianluca Crepaldi

Biografische Notiz Gianluca Crepaldi, MMag. Dr., ist Senior Scientist am Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung der Universität Innsbruck sowie Psychoanalytiker in freier Praxis. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Universitätslehrgangs Psychotherapeutisches Propädeutikum und Ausbildungsleiter am Psychoanalytischen Seminar Innsbruck. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich psychoanalytischer Theoriebildung und Konzeptforschung, psychoanalytischer Subjekt- und Kulturtheorien sowie in der Interpretation der Werke Wilfred R. Bions. Erschienen im Psychosozial-Verlag (2018): Containing. In der Reihe Analyse der Psyche und Psychotherapie.

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Das Unbehagen in der Pandemie

Und wo bleibt der Eros? Psychoanalytische Betrachtungen über das Unbehagen in der Kultur in Zeiten der Finanz- und Corona-Krise Helga Klug

Innerhalb von zwölf Jahren haben wir zwei staatenübergreifende Krisen erlebt, die beide in ihren Ausmaßen mit der Großen Depression in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts verglichen werden. Ich möchte im Folgenden den Umgang mit diesen Krisen und das damit verbundene Unbehagen näher untersuchen und dabei die Rolle des Staates im Krisengeschehen, die Angst vor dem Nächsten und das Verhältnis zum Sterben und zum Tod thematisieren. Ich folge damit einer Entwicklungslinie, die ihren Anfang vor den beiden Krisen nimmt. Winnicott beschreibt in einem nach seinem Tod veröffentlichten Aufsatz »Die Angst vor dem Zusammenbruch« diese als auf ein Ereignis bezogen, das bereits stattgefunden hat, aber noch nicht erlebt werden konnte (vgl. Winnicott, 1991, S. 1116). Diese Betrachtungsweise eröffnet eine Möglichkeit, beide Krisen dahingehend zu befragen, inwieweit die in ihnen auftretenden Ängste auf Prozesse des Zerfalls von etablierten Ordnungen und auf veränderte Erfahrungswelten verweisen, die sich bereits viel früher manifestieren, aber nicht dem Bewusstsein zugänglich sind, weil sie auf einer individuellen und kollektiven Ebene abgewehrt werden und nun in der Corona-Krise kulminieren. Ich nehme bei meiner Analyse Bezug auf das Konzept des sozialen Unbewussten, das in den letzten Jahren insbesondere in der Gruppenanalyse weiterentwickelt wurde (vgl. Klug, 2020, S. 46ff.) und mithilfe dessen untersucht wird, wie sich auf einer kollektiven Ebene Abwehrprozesse gegen ein Bewusstwerden sozialer Tatsachen etablieren, die die Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen gefährden könnten. »The concept of the Social Unconscious refers to the existence and constraints of social, cultural and communicational arrangements of which

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Helga Klug

people are unaware. Unaware, in so far as these arrangements are not perceived (not ›known‹), and if perceived not acknowledged (›denied‹), and if acknowledged, not taken as problematic (›given‹), and if taken as problematic, not considered with an optimal degree of detachment and objectivity« (Hopper, zit. n. Weinberg, 2007, S. 311).

Dalal präzisiert dieses Konzept, indem er darauf verweist, dass das soziale Unbewusste Machtverhältnisse strukturiert, etabliert und aufrechterhält; dabei kann es sich um solche zwischen Geschlechtern, sozialen Gruppen oder Ethnien handeln. »The social unconscious includes, but is bigger than, what might be called the cultural unconscious. The cultural unconscious can be described as consisting of the norms, habits, and ways of thinking of a particular culture  […]. The social unconscious  […] includes the power relationships between discourses. The social unconscious is a discourse which hierarchically orders other discourses« (Dalal, 1998, S. 212).

Neben den Modellen des sozialen Unbewussten werden für die Diskussion der Fragestellung auch Freuds Ausführungen zum Unbewussten herangezogen.

Die Rolle des Staates im Krisengeschehen In diesem Kapitel soll an exemplarischen Beispielen erörtert werden, inwiefern sich bestimmte Aspekte der sozialpsychologischen Matrix1, innerhalb derer sich das jetzige Krisengeschehen entfaltet, im Vergleich zur Finanzkrise 2008 verändert haben und ob sich kollektive Abwehrstrategien erkennen lassen, die das Bedrohliche der Krisensituation nicht ins Bewusstsein treten lassen sollen.

1

Die Matrix umfasst die wechselseitigen Beziehungen und Einflüsse zwischen sozioökonomischen Bedingungen und individuellem oder (Gruppen-)Verhalten und ihrer psychischen Repräsentanz.

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Und wo bleibt der Eros?

Die Rückkehr des Staates in der Corona-Krise: »Koste es, was es wolle«

Mit dem Zitat »Koste es, was es wolle«2 hat der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz im März 2020 die Maßnahmen zur Bekämpfung eines möglichen wirtschaftlichen Zusammenbruchs als Folge der Epidemie präsentiert und damit nicht nur eine Entspannung der Lage, sondern auch Überraschung und Verwunderung ausgelöst, waren es doch die Worte eines konservativen Politikers, die, so könnte man meinen, ein neues wirtschaftspolitisches Denken und damit das Ende oder – weniger krass formuliert  – das Auslaufen des »marktfundamentalistischen Modells«3 markieren. Wie sehr sich die Reaktionen vieler europäischer Politiker_innen auf die Corona-Krise vom Krisenmanagement nach der Finanzkrise unterscheiden – Österreich bildete mehrfach eine Ausnahme, was die sozial stabilisierenden Maßnahmen nach der Finanzkrise betrifft (vgl. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, 2017, S. 346ff.) –, möchte ich mit einem kurzen Rückblick aufzeigen. Ausgehend von Thatchers Spruch »There is no such thing as society«, der eine von neoliberalem Denken getragene Sozial- und Wirtschaftspolitik kennzeichnete, kam es im Laufe der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Staaten und in den USA zu massiven Veränderungen, die die Menschen aus der staatlichen Bevormundung und Sicherung lösten und in ihre unternehmerische Freiheit entließen. Deregulierungsentscheidungen vonseiten der Politik, den Finanzmarkt betreffend, und die Kritik am Sozialstaat als marktfeindliches Hindernis haben Individualisierungstendenzen und soziale Ungleichheiten verstärkt (vgl. Foster, 2016; Schuch, 2010; Stiglitz, 2011). Der Sozialstaat als solcher, der sich durch die Errungenschaften einer Sozialversicherung, Interessensvertretungen und die Bemühungen um einen sozialen Ausgleich definierte, wurde kritisiert und als unternehmerfeindlich gebrandmarkt (vgl. Bell, 2019; Nachtwey, 2017). Die Übernahme von gemeinschaftlichen Verpflichtungen durch das Subjekt im Sinne einer Befreiung von paternalis2 3

https://www.appvienna.at/beitrag-2-koste-es-was-es-wolle (4.12.2020). Die Vertreter_innen dieses Modells gehen davon aus, dass der freie Markt von selbst, ohne politische Eingriffe, Wachstum und Wohlstand hervorbringt (vgl. Stiglitz, 2011, S. 11).

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Helga Klug

tischen Einschränkungen durch den Staat machte die Einzelnen zu ihres Glückes Schmied_innen. »Attacks on the welfare state […] coupled with the idealisation of the market forces, supported by the delusion of the autonomous individual, produce profound alienation, denial of the role of social values, and contempt for ordinary human vulnerability. The hated dependency is projected elsewhere – onto those on benefits, refugees, ›welfare tourists‹ and so on« (Bell, 2019, S. 85).

Spielfilme wie The Company Men (Wells, 2010) oder Dokumentationen wie The Inside Job (Ferguson, 2010) bieten einen Einblick in die verdrängten Wünsche und Sehnsüchte derjenigen, die bereits vor der Krise an finanzieller und sozialer Sicherheit eingebüßt hatten, wie zum Beispiel die Opfer der Subprime-Krise, die nicht nur über eine geringe Bonität, sondern auch ein zu geringes Wissen übersteigende Zinssätze oder Ausfallsversicherungen verfügten (vgl. Klug, 2020, S. 130ff.). Was diese Menschen verleugneten und verdrängten, war ihre prekäre soziale Lage, die durch die Globalisierungstendenzen in der Wirtschaft noch verschärft wurde. Sie sahen ihre Situation nicht als Ausdruck spezifischer ökonomischer Verhältnisse, sondern als Ergebnis ihres persönlichen Versagens. Auch die Zukunft hatte keine Hoffnung auf Veränderung zu bieten. In vielen Ländern wurden Arbeitsplätze aufgrund billiger Produktionsbedingungen ins Ausland ausgelagert. Im Gegensatz dazu konnten die Protagonist_innen des Finanzmarkts aufgrund fehlender staatlicher Kontrollen weitgehend ohne persönliche Konsequenzen das Phantasma von Entgrenzungs- und Größenvorstellungen durch den boy genius in Szene setzen und realisieren.4 »In this environment, a generalized internal dedifferentiation occurred, on a narcissistic model: ideals became fused with images of success linked to youth, and, in the new millennium, to an unprecedented elevation of self4

Spielfilme wie Margin Call (Chandor, 2011) oder The Big Short (McKay, 2015) leuchten die Mechanismen des Finanzmarkts aus und geben Einblick in Größenfantasien und Wünsche der Protagonist_innen, die den Forderungen der Kultur widersprechen und die Zuschauer_innen über identifikatorische Prozesse das Verbotene genießen lassen (vgl. Klug, 2020, S. 127ff.).

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Und wo bleibt der Eros?

interested free-market capitalism ›without limits‹ that was to be driven by youthful innovation and risk-taking of all sorts« (Shulman, 2016, S. 46).

Risikogeleitetes Verhalten hat  – mit ganz unterschiedlichen Folgen  – sowohl die Opfer (wie zum Beispiel Kreditnehmer) als auch die Profiteure der Krise verbunden. Fehlende Kontrolle und manisches Verhalten, wie es David Tuckett (2013) in seinem Buch beschreibt, machten die Finanzprodukte für die Trader zu fantastischen Objekten (vgl. ebd., S. 21), die die Teilhabe an etwas Exklusivem/Fantastischem im doppeldeutigen Sinn versprachen. In dieser manischen Kultur (vgl. Stein, 2011) vor der Finanzkrise, die auch durch den Zusammenbruch des Kommunismus den Kapitalismus als alternativloses Wirtschaftssystem hervorgehen ließ, hatten nur die Verlierer und Zweifler Angst (vgl. Tuckett, 2013, S. 49f.). Verleugnung und Spaltung waren die Abwehrstrategien auf einer innerpsychischen und kollektiven Ebene, die die Umgestaltung der sozioökonomischen Verhältnisse begleiteten. Der Zusammenbruch des Finanzmarkts erfolgte, als die Investment Bank Lehman Brothers bankrottging und weitere Finanzinstitute und Anleger_innen mitriss. Die darauffolgende Wirtschaftskrise, mit Millionen von Arbeitslosen, über den Globus verteilt, führte zur Staatsschuldenkrise vieler europäischer Länder und zu massiven Sparmaßnahmen (Austeritätspolitik), die besonders den Gesundheitssektor in seinen Leistungen (Schließung von Kliniken, Einstellung von Hilfs- und Präventivprogrammen) und die Sozialausgaben dieser Länder einschränkten (vgl. Klug, 2020, S. 107ff.). Diese Einschnitte beeinflussen sicher entscheidend die Möglichkeiten zur Bewältigung der Corona-Krise. Man kann davon ausgehen, dass der Gesundheitsnotstand in Italien, Spanien oder anderen von der CoronaKrise anfänglich besonders getroffenen EU-Ländern während der ersten Welle durch eben diese Sparmaßnahmen mitverursacht wurde, die diesen Ländern nach der Finanzkrise 2008 auferlegt wurden, bzw. einem Denken geschuldet ist, das die Ausgaben des öffentlichen Sektors bereits davor minimierte. In der Corona-Krise werden gerade der Gesundheitssektor und die öffentliche Verwaltung zu Schlüsselfaktoren in der Bewältigung der Epidemie. Beispielhaft kann man das an den zur Verfügung stehenden Intensivbetten pro Einwohner_innenzahl5 aufzeigen, die maßgebend sind, ob 5

»Deutschland hat unter den EU-15 mit Abstand die meisten Intensivbetten [38,2] bezogen auf 100.000 Einwohner, gefolgt von Österreich und Luxemburg. Das Schlusslicht

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etwa eine Behandlung durchgeführt werden kann oder verweigert werden muss, wie es im »Frühjahr in einigen Regionen Italiens, Frankreichs und Spaniens« (Gelinsky, 2020, S. 2) während der ersten Welle schon der Fall war. In der Eurobarometerumfrage »Uncertainty/EU/Hope Public opinion in times of Covid-19« (2020) ist Ungewissheit das Gefühl, das von den meisten Befragten geteilt wird (50 %), gefolgt von Hoffnung (41 %). Dabei zeigen sich bei diesen allgemeinen Tendenzen durchaus nationale Unterschiede, die auch im Kontext der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung dieser Länder nach der Finanzkrise gesehen werden müssen: »Keeping the national context of the pandemic’s impact in mind therefore is key to interpreting the survey results properly. Bearing this in mind, positive feelings tend to be most prevalent in Austria, Denmark, Romania, the Netherlands and Slovenia, while respondents are most likely to express negative emotions in Spain, Poland, France, Greece and Italy« (European Parliament, 2020, S. 7).

Die Vergemeinschaftung der Schuldgefühle und Schulden

Was die individuellen und kollektiven Bewältigungsstrategien betrifft, kann man aus bisheriger Sicht Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen beiden Krisen feststellen. Ich möchte dabei das Hauptaugenmerk auf die Verteilung der Schuld(en) und auf die ungleiche Belastung einzelner Berufsgruppen richten. Die eingangs formulierte Frage, ob sich in den Worten des österreichischen Bundeskanzlers eine mögliche Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik ausdrückt, wird man wohl verneinen müssen. Der zum Ausdruck gebrachte Willen, alle nötigen finanziellen Mittel sofort bereitzustellen, wirkte einigend und entlastend über alle sozialen Grenzen hinweg. Erst sekundär, so scheint es, geht es um die Frage des ökonomischen Überlebens, das heißt, wie diese Mittel verteilt werden und wie in Zukunft mit den Schulden umgegangen werden wird. Ganz sicher einigten am Beginn der Corona-Krise auch das Fehlen von realen Schuldigen und die Möglichkeit, dass jeder und jede von der Erkrankung betroffen sein kann. Im Vergleich dazu wurde der bildet Portugal mit nur 4,2 Intensivbetten bezogen auf 100.000 Einwohner« (Arentz & Wild, 2020, S. 4).

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Und wo bleibt der Eros?

Bankenbereich nach der Finanzkrise als hauptverantwortlich gesehen und diente als Projektionsfläche für verschiedene Strafwünsche in der Bevölkerung (vgl. Sievers, 2010). Mit der Individualisierung der Krise, das heißt mit dem Hinweis auf persönliche Verfehlungen, Mentalitätsunterschiede oder die Gier als treibende Momente der Finanzkrise, wurden die Prinzipien eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf Profitmaximierung aus ist und das von politischen Entscheidungen getragen wird, vielfach verleugnet. Fromm schreibt dazu: »Diese gesellschaftlichen Phänomene treten auf, als ob es sich um Naturkatastrophen handelte, obwohl es sich doch in Wirklichkeit um von den Menschen – wenn auch unbeabsichtigt und unbewusst – herbeigeführte Vorgänge handelt« (Fromm, 1955, S. 99). Auch wenn Pandemien ähnlich über die Menschen hereinbrechen wie Naturkatastrophen, verweist die Rhetorik einzelner Politiker_innen auf einen Zusammenhang mit menschlichen Verfehlungen. Der Versuch, die Schuld zu nationalisieren, wie es der amerikanische Präsident Trump mit dem Begriff »Chinavirus«6 tat, ist ein Beispiel für den Versuch, die Bedrohung handfest zu machen und von eigenen Fehlern im Umgang mit der Pandemie abzulenken. Sehr oft wurden in den Reden einzelner Politiker_innen Kriegsmetaphern verwendet, die den Zusammenhalt der Menschen stärken sollen, der durch die den Alltag einschränkenden Maßnahmen ständig zu zerfallen droht: »Der Feind ist da und er ist unsichtbar. Aber wir werden den Krieg gewinnen«7, meinte etwa der französische Präsident Emmanuel Macron. Personifizierungen im Sinne von »Die Natur schlägt zurück« verweisen auf Schuldgefühle im Umgang mit der Umwelt und damit auf die Verletzung von Über-Ich-Geboten. »Der Mensch, so der Tenor, habe über seine Verhältnisse gelebt, Ressourcen ausgebeutet, Ökosysteme zerstört, den Planeten aufgeheizt. Und jetzt bekommt er die Quittung« (Lobe, 2020, S. 33). Auf jeden Fall kann man ein Unbehagen konstatieren, das in Verschwörungstheorien und Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen seinen Ausdruck findet. Inwieweit der Brexit als kollektive Abwehr der durch die Finanzkrise und ihre Folgen verstärkten sozioökonomischen Ungleichheiten und eingeschränkten Lebensperspektiven verstanden werden kann bzw. die Proteste der »Black Lives Matter«-Bewegung in den USA 6 7

https://www.diepresse.com/5899044/bidens-dilemma-harte-oder-weiche-china-politik (28.12.2020). https://www.welt.de/politik/ausland/article206597683/Coronavirus-Wir-sind-im-Krieg -Frankreich-verhaengt-Ausgangssperre.html (4.1.2021).

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auch als Ausdruck der sozioökonomisch verursachten Ungleichheiten in der Coronabehandlung zu sehen sind, muss in Zukunft noch untersucht werden. Bezogen auf Großbritannien schreibt Danziger (2019, S. 195f.): »Austerity was introduced in Britain as a response to the financial crisis […]. As evidence grew that in fact austerity had had its worst impact on those least able to withstand it – the poor, the unemployed, the disabled, and the homeless – the basic assumption group supporting austerity found ways to defend themselves against this reality, through splitting of in projecting their feelings of anxiety, anger, and hatred, and through disavowal of the consequences of austerity.«

Soziökonomische Ungleichheiten, die den Zugang zu medizinischer Behandlung oder arbeitsrechtlicher Absicherung betreffen, verstärken die realen und phantasmatischen Ängste, die auf einer Ahnung beruhen, dass die Einschränkungen und Verluste in Zukunft noch größer werden könnten und die Finanzierung über den Staat nicht alle gleichermaßen schützen und unterstützen wird. Was beide Krisen eint, ist, dass die realen Schulden auf die gesamte Bevölkerung verteilt werden, dass aber bestimmte Gruppen besonders von sozialem Abstieg bedroht sind und manche Berufsgruppen über die Maßen belastet werden. So kam es im Bankenbereich in der Zeit der Krisenbewältigung der Finanzkrise zu einer massiven Arbeitsbelastung, die über die Hierarchien ungleich verteilt wurde, während gleichzeitig Manager_innen weiterhin ihr überzogenes Gehalt bzw. Boni in Millionenhöhe ausbezahlt bekamen (vgl. Stiglitz, 2011, S. 392). Regulatorien wurden teilweise ohne Unterstützung durch die Vorgesetzten unter massiver Arbeitsbelastung einzelner Beschäftigter im Bankenbereich umgesetzt (Klug, 2020, S. 235f.). Das ist eine Parallele zur Corona-Krise, wo erstmals die Systemerhalter_innen wie Supermarktangestellte oder Krankenpfleger_innen aus den osteuropäischen Ländern kurzfristig in ihrer Bedeutung wahrgenommen wurden. Zu einer Besserstellung ihrer Situation hat dies bisher nicht geführt. Vielmehr zeigte sich, dass im Schatten der Corona-Krise gerade Menschen in prekären Arbeitsbedingungen wie in der Landwirtschaft oder Fleischindustrie auch während der Krise ohne ausreichend Schutz und Sicherheitsabstand am Arbeitsplatz arbeiteten und in den beengten Wohnungen ausharren mussten, während die Unternehmer_innen um finanzielle Entschädigung beim Staat ansuchten (Vasari, 2020). Blickt man auf die Beschäftigungsverhältnisse, lässt sich schon seit 210

Und wo bleibt der Eros?

längerer Zeit eine Veränderung infolge der Finanzkrise erkennen. Die Zunahme an Teilzeit- und befristeten Verträgen, die besonders von Frauen in Anspruch genommen werden (müssen), hat im letzten Jahrzehnt den Arbeitsmarkt stark verändert (vgl. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, 2017, S. 355ff.). In der Corona-Krise wurden bisher Menschen mit Vollzeitverträgen von den schlimmsten Auswirkungen verschont, wenn sie in Kurzarbeit gehen konnten. In meiner Praxis hörte ich von Patient_innen, die in Kurzarbeit waren, aber das volle Pensum an Arbeit zu leisten hatten, ohne dass ihnen dies abgegolten wurde. Die fehlende Kontrolle von Firmen machte es den Verantwortlichen möglich, auf Kosten der Mitarbeiter_innen staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. In Die Zukunft einer Illusion zeigt sich Freud gegenüber der Verinnerlichung äußerlichen Zwangs in Über-Ich-Gebote skeptisch. Freud konstatiert: »Unendlich viele Kulturmenschen, die vor Mord oder Inzest zurückschrecken würden, versagen sich nicht die Befriedigung ihrer Habgier, ihrer Aggressionslust, ihrer sexuellen Gelüste, unterlassen es nicht, den anderen durch Lüge, Betrug, Verleumdung zu schädigen, wenn sie dabei straflos bleiben können« (Freud, 1927c, S. 333). Die viel beschworene Eigenverantwortung ist also keineswegs selbstverständlich, wie die Beispiele aus Fleischindustrie, Landwirtschaft oder Unternehmertum zeigen; sie muss immer wieder von Neuem gegen triebhafte Forderungen durchgesetzt werden. Wie sehr die durch die Corona-Krise abverlangten Einschränkungen und Belastungen Ängste und Aggressionen verstärken, wird im nächsten Kapitel beschrieben.

Die Angst vor dem Nächsten Das Zerfallen der (europäischen) Gemeinschaft in Zeiten der Krise »Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt.« Freud (1930a, S. 225)

Ich möchte in diesem und im nächsten Kapitel, der Entwicklungslinie weiter folgend, anhand verschiedener Beispiele aufzeigen, wie sich die Projektionsflächen der Ängste im Verlauf der beiden Krisen verändert haben. Dabei wird der Abstand zum angstauslösenden Objekt immer kleiner, so als würden die 211

Helga Klug

Kreise, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft, von außen wieder nach innen zurücklaufen. Im Zentrum steht der sich ängstigende Mensch, dem schließlich der unmittelbar Nächste zur Gefahr wird. Während man in der Zeit der Wirtschaftskrise nach 2008 Europa in nördliche und südliche Länder aufteilte, die Schuld an der Krise unterschiedlichen Mentalitäten, Persönlichkeitseigenschaften und Moralvorstellungen zuschrieb und damit die Finanzkrise und deren Bewältigung im Sinne der auferlegten Sparprogramme nationalisierte, zerfiel im Zuge der Corona-Krise dieser auf Projektionen basierende Zusammenhalt des Nordens gegen den Süden. Nun wurden die europäischen Nachbarstaaten zu Gefahrenquellen. Es zeigte sich bald, wie rasch die Beschwörung von Respekt und Fürsorge für sich selbst und die anderen, von Solidarität und Gemeinschaftssinn als Teil des Eigeninteresses – wofür die »Ich schütze mich. Ich schütze dich«- und »Schau auf dich! Schau auf mich«-Kampagnen (Bundesministerium Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport, 2020) beispielhaft angeführt werden – innerhalb dieser Staatengemeinschaft an ihre Grenzen kam, als die gefühlte und die reale Bedrohung durch das Virus zunahmen. Staatsgrenzen wurden während der ersten Welle geschlossen und auch mehrere Wochen nach Ausbruch der Krise fand die europäische Gemeinschaft nur gegen Widerstände eine gemeinsame Stimme, um die in Not geratene Politik und Wirtschaft innerhalb und außerhalb der eigenen Grenzen zu unterstützen. »Zum Teil liegt dies daran, dass Gesundheitspolitik im engeren Sinne nicht in die Kompetenz der EU fällt, zum Teil auch daran, dass aufgrund der mangelnden Einsicht in die Tiefe und Schwere der Krise lange nicht begriffen wurde, dass es sich hier um Katastrophenbekämpfung und ein EU-Sicherheitsproblem ersten Ranges handelt« (Bayer, 2020, S. 3).

Der Wunsch vieler Menschen nach größerer staatenübergreifender Solidarität in der Bekämpfung des Virus scheint diesen zögerlichen Maßnahmen der Regierungen zu widersprechen, wie die Eurobarometerumfrage zeigt (European Parliament, 2020, S. 8): »A majority of respondents are dissatisfied with the solidarity shown between EU Member States in fighting the Coronavirus pandemic. Nearly six out of ten of those asked (57 %) share this feeling of dissatisfaction, including more than a fifth (22 %) who are ›not at all‹ satisfied. A solid third

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Und wo bleibt der Eros?

(34 %) are satisfied, mostly in Ireland, Denmark, the Netherlands and Portugal. Dissatisfaction is strongest in Italy, Spain and Greece.«

In der Lombardei, in Spanien und Frankreich starben während der ersten Welle der Krise sehr viele Menschen, erschöpfte, verzweifelte Mediziner_ innen baten in den Medien um Unterstützung, eine zwischenstaatliche Hilfe kam erst langsam in Gang. Die Unzufriedenheit mit der fehlenden staatenübergreifenden Solidarität sieht man an der Prioritätensetzung der Umfragebeteiligten: »[T]he EU’s top priorities should be: ensuring that sufficient medical supplies are available for all EU Member States (55 %), allocating research funds to develop a vaccine (38 %), providing direct financial support to Member States (33 %) and improving cooperation between scientific researchers working across Member States (32 %)« (European Parliament, 2020, S. 8).

Solidarität, so zeigen die Ergebnisse dieser Umfrage, bedeutet für die Umfragebeteiligten mehr als eine nur auf eigene wirtschaftliche Interessen abzielende Prioritätensetzung von transnationaler Zusammenarbeit, wie sie im folgenden Beispiel offenbar werden. So wurden Reisewarnungen in Österreich nach einer kurzen Verbesserung der Situation im Sommer 2020 nach intransparenten Kriterien8 erlassen, der Tourismus sollte unter den Nachbarländern florieren; mit der Zuspitzung durch die Verbreitung des Virus im Herbst 2020 konnten auch die für den Tourismus ökonomisch essenziellen Beziehungen zwischen Nachbarstaaten nicht mehr gegen die auf Infektionszahlen beruhenden Einreisereglements schlagend werden. Wenn Freud feststellt, »sie [die Kultur] sei ein Prozeß im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit, zusammenfassen wolle« (Freud, 1930a, S. 481), dann haben wir es in diesen Zeiten mit widersprüchlichen Tendenzen zu tun, wie man aus obigen Beispielen, die die staatlichen Maßnahmen und die Wünsche der EU-Bewohner_innen widerspiegeln, ersehen kann. So scheint Ent-Bindung gegenwärtig notwendig, um die Gefahr, sich anzustecken und schwer zu erkranken, zu verkleinern; Gemeinschaft, Intimität und Nähe erweisen sich als potenzielle Gefahrenquellen. Das Role 8

Vgl. dazu etwa https://orf.at/stories/3178766/ (19.12.2021).

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Helga Klug

Model des Lockdowns ist der isolierte Mensch, der ohne die anderen auskommt; der sozial Ängstliche oder Zwängliche kann am besten – so scheint es – die Herausforderungen meistern. Dies fördert regressive Prozesse und psychotische Ängste. Felix de Mendelssohn (2016) sieht in seiner Studie Über den Zerfall Angst, Aggression und Spaltung als Bausteine eines Modells, um psychische Zerfallsprozesse zu verstehen. In der frühen Kindheit sind Spaltungsvorgänge Teil der Entwicklung. »So wird in frühester Kindheit sowohl die Mutter [in Anlehnung an Melanie Kleins Theorie] als abwechselnd nährend und verstehend und dann wieder als böse und zerstörerisch erlebt, wie auch das eigene Selbst, das einmal großartig, weise und gütig erscheint, wie in der Manie, um sich dann wieder als gemein und verwerflich darzustellen, wie in der Depression« (ebd., S. 11f.).

Im späteren Leben können traumatische Lebensereignisse, aber auch Bedrohungen wie Naturkatastrophen oder  – wie eben jetzt  – Pandemien regressive Prozesse auslösen. Fehlt ein Containment, das die Bedrohung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene verarbeiten hilft, werden Abwehrprozesse gegen die Ängste verstärkt. Die europäischen Staaten konnten, wie schon am Beginn des Kapitels beschrieben, ein solches Containment nur begrenzt leisten, viele Staatsoberhäupter verstärkten eher noch die Spaltungsprozesse durch Isolierung, fehlende grenzüberschreitende Hilfsbereitschaft und immer neue nationale Abschottungsbewegungen. Elisabeth Bronfen fasst die Reaktionen einzelner Staatsoberhäupter folgendermaßen zusammen: In Emmanuel Macrons pathetischer Rhetorik, die von einem Krieg gegen das Virus spricht und dadurch den Ausnahmezustand rechtfertigt, schwingen, so die Autorin, »[d]ie Siege und Niederlagen aus Frankreichs Geschichte  […] als Subtext mit« (Bronfen, 2020, S. 30). Angela Merkel appelliere an die Gemeinschaft, um die Krise zu überstehen (vgl. ebd., S. 31), und Donald Trump stilisiere sich zum »wartime president« (ebd., S. 33; Herv. i. O.), der die Nation gegen eine Invasion verteidigen muss. »Sein politischer Furor ist bewusst rassistisch gefärbt, indem er von ›unserem Krieg gegen das chinesische Virus‹ oder von ›Kung-Flu‹ spricht« (ebd., S. 33f.). In Bions (2001) Modell der Grundannahmen dient die Grundannahme des Kampfes und der Flucht in Gruppen dazu, Bedrohliches mithilfe von Feindbildern oder Sündenböcken projektiv abzuwehren. Im Falle des Virus, das unsichtbar ist, erweist 214

Und wo bleibt der Eros?

sich diese psychische Strategie nur kurzfristig als entlastend. Die Kreise der Bedrohung werden immer enger gezogen.

Unheimliche Begegnungen

In diesem Abschnitt folge ich dieser gegenläufigen Kreisbewegung von außen nach innen, ins Zentrum, und beschreibe, wie das ehemals Bekannte oder Vertraute zum Ort des Un-Heimlichen wird, wo massive Kastrationsund Verlustängste generiert werden, die der Polarität von Differenz (Alter, Geschlecht, Wissen etc.) oder fehlender Differenz, der Fusion, geschuldet sind (vgl. Freud, 1919h, S. 231). Ein benachbartes Bundesland, ein Bezirk, das nächste Dorf, die Nachbarn, die touristischen Gäste können zu potenziellen und realen Überträger_innen des Virus werden. So mussten im März Urlauber_innen in völlig chaotischer Weise Skigebiete in Österreich verlassen, nachdem bekannt wurde, dass sich in Ischgl, einem bekannten Skiort in Tirol, viele Menschen infiziert hatten. Die Repräsentanten der staatlichen Verwaltung erwiesen sich als überfordert und den Gesetzen des Umsatzes mehr verpflichtet als der Pandemiebekämpfung. Auffallend waren die massiven Verleugnungstendenzen – »Die Behörden haben alles richtig gemacht«9 – der politischen Verantwortlichen in Bezug auf die verspätete Reaktion auf Informationen aus anderen europäischen Ländern, die auf den Corona-Hotspot verwiesen. Die Handlungsweise der politischen Entscheidungsträger ist mit ausschlaggebend, ob und wie die Ängste der Menschen verarbeitet werden können. Aussagen wie »Das Virus kommt mit dem Auto nach Österreich«10, die der österreichische Bundeskanzler Kurz mit Bezug auf die Reiserückkehrer_innen »aus dem Westbalkan, der Türkei und Kroatien«11 tätigte, oder die offen ausgesprochene Skepsis gegenüber Zweitwohnungsbesitzer_innen, Städtern, die den ersten Lockdown am Land verbringen wollten und in einigen Bundesländern zu unerwünschten Gästen erklärt wurden (vgl. Müller, 18.4.2020), sind weder realitätsgerecht noch förderBernhard Tilg, Landesrat für Gesundheit, in der Nachrichtensendung ZIB 2 am 16. März 2020 (zit. n. Bartlau, 12.10.2020). 10 »Tagesüberblick Coronavirus. Kurz warnt vor zweitem Lockdown, SPÖ kritisiert ›Planlosigkeit‹ der Regierung«, 16.8.2020. 11 Ebd. 9

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lich. Es handelt sich um kurzfristige Entlastungsstrategien, die sich Sündenböcken bedienen. Freud erkennt im »Narzissmus der kleinen Differenzen« eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird« (Freud, 1930a, S. 474). Auf einer transgenerationalen Ebene knüpft diese Art von Aggression und Ausgrenzung, die sich sprachlich entlädt, an verdrängte Bilder eines Ressentiments gegenüber Städtern, aber noch viel mehr an die der Vertreibung jüdischer Sommerfrischler in den ländlichen Urlaubsorten an. »Bereits im 19. Jahrhundert fanden sich in Kur- und Sommerfrischeorten Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Gästen, die ›anders‹ als die Einheimischen waren: Dieses ›Anderssein‹ fußte auch auf Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber Städtern, die andere ›fremde‹ Werte hatten und sich der Scholle nicht verbunden fühlten. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer neuen Facette des uralten Klischees vom ›verderbten Städter‹ als Gegenbild zum ›frommen Landmann‹. Der fremde und verhasste Städter war nun – auch noch – jüdisch« (Arnbom, 2018, S. 33).

Diese Bilder sind im sozialen Unbewussten verankert. Wird die Verdrängung gelockert, finden sie in der Gegenwart neue Repräsentationen. Freud definiert das Unheimliche als »jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht« (Freud, 1919h, S.  231), das »durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist« (ebd., S. 254). Die Wiener Allgemeine Zeitung vom 4. Juni 1927 brachte die (psychische) Ökonomie der Fremdenfeindlichkeit, die sich, so scheint es, nicht wesentlich geändert hat, auch wenn sie nun nicht antisemitisch konnotiert ist, auf den Punkt: »Viele sehr stark besuchte Sommerfrischen in Österreich sind bis Mitte Juni radikal antisemitisch, von Mitte Juni bis Mitte September verlogen judenfreundlich – Judengeld ist doch auch Geld – und vom halben September an wieder radikal antisemitisch« (zit. n. Arnbom, 2018, S. 32). Unheimlich ist, wie schnell Gastfreundschaft in Feindschaft umschlagen kann. Unheimlich ist ebenfalls, wie das vertraut Familiäre der Ursprung dieses Gefühls ist. Die Familie bietet nicht nur Schutz, sondern ist auch der Ort von Gefahr und Schrecken. Freud erörtert anhand von Beispielen aus der Literatur, dass es sich beim Unheimlichen um Erfahrungen aus der frühen Kindheit handelt. »Es scheint, daß wir den Charakter des 216

Und wo bleibt der Eros?

›Unheimlichen‹ solchen Eindrücken verleihen, welche die Allmacht der Gedanken und die animistische Denkweise überhaupt bestätigen wollen, während wir uns bereits im Urteil von ihr abgewendet haben« (siehe Fußnote Freud, 1919h, S. 254); weiters kreist das Unheimliche um Kastrationsängste oder wie im Doppelgängermotiv um Darstellungen innerpsychischer Repräsentanzen und die Verleugnung des Todes. »Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt« (Freud, 1919h, S. 254). In der Zeit des Lockdowns im März 2020 hatte ich vor dem Besuch von zwei jungen Familienmitgliedern einen Albtraum: Ein Knäuel von ineinander verschlungenen Körpern, so wie auf Umspringbildern in Grau und Schwarz, in denen Vorder- und Hintergrund kippen können, fiel durch das Dach wie aus heiterem Himmel in den Raum des Hauses, in dem ich mich aufhielt. Von diesem Knäuel ging eine undefinierte Bedrohung, ein Unbehagen aus: Körperlichkeit, Impulsivität, etwas Ungebändigtes, Aggressives, eine geballte Kraft, deren Energie nicht einzuordnen war. Die Körper schienen sich rollend fortzubewegen. Assoziativ drängten sich die Kugelmenschen aus Platons Gastmahl auf, ein Symbol für Ganzheit vor der Spaltung, unberührt von der Sehnsucht, die aus der Trennung entstehen sollte. Der Einbruch des Fremden in die isolierte Welt der Familie verkörpert die Gefahr, die durch die zentrifugalen Kräfte der Kultur entsteht: nämlich »immer mehr Menschen libidinös miteinander in Verbindung zu bringen« (Erdheim, 2013, S. 1038). Die Folge der Abschottung sind dagegen Unwissenheit, Angst und Gewaltausbrüche (vgl. ebd., S. 1038f.). Das ist das Dilemma, das uns gegenwärtig in Atem hält und das Unbehagen befördert: leben zu wollen, sich mit anderen im Sinne des Eros zu verbinden und sich der Gefahr auszusetzen, sich zu infizieren und womöglich zu sterben; oder sich zurückzuziehen, zu entbinden und psychisch zu zerfallen. An beiden Enden steht der potenzielle (psychische) Tod. Träume dienen der Verarbeitung von emotionalen Erfahrungen, von solchen, die dem Bewusstsein in ihrer Bedrohlichkeit nicht zugänglich sind, weil sie sofort verdrängt werden, »wenn die Landkarten der Realität verzerrt werden und der Orientierungssinn verloren geht« (Mendelssohn, 2016, S. 7). Mein Traum kann auch als Beispiel für die ödipalen Ängste dienen, die die Epidemie generiert. Eine solche war für die meisten Menschen 217

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in unseren Breiten undenkbar, was impliziert, dass wir unser Heimatland/Europa als genauso unangreifbar hielten, wie sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene am Beginn der Corona-Krise erlebten. Erstere galten bis zur zweiten Welle als nicht gefährdet, wurden deswegen auch lange Zeit nicht getestet. Verdeckt wurde dadurch, dass das Offenhalten von Kindergärten und Schulen aus einer Abwägung des gesamtgesellschaftlichen Schadens heraus getroffen wurde und nicht aus medizinischen Überlegungen. Das Gefühl von Unversehrtheit und Unangreifbarkeit – Freud schreibt, dass im Unbewussten jeder von seiner Unsterblichkeit überzeugt ist (vgl. Freud, 1915b, S. 341) – kann einerseits als eine Abwehr der eigenen Verletzlichkeit, das heißt von Kastrationsängsten, angesehen werden, andererseits als ein Triumph der Biologie über Erfahrung und Wissen der älteren Generation, die neidvoll auf diese Körper blickt. Bis zu diesem Zeitpunkt war es gerade die junge Generation, die sich von Praktikum zu Praktikum handelte und in der Wirtschaftskrise nach 2008 von Zukunftsängsten geplagt wurde. Der boy genius war vor der Finanzkrise in seiner Unangreifbarkeit und moralischen Bedenkenlosigkeit die Identifikationsfigur. Sich vor dem Tod nicht fürchten zu müssen, selber aber den Tod bringen zu können, lässt in dieser Krise den ödipalen Konflikt zwischen den Generationen wieder aufleben. »Unser Unbewußtes führt die Tötung nicht aus, sie denkt und wünscht die bloß«, schreibt Freud (ebd., S. 351). Wiederholt haben junge Patient_innen in den Therapiesitzungen auf ihre eigene Unangreifbarkeit verwiesen, darauf, dass sie um sich selber keine Angst hätten, was die Generationengrenze zur Analytikerin ins Spiel brachte. Ein weiteres Phänomen, das in der Praxis zu beobachten ist und auf eine regressive psychische Dynamik, die den vorhin beschriebenen zweiten Part des Dilemmas ausmacht, verweist, sind Derealisationsund Depersonalisationsphänomene. Freud bemerkt dazu: »Von der Einsamkeit, Stille und Dunkelheit können wir nichts anderes sagen, als daß dies wirklich die Momente sind, an welche die bei den meisten Menschen nie ganz erlöschende Kinderangst geknüpft ist« (Freud, 1919h, S. 268). Bei einigen meiner älteren Patient_innen mit transgenerationalen Traumaerfahrungen führte die Isolation zu einer Verengung des psychischen Binnenraums. Die Angst, bei einer Erkrankung eingesperrt zu werden, beim Verlassen des Hauses von der Polizei wegen Missachtung der Verordnungen aufgegriffen und verhaftet zu werden, wurde übermächtig und isolierte diese Patient_innen noch mehr. Dazu kommen Ängste, bei 218

Und wo bleibt der Eros?

Nichtbeachtung der Regeln vernadert zu werden, oder lustvolle Gedanken, selbst zu vernadern. Manche Patient_innen leiden unter Unruhe, dem Verlust des Körpergefühls und vermehrt unter Panikstörungen. Das ehemals vertraute, nun durch die Maske verfremdete Gesicht der Analytikerin ist für sie schwerer zu deuten, die bewegte Maske selbst erscheint für eine Patientin durch die Faltenbewegung ein Eigenleben wie eine Fratze zu bekommen. Winnicott spricht in seinem Text von Abwehrmaßnahmen gegen »archaische[n] Seelenqualen« (1991, S. 1119), die das Ich organisiert, um die Ich-Organisation zu schützen. Zu den Qualen zählt er unter anderem die Angst vor dem Verlust des Realitätssinns und die Angst vor dem Verlust der Objektbezogenheit. Solche Vernichtungsängste treten auch auf, wenn der reale Tod aus schützender Hand erfolgt.

Das Verhältnis zum Sterben und zum Tod »Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren.« Freud (1915b, S. 341)

In diesem letzten Abschnitt sind wir im Zentrum angelangt, dort, wo die Entwicklungslinie vorläufig endet, die sich durch die Krisen gezogen hat und die beiden Seiten eines Individualismus widerspiegelt: die heroische Seite eines auf Eigeninteresse bauenden, die sozialen Fesseln abwerfenden boy genius und seine Kehrseite, die des einsamen, isolierten am Lebensende von Maschinen überwachten Menschen. Wie geht man mit dem Sterben um, das so plötzlich und wieder bewusst in unser Leben getreten ist? Mediale Bilder von großen Feldern, wo Menschen in weißen Schutzanzügen Gräber ausheben, von Militärkonvois, die Tote aus Platzmangel in Stadien bringen, Interviews mit verzweifelten und übermüdeten Ärzt_innen, sind eigentlich nur aus Kriegen bekannt. Bislang gehörte in Europa die Verweigerung von Behandlungen aufgrund fehlender Ressourcen nicht zu unserem Erfahrungsspektrum. Es sind Erfahrungen, die aber in anderen Bereichen der Welt bzw. in Flüchtlingslagern wie in Moria zum Alltag gehören. Der retraumatisierende Aspekt der Corona-Krise spielt für viele Menschen, die kriegerische Auseinandersetzungen erlebt haben, dabei eine große Rolle. 219

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»When faced with a danger, people who have not had the privilege of living in ›war-free zones‹ for a few generations immediately start to link that particular danger to war. This can be attributed to an individual, collective, and trans-generational traumatization and re-traumatization« (Okorn et al., 2020, S. 372).

Die reale Angst vor dem Tod erfährt eine Steigerung durch die verwehrte Hilfeleistung, es ist die Angst vor dem Verlust des schützenden Objekts (vgl. Freud, 1926d [1925]). Modelle wie das der Herdenimmunität oder Theorien vom Survival of the fittest erscheinen wie ein rationales Kalkül. Sie sind Teil eines Resilienzdiskurses, der – und das sah man auch im Zuge der Finanzkrise – »das Risikomangement individualisiert und dezentralisiert« (Gebauer, 2017, S.  9). Diese Modelle verbrämen die dahinterliegenden Phantasien vom lebenswerten und lebensunwerten Leben. Es handelt sich dabei um einen Angriff gegen Hilfsbedürftige und Schwache und um eine Abschiebung von Verantwortung für ein gemeinsames Wohlergehen. In Träumen wird das Unsagbare, das individuell und kollektiv Verleugnete und Verdrängte, einer Symbolisierung zugeführt. Träume sind so wie die Literatur auch Container »für schmerzhafte, fast unerträgliche Wahrheiten«, sie stellen eine Abwehr »gegen die Wucht archaischer Zerstörungsimpulse, gegen Chaos, Vernichtung und psychischen Zusammenbruch« dar (Mendelssohn, 2010, S. 203). Der folgende Traum der Autorin kann als Beispiel dafür angeführt werden, wie verstörend die Realität ist. Ich befinde mich in Gefangenschaft mit ein paar anderen Personen, sie alle stehen vor einer Tötung. Ich habe große Angst. Vor der Tötung müssen gewisse Reinigungsprozeduren vollzogen werden, wie zum Beispiel die Nägel geschnitten, die Haare gewaschen werden. Ich suche nach einem Ausweg, finde aber keinen. Da kommen zwei fremde Männer von auswärts dazu, die mit dem Ganzen nichts zu tun haben. Sie haben nasse Haare und tragen eine Kleidung ähnlich einem Tauchanzug. Von ihnen erhoffe ich einen Hinweis auf einen möglichen Ausweg. Da sehe ich, wie die Person vor mir ausgeweidet worden ist. Es handelt sich um einen schmalen, älteren Mann mit einem schönen, aber eingefallenen Gesicht, dessen Schädel rasiert ist. Die Eingeweide sind wie auf einer nicht sichtbaren Stange aneinandergereiht und bilden so die äußere Physiognomie ab, wie bei einer russischen Puppe. Der Gedanke kommt in mir auf, dass alle einbalsamiert werden sollen. Da liegt auch ein Dolch, mit dem der Mann umgebracht worden ist. 220

Und wo bleibt der Eros?

Die Bedrohung, die wir in dieser Krise erleben, umfasst mehr als die Gefahr einer Ansteckung, sie ist existenzieller, weil sie innerhalb der Gesellschaft gegen (Leistungs-)Schwache gerichtet ist, weil sie Freiheitsrechte, die Sorge und Fürsorge für andere außer Kraft setzt und damit den Gemeinsinn und die kulturellen Leistungen bedroht. Ärzt_innen und Pflegepersonal retten Leben, überantworten aber auch Erkrankte dem Tod. Diese Unsicherheit löst archaische Ängste aus, sie verweisen auf Chaos und Destruktion. Der Zusammenbruch einer humanen Ordnung ist dort Realität geworden, wo wir nicht hinschauen, dort, wo Ent-Bindung stattfindet. Wie gezeigt wurde, haben sozioökonomische Veränderungen bereits vor der Finanzkrise dazu geführt, dass sich die subjektiven Erfahrungswelten insofern gewandelt haben, als sie die Vereinzelung – allerdings in Form der Idealisierung des autonomen Subjekts, das alle hemmenden Bindungen hinter sich lässt – widerspiegelten. In der Corona-Krise wird die Vereinzelung zu einer existenziellen Überlebens-Notwendigkeit erhoben, mit all den psychisch destabilisierenden Folgen, die sich aus dem Bindungs- und Objektverlust ergeben und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fragmentieren. Eros wirkt entgegengesetzt – in Bindung, Austausch, Kreativität und Produktivität; in der Trauer um und Erinnerung an das, was verloren ist, und im Versuch, dem grandiosen Anspruch auf Unverletzlichkeit und Leugnung des Todes die eigene Verletzlichkeit entgegenzusetzen. So gesehen ist Freuds Skepsis gegenüber der Durchsetzung des Eros gegenüber Thanatos, wie sie am Schluss der Arbeit Das Unbehagen in der Kultur (1930a) formuliert wird, auch gegenwärtig gültig.

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Biografische Notiz Helga Klug, MMag.a Dr.in, war nach dem Studium der deutschen Philologie, Philosophie, Psychologie, Pädagogik im Bildungswesen tätig und arbeitet heute als Analytikerin in freier Praxis in Wien und als Lehranalytikerin, Supervisorin und Universitätslektorin an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind psychoanalytische Gesellschaftskritik, Literatur und Psychoanalyse und Intersubjektivitätstheorien in der Psychoanalyse. 2020 Veröffentlichung der Dissertation mit dem Titel Die Finanzkrise 2008 im Unbewussten. Über die Ökonomie des Seelenlebens in Zeiten der Krise im Springer Verlag.

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Bedrohung, Angst und Macht Psychoanalytische Überlegungen zur Coronakrise und deren individueller und gesellschaftlicher Bewältigung Markus Fäh

Unsere Bemühungen um die Erkenntnis der Welt – die äußere materielle wie die innere psychische Realität – stehen auf schwankendem Boden. Das Ich steht vor einer wahren Herkules-Aufgabe und ist dafür nicht eben gut gerüstet. Freud machte sich in dieser Hinsicht keine Illusionen: »Aber andererseits sehen wir dasselbe Ich als ein armes Ding, welches unter dreierlei Dienstbarkeiten steht und demzufolge unter den Drohungen von dreierlei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es und von der Strenge des Über-Ichs. […] In seiner Mittelstellung zwischen Es und Realität unterliegt es nur zu oft der Versuchung, liebedienerisch, opportunistisch und lügnerisch zu werden, etwa wie ein Staatsmann, der bei guter Einsicht sich doch in der Gunst der öffentlichen Meinung behaupten will« (1923b, S. 286f.).

Anders ausgedrückt, das Ich ist korrumpierbar, es ist kein souveränes rationales Ego, das sich kühn und unbestechlich den inneren und äußeren Wahrheiten stellt und uns gelassen und stark durch die Gewässer des Lebens steuert. Von den Abhängigkeiten des Ichs ist die vom Über-Ich die wohl interessanteste, hält Freud fest: »Von den dreierlei Gefahren bedroht, entwickelt das Ich den Fluchtreflex, indem es seine eigene Besetzung von der bedrohlichen Wahrnehmung oder dem ebenso eingeschätzten Vorgang im Es zurückzieht und als Angst ausgibt. […] Was das Ich von der äußeren und der Libidogefahr im Es befürchtet, läßt sich nicht angeben; wir wissen, es ist Überwältigung oder Vernichtung, aber es ist analytisch nicht zu fassen. […] Hingegen läßt sich sagen, was sich hinter der Angst des Ichs vor dem Über-Ich, der Gewissensangst,

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verbirgt. Vom höheren Wesen, welches zum Ich-Ideal wurde, drohte einst die Kastration, und diese Kastrationsangst ist wahrscheinlich der Kern, um den sich die spätere Gewissensangst ablagert, sie ist es, die sich als Gewissensangst fortsetzt« (ebd., S. 287f.).

Das Ich ist also vom Über-Ich her permanent von Kastrations- und Todesangst bedroht und ist nur allzu gern bereit, sich dem Über-Ich zu unterwerfen und rebellische Wünsche zu verdrängen. Dies geschieht allerdings größtenteils nicht in freier rationaler Abwägung, sondern als unbewusste Anpassung. Die Menschen auf diesem Planeten sind derzeit einem grassierenden Virus ausgesetzt: SARS-CoV-2, das neben anderen Erkrankungen hauptsächlich die Atemwegserkrankung COVID-19 verursacht. Das robust gesicherte Wissen über dieses neuartige Coronavirus ist derzeit beschränkt: Es kann zu schweren Erkrankungen mit tödlichem Ausgang führen; die Ansteckungswege sind bekannt, die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung bei einer Exposition ist erheblich; in der Behandlung werden verschiedene bekannte medizinische Maßnahmen, zum Teil mit Erfolg, angewandt; Impfstoffe liegen nun vor, breit angelegte Impfkampagnen sollen im Frühjahr  2021 starten. Insbesondere gibt es eine Bandbreite von Unklarheit über die Gefährlichkeit des Virus und das Sterblichkeitsrisiko im Falle einer Erkrankung. Wir wissen nicht genau, warum die Erkrankung bei bestimmten Individuen einen harmlosen und bei anderen einen schweren oder gar tödlichen Verlauf nimmt. Wir haben es mit einer unsichtbaren Bedrohung und einer in Teilen unbekannten Gefahrenlage mit ungewissem potenziellem Risiko, selber schwer zu erkranken oder zu sterben, zu tun. Wahrlich eine Herausforderung für unser ohnehin schon von äußeren Anforderungen, Triebwünschen und Ängsten geplagtes Ich! Die known knowns, known unknowns und unknown unknowns der globalen viralen Bedrohung reaktivieren in uns mit aller Macht die verdrängten Kastrations- und Vernichtungsängste. Die Regierungen und Gesundheitsbehörden stehen in einer solchen Situation im Auftrag, Maßnahmen zu ergreifen, die dem Schutz des Lebens als höchstem Gut dienen. Sie sind damit in einer ähnlichen Situation wie innerpsychisch das bedrängte Ich: Sie müssen auf schwankendem Boden möglichst realitätsgerechte Urteile fällen und Maßnahmen durchsetzen, um die Gefahr zu bannen und der Pandemie Herr zu werden. Es wird mit Notrecht regiert, dem einzelnen Menschen wie auch Gruppen und Organi226

Bedrohung, Angst und Macht

sationen werden Verbote und Beschränkungen auferlegt, Verzichtsleistungen zugemutet. Alles unter der Flagge der medizinischen Vernunft: Es geht darum, möglichst viele Menschen, besonders die vermuteten Risikogruppen, vor Ansteckung zu schützen, das Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu bewahren und den Betroffenen die notwendige medizinische Hilfe zu sichern. Wie nun wirkt sich diese neue Situation auf das psychische Funktionieren des Einzelnen aus? Welche Auswirkungen stellen wir fest in den kulturellen Einstellungen und Werten und den sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen? Ich versuche in diesem Beitrag einige der durch die unsichtbare Bedrohung des neuen Coronavirus und die dagegen ergriffenen Maßnahmen ausgelösten psychischen und gesellschaftlichen Dynamiken zu untersuchen.

Psychischer Apparat, der Impact des Realen, Ideologie Die Freud’sche Metapsychologie erstreckt sich im Spannungsfeld zwischen seiner ersten und zweiten Topik: Von Ubw-Vbw-Bw zu Es, Ich und ÜberIch. Die menschliche Erfahrung ist ein Versuch, die Überwältigung durch die ultimative Realität (O nach Bion, 1965) durch Traumfunktion und Denkapparat zu bannen und letztlich als Gedanken zu denken und damit erträglich zu gestalten. Lacans drei Register der Erfahrung gemäß dem Konzept des Borromäischen Knotens Real-Symbolisch-Imaginär können ebenfalls als ein Konzept verstanden werden, wie das Subjekt mit a priori nicht denkbaren sinnlichen quasi-traumatischen Körper- und Welteinflüssen zurechtkommt (vgl. Lacan, 1975). Die Pandemie, mit der wir derzeit konfrontiert sind, schafft für die Psyche des Einzelnen wie für das gesellschaftliche Ganze eine Situation der Reizüberflutung und eine dauerhafte große Belastung mit unberechenbaren Auswirkungen. Sie ist als globalisierte Stresserfahrung in dieser Form ein historisches Novum. Individuen, Gruppen und die Gesamtgesellschaft reagieren darauf gemäß ihren psychischen Dispositionen, kulturellen Werten und gesellschaftlichen Strukturen und mobilisieren entsprechende Bewältigungsstrategien auf der Basis ihrer affektiven Reaktionen, Denkprozesse, Wertesysteme und Machtverhältnisse. Ideologien als Auffassungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse prallen mit einer neuen belastenden und 227

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herausfordernden Situation zusammen, gewisse Überzeugungen werden erschüttert, andere erhalten Aufwind.

Symbolisierungsdefizite und Regressionspotenzial Wir stehen aktuell (Dezember 2020) noch immer unter der vollen Wirkung des sich in die Länge ziehenden Corona-Schocks. Es wäre deshalb vermessen anzunehmen, dass wir derzeit die vollen psychischen Auswirkungen erfassen und ermessen können. Wir verfügen jedoch über einige theoretische Instrumente, die uns beim Verständnis der psychischen Reaktionen helfen können. Die derzeit grassierende Pandemie konfrontiert uns in extremer Weise mit Krankheit und Tod, mit der Bedrohung, dass wir gewaltsam aus unserem gewohnten normalen Leben herausgerissen werden können. Ich ziehe den Hinweis auf einen Film heran, um einige der Verarbeitungsmechanismen aufzuzeigen, die der Psyche zur Verfügung stehen, wenn sie einer das psychische System überwältigenden Erfahrung ausgesetzt ist. Die psychoanalytische Untersuchung von Filmen ermöglicht es, die Verarbeitung und Darstellung universeller psychischer Gegebenheiten wie unter einem Mikroskop zu untersuchen1. In Lovely Bones ( Jackson, 2009) werden die Ermordung eines Teenagers und die Verarbeitung des dadurch ausgelösten Grauens durch eine glaubhafte Fiktion dargestellt. Der Film erzählt den Trauerprozess der Protagonisten. Die merkwürdige Faszination, die dieser Film ausübt, hat mit einer Eigenschaft des Seelischen, der Kluft von Tödlichem und Lebendigem in unserer Erfahrung zu tun. Lovely Bones zeigt, wie sich unser lebendiger Kern gegen ein Trauma wehrt. Es gibt einen regelmäßig von der Psyche in Gang gesetzten seelischen Mechanismus, wenn wir Erfahrungen ausgesetzt sind, die uns zu überschwemmen drohen. Die Psyche reagiert mit einer Notlösung, sie spaltet sich in einen abgetöteten und einen geretteten Teil. 1

Gabbard (2018) unterscheidet unter anderem folgende Zugänge: der Film als Widerspiegelung der Subjektivität des Filmemachers und universeller Entwicklungsmomente oder -krisen; die Anwendung von psychoanalytischen Erkenntnissen zur Traumarbeit auf den Film; die psychoanalytische Untersuchung der Wirkung auf den Zuschauer; das psychoanalytische Verständnis von Figuren oder Narrativen im Film.

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Wir verdoppeln uns in zwei Personen, die nichts voneinander wissen. Die Traumaforschung nennt dies Dissoziation. Eine Folge des Traumas ist, dass unser Verständnis von Normalität, das Urvertrauen, unser bis anhin einigermaßen heiles Weltbild, alle unsere haltgebenden Illusionen – es kommt schon irgendwie gut! Man kümmert sich um mich! Es gibt Gerechtigkeit! usw. –, unser sicherer Mikrokosmos von Familie, Freunden, Arbeit, Schule, und damit auch unser innerer bis anhin unerschütterlicher safe place mit einem Schlag zerstört werden. Die Konfrontation mit der neuen globalen tödlichen Bedrohung aktiviert im Einzelnen wie im Kollektiv diese für das seelische Überleben notwendigen Abwehrmechanismen. Um ein Mindestmaß an Normalität und stabilem psychischem Funktionieren aufrechtzuerhalten, flüchten wir uns in unterschiedlichem Ausmaß in dissoziative Muster: Einerseits erhalten wir uns quasi-halluzinatorisch das Gefühl, seelisch weiter zu funktionieren, andererseits drängen wir mit einer vertikalen Spaltung der Psyche die durch den Corona-Terror2 ausgelösten Affekte ins Abseits. Diese brechen in bestimmten Momenten oder bei gewissen Personen und Gruppen in Form von aggressiven Ausbrüchen und Wahnbildungen (Verschwörungstheorien) durch. Da unsere Psyche mit der symbolischen Verarbeitung den unmittelbaren Fakten immer hinterherhinkt, haben wir es derzeit mit individuellen und kollektiven Symbolisierungsdefiziten und damit auch einem unabsehbaren Regressionspotenzial zu tun.

Wahrheit Die Psychoanalyse arbeitet an der Schnittstelle zweier Welten: Der äußeren Welt, die wir mit unseren Sinnen erfassen, und der inneren Welt mit unseren meist unbewussten Wünschen, Bildern, Gedanken und ihrer ungeheuren inneren Dynamik von Trieb und Abwehr. Sie steht im Dienste der kompromisslosen Suche nach der Wahrheit und ist damit selbst von einer menschlichen Triebkraft gespeist. Warum ist Wahrheitssuche den Menschen so wichtig? Warum fragen sie sich ständig: Wie war und ist es wirklich? Was ist los? Warum nur, warum? 2

Unter Corona-Terror verstehe ich nicht nur den direkten Einfluss der Krankheitsbedrohung, sondern auch die Auswirkungen der durch die Behörden getroffenen restriktiven Maßnahmen.

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Kant (1998 [1781]) hat sich mit der Erkennbarkeit der Realität beschäftigt. Was wir von der Realität erkennen können, ist nur ein schwacher Abklatsch, gefiltert durch die Präkonzepte unseres Erkenntnisapparates, Zeit und Raum. Bion (1965) hat sich ebenfalls mit der Erkenntnistheorie befasst und nennt die uns nicht direkt zugängliche überwältigende Realität O (von Origin = Ursprung). Durch unsere Sinne und unsere Denkfunktionen erhaschen wir nur einen flüchtigen Eindruck von der Realität, wir träumen konstant, wir erzeugen Gedanken, mit denen wir die Realität denken. Wenn wir die Realität nicht durch unseren Traumfilter und Denkvorgang erträglich machen könnten, würden wir von ihr überwältigt. In unserer Psyche streiten zwei gegensätzliche Passionen: leidenschaftlicher Drang zu wissen, die Wahrheit herauszufinden, und die gegenläufige Tendenz: leidenschaftliches Nicht-wissen-Wollen – sich äußernd in Ignoranz, Verwerfung, Verleugnung, Verdrängung; nach Lacan eine der drei Basisleidenschaften, von André Green als travail du négatif (1993) herausgearbeitet. Diese beiden Tendenzen können wir zu Corona-Zeiten auch in uns selbst und bei anderen beobachten. Einerseits wollen wir genaues medizinisches Wissen über die Ansteckungsvorgänge und Krankheitsrisiken, den Verlauf und mögliche Behandlungen von COVID-19 erlangen, andererseits möchten wir vor den bereits bekannten Fakten die Augen verschließen. Es gibt zwei Arten des Umgangs mit der schmerzhaften Konfrontation von Wunsch und Realität: Halluzinieren oder Fantasieren. Halluzinieren ist der ursprüngliche. Das Subjekt besetzt eine befriedigende Erinnerungsspur und versieht sie mit einem Realitätszeichen, das heißt, es schafft Wahrnehmungsidentität, es schafft sich ein Erlebnis, als ob die Befriedigung reell einträte bzw. immer noch bestünde, es halluziniert die schmerzhafte Realität der Frustration weg und halluziniert eine befriedigende Szene als Realwahrnehmung. Damit verschwindet der Mangel augenblicklich, aber auf Kosten des Realitätsbezugs. Das Subjekt wähnt sich im siebten Himmel, ist glücklich, es verwirft die Frustration, schmeißt sie gewissermaßen aus dem psychischen System hinaus. Mit der halluzinatorischen Lösung kann die Erfahrung eines überwältigenden Verlustes, der dem Subjekt als unerträglich erscheint, zunächst vermieden werden. Christian Kläui schreibt: 230

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»Treffen uns unerträgliche Versagungen, […], so kann der halluzinatorische Weg ›enthemmt‹ werden, und wir wenden uns partiell von der Realität ab, und etwas von uns sitzt am metaphernlosen Ort der Wahrnehmungsidentität fest. […] Oder es kommt schlimmstenfalls zu einer gänzlichen Abkehr von der Realität in einer halluzinatorischen Wunschpsychose. […] Wo die Realität verhasst ist, kann das Verhasste auch, als Ausweg aus dem kaum erträglichen Hass, weghalluziniert werden« (2017, S. 72f.).

Erst in einem nächsten Entwicklungsschritt wird aus der unerträglichen Wahrnehmung Erinnerung, die Halluzination wird abgelöst durch Fantasie und Denken. Die Psyche arbeitet dann nicht via Wiederherstellung des ursprünglichen Befriedigungserlebnisses halluzinatorisch, sondern besetzt die Erinnerungsspuren libidinös. Damit ist der Weg zu assoziativen Verknüpfungen, Verschiebungen, Metaphern, zum Wünschen als Begehren offen, und somit auch zur Trauerarbeit. In der psychischen Verarbeitung der Corona-Pandemie befinden wir uns derzeit mitten in diesem Prozess: Gelingt es uns, die halluzinatorischen Verleugnungen zu überwinden und die Fantasie und das Denken zu retten, um bei voller Anerkennung der unangenehmen und bedrohlichen Fakten, das heißt gemäß dem Realitätsprinzip, uns optimal zu schützen und gleichzeitig die verbleibenden Befriedigungsmöglichkeiten und damit die Lebenslust kreativ auszuschöpfen?

Über-Ich-Festival Freud geht in der Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930a) ausführlich auf den Zusammenhang zwischen äußeren Einflüssen und der Errichtung, Weiterentwicklung und Stärke und Grausamkeit des Über-Ichs ein. Insbesondere interessiert ihn die Frage, warum das Über-Ich bei den Tugendhaften immer unerbittlicher wird und sich durch Triebverzicht in keiner Weise besänftigen lässt: »Anfangs ist zwar das Gewissen (richtiger: die Angst, die später Gewissen wird) Ursache des Triebverzichts, aber später kehrt sich das Verhältnis um. Jeder Triebverzicht wird nun eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder neue Verzicht steigert dessen Strenge und Intoleranz […] Das Gewissen ist

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die Folge des Triebverzichts; oder: Der (uns von außen) auferlegte Triebverzicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert« (1930a, S. 488).

Doch was ist die intra-psychische Erstursache dieser seltsamen Eigenart des Gewissens? Freud legt nun den Finger auf den entscheidenden Punkt, nämlich die energetische Quelle des Gewissens, den Aggressionstrieb: »Die Wirkung des Triebverzichts auf das Gewissen geht dann so vor sich, dass jedes Stück Aggression, dessen Befriedigung wir unterlassen, vom Über-Ich übernommen wird und dessen Aggression (gegen das Ich) steigert« (ebd.). Die Aggression des Gewissens repräsentiert also nicht primär die Grausamkeit der äußeren Autorität, sondern die Trieb-Aggression des Subjekts, die nun gegen es selbst gerichtet wird. Bereitwillig akzeptierte Verzichtsleistungen führen somit zu zweierlei: Sie aggressivieren einerseits die Triebseite der Psyche durch die frustrane Erfahrung, und sie steigern damit auch die bereits in der Entwicklung angelegte Aggressivität des Über-Ichs. Unter der gegenwärtigen Pandemie-Situation und den durch die behördlichen Maßnahmen erzwungenen Verzichtsleistungen finden wir nun exakt die Bedingungen, von denen Freud in diesem Zusammenhang spricht. Das Coronavirus und die getroffenen Maßnahmen verändern die innerpsychische Dynamik: Das Ich unterwirft sich den Coronaregeln und stimmt einer Diktatur der gesundheitlichen Vernunft willig – Freud würde vielleicht sagen: liebedienerisch – zu: Man gibt einander nicht mehr die Hand, Umarmungen im Freundeskreis werden unterlassen, Feste, Partys, nachbarschaftliche Besuche, Fußballspiele und Konzerte werden abgesagt, Großeltern besuchen ihre Enkel nicht mehr, die Altersheime verhängen Besuchsverbote und verordnen unseren Eltern und Großeltern Isolation und schneiden sie damit vom seelisch überlebenswichtigen Kontakt ab. Wobei es im Rahmen dieser Unterwerfungshaltung durchaus verschiedene Diskurse gibt: Während die einen ein zwanghaftes Regime aufziehen, peinlich genau Hände waschen und sich desinfizieren, die vorgeschriebenen Distanzen zwischen sich und dem Nebenmenschen (Freud, 1950c [1895], S.  426) strikt einhalten und ihre Angehörigen ermutigen und überwachen, dies ebenso zu tun, regredieren andere und werden völlig hilflos: Was soll ich tun? Was sagt die Regierung? Wann kommen die nächsten Vorschriften? Als wäre es eine Zumutung und Überforderung, in dieser Gefahrenlage noch irgendeine Entscheidung erwachsen und autonom treffen zu müssen. Noch andere wiederum, mehr mit den rebellischen Wünschen 232

Bedrohung, Angst und Macht

identifiziert, opponieren gegen die auferlegten Verzichtsleistungen und Zwänge und versuchen sie zu umgehen. Das ängstliche Ich nimmt die neuen Regeln und Einschränkungen bereitwillig auf sich, will sich mit den Verzichtsleistungen arrangieren, ja  – korrumpierbar, wie es ist – ihnen sogar Gutes abgewinnen: Endlich habe ich einmal Zeit für mich, Schluss mit der Alltagshektik, wie schön sind doch einsame Waldspaziergänge und beschauliche Lektüren vor dem Kaminfeuer im Eigenheim! Man schätzt es wieder, im Familienkreis zu spielen und miteinander zu reden! Wobei an dieser Stelle angemerkt werden muss, dass viele Privilegierte – und zu denen zählen sicher die Psychoanalytiker*innen und die meisten Intellektuellen – sich tatsächlich zurückziehen können, ohne ihre Arbeit und ihre Einkünfte einzubüßen, und es schätzen, wenn sie von der Hektik und den Kommunikationszwängen des normalen Alltags befreit, die Straßen und Plätze leer, die Ausflugsziele wohltuend touristenfrei sind. Und es mag hinzukommen, dass die durch den erzwungenen Wegfall von Arbeit und Pendelstress freiwerdende Zeit vielen die Augen öffnet für die bis anhin unter dem kapitalistischen Leistungs- und Erwerbsterror vernachlässigte Selbstfürsorge und Intimität in ihrem Liebesleben. Gesamthaft gesehen lässt sich jedoch die von Freud beschriebene Stärkung des Über-Ichs an der Zunahme von Lethargie und depressiver Symptomatik bei verschiedenen Individuen beobachten, besonders mit zunehmender Dauer des Pandemie-Regimes. Nicht wenige meiner Analysand*innen und auch ich selbst verbuchten die erste Zeit des lockdowns im März und April 2020 mehrheitlich noch als Gewinn, wir vergoldeten die vom erstarkten Über-Ich verlangten Verzichtsleistungen mit rationalisierenden Überlegungen (und den erwähnten wirklichen persönlichen Vorteilen) und drängten die anstürmenden rebellischen Impulse zunächst zurück und verdrängten sie. So erlebten wir den sinnlichen Verzicht auf das Sozialleben mit der Zeit gar nicht mehr als solchen, wir funktionierten klaglos im shutdown-Modus. Freud: »Leben ist also für das Ich gleichbedeutend mit Geliebtwerden, vom Über-Ich geliebt werden, das hier auch als Vertreter des Es auftritt« (1923b, S. 288). Wenn sich das Ich unbewusst dem Über-Ich andient, verstärkt es dessen Macht, auch dessen aggressiven Einfluss. Von der Angst terrorisiert, kastriert und vernichtet zu werden und sich »von allen schützenden Mächten verlassen zu sehen und zu sterben« (ebd.), identifiziert es sich mit dem Aggressor und unterdrückt die rebellischen Es-Impulse. Es wird schleichend melancholisch, wenn es die lebendigen Regungen nicht mehr spürt. 233

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Einer meiner jungen Analysanden, nennen wir ihn Joe, drückte das so aus: »Ich sitze nur noch zu Hause herum, konsumiere Netflix-Serien, habe keine Lust, irgendetwas zu unternehmen. Auf Lernen habe ich keinen Bock, auf Gespräche mit meinen Eltern und meiner Freundin ebenso wenig. Ich schlafe, esse, trinke, vegetiere. Das ist doch kein Zustand!« Das aggressive Über-Ich hat die Herrschaft übernommen, jegliche libidinöse, aggressive und expansive Lust, sich vom Leben etwas zu nehmen, ist unterdrückt, passives regressives Dahinvegetieren unterdrückt den inneren Konflikt. Doch etwas in Joe beginnt zu rebellieren, er wird zunehmend ärgerlich, er zettelt Streit mit den Eltern an, verflucht die Corona-Diktatur. Er beschuldigt die Behörden, auf Kosten der Jungen, die ja eh nicht gefährdet seien, die Alten zu schützen. Er interessiert sich für Verschwörungstheorien, womöglich sei das Virus gar nicht so gefährlich, die Pharma-Industrie habe die Hände im Spiel und wolle sich mit der Corona-Hysterie eine goldene Nase verdienen. Er wirft mir vor, dass ich mich mit dem Regime solidarisiere, wenn ich die Analysestunden nur noch per Telefon oder Skype abhalten wolle. Ich gehöre auch zu den Alten, die den Jungen jetzt das Leben wegnähmen. Ich spüre, dass er die gemeinsame körperliche Präsenz im Analyseraum vermisst, natürlich auch die damit verbundene Aussicht auf die Befriedigung unbewusster infantiler körperlicher Wünsche. Das mit dem Über-Ich verbündete Corona-Regime macht seinen Liebeshoffnungen in der Übertragung einen Strich durch die Rechnung. Er weigert sich fortan, die Analyse per Skype weiterzuführen. So bin ich meinen eigenen Ängsten ausgesetzt: Soll ich eine Ausnahme machen, mich seiner Forderung nach Aufrechterhaltung des normalen Settings unterwerfen oder soll ich mich selber (und auch ihn) vor einer möglichen Infektion schützen und dafür in Kauf nehmen, dass die Analyse unterbrochen wird? Ich entscheide mich für Letzteres und versuche ihm zu erklären, dass ich selber in einem Konflikt zwischen meinen rebellischen Impulsen und der gesundheitlichen Vernunft stehe. Mein Verantwortungsgefühl lasse es aber nicht zu, mich und ihn einem unbekannten, potenziell sehr gefährlichen Erkrankungsrisiko auszusetzen. Es sei mir aber bewusst, dass man in einer solchen Situation nicht richtig entscheiden könne. So oder so setze man sich einem Vorwurf aus, Beschränkungen der Analyse oder gesundheitliche Gefährdung. Joe sagt murrend, er höre mich zwar und könne es nachvollziehen, aber er verstehe es doch nicht. Es ist ein Protest, er fühlt sich von mir zurück234

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gewiesen. Ich schweige, eine Deutung seiner infantilen Wünsche wäre zu diesem Zeitpunkt sicher fehl am Platz gewesen, es hätte den Graben zwischen uns nur vertieft. Ich habe ein ungutes Gefühl, komme mir feige, heuchlerisch und angepasst vor, weil ich die Coronaregeln über den analytischen Prozess stelle. Joe unterbricht die Analyse für fünf Wochen und nimmt seine analytischen Sitzungen erst dann erneut auf, als die Regelungen gelockert werden und wir in unserer Praxis wieder Patienten empfangen (Mai 2020), unter Einhaltung gewisser hygienischer Maßnahmen (Desinfektion der Hände, Aufhebung des Wartebereichs, Maskenpflicht in den allgemein zugänglichen Räumen, Plexiglaswand gegen Aerosole, größerer Abstand von Couch und Sessel wie auch zwischen den Stühlen). Eine andere Analysandin warf mir vor, ich hätte den lockdown der Praxis und die Umstellung auf virtuelle Kommunikationskanäle eigenmächtig und selbstherrlich vollzogen, nur wegen meiner persönlichen Vorlieben, es gebe überhaupt keinen Anlass dazu, es reichten zwei Meter Abstand und Maskentragen als Schutz. Sie wollte nicht akzeptieren, dass es Vorschriften gäbe, Patienten nur noch in Notfällen zu empfangen, und warf mir vor, dass ich selber Angst um meine Patienten und mich hätte. Meine Sorgen seien Heuchelei, in Wahrheit sei es schlicht meine diktatorische Willkür. Sie erschien nicht mehr zur Analyse, schrieb mir, sie habe kein Vertrauen mehr in mich. Sie meldete sich erst wieder Mitte Mai, stellte mich zur Rede, ich müsse ihr erklären, wie ich dazu gekommen sei, über ihren Kopf hinweg das Setting zu verändern. Es stellte sich heraus, dass ihre Anspruchs- und Opferhaltung vor allem dem Zweck dienten, mich in der Fantasie in einer idealisierten allmächtigen und in keiner Weise gewöhnlich menschlichen Position zu halten: Ich selber hätte mich durchaus mit ihr treffen können, wenn ich nur gewollt hätte. Ich wollte sie aus ihrer Sicht aus reiner Willkür und persönlicher Ablehnung nicht empfangen. Sie wollte und konnte aus ihrer nun aktivierten und manifesten Übertragung nicht sehen, dass ich in der Corona-Situation ähnlichen Beschränkungen und Ängsten wie sie und wir alle unterworfen war. Die Corona-Situation schien bei dieser Analysandin wie ein Vergrößerungsglas zu wirken: Die enttäuschte Übertragungsliebe, die vorher nicht gefasst werden konnte bzw. unbewusst geblieben war, brach durch und manifestierte sich in grellem Licht. Die meisten meiner Analysand*innen haben es während des lockdowns vorgezogen, die Analyse per Telefon oder Skype/Zoom weiterzuführen. 235

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Das führte zu neuen Erfahrungen, die erst durch den Vergleich der beiden Settings überhaupt möglich wurden. Ein Analysand erlebte die Sitzungen via Telefon als befreiend, eine bis anhin schwer zu fassende paranoide Übertragung wurde greifbar. Er merkte, dass er im normalen Setting seine Einfälle viel mehr zensuriere, via Telefon könne er heikle Dinge, besonders auf mich direkt bezogene sexuelle oder unfreundliche Gedanken, sagen. Er müsse nicht unmittelbar befürchten, dass ich über ihn herfalle. Er könne mich gefahrlos provozieren. Seine Verdrängungsschranke war gelockert. Er sagte am Telefon, dass er mich anal penetrieren und auch von mir anal penetriert werden wolle. Er stelle sich vor, wie er mich sexuell reize, und gleichzeitig fühle er sich sicher, da ich ja nicht im gleichen Raum sei. Als er ins normale Setting zurückkehrte, war er wieder kontrollierter. Mich frappierte, dass er die freizügigen Telefonsitzungen zunächst wieder verdrängt hatte. Der Wechsel des Settings zum Telefon hatte die Über-Ich-Widerstände gelockert, bei der Rückkehr ins normale Setting stellten sie sich wieder ein, konnten nun aber – durch die Bearbeitung des Vergleichs der Erfahrung in den beiden Settings – bearbeitet werden.

Reaktivierung unbewusster ödipaler Fantasien Tomas Pueyo ist ein 38-jähriger Schriftsteller, App-Entwickler ohne medizinischen Background, der sich mit der Corona-Pandemie intensiv befasst und im Online-Journal Medium am 19. März 2020 einen Beitrag mit dem Titel »Coronavirus: The Hammer and the Dance« publizierte, der zig-millionenfach gelesen und geteilt wurde. Seine These: Die effektivste Bekämpfung des Virus besteht in der Strategie, die Ausbreitung des Virus zunächst mit harten Maßnahmen zu unterdrücken (The Hammer) und in einer anschließenden Phase diese Maßnahmen zu lockern und aufzuheben und die Ausbreitung des Virus auf tiefem Niveau genau im Auge zu haben und zu stabilisieren (The Dance). Im Falle eines erneuten Aufflammens müsse wieder zum Hammer und harten lockdown-Maßnahmen gegriffen werden, denen wiederum eine Phase des Dance folgen würde. Dieser Hammer and Dance-Zyklus könne uns womöglich über einen längeren Zeitraum begleiten. Abgesehen von der praktischen Vernünftigkeit dieser Strategie zeigt sich darin meines Erachtens auch ein Aspekt der unbewussten Dynamik, die 236

Bedrohung, Angst und Macht

durch das Coronavirus reaktiviert wird: Die tödliche Gefahr des Virus wird als Hammer erlebt, der jederzeit auf einen niedersausen und einen vernichten kann. Auch die dagegen ergriffenen Maßnahmen haben Kriegscharakter, die Epidemie soll niedergehämmert werden. Die Phase des Tanzes beschreibt dann ein bestimmtes Arrangement mit der Gefahr: Die Maßnahmen werden gelockert, man flirtet wieder mit dem Risiko angesteckt zu werden, man nähert sich dem gefährlichen Virus wieder an, unter Einhaltung von definierten Sicherheitsmaßnahmen, um das Vernichtungsrisiko in Schach zu halten. Hat man sich aber im Verlaufe des Tanzes zu sehr angenähert und nehmen die Infektionszahlen wieder drastisch zu, ist man also vom tödlichen Hammer wieder bedroht, wird die Krieg-gegen-das-VirusMaschinerie erneut angeworfen und das Virus erneut niedergehämmert. Der Flirt und Tanz mit dem Virus und die Angst vor dem Hammer bzw. die Identifikation mit selbigem Hammer bei der Bekämpfung des Virus zeigen, dass die unklare Bedrohungslage durch das Coronavirus in uns – individuell wie gesellschaftlich – auch eine innere unbewusste erotisierte aggressive Dynamik aktiviert, die wir aus dem ödipalen Geschehen kennen: die Trieb-Abwehr-Dynamik im Zusammenhang mit einem spezifischen passiv-aggressiven Triebwunsch, den Judith Le Soldat Apollwunsch oder Hammerschlagwunsch nannte (Le Soldat, 2015, S.  157ff.). Dieser Wunsch entsteht laut ihr am Ende der ödipalen Entwicklung und stellt eine Verschmelzung der passiv-aggressiven Wünsche und des Strafbedürfnisses, man könnte auch sagen: eine Erotisierung der Kastrationsangst, dar. Er äußert sich in einem ausweglosen inneren Dilemma: Einerseits besteht im Subjekt die Wunschidee nach einem ultimativen passiv-aggressiven Orgasmus, das heißt, eine schnelle Befriedigung in der Art einer maximalen analen Vergewaltigung zu erleiden und voll dranzukommen, anderseits ist dieser Wunsch unerfüllbar und nur schon der Versuch, ihn sinnlich zu realisieren, würde die Schmerzgrenzen und die Fähigkeiten des Körpers, die Erfüllung zu erleben, übersteigen, was deshalb aufgrund des Selbsterhaltungstriebs zu größter Panik und Vernichtungsangst führt. Eine Möglichkeit, die die meisten Menschen wählen, um mit diesem Apoll-Dilemma umzugehen, ist der sogenannte Apoll-Loop: Man nähert sich, getrieben vom Drang nach Befriedigung des Hammerschlagwunsches der imaginären Apoll-Figur an, flirtet und tanzt mit dem Risiko, spielt mit dem Feuer und ergreift im selben Moment die Flucht, da die Vernichtungsangst einen übermannt, und bringt sich in Sicherheit, nur um nach einer gewissen Zeit der Beruhigung den Tanz erneut anzufangen. Klinische 237

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spiele für Manifestationen dieses passiv-aggressiven Apoll-Wunsches und des Umgangs mit dem Apoll-Dilemma gibt es viele: Denken wir an Extrem-Risikosportarten, Glücksspiel und andere selbstgefährdende Praktiken oder die Dynamik in gewissen aggressivierten Liebesbeziehungen, in denen der Tanz von Verführung, Gefahr und Flucht immer wieder von Neuem aufgeführt wird. Der möglicherweise von uns in nächster Zeit abverlangte Tanz mit dem Virus erfordert von jedem von uns eine gewisse Portion Mut. Der Apollwunsch kann hierbei als energetische Quelle für diesen unabdingbaren Mut genutzt werden, stellt aber eine immerwährende triebhafte Gefahr dar, zu leichtsinnig zu werden, die Risiken zu unterschätzen und vom unbewussten Drang nach dem Erleiden des ultimativen passiven Schlags fortgerissen zu werden.

Warenwert und Gebrauchswert der Psychoanalyse Mit der Psychoanalyse haben wir ein Instrument, um immer von Neuem das Ich in seinen unausweichlichen Abhängigkeiten zu stärken. Wir sind in der Lage, Erfahrungen zu träumen, zu denken und auszusprechen, um die Regression in dissoziative und halluzinatorische Prozesse zu stoppen. Wir können unserem Ich auf die Beine helfen, wenn es sich liebesdienerisch dem Über-Ich unterwirft und unsere lebendigen rebellischen Impulse verdrängt und uns überangepasst und melancholisch werden lässt. Wir können die Verdrängungsmotive – vor allem Angst und Schuld – erkennen und uns den Kastrationsängsten stellen und versuchen, auf schwankendem Grund einigermaßen realitätsgerecht die wirklichen Risiken von den imaginären Gefahren zu unterscheiden. Wir können unter Corona einen Kurs der psychoanalytisch gestärkten Vernunft fahren, ohne unsere Lebensqualität völlig dem Corona-Regime auszuliefern. Das heißt immer auch, unser Ich dazu zu erziehen, größere Quanten an Angst auszuhalten und zu reflektieren, ohne sich von ihr überrollen zu lassen. Wir können ferner das Wirken des Apollwunsches erkennen, wenn er uns dazu verführen will, leichtsinnig zu werden, unnötige Risiken einzugehen und gegen vernünftige Beschränkungen zu opponieren. Sodann können wir wie erwähnt die Energie des Apollwunsches nutzen, um unter Einhaltung der lästigen Einschränkungen mutig ein begrenztes Rest-Risiko in Kauf zu nehmen, um unseren täglichen Geschäften und un238

Bedrohung, Angst und Macht

vermeidlichen Begegnungen mit dem potenziellen Virusträger und Nebenmenschen nachzugehen. Letztlich können wir diesen lebensbejahenden Masochismus (Rosenberg, 1991) auch nutzen, um im Falle einer Erkrankung diese bestmöglich zu ertragen. Dies könnte es uns möglich machen, das Coronavirus als das zu erkennen, was es ist, nämlich ein besonders unangenehmer Aspekt des »gemeinen Unglücks« (Freud, 1895d, S. 312), und uns nicht davon abzuhalten, uns den neurotisierenden inneren Dynamiken zuzuwenden, welche die Freude am Leben und das Lebensglück unterminieren können: »Man wird sich nicht zum Ziel setzen, alle menschlichen Eigenschaften zugunsten einer schematischen Normalität abzuschleifen oder gar zu fordern, dass der gründlich Analysierte keine Leidenschaften verspüre und keine inneren Konflikte entwickeln dürfe. Die Analyse soll die für die Ichfunktionen günstigsten psychologischen Bedingungen herstellen. Damit wäre ihre Aufgabe erledigt« (Freud, 1937c, S. 96).

Dazu wäre es aber vonnöten, das Desinteresse vieler heutiger Psychoanalytiker*innen am Gebrauchswert der Psychoanalyse zu überwinden (vgl. dazu Zepf & Seel, 2020). Die Psychoanalytiker*innen sind in Corona-Zeiten ebenfalls mit der Frage konfrontiert, wie sie in Zeiten von lockdowns und Kontaktverboten ihre Dienstleistung, das heißt Ware, an die Kund*innen bringen. Wie stark sind sie vor allem daran interessiert, aus eigenem Verkaufsinteresse ihre Analysesitzungen weiterhin abzuhalten und aus diesem Grunde auf elektronische Kommunikation umzustellen? Und wie stark sind sie damit befasst, was für einen Gebrauchsnutzen ihre Ware, gerade in diesen Zeiten, bringt? Streng genommen lässt sich ein analytisches Setting, von dem viele zu normalen Zeiten behaupteten, es sei für den analytischen Prozess essenziell, unter Bedingungen des lockdowns nicht mehr aufrechterhalten. Das heißt, genau betrachtet liefern wir Psychoanalytiker*innen mit elektronischer Kommunikation eine Dienstleistung bzw. Ware mit unter Umständen geringerem Gebrauchswert. Wäre es demzufolge angemessen, den Patient*innen auch ein tieferes Honorar zu berechnen? Oder wäre es noch konsequenter, die Analysen ganz auszusetzen, bis das Lege-artis-Setting wieder etabliert werden kann, oder allenfalls die Sitzungsfrequenz zu reduzieren, um den Patient*innen weiterhin eine gewisse psychoanalytische Unterstützung angedeihen zu lassen, aber im klaren Bewusstsein, dass der volle 239

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brauchswert, der eigentliche Prozess, erst wieder mit der vollen beiderseitigen körperlichen und seelischen Präsenz im Analyseraum gewährleistet ist? Psychoanalytiker*innen, die an diesen Fragen nicht interessiert sind, werden sich ohne vertiefte Reflexion den neuen Verhältnissen anpassen und dies auch mit rationalisierenden Argumenten rechtfertigen, das virtuelle Setting böte im Gegenzug zu den Nachteilen auch Vorteile, usw. usf. Worum es aber derzeit geht, ist überhaupt einen Denkraum zu eröffnen dafür, dass die Pandemie-Situation auch uns Psychoanalytiker*innen bedroht, wenn wir die Psychoanalyse in ihrem grundsätzlichen Anliegen ernst nehmen. Das Überhandnehmen der durch die medizinische Vernunft diktierten Maßnahmen und Denkgewohnheiten macht nicht vor unserer Praxistüre Halt. Wenn wir die analytische Arbeit in ihrem Gebrauchswert für die Analysant*innen hochhalten, ist es nicht damit getan, mit technischen Maßnahmen das Infektionsrisiko weitmöglichst zu senken. Vielmehr muss darüber nachgedacht werden, was nicht nur dem Fortbestand der ökonomischen Existenz der Analytiker*innen dient (Warenwert), sondern auch den Patient*innen effektiv nützt (Gebrauchswert). Die Psychoanalyse kann, so paradox es klingt, unter dem Virus, der wie ein Vergrößerungsglas in vielen Bereichen Schwächen aufzeigt, gesunden, wenn sie sträflich vernachlässigte Themen der letzten Jahrzehnte auf die Tagesordnung setzt. Der individualistische Pluralismus und Eklektizismus, nach dem jede*r Analytiker*in nach den jeweiligen Vorlieben und abwehrgesteuerten Abneigungen arbeitet, ungeachtet der Beachtung der effektiven Nutzenfrage für die Patient*innen, müsste einer neu erblühenden psychoanalytischen Theorie- und Streitkultur Platz machen, in denen die Frage nach den wirksamsten Konzepten innerhalb der psychoanalytischen Theorievielfalt nicht phobisch und im Effekt gleichgültig vermieden, sondern konstruktiv und sachlich untersucht wird.

Literatur Bion, W. R. (1965). Transformations. London: William Heinemann. Freud, S. (1895d). Studien über Hysterie. GW I, 75–312. Freud, S. (1923b). Das Ich und das Es. GW XIII, 237–289. Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419–506. Freud, S. (1937c). Die endliche und die unendliche Analyse. GW XVI, 59–99.

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Bedrohung, Angst und Macht Freud, S. (1950c [1895]). Entwurf einer Psychologie. GW Nachtragsband, 387–477. Gabbard, G. (2001). Psychoanalysis and Film. London: Karnac. Green, A. (1993). Le Travail du Négatif. Paris: Minuit. Jackson, P. (Regie). (2009). Lovely Bones. USA. Kant, I. (1998 [1781]). Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner. Kläui, C. (2017). Tod – Hass – Sprache. Psychoanalytisch. Wien & Berlin: Turia + Kant. Lacan, J. (1975). Séminaire »R.S.I.« (Livre XIII). Paris: Ornicar. Le Soldat, J. (2015). Grund zur Homosexualität. LSW 1. Stuttgart: frommann-holzboog. Pueyo, T. B. (2020). Coronavirus: The Hammer and the Dance. Medium Online-Journal. https://medium.com/@tomaspueyo/coronavirus-the-hammer-and-the-dance -be9337092b56 (20.12.2020). Rosenberg, B. (1991). Masochisme mortifère et masochisme gardien de la vie. Paris: Presses Universitaires de France. Zepf, S. & Seel, D. (2020). Psychoanalytische Praxis und politische Ökonomie. Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, 35(3), 310–328.

Biografische Notiz Markus Fäh, Dr., ist Psychoanalytiker IPA, Ausbildungsanalytiker der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse, Lehranalytiker an verschiedenen psychoanalytischen Ausbildungsinstituten, Lehrbeauftragter der Sigmund Freud PrivatUniversitäten Wien und Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen.

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Unbehagliches Behagen in der Kultur Alexandra Moritz

Einleitung Der folgende Beitrag handelt von der Kleinfamilie in Zeiten der CoronaKrise. Er geht der Frage nach, ob die Pandemie – oder besser gesagt der Umgang mit der Pandemie – bestimmte gesellschaftliche und innerfamiliäre Tendenzen, die bereits vor Corona verbreitet waren, sichtbar gemacht und diese teilweise sogar verstärkt hat oder ob (eine) Krise auch einmal Chance sein darf. Sigmund Freud hat in Das Unbehagen in der Kultur den Konflikt zwischen Kultur und Triebregungen zu seinem Hauptthema gewählt. Kultur ist für Freud wesentlich »Öffnung nach außen« und damit auch etwas, für das die engen Grenzen der Familie überwunden werden müssen. Seit Beginn des Ausbruchsgeschehens in Deutschland lebten und leben wir – hoffentlich temporär – in einer Kultur, die den Einzelnen wieder an die Familie zurückverweist, die weitgehende Einstellung von sozialen Kontakten jenseits der Familie fordert und primär Kind und Frau in ihren expansiven Möglichkeiten und Bestrebungen beschneidet. Haben sich in den letzten 90 Jahren seit Erscheinen von Freuds Text die Verhältnisse durch Berufstätigkeit beider Eltern, Fremdbetreuung des Kindes etc. gravierend verändert, wurden von Kultur und Gesellschaft zunehmend größere Einheiten geschaffen und der Einzelne von der Familie befreit, wird der Rückzug in die Kleinfamilie in Zeiten der Pandemie zum kulturellen Ideal: Auch wenn die Kultur damit eine Forderung stellt, die sich in Freuds Sinn unmittelbar gegen das Wesen der Kultur selbst richtet. Mit der Pandemie gewannen die Bilder des »trauten Heims«, die man schon für historisch überholt glaubte, plötzlich wieder an Attraktivität. Die Kleinfamilie wurde für viele Menschen mit Kindern zur einzig 243

Alexandra Moritz

lichen Lebensform. Und die Betroffenen scheinen dies gar nicht so negativ zu empfinden. Interessant ist, dass der erzwungene Rückzug in die Familie nicht nur von bewusst erlebbarer Frustration begleitet wird, sondern auch mit mehr oder weniger unbewusster Erleichterung aufgenommen werden kann. Es überrascht mich, wie schnell die Einzelnen unter den modifizierten gesellschaftlichen Bedingungen der Pandemie von der Familie eingesogen werden und wie scheinbar willig die Protagonist*innen mitspielen. Mein Beitrag soll dieses bereitwillige Bekenntnis zu family-life in Gesellschaft und Familie näher beleuchten. Persönlich fühlte ich mich vom Titel dieses Bandes Zum Unbehagen in der Kultur unmittelbar angesprochen. Denn das war es, was ich fühlte: ein Unbehagen. Natürlich fühlt man sich in einer Pandemie naturgemäß nicht pudelwohl, aber da war eben noch dieses zusätzliche Gefühl, ein vages, für mich nicht sofort zuzuordnendes Unbehagen: die Kinder zu Hause bei den Eltern, Notbetreuung durch den Kindergarten nur für die wenigen Eltern in Berufen, die zu »systemrelevanten« erklärt wurden. Schließlich seien die Kinder zu Hause am besten aufgehoben. Angesichts der Pandemie ist dies alles nachvollziehbar. Was mein Unbehagen auslöste, war, dass viele Eltern sich bereitwillig den neuen Gegebenheiten anzupassen schienen und es sich dabei, so gut es ging, gemütlich machten. Das Einrichten in der Familien-Heimeligkeit war befremdend: Verzwickte Sachverhalte (wie: Wer betreut denn jetzt mein Kind? Ich muss doch arbeiten!) wurden scheinbar mühelos zu bequemen Lösungen (wie: Das ist jetzt wie Ferien!) umgedeutet, mit großer Behaglichkeit richtete man sich in einer Situation ein, die doch vor allem auf allen möglichen Ebenen unbehaglich war. Ich begann Fundstücke zu sammeln. Ich habe nicht bewusst nach diesen Fundstücken gesucht, ich habe sie zugeschickt bekommen, ich wurde darauf aufmerksam gemacht, man hat etwas zu mir gesagt, ich habe ein Gespräch belauscht, ich habe Zeitung gelesen und ferngesehen. Ein Ausschnitt aus einer Zeitung, ein Video, Werbungen, Gespräche mit Freunden, Aussagen von Patientinnen, Gespräche am Spielplatz. Die Beschreibung und Auseinandersetzung mit diesen Fundstücken – chronologisch nach Funddatum angeordnet – machen den Hauptteil dieses Textes aus. Irgendetwas irritiert an jedem Fundgegenstand, im Grunde handelt es sich also dabei um eine Ansammlung an Irritationen. Es geht in diesem Text um Phänomene, um Reaktionen auf den pandemiebedingten »Lockdown« und um Verhaltensweisen, die ich bei Eltern beobachtet habe, die – wie ich – einer »urbanen Mittelschicht« zuzurech244

Unbehagliches Behagen in der Kultur

nen sind (wobei »urban« weniger den städtischen Raum, sondern eher eine bestimmte Lebensweise meint). Es geht um Eltern, die in vorwiegend gesicherten Verhältnissen und in mehr oder weniger funktionierenden Paar- und Familienbeziehungen leben. Was ich hier beschreibe, ist also keinesfalls in jeder (Klein-)Familie zu finden. Selbstverständlich gab und gibt es Eltern, die gar keine Möglichkeiten haben, mit der Situation »kokettieren« zu können, Eltern, die weder über inneren noch äußeren Raum verfügen, spielerisch mit dem »Lockdown« umzugehen, und für die eine Isolation zu Hause einfach nur eine persönliche und familiäre Katastrophe ist.

Warum Fundstücke? Die Irritationen werden Narrative: Erlebnisse lassen sich erzählen und dieses Erzählen ist machtvoll und wichtig. Narrative helfen, unsere individuellen und somit einzigartigen Eindrücke, Wahrnehmungen und getätigten Handlungen zu reflektieren, zu formulieren und folglich zu strukturieren. Wir können versuchen, in unseren Erzählungen Bedeutung zu finden bzw. durch sie Bedeutung zu generieren. Die gefundenen Bedeutungen werden uns hoffentlich dabei helfen, mit einer mitunter schwer verdaulichen Gesamtsituation umgehen zu können. In der psychoanalytischen Praxis sind Narrative seit jeher von unschätzbarem Wert, die Psychotherapie lebt vom Erzählen, Patient*innen erzählen in der Therapie, Psychotherapeut*innen in Supervisionen oder im Rahmen der Lehre – die gesamte Psychoanalyse gründet schlussendlich auf den Fallgeschichten Freuds. So viele Geschichten, in denen individuelle Erfahrung wertgeschätzt wird und die über die persönliche Geschichte hinaus auch gesellschaftliche Bedeutung haben. Der Modus des Erzählens der Psychoanalyse ist die »freie Assoziation«. Diesem Modus eignet eine gewisse Langsamkeit, er braucht Zeit. In Zeiten der Pandemie aber ist auf Dauer kein Verlass: Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus müssen schnell, manchmal unmittelbar umgesetzt werden. Die Zukunft ist plötzlich sehr viel unvorhersehbarer, Pläne werden regelmäßig durchkreuzt. Nicht nur das Infektionsgeschehen, sondern die gesamte Situation ist sehr dynamisch: Man spricht die ganze Zeit über die Pandemie und kommt mit dem Erzählen gar nicht mehr nach. Manchmal hat man es satt, darüber zu sprechen, aber es hilft dann 245

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auch wieder, sich darüber verbal auszutauschen, auch weil man nicht mehr über andere wesentliche Dinge und Herausforderungen reden muss (zum Beispiel die Klimakrise). Das »Gschichtl« steht im Österreichischen für eine Halbwahrheit, eventuell sogar eine Unwahrheit, Lüge, eine Märchengeschichte. Jemand, der Geschichten erzählt, ist ein »Gschichtldrucker«. Man kann auch mit jemandem »a Gschichtl« haben, das heißt eine unverbindliche Affäre, nichts Bedeutungsvolles, die Bedeutung der Geschichte wird sogar abgetan. Nun wissen wir aber, dass gerade in der Psychoanalyse alles von Bedeutung ist und gerade die Dinge, denen wir bewusst am wenigsten Bedeutung zumessen, aus analytischer Sicht häufig die interessantesten, wertvollsten Erkenntnisse für uns parat halten. Aus diesen Überlegungen heraus und angesichts einer Situation, in der der Überblick zwangsläufig fehlt, entstand die Idee, das Narrativ dieses Textes »frei assoziierend« aus einer Sammlung von Fundstücken zu entwickeln.

Fundstücke Fundstück 1: Ein Video

Ich habe das Video am Mittwoch, den 8. April 2020, privat zugeschickt bekommen. Dem Video war kein Kommentar beigefügt. Das Standbild zeigt eine Frau, sitzend, mit einem aufgeschlagenen Block in der Hand. Meine erste Assoziation war: Geiselhaft. Beschreibung des Videos:

Eine Frau mittleren Alters ist im Bild, sie hält einen Block in die Kamera, darauf steht: »Kann NICHT REDEN!!!« Die Frau lächelt verschmitzt. Es wirkt, als sitze sie bei sich zu Hause in einem Wohnzimmer oder in einer Küche. Die Frau spricht in starkem Schweizer Dialekt: »Hei miteinander. Ich habe mir gedacht, ich schicke Euch ein Video. Ich habe nämlich gerade eine ruhige Minute.« Die Frau hält den Block mit »Kann NICHT REDEN!!!« in die Kamera. Sie dreht sich um, hört sich um. 246

Unbehagliches Behagen in der Kultur

Sie blättert um. Auf dem Block ist zu lesen: »ES SIND IMMER ALLE DA!« Darunter ist ein weinendes Gesicht aufgemalt. Sie redet weiter: »Und … ich wollte Euch eigentlich nur sagen, also: Bei uns ist alles super. Wir kommen auch super miteinander klar alle. Es harmonisiert voll bei uns daheim immer. Hmmm. Es macht auch überhaupt nix, dass dauernd alle umeinander sind und immer alle daheim sind. Also, nein, es ist eigentlich voll fein.« Die Frau blättert erneut um. Nun ist zu lesen: »ICH KANN NICHT MEHR!!!« Sie spricht weiter: »Es ist schon schön, oder, wenn man so viel Zeit miteinander verbringen kann, so 24 Stunden alle immer miteinander. Und, äh, wir machen auch voll die tollen Sachen miteinander.« Die Frau blättert um, nun steht auf dem Block: »IMMER KOCHEN, AUFRÄUMEN, PUTZEN!« Sie ergänzt: »Wir basteln, schauen Videos und machen halt alles, was wir sonst nicht können, weil wir sonst keine Zeit gehabt haben und so.« Sie blättert um. Neuer Text: »MAMA HIER, MAMA DA, SCHATZ HIER, SCHATZ DA.« »Sonst ist es auch immer voll ruhig, chillig, es harmoniert einfach, es passt einfach super.« Sie blättert um: »HOLT MICH HIER RAUUUS.« Der Text ist vierfach unterstrichen. Unbeirrt fährt sie fort: »Und, ich könnte einfach echt ewig da daheim in der Quarantäne hocken, es ist einfach echt super. Familie ist einfach das Schönste und genießt einfach Eure ganze Zeit daheim. Also: Ich wünsch Euch einen Schönen! Ciao.« Sie dreht sich weg. »Ich komme!« In der Hoffnung, dass irgendjemand kommt und sie befreit, gelingt es der Mutter in Geiselhaft, eine Botschaft nach draußen zu schmuggeln, ohne dass die Geiselnehmer*innen etwas davon mitbekommen, womit der idyllische Schein nach innen gewahrt wird. Was ihr so gut gelingt, ist, dass die Viewer*innen zunächst auch erst einmal den Eindruck haben, hier erzähle eine dieser »Social-Media-Corona-Mütter«, wie super alles sei, bis man den Witz endlich verstanden hat und ihn tatsächlich sehr lustig findet. Folgt man Freuds Text Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905c), haben wir es hier mit einem nicht nur tendenziösen Witz zu tun, 247

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der sich in den Dienst einer bestimmten Absicht stellt, sondern auch mit einem feindseligen Witz, der keineswegs harmlos ist, sondern zur Aggression, Satire und Abwehr dienen kann. Die – wirklich sehr harmlos wirkende – Mutter hat eine Möglichkeit gefunden, ihre feindseligen und aggressiven Impulse gegen die Familie bzw. gegen den Umstand der Einengung in der Familie ausleben zu können. Sie hat die Zuschauer*innen, also die Lacher auf ihrer Seite und schafft sich somit heimliche Verbündete. Der Witz schadet niemandem. Wären die aggressiven Inhalte (Block) unbewusst, würde es sich bei der Darstellung um eine Aneinanderreihung von Abwehrreaktionen, um Reaktionsbildungen handeln. Durch den Witz dürfen beide Gefühls- und Handlungsoptionen bewusst gehalten und ausgelebt werden. Psychische Reaktionsbildung hält also die Aggression der Einzelnen in Schranken – dadurch wird allerdings keine Entwicklung stattfinden. Irritierend ist die Tatsache, dass die Mutter in dieser gestellten Situation anscheinend davon überzeugt ist, diesen Weg wählen zu müssen, um Einschränkungen, die durch gesellschaftlich gesetzte Moralvorstellungen vorgegeben werden, umgehen zu dürfen. Es besteht anscheinend nicht die Möglichkeit, sich von der Idealanforderung – die »perfekte Mutter« zu sein – freispielen zu können. Sie könnte ja eigentlich offen mit den anderen Familienmitgliedern sprechen. Was an diesem Witz nicht witzig ist, ist die Situation, die imitiert wird und die zu Zeiten des ersten »Lockdowns« (der in Deutschland weniger rigide war als in vielen anderen Ländern) häufig zu beobachten war: Mütter oder insgesamt Eltern schwärmen vom Basteln und Backen zu Hause, sind aber im Grunde überfordert und fühlen sich unter Druck gesetzt. Man darf dies aber nicht zugeben. Im Gegensatz zur Geisel, die nur Angst vor ihren Geiselnehmer*innen haben muss, hat die Frau in ihrem wirklichen Leben Angst, von irgendjemandem entdeckt zu werden: Familie und Gesellschaft dürfen nichts merken. Genau dagegen begehrt die Mutter in diesem Video auf, doch die Form der künstlerischen Aktion, des Video-Witzes zeigt, dass die Mutter noch »das Böse meidet«, den Aufstand erst einmal noch probt und noch nicht macht. Die Mutter setzt eine starke Geste der Souveränität: So hat sie immerhin Zeit, den Block zu beschriften, Zeit, das Video zu drehen, und kann sich durch ihren humorvollen Umgang mit der Isolation zu Hause über die Ernsthaftigkeit der Situation hinwegsetzen. Offenbar hat sie Wege gefunden, sich mit der Situation zu arrangieren  – auch wenn dieses Arrangement vielleicht ein fragwürdiges ist. Aber was bliebe ihr auch anderes übrig? »Mama 248

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hier, Mama da, Schatz hier, Schatz da« – es wirkt so, als wäre es nicht die Mutter, die Kinder und Mann an die Familie binden wolle, sondern als wären die Familienmitglieder durchaus gewillt, sich von der Mama verwöhnen zu lassen, die Mutter wird den Familienalltag schon koordinieren. Nur die Mutter verweigert sich offenbar der Regression in der Familie: Die Mutter saugt die Kinder nicht ein, sondern die Kinder drängen sich auf. Zu Beginn der Pandemie wurde mir von jungen Studierenden freudig mitgeteilt: »Ich verbringe den Lockdown bei meinen Eltern!«, auch gerne ergänzt durch: »Da ist immer der Kühlschrank voll!« Also auf nach Hause. In Zeiten der Krise schlupft man gerne wieder bei Mama unter den Rock. Regression zu Hause ermöglicht Leidverminderung und Lustgewinn zugleich, dem drohenden Unglück aus der Außenwelt, aus den Beziehungen zu anderen Menschen kann ausgewichen werden, eine große Chance besteht, gesund zu bleiben. Und zu Hause auf dem Sofa ist es vielleicht doch am schönsten. Manchen jungen Menschen war nicht die Möglichkeit gegeben, in das elterliche Heim zurückkehren zu können. Sie durften nicht wieder Kind sein, dies führte zu Einsamkeit und Überforderung durch »so viel Realität«. Zusätzlich möchte ich im Folgenden auf eine alternative Leseart, auf eine weitere Möglichkeit der Interpretation, eingehen. Der Inhalt des Films gewinnt dadurch noch einmal neu an Bedeutung. Nehmen wir an, das Gezeigte hat mit dem Leben der Frau überhaupt nichts zu tun, der gesamte Inhalt des Films ist reine Inszenierung. Die Frau ist vielleicht gar keine Mutter und hat auch keine Familie, ihr Privatleben spielt keine Rolle. Das Video dient also ausschließlich als Medium, als Kunstform und Mittel zur Darstellung. In der gestellten Situation wird auf eine Konfliktlage von Müttern in Zeiten der Krise verwiesen und aufmerksam gemacht. Es geht somit nicht wie in der ersten Lesart um Abwehr, sondern um die explizite Darstellung eines Konflikts. Das Video wird in die Welt geschickt, öffentlich gemacht – die Gesellschaft über den Missstand informiert und (hoffentlich) zum Nachdenken angeregt. Beide Lesarten sind möglich. Ich selbst habe das Video im Sinne der ersten Alternative gelesen. Ich sehe eine Mutter, die sich einen Spaß macht. Der Witz kann dabei auch als aufklärerischer Akt gesehen werden. Markus Brunner, unter anderem auch einer der Herausgeber*innen dieses Buches, hat mich auf folgenden Zusammenhang, den ich gerne aufgreife, aufmerksam gemacht: Im »Lockdown« sind viele Menschen isoliert zu Hause, 249

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bekanntlich nimmt häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder in Zeiten der sozialen Isolation und Quarantäne zu. Eine kanadische Frauenrechtsorganisation begann bereits im Frühjahr 2020, Aufmerksamkeit für ein Signal zu wecken, das Frauen und Kindern in einem Videocall ermöglichen solle, anzuzeigen, dass sie in Gefahr sind und Hilfe benötigen. Ein geheimes Handzeichen, das nicht bemerkt wird, selbst wenn sich der/die Täter*in im selben Raum wie das Opfer befindet. Die versteckte Botschaft kann von dem/der Seher*in entschlüsselt werden und diese*r kann Hilfe organisieren. Dies schließt wiederum an die anfangs erwähnte »Geiselhaft« an. Videos, in denen Entführungsopfer aus ihrer Geiselhaft berichten, werden ebenfalls auf »geheime« und versteckte Botschaften analysiert – wie spricht das Opfer, welche Körperhaltung nimmt es ein, etc. Es wird also auf den latenten Gehalt des Videos eingegangen und versucht, versteckte Informationen hinter der gezeigten Fassade zu entdecken und zu entschlüsseln. Fundstück 2: »#WeKeepYouGoing« von Vodafone

Die Werbung erschien in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift Brigitte. Abgebildet ist Folgendes: Eine junge Frau sitzt zu Hause vor dem Laptop, entspannt und doch konzentriert blickt sie auf den Bildschirm. Ein Kleinkind, etwa ein Jahr alt, steht auf ihrem Schoß, es sieht auch auf den Bildschirm. Die Mutter Gottes und das Jesuskind? Das Idealbild der Mutter ist dezent geschminkt, gut frisiert und trägt ein Oberteil, das in seiner Weißund Reinheit an Tenniskleidung erinnert. Unbefleckt. Das Kind trägt ein rotes Oberteil. Haarfarben wie auch die Farben der Kleidung finden sich in Schrift und Gesamtdesign der Werbung wieder. Eine runde Sache. Die Anwesenheit des Kindes scheint die Mutter nicht im Geringsten zu stören, ja überhaupt zu tangieren. Arbeit und Kind scheinen mühelos vereinbar, man gewinnt den Eindruck, der Spruch »Entspannte Mutter, entspanntes Kind« bewahrheite sich wieder einmal: im Homeoffice. Auch wenn den meisten Rezipient*innen klar sein dürfte, dass das Leben nicht schon allein deshalb reibungslos verläuft, weil das Internet reibungslos funktioniert (auch wenn das durchaus hilft): Wie schön und verlockend ist die Vorstellung, sich mithilfe des richtigen Internetproviders eine Welt einzurichten, in der sich Homeoffice und Kinderbetreuung spielerisch leicht vereinbaren, Kultur und Familie versöhnen lassen. Laut Lustprinzip streben wir nach dem Glück. In einer Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord, 1996) gibt es das Glück vor allem als in der Werbung zur Schau 250

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gestelltes Glück, als warenförmig und in Form von Waren zu konsumierendes Glück: Das Glück ist eine Frage der richtigen Accessoires und Gadgets und kann auch im »Lockdown« easy im Internet bestellt werden (wenn der Internetanschluss von Vodafone ist). Die Vorstellung des Glücks ist (erneut) die Vorstellung der souveränen Frau und Mutter: »Ich bin die Mutter, die alles unter einen Hut bringt, ich arbeite, sehe dabei gut aus und kümmere mich hervorragend um mein Kind.« Und aus der Werbung lernen wir, wie wir dieses Glück zu repräsentieren haben: So will ich sein und so soll ich ja auch sein. Die Frau in der Werbung macht alles richtig. In der Realität würde das Kind wohl eher quengelnd an der Mutter hängen, die auf dem Tisch stehenden Getränke umschmeißen oder wie wild auf den Tasten des Laptops herumdrücken. Die Werbung geht nicht auf die Triebwünsche des Kindes ein, sondern auf die Anforderungen der Kultur, auf Wünsche, die die gerade herrschende Kultur an die Familie richtet und die Eltern gerne erfüllen wollen. Man ist zu Hause eben nicht mehr nur »privat«, man repräsentiert sich selbst und Ausschnitte des eigenen Lebens, sei es das – hoffentlich aufgeräumte – Wohnzimmer oder Familienmitglieder, die hoffentlich vollständig angezogen und in guter Stimmung in das Meeting platzen. Dem Idealbild kann in der Realität nicht entsprochen werden. Fundstück 3: »#erstmalzuhause« von Penny

Die Werbung ist seit 30. März 2020 auf YouTube zu sehen. Der TV-Spot zeigt den Alltag von Familien während des »Lockdowns«, die Kinder können nicht in den Kindergarten, die Eltern sind im Homeoffice. Erzählt wird aus der Perspektive der Kinder, die die Zeit zu Hause in positiven Bildern darstellen: Man sieht Kinder durch die Wohnung toben, lesen, die Lichtsterne über dem Bett betrachten, Eltern in spielerischer Interaktion und beim Kuscheln. Eltern im Homeoffice versuchen, Arbeit und Kinder zu koordinieren, ein selbstgebasteltes Schild an der Tür eines Kinderzimmers sagt: »Kindergarten geschlossen«. Die Eltern wirken entspannt, manchmal angestrengt und auch mal müde. Einmal trotzt ein Kind, es erfährt, dass es heuer nicht in den Urlaub geht. Eine Mädchenstimme erzählt: »Wir sind jetzt alle erst mal zu Hause. Mama, Papa und ich. Wir dürfen zwar nicht mehr raus, aber dafür haben wir viel mehr Zeit zum Kuscheln. Mama und Papa spielen die ganze Zeit Computer. Homeoffice heißt das. Und ich helfe mit. Der Flur ist die beste Rennstrecke. Und bei so 251

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viel Spaß wird sogar Mama müde. Ich schaue mir immer die Sterne an. Und Hände muss ich ganz oft waschen. Obwohl die gar nicht schmutzig sind. Eigentlich wollten wir in den Urlaub fliegen. Dafür fliege ich durch die ganze Wohnung. Ihr seid die Besten. Ich hab Euch lieb, Mama und Papa.« Am Ende wird eingeblendet: »Danke, Mama und Papa« (»Mama und Papa« in Kinder-Krakelschrift). Eine Liebeserklärung an das traute Heim. Eltern sorgen dafür, dass Familien- und Arbeitsleben unter einen Hut gebracht und der Laden insgesamt am Laufen gehalten wird. Eltern sind hingebungsvoll, das wird auch von ihnen erwartet, aber es gibt immerhin Zugeständnisse an die Realität: Man kann auch mal müde sein und ja, der Urlaub findet dieses Jahr nicht statt, nicht so gut. Dies bleibt jedoch nicht unbemerkt oder unbelohnt, zum Finale der Werbung hin werden Gefühle der Anerkennung vermittelt, Eltern werden in ihren Bemühungen und Anstrengungen gesehen, es wird sichtbar gemacht, was sie alles tun und wie sie über ihre eigenen Grenzen hinaus gefordert werden. Die Erzählung endet in einem Happy End, Kinder bedanken sich, Penny bedankt sich: Lieben und geliebt werden – darum geht es in diesem Plot und dieser Inhalt führt bei den Rezipient*innen, primär bei den zusehenden Eltern, zu innerer Rührung und Bewegtheit. Das Glück wird in der Anerkennung gefunden: Endlich sieht mich jemand. Gleichzeitig wird das »Wir-Gefühl« gestärkt: Es gibt viele Familien da draußen, alle erfüllen ihre jeweiligen Rollen, sind am Limit und halten durch, aber: Gemeinsam kommen wir da durch. Danke. Kinder haben es bekanntlich leichter, Glück gewinnen zu können. Der Bezug zur Realität ist gelockert: Kinder fliegen nicht in den Urlaub, sondern durch die Wohnung. Der Genuss durch die eigenen Fantasiegebilde im Kopf bleibt in der Pandemie unbeeinflusst, Urlaub im Kopf. Im Wohnhaus, dem Ersatz für den Mutterleib, ist man sicher. Eltern sollen dafür sorgen, dass diese Welt nicht zerbricht. Dem Ernst der alltäglichen Arbeit nachzugehen und gleichzeitig »Leben zu spielen«, das heißt, die Moral aufrechtzuerhalten und positiv gestimmt zu bleiben, ist aber auf die Dauer sehr anstrengend. Fundstück 4: Ein Gespräch mit Freunden

Ein befreundetes Elternpaar erzählt über die Auswirkungen des »Lockdowns« auf ihre Beziehung. Beide sind sich einig, seit dem »Lockdown« 252

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seien Beziehung und Familienleben einfach viel besser und entspannter. Der Vater – in dieser Zeit ausschließlich im Homeoffice tätig – musste den langen Weg zur Arbeit nicht täglich zurücklegen und auch nicht zusätzlich frühmorgens noch die Kinder in die Kita bringen, die war ja geschlossen. Er hatte insgesamt viel mehr Zeit mit den Kindern. Die Mutter arbeitete weiter halbtags vor Ort in der Firma und musste die Kinder nach der Arbeit nicht abholen. Die Kinder waren nicht in Betreuung, ja, aber es sei doch auch mal schön gewesen, mehr Zeit mit den Kindern zu haben. Man bekomme sie viel mehr mit. Die Mutter lässt durchblicken, dass sie ein schlechtes Gewissen hat zu sagen: »Wir hatten im Lockdown eigentlich eine gute Zeit.« Der »Lockdown« war für dieses Paar nicht nur Be-, sondern auch Entlastung. Die Erfahrungen dieser Zeit waren Mitgrund dafür, dass sich der Vater einen familienkompatibleren Job suchte – er ist nun Lehrer. Beide Partner können ihren jeweiligen beruflichen wie auch privaten Bedürfnissen nachgehen, sie funktionieren gut als Team. Die Mutter war vor der Krise bereits wieder beruflich tätig gewesen, der Vater hatte eine zweimonatige Elternzeit in Anspruch genommen. Das Paar ist im Grunde konsequent seinen Weg weitergegangen, die Mutter blieb auch in der Krise weiterhin in herkömmlichem Stundenausmaß tätig. In den Anfangswochen der Pandemie wurde vermehrt die Besorgnis vor einer Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse im Privaten geäußert. Voraussetzung hierfür ist allerdings erst einmal eine Enttraditionaliserung der herkömmlichen Rollen. Dieses Paar verfolgt bereits seit Längerem einen gleichberechtigten Weg der Paarbeziehung. Durch die Krise scheint gelebte Gleichberechtigung eher zu- als abzunehmen. Die Krise hat dem Vater ermöglicht, über die eigene familiäre Situation zu reflektieren, er konnte es genießen, vermehrt Zeit zu Hause und mit den Kindern zu verbringen. Der Vater will diese Zeit nicht mehr missen und ändert sein Leben. Die Partner schätzen den jeweils anderen als »Teampartner«. Beide Partner erleben sich als handlungsfähig und autonom. Eventuell drängt sich für den/die Leser*in nun die Frage auf: Ist dieses Paar die berühmte Ausnahme von der Regel? Wer übernimmt denn nun die häusliche Care-Arbeit? Die im Juli 2020 erschienene Studie »Eltern während der Corona-Krise. Zur Improvisation gezwungen« des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden fasst zusammen, man könne mit Blick auf die Zeitspanne des ersten »Lockdowns« insgesamt von einer deutlichen Zunahme der Familienarbeit während der Kita- und 253

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Schulschließungen bei Müttern und Vätern sprechen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich die Väter seit März 2020 zeitlich deutlich stärker in der Familien- und Erziehungsarbeit engagieren, die Geschlechterunterschiede bei der Zeitverwendung sind hier sichtbar geringer geworden. Jedoch sei deutlich, dass es vorrangig die Aufgabe der Mütter ist, für die Betreuung der Kinder während der Corona-Krise zu sorgen. Die Frage, ob die durch Kita- und Schulschließungen notwendig gewordene zusätzliche Betreuungsleistung eher Tendenzen der Traditionalisierung oder einer egalitäreren Aufgabenteilung hervorgerufen hat, wurde auch in mehreren anderen Studien thematisiert. Die Gesamtschau der Studien zeigt hierbei jedoch ein äußerst gemischtes Bild. Bemerkenswert ist laut der Wiesbadener Studie die sehr hohe Familienzufriedenheit der Männer in Kurzarbeit. Dies zeige, dass viele Väter dieser ungewohnten, neuen Situation etwas Positives abgewinnen konnten und die Zeit mit den Kindern vielfach genossen. Welche Implikationen dies für die zukünftige Beteiligung von Vätern an der Familienarbeit hat, bliebe laut den Autor*innen der Studie eine offene Zukunftsfrage. Um nun noch einmal auf das oben geschilderte Paar zurückzukommen: Vielleicht arbeitet die Mutter mehr im Haushalt, vielleicht verbringt sie »am Ende des Tages« etwas mehr Zeit mit den Kindern als der Vater. Die jeweilige persönliche Leistung muss von Frau oder Mann nicht in die Waagschale geworfen werden oder gegeneinander aufgerechnet werden. Es scheint sie nicht zu stören. Eventuell handelt es sich bei der geschilderten Familiensituation um einen Einzelfall. Das liegt in der Natur des Fundstücks, man findet selten mehrere Exemplare von einer Sache. Fundstücke sind in der Regel Einzelstücke und vielleicht eher symptomatisch als repräsentativ. Fundstück 5: Psychotherapie mit Müttern in Zeiten von Corona

Die beschriebenen Patientinnen sind Mütter. Sie waren zum Beginn der Pandemie bereits seit längerer Zeit in Therapie. Die zwei Frauen brachten unabhängig voneinander eine ähnliche Thematik in die Psychotherapie ein: den Wunsch, den richtigen, passenden Beruf zu finden, einen Beruf, in dem man sich selbst verwirklichen und dem man mit Begeisterung nachgehen kann. Beide Frauen haben Kinder und haben die letzten Jahre mit Schwangerschaften, der Pflege und Betreuung der Kinder, mit Care- und Hausarbeit verbracht. Im »Lockdown« geschah Folgendes: Die geplan254

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ten und bislang regelmäßig stattfindenden Sitzungen der Psychotherapie kamen aufgrund der Kita- und Schulschließungen plötzlich und abrupt nicht mehr zustande. Beide Patientinnen wurden von mir aus aktiv kontaktiert und auf die Möglichkeit hingewiesen, die Psychotherapie per Videosprechstunde durchzuführen. Die Mütter antworteten in diversen E-Mails, dass sie vorrangig damit beschäftigt seien, den Alltag zu Hause zu regeln. Es sei schwierig, sich zu Hause zu organisieren, für die Kinder genug Raum und Zeit zu haben. Ebenso gäbe es keinen Raum und nicht genug Zeit, um der Psychotherapie nachgehen zu können. Der Mangel, irgendwelche ZeitRäume für sich selbst zu haben, äußert sich konkret im Mangel, einen geeigneten ungestörten Ort für eine Online-Therapiesitzung zu finden. Eine Psychotherapie konnte aus Mangel an Zeit und Ressourcen nicht mehr fortgesetzt werden und wurde beendet, die zweite Psychotherapie dauert – unterbrochen durch Betreuungsengpässe und Erkrankungen der Kinder – weiterhin an. Beide Väter arbeiten Vollzeit, die gesamte Betreuung der Kinder ist in diesen Familien im Grunde der Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Mutter. Argumentiert wird die Therapiepause bzw. der Therapieabbruch mit einem »Es geht halt nicht anders«. Die Frau ist diejenige, die zurückstecken muss, der Mann verdient nun einmal (mehr). Eigene Bedürfnisse, wie das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung oder das Bedürfnis nach finanzieller Anerkennung, werden vernachlässigt. Die Mutter kann aus der selbst gewählten Alternative den Gewinn erzielen, zu Hause für ihre Fürsorge, Betreuungsarbeit und Haushaltstätigkeit gemocht und geliebt zu werden. Kultur, und gerade die aktuell herrschende Kultur, zwingt uns zu dieser Ordnung, der bestmöglichen Ausnützung von Raum und Zeit. Wer macht den Haushalt? Wer arbeitet wo im Homeoffice? Wer kümmert sich wann um die Kinder? Familien werden von diesen zeit- und aufmerksamkeitsökonomischen Fragen umgetrieben, psychische Kräfte sollen bestmöglich geschont werden – man wird sie noch brauchen können. Dies scheint nicht die Zeit zu sein, sich gegen soziale Ungerechtigkeiten oder traditionelle Geschlechterverhältnisse aufzulehnen. Triebopfer sollen erbracht werden, individuelle Ansprüche (wie das Recht auf Arbeit oder auf Freizeit) stehen im Widerspruch zu gesellschaftlichen (»Die Kinder bleiben bei ihren Eltern!«). Für ein Stück Sicherheit wird ein Stück Glücksmöglichkeit eingetauscht. Schuldgefühle können durch den Weg der Anpassung weitgehend umgangen werden. Hinter Schuldgefühlen steht laut Freud Angst, genauer gesagt, die Möglichkeit von Angstempfindungen (Freud, 1930a). 255

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Bleibt man zu Hause, braucht man sich nicht mit einem – möglicherweise steinigen – Weg der beruflichen Autonomie auseinanderzusetzen. Möglicherweise verspürt man auch Schuld, Schuld, den eigenen Bedürfnissen nicht nachkommen zu können, dies bleibt aber weitgehend unbewusst und äußert sich als Unzufriedenheit, als Unbehagen. Eine Mutter äußerte ihr aktuelles Unbehagen in der Aussage »Es gibt kein Richtig«. Man könne also in der Corona-Krise nichts 100-prozentig richtig machen, es gibt zu viele Ungewissheiten und man ist zur Anpassung gezwungen. Das Gewissen bleibt somit immer belastet und dies schafft keine Motivation, Risiken einzugehen und etwas Neues auszuprobieren, also Kraft in Selbstverwirklichung zu investieren. Fundstück 6: Spielplatzgespräche – Beobachtungen von Eltern an ihren Kindern

Nach Beendigung des fünfwöchigen »Lockdowns« können sich Familien wieder untereinander treffen, unter den gebotenen Umständen natürlich vorzugsweise im Freien und mit Abstand – Familien erobern also die Spielplätze zurück. Rot-weiß gestreifte Flatterbänder werden entfernt, Verbotsschilder in den Müll getrampelt und so mit sofortiger Wirkung eine typische Szene des Stadtbildes wiederbelebt: Kinder erkunden Spielgeräte oder spielen im Sand, mit Getränken und Pausensnacks bewaffnete ElternGrüppchen formieren sich am Rande des Spielplatzes. Die Gesprächsthemen drehen sich inhaltlich ausschließlich um die Pandemie, primär um die individuell-getätigten Erfahrungen der gerade überstandenen Isolationszeit. Die Erfahrungen der Eltern ähneln sich, Narrative erscheinen fast deckungsgleich: Eltern haben den Alltag im Grunde gut bewältigen können, natürlich gab es Tage, an denen der Haussegen schief hing und man am Limit war – alles in allem ist man aber mit der eigenen und der familiären Performance ganz zufrieden. Ergänzt wird: Länger hätte der »Lockdown« aber wirklich nicht dauern dürfen. So weit, so gut. Innerlich aufhorchen musste ich bei der Schilderung von beobachteten Verhaltensänderungen der Kinder: Kinder hatten Angst davor, nach draußen zu gehen und das eigene Heim zu verlassen, dazu große, eher vage Befürchtungen vor Ansteckung. Die Außenwelt erschien den Kindern als bedrohlich. Kindern, die ihren Alltag bereits seit mehreren Monaten problemlos ohne Windel bewältigten, war ab und an »ein Malheur« passiert. 256

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Kinder spielten weniger untereinander. Sie hielten sich am Spielplatz vermehrt in der Nähe ihrer Eltern auf oder forderten diese auf, sie zu den Spielgeräten zu begleiten und mit ihnen zu spielen. Die Kinder initiierten seltener spontane Spielaktionen. Kinder versuchten also in unbewusster Regression ihre Angst abzuwehren, sei es in Verhaltensäußerungen wie dem Rückzug zu Hause, im Einnässen oder in anklammerndem Verhalten. Zusätzlich erschienen Kinder stärker in sich gekehrt und weniger einfalls- und fantasiereich. Dieses Verhalten ist nachvollziehbar. Die Ereignisse waren zu Beginn der Krise ohne jegliche Vorwarnungen über die Kinder hereingebrochen, Kitas wurden geschlossen und der Kontakt zu den engsten Freunden verboten, Abstandsregeln und die Isolation im Heim wurden zum Alltag. Kleine Kinder galten als »schwierig zu handhaben«, sie seien nicht fähig, Abstandsregeln oder Hustenetikette zu beachten und mit Gesichtsmasken machen sie nur Quatsch. Hinzu kommt, dass Kinder oft gar keine Symptome zeigen und die Krankheit vielleicht gänzlich unbemerkt verbreiten. Das »unkontrollierbare« Kind in seiner zügellosen Körperlichkeit schien sich unmöglich in die Situation integrieren zu lassen. Das Kleinkind wurde der Gesellschaft »unheimlich« und sollte nun erst einmal zu Hause bleiben – sollen sich die Eltern darum kümmern. Kindliche Sexualität und archaische Triebe zeugen davon, dass Kinder nicht aufeinander oder auf Erzieher*innen losgelassen werden dürfen. Die kindliche »Urhorde« kann Null-Risiko-Ansprüche in Sachen Infektion nicht erfüllen. Zu wertvoll sind körperliche Berührung, unkontrollierte Bewegung und der frühkindliche Forscherdrang. Und ja: Kinder haben wenig mit Schönheit, Sauberkeit und Ordnung am Hut, sie streben nach Lustvermehrung. Gerade im Kindergartenalter zeigen Kinder größtes Interesse an der Exkretionsfunktion. Kinder gehen gerne gemeinsam auf die Toilette, sie kneten und matschen gerne, die Wörter »Pipi« und »Kacka« sind zum Leidwesen der Eltern fixer Bestandteil der Kindersprache und werden mit inbrünstiger Leidenschaft angewandt. Das Kind entwickelt – siehe Freuds Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905d) – von sich aus die seelischen Gegenkräfte (Reaktionsregungen) Ekel, Scham und Moral gegen (sexuelle) Triebregungen, die Erziehung baut im Idealfall auf diesen vorgezeichneten Dämmen erst weiter auf. Erst später wandelt sich das beschriebene Interesse des Kindes unter anderem in den Sinn für Reinlichkeit und Ordnung, Kulturansprüche, die weder lebensnotwendig noch Genussquelle sind. Wird die Reinlichkeitserziehung zu früh zu weit getrieben sowie der motorische Expansionsdrang ein-

https://doi.org/10.30820/9783837977790

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geengt, wird Kindern das Gefühl vermittelt, nicht »loslassen« zu dürfen. Es wird sich zeigen, wie Kleinkinder dieser Generation alsbald im Rahmen der Einschulung auf die Trennung von den Eltern reagieren oder wie sie später als Jugendliche diverse Ablösungssituationen der Pubertät erleben werden – zukünftige Lebensphasen, in denen das Ausprobieren von einer neuen Selbstständigkeit im Mittelpunkt steht. Eventuell werden Konflikte und Machtkämpfe in vielen Familien vermehrt auftreten. Vorstellbar wäre auch eine Zunahme analer Charaktere. Keine verwunderliche Folge in einer Gesellschaft, deren Mitglieder dazu tendieren, sich in einer Pandemie mit Toilettenpapier einzudecken. Interessant für mich war und ist, dass im Rahmen der Diskussionen rund um das Thema Pandemie-Bekämpfung relativ wenig die Folgen des »Verbots des sozialen Lebens« aus der Sicht des Kindes diskutiert wurden. Es gab jedoch eine Änderung in der politischen Vorgehensweise: Kindergärten und Schulen bleiben diesen Herbst im »Lockdown light« in Deutschland bis auf Weiteres erst einmal geöffnet. Dies kann als Zugeständnis an die Notwenigkeit von extrafamiliärer Betreuung gedeutet werden. Ob es dabei allerdings in erster Linie um das Kindeswohl geht, um das Anliegen, Kinder ihre Freund*innen treffen zu lassen, sie zu fördern und sie in ihrem außer-familiären Explorationsverhalten zu unterstützen, oder doch vor allem darum, die Arbeitsfähigkeit der Eltern sicherzustellen, sei dahingestellt. Auffällig ist aber, wie wenig wichtig – im Fokus auf das Kind – soziale und pädagogische Einrichtungen in der Gesellschaft plötzlich werden, wo ihnen doch vor Corona so viel Bedeutung zugemessen wurde.

Krise als Chance? Die gesammelten Fundstücke geben einen Überblick über die von mir wahrgenommenen und subjektiv als interessant befundenen Wunschbilder, Erfahrungen und Verhaltensweisen von Eltern und deren Kleinkindern in der Zeit der Pandemie. Es ging um Selbstdarstellung (Fundstück 1), Wunschdarstellungen in der Werbung (Fundstücke 2 & 3), um reale Erfahrungen von Paaren (Fundstück 4), im Besonderen von Müttern (Fundstück 5), und um Reaktionen von Kindern auf den »Lockdown« (Fundstück 6). Es bleibt eigentlich nichts mehr zu sagen. Krise als Chance wird vertagt. Doch noch etwas: Oft ist nicht wichtig, was erzählt wird, sondern das, was nicht erzählt wird, was eventuell sogar der (drohenden) Bewusstwer258

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dung entzogen wird. Was ist mit den Geschichten, die – sei es aus empfundener kulturell-determinierter »Unstimmigkeit«, aus befürchtetem gesellschaftlichem Urteil, befürchteter sozialer Wertung oder aus Angst oder Scham heraus – nicht erzählt werden? Frauen erzählen nicht, dass sie den Wunsch haben, der Partner solle mehr zu Hause sein, solle auch Aufgaben übernehmen, solle sich mehr Zeit mit den Kindern beschäftigen. Sie gehen nicht offen auf ihre Überforderung ein. Man will doch eine gute Mutter sein. Die Fundstücke zeigen, dass Frauen Schwierigkeiten haben, ihre Frustration über den »erzwungenen« Rückzug direkt zu kommunizieren und Probleme haben, vom Partner offen Mithilfe zu fordern. Anscheinend herrscht in vielen Köpfen noch immer ein Bild von Mütterlichkeit beziehungsweise von der Rolle der Frau in der Familie »wie zu Freuds Zeiten«: Die Frau »muss zu Hause sein wollen«, will im Grunde nur das Kind bei sich haben und der Mann wird versuchsweise an die Familie angebunden. Vielleicht befürchten sie kein »Du« zu haben, dem sie ihre Geschichte erzählen können. Eine Chance wäre hier also, sich an das »Du« heranzutrauen und gleichzeitig den eigenen Begriff von Mütterlichkeit zu hinterfragen. Übrig bleibt für mich die Frage, ob sich durch die »gegebene Notwendigkeit« des Umgangs mit der Pandemie nicht sogar ein Unbehagen verdichtet. Müssen Sachverhalte und Rollenverteilungen für den Moment so sein, »weil sie so sind« und anscheinend nicht anders sein können? Was ist mit den nicht gesprochenen Narrativen, den aus Mangel an Sprach-Räumen unausgesprochenen Wahrnehmungen, dem Erleben, das nicht gehört werden kann, weil es nicht verbalisiert werden »darf«? Zwischen Gesellschaft, Politik und Kultur und den Eltern besteht eine Autoritätsschieflage, die an eine Eltern-Kind-Beziehung erinnert. »Warum ist das so?«, »Warum darf ich das nicht?« werden sinngemäß beantwortet mit Phrasen wie »Das ist jetzt so!« oder »Weil ich es sage« oder eben auch »Wegen Corona«. Alles »innere Auflehnen« wird bereits als unangemessen kritischer Akt gesehen, sogar als »unverschämt«, »anmaßend«. Was passiert eigentlich mit der Patientin, die ihre Therapie nicht mehr weiterführen kann? Sie erzählt nicht mehr, nicht, weil sie »keinen Bedarf mehr hat« oder alles bereits gesagt wurde, im Gegenteil: Es wäre so viel und so Dringendes zu (be-)sprechen und deshalb kann nun nicht weiter gesprochen werden. Die Frau mit dem Block hat in ihrem kleinen Film gar (nicht) nichts gesagt. 259

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Es wird spannend bleiben, auf welche Art die erzählten, gesprochenen und die nicht gesprochenen Erlebnisse, Eindrücke und Empfindungen die Zukunft prägen werden. Eventuell lohnt es für jede*n, und ich denke ganz allgemein an die Gesellschaft und auch im Speziellen an Psychotherapeut*innen, aufmerksam wahrzunehmen, »was das macht« und wie es weitergehen wird. Welche Themen werden durch die »Verdichtung des Nicht-Sagbaren« früher oder später an die Oberfläche gespült – gegebenenfalls gerade weil die Dynamik im Moment »so ist, wie sie ist«? Vielleicht kann und darf die – zum Teil schmerzliche – Verdichtung, die der seit Monaten dynamischen Situation innewohnt, sogar in die Sichtbar- und Bewusstwerdung des Einzelnen und der Gesellschaft gelangen und fände dort Äußerung. Und dies könnte wiederum ein Unbehagen auslösen, was vielleicht die Voraussetzung dafür wäre, dass Krise doch einmal Chance sein darf. Fundstücke #WeKeepYouGoing« von Vodafone, erschienen im Print Magazin der Brigitte (Juni 2020). ErstmalzuPenny (2020, 30. März). #erstmalzuhause. (Video). YouTube. https://www.you tube.com/watch?v=E1TwrGhlGE (17.02.2021).

Literatur Bujard, M., Laß, I., Diabate, S., Sulak, H. & Schneider N. F. (2020). Eltern während der Corona-Krise. Zur Improvisation gezwungen. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. https://www.bib.bund.de/Publikation/2020/pdf/Eltern-waehrend-der -Corona-Krise.pdf?__blob=publicationFile&v=7 (16.3.2021). Debord, G. (1996). Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat. Freud, S. (1905c). Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. GW VI. Freud, S. (1905d). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. GW V, 33–145. Freud, S. (1930a). Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419–505.

Biografische Notiz Alexandra Moritz, Mag., arbeitete mehrere Jahre als Klinische Psychologin, Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern in freier Praxis in Wien, parallel dazu war sie als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in der Psychotherapeutischen Kinderambulanz der Sigmund Freud PrivatUniversität und später der WGKK tätig. Aktuell arbeitet sie als Psychologische Psychotherapeutin (Analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologische Psychotherapie) in freier Praxis in Frankfurt am Main. Neben der klinischen Praxis ist sie seit bald zehn Jahren als Lektorin und später

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Unbehagliches Behagen in der Kultur auch als Lehranalytikerin an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien (Department für Psychotherapiewissenschaft und Department für Psychologie) tätig, in Deutschland nun auch an der Sigmund Freud PrivatUniversität Berlin. Schwerpunkte ihrer Lehre sind Krankheitslehre, Behandlungstechnik und Kasuistik. Sie lebt in einer Kleinfamilie und hat einen vierjährigen Sohn.

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