Das Johannesevangelium Teilband 1: Joh 1,1 – 10,42 978–3–7887–3275-2

»… damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes«, das ist das Ziel, weswegen das Johannesevangelium ge

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Polecaj historie

Das Johannesevangelium Teilband 1: Joh 1,1 – 10,42
 978–3–7887–3275-2

Table of contents :
Vorwort ................................................................................ 5
Einlei tung ....................................................................... 11
Die Aus legung ............................................................... 21
1,1–51 Hinführung: We r is t J e sus? ............ 21
1,1–18 Die Geschichte des Wortes und das Zeugnis
des Täufers ....................................... 22
1,19–51 Das Zeugnis des Täufers und das Bekenntnis
der ersten Jünger .............................. 44
1,19–34 Der Täufer: Zeuge für Jesu Person und
Auftrag .................................................. 44
1,35–51 Die Berufung der ersten Jünger und ihr
Bekenntnis zu Jesus ................................ 56
A Ers t er Haupt t e i l ................................. 67
2,1 – 12,50
Die Of f enbarung der Herrlichkei t
des Sohnes vor der We l t .................. 67
I
2,1 – 6,71
Leben in Fül le – J esu Wirken in
Ga l ilä a , Samaria und J erusa lem .....
68
2,1 – 4,54 Von Kana nach Kana – erste Ze ichen
und Gespräche J esu ................. 69
2,1–12 Die Hochzeit zu Kana und die Herrlichkeit
Jesu ................................................. 69
2,13–25 Die Tempelreinigung und Jesu Wirken in
Jerusalem ............................................... 76
3,1–21 Das Gespräch mit Nikodemus und der
Weg zum Heil ........................................ 83
3,22–36 Das Zeugnis des Täufers und die Sendung
des Sohnes .................................... 98
4,1–42 Jesu Wirken in Samaria – eine unerwartete
Mission ...........................................
106
4,1–26 Lebendiges Wasser – das Gespräch mit
der Frau am Jakobsbrunnen ................... 106
4,27–42 Reif zur Ernte – der Glaube der Samaritaner
......................................................... 119
4,43–54 Das zweite Zeichen in Kana – ein Kind
wird geheilt ............................................ 128
5,1 – 6,71 Ause inanderse t zungen in Jerusalem
und in Gali läa .................................... 133
5,1–47 Eine Heilung und ihre Folgen ................ 134
5,1–18 Die Heilung eines Kranken am Sabbat ... 135
5,19–30 Die Vollmacht des Menschensohns ........ 142
5,31–47 Zwischen Verteidigung und Anklage ..... 152
6,1–71 Jesus – das Brot des Lebens .................... 160
6,1–15 Jesus gibt mehr als fünftausend Men schen
zu essen ........................................ 161
6,16–21 Jesus erscheint seinen Jüngern auf dem
See ......................................................... 167
6,22–59 Jesus offenbart sich als Brot für den Hun ger
nach Leben ....................................... 170
6,60–71 Jesus provoziert Ent-Scheidungen im Kreis
der Jünger ............................................. 190
I I
7,1 – 12,50
Leben oder Tod – Entscheidung in
J e rusalem ............................................ 198
7,1 – 8,59 Der Widers tre i t der Meinungen
beim Laubhüt t enf e s t ........................ 198
7,1–13 Die Zeit der Welt und die Zeit Jesu ....... 199
7,14–36 Fragen zu Jesu Vollmacht, Herkunft und
Ziel ....................................................... 205
7,37–52 Die große Einladung .............................. 215
7,53 – 8,11 Jesus und die Ehebrecherin ..................... 223
8,12–20 Jesus – das Licht der Welt ...................... 223
8,21–30 Die entscheidende Frage ......................... 229
8,31–59
Befreiende Wahrheit und tödlicher Widerstand
......................................................
234
9,1 – 10,21 J e sus – Hei ler und Hir te .................. 251
9,1–41 Die Heilung eines Blindgeborenen am
Sabbat ................................................... 252
10,1–21 Jesus – der gute Hirte ............................ 268
10,22–42 Entsche idung beim Tempelwe ihfes t 282
Anhang ............................................................................ 293
7,53 – 8,11 Jesus und die Ehebrecherin .................... 293
Weiterführende Literatur ................................................... 301
Abkürzungen .................................................................... 305

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Die Botschaft des Neuen Testaments Herausgegeben von Walter Klaiber

Walter Klaiber Das Johannesevangelium

Vandenhoeck & Ruprecht

Walter Klaiber

Das Johannesevangelium Teilband 1: Joh 1,1 – 10,42

2017

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3275-2 © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com Satz: Volker Hampel

Vorwort

»… damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes«, das ist das Ziel, weswegen das Johannesevangelium geschrieben wurde (Joh 20,31). Und diese Einladung zum Glauben erfolgt, »damit ihr durch den Glauben das Leben habt«. Mit seinem Bericht über das Wirken Jesu von Nazareth will Johannes die Frage beantworten: Wer war und wer ist Jesus von Nazareth? Und die Antwort auf diese Frage ist für ihn auch die Antwort auf die entscheidende Frage des Lebens: Was gibt meinem Leben wirklichen Sinn und bleibenden Halt? Damit die Menschen beide Fragen richtig beantworten können, hat Johannes sein Evangelium geschrieben, obwohl es schon drei andere gab. Es wurde ganz anders als die anderen, weil es die Bedeutung der Person Jesu in völlig neuer Weise in den Vordergrund stellt. Deshalb hat das 4. Evangelium über viele Jahrhunderte hindurch großen Einfluss auf Frömmigkeit und Theologie der Christenheit gehabt. Luther hat es hoch geschätzt. Für ihn war es »das eine, zarte, rechte Hauptevangelium und den anderen dreien weit, weit vorzuziehen«. Ein so kritischer Philosoph wie J.G. Fichte hielt es für die »ächteste und reinste Urkunde« des Christentums: »Nur mit Johannes kann der Philosoph zusammenkommen, denn dieser allein hat Achtung für die Vernunft und beruft sich auf Den Beweis, den der Philosoph allein gelten lässt: den inneren.« Das scheint sich geändert zu haben. Vielen ist das Johannesevangelium fremd geworden. Man kennt (und schätzt) noch ein paar Kernsprüche. Aber die Art seiner Argumentation und die Absolutheit, mit der es nur den Glauben an Christus gelten lässt, seine heftige Polemik gegen »die Juden« und die fast unmenschliche Souveränität des Wundertäters ist für viele schwer nachvollziehbar. Der Theologe Yorick Spiegel schrieb zu Joh 5,24–29: »Dieser Text ist ein sehr fremder, wiederständiger, widerlicher Text; er ruft massive, fast körperliche Abwehrreaktionen in mir hervor. Er ist belastet und belastend«, so wie das ganze Evangelium durch das »monomane Abspulen von Formeln« und sein »wichtigtuerisches Gesums von Leerformeln« schwer erträglich ist. So radikal werden nicht alle ihre Abneigung äußern. Aber das harte Urteil trifft eine Stimmung bei vielen, die sich lieber an der Bergpredigt oder den Gleichnissen Jesu orientieren.

6

Vorwort

Dieser Kommentar will helfen, Johannes besser zu verstehen. Drei Ziele sind dabei leitend: 1. Durch eine genaue Einzelauslegung soll die Eigenart der johanneischen Argumentationsweise verständlich werden. Was will der Evangelist mit seinen »Formeln« sagen und wie füllt er sie mit einer guten Botschaft? 2. Eine sorgfältige Analyse des Aufbaus des Evangeliums und seiner Teile soll sein theologisches Profil sichtbar machen. Trotz mancher Brüche im Text folgt Johannes einer eigenen Logik, die durchaus nachvollziehbar ist, wenn man sich auf sie einlässt. 3. Es sollen die Grundlinien der Botschaft des Evangeliums aufgezeigt und Impulse für ihre Übersetzung in unsere Zeit geboten werden. Natürlich erhalten Leser und Leserinnen auch alle notwendigen Informationen über den historischen Hintergrund der Texte, sowie über die wichtigsten Hypothesen zur Entstehungsgeschichte des Evangeliums. Das alles braucht Raum und deshalb ist der Kommentar umfangreicher geworden als geplant. Aber mein Eindruck ist, Johannes muss heutigen Lesern gründlich erklärt werden. Der zweite Band wird in Kürze folgen. Ich bin dankbar, dass der Kommentar trotz einer schweren Erkrankung meiner Frau, die auch mein Leben stark verändert hat, pünktlich erscheinen kann. Sie konnte diesmal wenig gegenlesen. Ich hoffe, der Text ist dennoch verständlich geblieben. Christina Cekov hat nicht nur Schreibfehler korrigiert, sondern auch auf Verständnisprobleme hingewiesen, ebenso wie Gabriele Hägele für die Einleitung und Annegret und Werner Schmolz für Kap. 1. Dr. Volker Hampel hat den Band wie immer sorgfältig lektoriert und die Druckvorlage erstellt. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Ich hoffe, dass der Kommentar hilft, das Evangelium so zu lesen, dass sich die Zusage Jesu bewahrheitet: »Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Joh 8,31f). Tübingen, im Oktober 2016

Walter Klaiber

Der Fundort der Zitate im Vorwort ist nachgewiesen unter Weiterführende Literatur, c) unten S. 302f.

Inhalt

V orwort ................................................................................

5

Ein leit ung .......................................................................

11

Di e Auslegung ...............................................................

21

1,1–51

Hinführu ng: W e r is t J e sus? ............

21

1,1–18

Die Geschichte des Wortes und das Zeugnis des Täufers .......................................

22

1,19–51 1,19–34 1,35–51

Das Zeugnis des Täufers und das Bekenntnis der ersten Jünger .............................. Der Täufer: Zeuge für Jesu Person und Auftrag .................................................. Die Berufung der ersten Jünger und ihr Bekenntnis zu Jesus ................................

44 44 56

A

Ers t er Haup t t e i l .................................

67

2,1 – 12,50

D i e Of f e nbaru ng der Herrlichkeit des Sohnes vor der W e lt ..................

67

I 2,1 – 6,71 2,1 – 4,54 2,1–12 2,13–25 3,1–21

Leben in Fül l e – J esu Wirken in G a l il ä a , S a m ari a und J erusa le m .....

68

Von Kana nach Kana – erst e Ze ichen und G espräche J esu .................

69

Die Hochzeit zu Kana und die Herrlichkeit Jesu .................................................

69

Die Tempelreinigung und Jesu Wirken in Jerusalem ...............................................

76

Das Gespräch mit Nikodemus und der Weg zum Heil ........................................

83

8

Inhalt

3,22–36 4,1–42

Das Zeugnis des Täufers und die Sendung des Sohnes ....................................

98

Jesu Wirken in Samaria – eine unerwartete Mission ........................................... Lebendiges Wasser – das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen ................... Reif zur Ernte – der Glaube der Samaritaner .........................................................

119

Das zweite Zeichen in Kana – ein Kind wird geheilt ............................................

128

A use inanderse t z ungen in J erusale m und in Ga li läa ....................................

133

5,1–47 5,1–18 5,19–30 5,31–47

Eine Heilung und ihre Folgen ................ Die Heilung eines Kranken am Sabbat ... Die Vollmacht des Menschensohns ........ Zwischen Verteidigung und Anklage .....

134 135 142 152

6,1–71 6,1–15

Jesus – das Brot des Lebens .................... Jesus gibt mehr als fünftausend Menschen zu essen ........................................ Jesus erscheint seinen Jüngern auf dem See ......................................................... Jesus offenbart sich als Brot für den Hunger nach Leben ....................................... Jesus provoziert Ent-Scheidungen im Kreis der Jünger .............................................

160

4,1–26 4,27–42 4,43–54 5 ,1 – 6,71

6,16–21 6,22–59 6,60–71 II 7,1 – 12,50

106

106

161 167 170 190

Leben oder Tod – Entsch eidung in J e rus al e m ............................................

198

D er W iders tr e i t der Meinungen beim Laubhüt t e n f e s t ........................

198

7,1–13

Die Zeit der Welt und die Zeit Jesu .......

199

7,14–36

Fragen zu Jesu Vollmacht, Herkunft und Ziel .......................................................

205

Die große Einladung ..............................

215

7,1 – 8,59

7,37–52

9

Inhalt

7,53 – 8,11

Jesus und die Ehebrecherin .....................

223

8,12–20

Jesus – das Licht der Welt ......................

223

8,21–30

Die entscheidende Frage .........................

229

8,31–59

Befreiende Wahrheit und tödlicher Widerstand ......................................................

234

9 ,1 – 10,21

J e sus – Hei l er u nd Hirt e ..................

251

9,1–41

Die Heilung eines Blindgeborenen am Sabbat ...................................................

252

10,1–21

Jesus – der gute Hirte ............................

268

10,22–42

En tsch e idung bei m T e mpelwe ih f est

282

Anh ang ............................................................................

293

7,53 – 8,11

Jesus und die Ehebrecherin ....................

293

Weiterführende Literatur ...................................................

301

Abkürzungen ....................................................................

305

Einleitung

»Das eine, zarte, rechte Hauptevangelium«, so hat Martin Luther das Johannesevangelium genannt und sich nicht gescheut hinzuzufügen, es sei »den anderen dreien weit, weit vorzuziehen und höher zu heben« (Vorrede zum Neuen Testament 1522). In der Tat, wer sich nach der Lektüre der ersten drei Evangelien mit dem Werk des vierten Evangelisten beschäftigt, mag den Eindruck bekommen, eine andere Welt zu betreten. Zwar ist deutlich, dass im Grundsatz die gleiche Geschichte erzählt wird. Der Beginn des Wirkens Jesu ist mit dem Auftreten Johannes des Täufers verbunden, seine Wirksamkeit spielt sich im Spannungsbogen zwischen Galiläa und Jerusalem ab, er erregt Aufsehen durch spektakuläre Wunder und wird bei seinem letzten Aufenthalt in der heiligen Stadt von einem seiner Jünger verraten, von den Schergen der jüdischen Oberen verhaftet und vom römischen Statthalter Pontius Pilatus zum Tod am Kreuz verurteilt. Das aber ist nicht das Ende. Der gekreuzigte Jesus erscheint seinen Jüngerinnen und Jüngern auf wunderbare Weise und beauftragt sie, sein Werk weiterzuführen. Die Eigenart des Johannesevangeliums Aber wer das Evangelium aufmerksam liest, merkt bald: Neben den Gemeinsamkeiten steht eine Fülle von Unterschieden. Das betrifft zunächst den zeitlichen Rahmen der Ereignisse. In den ersten drei Evangelien beginnt das Wirken Jesu in Galiläa und endet bei seinem einzigen Aufenthalt in Jerusalem anlässlich eines Passahfests. Bei Johannes wandert Jesus mehrfach zwischen Galiläa, Samaria und Judäa hin und her. Es wird vom Besuch verschiedener Feste in Jerusalem berichtet, darunter zwei oder drei Passahfeste, sodass sich die Wirksamkeit Jesu über mindestens zwei Jahre erstreckt haben muss. Viele der Begebenheiten, von denen Johannes berichtet, kennen die anderen Evangelien nicht, und umgekehrt. Nur wenige Geschichten werden in allen vier Evangelien erzählt, und auch dort, wo offensichtlich die gleichen Ereignisse gemeint sind, gibt es Unterschiede. Die Berufung der ersten Jünger z.B. verläuft in Joh 1, 35–51 ganz anders als in Mk 1,16–20, und die Tempelreinigung erfolgt bei Johannes schon beim ersten Besuch Jesu in Jerusalem

12

Einleitung

(2,13–17), in den anderen Evangelien dagegen am Ende seiner Wirksamkeit (vgl. Mt 21,12–17; Mk 11,15–19; Lk 19,45–48). Auch in der Art, wie er von Jesu Verkündigung berichtet, geht Johannes eigene Wege. In den ersten drei Evangelien bestehen Jesu Gespräche und Reden meist aus kurzen, prägnanten Sätzen. Dazu treten eindrucksvolle Gleichnisse, durch die Jesus seine Botschaft veranschaulicht. Inhaltlich steht in der Mitte seiner Verkündigung die Ankündigung der Nähe des Reiches Gottes und die Aufforderung, sich dem Kommen Gottes in Gericht und Gnade zu öffnen. Über seine Person spricht Jesus nur selten. Anders im Johannesevangelium: Hier treffen wir auf lange Reden Jesu, in denen er mit Formulierungen, die sich oft wiederholen, die Bedeutung seiner Person und seiner Sendung erläutert. An die Stelle der Gleichnisse treten Bildworte wie »Ich bin der gute Hirte«, die zeigen, was Jesu Kommen und Wirken für die Menschen bedeuten. In der Mitte der Verkündigung Jesu steht der Ruf zum Glauben an ihn als den von Gott gesandten Messias Israels und Retter der Welt. Charakteristisch ist auch der Anfang des Evangeliums: Wie Matthäus und Lukas stellt Johannes vor den Bericht vom Auftreten des Täufers und dem Beginn der Wirksamkeit Jesu einen Abschnitt, der die »Vorgeschichte« aufzeigt. Aber er schildert nicht wie die anderen die Verwurzelung Jesu in Geschichte und Frömmigkeit Israels. Sein Evangelium beginnt mit dem Satz »Im Anfang war das Wort« (1,1) und stellt damit Jesu Kommen in den Horizont des Schöpfungshandelns Gottes an der ganzen Menschheit (1,1–18). Die neue Perspektive, aus der heraus Johannes die Jesusgeschichte erzählt, zeigt sich auch am Schluss des Evangeliums. Anstelle der sog. Endzeitrede der anderen Evangelien (Mk 13; Mt 24f; Lk 21) tritt bei Johannes ein langer Abschnitt mit Abschiedsreden Jesu an seine Jünger (13–17). Die Frage, wie es der Gemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen Jesu nach Ostern gehen wird, wird also ausdrücklich thematisiert. Und ein Letztes: In seinem Passionsbericht stimmt Johannes mit den anderen Evangelien zumindest in den Grunddaten des Ablaufs überein. Auffallend ist aber die unterschiedliche Akzentsetzung in der Schilderung der Haltung Jesu. Nach Mt 27,46.50 und Mk 15,34.37 stirbt Jesus mit den Worten aus Ps 22,2 »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« und einem lauten Schrei. Nach Joh 19,30 aber ist Jesu letztes Wort am Kreuz »Es ist vollbracht!« Für Johannes ist schon in der Stunde des Todes Jesu entschieden: Jesus stirbt als Sieger.

Einleitung

13

Wie sind diese Unterschiede zu erklären? Man kann die Antwort auf diese Frage in unterschiedlicher Richtung suchen. 1. Ein Teil der Unterschiede rührt daher, dass der Evangelist Johannes auf andere Überlieferungen zurückgreift als die übrigen Evangelien. Er hat Zugang zu Traditionen und Informationen, die sich von denen der anderen Evangelisten unterscheiden. Über deren historische Zuverlässigkeit und ihre theologische Prägung muss in der Einzelauslegung gesprochen werden. 2. Nicht selten hat man die ganz andere Art und Weise des Redens Jesu bei Johannes dadurch zu erklären versucht, dass dieser nicht von der öffentlichen Verkündigung Jesu berichte, sondern davon, wie Jesus im Kreis seiner Jünger geredet habe. Diese Auskunft widerspricht aber dem Befund im Evangelium. In seiner ersten Hälfte setzt sich Jesus fast immer mit Menschen außerhalb des Jüngerkreises auseinander; erst ab Kap. 13 spricht er ausschließlich mit seinen Jüngern, ohne dass das an der Art der Rede etwas ändert. 3. Die Unterschiede sind vor allem durch die andere theologische Perspektive des 4. Evangeliums verursacht. Drei Beobachtungen können helfen zu verstehen, wie es zu einer solch unterschiedlichen Weise des Berichtens kommen konnte. Erstens: Auch wenn wir die drei anderen Evangelien miteinander vergleichen, stellen wir fest, dass sie nicht auf eine absolut wörtliche Übereinstimmung bei der Weitergabe der Worte und Taten Jesu Wert legen. Matthäus z.B. hat bei der Abfassung seines Werks ziemlich sicher das Markusevangelium benutzt. Dennoch setzt er durchaus eigene Akzente, wenn er den Eindruck hat, dass damit Jesu Reden und Wirken besser charakterisiert werden. Zweitens: Antike Geschichtsschreiber legen weniger Wert auf eine getreue Wiedergabe der »Fakten«, sondern vor allem darauf, dass die Bedeutung und die Hintergründe des Berichteten erkennbar werden. Das wird durch die Anordnung des Materials und durch die Art, wie die Reden der Hauptakteure wiedergegeben werden, erreicht. Ziel ist die möglichst klare Charakterisierung der Beweggründe und Absichten der handelnden Personen. Es soll nicht nur von außen Licht auf die Tatsachen geworfen werden, sondern das Geschehen von innen her durchleuchtet werden. Alle Evangelisten wollen durch ihre Darstellung Antwort auf die Frage geben: Wer war und wer ist Jesus von Nazareth? Alle tun das, indem sie von seinem Wirken, Sterben und Auferstehen berichten. Aber in die Erzählung von seinen Reden und Taten verweben sie Hinweise darauf, was sie im Licht des Ostergeschehens über die wahre Bedeutung seiner Verkündigung, seines Handelns und seines Leidens erkannt haben. Das Johannesevangelium ist

14

Einleitung

zweifellos dasjenige Evangelium, in dem diese Neugestaltung am entschiedensten vollzogen wurde. Drittens: Johannes gibt selbst am Ende seines Buchs Auskunft über das Ziel seines Unternehmens. Was er berichtet, ist »aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen« (20,31). Johannes will durch seine Arbeit bewirken, dass Menschen erkennen und glauben, dass Jesus der verheißene Messias und der Sohn Gottes ist, also der, in dem Gott auf einzigartige Weise begegnet. Und er möchte dazu verhelfen, dass Menschen durch den Glauben Anteil am wahren Leben erhalten und so zu ihrem Heil finden. Aber er ist überzeugt: Um das bei den Menschen seiner Zeit zu erreichen, muss man die Jesusgeschichte ganz neu erzählen. Doch wer steht hinter dieser Neufassung des Evangelienberichts? Was wissen wir über den oder die Verfasser des Evangeliums? Die Frage nach dem Verfasser des Buchs Wie bei allen Evangelien gibt das Buch selbst keine genaue Auskunft über seinen Verfasser. Die Überschrift Evangelium nach Johannes (oder einfach nach Johannes), die sich in allen Handschriften findet, sagt nicht, welcher Johannes gemeint ist. Die Formulierung nach Johannes zeigt, dass die Überschrift erst nachträglich hinzugefügt worden ist. Sie wurde nötig, weil es verschiedene Schriften gab, die das eine Evangelium nach dem Zeugnis verschiedener Autoren entfalten. Allerdings findet sich am Ende des Buchs, in einer Art Nachschrift, folgender Hinweis: »Dies ist der Jünger, der dies alles bezeugt und aufgeschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist« (21,24). Hier ergreift eine Gruppe das Wort, die die Zuverlässigkeit des Jüngers bezeugt, dessen Autorität hinter dem Buch steht. Wer mit dieser Aussage gemeint ist, ist klar. Es ist der »Jünger, den Jesus liebte«; denn von ihm war in 21,20–23 die Rede. Er begegnet uns erstmals beim letzten Mahl Jesu (13,23), dann – zusammen mit der Mutter Jesu – unter dem Kreuz (19,26f), weiter in 20,2–10, wo er mit Petrus das leere Grab findet, und zuletzt bei der letzten Begegnung der Jünger mit dem Auferstandenen in 21,7.20–23. Auch in 19,35 scheint er als Gewährsmann für die Zuverlässigkeit der Überlieferung genannt zu sein. Aus 21,20–23 lässt sich schließen, dass die Meinung aufgekommen war, Jesus habe diesem Jünger verheißen, dass er nicht sterbe, bevor er wiederkomme. Doch inzwischen scheint er gestorben zu sein, sodass in 21,23 betont wird, dieses Gerücht beruhe auf der ungenauen Wie-

Einleitung

15

dergabe eines Wortes Jesu. Aber wer war dieser Jünger, den Jesus liebte, und der nach 21,24 das Evangelium geschrieben hat? Seit dem Kirchenvater Irenäus (ca. 135–200 n.Chr.) wird angenommen, dass es sich dabei um den Apostel Johannes, den Sohn des Zebedäus, handelt, der bis ins hohe Alter in Ephesus gewirkt und dort das Evangelium geschrieben habe. Diese Überzeugung hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der christlichen Kirchen eingebrannt. Schaut man aber ins Johannesevangelium selbst, ist diese Annahme sehr unwahrscheinlich. Denn im Unterschied zu den anderen Evangelien werden in ihm die beiden Söhne des Zebedäus nur einmal (21,2) und nie mit ihrem Namen erwähnt. Vor allem aber fehlen bei Johannes alle Begebenheiten, bei denen nach dem Bericht der anderen Evangelien nur die Söhne des Zebedäus und Petrus anwesend waren, also die Auferweckung der Tochter des Jairus (Mk 5,37), die Verklärung Jesu (Mk 9,2) und das Gebet Jesu in Gethsemane (Mk 14,33). Auch die Episode, in der die beiden um die Ehrenplätze im Reich Jesu bitten (Mk 10,35–45), wird nicht berichtet. Dass all das aus Bescheidenheit weggelassen wurde, ist unwahrscheinlich. Aus diesen Gründen wird in der wissenschaftlichen Auslegung nur noch ganz selten angenommen, dass Johannes, der Sohn des Zebedäus, der Verfasser des Evangeliums war. Wer aber war dann der Jünger, den Jesus liebte? Dass es sich um eine fiktive Gestalt handelt, wie manche annehmen, ist unwahrscheinlich. Denn im Blick auf eine erfundene Person wäre die Auseinandersetzung um die Frage, warum sie entgegen der Erwartung vieler doch gestorben ist, unsinnig (vgl. 21,22f). Nach 21,7 muss dieser Jünger zu dem in 21,2 genannten Personenkreis gehört haben. Das heißt: Außer den Söhnen des Zebedäus kommen auch noch Thomas, Nathanael und zwei andere, nicht mit Namen genannte Jünger infrage. Da aber dort, wo Thomas und Nathanael sonst erwähnt werden, keine Andeutung in dieser Richtung gemacht wird, scheiden auch sie aus dem Kreis der »Verdächtigen« aus. Bleiben also die zwei anderen Jünger, von denen möglicherweise einer mit dem anderen Jünger identisch ist, von dem 18,15f gesagt wird, dass er »mit dem Hohepriester bekannt« war. Da von dem Jünger, den Jesus liebte, nur im zweiten Teil des Evangeliums die Rede ist, könnte es sich bei ihm um einen Jerusalemer Jünger handeln. Interessanterweise berichtet Papias, ein Bischof, der um 150 n.Chr. in Kleinasien gewirkt hat, von zwei Jüngern Jesu, die Johannes hießen. Der eine ist der Apostel Johannes, also der Zebedaide, den anderen nennt er den Alten oder Ältesten (griech.: Presbyter), eine Bezeichnung, die mit der Selbstbezeichnung des Verfassers des zweiten und dritten Johannesbriefs über-

16

Einleitung

einstimmt (2Joh 1; 3Joh 1). Darum liegt die Annahme nahe, dass sich das 4. Evangelium auf das Zeugnis dieses Jüngers beruft. Er muss ein Mann gewesen sein, der Jesus sehr nahe stand, ihn aber nicht bei seiner Verkündigung in Galiläa begleitet hat. Das würde erklären, dass er sich frei fühlte, Jesu Worte in einer anderen Gestalt zu überliefern, als dies die anderen Evangelien vor allem aufgrund der galiläischen Verkündigung Jesu tun. Das Werden des Evangeliums Wer das Johannesevangelium aufmerksam liest, stellt zumindest an zwei Stellen fest, dass das Buch nicht aus einem Guss ist. In 14,31 beendet Jesus seine Rede an die Jünger mit den Worten: »Steht auf und lasst uns von hier weggehen«. Im nächsten Vers (15,1) aber setzt er seine Rede ohne jede einleitende Formulierung fort. Ähnlich ist die Situation in 20,30f. Dort heißt es: »Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.« Damit soll offensichtlich das Buch zum Abschluss gebracht werden. Aber ganz unvermittelt folgt dann noch Kap. 21, in dem von weiteren Erscheinungen des Auferstanden berichtet wird und das mit einem eigenen Schlusswort endet. Das Evangelium ist also nicht in einem Zug niedergeschrieben worden. Es gibt auch noch an einer Reihe anderer Stellen die Vermutung, dass es noch einmal überarbeitet wurde. Das muss bei den betreffenden Passagen diskutiert werden. Aber wie dieser Prozess ablief, ist nicht einfach zu klären. Es sind damit eine ganze Reihe von weiteren Fragen verbunden: 1. Kannte der Evangelist die anderen Evangelien und hat er sie benutzt? 2. Hat der Evangelist noch andere Quellen verwendet? 3. Weist das Evangelium verschiedene Schichten der Bearbeitung auf, und haben unterschiedliche Personen daran gearbeitet? Diese Fragen können aber erst beantwortet werden, wenn die Beobachtungen der Einzelauslegung vorliegen (s. die Zusammenfassung in Band 2). Wir gehen bei unserer Auslegung von der Endgestalt des Evangeliums aus, wie sie uns jetzt vorliegt, werden aber immer wieder fragen, ob es Spuren verschiedener Bearbeitungsschichten oder Quellen im Evangelium gibt. Möglicherweise war es der ursprüngliche Verfasser selbst, der sein Werk Schritt für Schritt überarbeitet hat, vielleicht aber auch ein kleiner Kreis von Schülern, der ihm theologisch sehr nahestand (vgl. 21,24f). Wenn wir deshalb bei der Auslegung von Johannes, vom Evan-

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gelisten oder vom Erzähler sprechen, meinen wir in jedem Fall jenen herausragenden Theologen, der als Zeuge für Jesus und als inspirierender Denker Inhalt und Gestalt dieses Evangeliums geprägt hat und im Großen und Ganzen auch für seinen Wortlaut verantwortlich ist. Der Aufbau des Evangeliums Das Johannesevangelium zeigt einen bemerkenswert konsequenten Aufbau. Man kann zwar einzelne Teile und Schwerpunkte unterscheiden, aber sie sind so eng miteinander verwoben, dass es zunächst schwerfällt, klare Einschnitte im Ablauf zu benennen. Nicht umsonst hat man das Evangelium mit dem ungenähten, »von oben an in einem Stück gewebten« Rock Jesu verglichen, von dem in 19,23 die Rede ist. Dennoch gibt es Zäsuren, die zeigen, wie das Evangelium aufgebaut ist. Am deutlichsten ist das in 13,1 der Fall. Während die Kapitel vorher von Jesu Wirken in der Öffentlichkeit berichten, spricht Jesus danach nur noch mit seinen Jüngern (13–16) oder seinem Vater (17). Nicht so klar ist, wo dieser erste Hauptteil des Evangeliums beginnt. 1,1–18 ist ganz eindeutig eine Art »Vorwort« oder »Prolog« zum ganzen Evangelium, in dem deutlich gemacht wird: In Jesus begegnet den Menschen Gott selbst. Aber durch die zweimalige Erwähnung des Täufers in V. 6–8 und V. 15 ist ein enger Anschluss an den nächsten Abschnitt geschaffen, der vom Zeugnis des Täufers und dem Bekenntnis der ersten Jünger berichtet (1,19–51). Deshalb sehen wir in diesem Abschnitt noch einen Teil der Hinführung (Kap. 1), obwohl er durch die Zählung der Tage auch eng mit 2,1–11 verbunden ist (vgl. 1,29.35.43; 2,1). Der erste große Hauptteil des Evangeliums beginnt mit der Erzählung von der Hochzeit zu Kana in 2,1–11. Das zeigt der Hinweis auf den »Anfang der Zeichen« in 2,11. Die Kap. 2–12 berichten von der Offenbarung der Herrlichkeit Jesu vor der Welt. Innerhalb dieses ersten Hauptteils wird mit dem Bekenntnis des Petrus (6,66–71) ein Einschnitt markiert. Die Kap. 2–6 berichten von Jesu Wirken in Galiläa, Samaria und Jerusalem. In 2–4 Von Kana nach Kana finden sich zwischen den Berichten von zwei Wundern, die Jesu in Kana tat (2,1–12 und 4,46–54), die ersten beiden großen Redezyklen (3: Jesus und Nikodemus und 4,1–42: Jesus und die Samaritanerin). In ihnen wird die Botschaft Jesu positiv entfaltet. Zielpunkt ist das Bekenntnis: Dieser ist wirklich der Retter der Welt (4,42). Die nächsten beiden Redezyklen gehen – typisch für das Johannesevangelium – jeweils von einer Wundergeschichte aus (5: Die Heilung eines Gelähmten;

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6: Die Speisung der Fünftausend). Sie sind schon stark von Auseinandersetzungen um Jesu Auftreten geprägt. Zielpunkt dieses Abschnitts ist das Bekenntnis des Petrus: Du bist der Heilige Gottes (6,69). Die zweite Hälfte des ersten Hauptteils (Kap. 7–12) ist ganz auf Auseinandersetzungen Jesu in Jerusalem konzentriert. Hier sind es drei Redenkreise, die den Abschnitt bestimmen: 7.8: Der Widerstreit der Meinungen beim Laubhüttenfest; 9.10: Die Heilung eines Blindgeborenen, das Beispiel des guten Hirten und Auseinandersetzungen beim Tempelweihfest und 11.12: Die Auferweckung des Lazarus und letzte Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit vor dem Passahfest. Auffallend ist, dass die Berichte über die Zeichen Jesu im Verlauf des Evangeliums immer enger mit den folgenden Gesprächen verknüpft werden: Tun und Reden Jesu werden immer mehr zur Einheit! Der zweite Hauptteil umfasst die Kap. 13–20 und steht unter dem Thema: Die Offenbarung der Herrlichkeit des Sohnes vor den Seinen und in seinem Tod. Auch dieser Hauptteil gliedert sich wieder in zwei Teile: Ein erster Teil 13–17 Jesu Abschied von seinen Jüngern wird eindrucksvoll von zwei Aussagen über die Vollendung der Liebe Jesu zu seinen Jüngern gerahmt (13,1; 17,26). Er ist in drei Unterabschnitte aufgeteilt: 13.14 Fußwaschung und erste Abschiedsrede (Ziel: Die Welt soll erkennen, dass der Sohn den Vater liebt, 14,31), 15.16 Das Bild vom Weinstock und die zweite Abschiedsrede (Ziel: Die Jünger sollen wissen, dass der Sohn die Welt überwunden hat, 16,33) und 17 Das hohepriesterliche Gebet Jesu (Ziel: die Liebe, mit der der Vater den Sohn geliebt hat, soll auch in den Jüngern gegenwärtig sein, 17,26). Der zweite Teil umfasst 18–20: Passion und Auferstehung Jesu und wird zunächst durch einen ersten Buchschluss begrenzt (20,31). Dem folgt mit Kap. 21 ein Nachwort, das von weiteren Erscheinungen des Auferstandenen, der Beauftragung des Petrus und der Rolle des Jüngers, den Jesus liebte, berichtet. Das ganze Evangelium schließt mit einem Hinweis auf den Verfasser oder Gewährsmann der Schrift (21,24f). Wie lesen wir das Evangelium? Wie die drei anderen Evangelien will auch das Johannesevangelium eine Antwort auf die Frage geben: Wer ist Jesus von Nazareth? Aber so wenig wie sie will es nur als neutraler Tatsachenbericht gelesen werden. Das heißt nicht, dass es nicht auch historisch zuverlässige Informationen enthält. Aber noch entschiedener als in den anderen Evangelien sind in ihm diese Informationen mit

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dem Zeugnis darüber verwoben, wer in der Person Jesu den Menschen wirklich begegnet. Im Bericht über das irdische Wirken Jesu von Nazareth und über sein Leiden und Sterben leuchtet schon auf, was den Jüngern und Jüngerinnen Jesu durch die Begegnung mit dem auferstandenen Christus und durch das Wirken des Heiligen Geistes zur Gewissheit wurde: In Jesus ist Gott unter uns gegenwärtig geworden. Diese Welt ist nie gott-los gewesen. Aber im Kommen Jesu ist Gott den Menschen auf eine ganz neue und »sicht«-bare Weise nahegekommen. Wir lesen das Johannesevangelium also nicht mit der Frage: Was hätte bei dieser oder jener Begebenheit eine Videokamera aufgezeichnet?, sondern mit der Frage: Was sagt uns der Evangelist über die wahre Bedeutung Jesu? Wir lesen das Evangelium auch nicht unter der Fragestellung: Gab es Vorstufen zur jetzigen Fassung des Buches, und aus welchen Quellen oder mündlichen Überlieferungen hat der Verfasser geschöpft? – auch wenn wir gelegentlich auf solche Überlegungen hinweisen. Wir versuchen vielmehr zu erkennen, welche Botschaft das Evangelium in seiner uns vorliegenden Gestalt weitergeben will. Deshalb unterscheiden wir in den Reden Jesu auch nicht zwischen Worten, die möglicherweise auf den historischen Jesus zurückgehen, und solchen, die erst durch die Überlieferung oder den Evangelisten ihren jetzigen Wortlaut erhielten. Wenn es heißt: »Jesus sagte: …«, dann sind wir offen dafür, das Gesagte als authentische Weitergabe der Botschaft Jesu zu hören, die uns betrifft, auch wenn die Formulierungen von Johannes oder seiner Tradition stammen mögen. Das schließt einen kritischen Vergleich mit dem, was wir als ursprüngliche Botschaft Jesu ermitteln zu können meinen, nicht aus. Aber wer Jesus wirklich war, erschließt sich nicht aus der kritischen Rückfrage heutiger Historiker, sondern durch das Zeugnis derer, die unter dem Eindruck der Begegnung mit dem Auferstandenen seine Botschaft weitergaben. Ein Hinweis: Zitate aus Kommentaren werden mit Verfassername und Seitenzahl nachgewiesen, Zitate aus Monographien und Aufsätzen mit Verfassername, Stichwort aus dem Titel und Seitenzahl. Die vollständigen bibliographischen Angaben finden sich im Anhang unter Weiterführende Literatur auf den S. 301–303.

Die Auslegung

1,1–51 Hinführung: Wer ist Jesus? Alle Evangelien stimmen darin überein, dass der Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu in engem Zusammenhang mit dem Wirken Johannes des Täufers stand. Markus, das älteste Evangelium, beginnt deshalb mit seinem Auftreten. Die drei anderen Evangelien aber begnügen sich nicht mit diesem Anfang. Sie berichten auch von Jesu Herkunft, um deutlich zu machen, wer Jesus ist. Matthäus führt Jesu Stammbaum auf David und Abraham zurück und zeigt so seine Verwurzelung in der Geschichte Israels. Aber er berichtet auch von Jesu Geburt und Kindheit in einer Weise, die klarmacht: Er ist Gottes Sohn. Lukas kennt eine andere Fassung dieser Geschichte. Sie bettet Jesu Kommen in Frömmigkeit und Hoffnung des Judentums ein, verbindet es aber auch mit Ereignissen auf der politischen Ebene. Auch bei ihm zielt die Vorgeschichte darauf zu zeigen: Jesus ist Gottes Sohn. Johannes holt sehr viel weiter aus. In einem Vor-Wort zum Evangelium, dem sog. Prolog, verankert er die Geschichte Jesu in dem, was am Anfang war, d.h. schon vor der Erschaffung der Welt (1,1–18). Jesus wird zunächst gar nicht erwähnt. Erzählt wird von Wesen und Weg des schöpferischen Wortes (griechisch: logos). In diesen Bericht ist auch das Zeugnis des Täufers hineinverwoben (1,6–8.15). Das »erdet«, was hier geschieht, in der menschlichen Geschichte und bezeugt, dass das Wort in der Person Jesu Mensch geworden und in ihm Gott selbst zu den Menschen gekommen ist. Das Zeugnis Johannes des Täufers eröffnet auch den nächsten Abschnitt (1,19–51). Ihn rechnen viele Ausleger schon zum ersten Hauptteil des Evangeliums. Aber vieles spricht dafür, dass der Evangelist diesen Bericht noch als Hinführung zu Jesu Wirken verstanden wissen will. Es ist Aufgabe des Täufers zu bezeugen, wer Jesus ist. Daran schließt sich die Erzählung von der Berufung der ersten Jünger an. Kennzeichnend für sie ist, dass die Jünger mit unterschiedlichen Formulierungen sagen, wer Jesus für sie ist. So zielen beide Teile der Einleitung ins Evangelium darauf hin, deutlich zu machen: In Jesus von Nazareth begegnet den Men-

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schen Gottes Sohn (vgl. 1,18.34.49 und die Ausführungen dazu unten S. 54f). 1,1–18 Die Geschichte des Wortes und das Zeugnis des Täufers 1 1Am Anfang war das WORT, und das WORT war bei Gott, und Gott (gleich) war das WORT. 2 Das war am Anfang bei Gott. 3 Alles ist durch es geworden, und ohne es ist nichts geworden. Was geworden ist, 4(für das) war in ihm Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. 5 Und das Licht scheint in der Dunkelheit, und die Dunkelheit hat es nicht erfasst. 6 Es trat ein Mensch auf, von Gott gesandt, sein Name (war) Johannes, 7der kam zum Zeugnis, damit er für das Licht Zeugnis ablegen sollte, damit alle durch ihn glauben sollten. 8Jener war nicht das Licht, sondern (er ist gekommen), damit er für das Licht Zeugnis ablegen sollte. 9 Es war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, indem es in die Welt kam. 10 Es war in der Welt, und die Welt ist durch es geworden, und die Welt hat es nicht erkannt. 11 Es kam in das Seine, und die Seinen nahmen es nicht auf. 12 Allen aber, die es aufnahmen, denen gab es Vollmacht, Kinder Gottes zu sein, denen, die an seinen Namen glauben, 13die nicht aus Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott gezeugt wurden. 14 Und das WORT wurde Fleisch und nahm Wohnung unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie sie der Einziggeborene vom Vater (hat), voller Gnade und Wahrheit. 15 Johannes legt Zeugnis über ihn ab und hat ausgerufen: Dieser war es, von dem ich sagte: Der nach mir kommt, ist mir voraus, denn er war eher als ich. 16 Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,

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und zwar Gnade um Gnade. 17 Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. 18 Gott hat niemand jemals gesehen, der Einziggeborene, Gott (von Art), der im Schoß des Vaters ist, der hat berichtet. Das ist ein außergewöhnlicher Anfang für ein Buch, das die Geschichte Jesu von Nazareth erzählen möchte – außergewöhnlich in Form und Inhalt. Johannes beginnt weder damit, dass er Jesu Verwurzelung in der Geschichte Gottes mit Israel aufzeigt (so Mt 1,1–17), noch verortet er das Geschehen in seinem familiären und weltgeschichtlichen Umfeld (so Lk 1,5; 2,1f; 3,1f). Er greift weit zurück auf das, was am Anfang war, und spricht vom Ursprung und Weg des Wortes (griechisch: logos). Dem entspricht auch eine besondere Form. Was wir hier lesen, ist keine Erzählung. Mit einfachen, knappen Sätzen, in denen inhaltsschwere Begriffe und Bilder dominieren, werden grundlegende Aussagen gemacht. Die kurzen Sätze sind meist parallel formuliert. Dabei wird oft der Begriff, der am Ende eines Satzes steht, am Anfang des nächsten wiederholt. So entsteht eine Begriffskette, durch die die Aussage weitergetrieben wird (»Stufenparallelismus«). Formal und inhaltlich lassen sich die einzelnen Satzglieder zu Zweier-, Dreier- oder Vierergruppen ordnen. Allerdings ist auf den ersten Blick keine ganz regelmäßige Anordnung festzustellen. Der Stil ist nicht im strengen Sinn poetisch oder hymnisch, man könnte eher von einer lehrhaften Rede in gebundener Form sprechen. Allerdings fallen die V. 6–8 und 15 sowohl inhaltlich als auch formal aus diesem Rahmen. Hier erscheinen plötzlich Informationen über Johannes den Täufer und zwar in einem ganz anderen Stil, der eher der sonstigen Erzählweise des Evangelisten entspricht. Auch die V. 12c.13 und 18 heben sich stilistisch von den anderen Versen ab. Wie ist das zu erklären? Viele Ausleger nehmen an, dass der Evangelist hier einen Hymnus verwendet, also ein Lied, in dem Jesus mit dem göttlichen Wort/Logos identifiziert wird. In dieses Lied habe er die Hinweise auf das Zeugnis des Täufers in V. 6–8 und V. 15 eingeschoben und so die Verbindung zum Anfang der Evangeliumserzählung geschaffen. Indiz dafür ist neben den stilistischen Unterschieden auch die Beobachtung, dass wichtige Begriffe wie Wort/Logos oder Gnade im Evangelium selbst nicht vorkommen. Umgekehrt wird oft vermutet, dass auch die V. 12c.13 und 18, vielleicht sogar V. 5.9.10 oder 14d erklärende Zusätze des Evangelisten sind, weil sie Begriffe enthalten, die für ihn typisch sind. Der genaue Umfang des Hymnus blieb immer umstritten, aber lange Zeit galt seine Existenz als gesichertes Ergeb-

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nis wissenschaftlicher Auslegung. Neuerdings mehren sich aber die Stimmen, die den Prolog als Ganzen für das Werk des Evangelisten halten. Argument dafür ist, dass der Text keine typischen Merkmale eines Hymnus aufweist und dass der Versuch einer Rekonstruktion zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Aber es bleibt doch wahrscheinlich, dass der Evangelist für den Prolog eine schriftliche Vorlage verwendet hat. Vor allem der harte Bruch zwischen den V. 6–8 und V. 9f ist anders schwer zu erklären. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, durch das Ausscheiden von Zeilen einen regelmäßigen Aufbau des Liedes zu rekonstruieren. Aber diese Versuche bleiben subjektiv. Wir begnügen uns damit, durch die Anordnung der Zeilen und den Kursivdruck deutlich zu machen, was zu der Vorlage, die der Evangelist verwendet hat, gehört haben könnte. Grundlage der Auslegung ist aber der Prolog als ganzer, wie ihn der Evangelist geschaffen hat.

Offensichtlich greift der Evangelist auf einen ihm vorliegenden Text zurück, um deutlich zu machen, worum es in seinem Evangelium gehen wird. Der erste Teil dieses Textes hat die Form eines Lehrgedichts, das Jesu Wirken mit dem Kommen des göttlichen Wortes/Logos in die Welt identifiziert (V. 1–5.9–12b). Ein zweiter Teil antwortet darauf mit dem Bekenntnis der glaubenden Gemeinde (das Wir in V. 14.16f). Johannes verklammert diese Aussagen mit Hinweisen auf das Zeugnis des Täufers (V. 6–8.15) und fügt einige für ihn wichtige Erläuterungen hinzu (V. 12c.13.14d.18). Dass der Begriff Wort/Logos, der für diesen Text zentral ist, im Evangelium nicht mehr vorkommt, könnte ein Indiz dafür sein, dass der Prolog – wie bei Vorworten oder Ouvertüren oft üblich – erst gegen Ende der Entstehung des Buchs formuliert und dem Ganzen vorangestellt wurde. Er stellt eine Leseanweisung dar, die Leserinnen und Lesern deutlich machen soll, worum es in dem folgenden Bericht von Jesu Leben und Wirken eigentlich geht. Das signalisiert schon V. 1. Er beginnt bedeutungsschwer mit Am Anfang – wie der Bericht von der Erschaffung der Welt in Gen 1,1. Das Motiv des Anfangs ist für die Überlieferung von Jesu Wirken wichtig. Man weiß, dass Jesu Wirksamkeit in Galiläa in Zusammenhang mit der Taufverkündigung des Täufers angefangen hat (vgl. Apg 10,37; 13,24). Auch nach Mk 1,1 ist dies der Anfang des Evangeliums. Lukas beansprucht für sein Werk, dass er alles »von Anfang an erkundet« hat (1,3) und beginnt deshalb mit dem Bericht über Geburt und Kindheit Johannes des Täufers und Jesu. Matthäus holt weiter aus und beginnt sein »Buch von der Geschichte Jesu Christi« mit Abraham (1,1–17). Johannes aber lenkt den Blick durch sein am Anfang hin zum Ursprung allen Seins in Gott und seinem schaffenden WORT.

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Denn während das erste Buch der Bibel mit der Aussage beginnt: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde« greift die Aussage des Evangeliums noch dahinter zurück und stellt fest: Am Anfang war das WORT (griechisch: logos). Der Begriff Logos hat im nichtbiblischen Griechisch eine große Bedeutungsbreite, die von Rechnung, Abrechnung, Rechenschaft über Entsprechung, Erklärung, Regel, Vernunft bis hin zu Erzählung, Rede, Aussage oder Sprichwort reicht. Für die Griechen war Wort eine eher fernliegende Übersetzung des Begriffs. Dagegen kannten griechisch sprechende Juden diese Bedeutung aus der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel (vgl. Ex 4,28; Ps 33,4.6; Jer 1,2). Auffallend ist, dass der Begriff im Prolog immer absolut, ohne jede erklärende Ergänzung, gebraucht wird und fast wie eine handelnde Person erscheint. Wie ist dieser Sprachgebrauch zu erklären und was sagt das über die Bedeutung des Wortes im Prolog des Johannesevangeliums? Die Verwendung des Begriffs Logos in 1,1–18 hat verschiedene Wurzeln. (1) Der absolute Gebrauch des Wortes verweist zunächst auf seine Bedeutung in der griechischen Philosophie. Bei Heraklit (540–480 v.Chr.) taucht zum ersten Mal der Begriff Logos auf. Er bezeichnet damit die vernunftgemäße Weltordnung als Strukturprinzip des Kosmos, aber auch die Fähigkeit, diese zu erkennen und zu erklären. Für die Philosophen der Stoa ist der Logos »das Prinzip, das die Welt bis in die letzten Einzelzusammenhänge durchwaltet« (Schnelle, 47), d.h. die göttliche Ordnung und Sinnhaftigkeit der Welt. An ihr hat auch der menschliche Geist seinen Anteil. Das befähigt die Menschen, die Welt zu verstehen und sich für ein vernunftgemäßes Leben zu entscheiden. Das würde eine Übersetzung von Logos mit Vernunft oder Weltvernunft und nicht mit Wort nahelegen. (2) Darauf führt die zweite Wurzel der Begriffsverwendung hin: In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, wird der hebräische Begriff für das gesprochene Wort oft mit Logos wiedergegeben. Das gilt gerade auch für das schöpferische Wort Gottes. Gottes schöpferisches Handeln, das in Gen 1 mit »und Gott sprach« beschrieben wird, fasst Ps 33,6 in der Aussage zusammen: »Der Himmel ist durch das Wort des HERRN gemacht« (vgl. Weish 9,1). Aber Gott handelt auch durch sein wegweisendes und rettendes Wort an Israel und in der Welt (vgl. Ps 147,15.18f; Jes 55,10f; Weish 18,15). Allerdings »geschieht« das Wort des HERRN immer in einer bestimmten Situation. Vom Wort wie von einer Person zu reden ist dem Alten Testament fremd. (3) Diese Art des Redens findet sich aber bei dem Begriff der Weisheit. Beide Begriffe können parallel gebraucht werden, z.B. in Weish 9,1f: »der du alle Dinge durch dein Wort geschaffen und den Menschen durch deine Weisheit bereitet hast«. In Spr 8,22f aber redet die Weisheit von sich wie von einer Person: »Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewig-

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keit her, im Anfang, ehe die Erde war« (ähnlich in Sir 24). Die Weisheit ist hier aus einer Eigenschaft Gottes zu einer selbständig handelnden, personhaften Größe geworden. Diese Art von ihr zu reden hat Gründe: Weil Gott die Welt durch seine Weisheit schuf, könnten die Menschen ihn an der Weisheit seiner Schöpfung erkennen. Aber diese Möglichkeit ist verspielt. Die Weisheit selbst muss zu den Menschen sprechen, um sie zu Gott zu führen. Sie ist nicht nur Gottes Helferin bei der Schöpfung, sondern wird auch zur Mittlerin der Offenbarung (vgl. Weish 9,9–12; Sir 24,3–11). (4) In den Schriften des jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien (30 v.Chr. – 40 n.Chr.) werden dann Weisheit und Wort/Logos fast synonym gebraucht (All I,65). Bei ihm erscheint auch der Logos wie eine Person und erhält Ehrennamen wie Ebenbild oder Sohn bzw. Erstgeborener Gottes (All II,86; Conf 146f; Fug 109). Er steht zwischen Schöpfer und Geschöpf, aber auf der Seite Gottes, und kann göttlich bzw. Gott (von Art) (Somn I,229f; SpecLeg I,81) genannt werden. Philo identifiziert den Logos gerne mit dem Hohepriester, dessen Ornat die kosmische Weltordnung symbolisiert (Fug 108; Gig 52). Der Logos ist nicht nur Schöpfungsmittler, sondern auch Führer auf dem Weg zur Erlösung. Philo knüpft dabei an die stoische Philosophie an. Aber für ihn ist der Logos nicht die immanente Weltvernunft, sondern Gottes helfendes Wort, das in der Tora verschriftlicht ist (vgl. Sir 24,23f [LÜ: 24,32f]).

Mit dem Stichwort Wort/Logos greift Johannes einen Begriff auf, der sowohl für Menschen der griechischen Kultur, als auch für Juden eine tiefe Bedeutung aufwies. Er führt hinein in das Spannungsfeld: Gott – Schöpfung – Erlösung. Wo man Gott immer jenseitiger, unfassbarer und von allem Sein unterschieden denkt, da erhebt sich die Frage: Wie kann es sein, dass dieser Gott aus sich herausgetreten ist und die Welt erschaffen hat? Wie ist es überhaupt möglich, dass wir Menschen diesen Gott erkennen? Im Alten Testament wird diese Frage mit dem Hinweis auf die Weisheit beantwortet. Durch sie hat Gott die Welt geschaffen, und an ihr könnten die Menschen Gott erkennen. In der stoischen Philosophie ist es der göttliche Logos, die Weltvernunft, durch den die Welt entstand und an dem die Menschen teilhaben. In der frühjüdischen Tradition, auf die Johannes zurückgreift und die in vergleichbarer Weise von Philo vertreten wird, ist der Logos jedoch nicht mehr die Weltvernunft, sondern das schöpferische Wort, durch das Gott die Welt erschaffen und sich Israel im Gesetz offenbart hat. Um anzudeuten, dass der Begriff Logos/Wort hier mit einem ganz klar umrissenen Bedeutungsinhalt fast wie ein Titel gebraucht wird, schreiben wir ihn in Großbuchstaben WORT. Am Anfang war das WORT heißt also: Von Anbeginn, noch bevor irgendetwas geschaffen wurde, gab es dieses WORT bzw. den Logos. Seine Beziehung zu Gott wird durch zwei Bestimmungen

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erläutert: (1) das WORT war bei Gott. Es gehörte unmittelbar zu Gott und war – wie der griechische Text andeutet – ganz auf Gott ausgerichtet. Ja, es heißt sogar: (2) und Gott war das WORT. Der griechische Text zeigt freilich, dass das WORT nicht einfach mit Gott identifiziert wird. Man muss im Deutschen umschreiben: Gott gleich war das Wort. Der Hymnus möchte mehr sagen als nur: das WORT war göttlich. Aber er vermeidet auch eine Gleichsetzung von Gott und WORT. Dass Gott und WORT aufs Engste miteinander verbunden sind, macht klar: Kommunikation, d.h. sich schöpferisch zu »äußern« und aus sich herauszutreten, gehört von Anfang an zum Wesen Gottes. Darum wird noch einmal betont: Dieses WORT war am Anfang bei Gott (2). In dieser Paradoxie »Gott bei Gott« steckt der Kern der späteren Trinitätslehre samt ihrer denkerischen Herausforderung. Offensichtlich soll mit allem Nachdruck gesagt werden: Im WORT, durch das Gott die Welt geschaffen hat und in dem er sich offenbart, begegnet wirklich Gott selbst. Anders als die Weisheit in Spr 8,24 oder der Logos bei Philo ist das WORT nach Joh 1,1 nicht Gottes erstes Geschöpf. Im WORT handelt der sich äußernde, ja sich ent-äußernde Gott selbst. Er will und kann erkannt und anerkannt werden – und bleibt doch jenseits dessen, was Menschen verstehen und erfassen können. Damit werden keine zwei göttlichen Wesen nebeneinandergestellt. Gott und sein Handeln im WORT sind eine Einheit. Es ist Gottes den Menschen zugewandte Seite, die ihnen in der Gestalt des Wortes begegnet. Damit wird am Anfang eines Buchs, das die Geschichte von Jesus von Nazareth erzählen wird, eine immense Spannung aufgebaut. Warum beginnt dieses Buch mit dem Hinweis auf das WORT? Was hat der Logos mit Jesus zu tun? Doch zunächst wird die Rolle des Worts bei der Schöpfung beschrieben (3). Sehr betont heißt es: Alles ist durch es geworden. Und als Bekräftigung und Absicherung wird dieser umfassenden Aussage auch noch sehr betont die negative Entsprechung hinzugefügt: ohne es ist (überhaupt) nichts geworden. Das WORT ist anders als die Weisheit in Spr 8,22–31 nicht nur Gottes Werkzeug bei der Schöpfung. Es ist die von Gott ausgehende Ur-Sache, der aus Gott heraus wirkende Urheber alles Geschaffenen. Damit wird ein Doppeltes gesagt: 1. Auf die Grundfrage der Philosophie: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« lautet die Antwort: Weil das WORT bei (und in) Gott ist, weil es zu Gottes Wesen gehört, sich zu äußern und zu kommunizieren, darum hat er alles, was ist, als sein Gegenüber geschaffen. 2. Dazu tritt der Umkehrschluss: Nichts von dem, was ist, ist nicht von Gott und seinem WORT geschaffen worden. Je-

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dem Dualismus, der Teile der vorfindlichen Welt als Werk eines Gegenspielers Gottes ansieht, wird damit gewehrt. Damit erheben sich natürlich schwierige Fragen nach der Herkunft des Bösen und des Leides in der Welt. Aber gerade angesichts mancher dualistischer Züge im Johannesevangelium ist diese grundsätzliche Aussage wichtig. Der Übergang von V. 3 zu V. 4 ist durch eine textliche Unsicherheit belastet. Es ist unklar, ob die Wendung was geworden ist ans Ende des Satzes in V. 3 gehört oder ob damit der neue Satz in V. 4 beginnt (vgl. die Anmerkungen in LÜ; EÜ). Heißt es: Alles ist durch es geworden, und ohne es ist nichts geworden, was geworden ist? Oder: Was geworden ist, in ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen? Die ältesten Handschriften haben leider keine Satzzeichen, aber die frühesten Zeugnisse für eine Interpunktion bei den Kirchenvätern sprechen für die zweite Alternative. Bei ihr ist allerdings fraglich, ob sie einen befriedigenden Sinn gibt. Deshalb entscheiden sich viele Ausleger und die meisten Übersetzungen doch für die erste Alternative. Aber die zweite Variante kann auch übersetzt werden mit: Was geworden ist, (für das) war in ihm [dem WORT] Leben, was durchaus eine sinnvolle Aussage sein kann.

Wir bedenken beide Möglichkeiten: Wenn es am Schluss von V. 3 heißt: ohne es ist nichts geworden, was geworden ist, unterstreicht das nochmals: Alles, was ist, wurde durch das WORT geschaffen. V. 4 führt dann einen neuen Gedanken ein. Durch das WORT wurde nicht nur alles ins Dasein gerufen. In ihm, dem WORT, ist auch das Leben in die Schöpfung hineingetragen worden. Das Wunder des Lebens entspringt dem Wirken des Wortes. Wenn aber V. 4 mit was geworden ist beginnt: Was geworden ist, (für das) war in ihm [dem WORT] Leben, dann wird betont: Das WORT ist Urheber und Träger des Lebens für alles, was durch das WORT geworden ist. Leben ist kein abstraktes, jenseitiges Prinzip, sondern an das Geschaffene gebunden. Aber Leben ist auch nicht einfach eine Funktion bestimmter chemischer Verbindungen, sondern ein Geschenk, das durch das WORT in das Gewordene eingesenkt wurde. Aber gerade weil es nicht selbstverständlich ist, dass es in dem Geschaffenen Leben gibt, hat das Leben eine besondere Funktion für die Menschen: Das Leben war das Licht der Menschen; oder präziser übersetzt: das Leben war immer das Licht für die Menschen (die Vergangenheitsformen in V. 4 sprechen nicht von dem, was früher einmal war, sondern von dem, was von Anfang an gilt). Das Wunder des Lebens wird zum Licht, das die Existenz der Menschen erhellt.

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Licht und Leben beschreiben in der Sprache der Bibel die positive Seite des Seins. Licht zu schaffen war die erste Schöpfungstat Gottes (Gen 1,3), Bild für alle schöpferische Energie, die den Kosmos durchwaltet. Licht wird auch zum Bild für die heilvolle Gegenwart Gottes in seinem Volk (Ps 27,1; 36,10; 43,3; Jes 60,1). Dunkelheit bzw. Finsternis – ursprünglich von Gott durch die Unterscheidung vom Licht geschaffen (Gen 1,4; vgl. Jes 45,7) – wird zum Bild für Gottesferne und Gottesfeindschaft (Hi 30,26; Ps 112,4; Jes 5,20; 9,1). Gleiches gilt für das Leben: Nach Gen 2,7 haucht Gott Adam, dem ersten Geschöpf, den Odem des Lebens ein. Alles Leben ist Geschenk Gottes und von ihm durchatmet. Im Johannesevangelium ist Jesus Christus die »Verkörperung« von Licht und Leben. »Ich bin das Licht der Welt« heißt es in 8,12 (vgl. 9,5; 12,35f), und Leben erscheint zweimal in einem Ich-bin-Wort (11,25; 14,6). Umgekehrt ist der Tod Inbegriff völliger Gottverlassenheit. Beide Begriffe haben also eine tiefe symbolische Bedeutung. Leben ist mehr als die Fähigkeit von Zellen zu Stoffwechsel und Fortpflanzung. Wahres Leben lebt aus der Verbindung mit Gott als der Quelle des Lebens. Licht ist mehr als der für das Auge sichtbare Teil elektromagnetischer Strahlung. Licht ist Erleuchtung des Lebens durch die Begegnung mit Gott. So sehr die biblische Botschaft davon ausgeht, dass diese Begegnung nur dort geschieht, wo Gott sich in seinem Wort offenbart, so hält sie doch fest, dass Gott grundsätzlich auch an der Lebensträchtigkeit seiner Schöpfung erkannt werden könnte (vgl. Röm 1,20; 1Kor 1,21). Denn das Leben war das Licht für die Menschen!

V. 5 führt den Gedanken weiter: Und das Licht scheint in der Dunkelheit. Diese Aussage überrascht. Zwar ist Licht dadurch gekennzeichnet, dass es in der Dunkelheit bzw. der Finsternis scheint, um sie zu erhellen. Aber zugleich stellt sich die Frage: Woher kommt die Dunkelheit? Ist auch sie Teil dessen, was durch das WORT geschaffen wurde, oder gibt es in dem, was ist, doch etwas, das einen anderen Ursprung hat? In Gen 1,3 gehört die Scheidung von Licht und Finsternis zum Schöpfungshandeln Gottes. An unserer Stelle aber ist nicht von einer von Gott geschaffenen Dunkelheit die Rede, sondern von der Dunkelheit, die entsteht, wenn Menschen sich dem Licht verschließen. »Das Kommen des Lichtes, und nur dies, löst aus, dass sich Finsternis bildet. Ohne Licht keine Finsternis« (Zumstein, 78). Es liegt eine Tragik in diesem Geschehen: Gerade dadurch, dass Gott im WORT auf die Menschen zugeht, zeigt sich, dass sie sich ihm verschließen. Aber hier gibt es offene Fragen: Worauf bezieht sich das Präsens das Licht scheint? Und worauf die Vergangenheitsform und die Dunkelheit hat es nicht erfasst? Auf welche Vorgänge oder Ereignisse wird hier angespielt? Geht es grundsätzlich um das Verhalten der Menschen dem Licht gegenüber, das durch das WORT

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immer neu in die Welt gekommen ist? Oder ist schon vom Wirken des Fleisch gewordenen Wortes und seiner Ablehnung die Rede (vgl. 3,19; 12,46: Jesus ist als Licht in die Welt gekommen)? Die Antwort auf diese Fragen wird durch ein Übersetzungsproblem kompliziert. Der griechische Ausdruck, den wir mit hat es nicht erfasst übersetzt haben (so auch EÜ; ZB), heißt wörtlich: hat es nicht ergriffen (LÜ), und das bedeutet entweder: hat es nicht begriffen oder: hat es nicht überwältigt (BasisBibel). Aber der Gedanke, dass die Dunkelheit das Licht überwältigen wollte, ist im bisherigen Text durch nichts vorbereitet. Und nach der Logik des Gedankengangs kann auch noch nicht vom Fleisch gewordenen WORT die Rede sein. Vielmehr wird ganz grundsätzlich beschrieben, wie das WORT in der Welt wirkt. In ihm strahlt das Licht göttlichen Lebens hinein in die Welt der Menschen, die dieses Licht brauchen. Aber weil sie sich weigern, sich diesem Licht zu öffnen, versinken sie in der Dunkelheit menschlicher Gottesfinsternis. Doch das Licht göttlicher Liebe leuchtet weiter in ihr, auch wenn die Menschen es nicht begreifen. Mit den V. 6–8 unterbricht der Evangelist die Darstellung vom Wirken des Wortes. Oder richtiger: Er verflicht sie mit dem geschichtlichen Ereignis des Auftretens Johannes des Täufers und damit auch mit der Geschichte Jesu. Berichtet wird von einem Menschen, der zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte mit seinem Wirken begann (er trat auf). Durch seinen Namen, Johannes, ist er eindeutig identifizierbar. Vor allem aber: Dieser Mensch ist von Gott gesandt und hat einen Auftrag. Sein Auftrag ist, Zeugnis für das Licht abzulegen (7). Zeugen braucht man in einem Gerichtsprozess, wenn es darum geht, einen umstrittenen Sachverhalt zu klären. Wer und wo das Licht ist, das Gott in diese Welt leuchten lässt, ist umstritten. Zu bezeugen, dass dies in und durch Jesus Christus geschieht, ist die Aufgabe des Johannes (vgl. 1,15.19.32.34). Seine Sendung als Zeuge für das Licht hat Johannes erhalten, damit alle durch ihn glauben sollten. Damit ist noch ein entscheidendes Motiv des 4. Evangeliums genannt: Menschen sollen zum Glauben kommen und sich ganz Gott anvertrauen. Noch wird vom Inhalt dieses Glaubens nichts gesagt. Aber in 20,31 wird dann ausdrücklich festgestellt werden, dass das ganze Evangelium geschrieben wurde, »damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und dass ihr, indem ihr glaubt, Leben in seinem Namen habt«. Der Auftrag des Johannes ist noch umfassender formuliert: alle sollen zum Glauben kommen. Der kurze Vorverweis auf das Wirken des Johannes endet mit einer Klarstellung (8): Jener war nicht das Licht. Manche Ausleger

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vermuten, sie sei nötig gewesen, weil es Kreise von Täuferjüngern gab, die in Johannes eine messianische Gestalt bzw. das verheißene Licht des endzeitlichen Heils gesehen haben (vgl. Jes 60,1– 3). Aber das ist nicht sicher. Jedenfalls soll klargestellt werden: Wenn im Folgenden weiter vom Licht die Rede ist, dann ist nicht Johannes gemeint, sondern das WORT und der, der es unter den Menschen verkörpert. Für Johannes aber gilt: (er ist gekommen), damit er für das Licht Zeugnis ablegen sollte. Alles andere, was noch von Johannes zu berichten wäre, steht im Dienst dieser Aufgabe. Das betrifft auch seine Tauftätigkeit (vgl. 1,31). Darum fehlt im 4. Evangelium der Beiname der Täufer für Johannes. Die V. 9–13 kehren zurück zum WORT und seiner Geschichte. Noch einmal wird betont: Es war (und ist) das wahre Licht (9). Es war bedeutet nicht, dass das jetzt Vergangenheit ist. Das griechische Imperfekt beschreibt einen Vorgang, der noch nicht abgeschlossen ist. Betont wird gesagt: Das WORT war das wahre Licht, also das einzig wirkliche und vertrauenswürdige Licht. Und in Weiterführung von V. 4 (das Leben war das Licht der Menschen) heißt es: Es erleuchtet jeden Menschen, und zwar indem es in die Welt kam. Die Zuordnung der letzten Wendung (wörtlich: in die Welt kommend) ist nicht sicher: Bezieht sich diese Aussage auf das Licht, das jeden Menschen erleuchtet, indem es in die Welt kam (vgl. REB; EÜ), oder auf jeden Menschen, der in die Welt kommt (vgl. ZB; LÜ). Für das zweite könnte sprechen, dass in rabbinischen Texten der Mensch durch eine ähnliche Wendung gekennzeichnet wird. Allerdings wäre diese Aussage eigentlich überflüssig, denn jeder Mensch kommt in diese Welt! Die erste Möglichkeit entspricht eher der Logik des Gedankengangs (vgl. die Fortsetzung in V. 10) und »in die Welt kommen« ist bei Johannes eine häufige Aussage über Christus (vgl. 3,19; 12,46: Christus ist als das Licht in die Welt gekommen). Daher entscheidet sich die Mehrheit der Ausleger für diese Möglichkeit.

Damit aber entsteht erneut die Frage: Bezieht sich diese Aussage schon auf das Mensch gewordene WORT, also Jesus Christus? Oder ist an ein Wirken des Wortes unter den Menschen und vor allem in Israel vor seiner Menschwerdung gedacht? Diese Frage wird sich auch in den folgenden Versen stellen. Klar ist jedenfalls: Durch das Wirken des göttlichen Wortes werden alle in das Licht der Wirklichkeit Gottes gestellt. Dieses Erleuchten gilt jedem Menschen, führt aber nicht zur Erleuchtung eines jeden. Diese Spannung wird in V. 10 noch deutlicher unterstrichen: Es (das WORT) war in der Welt. Das WORT hat sich auf die Bedingungen dieser Welt eingelassen. Denn – noch einmal wird das herausgestellt – die Welt ist durch es geworden. Es gibt eine posi-

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tive Grundbeziehung zwischen der Welt und Gott und seinem Wort. Und doch gilt: die Welt hat es nicht erkannt. Der Universalität des Heilshandelns Gottes steht die Universalität der Ablehnung durch die Menschenwelt gegenüber. Wir begegnen hier zum ersten Mal der Doppeldeutigkeit des Begriffs Welt (griechisch: kosmos) bei Johannes: Die Welt ist Gottes Schöpfung und deshalb auch Adressat seines Heilshandelns (3,16; 4,42; 14,31). Die Welt ist aber auch der Inbegriff einer (Menschen-)Welt, die Gott ablehnt und ihm feindlich gegenübersteht. Sie wird geradezu zum Gegenspieler Gottes, zur widergöttlichen Macht (14,27; 15,18f; 17,14). Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Aussagen liegt ein Verständnis von Welt als Raum der Begegnung und Bewährung (16,28; 17,13.15.18).

V. 11 beschreibt diese Spannung mit anderen Worten: Es (das WORT) kam in das Seine, und die Seinen nahmen es nicht auf. Was ist damit konkret gemeint? Was ist das Seine und wer sind die Seinen? Ist damit die Schöpfung als Ganze gemeint oder speziell das Volk Israel? Und auf welches Ereignis bezieht sich es kam? Geht es um die Offenbarung des Wortes in Israel durch Gesetz und Propheten oder um sein Kommen im Wirken Jesu? Lange galt es als sicher, dass mit den Seinen nur Israel als das »Volk des Eigentums« (Ex 19,5) gemeint sein kann. Dann lag es nahe, im Prolog einen Dreischritt der Offenbarung zu sehen: Das WORT kommt in die Welt durch das Licht der Schöpfung (V. 9f), es kommt zu Israel durch die Gabe des Gesetzes und den Ruf der Propheten (V. 11f) und wird Mensch für alle in Jesus Christus (V. 14). Dagegen steht allerdings die Beobachtung, dass dort, wo von Israel als »Eigentum« Gottes gesprochen wird (Ex 19,5; vgl. 1Petr 2,9), die Wendung das Seine bzw. die Seinen nicht vorkommt. Deshalb wird heute meist angenommen, dass das Seine / die Seinen an unserer Stelle noch einmal umfassend auf Gottes Schöpfung und die Menschen als Gottes Eigentum verweist (anders in 13,1, wo die Seinen diejenigen sind, die zu Jesus gehören und deshalb von der Welt unterschieden werden). Dem entspricht die pauschale, negative Feststellung: aber die Seinen nahmen es nicht auf. Mit knappen Worten wird die Tragik umrissen, dass die, die durch das WORT geschaffen wurden und deshalb zu ihm gehören, es ablehnen. Gottes lebenschaffendes WORT, seinen Logos, in das Haus des Lebens aufzunehmen und es zur bestimmenden Mitte ihrer Existenz werden zu lassen, das wäre die richtige Reaktion, durch die die Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf heilsam erneuert würde. Aber die Menschen weigern sich, das zu tun.

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Doch dann heißt es plötzlich in V. 12: Allen aber, die es aufnahmen, denen gab er Vollmacht, Kinder Gottes zu sein. Zwischen V. 11b und 12a besteht eine glückliche Inkongruenz. Denn alle, die ihn aufnahmen, gehören ja auch zu den Seinen! Die pauschalen Unheilsaussagen über die Welt stellen also nur eine Seite der Wahrheit dar. Sie werden durchbrochen durch das Wirken des Wortes (ähnlich in 3,32f). Es steht nicht da – auch wenn es manche so auslegen – die wenigen, die ihn aufnahmen. Wörtlich übersetzt heißt es: Wie viele ihn aber aufnahmen. Auch auf der Seite des Heils tut sich ein weiter Horizont auf. Dort, wo das Wunder geschieht, dass Menschen sich dem WORT öffnen und es in ihr Leben aufnehmen, da wird ein neues Verhältnis zu Gott begründet: Ihnen gab das WORT Vollmacht, Gottes Kinder zu sein. Im Alten Testament wird das Volk Israel als Sohn Gottes bezeichnet (Ex 4,22; Jer 3,19; 31,9.20; Hos 11,1; Sir 36,14), und manchmal heißen die Israeliten Kinder Gottes (Dtn 14,1; Jer 3,14; Weish 9,7; 16,26). In den alttestamentlichen Apokryphen können auch Einzelne Kind bzw. Sohn Gottes genannt werden (Weish 2,18; Sir 4,11). Jesus lehrt seine Jünger, zu Gott als Vater zu beten (Mt 6,9; Lk 11,2) und ermutigt sie damit, darauf zu vertrauen, Kinder Gottes zu sein. In Mt 5,9.45 zeigt er aber auch auf, welche Konsequenzen das für ihr Verhalten hat. Von Gott als Kind angenommen zu sein ist für Paulus ein wichtiger Aspekt der Rechtfertigung allein aus Glauben. Der vom Geist Gottes inspirierte Gebetsruf Abba, Vater schenkt die Gewissheit, als Kind zu Gott zu gehören (Gal 4,5–7; Röm 8,14–17). Im johanneischen Schrifttum wird das Motiv der Gotteskindschaft erst in 1Joh 3,1f wieder aufgenommen. Gottes Kind zu sein kennzeichnet das Verhältnis der Glaubenden zu Gott während ihres irdischen Lebens. Dessen Echtheit erweist sich an der Liebe zu den andern Kindern Gottes (1Joh 3,9f; 4,7f; 5,1f).

Gottes Kind sind die Menschen nicht einfach als Gottes Geschöpfe. Es bedarf der Annahme durch den Vater, vergleichbar einer Adoption (vgl. Gal 4,5), einer Bevollmächtigung, die das Vorrecht verleiht, sein Kind zu sein. Sie wird dort empfangen, wo man das WORT annimmt: Gottes Kind kann sein, wer glaubt, dass Gott uns als seine Kinder annimmt, und sich ganz der Botschaft anvertraut, dass wir zu Gott gehören. Solche Menschen erkennen, wo der Ursprung und was der Grund ihres Lebens ist. Sie können in die Wahrheit und die Kraft dieser Botschaft wie in ein schützendes Zuhause einkehren. Auch hier bleibt zunächst offen, wer damit gemeint ist. Sind es die Menschen im vorchristlichen Israel, die das Wort Gottes aufgenommen haben? Oder sogar alle, die sich für den göttlichen Logos geöffnet haben, der ihnen in Gottes Schöpfung begegnet ist?

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Vielleicht hat das Christuslied, das Johannes benutzt, es so verstanden. Doch der Evangelist macht durch einen Zusatz ganz klar: Was hier beschrieben wird, geschieht erst in der Begegnung mit dem Mensch gewordenen WORT. Diejenigen, die das WORT aufnehmen, sind die, die an seinen Namen glauben. An seinen Namen glauben ist eine für Johannes typische Redewendung (vgl. 2,23; 3,18; 1Joh 3,23; 5,13). Damit kann nur der Glaube an Jesus gemeint sein. Das WORT, der göttliche Logos, hat einen menschlichen Namen. An diesen Namen zu glauben bedeutet, in Jesus das Licht und das Leben zu erkennen, das Gott schenkt, und es für sich anzunehmen. War Vers 12b ein Kommentar des Evangelisten zur dem alle, die es annahmen von 12a, so interpretiert er mit Vers 13, was für Menschen es sind, die Vollmacht bekommen, Gottes Kinder zu sein: Es sind die, die nicht aus Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott gezeugt wurden. Zunächst wird durch eine dreifache Negation deutlich gemacht: Gotteskindschaft ist reines Geschenk und unterscheidet sich grundsätzlich von allem, was menschliche Abstammung kennzeichnet. Nicht aus Blut (im Griechischen Plural für das Blut von Vater und Mutter) verweist auf den Vorgang von Zeugung und Empfängnis (vgl. Weish 7,1f). Nicht aus dem Willen des Fleisches bezieht sich auf das geschlechtliche Begehren, das damit verbunden ist (ohne es negativ zu werten). Und nicht aus dem Willen eines Mannes meint die potestas patri, d.h. den Rechtsakt, durch den ein Kind nach der Geburt vom Vater angenommen wird. Alle Aussagen zusammen aber unterstreichen das eine: Menschliche Abstammung begründet nicht die Zugehörigkeit zu Gott und der menschliche Wille ist in keiner Weise Ursache der Gotteskindschaft. Gottes Kinder sind allein die Menschen, die aus Gott gezeugt oder geboren wurden. Was aber bedeutet: aus Gott gezeugt oder geboren zu sein (beide Übersetzungen sind möglich)? Im Gespräch mit Nikodemus (vgl. 3,3.5) wird dieses Thema noch einmal aufgenommen werden. Gemeint sind damit Menschen, die ihre Existenz und ihr Verhältnis zu Gott allein Gott verdanken. Gott allein ist es, der sie zu einem Leben mit ihm befähigt. Und doch sind die Menschen gefragt, die neue Existenz, die Gott ihnen schenkt, anzunehmen und sich ihm im Glauben anzuvertrauen. Dieses Ineinander von Glaube und Gnade ist charakteristisch für das ganze Evangelium. »Der Glaube ist reine Gnade, die allein auf der göttlichen Initiative gründet.« Und zugleich gilt: »Die Glaubenden sind jene, die sich dem göttlichen Handeln öffnen« (Zumstein, 83f).

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V. 14 markiert die entscheidende Wende auf dem Weg des Wortes zu den Menschen. War bisher nur angedeutet worden, wo und wie die Begegnung mit ihm geschieht, so wird darüber jetzt klar gesprochen. Das geschieht nicht mehr im Stil eines Berichts, sondern in Form eines persönlichen Bekenntnisses. Eine Gruppe von Zeugen tritt mit ihrem Wir vor die Leser und Leserinnen des Evangeliums. Zum ersten Mal seit V. 1 wird auch wieder ausdrücklich vom WORT, dem göttlichen Logos, gesprochen. Zwei grundlegende Aussagen werden darüber gemacht, die jeweils unter zwei Gesichtspunkten entfaltet werden. Die erste Aussage beschreibt, wie es zu der entscheidenden Begegnung mit dem WORT kommen konnte. Wie ist es möglich geworden, dass Gottes Wort, durch das er den Menschen Licht und Leben schenkt, doch von ihnen vernommen und aufgenommen wird? Vers 14a gibt die Antwort darauf: Und das WORT wurde Fleisch und nahm Wohnung unter uns. Das WORT, Gottes schöpferischer und erlösender Logos, spricht nicht nur zu den Menschen. Es begegnet ihnen nicht nur von außen aus dem Jenseits göttlichen Seins. Es kommt ihnen ganz nahe: Es wird Mensch, genauer: Es wird Fleisch. Der Begriff Fleisch kennzeichnet das Menschsein in seiner Geschöpflichkeit, aber auch in seiner Begrenztheit und Vergänglichkeit. Das WORT wurde Fleisch heißt also: Der göttliche Logos, oder anders gesagt: die uns zugewandte Seite Gottes, liefert sich der Wirklichkeit menschlicher Hinfälligkeit und Vergänglichkeit aus. Er nimmt nicht nur die Sklavengestalt menschlicher Existenz an (so Phil 2,7), sondern identifiziert sich mit all dem, was menschliches Sein gerade auch in seiner Verletzlichkeit und Zweideutigkeit ausmacht. Dass die Menschen Fleisch sind und nicht Geist, gehört zu ihrem Wesen als sterbliche Geschöpfe und ist an und für sich nicht negativ zu beurteilen (vgl. Gen 6,3; Jes 40,6f). Problematisch wird es, wenn sie es verleugnen und sich auf Fleisch, also auf ihre eigene Kraft oder auf die anderer verlassen (vgl. Jes 31,3; Jer 17,5; 2Kor 11,18; Phil 3,3f). Die frühen Bekenntnisaussagen über Jesus Christus im Neuen Testament betonen auf unterschiedliche Weise, dass in ihm Gottes Leben schaffender Geist in den Bereich des dem Tod verfallenen Menschseins eingegangen, also Fleisch geworden ist (vgl. Röm 1,3; 8,3; 1Tim 3,16; 1Petr 3,18).

Doch das WORT gibt sich und seine göttliche Natur nicht auf. Das WORT nahm Wohnung unter uns. Das heißt: Es bleibt der göttliche Logos und wird doch einer von uns. Wörtlich könnte man auch übersetzen: Es zeltete unter uns. Damit wird aber nicht auf einen nur vorübergehenden Aufenthalt angespielt, sondern auf die Gegenwart Gottes im Offenbarungszelt der Wüstenwan-

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derung, der sog. Stiftshütte (vgl. Ex 29,45; Lev 26,11f). Dass Gott unter seinem Volk wohnen will, galt auch für den Tempel in Jerusalem (1Kön 6,12f) und für das endzeitliche Heiligtum (vgl. Ez 37,27f und Offb 21,3). Auch von der Weisheit heißt es in Sir 24,8f (LÜ 24,12f), dass Gott für sie ein Zelt in Israel bereitet hat, wo sie wohnen soll (vgl. Bar 3,38). Alle diese Aussagen gehen davon aus, dass Gottes Gegenwart unter den Menschen einen Ort braucht, der aus dem alltäglichen Leben ausgegrenzt ist. Hier aber ist das anders: Der göttliche Logos, das WORT, identifiziert sich ganz und gar mit der menschlichen Existenz, auch in ihrer Vergänglichkeit und Verletzlichkeit. So wird das WORT, Gottes uns zugewandtes Wesen, unter den Menschen gegenwärtig, wird sichtbar, erfahrbar, ja greifbar (vgl. 1Joh 1,1f). Gott offenbart sich in einem Menschen! Das spätere christologische Dogma hat diese Paradoxie mit der Formel »wahrer Mensch und wahrer Gott« umschrieben. Die zweite grundlegende Aussage folgt in V. 14b. Die Begegnung mit dem Fleisch gewordenen WORT eröffnet eine unerwartete Perspektive: und wir sahen seine Herrlichkeit. Was ist damit gemeint? Von welcher Herrlichkeit ist hier die Rede? Das griechische Wort doxa (vgl. Doxologie), das wir mit Herrlichkeit übersetzen, bedeutet im außerbiblischen Griechisch etwas ganz anderes, nämlich die Ansicht oder Meinung, die jemand hat, bzw. das Ansehen, das jemand genießt. In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wird aber doxa häufig zur Wiedergabe des hebräischen Wortes kabod verwendet. Es bezeichnet ursprünglich das Gewicht und das Ansehen einer Persönlichkeit und gewinnt so die Bedeutung Ehre. Wo vom kabod Jahwes die Rede ist, wird aber vor allem seine machtvolle Gegenwart in dieser Welt und bei seinem Volk beschrieben. Sie kann in Form einer Erscheinung Gottes in lichtvollem Glanz sichtbar werden, zeigt sich aber grundsätzlich in Gottes offenbarendem Handeln, insbesondere für Israel. Darum erscheint der Begriff vor allem im Zusammenhang mit dem Exodus-Geschehen (Ex 14,4.17f; 16,7.10), der Begegnung mit Gott auf dem Sinai (Ex 24,17) und in der Stiftshütte (Ex 40,34; Lev 9,6.23; Num 14,10 u.ö.). Sehr bildhaft wird die Herrlichkeit des Herrn in den Visionen des Propheten Ezechiels beschrieben (Ez 1,4–28; 10,1–22). Er sieht auch, wie sie den Tempel in Jerusalem vor dessen Zerstörung im Jahr 587 v.Chr. verlässt (11,22–25): Gottes Gegenwart ist von seinem Volk gewichen, bis er neu bei ihm wohnen wird (37,27). Auch das Neue Testament spricht von der Herrlichkeit Gottes, wo Menschen Gottes Wesen und Wirklichkeit begegnen (vgl. Lk 2,9; Mt 16,27; Apg 7,55). Vor allem aber erfahren Menschen die Herrlichkeit des Herrn, also das Gottsein Gottes, in der Begegnung mit Christus und seinem Evangelium (vgl. 2Kor 3,18; 4,4.6). Diese Botschaft wird im Johannesevangelium eindrücklich entfaltet. Das Wort Herrlichkeit ist zweifellos der Begriff, der den Prolog am engsten mit dem Evangelium verbindet. In den Wundern

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offenbart Christus seine und damit zugleich Gottes Herrlichkeit (2,11; 11,4.40). Noch mehr aber werden der Vater und er durch seinen gehorsamen Weg in den Tod und seine Auferstehung verherrlicht werden (12,23; 13,31; 17,1 u.ö.).

Schon der Hymnus selbst hat zur Erklärung, welche Herrlichkeit hier gemeint ist, eine wichtige Ergänzung angefügt: Es ist eine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit. Damit wird eine zentrale alttestamentliche Aussage über Gott und die Art, wie er sein Wesen offenbart, aufgenommen. Nach Ex 33,18 bittet Mose Gott: »Lass mich deine Herrlichkeit sehen!« Aber Gott antwortet ihm, dass kein Mensch ihn in seinem ganzen göttlichen Sein (»mein Angesicht«) sehen kann. Er werde Mose in eine schützende Felsspalte stellen und seine Hand über ihn halten und in seiner Herrlichkeit vorübergehen, sodass Mose »hinter mir her sehen« kann (Ex 33,23). Als Gott an ihm vorübergeht, ruft Mose: »H ERR , H ERR , Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue« (Ex 34,6). In diesem Satz steckt die grundlegende Beschreibung des Wesens Gottes im Alten Testament (vgl. Num 14,18; Ps 86,15; 103,8). Dabei sind Gnade und Treue und Gnade und Wahrheit Übersetzungsvarianten derselben hebräischen Wörter! Die Herrlichkeit, die in dem Fleisch gewordenen WORT sichtbar und anschaulich wurde, ist also keine andere als die Herrlichkeit des Gottes, der sich Israel in seiner Geschichte offenbart hat. Im Fleisch gewordenen WORT offenbart Gott sein Wesen: Seine Gnade ist Ausdruck seiner Zuwendung und Liebe, seiner Güte und Bereitschaft zur Vergebung. Seine Wahrheit bezeichnet seine verlässliche Treue und seine »verbindliche Selbstmitteilung« in dem Mensch gewordenen (Wilckens, 35). Diese Aussage wird durch eine Zwischenbemerkung unterstrichen, die wohl der Evangelist in das Christuslied eingeschoben hat: Im WORT begegnet den Menschen eine Herrlichkeit, wie sie der Einziggeborene vom Vater (hat). Mit der merkwürdigen Wendung Einziggeborener (LÜ: Eingeborener) geben wir ein griechisches Adjektiv wieder, das einfach einzig bedeutet, wenn es bei einem Wort wie Tochter oder Sohn steht (vgl. Ri 11,34; Lk 7,12; 8,42; 9,38; so auch Joh 3,16.18; 1Joh 4,9). Hier in 1,14 und 18, wo es absolut gebraucht wird, hat es den Charakter eines Titels: der Einzigartige (Sohn) oder der Einziggeborene (ZB). Damit wird die ganz enge Beziehung zwischen Gott, dem Vater, und dem menschgewordenen WORT beschrieben. Es wird damit zum ersten Mal – zumindest indirekt – als Gottes Sohn bezeichnet. Dieser einzigartige und einziggeborene Sohn repräsentiert den Vater.

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Seine Herrlichkeit, sein göttliches Wesen wird in ihm erfahrbar. In ihm wird »Gott anschaulich und begreifbar« (Dietzfelbinger II, 349). Wer aber spricht in dem Wir des Bekenntnisses: wir sahen seine Herrlichkeit? Zunächst sind es die Jünger Jesu als Augenzeugen seines Wirkens (vgl. 2,11). Aber nicht sie allein sind im Blick. Denn Jesu Herrlichkeit haben nicht nur die gesehen, die Zeuge seiner Wunder waren, sondern alle, die in dem Menschen Jesus das Fleisch gewordene WORT Gottes erkannt und wahrgenommen haben. Es ist auch die glaubende Gemeinde, die hier spricht. Allerdings gibt es an dieser Stelle einen tiefgreifenden Streit zwischen den Exegeten: Wird die Herrlichkeit vor allem an all dem Wunderbaren und Übermenschlichen sichtbar, das mit Jesu Wirken verbunden war (vgl. 2,11; 11,4)? Oder sehen nur die seine Herrlichkeit, die nichts anderes als das Fleisch, also die anstößige und dem Tod ausgelieferte menschliche Gestalt Jesu, wahrnehmen und doch an das WORT glauben? Diese Frage muss zunächst offen bleiben (s.u. S. 42f). Dass es bei all dem um die Person Jesu von Nazareth geht, macht der Evangelist zunächst nur indirekt deutlich. Er fügt noch einmal einen Satz über Johannes den Täufer ein, der auf Jesus hingewiesen hat (15). Eigentümlich ist, dass diese Aussage im Präsens formuliert ist: Johannes legt Zeugnis über ihn ab, heißt es, und auch das folgende Perfekt hat ausgerufen hat präsentische Bedeutung: was er ausgerufen hat, das gilt. Das Zeugnis des Johannes wird damit in die Gegenwart des Evangelisten und der lesenden Gemeinde hineingenommen. Aus dieser Perspektive heraus wird das, was Johannes sagte, im Imperfekt formuliert: Dieser war es, von dem ich sagte: Der nach mir kommt, ist mir voraus, denn er war eher als ich (vgl. die Wiederholung in 1,30). Das ist die johanneische Fassung eines Täuferworts, das fest in der Evangelienüberlieferung verwurzelt ist (vgl. Mt 3,11: »Der aber nach mir kommt, ist stärker als ich«). Mit dieser Aussage wird gegen die in der Antike verbreitete Überzeugung Stellung bezogen, dass das Spätere bzw. Jüngere geringeren Rang und weniger Bedeutung hat als das Frühere und Ältere. Das trifft im Verhältnis von Jesus und Johannes nicht zu. Denn Jesus beginnt zwar erst nach dem Täufer, öffentlich zu wirken. Aber in Wirklichkeit ist er ihm voraus, weil in ihm das WORT begegnet, das schon im Anfang bei Gott war. Der Täufer wird damit zum Zeugen der Präexistenz Jesu. Nachdem das klargestellt ist, greift der Evangelist in V. 16 wieder auf das Christuslied zurück. Diejenigen, die in V. 14 das Wort ergriffen haben, begründen ihre Aussage: Denn aus seiner Fülle ha-

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ben wir alle empfangen. Das ist der Grund dafür, dass sie bekennen können: »wir sahen seine Herrlichkeit«. Hier reden Beschenkte, Leute, die aus der Fülle an Gnade und Wahrheit geschöpft haben, die sich in der Begegnung mit Gottes Gegenwart in Jesus Christus für Menschen auftut. Und zwar Gnade um Gnade haben sie empfangen. Manche Ausleger übersetzen Gnade anstatt Gnade, weil das entsprechende griechischen Wort fast immer anstatt bedeutet. Das hieße: Das Gnadengeschenk des Gesetzes wird durch die Gegenwart der Gnade Gottes in Jesus Christus abgelöst (vgl. V. 17). Aber hier hat Gnade um Gnade doch wohl steigernde Bedeutung: Gnade über Gnade, also ein überfließendes Maß an Gnade, haben sie in Jesus Christus empfangen. Damit ist auch klar, dass das Wir, das hier spricht, nicht nur die ersten Begleiter Jesu umfasst, sondern dass die glaubende Gemeinde dankbar bekennt, was die Begegnung mit Jesus Christus für sie bedeutet. Eine zweite Begründung für das Sehen der Herrlichkeit des göttlichen Wortes in der Person Jesu wird in V. 17 gegeben. Die Art, wie sich Gott in Jesus offenbart hat, wird hier neben sein Handeln bei der Übergabe der Tora, des mosaischen Gesetzes, gestellt: Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden. Das ist ein ganz neues Thema. Deshalb nehmen viele Ausleger an, der Vers sei vom Evangelisten dem Christuslied angefügt worden, das mit V. 16 geendet habe. Aber das, was in V. 17 über das Verhältnis von Gesetz und Christus gesagt wird, ist nicht typisch für die johanneische Theologie. Wir nehmen deshalb an, dass es sich hier um die letzte Strophe der Vorlage handelt, in der noch einmal erläutert wird, was es mit Gnade und Wahrheit als Wesensbeschreibung der Herrlichkeit des Wortes (vgl. V. 14) auf sich hat. Diese Annahme hat den Charme, dass damit schon in der Vorlage, ganz am Ende des Liedes, der Name Jesus Christus genannt war, und so endlich gesagt wurde, von wem hier geredet wird. Jesus Christus ist hier, wie oft im Neuen Testament, als Doppelname gebraucht und kommt so im Evangelium nur noch in 17,3 vor (anders im 1. Johannesbrief: 1Joh 1,3; 2,1; 3,23; 4,2; 6,2.20). Aber der Evangelist kennt noch die ursprüngliche Bedeutung von Christus als Übersetzung von Messias (vgl. 1,41; 4,25). Mose und dem Gesetz wird Jesus als der verheißene Messias (wörtlich: der Gesalbte; vgl. zu 1,20) gegenübergestellt. Umstritten ist freilich, wie sich die Aussage von 17a zu der von 17b verhält. Auf den ersten Blick scheint es sich eindeutig um eine Gegenüberstellung zu handeln. Mose und Christus, so hat man den Eindruck, »unterscheiden sich grundlegend« und »stehen

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in einem Gegensatz« zueinander (Schnelle, 61). Bei Mose geschah nicht mehr als die Übergabe des Gesetzes. Die Wirklichkeit der göttlichen Gnade ereignet sich allein in der Menschwerdung des Wortes in Jesus Christus. Aber ist das wirklich gemeint? Beide Sätze sind ohne ein aber nebeneinandergestellt, und die Passivformulierung wurde gegeben umschreibt hier, wie oft, ein Handeln Gottes. Die Offenbarung Gottes im Gesetz und in Jesus Christus werden einander zugeordnet und nicht entgegengesetzt. Die Übergabe des Gesetzes an das jüdische Volk ist eine Vorausdarstellung dessen, was in der Menschwerdung des Wortes geschieht. Im Gesetz hat schon Gottes Weisheit in seinem Volk Wohnung genommen (Sir 24). Das Wesen der Herrlichkeit Gottes als Barmherzigkeit und Treue bzw. Gnade und Wahrheit leuchtet zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Übergabe der Gesetzestafeln an Mose auf (vgl. Ex 34). So weist das Gesetz als Zeuge auf das hin, was durch die Menschwerdung des Wortes in Jesus Christus ein für alle Mal und für die ganze Menschheit geschieht: In ihm begegnen uns Gnade und Wahrheit, also Gott selbst mit der Wirklichkeit seiner Liebe, von Mensch zu Mensch. Durch einen letzten Zusatz zu dem Christuslied erläutert der Evangelist, was hier geschieht (18). Er beginnt mit einer Bemerkung, die die Einzigartigkeit des Christusgeschehens ins Bewusstsein rückt: Gott hat niemand jemals gesehen. Das ist nicht nur eine Tatsachenfeststellung, sondern ein Grundsatz jüdischer und christlicher Theologie (vgl. Ex 33,20; 1Tim 6,16). Allerdings werden im Alten Testament Ausnahmen erzählt (Gen 18,1f; 32,31; Ex 24,10; 33,11; Num 12,8; Jes 6,5). Manche Ausleger vermuten deshalb, die Feststellung des Evangelisten sei eine versteckte Polemik gegen diese Berichte, vor allem soweit sie mit der Übergabe des Gesetzes an Mose verbunden sind. Dafür gibt es aber keinen ausdrücklichen Hinweis. Der Satz soll vor allem die Einzigartigkeit und Einmaligkeit der Gotteserfahrung unterstreichen, die durch die Begegnung mit dem Fleisch gewordenen WORT den Menschen eröffnet wird. Es geht dabei auch nicht um ein irgendwie geartetes leibliches »Sehen«. Vielmehr gilt grundsätzlich: Von sich aus können die Menschen Gott in seinem wahren Wesen nicht erkennen. Sie sind darauf angewiesen, dass Gott auf sie zukommt und sich ihnen offenbart. Das aber ist in Jesus Christus geschehen. Er, der Einziggeborene, Gott (von Art), der im Schoß des Vaters ist, der hat berichtet. Der Text dieses Satzes ist nicht einheitlich überliefert. Die große Zahl der späteren Handschriften schreibt der einziggeborene Sohn, während fast alle frühen Handschriften (der) einziggeborene Gott bezeugen. Manche Ausle-

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ger halten diese Fassung für sekundär und eine Angleichung an das spätere christologische Dogma, das auch den Sohn Gott nennt. Aber dagegen spricht ihre frühe Bezeugung. Es ist auch wahrscheinlicher, dass die schwierige Wendung einziggeborener Gott zu einem einziggeborenen Sohn wurde als umgekehrt. Dabei ist Einziggeborener zum festen Titel geworden und das Wort Gott Apposition, also: der Einziggeborene, Gott (von Art). Damit wird mit etwas anderen Worten die Aussage von V. 1 aufgenommen.

Noch einmal wird der Blick von der geschichtlichen Gestalt Jesu hingelenkt auf die göttliche Wirklichkeit, die in ihm begegnet. Das WORT, der göttliche Logos, wird hier wie in V. 14 der Einziggeborene genannt, der ganz Gottes Art und Wesen repräsentiert und vertritt. Er kommt aus der engsten Verbindung mit dem Vater. Ein biblisches Bild veranschaulicht das: Er war und ist im Schoß des Vaters oder – wie auch übersetzt werden kann : an der Brust des Vaters. Damit wird das bei Gott von V. 1 wieder aufgenommen, und in beiden Fällen steckt im griechischen Text der Hinweis: Er war und ist Gott ganz zugewandt. Merkwürdig ist die Formulierung im Präsens. Bezieht sich die Aussage dennoch nur auf das, was am Anfang war, oder auch schon darauf, dass der Sohn wieder zum Vater zurückgekehrt ist (vgl. 14,2; 16,5)? Vermutlich will Johannes deutlich machen: Dass Jesus im Vater ist und der Vater in ihm (14,10), ist eine Wirklichkeit, die immer gilt. Weil er aus dieser einzigartigen Verbindung mit Gott kommt und spricht, darum kann der Einziggeborene, also Jesus Christus, berichten oder – in theologische Sprache übersetzt – offenbaren. Was er berichtet und kundmacht, wird nicht gesagt. Es geht nicht um diese oder jene Aussage über Gott, sondern um eine Begegnung, in der sich Gottes Wesen in Gnade und Wahrheit offenbart. Vielleicht steht im Hintergrund der Aussage die Frage von Sir 43,31 (LÜ 43,35): »Wer hat ihn [den Herrn] gesehen und wird es berichten?« Dort bleibt die Frage offen. Für die glaubende Gemeinde ist die Antwort klar: Jesus berichtet von dem, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat. Er tut kund, wer und wie Gott ist. Man kann das griechische Verb auch mit auslegen übersetzen. Für Israel war Gott kein unbekannter Gott. Aber auch Israel braucht den, der angesichts so vieler unterschiedlicher Vorstellungen authentisch auslegt, was Gottes Wort sagt und wer Gott wirklich ist. Das aber kann nur der, der vom Herzen Gottes kommt. Das ist Jesus Christus, das Fleisch gewordene WORT. Der Anfang des Johannesevangeliums gehört zu den wirkungsmächtigsten Texten im Neuen Testament. Wir fassen die wichtigsten Gesichtspunkte zusammen:

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1. Der Prolog gleicht einer Ouvertüre. Es gibt verschiedene Arten von Ouvertüren: Manche stellen die musikalischen Hauptthemen der Oper zusammen, andere charakterisieren frei, was in der folgenden Handlung geschehen wird. Der Prolog des Johannesevangeliums ist eine Ouvertüre der zweiten Art. Denn nur wenige seiner Motive kommen im Evangelium vor und umgekehrt. Aber er ist eine knappe und eigenständige Zusammenschau dessen, worum es im Evangelium gehen wird: In der Person und der Geschichte Jesu von Nazareth begegnet Gott den Menschen in einzigartiger Weise. Wie Ouvertüren oft erst ganz am Ende der Arbeit an einer Oper komponiert werden, so ist wohl auch der Prolog des Evangeliums erst gegen Ende des Entstehungsprozesses des Evangeliums geschrieben und dem Werk vorangestellt worden. Er ist nun die maßgebliche Anleitung, wie das Evangelium gelesen werden soll. 2. Für seine Einführung in das Evangelium hat der Evangelist ein vorgegebenes Christusbekenntnis übernommen. Es verbindet das Kommen und Wirken Jesu mit dem Wesen und Weg des göttlichen Wortes, des Logos. Mit der Vorstellung vom göttlichen WORT/Logos knüpft der Prolog an Fragen jüdischen und griechischen Denkens an. Es geht um den Zusammenhang von Gott und Welt, Schöpfung und Erlösung. Das Geheimnis, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, und die Frage, wie Menschen mit dem transzendenten, jenseitigen Gott in Verbindung treten können, werden miteinander verbunden und mit dem Hinweis auf das WORT, den göttlichen Logos, der in Jesus Mensch, ja Fleisch geworden ist, beantwortet. Das mag auch unserem Nachdenken über Schöpfung und Offenbarung Impulse geben. Die erstaunliche Tatsache, dass wir Naturgesetze erkennen und verlässlich anwenden können, und das Wunder, dass uns Jesus Gott als Gott der Liebe bekanntmacht, haben beide ihren Ursprung in dem Gott, der uns im WORT begegnet. 3. Das Wirken des Wortes in der Welt vor Christus wird angedeutet, aber nicht eindeutig ausgeführt. Ob das Christuslied auch vom Wirken des Wortes in Israel vor dem Kommen Jesu gesprochen hat, ist schwer zu sagen, da der Evangelist die entsprechenden Passagen schon auf das Wirken Jesu bezieht. Jedenfalls: Von Gott her ist die Zeit vor Christi Geburt nicht heilsleer – freilich haben die Menschen die Gegenwart des göttlichen Wortes nicht wirklich wahrgenommen (vgl. Röm 1,19ff; 1Kor 1,21). Hier gibt es wichtige Ansatzpunkte im Gespräch mit Israel, aber auch mit anderen Religionen, die möglicherweise zu etwas anderen Schlussfolgerungen führen, als sie Johannes selbst zieht (vgl. zu 14,6). 4. Der entscheidende Schritt im Heilshandeln Gottes durch das WORT ist die Inkarnation, die Fleischwerdung des Wortes in Jesus Christus. Im Menschen Jesus von Nazareth begegnet den Menschen

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die Wirklichkeit Gottes, seine Herrlichkeit. Diese Wirklichkeit kann nicht anders beschrieben werden als mit den Worten, die schon die Offenbarung Gottes im Alten Testament gekennzeichnet haben: Gnade und Wahrheit, Barmherzigkeit und Treue. Im Leben und Sterben Jesu wird diese Wirklichkeit in einzigartiger Weise erfahrbar. 5. Wie diese Wirklichkeit »sichtbar« wird, beschreibt das Evangelium auf doppelte Weise. In den Wundern Jesu, seinen Zeichen, leuchtet die Gegenwart Gottes, seine Herrlichkeit, auf. Menschen können erkennen: Hier ist wirklich Gott am Werk (vgl. 2,11; 3,2; 9,3; 11,40). Eindeutig aber wird Gottes Gegenwart im Weg Jesu durch dessen Gehorsam bis in den Tod (12,28; 13,31; 17,1.5). Jesus lebt Gottes Liebe bis zur Vollendung (3,16; 13,1; 15,13; 19,30). Das ist die Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit, die die christliche Gemeinde »sieht« und in dem Wir von V. 14b dankbar bekennt. Die Herausforderung, beide Perspektiven zusammen zu sehen, gilt bis heute für jede christliche Verkündigung, die sich der theologia crucis, d.h. einer Theologie des Kreuzes, verpflichtet weiß. Einerseits ist festzuhalten: Wir können die gute Botschaft vom Sieg der Liebe Gottes nie anders weitergeben als im »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18– 25). Wir »haben« den Schatz der Gegenwart Gottes und seiner Herrlichkeit nie anders als in den »irdenen Gefäßen« einer begrenzten und vergänglichen Existenz (2Kor 3,18; 4,5–7). Und wir wissen, dass die Kraft Christi gerade »in der Schwachheit vollendet wird« (2Kor 12,9f). Andererseits bleibt wichtig, dass die Gegenwart Gottes und seiner rettenden und heilenden Liebe immer wieder auch zeichenhaft in Erfahrungen sichtbar wird, die uns dankbar staunen und Gott loben lassen (das sieht auch Paulus so: Röm 15,19; 2Kor 12,12!) 6. Der Hinweis auf das Zeugnis des Täufers macht dieses Geschehen in der Geschichte Gottes mit seinem Volk fest. Dabei wird einerseits das Neue und Einzigartige der Offenbarung Gottes in Jesus Christus gegenüber der Gabe des Gesetzes und der alttestamentlichen Gotteserfahrung betont, andererseits aber auch bis in die Begrifflichkeit hinein festgehalten: Es ist derselbe Gott, der durch sein Wort in Israel und durch Jesus Christus handelt. 7. »Mach’s wie Gott« stand auf der Vorderseite des T-Shirts einer jungen Dame, die im ICE an mir vorbeiging. Neugierig schaute ich auf die Rückseite. Dort stand: »Werde Mensch«. Gott wird Mensch – das ist die Kurzfassung der Botschaft des Prologs. Freilich differenzieren Prolog und Evangelium stärker. Gottes Sein geht nicht in der Person Jesu auf. Gott als Vater bleibt das Gegenüber des Sohnes. Und doch halten Prolog und Evangelium fest: In Jesus Christus, dem Mensch gewordenen WORT, begegnet wirklich Gott. »Es gibt kein anderes Angesicht Gottes für den Menschen als jenes des Jesus von Nazareth« (Zumstein, 75).

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1,19–34

1,19–51 Das Zeugnis des Täufers und das Bekenntnis der ersten Jünger Der Abschnitt 1,19–51 knüpft unmittelbar an die Täuferaussagen des Prologs an (1,6–8.15). Dabei verbindet er in einer Weise, die die anderen Evangelien nicht kennen, das Zeugnis des Täufers mit der Berufung der ersten Jünger und deren Bekenntnis zu Jesus. Er gehört daher noch nicht zum ersten Hauptteil des Evangeliums, der dem Handeln und Reden Jesu in der Öffentlichkeit gewidmet ist, sondern führt zu ihm hin. Auffallend ist die Gliederung des Abschnitts in ein Tagesschema, das auch 2,1 mit einschließt: 1. Tag: 1,19–28: Der Täufer bekennt sich zu seiner Rolle als Vorläufer 2. Tag (am nächsten Tag, V. 29): 1,29–34: Der Täufer identifiziert Jesus als Gottes Sohn 3. Tag (am nächsten Tag, V. 35): 1,35–39: Die beiden ersten Jünger finden zu Jesus 4. Tag (aus V. 39 zu erschließen): 1,40–42: Die Berufung des Petrus 5. Tag (am nächsten Tag, V. 43): 1,43–51: Die Berufung von zwei weiteren Jüngern 7. Tag (am dritten Tag, 2,1): Jesus beginnt, seine Herrlichkeit zu offenbaren

Man könnte deshalb 1,19 – 2,12 auch als ersten Abschnitt des ersten Hauptteils des Evangeliums unter der Überschrift »Die erste Woche« (Wengst, 77) ansehen. Doch gibt es andere Gliederungssignale, die dafür sprechen, den ersten Hauptteil erst mit 2,1 beginnen zu lassen (s. dort) und 1,19–51 als Hinführung zu verstehen. Dieser Abschnitt bereitet Schritt für Schritt den Bericht von der Offenbarung des Sohnes Gottes in der Person und dem Wirken Jesu vor, der mit 2,1 beginnt. Seine fünf Tagesschritte lassen sich schwerpunktmäßig in zwei Teilabschnitte gliedern: 1,19-34 1,35-51

Der Täufer: Zeuge für Jesu Person und Auftrag Die Berufung der ersten Jünger und ihr Bekenntnis zu Jesus

Beide Abschnitte führen auf ein Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes hin (V. 34.49). Das Zeugnis der Jüngergemeinde in 1,14.18 wird durch die bestätigt, die am Anfang des Weges Jesu standen. 1,19–34 Der Täufer: Zeuge für Jesu Person und Auftrag 19

Und dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden aus Jerusalem Priester und Leviten zu ihm schickten, um ihn zu fragen: Wer bist

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du? 20Und er bekannte und leugnete nicht, sondern er bekannte: Ich bin nicht der Messias. 21Und sie fragen ihn: Was dann? Bist du Elia? Und er sagt: Ich bin es nicht. Bist du der Prophet? Und er antwortete: Nein. 22Sie sagten also zu ihm: Wer bist du (dann)? Damit wir denen antworten können, die uns gesandt haben – was sagst du über dich selbst? 23Er sagte: Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, wie Jesaja, der Prophet, sagte (Jes 40,3). 24Und die gesandt waren, kamen von den Pharisäern. 25 Und sie fragten ihn und sagten zu ihm: Warum taufst du, wenn du weder der Messias noch Elia noch der Prophet bist? 26Aber Johannes antwortete ihnen und sagte: Ich taufe mit Wasser. Mitten unter euch steht schon der, den ihr nicht kennt, 27der nach mir kommt, dem gegenüber ich nicht wert bin, die Riemen seiner Sandalen zu lösen. 28Dies geschah in Betanien jenseits des Jordans, wo Johannes (sich aufhielt und) taufte. 29 Am nächsten Tag sieht er Jesus zu sich kommen und sagt: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt (weg)trägt. 30Dieser ist es, von dem ich sagte: Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist, denn er war eher als ich. 31Auch ich kannte ihn nicht, aber damit er für Israel offenbar gemacht wird, deshalb bin ich gekommen und taufe mit Wasser. 32Und Johannes legte Zeugnis ab und sagte: Ich habe gesehen, wie der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam und auf ihm blieb. 33Auch ich kannte ihn nicht, sondern der, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der sagte zu mir: Auf den du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist der, der mit Heiligem Geist tauft. 34Und ich habe (es) gesehen und bezeugt: Dieser ist der Sohn Gottes. Der Abschnitt 1,19–34, in dem Johannes der Täufer als Zeuge für Jesus vorgestellt wird, gliedert sich in zwei Teile: In den V. 19–28 weist Johannes von sich weg und auf den hin, der nach ihm kommt. Indem er für sich jede messianische und heilsbegründende Funktion ablehnt, schafft er Raum für den Blick auf Jesus. In den V. 29–34 sagt Johannes dann direkt, wer Jesus ist und was er für Israel bedeutet. Am Anfang und Ende dieses Abschnitts stehen zwei »Titel« des Kommenden, die das zusammenfassen: Lamm Gottes (V. 29) und Sohn Gottes (V. 34). In der ersten Szene (19–28) wird erzählt, wie Johannes seinen Auftrag erfüllt, Zeugnis für das Licht abzulegen (1,7f). Zunächst sagt er als Zeuge im Rahmen einer offiziellen Befragung aus (19). Denn die Juden hatten aus Jerusalem eine kleine Delegation von Priestern und Leviten zu ihm geschickt, um ihn zu fragen: Wer bist du? Es geht also um das Selbstverständnis des Johannes. Wo-

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für hält er sich? Dahinter steht als eigentliche Frage: Welche Vollmacht beansprucht er für sein Tun? Worin liegt die Bedeutung und Autorisierung seiner Tauftätigkeit? Vielleicht ist das der Grund, warum die Delegation aus Priestern und Leviten bestand, die für Fragen kultischer Reinheit zuständig waren. An dieser Stelle taucht im Johannesevangelium zum ersten Mal die Wendung die Juden auf. Sie kommt sehr häufig vor (69-mal), hat aber unterschiedliche Bedeutung. Oft werden damit jüdische Sitten oder Feste gekennzeichnet (vgl. 2,6.13; 5,1; 6,4 u.ö.). An einer Reihe von Stellen ist damit ganz neutral die Menge des Volks gemeint, mit der Jesus zu tun hat (7,15.35 u.ö.; ausdrücklich alle Juden 18,20). Einmal wird Jesus selbst als Jude bezeichnet (4,9). Das spricht gegen die These, dass mit den Juden bei Johannes immer Judäer, also Bewohner Judäas, gemeint seien (vgl. auch 6,41.52) Aber obwohl Jesus und seine Jünger selbst Juden sind, wird mit die Juden nicht selten eine Gruppe bezeichnet, die von ihnen unterschieden ist. Oft scheint mit die Juden eine Art Oberbehörde gemeint zu sein, die gegen Jesus ermittelt und ihn beseitigen will (vgl. 2,18.20; 5,10.18; 7,1.11 und vor allem in der Passionsgeschichte 18,12.14 u.ö.). Das führt zu der merkwürdigen Feststellung, dass sich jüdische Menschen aus Furcht vor den Juden verstecken (7,13; 9,22; 19,38; 20,19). Aber erst im Laufe der Erzählung werden die Juden zum Inbegriff für die Gegner Jesu (8,48.52.57; 9,18; 10,31; 11,8). In den Abschiedsreden tritt an ihre Stelle die »Welt« (15,18f). Es wird aber auch von Juden erzählt, die zum Glauben kommen (8,31; 11,45; 12,11). Vor allem wird in 4,22 ausdrücklich gesagt: »Das Heil kommt von den Juden«. Der Evangelist zeichnet also ein differenziertes Bild von den Juden, wenn auch die negative Akzentuierung überwiegt und die Wirkungsgeschichte geprägt hat. Vermutlich spiegelt sich in diesem Sprachgebrauch die Situation der Gemeinde, in der das Evangelium entstand. Sie besteht mehrheitlich aus Judenchristen, die aber aus der Synagoge ausgeschlossen worden sind (vgl. zu 9,22; 12,42). Eine ähnliche Situation dürfte auch hinter dem Matthäusevangelium stehen. Es ist wichtig zu beachten, dass diese kritische Linie situationsbedingt ist, und sie nicht – wie oft geschehen – zu verallgemeinern.

Sehr feierlich, mit einer positiven und einer negativen Formulierung, wird von der Reaktion des Täufers berichtet (20): Er bekannte und leugnete nicht. Die positive Aussage wird sogar ausdrücklich wiederholt: sondern er bekannte. Doch zunächst sagt er, wer er nicht ist: Ich bin nicht der Messias. Das ist die entscheidende Aussage: Johannes ist nicht der von Gott zum Heil gesandte Friedenskönig für Israel. Damit wird die Feststellung von 1,8, dass Johannes nicht das Licht war, im Blick auf die Heilshoffnung Israels konkretisiert. Mit dem Begriff Messias (griechische Umschrift für hebräisch Gesalbter; auf Griechisch christos, latinisiert Christus) wird ein zentrales Thema jüdischer Hoffnung in neutestamentlicher Zeit angesprochen. Im Alten Tes-

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tament ist der Gesalbte Gottes meist der König (1Sam 9,16; 12,3; 24,7; Ps 2,2; 20,7 u.ö.). Die Verheißungen für das davidische Königshaus wecken die Hoffnung auf einen endzeitlichen Herrscher, der für Israel Heil, Frieden und Gerechtigkeit schaffen wird (vgl. Jes 8,23 – 9,6; 11,1–5; Jer 23,5f). Allerdings trägt dieser Herrscher im Alten Testament noch nicht den Titel Gesalbter bzw. Messias. Das ist dann in den Psalmen Salomos (17–18) der Fall, die aus dem 1. Jh. v.Chr. stammen und die populäre Hoffnung dieser Zeit bezeugen. Auch wenn die Messiaserwartung des zeitgenössischen Judentums nicht einheitlich war, so war doch die Hoffnung auf einen Beauftragten Gottes, der Israel befreien und Frieden und Gerechtigkeit bringen würde, weit verbreitet.

Die Abgesandten der jüdischen Obrigkeit begnügen sich nicht mit dieser Auskunft. Vielleicht identifiziert sich Johannes mit einer anderen messianischen Gestalt, die für die Endzeit erwartet wird. Die Fragenden nennen Elia und den Propheten (21). Sie gelten als Boten Gottes, die Israel auf Gottes endzeitliches Handeln und sein Gericht vorbereiten: Elia aufgrund der Verheißung von Mal 3,23f, der Prophet aufgrund von Dtn 18,15–18, wo Mose sagt: »Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erwecken«. In Mk 6,15; 8,28 wird berichtet, dass Jesus von einigen als wiedergekommener Elia oder als der endzeitliche Prophet betrachtet wurde. Vielleicht gab es ähnliche Mutmaßungen im Blick auf den Täufer. Dieser aber bestreitet kategorisch, eine dieser messianischen Gestalten zu sein. Das steht in einem gewissen Widerspruch zu Mt 17,10–13, wo Jesus andeutet, dass für ihn im Wirken des Täufers die Verheißung der Wiederkunft des Elia erfüllt ist. Man wird also das Selbstbewusstsein des historischen Täufers, die Deutung, die Jesus nach Matthäus dem Auftreten des Täufers gab, und die besondere Akzentsetzung im Johannesevangelium unterscheiden müssen.

Dass Johannes konsequent verneint, ein Werkzeug des endzeitlichen Heilswirkens Gottes zu sein, macht die Fragenden ratlos (22). Welche Bedeutung hat sein Wirken dann? Was sollen sie ihren Auftraggebern sagen? Johannes muss doch in irgendeiner Weise Auskunft darüber geben können, welche Rolle und Funktion er sich und seinem Handeln zuschreibt! Das tut er dann auch mit einer Aussage, die sich eng an Jes 40,3 anlehnt: Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn (23). Jes 40,3 wird auch in den anderen Evangelien auf den Täufer bezogen (vgl. Mk 1,3; Mt 3,3; Lk 3,4). Gemeinsam ist der ganzen urchristlichen Überlieferung, dass in der Wüste nicht wie ursprünglich in Jes 40 den Ort beschreibt, wo der Weg gebahnt wird, sondern die Stelle, an der der Rufende seine Stimme erhebt

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(vgl. Mk 1,4; Mt 3,1). So konnte das Wort auf den Täufer bezogen werden. Im Unterschied zu den anderen Evangelien wird bei Johannes das Zitat aber nicht als Resultat christlichen Nachdenkens über die Bibel eingeführt. Es ist der Täufer selbst, der so seine Aufgabe beschreibt: Ich bin die Stimme eines Rufenden. Für den Evangelisten ist Johannes nichts als der Wegbereiter Jesu. Mit seinem ganzen Wirken weist er auf Jesus hin. Hier schiebt der Evangelist mit einer Zwischenbemerkung die Information nach, dass die Leute von den Pharisäern geschickt worden waren (24). Sie sind im 4. Evangelium zusammen mit den Hohepriestern die entschiedensten und einflussreichsten Gegner Jesu (vgl. 7,32.45; 11,47.57; 18,3). Doch gibt es unter ihnen auch Leute wie Nikodemus, die offen für die Verkündigung Jesu sind (vgl. 3,1). Ursprünglich waren die Pharisäer eine Laienbewegung, die sich durch besondere Gesetzestreue auszeichnete und sich darum bemühte, in Anlehnung an Ex 19,6 die Reinheitsbestimmungen, die ursprünglich nur für Priester galten, für alle Israeliten anzuwenden. Zur Zeit Jesu waren sie vor allem in Galiläa dominant, während ihr Einfluss in Jerusalem begrenzt war. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. übernahmen pharisäisch geprägte Schriftgelehrte, die Rabbinen, die Führung im Volk. Dadurch kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit judenchristlichen Kreisen. Diese Situation spiegelt sich im Matthäusevangelium (vgl. Mt 23), vor allem aber im Johannesevangelium wider (vgl. 9,22; 12,42). In ihm werden von den verschiedenen Gruppierungen im Judentum nur die Pharisäer erwähnt. Sie sind entschiedene Gegner Jesu und spielen die Rolle einer Art Inquisitionsbehörde (vgl. 4,1; 9,13; 12,42).

Die Erwähnung der Pharisäer soll erklären, warum die Abgesandten sich mit der Antwort des Johannes nicht begnügen, sondern nachhaken (25): Warum taufst du (dann), wenn du weder der Messias, noch Elia, noch der Prophet bist? Die Frage zeigt, dass man wusste: Johannes sah in der Taufe, die er an den Menschen vollzog, keinen Reinigungsritus wie viele andere, sondern den entscheidenden Schritt zur Rettung im Endgericht. Dazu aber schien eine messianische Bevollmächtigung nötig. Aber gerade im 4. Evangelium wird die Bedeutung der Taufe des Johannes ausgeblendet. Johannes wird darum nie »der Täufer« genannt. Seine Aufgabe ist, auf Jesus als den Messias hinzuweisen. Deshalb lautet seine Antwort (26): Ich taufe (nur) mit Wasser. Was es mit dieser Einschränkung auf sich hat, wird erst in V. 33 erklärt werden. Jetzt erfolgt der entscheidende Hinweis auf den kommenden Messias, der schon unerkannt im Volk lebt: Mitten

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unter euch steht schon der, den ihr nicht kennt. Viele Ausleger sehen in dieser Aussage eine Anspielung auf das Motiv vom »verborgenen Messias«. In nachneutestamentlicher Zeit gab es im Judentum die Vorstellung, der Messias lebe zunächst unerkannt im Volk und werde vom wiederkommenden Elia offenbar gemacht. Aber im 4. Evangelium lehnt es Johannes ausdrücklich ab, die Rolle des Elia zu erfüllen. Wie viel wichtiger und größer der Kommende als er selbst sein wird, beschreibt Johannes mit einem Vergleich, den alle Evangelisten in etwas unterschiedlichem Wortlaut als Wort des Täufers berichten (27). Er verweist auf den, der nach mir kommt, dem gegenüber ich nicht wert bin, die Riemen seiner Sandalen zu lösen (vgl. Mt 3,11 und vor allem Mk 1,7; Lk 3,16). Jemanden die Riemen der Sandalen aufzuknüpfen war niedrigster Sklavendienst. Aber nicht einmal dazu fühlt sich Johannes würdig, so viel höher steht der, der kommen wird, über ihm. Worin diese Überlegenheit besteht, wird nicht gesagt. Hier wird zunächst Spannung aufgebaut (vgl. V. 33). Ein Nachtrag zum Ort des Geschehens beschließt diesen ersten Teil unseres Abschnitts (28). Der 4. Evangelist liebt es, durch geographische Hinweise seine Berichte zu »erden«. Johannes übte seine Tauftätigkeit an einem Ort namens Betanien aus, der im Unterschied zu dem Betanien bei Jerusalem (11,1; 12,1) jenseits des Jordans liegt. Das ist neben 3,23 die einzige Stelle, an der die Tauftätigkeit des Johannes erwähnt wird, wobei die griechische Verbform deutlich macht, dass er sich dort längere Zeit aufhielt und taufte. Er tut dies jenseits des Jordans, also an der Grenze zum Gelobten Land. Jesus wird am Ende seiner Wirksamkeit dorthin zurückkehren (10,40f), um von dort ins andere Betanien zu gehen zu dem entscheidenden »Zeichen« der Auferweckung des Lazarus (11,1) und der Salbung für seinen Tod! Dieses Betanien jenseits des Jordans ist nicht sicher zu lokalisieren. Spätere Handschriften lesen Bethabara, ein Ort, der sich östlich des Jordans, etwa auf der Höhe Jerichos, befand. Aber die ältesten Handschriften bezeugen eindeutige Betanien. Manche vermuten, dass ursprünglich die östlich vom See Genezareth gelegene Landschaft Betanäa gemeint war. Aber es ist unwahrscheinlich, dass Johannes so weit weg von Jerusalem gewirkt hat.

Der nächste Abschnitt (29–34) berichtet, was Johannes direkt über Jesus sagt. Das geschieht in zwei Schritten: Die V. 29–31 enthalten sein Bekenntnis bei der Begegnung mit Jesus. Es beginnt mit dem Ausruf: Seht, das Lamm Gottes. In V. 32–34 erzählt Johannes, wie er Jesus erkannte. Sein Bericht schließt mit den Worten: Dieser ist der Sohn Gottes.

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Die Zeitangabe Am nächsten Tag (29) markiert einen Einschnitt, verbindet aber zugleich beide Abschnitte. Zum ersten Mal tritt Jesus in Erscheinung, und erstmals seit V. 17 wird sein Name genannt. Der Evangelist setzt voraus, dass seine Leser und Leserinnen diesen Namen kennen. Warum Jesus zu Johannes kommt, wird nicht gesagt. Wichtig ist, was Johannes über ihn zu sagen hat: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt (weg)trägt. Zu wem der Täufer spricht, bleibt ebenfalls offen. Es sind sicher nicht nur die Abgesandten der Pharisäer, sondern eine nicht näher definierte Zuhörerschar. Für den Evangelisten aber spricht Johannes zu allen, die diese Worte im Evangelium lesen oder hören. Das Lamm Gottes – das klingt wie ein fest geprägter Begriff, ähnlich wie der Sohn Gottes. Aber anders als dieser kommt die Wendung außer in 1,36 weder im Alten Testament noch in zeitgenössischen jüdischen Schriften oder sonst im Neuen Testament vor. Darum ist die Frage, welche konkreten Vorstellungen sich mit ihr verbinden, schwer zu beantworten. Ein Hinweis gibt die Ergänzung: das die Sünde der Welt (weg)trägt. Mit dem Bild vom Lamm verbindet sich also die Vorstellung, dass der, der so bezeichnet wird, die Last der Schuld der Menschheit auf sich nimmt und wegschafft. Aber von welchem Lamm wird das in der biblischen Tradition gesagt? Sehr oft wird das Passahlamm genannt. Die Lämmer wurden nach dem Vorbild von Ex 12 am Nachmittag des 14. Nisan im Tempel in Jerusalem geschlachtet und am Abend dieses Tages beim Passahmahl gegessen. Für diese Deutung spricht, dass nach der johanneischen Chronologie Jesus am Nachmittag des 14. Nisan zur gleichen Stunde starb, in der im Tempel die Passahlämmer geschlachtet wurden. Dazu kommt, dass in 19,36 eine Aussage über das Passahlamm in Ex 12,46 (»Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen«) auf Jesus bezogen wird. Gegen eine Bezugnahme auf das Passahlamm spricht, dass die Schlachtung der Passahlämmer ursprünglich keine sündentilgende Wirkung hatte. Es gibt freilich Indizien dafür, dass zu neutestamentlicher Zeit der Passahritus als sühnendes Opfer gesehen wurde. Sehr häufig wird auch auf den Knecht Gottes in Jes 53 verwiesen. Er verhielt sich nach 53,7 in seinem Leiden »wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird«. Von ihm wird auch gesagt: »er trug unsere Krankheit« (53,4) und »dass er die Sünde der Vielen getragen hat« (53,12). Dagegen wird eingewandt, dass der Knecht nicht Lamm Gottes genannt, sondern mit einem Lamm verglichen wird. Viele Ausleger denken auch an »das Lamm, das geschlachtet wurde«, von dem in der Offenbarung des Johannes gesprochen wird und das Gottes Plan mit dieser Welt zum Ziel bringen wird (Offb 5,6.12; 19,7 u.ö.). Allerdings wird in der Offenbarung ein anderes griechisches Wort für Lamm verwendet als hier.

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Weiter wird eine Anspielung auf die Lämmer erwogen, die täglich beim Morgen- und Abendopfer geschlachtet wurden, oder auf die Symbolfigur des Sündenbocks, der nach Lev 16,20–28 am großen Versöhnungstag die Sünden des Volks in die Wüste tragen soll. Auch an Isaaks Opferung und das Ersatzopfer eines Widders (Gen 22) wird gedacht oder auf das Bildfeld von Hirte und Schaf als Ganzes verwiesen.

Offensichtlich wird mit der Wendung Lamm Gottes nicht einfach ein vorgegebenes Bild aus dem Alten Testament übernommen. Es fließen verschiedene Motive aus der Tradition zusammen, wobei zweifellos das Passahlamm und das Vorbild des Gottesknechts nach Jes 53 die prägende Rolle spielen. Das Lamm Gottes ist der von Gott geschenkte Mittler, der durch den Einsatz seines Lebens die Entfremdung der Menschen von Gott überwindet. Zwar wird nicht ausdrücklich gesagt, dass es sich dabei um ein sühnendes Opfer handelt. Aber das Bild vom Lamm weist doch deutlich darauf hin, dass es Aufgabe des Lammes sein wird, durch die Hingabe seines Lebens die Sünde der Menschen zu tilgen. Wichtig ist: Der Begriff Sünde erscheint im Singular. Es geht also nicht nur um die vielfachen Verfehlungen der Menschen, sondern um ihre grundsätzliche Trennung von Gott und ihre Weigerung, sich ihm ganz anzuvertrauen und ihr Leben zur Verfügung zu stellen. Was Leben und Sterben des Lammes bewirken wird, ist nicht nur Vergebung vergangener Schuld. Das Lamm wird all das wegtragen und wegschaffen, was die Menschen von Gott trennt. Die Schuld wird verarbeitet und belastet nicht mehr. Sehr betont wird von der Sünde der Welt gesprochen, die das Lamm wegträgt. Damit wird wie in 3,16 und 4,42 nachdrücklich unterstrichen, dass das Wirken Jesu Christi der ganzen Welt, d.h. allen Menschen gilt und nicht nur einem kleinen Kreis Erwählter. Zugleich zeigt diese Aussage, dass die Lebensverfehlung der Einzelnen kein »Einzelfall« ist, sondern – modern gesprochen – ein systemisches Problem einer Gemeinschaft ohne Gott, eben der Welt. Dass nach 16,9 die Sünde der Welt darin besteht, »dass sie nicht an mich glauben«, ist eine weiterführende Interpretation, die an unserer Stelle noch keine Rolle spielt. Auf dem Hintergrund von Jes 53 weist das Motiv vom Wegtragen der Sünde auf Jesu Tod voraus. Indem Jesus das Todesgeschick der Menschen auf sich nimmt, nimmt er auch alles auf sich, was ihren Tod als Konsequenz ihrer Trennung von Gott, der Quelle des Lebens, verursacht, und beseitigt es. Aber der Prozess der Verarbeitung und »Entsorgung« der Sünde ist nicht auf das Geschehen auf Golgatha beschränkt. Die Kreuzestheologie des Johannes sieht Jesu ganzes Wirken im Schatten (und im Licht) des Kreuzes (s. auch zu 3,16).

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Die Aussage: Seht, das ist Gottes Lamm ist also ein wichtiges Signal am Anfang des Evangeliums, vor allem in Verbindung mit dem Bekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn (V. 34). Aber zunächst wird das Motiv nicht weiter entfaltet. Stattdessen greift Johannes auf eine frühere Aussage zurück, die schon im Rahmen des Prologs zitiert wurde (V. 15) und hier fast wörtlich wiederholt wird: Dieser ist es, von dem ich sagte: Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist, denn er war eher als ich (30). Es ist merkwürdig: Johannes wird hier wie in 1,15 mit einer Aussage zitiert, die er über Jesu gemacht hat, ohne dass das Evangelium direkt davon berichtet hätte. Offensichtlich setzt der Evangelist die Kenntnis von Mt 3,11 voraus. Wie in 1,15 besprochen, arbeitet das Wort damit, dass der Begriff voraus sein doppeldeutig ist. Jesus tritt nach Johannes auf; das ist geschichtliche Tatsache. Aber er ist ihm voraus, das heißt, er ist ihm überlegen und hat einen höheren Rang. Denn – so wird begründet – er war eher als ich. Auch in dieser Aussage gehen zeitliche und sachliche Vorrangstellung ineinander über (vgl. die Übersetzung von Wilckens, 37: er ist der Erste, eher als ich). Was vom Logos gilt, wird hier von Jesus gesagt: Er gehörte von Anfang an zu Gott und bildet deshalb auch die erste und entscheidende Verbindung Gottes zur Schöpfung und zur Menschheit. Die Vorstellung von der Präexistenz von Personen oder göttlichen Offenbarungsmittlern war im Judentum zur Zeit des Neuen Testaments nicht unbekannt. Vor allem von der Weisheit (Spr 8,22–31), von der Tora (Sir 24), aber auch von den drei Patriarchen, dem Volk Israel und dem »Namen des Messias« (BerR 1,9) wird in der jüdischen Überlieferung gesagt, dass sie schon im Anfang bei Gott waren. Auch vom kommenden Menschensohn heißt es, dass er »von Anbeginn verborgen« war (1Hen 62,7). Bei Paulus und der von ihm benutzten Tradition ist die Präexistenz Jesu Christi offensichtlich vorausgesetzt (vgl. 1Kor 8,6; 10,4 und vor allem Phil 2,6f; weiter Kol 1,15–17; Eph 1,3f; 1Petr 1,20). Entfaltet wird diese Vorstellung in den johanneischen Schriften: Joh 1,1f.15.30; 1Joh 1,1–3. Jesus spricht davon, dass er vom Vater kommt (8,42; 16,28), dessen Herrlichkeit er teilte, bevor die Welt war (17,5.24). Er, der Sohn, wurde in die Welt gesandt, um die Welt zu retten (3,17; 10,36). Diese Vorstellung wird aber nie mythologisch zu Bildern ausgemalt, die Jesus neben Gott, dem Vater, auf einem himmlischen Thron sitzend zeigen o.ä. Sie steht ganz im Dienst der Aussage, dass Gottes Wille, sich zu offenbaren und diese Welt zu retten, schon von Anfang an zu seinem Wesen gehörte. In Jesus von Nazareth begegnet den Menschen Gottes Person gewordene Liebe, die schon immer Teil seines Wesens war.

Noch einmal wird der Unterschied zwischen dem Täufer und Jesus deutlich gemacht, wenn dieser bekennt (31): Auch ich kannte ihn

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nicht. Wie das Volk kennt auch er den kommenden Messias nicht (vgl. V. 26). Aber es ist gerade der Sinn seines Auftretens (deshalb bin ich gekommen), dass der Kommende für Israel offenbar gemacht wird, das heißt, dass Gott ihn durch das Wirken des Täufers als den Messias identifiziert und bekannt macht. Im 4. Evangelium wird die Sendung des Täufers ganz auf die Funktion reduziert, Jesus bekannt zu machen, und zwar für Israel. Dieser Name für das jüdische Volk hat bei Johannes immer eine positive Bedeutung (vgl. 1,49; 3,10; 12,13). Auch im 4. Evangelium ist der Bund Gottes mit seinem Volk nicht gekündigt. Die Erzählung setzt noch einmal neu an (32). Sehr betont wird festgestellt: Johannes legte Zeugnis ab. Das ist seine eigentliche Aufgabe, wie immer wieder neu betont wird (1,7.15.19). Doch nun sagt er nicht nur, wer dieser Jesus ist, sondern berichtet auch, wie er zu dieser Erkenntnis gekommen ist: Ich habe gesehen, wie der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam und auf ihm blieb. Damit wird eindeutig auf das Geschehen bei der Taufe Jesu Bezug genommen (vgl. Mk 1,9–11; Mt 3,16f; Lk 3,21f). Sie wird merkwürdigerweise im 4. Evangelium nicht erzählt, und die Exegeten sind sich nicht einig, ob dieses Schweigen eine kritische Distanzierung bedeutet oder nur eine andere Akzentsetzung. Offensichtlich setzt der Evangelist voraus, dass seine Leser und Leserinnen den Bericht von der Taufe Jesu aufgrund mündlicher Überlieferung oder aus einem der anderen Evangelien kennen. Dort wird erzählt, dass der Geist bei Jesu Taufe wie eine Taube auf ihn herabkam, ein Bild, mit dem das Sichtbarwerden des Geistes veranschaulicht werden soll. Während aber Markus und Matthäus berichten, dass Jesus das Herabkommen des Geistes sieht, ist es hier der Täufer, der diesen Vorgang gesehen hat. Ausdrücklich stellt er fest, dass der Geist auf Jesus bleibt. Jesus ist auch in seinem irdischen Wirken ganz von Gottes Geist bestimmt. Dass Johannes in Jesus den erkennt, durch den Gott zum Heil Israels und der Welt handeln wird, liegt nicht an seiner eigenen Einsicht (33). Noch einmal betont er: Auch ich kannte ihn nicht. Das schließt eine persönliche Bekanntschaft der beiden nicht unbedingt aus. Aber auch Johannes wusste nicht, wer Jesus wirklich war. Gott selbst (der, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen) sagt zu ihm: Auf den du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist der, der mit Heiligem Geist tauft. Das sichtbare Herabkommen des Geistes zeigt an, dass Jesus bleibend von Gottes Geist bestimmt ist. Es macht aber auch deutlich, was seine Aufgabe sein wird: Er ist der, der mit Heiligem Geist tauft. Was das bedeutet, wird noch nicht erklärt. Aber im Hintergrund steht die Überzeugung, dass die Ausgießung von Gottes Geist

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Merkmal der messianischen Zeit ist (Jes 32,15–18; 44,3–5; Ez 11, 19; 36,26f; 1QS 4,20f). Ziel des Wirkens Jesu ist es, denen, die an ihn glauben, Gottes Geist zu schenken (7,39; 14,16f; 15,26; 16,7; 20,22). In V. 34 findet die Aussage des Täufers über Jesus ihre entscheidende Zusammenfassung. Noch einmal sagt er betont: ich habe gesehen und bezeugt. Beide griechische Verben stehen im Perfekt, was die bleibende Bedeutung des Geschehens betont: Ich habe immer vor Augen und bezeuge bis jetzt: Dieser ist der Sohn Gottes. Allerdings gibt es gerade bei dieser zentralen Aussage eine abweichende Textfassung. In der Urschrift des Codex Sinaiticus, in einigen lateinischen Handschriften und einem Teil der syrischen Überlieferung steht hier der Erwählte Gottes statt der Sohn Gottes. Da die Bezeichnung Sohn Gottes im Johannesevangelium sehr häufig ist, während Erwählter Gottes sonst nicht vorkommt, liegt es nahe, diesen Text als die »schwierigere Lesart« zu betrachten, die an die geläufige Wendung Sohn Gottes angeglichen wurde. Aber da in fast allen griechische Handschriften Sohn Gottes steht, ist doch wahrscheinlicher, dass dieser Begriff in einem schmalen Zweig der Überlieferung in Anlehnung an Jes 42,1 durch Erwählter Gottes ersetzt wurde.

Mit dieser Aussage hat das Zeugnis des Täufers seinen Höhepunkt erreicht. Jesus ist Sohn Gottes, er ist der, der Gottes Wesen und Wollen in einzigartiger Weise unter den Menschen vertritt. Auch das Bekenntnis der neu gewonnenen Jünger im nächsten Abschnitt (1,35–51) wird in der Aussage Nathanaels gipfeln: »Du bist der Sohn Gottes« (V. 49), und am Schluss des Evangeliums wird in 20,31 als dessen Zielsetzung genannt: »damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes«. Zu erkennen, dass in Jesus und seinem Wort Gott begegnet, und sich ihm anzuvertrauen, darauf zielt das Evangelium mit allem, was es von Jesus berichtet. Sohn Gottes wird im Alten Testament das Volk Israel genannt (Ex 4,22; Jer 31,9.20 u.ö.), aber auch der König gilt als Gottes Sohn (2Sam 7,14; Ps 89,27f). In Ps 2,7 sagt Gott zu ihm: »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.« Trotz dieser Formulierung ist aber – anders als in Ägypten oder bei den Griechen – nicht an eine biologische Abstammung des Königs von Gott gedacht. Als Sohn ist der König der legitime Repräsentant Gottes für das Volk. Nach Weish 2,14.18; 5,5 heißt auch der Gerechte Gottes Sohn. Aber merkwürdigerweise gibt es im frühen Judentum keinen einzigen sicheren Beleg dafür, dass der Messias als Sohn Gottes bezeichnet wird. Möglicherweise war der Begriff zu sehr von Fremdherrschern besetzt, die sich Sohn Gottes nannten.

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Dem steht eine reiche Bezeugung im Neuen Testament gegenüber. In allen Evangelien wird von Anfang an klargestellt, dass es ihnen um die Geschichte des Sohnes Gottes geht. Bei Markus geschieht dies wohl schon in der Überschrift (1,1), spätestens durch die Himmelsstimme bei der Taufe Jesu (1,11). Als Bekenntnis eines Menschen aber erscheint Sohn Gottes erst im Mund des Hauptmanns unter dem Kreuz (15,39). Bei Matthäus und Lukas verweisen die Berichte von der Zeugung Jesu durch den Geist auf seine Gottessohnschaft, ohne dass damit eine »biologische« Abstammung Jesu von Gott, vergleichbar griechischen Mythen, behauptet würde (vgl. Lk 1,34; Mt 2,15). Nach Matthäus sind es die Jünger bzw. Petrus, die Jesus als Gottes Sohn bekennen (14,33; 16,16, hier verbunden mit dem Bekenntnis zu ihm als Messias. Beide Begriffe sind auch in der Frage des Hohepriesters beim Verhör Jesu in 26,63 und bei der Verspottung Jesu am Kreuz in 27,40– 43 verbunden). Im Johannesevangelium sind es von Anfang an menschliche Zeugen, die sich zu Jesus als Gottes Sohn bekennen. Die Funktion der Himmelsstimme bei der Taufe Jesu wird durch das Zeugnis des Täufers übernommen (1,34), und mit Nathanael bekennt sich einer der Jünger schon bei der ersten Begegnung mit Jesus zu ihm als Sohn Gottes und messianischem König von Israel (1,49). Dass Menschen an Jesus als den Messias/Christus und Sohn Gottes glauben, ist das Ziel des Evangeliums (vgl. 11,27; 20,31). Damit verbindet sich die aus der Weisheitstradition stammende Überzeugung, dass Gott in Jesus seinen Sohn in diese Welt gesandt hat (3,17; 10,36; 17,3.18). Diese Tradition teilt Johannes mit Paulus, der ebenfalls von der Sendung des Sohns als entscheidender Heilstat Gottes spricht (Röm 8,3; Gal 4,4). Gemeinsam mit Paulus ist auch die Überzeugung, dass sich in der Lebenshingabe des Sohnes die Liebe Gottes in einzigartiger Weise zeigt (Joh 3,16; 1Joh 4,9f; Röm 5,8; 8,32; vgl. Gal 2,20). Besonders charakteristisch für das Verständnis der Gottessohnschaft Jesu bei Johannes ist, dass Jesus sehr häufig von sich als dem Sohn und von Gott als meinem Vater spricht (Joh 5,19–26 u.ö.; vgl. aber schon in der Logienquelle Mt 11,27 / Lk 10,22 und in der Markustradition Mk 13,32 parr). Doch kennt Johannes sowenig wie Paulus die Vorstellung einer »biologischen« Abstammung Jesu von Gott. Das Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes und die Rede vom Sohn und seinem Verhältnis zum Vater beschreiben vielmehr die symbiotische Gemeinschaft mit Gott, aus der heraus Jesus seine Sendung lebt, seine umfassende Vollmacht ebenso wie seine völlige Abhängigkeit von Gott.

Auf dem Kreuzigungsbild des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald (ca. 1480–1532) steht Johannes der Täufer unter Jesu Kreuz und zeigt mit seinem überlangen Zeigefinger auf den Gekreuzigten. Zu seinen Füßen steht ein Lamm mit einer Wunde in der Brust, aus der Blut in einen Kelch fließt. Neben dem Täufer steht (auf Lateinisch) das Wort aus Joh 3,30 »Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen«. Damit ist kongenial seine Rolle im Johannesevangelium

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erfasst: Seine einzige Aufgabe ist es, auf den gekreuzigten Jesus als den von Gott gesandten Retter hinzuweisen. Die beide Aussagen, mit denen Johannes auf Jesus verweist: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt und: Dieser ist der Sohn Gottes, umreißen die ganze Spannweite des Christuszeugnisses des Evangeliums: Der, der ganz zu Gott gehört und als Mensch unter Menschen Gottes Liebe verkörpert und lebt, gibt sein Leben hin, »entsorgt« durch sein Wirken und Sterben all das, was Gott und Menschen trennt, und macht so den Weg frei in die Gemeinschaft mit Gott und zu wahrem, ewigem Leben. Dass ein anderer ihre Schuld auf sich nimmt, halten heute allerdings viele für undenkbar. Und doch geht die Suche nach Sündenböcken, die man be-schuldigen kann, auch heute unvermindert weiter. Aber wie der Täufer weist das ganze Neue Testament auf Jesus und lädt ein, ihm all das aufzuladen, was uns an Schuld und Hader belastet, und uns so zu ent-schuldigen. Historisch gesehen ist das Bild, das das 4. Evangelium von Johannes dem Täufer zeichnet, einseitig. Nach allem, was wir wissen, stand im Mittelpunkt seines Wirkens der Ruf zur Umkehr und die Aufforderung, sich durch Untertauchen im Jordan dem kommenden Gericht zu unterwerfen und so – durch das Gericht hindurch – gerettet zu werden. In welcher Weise er in Jesus von Nazareth den kommenden Retter gesehen hat, wissen wir nicht (vgl. Mt 11,2f). Der Evangelist Johannes aber zeigt mit seinem Bild des Täufers auf, welche Bedeutung dieser de facto für die christliche Bewegung gewonnen hat: Er ist der erste Zeuge für Jesus. 1,35–51 Die Berufung der ersten Jünger und ihr Bekenntnis zu Jesus 35

Am nächsten Tag stand Johannes wieder (dort) und zwei seiner Jünger (bei ihm), 36und als er Jesus vorbeigehen sah, sagt er: Seht, das Lamm Gottes. 37Und die beiden Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus. 38Jesus aber wandte sich um, und als er sah, wie sie ihm folgten, sagte er zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sagten zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Lehrer – wo wohnst du? 39Er sagt zu ihnen: Kommt, und ihr werdet sehen! Und sie kamen mit ihm und sahen, wo er wohnte, und blieben bei ihm an jenem Tag; es war um die zehnte Stunde. 40Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden Jünger, die (es) von Johannes gehört hatten und ihm gefolgt waren. 41Er findet zuerst seinen Bruder und sagt zu ihm: Wir haben den Messias gefunden – das heißt übersetzt: den Gesalbten. 42 Er führte ihn zu Jesus. Als ihn Jesus sah, sagte er zu ihm: Du bist

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Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen, das bedeutet übersetzt: Stein [griechisch: petros]. 43 Am nächsten Tag wollte er nach Galiläa weggehen und findet Philippus. Und Jesus sagt zu ihm: Folge mir! 44Philippus aber war von Bethsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus. 45Philippus findet Nathanael und sagt zu ihm: Den, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, den haben wir gefunden, Jesus, (den) Sohn Josefs, der aus Nazareth (stammt). 46Und Nathanel sagte zu ihm: Aus Nazareth, was kann da Gutes herkommen? Sagt zu ihm Philippus: Komm und sieh! 47Jesus sah Nathanael zu ihm kommen und sagt über ihn: Seht, ein wahrer Israelit, in dem kein Falsch ist. 48 Sagt zu ihm Nathanael: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sagte zu ihm: Bevor dich Philippus rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. 49(Da) antwortete ihm Nathanael: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels. 50Jesus antwortete und sagte zu ihm: Weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah, glaubst du? Größeres als dies wirst du sehen. 51Und er sagt zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf den Menschensohn aufund niedersteigen. Wie die anderen Evangelien berichtet auch Johannes gleich zu Beginn der Wirksamkeit Jesu vom Entstehen eines ersten Kreises von Anhängern (vgl. Mk 1,16–20; Mt 4,18–22; Lk 5,1–11). Allerdings unterscheidet sich sein Bericht beträchtlich von der Erzählung der drei anderen Evangelien. Bei ihm ruft Jesus die meisten der Jünger nicht selbst zu sich, sondern sie werden von anderen zu ihm geführt. Nur er erzählt, dass einige von ihnen zu den Jüngern des Täufers gehörten und von diesem auf Jesus hingewiesen wurden. Der Abschnitt wird durch die Zeitangabe in V. 43 in zwei Teile gegliedert. Im ersten (35–42) weist der Täufer zwei seiner Jünger auf Jesus hin und sie folgen ihm. Einer von ihnen, Andreas, führt seinen Bruder Simon zu Jesus, der ihm einen neuen Namen gibt. Im zweiten Unterabschnitt (43–51) ruft Jesus den Philippus. Dieser bringt Nathanael zu Jesus, der den Zweifelnden zum entscheidenden Bekenntnis führt. Die Zeitangabe am nächsten Tag (35) markiert einen dritten Tag im Ablauf der Erzählung (vgl. V. 29). Johannes der Täufer steht wieder an dem Platz, wo er zu taufen pflegte (vgl. V. 28). Diesmal aber stehen zwei seiner Jünger bei ihm. Dass Johannes eine Gruppe von Anhängern um sich sammelte, wird in den Evangelien gelegentlich erwähnt (Mt 11,2; Lk 7,18; Mk 6,29; Mt 14,12).

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Möglicherweise bestand dieser Kreis noch längere Zeit über seinen Tod hinaus (vgl. Apg 19,1–7). Als Jesus an ihnen vorübergeht (36), weist Johannes seine Jünger mit den Worten auf ihn hin: Seht, das Lamm Gottes. Er wiederholt damit in verkürzter Form, was er am Vortag über Jesus gesagt hatte (V. 29). Die Wiederholung unterstreicht: Das ist das zentrale Zeugnis des Täufers über Jesus. »Das Lamm als Kontrastbild zu vordergründiger Macht und Stärke zeigt, dass Gottes Liebe in Schwachheit und Verborgenheit zu den Menschen kam« (Schnelle, 81). Dieser Hinweis bewegt die beiden, Jesus zu folgen (37). Vordergründig heißt das zunächst nur, dass sie hinter Jesus hergingen, um Kontakt mit ihm zu suchen. Aber gleichzeitig signalisiert das auch: Hier beginnt der Weg der Nachfolge, ein Weg, auf dem sich die Jünger ganz auf Jesus ausrichten. Doch nun ergreift Jesus die Initiative (38). Er wendet sich um, sieht die beiden hinter sich hergehen und fragt: Was sucht ihr? Auch das heißt zunächst nicht mehr als: Was wollt ihr? Warum lauft ihr hinter mir her? Aber auf dem Hintergrund der Bedeutung von suchen bei Johannes (vgl. 7,34; 8,21; 13,33) bekommt die Frage einen tieferen Sinn: Worauf seid ihr aus? Was ist das Ziel eures Lebens? Ähnlich doppeldeutig ist die Gegenfrage, mit der die beiden antworten. Rabbi, sagen sie zu Jesus – eine bei Johannes häufige Anrede seiner Jünger und wohlwollender Außenstehender (vgl. 3,2.26; 4,31). Ursprünglich eine ehrerbietige Anrede an Höherstehende, wurde es später zum Titel für Schriftgelehrte. Johannes übersetzt das Wort für seine Leser und Leserinnen mit Lehrer und verrät damit, dass diese mehrheitlich nicht Aramäisch können. Die Anrede zeigt etwas von der Erwartung der beiden. Sie suchen Belehrung. Wörtlich übersetzt heißt ihre Frage: Wo bleibst du? Das bedeutet im Zusammenhang zunächst nur: Wo wohnst du? oder: Wo hältst du dich auf? Aber angesichts der Bedeutung, den der Begriff bleiben bei Johannes gewinnt, leuchtet auch hier ein tieferer Sinn auf: Rabbi, wo bist du zu Hause? Wo ist der bleibende Grund deines Lebens? Und mit den Jüngern werden auch die Leser und Leserinnen erfahren, dass bei Jesus zu bleiben in das Zuhause bei Gott führt (vgl. 14,2). Jesu Antwort ist ähnlich doppelsinnig (39). Kommt und ihr werdet sehen! Das meint zunächst nur, dass die beiden mit Jesus gehen sollen, um zu sehen, wo sich sein Quartier befand. Aber zugleich steckt darin die Verheißung: Kommt mit mir, und ihr werdet sehen, was das Geheimnis meines Bleibens ist. Und so wird die Geschichte weitererzählt: Die beiden kamen mit Jesus und sahen, wo er wohnte. Doch dann heißt es, dass sie bei ihm blieben, und zwar

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den ganzen Tag. Mehr wird nicht erzählt. Aber zwischen den Zeilen kann man lesen: Sie haben bei Jesus eine Bleibe gefunden, die mehr ist als ein Raum für ein gutes Gespräch. Das wird die Fortsetzung zeigen. Johannes fügt nur noch die Zeitangabe an: Es war um die zehnte Stunde, also gegen vier Uhr nachmittags, als die beiden Jünger des Johannes zu Jesus kamen. Man hat darüber gerätselt, warum der Evangelist dieses Detail mitteilt. Möchte er seine historische Genauigkeit zeigen? Oder hat die Zahl zehn eine besondere Bedeutung als Symbol für Erfüllung und Vollendung (vgl. die Zehn Gebote oder die Zehn-WochenApokalypse in 1Hen 93; 91,12–17)? Oder ist die Zeitangabe ein Signal für die Bedeutung und Intensität der Begegnung? Das bleibt offen. Eine Zwischenbemerkung führt weiter (40). Wir erfahren, wer einer der beiden Jünger des Johannes war, die Jesus gefolgt sind. Es ist Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Offensichtlich wird vorausgesetzt, dass die Leser und Leserinnen wissen, wer die beiden sind, auf jeden Fall aber Simon Petrus kennen. Nach dem Bericht in Mk 1,16–18; Mt 4,18–20 waren Simon und Andreas die ersten Jünger, die Jesus in seine Nachfolge rief, allerdings direkt aus ihrer Tätigkeit als Fischer heraus. Dass Andreas ein Jünger des Johannes war, wird dort nicht erwähnt. Wer der andere Jünger war, wird nicht gesagt. Darüber wird viel gerätselt. Versteckt sich dahinter der Apostel Johannes oder sein Bruder Jakobus? Wird damit angedeutet, dass der »Jünger, den Jesus liebte«, der aber erst ab 13,23 erwähnt wird, schon von Anfang an dabei war? Auch das bleibt offen. Erzählt wird nur, was Andreas tat (41). Er findet zuerst seinen Bruder, also Simon Petrus, den er offensichtlich gesucht hat, und sagt zu ihm: Wir haben den Messias gefunden. Anders als in 1,20 benutzt der Evangelist hier das Fremdwort Messias, die gräzisierte Form des hebräischen måschîaª. Aber er erläutert für seine Leser und Leserinnen: Das heißt übersetzt: der Gesalbte (griechisch: Christos). Damit spricht Andreas das zentrale Bekenntnis der ersten Christen aus, die in Jesus den verheißenen Retter und Erlöser Israels, den Messias, erkannt haben (s. zu 1,20). Wie Andreas bereits nach der kurzen Zeit, die er mit Jesus verbracht hat, zu dieser Erkenntnis kam, wird nicht gesagt. Für den Evangelisten ist wichtig: Schon von Anfang stand dieses Bekenntnis über dem Weg Jesu. Von einer Antwort Simons wird nichts berichtet (42). Wichtig ist nicht die Meinung, die sich Simon aus der Distanz bildet. Entscheidend ist, was Andreas tut: Er führte ihn zu Jesus. Mit jemand nur über Jesus zu diskutieren hilft nicht. Wichtig ist, ihr oder ihm zu einer Begegnung mit Jesus zu verhelfen. Das geschieht mit Si-

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mon. Aber auch in dieser Begegnung ist nicht von Interesse, was Simon über Jesus denkt, sondern was Jesus zu ihm sagt. Der zeigt ihm zunächst, wie gut er ihn kennt: Du bist Simon, der Sohn des Johannes. Ein Mensch wird durch seinen Namen identifiziert, ergänzt durch den Namen des Vaters, der gleichzeitig über die Herkunft Auskunft gibt. Jesus sagt damit: Ich weiß, wer du bist. Aber mit dem, was bisher dein Wesen ausgemacht hat, ist nicht das letzte Wort über dein Leben gesprochen. Ich werde dir einen neuen Namen und damit auch eine neue Identität geben: Von jetzt an sollst du Kephas heißen, und auch für dieses aramäische Wort wird sogleich die Übersetzung geliefert: Das bedeutet übersetzt: Stein oder Fels (griechisch: Petros). Kephas ist die gräzisierte Form von Kepha Stein, Fels. Das griechische Wort petros bedeutet Stein (Fels würde auf Griechisch petra heißen). In Mt 16,18 wird durch dieses Wortspiel Auftrag und Bedeutung des Petrus gekennzeichnet. Paulus nennt Simon fast immer Kephas (außer Gal 2,7f). In den Evangelien heißt er dagegen meist Simon Petrus, gelegentlich auch nur Petrus oder Simon. Die Worte Kephas bzw. Petros sind aus dieser Zeit nicht als Name belegt. Es handelt sich also um einen speziellen Beinamen, den Jesus Simon gab und der etwas über dessen Wesen sagen soll. Wann Jesus Simon diesen Namen gegeben hat, ist unklar. Nach Mk 3,16 scheint dies bei der Berufung in den Zwölferkreis geschehen zu sein (vgl. Lk 6,14), nach Mt 16,17f dagegen anlässlich von Simons Bekenntnis zu Jesus bei Cäsarea Philippi. Nach Johannes aber wird ihm der Name von Anfang an gegeben, obwohl auch hier das Petrusbekenntnis eine wichtige Zäsur darstellt (vgl. 6,68f).

Auf die Bedeutung dieses Namens wird im Johannesevangelium nicht mehr angespielt, aber Simon wird immer Simon Petrus oder Petrus genannt. Die neue Identität bleibt bestimmend in der Bewährung und im Versagen. Nur in dem entscheidenden Gespräch nach der Verleugnung spricht ihn Jesus wieder mit Simon, Sohn des Johannes an (vgl. 21,15–17). Alte und neue Identität stehen im Widerstreit. Aber grundsätzlich steht sein Leben unter einem neuen Vorzeichen, der Berufung nicht nur zu einer neuen Aufgabe (so Mk 1,17), sondern zu einem neuen Sein führt. Über eine Reaktion des Petrus wird nichts berichtet. Die Leserinnen und Leser wissen, dass Petrus Jesus gefolgt ist. Wieder markiert der nächste Tag den Fortgang der Erzählung (43). Da die beiden Jünger des Johannes den ganzen Tag bei Jesus geblieben waren (V. 39), muss das in den V. 40–42 Berichtete am folgenden Tag stattgefunden haben. Der nächste Tag ist dann der fünfte in der Abfolge seit V. 19. Jesus wollte von Betanien im

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Ostjordanland nach Galiläa weggehen. Doch nun ergreift er selbst die Initiative: Er findet Philippus. Hat er nach ihm gesucht oder trifft er zufällig auf ihn? Darüber wird nichts gesagt. Jedenfalls geht Jesus auf ihn zu und sagt zu ihm: Folge mir! Mit der Aufforderung, ihm zu folgen, lädt er ihn ein, sein Schüler zu werden. Denn die Schüler der Rabbinen pflegten hinter ihrem Meister herzugehen, wenn sie mit ihm unterwegs waren. Für die christlichen Leser und Leserinnen des 4. Evangeliums war aber klar, dass Jesus zu folgen mehr bedeutete, als mit ihm die Tora zu studieren. Bei ihm in die Lehre zu gehen schloss völlige Lebens- und Leidensgemeinschaft mit ein – das, was wir heute mit Nachfolge bezeichnen. Der Ruf an Philippus gleicht also am ehesten der Art, wie in Mk 1,16–20; Mt 4,18–22 die Berufung der ersten vier Jünger geschildert wird. Was aber fehlt ist die einfache Feststellung, dass Philippus sofort Jesus folgte. Stattdessen schiebt der Evangelist eine Information über seine Herkunft ein (44): Philippus aber war von Bethsaida. Und er fügt noch an, dass dies auch die Heimatstadt des Andreas und des Petrus war. Bethsaida, zu deutsch Fischhausen, ist wohl mit dem Ruinenhügel et-Tell zu identifizieren, der am Ostufer des Jordans liegt, heute ca. 2 km vom See Genezareth entfernt, damals aber noch in Ufernähe gelegen. Das Dorf gehörte zum Gebiet des Tetrarchen Philippus und wurde von ihm im Jahr 3. v.Chr. zur Stadt erhoben und nach der Tochter des Augustus Julias benannt. Obwohl mehrheitlich von Juden bewohnt, stand es stark unter dem Einfluss hellenistischer Kultur. Darauf weisen auch die Namen von Philippus und Andreas, die beide griechisch sind. Philippus wird in 12,21f zusammen mit Andreas als Ansprechpartner von Griechen genannt, die Kontakt mit Jesus aufnehmen wollten. Philippus wird auch in 6,7f zusammen mit Andreas und weiter in 14,8f erwähnt. Er erscheint in allen Apostellisten nach den beiden Brüderpaaren an fünfter Stelle (Mk 3,18 [auch hier mit Andreas verbunden]; Mt 10,3; Lk 6,14; Apg 1,13). Er ist wohl nicht mit dem Diakon Philippus identisch (Apg 6,5; 8,5–40; 21,8f). Dass auch Andreas und Petrus von Bethsaida stammen, scheint Mk 1,29 zu widersprechen, wonach sich das »Haus des Simon und Andreas« in Kapernaum befand. Aber es ist denkbar, dass Simon in Kapernaum eingeheiratet und seinen Bruder als Mitarbeiter mitgenommen hat.

Doch nun wird nicht erzählt, wie Philippus Jesus auf seinem Weg folgt, sondern wie er – gesucht oder ungesucht – einen Freund mit Namen Nathanael findet (45). Damit setzt der 4. Evangelist ein wichtiges Signal für die Christen seiner Zeit. Nachfolge besteht nicht nur darin, dass man hinter Jesus hergeht. Jesus zu folgen bedeutet auch, auf andere zuzugehen und ihnen von Jesus zu erzählen. Philippus tut das mit einem klaren Bekenntnis zu Jesus. Er benutzt dabei keinen der Ehrentitel für den Messias. Sein

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Bekenntnis ist sehr viel umfassender: Den, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, den haben wir gefunden. Das Gesetz und die Propheten, das sind die Heilige Schriften des Judentums. Was in ihnen über den künftigen Retter Israels und Erlöser der Welt gesagt ist, das hat in der Person Jesu seine Erfüllung gefunden. Wie Philippus schon nach der kurzen Begegnung mit Jesus zu dieser Erkenntnis gekommen ist, wird nicht erklärt. Dass er im Plural (wir) spricht, könnte andeuten, dass sein Bekenntnis schon all das vorwegnimmt, was zum Lebenszeugnis der Jünger wurde. Zu diesem Bekenntnis gehört jedoch auch die Information, wer dieser verheißene Erlöser ist: Jesus (der) Sohn Josefs, der aus Nazareth (stammt). Erstaunlich ist, dass Jesus als Sohn Josefs vorgestellt wird. Man kann das damit erklären, dass dies Name und Herkunftsangabe war, durch die Jesus offiziell identifiziert wurde. Aber der 4. Evangelist legt auch an anderer Stelle keinen Wert darauf, Jesu Gottessohnschaft »biologisch« durch eine wunderbare Zeugung zu erklären (vgl. Joh 6,42). Weil das Wort wirklich Fleisch wurde, ist Jesus für ihn Sohn Josefs und Sohn Gottes, wahrer Mensch und wahrer Gott. Auch die für die jüdische Messiaserwartung schwierige Herkunft aus Nazareth wird nicht dadurch relativiert, dass berichtet wird, Jesus sei ja in Wirklichkeit in Bethlehem geboren (vgl. 7,41f). Hier hakt auch die skeptische Rückfrage Nathanaels ein (46): Aus Nazareth, was kann da Gutes herkommen? Das klingt wie eine geläufige Redewendung, mit der man abschätzig über dieses unbedeutende Dorf sprach, das weder im Alten Testament noch in der jüdischen Literatur erwähnt wird. Aber Philippus lässt sich nicht auf eine Diskussion über die herkömmliche Messiasdogmatik ein. Er sagt ganz einfach: Komm und sieh! Er wiederholt damit, was Jesus zu den ersten beiden Jüngern sagte. Nur die Begegnung mit Jesus selbst kann Menschen die Augen und Herzen dafür öffnen, wer er wirklich ist. Nathanael trägt einen hebräischen Namen (Gott hat gegeben) und wird nur im Johannesevangelium erwähnt. In 21,2f wird er noch einmal genannt mit dem Hinweis, dass er aus Kana in Galiläa stammt. Sein Name steht dort zwischen Angehörigen des Zwölferkreises, sodass man den Eindruck gewinnt, Johannes habe ihn zu dieser Gruppe gezählt. Er erscheint aber in keiner der Listen der Zwölf. Man hat deshalb versucht, ihn mit einem der dort Genannten zu identifizieren. Der wahrscheinlichste Kandidat wäre dafür Bartholomäus, erstens, weil dessen Name kein Eigenname, sondern ein Vatersname ist (Sohn des Talmai), und zweitens, weil er in drei der vier Listen nach Philippus genannt wird (vgl. Mt 10,3; Mk 3,18; Lk 6,14). Aber dies bleibt reine Vermutung.

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Als Jesus Nathanael zu sich kommen sieht, ergreift er – ähnlich wie in der Begegnung mit Petrus – die Initiative (47). Aber er nennt nicht seinen Namen, sondern sagt, was er von ihm hält: Seht, wahrhaftig ein Israelit, in dem kein Falsch ist. Nur hier wird im Johannesevangelium der Begriff Israelit gebraucht. Er kennzeichnet Nathanael als Vertreter des wahren Israels (vgl. Röm 9,4; 11,1; 2Kor 11,22). Auch Ps 32,2 rühmt einen Menschen, »in dessen Geist kein Trug« ist, als den wahren Gerechten. Nathanael wundert sich, wie Jesus zu diesem Urteil kommt, und fragt zurück (48): Woher kennst du mich? Jesus antwortet mit einer für uns rätselhaften Aussage: Bevor dich Philippus rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich. Die Reaktion Nathanaels zeigt, dass er sich in der Tiefe seiner Existenz erkannt sieht. Für Leser und Leserinnen bleibt die Frage, was es mit dem Feigenbaum auf sich hat. Ist er das Erkennungszeichen, mit dem Jesus sein umfassendes Wissen demonstriert? Oder gilt der Platz unter einem Feigenbaum als Ort für das rechte Studium der Tora, wie das spätere rabbinische Überlieferung andeutet? Dann würde Nathanael als Mensch gekennzeichnet, der ganz für das Gesetz, die Tora, lebt. Oder liegt eine Anspielung darauf vor, dass »Sitzen unter dem Feigenbaum« ein Kennzeichen des Friedens in der messianischen Heilszeit ist (Mi 4,4; Sach 3,10; vgl. 1Makk 14,12)? Der Evangelist lässt die Frage offen. Er setzt nur ein Signal, das zum Nachdenken anregen soll. Nathanael jedenfalls sieht sich in seinem tiefsten Wesen und Wollen erkannt und antwortet (49): Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels. Das ist das Größte und Höchste, was ein Jude über einen Menschen sagen kann, und Nathanael sagt es zu dem, der ihm gerade als Josefs Sohn vorgestellt wurde. Es ist ein Bekenntnis zu Jesus als dem Messias, dem Gesalbten Gottes, der als König Israels Gerechtigkeit und Frieden für die ganze Welt bringen wird. Als von Gott eingesetzter Friedensherrscher ist er Gottes Sohn (Ps 2,7) und bringt Gott den Menschen auf einzigartige Weise nahe (s. zu 1,34). In Zeph 3,15 wird Gott selbst als König Israels bezeichnet. Nathanael, der wahre Israelit, bekennt also: Du bist der von Gott gesandte Erlöser, in dir begegnet uns Gott und seine heilvolle Herrschaft. Wieder kann man sich fragen, wie Nathanael allein aufgrund des wunderbaren Wissens Jesu zu einem so weitreichenden Bekenntnis kommt. Er ist Beispiel dafür, dass ein Mensch, der sich durch Jesus in seinem ganzen Wesen mit seinem Hoffen und Fragen erkannt weiß, auch erkennt, wer Jesus ist. Jesus akzeptiert dieses Bekenntnis (50), wie er auch die Huldigung als König von Israel beim Einzug in Jerusalem (12,13) annimmt. Dagegen wird er die Unterstellung,

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er wolle in politischem Sinn »König der Juden« sein, zurückweisen (18,33–40; vgl. 19,19–21). Nathanael hat zum Glauben gefunden. Aber Jesus will ihn weiterführen und sagt zu ihm: Weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah, glaubst du? Darin liegt kein Tadel. Doch Jesus deutet an, dass er Nathanael noch eine ganz andere Begründung für den Glauben schenken wird. Er verspricht ihm: Größeres als dies wirst du sehen. Zunächst mögen die Leser des Evangeliums bei dieser Verheißung an die kommenden Wunder denken, die die Jünger miterleben werden (vgl. 2,11). Aber die Fortsetzung des Wortes, in dem Jesus alle Jünger anspricht, zeigt, dass dies höchstens die Außenseite dessen ist, was Jesus meint. Mit feierlicher Betonung sagt er (51): Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf den Menschensohn auf- und niedersteigen. Das Wort Amen stammt aus der Hebräischen Bibel und kann provisorisch mit so sei es übersetzt werden. Es wird im Alten Testament als Zustimmung und Bekräftigung zur Aussage oder dem Gebet eines anderen verwendet (Dtn 27,15–26; 1Kön 1,36; Jer 11,5; Ps 41,14; 106,48; vgl. im Neuen Testament 1Kor 14,16)). In den Evangelien gehört zu den besonderen Kennzeichen der Worte Jesu, dass wichtige Aussagen mit einem Amen, ich sage euch (LÜ: Wahrlich, ich sage euch) eingeleitet werden (Mt 5,18.26; 6,2; Mk 3,28; 9,1; Lk 4,28). Im Johannesevangelium erscheint dieses einleitende Amen immer doppelt und verstärkt so die Aussage (1,51; 5,19.24f u.ö.).

Das Größere, das die Jünger sehen werden, sind nicht nur die erstaunlichen Wunder, die Jesus tut. In der Gemeinschaft mit Jesus werden sie den Himmel geöffnet sehen, das heißt, sie werden wahrnehmen, wie Jesus in ungebrochener Gemeinschaft mit Gott lebt. Das Motiv vom geöffneten Himmel stammt aus Jes 63,19, wo es die Sehnsucht des Volkes nach Gottes rettendem Eingreifen auf der Erde veranschaulicht. In den drei ersten Evangelien wird erzählt, wie sich bei der Taufe Jesu der Himmel öffnet (Mk 1,10; Mt 3,16; Lk 3,21) und so die enge Verbindung Jesu mit dem Vater angezeigt wird. Johannes dagegen will zeigen, wie über dem ganzen Wirken Jesu der Himmel offensteht und Gott in seinem Reden und Tun gegenwärtig wird. Was das bedeutet, wird durch ein weiteres alttestamentliches Bild veranschaulicht. Die Jünger werden die Engel Gottes auf den Menschensohn auf- und niedersteigen sehen. Die ungewöhnliche Reihenfolge auf- und niedersteigen zeigt, dass hier eine Anspielung auf die Geschichte von Jakobs Traum von der »Himmelsleiter« in Gen 28,10–19 vorliegt. Jakob sieht im Traum, wie Gottes Engel auf einer bis in den Himmel reichenden Rampe hinauf- und heruntersteigen und so die Gegenwart Gottes an diesem Ort bezeugen.

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Doch Jesus wird durch diese Anspielung nicht mit der Figur Jakobs identifiziert. Dessen Platz nehmen die Jünger ein. Jesus selbst ist die »Himmelsleiter«. Er, der Menschensohn, stellt die Verbindung zu Gott her, die im Bild durch die auf- und absteigenden Engel symbolisiert wird. Offensichtlich handelt es sich um die symbolische Darstellung eines Sachverhaltes, den man erfahren, aber nicht im eigentlichen Sinn sehen kann. Der Evangelist berichtet ja nirgends, dass die Jünger eine solche Schau hatten. Für ihn ist dies eine Leseanweisung für das folgende Evangelium: In der Begegnung mit Jesu Wirken, Sterben und Auferstehen, die das Evangelium schenkt, sollen Leser und Leserinnen den Himmel offen sehen und erfahren, dass sie durch ihn mit Gott verbunden sind. Was Menschen bewegt, steigt hinauf zu Gott, und was Gott ihnen gibt, kommt zu ihnen herab. Es ist nicht von ungefähr, dass gerade hier zum ersten Mal der Begriff Menschensohn auftaucht. Wie in den anderen Evangelien erscheint er auch bei Johannes nur im Mund Jesu. Er bezeichnet aber bei ihm noch konsequenter als dort Jesus als den, der gerade als Mensch die Verbindung zu Gott und seiner Herrlichkeit lebt und für die Menschen erfahrbar macht. Für griechisch sprechende Leser und Leserinnen klang der Begriff Menschensohn ähnlich fremd wie für uns. Es handelt sich um die wörtliche Übersetzung einer aramäischen bzw. hebräischen Wendung. Der Sohn des Menschen ist der einzelne Mensch im Unterschied zu Mensch, das die Gattung bezeichnet (vgl. Ps 8,5; Ez 2,1). Die neutestamentliche Verwendung leitet sich von Dan 7,13f ab. Dort erscheint einer »wie eines Menschen Sohn«, d.h. einer, »der einem Menschen glich«. Diese Gestalt symbolisiert ein menschliches Reich im Gegensatz zu den vier Weltreichen, deren Bestialität durch Tiere charakterisiert wird. In der apokalyptischen Literatur (bes. 1Hen 37–71) wird aus dieser Gestalt der endzeitliche Beauftragte Gottes, der als Richter und Retter die Herrschaft Gottes aufrichten wird. In den ersten drei Evangelien unterscheidet man Worte, die (1) vom irdischen, gegenwärtig wirkenden, (2) vom leidenden und auferstehenden und (3) vom kommenden und als Richter wirkenden Menschensohn sprechen. Bei Johannes ist Menschensohn zu einem Beinamen Jesu geworden, der in gewisser Weise auch als Deckname fungiert, aber klar mit Jesus identifiziert wird (vgl. 9,35–37). Zwei Akzente prägen die Verwendung im 4. Evangelium. (1) Der Menschensohn ist vom Himmel herabgekommen und wird wieder dorthin hinaufsteigen (3,13; 6,62); er ist der Mensch, der von Gott kommt. Er ist selbst Gottes Gabe und gibt diese Gabe an alle weiter, die sich dafür öffnen (6,27.33). (2) Der Menschensohn wird am Kreuz erhöht und verherrlicht werden (3,14; 8,28; 12,32–34; 13,31f). Durch seinen Tod bringt Jesus die Liebe Gottes zur Vollendung. Damit verherrlicht er Gott und wird selbst als sein endgültiger und somit endzeitlicher Beauftragter beglaubigt.

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1,35–51

Drei wichtige Schwerpunkte kennzeichnen diesen Abschnitt: 1. Noch einmal erweist sich Johannes der Täufer als Wegweiser zu Jesus, der von sich weg auf Jesus weist. Er hält seine Jünger nicht fest, sondern zeigt ihnen den Weg zu Jesus. Johannes ist damit Vorbild eines echten Zeugen: Er tritt ganz hinter den zurück, für den er Zeugnis ablegt. 2. Die Art, wie die Jünger zu Jesus kommen, weist schon auf die Situation nach Ostern voraus. Es ist nicht nur der Ruf Jesu, der Menschen in die Nachfolge holt, sondern auch das Zeugnis derer, die von ihm erzählen und dadurch andere zu Jesus führen. Entscheidend aber bleibt die persönliche Begegnung mit Jesus, durch die sich Menschen von ihm erkannt und gerufen wissen. In der Zeit nach Ostern wird sie durch das Zeugnis der Gemeinde vermittelt. Das Evangelium ist die Schrift gewordene Fassung dieser Botschaft (vgl. 1,14). Wir müssen und können niemand davon überzeugen, wer Jesus wirklich ist. Doch durch die Verkündigung des Evangeliums machen wir Menschen mit Jesus und seiner Botschaft bekannt und laden sie ein, ihre eigenen Erfahrungen mit ihm zu machen. Die Einladung Komm und sieh kann auch heute Menschen in eine Begegnung mit Jesus führen, die ihr Leben verändert. 3. Das Bekenntnis zu Jesus steht schon am Anfang des Wegs der Jünger mit ihm. Es ist sehr vielfältig. Ganz unterschiedliche Bezeichnungen werden benutzt, um Jesus und seine Bedeutung zu beschreiben. Das Bekenntnis ist nicht beliebig, aber es wird auch nicht normiert oder zensiert. Doch gibt es eine deutliche Steigerung. Am Ende steht das Bekenntnis Nathanaels: Du bist Gottes Sohn, der König von Israel, auf das Jesus antwortet, indem er sich als Menschensohn bezeichnet. Die Erwartung Israels wird ebenso erfüllt, wie die Hoffnung der Menschen auf eine menschliche Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes. Mit dieser Feststellung hat die Hinführung zur folgenden Erzählung von Jesu Wirken und Sterben ihr Ziel erreicht. Leser und Leserinnen wissen nun, was sie erwartet. Die unausgesprochene Frage: Wer ist Jesus?, die hinter dem Prolog steht, erhält eine erste klare Antwort. Zugleich macht die Vielfalt der Bekenntnisse auch für heute Mut, diese Frage mit eigenen Erfahrungen und Formulierungen zu beantworten.

A Erster Hauptteil

2,1 – 12,50 Die Offenbarung der Herrlichkeit des Sohnes vor der Welt In der ersten Hälfte seines Evangeliums zeigt Johannes, wie Jesus unter den Menschen seiner Zeit gewirkt hat. Das »Rückgrat« dieser Erzählung bilden sieben Zeichen Jesu. Unter diesem Stichwort werden teilweise ganz außergewöhnliche Wunder Jesu berichtet: 1. 2. 3. 4.

Jesus verwandelt Wasser in Wein bei einer Hochzeit in Kana (2,1–11) Jesus heilt den Sohn eines königlichen Beamten (4,46–54) Jesus heilt einen Menschen, der 38 Jahre lang krank war (5,2–16) Jesus speist mehr als 5 000 Menschen in der Wüste mit fünf Broten und zwei Fischen (6,1–15) 5. Jesus begegnet seinen Jüngern mitten auf dem See Genezareth (6,16–21) 6. Jesus heilt einen Blindgeborenen (9,1–34) 7. Jesus erweckt Lazarus wieder zum Leben (11,1–53)

Nur die vierte und fünfte dieser Geschichten haben eine Entsprechung in den anderen Evangelien (vgl. 6,1–21 mit Mk 6,30–52; Mt 14,13–33; Lk 9,10–17). Dass der Evangelist dabei auf schon fest geformte Überlieferung zurückgreift, zeigt sich auch daran, dass dies die einzige Stelle ist, wo er zwei Wunder hintereinander erzählt. Trotz großer Unterschiede in Einzelheiten könnte auch der Bericht über die Heilung des Sohns eines königlichen Beamten (4,46–54) und die Geschichte von der Heilung des Burschen des Hauptmanns von Kapernaum (Mt 8,5–13; Lk 7,1–10) auf die gleiche Begebenheit zurückgehen. Zur Heilung eines Gelähmten oder eines Blinden und auch zum Bericht von einer Totenerweckung gibt es vergleichbare Erzählungen in den anderen Evangelien. Aber keine ist eine wirkliche Parallele zu den Berichten bei Johannes mit ihrer Betonung der Schwere der Not (der Gelähmte war 38 Jahre krank; der Blinde schon blind geboren und Lazarus schon vier Tage tot). Zum ersten Zeichen Jesu, der Verwandlung von Wasser in Wein, gibt es in den anderen Evangelien keine Entsprechung. Um die Bedeutung dieser »Zeichen« deutlich zu machen, nutzt der Evangelist eine Art Doppelstrategie: Einerseits weist Jesu wunder-

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2,1 – 6,71

bares Handeln auf Gottes Gegenwart in seinem Wirken, es »offenbart seine Herrlichkeit« (2,11) und bewirkt dadurch Glauben (2,11.23; 3,2; 4,53; 9,38; 11,45). Andererseits aber zeigt sich immer wieder, dass zum rettenden Glauben nur die finden, die sich von den »Zeichen« tiefer weisen lassen: Nur wer wirklich erkennt und anerkennt, dass in Jesus Gott selbst gegenwärtig ist und handelt, findet zum wahren Glauben. Daran kommt es zur Ent-Scheidung. Nach Jesu Rede, die das Brotwunder deutet, »wandten sich viele seiner Jünger ab« (6,66), während Petrus für die Zwölf ein entscheidendes Bekenntnis spricht (6,68f). Und nach dem größten Wunder Jesu, der Auferweckung des Lazarus, fassen die Hohepriester den Entschluss, Jesus zu töten (11,46–57). Der erste Teil des Evangeliums ist daher von einer doppelten Bewegung gekennzeichnet: Einerseits findet sich in ihm wieder und wieder die Einladung, sich für Gottes Gegenwart in Person und Wirken Jesu zu öffnen und dadurch Heil und Leben zu empfangen. Andererseits ist er auch geprägt von scharfen Auseinandersetzungen mit Menschen, die diesem Anspruch Jesu unentschlossen oder ablehnend gegenüberstehen und in der erzählten Welt des Evangeliums von »den Juden« und ihrer Führung repräsentiert werden. Zu verstehen, wie sich die zweite Bewegung zur ersten verhält, wird eine wichtige Aufgabe unserer Auslegung sein. I 2,1 – 6,71 Leben in Fülle – Jesu Wirken in Galiläa, Samaria und Jerusalem Der erste Teil der ersten Hälfte des Evangeliums ist äußerlich durch ein Hin und Her im Wirken Jesu zwischen Galiläa und Jerusalem gekennzeichnet. Während sich in den drei ersten Evangelien Jesu öffentliches Auftreten auf eine längere Wirksamkeit in Galiläa und einen kurzen Aufenthalt in Jerusalem beschränkt, wandert er bei Johannes mehrfach zwischen Galiläa und Jerusalem hin und her. Doch ist damit keine schematische Aufteilung der Reaktion auf Jesu Botschaft verbunden, als sei Galiläa die Stätte der Erfolge und Jerusalem der Ort der Ablehnung Jesu gewesen. In Kap. 2–4 trifft Jesus überall auf Menschen, die für sein Wirken offen sind, in Kap. 5 und 6 dagegen kommt es in Jerusalem wie in Galiläa zu ersten Auseinandersetzungen über die Vollmacht Jesu. Inhaltlich wird vor allem eines herausgestellt: Jesus schenkt Leben in Fülle. Die Verwandlung von Wasser in Wein (2,1–11), die Heilung eines todkranken Kindes (4,46–53) und eines Langzeitkran-

2,1–12

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ken (5,1–9), die Speisung einer riesigen Menschenmenge mit ein paar Broten und Fischen (6,1–13), die Zusage einer neuen Geburt (3,3–5) und das Versprechen lebendigen Wassers (4,10–14) und nicht zuletzt das erste Ich-bin-Wort Jesu: Ich bin das Brot des Lebens (6,35.48) zeigen das mit großer Eindringlichkeit. 2,1 – 4,54 Von Kana nach Kana – erste Zeichen und Gespräche Jesu In diesem Abschnitt lässt sich die Kunst des 4. Evangelisten, verschiedene Stränge von Themen und Motiven miteinander zu verknüpfen, sehr schön beobachten. Das wird schon am Anfang sichtbar. Wie 2,11 zeigt, beginnt der erste große Hauptteil des Evangeliums mit der Erzählung vom Weinwunder in Kana in 2,1–11. Aber die Zeitangabe in 2,1 verknüpft den Abschnitt auch mit dem vorhergehenden Passus und seinem Tageschema. Kap. 2–4 werden durch die beiden Zeichen, die Jesus in Kana tat und die ausdrücklich als erstes und zweites Zeichen markiert sind (2,11; 4,54), gerahmt. Beide werden knapp und ohne weitere Ausdeutung erzählt. Dem ersten Zeichen folgt mit der Tempelreinigung (2,13–22) eine Episode in Jerusalem. In Kap. 3 schließen sich zwei parallele Gesprächszyklen zum Thema »ewiges Leben« an. Im ersten der beiden tritt mit Nikodemus ein hoher Vertreter des Judentums als Gesprächspartner auf (3,1–21), während im zweiten noch einmal Johannes der Täufer wichtige Stichworte gibt. Kap. 4 besteht zum größten Teil (4,5–42) aus einem Gespräch »auf dem Weg« mit einer samaritanischen Frau und seinen Folgen. Es mündet in das Bekenntnis: »Dieser ist wahrhaftig der Retter der Welt« (4,42), dem Höhepunkt dieses Erzählkranzes. 2,1–12 Die Hochzeit zu Kana und die Herrlichkeit Jesu 2 1Und am dritten Tag war eine Hochzeit in Kana in Galiläa, und die Mutter Jesu war dort. 2Aber auch Jesus und seine Jünger waren zu der Hochzeit eingeladen worden. 3Und als der Wein ausging, sagt die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein (mehr).4Und Jesus sagt zu ihr: Was habe ich mit dir zu tun, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. 5Seine Mutter sagt zu den Dienern: Was immer er euch sagt, (das) tut! 6Es standen dort aber sechs steinerne Wasserkrüge nach der Reinigung(ssitte) der Juden, die jeder zwei oder drei

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2,1–12

Metreten fassten. 7Jesus sagt zu ihnen: Füllt die Krüge mit Wasser. Und sie füllten sie bis oben. 8Und er sagt zu ihnen: Schöpft jetzt (davon) und bringt (es) dem Festordner. Sie aber brachten (es zu ihm). 9 Als aber das Festordner das Wasser, das zu Wein geworden war, kostete und nicht wusste woher es kam – aber die Diener wussten es, die das Wasser geschöpft hatten,– ruft der Festordner den Bräutigam 10und sagt zu ihm: Jeder Mensch setzt zuerst den guten Wein vor und dann, wenn (die Leute) betrunken sind, den schlechteren, du aber hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt. 11 Dies tat Jesus als Anfang seiner Zeichen in Kana in Galiläa und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn. 12 Danach ging er hinunter nach Kapernaum, und (auch) seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger, und blieb dort nicht viele Tage. Ein überraschender Szenenwechsel folgt: Eine dörfliche Hochzeit im Bergland von Galiläa ist der Schauplatz der folgenden Geschichte. Bei dem Ort Kana handelt es sich wohl um den Ruinenhügel Ch⁄rbet Qåna, der 14 km nördlich von Nazareth liegt, und nicht um den Ort Kafr Kenna, der heute den Pilgern gezeigt wird. Die eigentliche Erzählung umfasst die V. 1–10. V. 11 ist ein Kommentar des Evangelisten und V. 12 eine überleitende Notiz zum weiteren Weg Jesu. Die Wendung am dritten Tag (1) verknüpft den Abschnitt mit 1,19–51 und der dreimaligen Zeitangabe am nächsten Tag. Zählt man die Tage zusammen, kommt man auf den 6. Tag. Zwischen 1,39f und 41 liegt aber eine weitere Nacht, sodass das Wunder von Kana auf den 7. Tag fällt. Das könnte symbolische Bedeutung haben. Liegt dem Bericht vom Anfang des Wirkens Jesu ein Wochenzyklus zugrunde, durch den, was hier geschieht, mit der Vollendung der Schöpfung Gottes verglichen wird (Wilckens, 55)? Doch da der Evangelist keinen Hinweis auf diesen Zusammenhang gibt, bleiben viele Ausleger skeptisch. Sie weisen auf die Bedeutung der Wendung am dritten Tag hin. Nach Ex 19,11 ist Gott am dritten Tag zum Berg Sinai herabgekommen, am dritten Tag erwartet Israel nach Hos 6,2 das rettende Eingreifen Gottes und am dritten Tag ist Jesus von den Toten auferstanden (1Kor 15,4; Mt 16,21; vgl. Joh 2,19f »nach drei Tagen«). Der dritte Tag ist also der Tag der Offenbarung und rettenden Gegenwart Gottes. Unklar ist freilich, ob die Hochzeit am dritten Tag begann oder ob sich die Zeitangabe auf die Ankunft Jesu und seiner Jünger bezieht. Hochzeiten im alten Israel dauerten eine Woche (Ri 14,12; Tob 11,20), und Gäste konnten auch später dazustoßen. Zunächst wird nur die Anwesenheit der Mutter Jesu erwähnt. Sie ist für die

2,1–12

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Erzählung wichtig. Ob es verwandtschaftliche Beziehungen sind, aufgrund derer sie eingeladen worden war, wird nicht gesagt. Viele Gäste zu bewirten war für eine orientalische Hochzeit wichtig, und darum verwundert es nicht, dass auch Jesus und seine Jünger eingeladen waren (2). Aber es gibt eine Schwierigkeit: Der Wein geht aus, und Jesu Mutter informiert ihn darüber (3). Sie nennt einfach das Problem, aber die unausgesprochene Bitte, etwas zu tun, ist nicht zu überhören. Was erwartet sie von ihrem Sohn? Auch das wird nicht gesagt. Stattdessen berichtet der Evangelist von einer unerwartet harschen Reaktion Jesu (4): Was habe ich mit dir zu tun, Frau? sagt er. Schon dass er seine Mutter mit Frau anredet, klingt für uns merkwürdig. Aber wie dieselbe Anrede in der Szene am Kreuz in 19,26 zeigt, bedeutet das keine Herabsetzung, signalisiert aber »unüberhörbar eine Distanz« (Schnelle, 90). Noch deutlicher scheint die Distanzierung in Jesu Frage: Was habe ich mit dir zu tun? Die Wendung findet sich im Alten Testament im Sinne von: Was haben wir miteinander zu tun? (Ri 11,12) oder: Was geht euch das an? (2Sam 16,10; 19,23). Im Neuen Testament sind es die Dämonen, die mit diesen Worten versuchen, Jesus davon abzuhalten, sie auszutreiben (Mk 1,24; 5,7; Mt 8,29; Lk 4,34; 8,28). Was aber will Jesus damit in dieser Situation seiner Mutter sagen? Ist es eine etwas schroffe Formulierung für: Was willst du von mir? (EÜ) oder die Abwehr einer unangemessenen Zumutung: Was geht das mich an? (Wilckens, 54) oder schärfer: Was mischst du dich in meine Angelegenheiten ein? (Thyen, 150) Man sollte nicht versuchen, die Äußerung psychologisch aus dem Mutter-Sohn-Verhältnis zu erklären. Sie muss aus der Perspektive des Erzählers verstanden werden: Es sind nicht verwandtschaftliche Beziehungen, die Jesus leiten. Sein »Handeln bestimmt allein Gott, der Vater. … Was hier aufblitzt, ist das christologische Geheimnis Jesu: zwar Sohn einer irdischen Mutter … in Wahrheit aber der Sohn Gottes« (Theobald, 212). Das zeigt auch die anschließende Bemerkung: Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Ist dies die »Stunde des Wundertäters«, d.h. der rechte Zeitpunkt für das Aufscheinen lassen seiner Herrlichkeit in einem Wunder? Oder ist – wie sonst im Johannesevangelium – die Stunde seiner Verherrlichung durch Kreuz und Auferstehung gemeint (7,30; 8,20; 12,23; vgl. auch 7,6.8)? Von der Logik der Erzählung her liegt die erste Möglichkeit nahe. Nur sie scheint in diesem Augenblick sinnvoll zu sein. Aber gegen sie spricht, dass Jesus wenige Augenblicke später das Wunder vollbringt. Offensichtlich ist dies ein erster Hinweis darauf, dass sich die Stunde des Heils nicht in einer einzelnen Wundertat erfüllt,

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2,1–12

sondern erst in der Lebenshingabe Jesu am Kreuz. Wahrscheinlich hat der Evangelist beide Deutungen der Bemerkung Jesu im Blick. Er signalisiert: Jesus tut seine Wunder nicht aufgrund menschlicher Aufforderung. Zugleich deutet er an, dass das Aufblitzen der Gegenwart Gottes in einem Wunder noch nicht die entscheidende Offenbarung göttlicher Herrlichkeit ist. Das Gespräch zwischen Mutter und Sohn ist schon beendet, aber die Mutter (deren Name im 4. Evangelium nie genannt wird) ist keineswegs entmutigt (5). Hört sie aus dem noch nicht die Zusage eines bald? Jedenfalls wendet sie sich an die Diener und sagt zu ihnen: Was immer er euch sagt, (das) tut! Auch dieser Satz, zu dem es eine eigentümliche Parallele in der Josefsgeschichte gibt (Gen 41,55), dürfte auf zwei Ebenen zu verstehen sein. Einerseits charakterisiert er den schlichten Glauben der Mutter Jesu, die sich von den abweisenden Worten Jesu nicht abschrecken lässt, sondern darauf vertraut, dass er handeln wird. Andererseits signalisiert er Lesenden und Hörenden: Tun, was Jesus sagt, ist der Weg zur Hilfe aus der Not. Eine Zwischenbemerkung bereitet auf die folgende Aktion Jesu vor (6). Dort, wo die Hochzeitsfeier stattfand, befanden sich sechs steinerne Wasserkrüge. Sie standen da, damit genügend Wasser für Waschungen zur Verfügung stand, die aufgrund der jüdischen Reinigungsgebote nötig waren (vgl. Mk 7,1–23). Dass es sich um steinerne Krüge handelte, wird ausdrücklich erwähnt. Denn nach Lev 11,33 werden tönerne Gefäße unrein, wenn z.B. ein totes Tier in sie fällt. Sie müssen dann zerstört werden. Brunnen und Zisternen und darum auch steinerne Gefäße bleiben rein (Lev 11,36). Man benutzte deshalb für rituelle Waschungen nur steinerne Gefäße. Bei Ausgrabungen in Judäa und Galiläa hat man viele solcher Gefäße gefunden – ein Indiz, dass es sich um jüdische Siedlungen handelt. Die genannten Krüge waren besonders groß. Jeder von ihnen fasste zwei oder drei Maß bzw. (auf Griechisch) Metreten. Eine Metrete entspricht ca. 39 Liter; die Krüge hatten also ein Fassungsvermögen von ca. 78 – 117 Liter, was in etwa den größten bei Ausgrabungen gefundenen Gefäßen entspricht. Dafür, dass die Zahl sechs eine symbolische Bedeutung hat (z.B. Zeichen für die Unvollkommenheit jüdischer Reinigungsriten), gibt es kein klares Signal. Auch, dass die Erwähnung der Krüge auf die Überwindung jüdischer Reinheitsvorstellungen zielen soll, wird nicht angedeutet. Wichtig ist zunächst nur, dass diese Krüge eine riesige Menge (insgesamt ca. 480–720 Liter) Wasser aufnehmen konnten. Offensichtlich sind die Krüge leer, denn Jesus befiehlt den Dienern: Füllt die Krüge mit Wasser (7). Und der Erzähler stellt fest:

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Sie füllten sie bis oben. Daraufhin gibt Jesus die nächste Anweisung (8): Schöpft jetzt (davon) und bringt (es) dem Festordner. Der Festordner oder Speisemeister (LÜ; ZB) war die Person, die für das Festmahl verantwortlich war – wahrscheinlich ein Sklave, aber möglicherweise auch ein Freund des Bräutigams. Die Diener tun, was Jesus ihnen sagt, ohne zu fragen, welchen Sinn es hat, den Festordner Wasser kosten zu lassen. Der Festordner trinkt etwas von dem Wasser, das ihm gereicht worden ist (9) – und im Erzählen verrät der Erzähler die Pointe: Es ist Wasser, das zu Wein geworden war. Aber der Festordner wundert sich überhaupt nicht darüber, dass er Wein gekostet hatte. Denn – so wird bedeutungsvoll angemerkt – er wusste nicht, woher der Wein kam, das wussten nur die Diener. Mit dieser Formulierung wird wieder ein Signal für die Lesenden gesetzt: Das Woher der Gabe ist wichtig! Auch die Diener hätten nicht wirklich sagen können, woher der Wein kommt. Nur wer erkennt, dass in Christus Gott am Werk ist, weiß, woher die Fülle kostbaren Weins kommt, wo also die Quelle wahrer Lebensfreude zu finden ist. Der Festordner wundert sich über etwas ganz anderes. Er drückt dies in einem etwas derben, wenn auch scherzhaft gemeinten Vorwurf an den Bräutigam aus (10): Jeder Mensch setzt zuerst den guten Wein vor und dann, wenn (die Leute) betrunken sind, den schlechteren! Angeblich ist das die Regel, die freilich nirgends sonst bezeugt ist, und eher das Verhalten schäbiger Wirte oder schlechter Gastgeber als allgemeine Sitte kennzeichnet (Dietzfelbinger I, 68). Aber die Aussage ist ja nur die dunkle Folie für die Feststellung: du aber hast den guten Wein bis jetzt aufbewahrt. Der Wein, den Jesus schenkt, ist der gute Wein. Aber er wird bis zum Ende des Festes aufbewahrt. Das Wunder geschah im Verborgenen. Als sei es etwas Selbstverständliches, spricht der Erzähler von dem »Wasser, das zu Wein geworden war«. Wir erfahren auch nichts über die Reaktion des Bräutigams oder darüber, wie das Hochzeitsfest weiter verlaufen ist. Nicht die Festfreude einer Hochzeitsgesellschaft steht im Mittelpunkt der Erzählung, sondern der Einbruch der schöpferischen Kraft Gottes in die Verlegenheit der Menschen durch das Handeln Jesu. Das unterstreicht die Schlussbemerkung des Evangelisten in V. 11: Dies tat Jesus als Anfang seiner Zeichen in Kana in Galiläa und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn. Hier ist jedes Wort mit Bedacht gewählt. Statt einfach vom ersten Zeichen zu reden, spricht Johannes vom Anfang seiner Zeichen. Hier tut sich eine Tür auf zu einer Wirklichkeit, die über das Irdi-

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sche hinausweist. Und doch wird sie sogleich verortet: In Kana in Galiläa ist das geschehen – das ist ein wirklicher Ort, dessen Koordinaten man angeben könnte. Die eigentliche Bedeutung des Geschehens ist aber nicht, dass einer Hochzeitsgesellschaft aus der Verlegenheit geholfen wurde. Durch das, was hier geschah, offenbarte Jesus seine Herrlichkeit: Er ließ die göttliche Wirklichkeit aufleuchten, die durch ihn in diese Welt gekommen ist (vgl. zu 1,14), und seine Jünger glaubten an ihn. Das Wunder bewirkt Glauben. Das wird dankbar festgestellt. Offen bleibt freilich, ob dies schon der Glaube ist, der zum wahren Leben führt. Eine kurze Notiz beschließt die Geschichte und leitet zur nächsten über (12): Danach ging er hinunter nach Kapernaum, und (auch) seine Mutter und seine Brüder und seine Jünger, und blieb dort nicht viele Tage. Von Kana, das gut 400 m höher liegt als der See Genezareth, geht es hinunter nach Kapernaum (heute Tell Hum). Anders als in den drei ersten Evangelien ist bei Johannes Kapernaum nicht das Zentrum der Wirksamkeit Jesu. Aber auch er weiß, dass dieser Ort eine wichtige Station in Jesu Wirken war. Dass Jesu Mutter und seine Brüder ihm dorthin von Anfang an folgen, wird in den anderen Evangelien nicht berichtet (vgl. Mk 3,21.31f, wo sie Jesus von Kapernaum wegholen wollen). Kennt Johannes eine andere Überlieferung, oder setzt er einen anderen Akzent? Der Hinweis auf die Kürze des Aufenthalts macht jedenfalls deutlich: Jesus ist nicht an Familie oder Heimat gebunden. Er ist immer unterwegs. Bei heutigen Lesern und Leserinnen erweckt diese Geschichte zunächst wohl eher ungläubiges Staunen und viele Fragen: 1. Was geschah bei der Hochzeit zu Kana? Was hier berichtet wird, entzieht sich jeder naturwissenschaftlichen Erklärung. Der Historiker wird die Geschichte deshalb mit äußerster Skepsis betrachten. Bei manchen vergleichbaren Wundergeschichten lässt sich ein historischer Kern erahnen, der erklärt, wie es zur jetzigen Form der Erzählung gekommen ist. Hier ist das schwierig, weil die Geschichte ohne jede Parallele in der biblischen Erzähltradition ist. Gibt es Anhaltspunkte dafür, wie sie entstanden sein könnte und warum man Jesus dieses Wunder zugeschrieben hat? Dazu wird oft auf den alttestamentlich-jüdischen Hintergrund verwiesen: Im Alten Testament ist die Hochzeit Gottes mit Israel Bild für das künftige Heil und Herrlichkeit des Volks (vgl. Jes 62,1–5), und ein Festmahl mit Wein ist Ausdruck endzeitlicher Freude und von Gott gewährter Lebensfülle (Jes 25,6; Am 9,13). Aber von einer Verwandlung von Wasser in Wein ist nie, auch nicht in einem bildhaften Vergleich, die Rede.

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Dagegen wird vom Weingott Dionysos erzählt, dass er Wasser in Wein verwandelte und dass in seinem Tempel auf der Insel Andros in der Nacht vom 5. zum 6. Januar aus einer Quelle Wein fließt. Da es Zeugnisse dafür gibt, dass Dionysos auch in Galiläa verehrt wurde, wird oft angenommen, unsere Geschichte wolle zeigen, dass Jesus mehr Lebensfülle schenkt als sein heidnischer Konkurrent. Aber zumindest in der Fassung der Geschichte bei Johannes sind keine Anspielungen auf eine Konkurrenzsituation mit einem heidnischen Gott zu entdecken. Hier könnte man eher an eine Abgrenzung von jüdischen Reinigungsriten denken, die durch die großen Krüge symbolisiert werden. Das wäre eine Parallele zu Jesu Wort vom neuen Wein in neuen Schläuchen. Dort begründet Jesus mit der Festfreude bei einem Hochzeitsmahl auch die Tatsache, dass er und seine Jünger nicht fasten (Mk 2,18–22). Diese Haltung brachte ihm den Vorwurf ein, ein »Fresser und Weinsäufer« zu sein (Mt 11,19). Aber auch dieser Aspekt taucht hier nicht auf; Jesus scheint nicht mitzufeiern. Es bleibt also schwer nachzuvollziehen, wie die Geschichte entstand. 2. Aber manche Bibelleser werden fragen: Muss man nicht einfach glauben, dass Jesus das getan hat, wenn es in der Bibel steht? Doch das würde die johanneische Botschaft verfälschen. Nirgends wird gefordert, an die Wunder zu glauben. Es wird in den Erzählungen auch von niemandem bezweifelt, dass sie geschehen sind. Die Wunder sind Zeichen, die zum Glauben an Jesus Christus führen. Gerade das aber sollte helfen, sich nicht um die Faktizität der Wunder zu streiten, sondern zu fragen, worauf die Geschichte mit ihrer Symbolik verweist. 3. Was ist dann die Botschaft der Geschichte? Die Ausleger sprechen von einem »Geschenkwunder«, vergleichbar der Geschichte von der wunderbaren Speisung (vgl. 6,1–15). Aber im Unterschied zur ihr droht hier nicht wirkliche Not. Es geht eher um eine peinliche Verlegenheit, die für Jesus zur Gelegenheit wird, seine Vollmacht zu zeigen. Dabei sind die menschlichen Aspekte der Geschichte fast ganz ausgeblendet. Von der Dankbarkeit des Bräutigams und von der geretteten Festfreude der Gäste erfahren wir nichts. Alles ist auf den Erweis der göttlichen Vollmacht Jesu ausgerichtet. Man spricht von einem »Epiphaniewunder«, einem Wunder also, in dem die göttliche Natur Jesu sichtbar wird. In der Sprache des Johannesevangeliums: Jesus offenbarte seine Herrlichkeit, d.h. die göttliche Wirklichkeit, aus und in der er selbst lebt und handelt. Dabei ist die Symbolik des Weins nicht unwichtig. Für Juden wie Heiden symbolisiert die Menge an Wein überfließende Freude und Lebensfülle. Sie wird zum Zeichen für die Fülle des Lebens, die Gott schenkt. Darum stört es Johannes nicht, dass es sich eigentlich um ein »unnö-

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2,13–25

tiges« Wunder, ein »Luxuswunder« handelt. Gott, wie er in Jesus handelt, ist nicht nur Nothelfer, nicht die Feuerwehr für anderweitig nicht lösbare Probleme. Gottes Gegenwart schenkt Freude in Fülle, die weit über Problemlösungsangebote hinausgeht. Oder wie der Theologe Eberhard Jüngel sagt: »Gott ist nicht notwendig. Gott ist mehr als notwendig« (Unterwegs zur Sache, 7). Gerade deshalb bleibt dieses Wunder, das Johannes an den Beginn seines Berichts über Jesu Wirken stellt, trotz seines spektakulären Charakters, ein Anfang und ein Zeichen, das auf die Vollendung verweist, wenn seine Stunde gekommen ist (13,1) und er am Kreuz verherrlicht werden wird. Jesu Herrlichkeit, wie sie sich im Lauf seiner Wirksamkeit entfaltet, wird im Evangelium »auf dreifache Weise gekennzeichnet: Zunächst ist sie Geschenk des Lebens in Fülle; dann bleibt sie den Augen der Welt verborgen; und schließlich ist sie ausgerichtet auf das Kreuz, wo sie ihre letztgültige Gestalt annimmt« (Zumstein, 122). 2,13–25 Die Tempelreinigung und Jesu Wirken in Jerusalem 13

Und das Passah(fest) der Juden war nahe, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. 14 Und er fand im Heiligtum die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler sitzen, 15und er machte eine Geißel aus Stricken und trieb alle aus dem Heiligtum heraus, die Schafe samt den Rindern, und schüttete die Münzen der Geldwechsler aus und stieß ihre Tische um, 16und zu den Taubenverkäufern sagte er: Schafft das weg von hier, macht das Haus meines Vaters nicht zum Kaufhaus. 17Seine Jünger erinnerten sich (später) daran, dass geschrieben steht: »Der Eifer um dein Haus wird mich verzehren« (Ps 69,10). 18 Die Juden stellten ihn deshalb zur Rede und sagten zu ihm: Was für ein Zeichen kannst du uns vorweisen, dass du das tun darfst? 19Jesus antwortete und sagte zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn wieder errichten. 20Da sagten die Juden: 46 Jahre lang wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen errichten? 21Jener aber hatte vom Tempel seines Leibes gesprochen. 22Als er dann von den Toten auferweckt worden war, erinnerten sich seine Jünger daran, dass er das gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte. 23 Als er aber in Jerusalem war, beim Passah in der Festwoche, kamen viele zum Glauben an seinen Namen, weil sie seine Zeichen sahen, die er tat. 24Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, weil er alle

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kannte 25und weil er von niemandem eine Auskunft über den Menschen brauchte. Denn er erkannte selbst, was in dem Menschen war. Nach dem Bericht des Johannesevangeliums ist Jesus mehrfach nach Jerusalem gereist (vgl. 5,1; 7,10; 12,12). Schon zu Beginn seines Wirkens ist er dort ein erstes Mal präsent, und zwar anlässlich des Passahfests. Der Abschnitt 2,13–25, der davon berichtet, besteht aus mehreren Teilen: V. 13 ist eine kurze Reisenotiz, die V. 14–22 erzählen von der sog. Tempelreinigung, wobei in den V. 14–17 der Vorgang selbst geschildert wird, während in den V. 18–22 die Reaktion der »Juden« und die spätere Schlussfolgerung der Jünger thematisiert wird. Die V. 23–25 bieten eine Zusammenfassung dessen, was Jesu Wirken während des Passahfests in Jerusalem auslöst. Diese Verse leiten zugleich zu 3,1–21, der Erzählung von Nikodemus, über. Auch die drei ersten Evangelien berichten von einer Aktion Jesu gegen Händler und Geldwechsler im Tempel (Mt 22,12f; Mk 11, 15–17; Lk 19,45f). Der Ablauf der Handlung wird in den Grundzügen ähnlich erzählt. Die wichtigsten Unterschiede sind: 1. Nach den anderen Evangelien hat sich Jesu Aktion erst am Ende seiner Wirksamkeit bei seinem einzigen Aufenthalt in Jerusalem ereignet. 2. Bei Johannes richtet sich Jesu Aktion auch gegen die Verkäufer von Rindern und Schafen und Jesus benutzt eine Geißel, diese Tiere zu vertreiben. 3. Während für die anderen Evangelien die Pointe der Erzählung das Zitat aus Jes 56,7 (»mein Haus soll ein Bethaus für die Völker heißen«) ist, zitiert Johannes Ps 69,10: »Der Eifer um dein Haus wird mich verzehren«. 4. Bei ihm schließt die Frage nach Jesu Vollmacht unmittelbar an das Ereignis an, während bei Matthäus und Markus die Erzählung von dem unfruchtbaren Feigenbaum dazwischensteht. Das Passahfest ist eines der Hauptfeste des Judentums. Es ist mit dem Fest der Ungesäuerten Brote, dem Mazzenfest, verbunden (vgl. 2Chr 35,17) und wird in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gefeiert (vgl. Ex 12). Am Nachmittag des 14. Nisan (entspricht etwa April) wurden die Passahlämmer im Tempel geschlachtet und nach Sonnenuntergang, mit dem nach jüdischer Zählung der 15. Nisan beginnt, in kleinen Gruppen im Stadtgebiet von Jerusalem verzehrt. Da die Lämmer nur in Jerusalem geschlachtet und verzehrt werden durften, war das Fest ein Wallfahrtsfest, zu dem sich großen Pilgerscharen in der Stadt einfanden. Anders als in den synoptischen Evangelien berichtet Johannes von drei Passahfesten während der Wirksamkeit Jesu (2,13; 6,4; 12,1), bei mindestens zwei von ihnen hielt er sich auch in Jerusalem auf. Das Fest wird also im 4. Evangelium häufig erwähnt, aber inhaltlich wird nichts darüber berichtet.

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Dass Jesus das Passahfest der Juden besucht (13), ist aus der Perspektive der christlichen Gemeinde erzählt. Die Gemeinde des Johannes feierte wohl schon ein christliches Osterfest. Jesus geht hinauf nach Jerusalem, das relativ hoch gelegen ist (772 m), und besucht den Tempel. (Wir übersetzen Heiligtum, um deutlich zu machen, dass sich Jesu Wirken nicht im eigentlichen Tempel abspielte, sondern im sog. Vorhof der Heiden.) Hier trifft Jesus auf ein reges Markttreiben (14): Verkäufer von Opfertieren bieten ihre Ware an und Geldwechsler tauschen die unterschiedlichen Währungen in tyrische Schekel ein, der einzigen Währung, die zur Bezahlung der Tempelsteuer verwendet werden konnte. Der Verkauf von Opfertieren auf dem Tempelplatz hatte praktische Gründe. Damit wurde den Pilgern der Kauf von einwandfreien und priesterlich überprüften Opfertieren ermöglicht und ein Transport der Tiere mit dem Risiko, dass sie nicht als makellos akzeptiert werden würden, erspart. Er fand in den Säulenhallen statt, die den Vorhof der Völker (d.h. der Heiden) säumten. Ihn durften auch Nichtjuden betreten.

Jesu Reaktion ist heftig (15). Er macht aus Stricken eine Art Geißel oder Peitsche und treibt damit Rinder und Schafe aus dem Vorhof des Tempels hinaus, wobei die Verkäufer wohl von den Schlägen verschont bleiben. Die Münzen der Geldwechsler wirft er auf den Boden und stößt ihre Tische um. Den Taubenverkäufer, deren Ware in Käfigen zum Verkauf steht, befiehlt er, ihre Verkaufsstände wegzubringen (16). Man kann fragen, wie umfangreich diese Aktion sein konnte, ohne dass die Tempelwache oder römische Soldaten eingriffen. Wahrscheinlich handelte sich eher um eine symbolische Handlung, die von den Behörden zunächst unbeachtet blieb. Nun folgt die Begründung für die Aktion: Macht das Haus meines Vaters nicht zum Kaufhaus. Für Jesus ist der Tempel das Haus meines Vaters (vgl. Lk 2,49) und deshalb Ort der Begegnung mit Gott. Zum ersten Mal im Johannesevangelium spricht Jesus von Gott als meinem Vater. Das verrät eine positive Einstellung zum Tempel. Die Aktion war also keine grundsätzliche Absage an den Opferkult, sondern eher eine Tempelreinigung. Darauf weist auch die Begründung: Das Haus Gottes darf nicht zum Kaufhaus bzw. zur Markthalle werden (vgl. Sach 14,21: »Es wird keinen Händler mehr geben im Hause des HERRN Zebaoth zu der Zeit«). Während Jesus in Mk 11,17 als Begründung Jes 56,7 zitiert (»Mein Haus soll ein Haus des Gebets heißen für alle Völker«), erinnern sich bei Johannes die Jünger (wohl erst nach Jesu Tod und Auferstehung) an Ps 69,10: Der Eifer um dein Haus wird

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mich verzehren (17). Ps 69 ist einer der Leidenspsalmen Jesu. Es fällt auf, dass das Wort anders als im alttestamentlichen Text zukünftig formuliert ist. Es soll auf Jesu Todesgeschick hinweisen. Und in gewisser Hinsicht war es tatsächlich der Eifer um den Tempel, der Jesus das Leben gekostet hat. Denn die Tempelaktion, wie sie Markus datiert, dürfte viel zur Festnahme Jesu beigetragen haben. Aber nach Johannes ging es Jesus weniger um das Bauwerk. Das Haus Gottes ist Bild für die Sache Gottes, für seine Gegenwart unter den Menschen. Darum steht bei Johannes die Aktion schon am Beginn der Wirksamkeit Jesu. Der Konflikt ist von Anfang an vorprogrammiert, weil es Jesus so kompromisslos um Gottes Sache geht. Die V. 18–22 schildern die Reaktion der für den Tempelbetrieb Verantwortlichen und Jesu Antwort auf ihre Anfrage. Wieder treten die Juden als eine Art Aufsichtsbehörde auf, die sich mehr und mehr gegen Jesus stellt (s. zu 1,19). Die Frage der jüdischen Behörden an Jesus ist (18): Was für ein Zeichen kannst du uns vorweisen, dass du das tun darfst? Das entspricht einerseits der Frage in Mk 11,28: In welcher Vollmacht tust du das? Wer hat dir diese Vollmacht gegeben? Andererseits nimmt es das Motiv von Mk 8,11 auf, wo die Pharisäer ein Zeichen vom Himmel fordern, d.h. ein Wunder, das Jesu Handeln eindeutig und unzweifelhaft legitimiert. Die Frage ist bei Johannes besonders spannend, weil nur in diesem Evangelium Jesu Wunder durchweg Zeichen genannt werden (2,11.23; 3,2 u.ö.). Den Juden genügen diese Zeichen aber nicht als Nachweis für die Vollmacht Jesu. Jesus antwortet ihnen (19). Aber es bleibt offen, ob er damit auf die Zeichenforderung eingeht oder ob er mit seiner Antwort de facto ein Zeichen, das ihn legitimieren würde, verweigert. Denn er antwortet mit einem Rätselwort, voll von prophetischer Ironie. Er sagt: Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn wieder errichten. Also: Wenn ihr wirklich wissen wollt, wie es um meine Vollmacht steht, dann brecht doch diesen Tempel ab – und damit scheint zunächst der Jerusalemer Tempel gemeint zu sein –, und ihr werdet sehen, wie ich ihn in drei Tagen, d.h. in ganz kurzer Zeit, wieder errichte. Dieses Wort Jesu wird in anderer Form auch bei Markus überliefert. Dort freilich als Aussage von Zeugen im Prozess Jesu, die ihn belasten wollen und behaupten, er habe gesagt: »Ich werde diesen mit Händen gemachten Tempel abbrechen und binnen drei Tagen einen anderen, nicht mit Händen gemachten, aufbauen« (Mk 14,57f; verkürzt in Mt 26,61). Dieser Vorwurf wird in Mk 15,29 wiederholt und auch in Apg 6,14 zitiert. Die Überlieferung der Worte Jesu kannte also ein Wort, in dem er sich kritisch über

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den Tempel äußert und von der Errichtung eines neuen Tempels spricht. Viele Ausleger sind der Meinung, dass Jesus damit ursprünglich ankündigte, dass er durch sein Wirken einen neuen, nämlich den im Judentum erwarteten endzeitlichen Tempel errichten werde.

Bei Johannes ist Jesu Wort von vorneherein doppeldeutig formuliert. Dabei dient die Anspielung auf den Jerusalemer Tempel nur als Anknüpfungspunkt, und auch die Errichtung eines endzeitlichen Tempels ist nicht mehr im Blick. Es geht um Jesu Person als Ort der Gegenwart Gottes und um seinen Tod und seine Auferstehung (im Griechischen ist errichten das gleiche Wort wie erwecken, auferstehen lassen; vgl. unten V. 21). Die Juden aber missverstehen Jesu Wort (20). Sie meinen, Jesus würde behaupten, er könne das Jerusalemer Heiligtum in drei Tagen wieder aufbauen, wenn es zerstört werden würde. Deshalb ihr ungläubiger Hinweis auf die Länge der bisherigen Bauzeit: 46 Jahre wurde dieser Tempel gebaut. Der (Um-)Bau des Tempels durch Herodes begann im Jahr 20/19 v.Chr. Die Angabe »46 Jahre Bauzeit« führt ins Jahr 27/28 n.Chr., ein durchaus plausibler Ansatz für den Beginn der Wirksamkeit Jesu. Dennoch liegt in der Zeitangabe ein Problem. Zwar war der eigentliche Tempel, das Tempelhaus, schon länger fertig, aber die ganze Anlage wurde erst im Jahr 63 n.Chr. (also sieben Jahre vor ihrer Zerstörung) fertiggestellt. Man muss also wohl übersetzen: (schon) 46 Jahre wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen errichten? Das ist doch völlig unmöglich! Hier greift der Evangelist mit einem Kommentar ein (21). Er stellt fest: Jener (also: Jesus) aber hatte vom Tempel seines Leibes gesprochen. Für Johannes ist klar: Es ging Jesus bei seiner Antwort von vorneherein gar nicht um den Jerusalemer Tempel, sondern um den Tempel seines Leibes, d.h. um den Ort der Gegenwart Gottes, der nicht mehr durch Mauern und Steine markiert wird, sondern durch seine Person. Ihn würde man töten, sein Lebenshaus abbrechen, aber er würde es kraft seiner Auferweckung in drei Tagen wieder errichten. Diese Deutung des Wortes Jesu wird durch eine zweite Bemerkung des Evangelisten untermauert (22): Später, als Jesus von den Toten auferweckt worden war, da erinnerten sich seine Jünger daran, dass er das gesagt hatte. Seine Worte wurden für sie ein Schlüssel zum Verständnis von Jesu Tod und Auferweckung. Damit war aber auch die Frage beantwortet, wie Jesus dieses rätselhafte Wort gemeint hatte. Und deshalb glaubten sie der Schrift und dem Wort, das Jesus gesagt hatte. Nach urchristlicher Überzeugung sind Jesu Tod und Auferweckung Erfüllung der Schrift

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(vgl. 1Kor 15,5). So wird die Schrift durch Jesu Wort und Geschick bestätigt und gedeutet. Und zugleich erweist sich sein eigenes Wort als wahr und zuverlässig und nimmt den gleichen Rang ein wie die Heilige Schrift! Wir haben in dieser Bemerkung des Evangelisten ein schönes Beispiel für die nachösterliche Perspektive der Jesuserzählung nach Johannes! Die V. 23–25 bieten eine Art Sammelbericht über das Wirken Jesu bei seinem Aufenthalt in Jerusalem, bilden aber zugleich eine Brücke zu dem Gespräch mit Nikodemus in 3,1–21. Noch einmal wird daran erinnert, dass Jesus beim Passah in Jerusalem war (23). Im griechischen Text wird hinzugefügt auf dem Fest (REB). Das bedeutet entweder in der Festwoche (so 7,14; gemeint sind die sieben Tage des Mazzenfestes, die sich an das Passahfest anschließen) oder in der Festmenge (so 7,11; vgl. Mk 14,2). Betont wird in jedem Fall: Jesus findet Zeit und Gelegenheit, mit den Menschen in Berührung zu kommen. Das hat Auswirkungen: viele kamen zum Glauben an seinen Namen. An Jesu Namen glauben ist eine für die johanneische Theologie typische Aussage (vgl. 1,12; 3,18). Sie beschreibt die enge Bindung an die Person Jesu, die durch den Glauben entsteht (vgl. die parallele Wendung: »auf Jesu Namen getauft werden«, 1Kor 1,13) Dass viele an Jesus glauben, wird im Johannesevangelium gerade im Blick auf die Situation in Jerusalem immer wieder festgestellt (7,31; 10,42; 11,45; 12,42f). Grund dafür ist: Weil sie seine Zeichen sahen, die er tat. Von wunderbaren Taten Jesu in Jerusalem hat Johannes allerdings nichts berichtet. Betrachtet er die Tempelreinigung als solches Zeichen? Oder setzt er einfach voraus, dass Jesus überall, wo er sich befindet, Wunder tut (vgl. den Bericht von Heilungen im Tempelgebiet in Mt 21,14f)? Jedenfalls stehen neben den Juden, die nach Zeichen fragen (V. 18), viele jüdische Menschen, die durch solche Zeichen zum Glauben kommen. Johannes berichtet auch von Jesu Zurückhaltung gegenüber diesen Gläubigen (24): Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an. Im Griechischen steht das gleiche Verb, wie in V. 23 für glauben, hier in der Bedeutung von anvertrauen (vgl. Lk 16,11; Röm 3,2; 1Kor 9,17; Gal 2,7). Jesus vertraut sich nicht denen an, deren Herzen ihm zufallen. Er wird nicht durch ihre Zustimmung korrumpiert. Denn, so wird begründet: weil er alle kannte. Umfassende Menschenkenntnis ist in der Bibel ein Vorrecht Gottes, wobei weniger Gottes Allwissenheit, sondern die Tatsache im Blick ist, dass Gott »das Herz aller Menschen kennt« (1Kön 8,39). Das gilt auch für Jesus (25). Er hat es nicht nötig, dass ihn andere darüber aufklären, wie es um einen Menschen steht. Denn er erkannte selbst, was in dem Menschen war. Auffallend ist, dass

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zweimal ganz grundsätzlich von dem Menschen gesprochen wird. Es geht also nicht nur darum, dass Jesus weiß, was in dem einen oder anderen vorgeht (vgl. dazu 1,47f). Jesus erkennt, wie es grundsätzlich um den Menschen steht (vgl. 1Sam 16,7). Warum das an dieser Stelle betont wird, ist zunächst rätselhaft. Soll der Glaube derer, die aufgrund der Zeichen glauben, als oberflächlich entlarvt werden? Das meinen viele Ausleger. Aber das wird so nicht gesagt. Angedeutet wird aber, dass es beim Glauben nicht um die subjektive Bewunderung der Glaubenden geht, sondern darum, dass Jesus den Glauben als echt erkennt (vgl. 21,17). Wirklicher Glaube entsteht nur dort, wo Menschen sich durch den Impuls, den Jesu Zeichen und Wunder bieten, tiefer führen lassen, dorthin, wo der wahre Schaden des Menschseins erkannt und geheilt wird. Das Gespräch Jesu mit Nikodemus wird das deutlich machen. Jesu Wirken steht von Beginn an im Zeichen des Konflikts. Um das zu zeigen, rückt bei Johannes die Tempelreinigung an den Anfang. Die Chronologie der anderen Evangelien ist wahrscheinlicher, aber die theologische Aussage des 4. Evangeliums hat ihr eigenes Recht. Jesus stellt in der Tradition prophetischer Kultkritik grundsätzliche Fragen an den Betrieb im Tempel. Auf der einen Seite wird auf dessen eigentliche Bestimmung verwiesen, Haus Gottes zu sein (möglicherweise war das der ursprüngliche Sinn der Aktion). Auf der anderen Seite wird Gottes Gegenwart nicht mehr in einem Gebäude gesucht, sondern auf Jesus und den Leib des gekreuzigten und auferstandenen Christus bezogen (vgl. auch 4,22–24). Bei Johannes wird der Leib Christi nicht wie bei Paulus mit der Kirche identifiziert (vgl. 1Kor 12, 12; Kol 1,18; Eph 1,22f). Aber auch bei ihm gilt: Wer Gottes Gegenwart sucht, muss sich durch die Gemeinde zu Jesus führen lassen. Sie ist der Raum der Begegnung mit ihm. Dann wäre zu fragen: Was hindert heute Gottes Gegenwart in Gottes Haus? Wo werden bei uns Kirche und Gemeinde zum Markt, zum Kaufhaus für unsere Interessen oder Ideologien? Welche »Tempelreinigung« ist heute nötig? Noch ein zweites Thema wird in dem Text angesprochen: Die Wunder sind Zeichen dieser Gegenwart. Sie begründen Glauben, aber dieser Glaube kann nur der Anstoß sein, sich auf die wirkliche Begegnung mit Jesus einzulassen. Heute mag ein zu oberflächlicher Wunderglaube nicht das Hauptproblem der Christen sein. Doch gibt es immer wieder Kreise, in denen unreflektiert Wunder als Missionsmethode propagiert werden, während anderen das Reden von Wundern grundsätzlich verdächtig ist. Wunderbare Erfahrungen als Zeichen für Gottes Güte zu schätzen, aber nicht zu überschätzen, bleibt eine wichtige Herausforderung.

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3,1–21 Das Gespräch mit Nikodemus und der Weg zum Heil 3 1Es war da aber ein Mensch von den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein führender Mann bei den Juden, 2der kam in der Nacht zu ihm und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, der von Gott gekommen ist. Denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. 3Jesus antwortete und sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage dir, wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4Spricht zu ihm Nikodemus: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er schon alt ist? Kann er etwa ein zweites Mal in den Leib seiner Mutter hineingehen und geboren werden? 5Jesus antwortete: Amen, amen, ich sage dir, wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht ins Reich Gottes hineingehen. 6Was vom Fleisch geboren wird, ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, ist Geist. 7 Wundere dich nicht, dass ich gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. 8Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht; so ist es bei jedem, der vom Geist geboren ist. 9Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie kann das geschehen? 10Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du bist der Lehrer Israels und weißt das nicht? 11 Amen, amen, ich sage dir: Was wir wissen, sprechen wir aus, und was wir gesehen haben, bezeugen wir, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an. 12Wenn ich euch das Irdische gesagt habe und ihr nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch das Himmlische sage? 13 Und niemand ist zum Himmel aufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist, (nämlich) der Menschensohn. 14Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15damit jeder, der glaubt, in ihm das ewige Leben hat. 16Denn so (sehr) hat Gott die Welt geliebt, dass er den einziggeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern ewiges Leben hat. 17Denn Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richten soll, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. 18Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einziggeborenen Sohnes Gottes glaubt. 19 Aber das ist das Gericht: Das Licht ist in die Welt gekommen, und die Menschen haben das Dunkel mehr geliebt als das Licht. Denn ihre Werke sind böse. 20Denn jeder, der das Schlechte tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. 21Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit seine Werke offenbar werden, denn sie sind in Gott gewirkt.

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3,1–21

Mit dieser Geschichte beginnt eine Reihe von Szenen, in denen Jesus durch sein Handeln oder Reden an Grundfragen des Lebens anknüpft und in längeren Gesprächen die Bedeutung seiner Sendung entfaltet. In 3,1–21 geht es um die Zugehörigkeit zum Reich Gottes und das Geschenk ewigen Lebens, in 4,4–42 um den Lebensdurst der Menschen, in 5,1–47 um Krankheit und echte Heilung, in 6,1–74 um den Hunger der Menschen nach Leben, in 9,1–41 um Blindheit und Glaube und in 11,1–45 noch einmal zentral um Tod und ewiges Leben. In der Begegnung von Jesus und Nikodemus zeigt der Evangelist erstmals, wie sich Jesu Botschaft im Dialog mit Menschen entfaltet, die nach seiner Lehre oder Vollmacht fragen. In Nikodemus lernen wir einen jüdischen Schriftgelehrten kennen, der mit hoher Wertschätzung zu Jesus kommt und doch große Mühe hat, ihn zu verstehen. Gerade das aber gibt dem Evangelisten die Möglichkeit, das Gespräch über die beiden Partner hinaus für seine Leser und Leserinnen zu öffnen. In der Mitte des Abschnitts verschwindet Nikodemus aus dem Blickfeld, und Jesus redet nicht mehr in der Ich-Form, sondern in der 3. Person wie ein neutraler Berichterstatter von Gottes Handeln in seinem Sohn. Der Abschnitt gliedert sich in drei Teile. Alle drei beginnen mit einem Impuls des Nikodemus (V. 2.4.9) und werden mit einer Antwort Jesu fortgesetzt, die jeweils mit einem doppelten Amen eingeleitet wird (V. 3.5–8.10–21). Die letzte Antwort Jesu geht ab V. 13 in eine lehrhafte Darlegung der Bedeutung seines Wegs für das Heil der Menschen über. Nikodemus, der Gesprächspartner Jesu, wird ausführlich vorgestellt (1). Sein Name ist griechisch, was auf die Herkunft aus der hellenistisch gebildeten Oberschicht Jerusalems weist. Theologisch aber gehört er zur Gruppe der Pharisäer, denen die Treue zum Gesetz, aber auch die Beachtung der mündlichen Überlieferung wichtig war (s. zu 1,24). Er wird als führender Mann unter den Juden vorgestellt, war also wohl ein Mitglied des Hohen Rats (vgl. 7,50). Er kommt zu Jesus in der Nacht (2). Eine Erklärung für dieses Verhalten wird nicht gegeben. Es ist aber ein wichtiges Merkmal dieses Mannes. Immer, wenn er erwähnt wird, wird dieser Umstand genannt (7,50; 19,39). Wollte er nicht gesehen werden »aus Furcht vor den Juden«, wie es von Josef von Arimathia heißt (19,38)? Oder war es bei ernsthaften Schriftgelehrten Sitte, in der Stille der Nacht über die Tora zu sprechen? Der Evangelist sagt darüber nichts. Für ihn ist diese Zeitangabe ein Signal, das die Gestalt des Nikodemus im Zwielicht lässt: Er ist ein Mann, der

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ernsthaft nach Jesus fragt und zu ihm steht (vgl. 7,50; 19,39) und doch ein klares Bekenntnis zu ihm im Licht des Tages scheut. Nikodemus beginnt das Gespräch mit dem Ausdruck großer Ehrerbietung: Rabbi, sagt er zu Jesus und meint diese Anrede ernst, denn er fährt fort: Wir wissen, dass du ein Lehrer bist, der von Gott gekommen ist. Das Wir weist ihn als Sprecher einer Gruppe der Juden aus, die offen für die Verkündigung Jesu sind. Sie spüren: Dieser Mann ist von Gott gesandt. Dafür gibt es auch eine klare Begründung: Niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. Mit dem Stichwort Zeichen wird wie in 2,23 auf Wunder angespielt, die Jesus auch in Jerusalem getan hat, von denen der Evangelist aber nichts erzählt hat. Sie werden als bekannte Tatsache vorausgesetzt. Anders als die Schriftgelehrten in Mk 3,22 sehen Nikodemus und seine Freunde in ihnen ein klares Zeichen dafür, dass Gott mit Jesus ist. Sonst könnte er nicht solche Taten wirken. Dass er von Gott gekommen ist und dass Gott mit ihm ist – mehr kann man eigentlich von einem Menschen nicht sagen! Jesus aber hält sich nicht bei Komplimenten auf, auch wenn sie ernst gemeint sind (3). Er antwortet Nikodemus, ohne dass dieser eine Frage gestellt hat. Das verwundert heutige Leser und Leserinnen. Der Evangelist setzt aber voraus: Wer sein Evangelium liest, weiß, mit welchen Fragen ernsthafte Frager zu Jesus kommen. Es sind Fragen wie die des »reichen Jünglings« in Mk 10,17 oder des Gesetzeslehrers von Lk 10,25: »Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?« Oder mit anderen Worten, aber gleicher Bedeutung: »Was muss ich tun, um ins Reich Gottes zu kommen?« Darauf gibt Jesus eine überraschende Antwort. Das doppelte Amen am Anfang unterstreicht ihre Bedeutung: Amen, amen, ich sage dir, wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Entscheidend für die Teilhabe an Gottes ewiger Herrschaft ist das Geschenk einer neuen Existenz. In Mt 18,3 ist ein ähnliches Wort Jesu überliefert: »Amen, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.« Wahrscheinlich lautete dessen aramäische Urform: »… wenn ihr nicht wieder wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen«. Jesu Antwort an Nikodemus nimmt diese Aussage auf und radikalisiert sie. Es geht darum, wirklich ganz neu anzufangen. Dabei liegt im Griechischen ein Wortspiel vor. Die Wendung von neuem geboren werden kann auch mit von oben gezeugt werden übersetzt werden. Die Rückfrage des Nikodemus in V. 4 zeigt, dass die erste Bedeutung im Vordergrund steht. Aber die Alternative

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von oben muss mitgehört werden (vgl. 3,31; 8,23): Wer nicht neu beginnt und sich neues Leben von oben, also von Gott, schenken lässt, kann das Reich Gottes nicht sehen. Jesus spricht bei Johannes selten vom Reich Gottes. Das Heil, das Gott schenkt, ist bei ihm das ewige Leben, das schon jetzt im Glauben beginnt. Aber hier, am Beginn des Evangeliums, wird die Frage nach dem Heil in ihrer traditionellen Fassung aufgegriffen. Die Wendung das Reich Gottes sehen kommt in den Evangelien selten vor (nur Lk 9,27; vgl. Mk 9,1). Die übliche Formulierung heißt: hineinkommen in das Reich Gottes (vgl. V. 5; Mk 10,15). Aber die alttestamentliche Wendung »Gutes bzw. die Güte des H ERRN sehen« (vgl. Jer 29,32; Ps 4,7; 27,13) zeigt: Das Reich Gottes sehen bedeutet nicht, sein Kommen zu beobachten, sondern an der rettenden Wirklichkeit der Herrschaft Gottes teilzuhaben und sie für sich selbst zu erfahren. Das berührt sich mit der Bedeutung des Sehens im ganzen Evangelium. Nikodemus hat Schwierigkeiten, das zu verstehen (4). Er fragt zurück: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er schon alt ist? Und er unterstreicht seine Zweifel, indem er ausmalt, welche groteske Konsequenz Jesu Feststellung haben würde: Kann denn jemand etwa ein zweites Mal in den Leib seiner Mutter hineingehen und geboren werden? Viele Ausleger haben sich gewundert, dass der Erzähler Nikodemus ein so krasses Missverständnis der bildlichen Rede Jesu zutraut. Aber Nikodemus formuliert seinerseits mit bildhaften Worten das Grundproblem, das aus menschlicher Sicht in Jesu Worten liegt: Ist ein solch radikaler Neuanfang überhaupt menschenmöglich? Ist ein Mensch nicht durch Erbanlage und frühkindliche Sozialisation so festgelegt, dass der Versuch, ein neues Leben zu beginnen, immer scheitern muss? Das führt zu einem zweiten Gesprächsgang: Jesus antwortet – wieder durch ein doppeltes Amen bekräftigt – mit fast der gleichen Aussage wie in V. 3, allerdings mit charakteristischen Veränderungen (5): Amen, amen, ich sage dir, wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht ins Reich Gottes hineingehen. Statt das Reich Gottes sehen heißt es nun ins Reich Gottes hineingehen (vgl. Mk 10,15). Damit wird zugesagt: Wem Gott sein Heil schenkt, wird in einen neuen Lebensraum geführt, der nicht mehr von den Mächten des Bösen, sondern allein von Gott beherrscht wird. Inwiefern das erst in Zukunft geschehen oder schon jetzt Wirklichkeit wird, bleibt offen. Bedingung dafür aber ist die neue Existenz, von der schon V. 3 gesprochen hat. Wie aber ist es möglich, das Leben ganz neu zu beginnen, von neuem geboren zu werden? Die Antwort liegt in der neuen Formulierung der Bedingung: wenn jemand nicht aus Wasser und

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Geist geboren wird. Das erinnert unmittelbar an die Aussage Johannes des Täufers, er sei gekommen, um mit Wasser zu taufen, während Jesus mit Heiligem Geist taufen werde (1,33). Hier sind Wasser und Geist, Taufe und Geistausgießung, jedoch ganz eng miteinander verbunden. Das berührt sich mit Aussagen in Ez 36,25–27. Der Prophet beschreibt die neue Existenz, die Gott dem Volk schenken wird: »Ich will reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet … Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben … Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun.«

Diese Hoffnung ist im Judentum lebendig geblieben (vgl. Jub 1,23; 1QS 4,20–22). Wasser als Symbol der Reinigung beschreibt die Bewältigung der schuldhaften Vergangenheit. Geist als erneuernde Gegenwart Gottes bürgt für die Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft. Beides zusammen zeigt: Dass ein neuer Anfang und ein neues Leben möglich werden, ist Geschenk Gottes und reines Wunder. Offensichtlich wird mit diesen Worten auf die Taufe hingewiesen. Auch Tit 3,5 spricht davon, dass wir »durch das Bad der Wiedergeburt und die Erneuerung im Heiligen Geist« gerettet werden. In der Taufe schenkt Gott den Menschen eine neue Existenz. Allerdings wird sogleich deutlich, dass der äußere Vollzug der Taufe nur der Anknüpfungspunkt für das eigentliche, innere Geschehen ist, für das, was der Geist bewirkt. Dennoch bleibt der Hinweis auf die Taufe wichtig. Er hält fest: Das Wunder der Neugeburt ist nichts, was ein Mensch von sich aus bewirkt, sondern etwas, was am Menschen geschieht. Im Folgenden spricht Jesus aber nur noch vom Wirken des Geistes. Er stellt ihm zunächst die Wirklichkeit der menschlichen Existenz gegenüber (6). Was vom Fleisch geboren wird, ist Fleisch. Das ist eine ganz realistische Feststellung. Fleisch bedeutet in diesem Zusammenhang das Menschsein in seiner kreatürlichen Begrenztheit und Vergänglichkeit (vgl. zu 1,14). Ein Leben, das sich nur auf diese natürlichen Zusammenhänge beschränkt und seinen Ursprung nur in materiellen Vorgaben sieht, bleibt auch ganz der Vergänglichkeit und den Gesetzmäßigkeiten einer rein irdischen Existenz unterworfen. Dem steht aber die Möglichkeit gegenüber, sein Leben aus einem ganz anderen Ursprung heraus zu leben: Was vom Geist geboren wird, ist Geist. Mit Geist ist nicht der menschliche Intellekt gemeint, sondern Gottes schöpferische Kraft, die das Leben eines Menschen erfasst und neu gestaltet. Wo das geschieht, da verlässt sich ein Mensch nicht mehr auf die na-

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türlichen Gegebenheiten des Lebens, sondern auf Gottes Gegenwart. Das aber ist die Voraussetzung dafür, ganz zu Gott und seinem Reich zu gehören. Deshalb sagt Jesus zu Nikodemus (7): Wundere dich nicht, dass ich gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. Wer die Gemeinschaft mit Gott in seinem Reich sucht, muss sein Leben so gestalten lassen, dass es dieser Gemeinschaft entspricht. Das ist nur durch einen radikalen Neuanfang möglich. Der aber übersteigt menschliches Können. Jesus macht das an einem Vergleich deutlich. Er beruht darauf, dass das griechische Wort für Geist (pneuma) auch Wind bedeutet (8): Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. Das Wehen des Windes ist unberechenbar und ungreifbar. Das wird schon im Alten Testament zum Bild für Dinge, die wir nicht begreifen, deren Wirkung aber real und spürbar ist (vgl. Pred 11,5). Im Bild wird betont: Wind lässt sich nicht kontrollieren und in feste Bahnen lenken. Genauso unverfügbar ist das Wirken des Geistes. Aber wie das Brausen (wörtlich: die Stimme) des Windes unüberhörbar ist, so kann auch die Wirkung des Geistes nicht verborgen bleiben. Allerdings heißt es am Schluss nicht: So ist es auch mit Gottes Geist, sondern: so ist es bei jedem (wörtlich: so ist jeder), der vom Geist geboren ist. Das Wunder einer neuen Geburt, d.h. das Geschenk einer neuen Existenz, bleibt unbegreiflich. Es ist nicht durch Menschen »machbar«, es bleibt unverfügbar und ist doch erfahrbar. Aber wie kann das geschehen? Für Nikodemus bleibt diese grundsätzliche Frage offen (9). Jesus antwortet mit einer vorwurfsvollen Gegenfrage (10): Du bist der Lehrer Israels und weißt das nicht? Sehr betont nennt er Nikodemus den Lehrer Israels und macht ihn damit zum Repräsentanten jüdischer Schriftgelehrsamkeit. Er sagt nicht Lehrer der Juden, sondern Israels, und verstärkt mit diesem Ehrentitel den Ton vorwurfsvoller Verwunderung. In Israel, dem Volk Gottes, dem Gottes Wort anvertraut ist, müsste man etwas von der Verheißung eines neuen Herzens und Lebens in der Kraft des Geistes wissen (vgl. Ez 36,25f). Aber solange sie auf ihre eigene Erkenntnisfähigkeit vertraut (und sich so als Fleisch erweist, vgl. V. 6), bleibt auch für die Schriftgelehrsamkeit Israels das Wunder einer neuen und bleibenden Gemeinschaft mit Gott unverständlich. Es ist wirklich ein Lehrer nötig, der von Gott kommt (V. 2), um davon Zeugnis abzulegen. Davon spricht die eigentliche Antwort Jesu – wieder mit dem feierlichen doppelten Amen eingeleitet (11): Amen, amen, ich sage

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dir: Was wir wissen, sprechen wir aus, und was wir gesehen haben, bezeugen wir, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an. Indem Jesus wir sagt, nimmt er das wir des Nikodemus in V. 2 auf. Wie Nikodemus als Sprecher derer auftritt, die versuchen, die Botschaft Jesu zu verstehen, so wird Jesus zum Sprecher derer, die in seine Gemeinschaft gefunden haben. Dennoch bleibt er das eigentliche Subjekt der Aussage. Was wir wissen und was wir gesehen haben meint das Wissen und die Sicht, die er bringt und weitergibt. Zugleich trifft er die ernüchternde Feststellung: aber ihr – also auch die Schriftgelehrten, die offen für die Sendung Jesu sind – nehmt unser Zeugnis nicht an. Bei aller Anerkennung Jesu als Lehrer, mit dem Gott ist, gibt es eine entscheidende Blockade, sich für seine Botschaft zu öffnen. Ob sich das ändert, wenn Jesus noch mehr von dem verkündet, was er von Gott her zu sagen hat, ist fraglich (12). Denn – so fragt Jesus: Wenn ich euch das Irdische gesagt habe und ihr nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn ich auch das Himmlische sage? Er knüpft damit an eine sprichwörtliche Redewendung an: »Wir erfassen kaum, was auf Erden ist … Was aber im Himmel ist, wer hat es erforscht?« (Weish 9,16). Doch was meint Jesus mit dieser Frage? Das Irdische ist das, was Jesus in den V. 3–8 gesagt hat: Der in sich selbst verkrümmte und verliebte Mensch, der meint, er könne sich selbst erschaffen, ist unfähig zur Gemeinschaft mit Gott. Er braucht eine ganz neue Existenz, ein Leben, das seinen Ursprung in Gott hat und sucht. Das Himmlische, das Jesus darüber hinaus mitteilen könnte, dürfte dann das sein, was ab V. 13 verkündet wird, nämlich Herkunft und Auftrag Jesu von Gott. Denn die Stichworte himmlisch und Himmel beschreiben nichts anderes als den »Raum« der Wirklichkeit Gottes. Wenn aber Menschen nicht bereit sind zu akzeptieren, was das Problem ihres Lebens ist, wie können sie dann annehmen, was Gott tut, um sie aus ihm zu retten? »Wer die Notwendigkeit der Wiedergeburt nicht einsieht, der versteht auch nicht, dass sie durch Jesus möglich geworden ist« (Bultmann, 106f). Aber dann spricht Jesus doch weiter, allerdings auf andere Weise. Er redet von sich nicht mehr in der ersten, sondern in der dritten Person, und zwar vom Menschensohn (V. 13f) und vom Sohn (Gottes) (V. 16–18). Was er über sich selbst sagt und das Bekenntnis der Gemeinde zur Bedeutung seiner Person gehen ineinander über. Die Frage nach der Möglichkeit einer neuen Geburt wird dadurch auf eine andere Ebene gehoben. Jetzt geht es um die Frage, ob es möglich ist, dass Menschen von sich aus ihr Gefangensein im Bereich des Irdisch-Kreatürlichen (im Fleisch) aufbre-

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chen und zu Gott gelangen und so wahres Leben in Gemeinschaft mit ihm finden. Das wird zunächst kategorisch verneint (13): Niemand ist zum Himmel (d.h. zu Gott) aufgestiegen. Von sich aus hat kein Mensch es geschafft, aus den »Niederungen« eines irdischen Daseins den Weg zu Gott zu finden. Allerdings wird sogleich eine Ausnahme gemacht: außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist. Wer damit gemeint ist, wird sogleich hinzugefügt: (nämlich) der Menschensohn, also Jesus (vgl. 1,51). Doch diese Aussage bringt die Ausleger in Schwierigkeiten. Noch ist Jesus ja nicht wieder zu Gott hinaufgestiegen. Wird hier vorweggenommen, was erst mit Ostern geschehen wird? Das ist denkbar. Der Satz würde dann lauten: Niemand ist (bis jetzt) zum Himmel aufgestiegen, sondern nur der, der vom Himmel herabgestiegen ist kann die Verbindung zu Gott schaffen. Das ist sprachlich und sachlich möglich. Aber die Aussage könnte noch einen anderen Hintergrund haben. Sie erinnert an ein Wort in Spr 30,4: »Wer ist hinaufgestiegen in den Himmel und wieder herab?« Auch dort geht es um die Frage: Wer kann die Verbindung zwischen Gott und Mensch schaffen? Wer ist das?, wird gefragt. »Wie ist sein Name und wie der Name seines Sohnes?« Diese Frage aber wird voll Vertrauen an Gott weitergegeben: »Ja, du weißt es« (so die Übersetzung von Sæbø, Sprüche 360). Gott allein und seine Weisheit (sie ist mit »Sohn« gemeint) können die Verbindung zwischen Gott und Mensch schaffen. Diese Aussage wird hier auf Jesus bezogen. Er allein kann den Weg in die Gemeinschaft mit Gott öffnen (zum Himmel hinaufsteigen). Denn er ist der Menschensohn der, der vom Himmel herabgekommen ist und so die Verbindung mit Gott schafft (vgl. 1,51). Er tut das in einer Doppelbewegung: Er kommt »herunter« zu den Menschen und macht den Weg frei »hinauf« zu Gott. Aber damit das möglich wird, muss der Menschensohn erhöht werden (14). Dies ist die johanneische Fassung der Leidensankündigung Jesu. Heißt es bei Markus: »Der Menschensohn muss viel leiden …« (Mk 8,31) so hier: der Menschensohn muss erhöht werden (vgl. auch 8,28; 12,34). Das erhöht werden ist also ein paradoxer Ausdruck für den Vorgang der Kreuzigung, bei dem der Verurteilte am Kreuz aufgehängt und damit »erhöht« wird. Dass dies gemeint ist und warum es so sein muss, macht ein Verweis auf eine alttestamentliche Geschichte deutlich. In Num 21,4–9 wird erzählt, wie das Volk bei seiner Wanderung durch die Wüste wieder einmal gegen Gott aufbegehrte. Als Strafe schickt Gott giftige Schlangen, durch deren Biss viele sterben. Das Volk erkennt seine Verfehlung und bittet Mose, bei Gott für sie einzutreten.

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Gott weist daraufhin Mose an: »Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben« (V. 8). Als Abbild der Strafe verkörpert die Schlange die Schuld der Israeliten. Sie ist aber zugleich Zeichen der Rettung: Wer sie ansieht, bekennt damit seine Schuld, zeigt aber auch sein Vertrauen, dass Gott neues Leben schenkt. Was Israel erlebte, geschieht in neuer und universaler Weise im Geschick Jesu. Der »erhöhte« Menschensohn, also Jesus, der am Kreuz hängt, verkörpert die Schuld und Gottverlassenheit der Menschen, ihre Auflehnung gegen Gott und seinen Gesandten. Zugleich aber ist das Kreuz das Zeichen des Heils, das Gott wirkt. An die Stelle des »Sehens« tritt nun freilich der Glaube: Die Augen des Glaubens sehen mehr als nur einen zu Tode gefolterten Leichnam. Sie sehen in dem Gekreuzigten den Sieg der Liebe Gottes, der in Tod und Auferstehung Jesu vollendet wird. Darum muss Jesus, der Menschensohn, ans Kreuz geschlagen werden, damit jeder, der glaubt, in ihm das ewige Leben hat (15); so die richtige Übersetzung (vgl. ZB; EÜ; anders REB; LÜ). Sich im Glauben hineinnehmen zu lassen in das Geschick Jesu, das ist der Weg zu wahrem, ewigem Leben. In ihm und durch ihn haben die Glaubenden Anteil an Jesu Sieg über den Tod. Zum ersten Mal erscheint hier im Johannesevangelium das Stichwort ewiges Leben als Inbegriff des Heils, das Gott schenkt. Hatte Jesus zunächst als Ziel des Weges mit Gott das Hineingehen in das Reich Gottes genannt, so spricht er jetzt vom Geschenk ewigen Lebens. Die Endzeiterwartung, die im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu in den drei ersten Evangelien stand, wird auf die Ebene der persönlichen Hoffnung der Menschen übersetzt und auch für die verständlich gemacht, denen die jüdische Reich-Gottes-Erwartung fremd war (vgl. unten zu V. 16f). Aber warum wählt Gott diesen Weg, und warum hat Jesu Tod am Kreuz solch rettende Wirkung? Das begründet V. 16 mit einer der zentralen Aussagen der neutestamentlichen Botschaft: Denn so (sehr) hat Gott die Welt geliebt, dass er den einziggeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern ewiges Leben hat. Was für ein Wort: Gott hat diese Welt geliebt! Dabei bedeutet die Vergangenheitsform nicht, dass Gott aufgehört hat, diese Welt zu lieben. Sie beschreibt vielmehr einen einmaligen, aber bleibend gültigen Erweis seiner Liebe. Gemeint ist also: Gott hat durch sein Handeln in Christus seine Liebe ein für alle Mal erwiesen, und zwar seine Liebe zur Welt! Das ist im Rahmen des Johannesevangeliums eine erstaunliche Aussage. Denn die Welt ist in ihm ja oft der Inbegriff des Wider-

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göttlichen und Gottfeindlichen (vgl. 14,27; 15,18f; 17,14). Aber diese Welt bleibt dennoch Gottes Schöpfung und darum auch Adressat seines Heilshandelns in Jesus Christus (vgl. 1,29; 4,42; 6,33). Gottes Liebe gilt der ganzen Welt. Schon in Weish 11,24 wird von Gott gesagt: »Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast.« Das Johannesevangelium geht einen deutlichen Schritt über diese Aussage hinaus. Es spricht nicht nur von der bleibenden Liebe des Schöpfers zu seiner Schöpfung, sondern vom entschlossenen Handeln seiner rettenden Liebe zu einer Welt, die sich gegen ihn gestellt hat. Aber wie ist das mit anderen Aussagen bei Johannes zu vereinbaren? Nach 13,1 hat Jesus »die Seinen« geliebt, die in der Welt waren, aber nicht diese Welt. In 17,9 sagt er ausdrücklich, dass er »nicht für die Welt bittet«. Darum nehmen manche an, 3,16 sei ein übernommenes oder gar erst später eingefügtes Traditionsstück, das nicht der eigentlichen Botschaft des Evangeliums entspricht. Andere vermuten, der Begriff Welt meine an unserer Stelle nur die von Gott Erwählten als Repräsentanten einer neuen Menschheit. Dagegen sprechen die schon genannten Stellen 1,29; 4,42; 6,33. Die Heilsbotschaft bei Johannes hat eindeutig eine universale Dimension. Um sie zu formulieren lehnt er sich an traditionelle Aussagen über die umfassende und bedingungslose Liebe Gottes an. Sie finden sich auch bei Paulus, und zwar immer in Verbindung mit Hinweisen auf die Bedeutung des Todes Jesu (Röm 5,8; 8,31–39; vgl. 2Kor 5,14). Johannes aber ist es, der sie zu dem Satz zuspitzt: So sehr hat Gott die Welt geliebt! 1Joh 4,9 bestätigt das: »Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben«. Wie sich das zu den kritischen Aussagen zur Welt verhält, muss die Auslegung dieser Stellen zeigen.

Gottes Liebe zu dieser Welt hat Konsequenzen. Er liebt sie so sehr und ihre Rettung ist ihm so wichtig, dass er den einziggeborenen Sohn gab. Mit dieser Aussage knüpft Johannes an die Botschaft von 1,14 und 1,18 an: Dass das WORT Fleisch wurde, als Mensch unter uns Menschen »wohnte« und uns so Gott in einzigartiger Weise nahebrachte, das ist Ausdruck der göttlichen Liebe, die sich nicht von ihren Geschöpfen distanziert. Die Bezeichnung Jesu als einziggeborener Sohn weist auch hier auf die ganz enge Beziehung Jesu zum Vater hin. Vielleicht wird damit auch auf die Opferung des einzigen Sohnes angespielt, die Abraham nach Gen 22 abverlangt worden war. Dass Gott seinen Sohn gibt, umfasst beides: Jesu Kommen in diese Welt, hinein in die Begrenzungen einer menschlichen Existenz, und seine Lebenshingabe am Kreuz – auch wenn hier nicht das Wort hingeben steht. Im Tod des Sohnes am Kreuz erweist sich die Echtheit und Tiefe der Liebe des Vaters, der »seinen einzigen

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Sohn nicht verschont hat« (so Paulus in Röm 8,32). In ihm hat er das Todesgeschick der Menschen auf sich genommen, um es für sie aufzubrechen und sie in die lebenspendende Gemeinschaft mit ihm zu führen. Das Ziel dieses Handelns wird klar benannt. Gott sendet den Sohn, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Die Menschen dieser Welt sind in Gefahr, verloren zu gehen – so die traditionelle Übersetzung. Sie ist nicht falsch, sondern beschreibt, dass Menschen, die nicht in die Gemeinschaft mit Gott finden, in der Gottesfinsternis eines Lebens ohne Gott verloren gehen und die Bestimmung ihres Lebens verfehlen. Aber als Gegenüber zu der positiven Aussage ewiges Leben haben ist die Übersetzung zugrunde gehen vorzuziehen. Das Johannesevangelium spricht zwar nie von der Hölle. Aber es sieht im Tod auch nicht nur das Verlöschen der physischen Existenz, sondern das bittere Scheitern und schmerzliche Zunichtewerden eines Menschenlebens, dem die Verbindung zu Gott fehlt. Positives Ziel der Rettungsaktion Gottes ist, dass Menschen das ewige Leben haben. Ewiges Leben ist in der Verkündigung Jesu im Johannesevangelium das Heilsgut schlechthin. Aber es meint etwas anderes als Unsterblichkeit in Form eines unendlichen Weiterbestehens unserer jetzigen Existenz. Ewiges Leben ist Leben in der Gemeinschaft mit Gott. Ewiges Leben beginnt deshalb für Johannes nicht erst nach dem Tod oder bei der Auferstehung, sondern schon jetzt, wenn Menschen im Glauben in die Gemeinschaft mit Gott finden (vgl. 3,36; 5,24 und besonders 11,25f). Ewiges Leben zu haben bedeutet also nicht, eine Art Arznei zur Unsterblichkeit zu besitzen, sondern ist die Gewissheit, von Gott in seine Gemeinschaft aufgenommen zu sein. Das aber gilt nicht einfach für jeden Menschen, der Teil dieser Welt ist. Die Liebe Gottes zur Welt kommt zum Ziel, wenn Menschen zum Glauben finden! Das Geschenk des Sohnes bewirkt nicht die pauschale Rettung der Welt, die jeden und jede ungefragt erreicht. In der Sendung des Sohnes ergeht der Ruf an alle, sich Gottes Handeln zu öffnen und sich ihm anzuvertrauen. Gegen diese Einschränkung erhebt sich nicht selten Widerspruch. Warum wird der Glaube zur Bedingung des Heils? Wird damit nicht doch wieder eine menschliche Leistung gefordert? Aber der Glaube ist im Johannesevangelium, wie im ganzen Neuen Testament, nicht Leistung menschlicher Willensanstrengung, sondern Offenheit für die Gegenwart Gottes in Jesus von Nazareth. Ist von neuem geboren zu werden Ausdruck dafür, dass etwas am Menschen geschieht, was er nicht selbst vollbringt, so ist glauben Ausdruck dafür, dass Gottes Ja zu den Menschen auch nach deren

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Ja fragt. Weil ewiges Leben Beziehung ist, darum wird der Glaube zur Tür zum ewigen Leben. Wie bei Paulus in Röm 1,16 ist auch in Joh 3,16 das jeder, der glaubt keine einschränkende Bedingung (nur, wer glaubt), sondern eine entschränkende Öffnungsklausel gegenüber alle religiösen Einschränkungen. Luther hat das durch seine freie Übersetzung – alle, die an ihn glauben – sehr gut zum Ausdruck gebracht. An Jesus Christus als den Sohn Gottes zu glauben ist im Johannesevangelium die grundlegende Beschreibung für den Schritt in die heilvolle Gemeinschaft mit Gott und für das Leben in dieser Gemeinschaft (3,18; 11,27; 20,31). In Kurzform heißt das: an ihn glauben (2,11; 3,16) oder – was gleichbedeutend ist: an seinen Namen glauben (1,12; 2,23; 3,18). Inhaltlich bedeutet das: glauben, dass er von Gott gesandt (6,29; 11,42; 17,8.21) bzw. von ihm ausgegangen ist (16,27.30), dass er im Vater ist und der Vater in ihm (14,10f) oder dass ich (es) bin (13,19). Kurz gesagt: Es heißt, sein Leben dafür zu öffnen, dass Gott in Jesus den Menschen in einzigartiger Weise begegnet. An ihn glauben bedeutet deshalb zugleich an Gott glauben und umgekehrt (5,24; 12,44; 14,1). Dass Menschen ihm Glauben schenken und ihm vertrauen, ist das Ziel der Zeichen, die Jesus tut (6,30; 8,31; s. zu 20,30f) Tatsächlich kommen Leute zum Glauben, weil sie Jesu Zeichen sehen (2,11.23; 4,53; 7,31; 11,15 u.ö.). Aber dieser Glaube muss sich bewähren. Darum gilt Jesu Glückwunsch denen, die glauben, ohne zu sehen (20,29). Zugleich aber gibt es ein Sehen des Glaubens, gewissermaßen mit den Augen des Herzens (6,40; 12,44f; vgl. auch 1,14.50f; 14,19; 16,16), so wie bei Johannes auch Erkennen ein Wesensmerkmal des Glaubens ist (6,69; 8,31f; 10,38; 17,8). Zu glauben bedeutet also nichts anderes, als sich ganz der Wirklichkeit Gottes in Jesus anzuvertrauen. Damit wird ein Mensch hineingenommen in die Gemeinschaft Jesu mit Gott und erhält Anteil an wirklichem Leben aus Gott, Leben, das aus der Fülle der Liebe Gottes lebt und nicht mehr dem Tod unterworfen ist.

Die Verse 17f erläutern noch einmal, was es bedeutet, dass Jesus zum Heil der Welt gesandt wurde. Zunächst erfolgt eine Abgrenzung: Gott hat den Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richten solle. Johannes scheint sich hier von der traditionellen Vorstellung abzugrenzen, dass Jesus als der Menschensohn wiederkommen wird, um die Welt zu richten (vgl. Mt 13,41; 16,27; 25,31). Darum ist hier nicht mehr wie in V. 13f vom Herabkommen und Erhöhtwerden des Menschensohns die Rede, sondern von der Sendung des Sohnes. Johannes knüpft damit an eine Tradition an, die auch Paulus kennt (vgl. Röm 8,3; Gal 4,4): Gott hat seinen Sohn nicht zum Gericht in die Welt gesandt, sondern um die Menschen aus der Gefangenschaft unter der Macht der Sünde zu befreien und in die Gemeinschaft mit ihm zu holen – kurz gesagt: damit die Welt durch ihn gerettet werde.

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Die Rettung der Welt aber geschieht dadurch, dass Menschen zum Glauben an Jesus finden und so ihr Leben ganz Gott anvertrauen. Positiv bedeutet das: Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet (18). Durch das Kommen des Sohnes ist die Gottesferne und -feindschaft der Menschen überwunden. Wer sich im Glauben in diese Wirklichkeit hineinnehmen lässt, hat all das, was Anlass zu Gericht und Verurteilung sein könnte, hinter sich gelassen. Aber in der Alternative von Glauben und Unglauben vollzieht sich das Gericht schon jetzt: Wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, und zwar, weil er nicht an den Namen des einziggeborenen Sohnes Gottes glaubt. Johannes versteht das Gericht nicht als Strafe für den Unglauben. Ein Strafgericht ist nicht nötig: Wer nicht an den Namen des einziggeborenen Sohnes Gottes glaubt, verschließt sich der Wirklichkeit der rettenden Gegenwart Gottes in Jesus Christus und verharrt in der Trennung von Gott und schneidet sich damit von der Gabe des wahren, ewigen Lebens ab. Ein anderes Gericht gibt es nicht und braucht es nicht zu geben. Die Verse 19–21 erläutern das Wesen dieses Gerichts aus einer anderen Perspektive. Zunächst wird mit einem Bildwort noch einmal erklärt, inwiefern sich das Gericht schon im Unglauben der Menschen vollzieht. In Jesus Christus ist das Licht in die Welt gekommen. Also nicht irgendein Licht, das die menschliche Existenz ein wenig erhellt, sondern das Licht, von dem schon in 1,4f berichtet worden war: Es ist das Licht der Zuwendung Gottes zu seiner Schöpfung, in dem alles Leben seinen Ursprung und Bestand hat. Es ist das Licht, in dem Gottes Gegenwart und Liebe in das Leben der Menschen hineinleuchtet und so das Dunkel erhellt, das sie gefangen hält. In der Sendung Jesu ist dieses Licht bleibend in die Welt gekommen. Aber was schon in 1,5 grundsätzlich gesagt wurde, dass sich nämlich die Dunkelheit dem Licht verschließt, das zeigt sich auch angesichts der Sendung Jesu: Die Menschen haben das Dunkel mehr geliebt als das Licht oder, sinngemäß übersetzt: Sie liebten das Dunkel und nicht das Licht. Sie bleiben lieber im Dunkel ihrer Gottesferne und Gottesfinsternis, als dass sie sich in das Licht der Liebe Gottes stellen lassen. Dieses Verhalten hat seinen Grund. Die Menschen haben etwas zu verbergen: ihre Werke sind böse. Dabei sind Werke bei Johannes nicht nur die einzelnen guten oder bösen Taten der Menschen. In ihren Werken spiegelt sich das Wesen der Menschen, sie sind das, was bei Jesus und Paulus Früchte heißt (Mt 7,16–20; Gal 5,22). Gerade deshalb scheuen Menschen das Licht, deren Verhalten zu entsprechenden Rückschlüssen Anlass gibt (20): Denn jeder, der das Schlechte tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden.

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Diese Reaktion ist ganz allgemein menschlich, und Johannes spricht zunächst auch sehr allgemein davon, dass die Menschen das Dunkel mehr als das Licht geliebt haben. Von Natur aus gibt es da keine Ausnahmen. Und doch geschieht das Wunder, dass es Menschen gibt, die sich anders verhalten (vgl. dieselbe paradoxe Ausdrucksweise in 1,11f; 3,32f): Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht (21). Auffällig ist, dass nicht gesagt wird: Wer gute Werke vorzuweisen hat, sondern: wer die Wahrheit tut. Diese Wendung knüpft an Aussagen im Alten Testament an und bezeichnet ein dem Willen Gottes entsprechendes Handeln (Gen 32,11; 47,29; Tob 4,6; 13,6 EÜ). Im Johannesevangelium aber gewinnt der Ausdruck eine besondere Tiefe (vgl. auch 1Joh 1,6): Die Wahrheit tun Menschen, die »aus der Wahrheit sind«, das heißt, deren Leben ganz in Gott gegründet und deren Existenz und Handeln von Gottes Gegenwart bestimmt ist. Die Wahrheit tun umfasst also beides: glauben und handeln. Wessen Leben so offen ist für Gott und sein Wirken, muss das Licht nicht scheuen, sondern kommt gerne zum Licht, damit seine Werke offenbar werden. Aber die Werke, die dann ans Licht kommen, sind keine Leistungen, die stolz zur Schau gestellt werden. Dass Menschen ihre Werke so zuversichtlich ins Licht stellen können, hat einen anderen Grund: Ihre Werke sind in Gott gewirkt bzw. wie auch übersetzt werden kann: durch Gott gewirkt (vgl. Jes 26,12; Eph 2,10). Was in ihrem Leben an Gutem geschieht, das erwächst aus der Gemeinschaft mit Gott und seiner Liebe und ist allein ihm zu verdanken. Dass hier von Werken die Rede ist, bedeutet also keinen Widerspruch zu dem allein durch den Glauben, von dem V. 16 spricht. Denn einerseits bedeutet Glaube bei Johannes nicht nur Zustimmung zu bestimmten Bekenntnisaussagen, sondern Öffnung des ganzen Menschen für Gott und sein Wirken. Und andererseits sind die Werke von denen hier die Rede ist, keine »guten Werke«, keine menschlichen Taten, die zusätzlich zum Glauben als Eigenleistung vorgewiesen werden müssten. Es sind Werke, die Gott in den Glaubenden wirkt und sie in ihm tun. Rettung schenkt allein Gott und sein Handeln in Christus. Ein großer Text mit einer überwältigenden Fülle an Motiven und Impulsen! Faszinierend die Gestalt des Nikodemus: Er kommt mit seinen Fragen in der Nacht, kann sie jedoch gar nicht erst stellen. Aber seine Missverständnisse liefern die Stichworte für die Antworten Jesu. Dass er dann aus dem Blickfeld verschwindet, ist keine Nachlässigkeit des Erzählers. Er will seinen Lesern und Leserinnen deutlich machen: Es geht nicht um Nikodemus, es geht um euch! Nikodemus

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aber geht nicht verloren, wie manche meinen. Noch zweimal wird er auftauchen und sich für Jesus einsetzen (7,50; 19,39). Drei Schwerpunkte hat dieser Text: 1. So sehr hat Gott die Welt geliebt. Das ist das inhaltliche Zentrum des Abschnitts. Von ihm her muss er verstanden werden. Obwohl vor allem von den Folgen für die Einzelnen gesprochen wird, bleibt die Welt der Horizont des Handelns Gottes. In einer dem Tod verfallenen Welt ist Jesu »Erhöhung« am Kreuz Sühne- und Lebenszeichen zugleich. Wie bei dem Vor-Bild der ehernen Schlange zeigt Jesu Tod am Kreuz beides: die Konsequenz menschlicher Auflehnung gegen Gott und den Sieg der Liebe Gottes über den Hass der Menschen. So wird neues Leben mit Gott möglich. Jesus als Menschensohn und als Gottessohn stellt die Verbindung zwischen Gott und Mensch wieder her. 2. Die neue Existenz als Bedingung und als Geschenk. Nur wessen Leben neu geschaffen wird, kann in die Gemeinschaft mit Gott treten. Das wird zunächst als Bedingung formuliert: Wenn jemand nicht von neuem / von oben geboren wird (V. 3). Aber die Neuformulierung der Bedingung in V. 5: durch Wasser und Geist geboren wird zeigt: Gott macht neues Leben möglich. Wer sich im Wasser der Taufe in Jesu Geschick hineinnehmen lässt und wer vom Geist der Liebe erfüllt wird, dessen Leben wird neu. Eine neue Identität zu erhalten ist der Traum vieler, die mit ihrem Leben nicht zufrieden sind. Das aber gelingt nicht. In Max Frischs Roman »Stiller« sagt der Protagonist, der das vergeblich versucht hat: »Ich kann nicht noch einmal auf die Welt kommen … ich will’s auch nicht« (318). Gefordert und erhofft hat er, dass Gott ihn »zu einer anderen, nämlich zu einer reicheren, tieferen, wertvolleren, bedeutenderen Persönlichkeit machen« und seine alte Existenz widerrufen solle (244). Aber das ist nicht die Art von neuer Identität, die Gott schenkt. Sie besteht nicht in einem neuen Pass, nicht in der Neuprogrammierung unseres genetischen Erbes oder unserer frühkindlichen Erfahrung. Sie erwächst aus der neuen Beziehung zu Gott. Paradox ausgedrückt: Zu wissen, dass mich Gott annimmt, wie ich bin, und dass er aus diesem verfehlten Leben etwas macht zum Lob seiner Gnade, das begründet meine neue Identität. Das ist Wiedergeburt aus Wasser, dem Symbol bedingungsloser Annahme, und Geist, der Kraft, die auch aus dem zerrüttetsten Material Neues schafft. 3. Glaube als Entscheidung über Leben und Tod. Ein letzter Widerspruch bleibt. Der Sohn kommt nicht, um zu richten, und doch bedeutet sein Kommen Gericht! Wir aber möchten hoffen, dass die Liebe Gottes so stark ist, dass sie jeden Widerstand überwindet. Doch zu den Grundaussagen der Bibel über Gottes Verhalten den Menschen gegenüber gehört, dass er auch ihr Nein ernst nimmt. Gottes

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Liebe mag überwältigen, aber sie vergewaltigt nicht. Man kann versuchen, das Paradox, das hier beschrieben wird, durch ein Bild zu erklären: Jesus »ist so wenig gekommen, um zu richten, als die Sonne, um Schatten zu werfen.« Aber dem Schatten gleich ist auch das Gericht die unausweichliche Folge des Verhaltens der Welt (Holtzmann, 90). Und doch nährt der Text auch die Hoffnung, dass alles Gericht und alle Scheidung, die dabei erfolgt, doch nur vorläufig sein kann, weil sie »in der Klammer steht, daß Gott die Welt in der Sendung und Hingabe des Sohnes geliebt hat, und unter der Verheißung, daß Gott die Welt retten will« (Wengst, Gemeinde 237). 3,22–36 Das Zeugnis des Täufers und die Sendung des Sohnes 22

Danach gingen Jesus und seine Jünger in das judäische Land, und dort hielt er sich mit ihnen auf und taufte. 23Aber auch Johannes taufte (weiterhin), und zwar in Ainon, in der Nähe von Salim, weil es dort viele Wasser(läufe) gab, und (die Menschen) kamen (zu ihm) und ließen sich taufen, 24denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden. 25 Es entstand aber ein Streit zwischen den Jüngern des Johannes und einem Juden über (Fragen der) Reinigung. 26Und sie kamen zu Johannes und sagten zu ihm: Rabbi, (der Mann,) der bei dir jenseits des Jordans war und für den du Zeugnis abgelegt hast, sieh, der tauft (jetzt auch), und alle kommen zu ihm. 27Johannes antwortete und sprach: Kein Mensch kann sich irgendetwas nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist. 28Ihr seid ja selbst Zeugen für mich, dass ich sagte: Ich bin nicht der Messias, sondern ich bin vor jenem her gesandt worden. 29Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams, der dasteht und ihn hört, freut sich voll Freude über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude ist erfüllt worden. 30Jener muss wachsen, ich aber abnehmen. 31 Der von oben kommt, ist über allen. Der von der Erde ist, ist von der Erde und spricht von der Erde her. Wer vom Himmel kommt, ist über allen. 32Was er gesehen und gehört hat, das bezeugt er, und (doch) nimmt niemand sein Zeugnis an. 33Wer sein Zeugnis annimmt, hat (damit) besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist. 34Der, den Gott gesandt hat, spricht die Worte Gottes, denn er gibt den Geist, ohne abzumessen. 35Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gegeben. 36Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht schauen, sondern Gottes Zorn(gericht) bleibt auf ihm.

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Neben das Gespräch Jesu mit dem unentschlossenen »Lehrer in Israel« tritt nun noch einmal das Zeugnis Johannes des Täufers. Der Text gliedert sich in drei Teile: Die V. 22–24 berichten von der gleichzeitigen Tauftätigkeit Jesu und des Täufers und die V. 25–30 von einem Gespräch des Täufers mit seinen Jüngern über sein Verhältnis zu Jesus. Die V. 31–36 sind sein Schlusswort über die Bedeutung der Sendung Jesu. Dieser Schlussteil ist aber nicht mehr als persönliches Zeugnis des Täufers formuliert, sondern spricht ganz grundsätzlich von dem, was im Wirken des Sohnes geschieht, ähnlich wie die V. 14–21 in Fortführung der Aussagen Jesu. Das Gespräch Jesu mit Nikodemus hat in Jerusalem stattgefunden (vgl. 2,23). Nun verlässt Jesus die Stadt (22) und begibt sich in das judäische Land, vermutlich an das zu Judäa gehörige westliche Ufer des Jordans, vielleicht in die Gegend von Jericho. Dort blieb er eine ganze Zeit und – so die überraschende Information – taufte die Menschen, die zu ihm kamen. Überraschend ist die Mitteilung deshalb, weil die anderen Evangelien nichts von einer Tauftätigkeit Jesu berichten. Ja, auch im Johannesevangelium wird diese Angabe in 4,2 korrigiert werden: nicht Jesus pflegte zu taufen, sondern seine Jünger. Hat Jesus getauft? Dagegen scheint nicht nur die Tatsache zu sprechen, dass die anderen Evangelien nichts davon berichten, sondern auch, dass die Jünger bei ihrer ersten Aussendung nicht beauftragt werden zu taufen (vgl. Mt 10,7f). Auch im Blick auf das Selbstverständnis Jesu scheint es unwahrscheinlich zu sein, dass Jesus die Verkündigung und Praxis des Täufers übernommen hat. Die Evangelien zitieren übereinstimmend ein Wort des Täufers, dass der, der nach ihm kommt, mit heiligem Geist (und Feuer) taufen werde (Mk 1,8; Mt 3,11; Lk 3,16; Joh 1,33). Kann da Jesus die Praxis der Wassertaufe weitergeführt haben? Aber genau das könnte ein Argument für die Historizität der Angabe bei Johannes sein. Die anderen Evangelien trennen den Beginn des Wirkens Jesu kategorisch von der Wirksamkeit des Täufers (vgl. Mk 1,14f und vor allem Lk 3,20f). Vielleicht berichten sie eher aus theologischen als aus historischen Gründen nichts von einer Tauftätigkeit Jesu. Unmöglich ist es also nicht, dass Jesus noch eine Zeitlang taufte – mit welcher theologischen Begründung auch immer. Aber die Tauftätigkeit dürfte dann in seinem Wirken sehr schnell zurückgetreten sein und spielte in seiner Verkündigung in Galiläa keine Rolle mehr.

Der Evangelist berichtet auch nur ganz beiläufig von der Tauftätigkeit Jesu, ohne ihr theologisches Gewicht beizumessen. Wichtig ist ihm diese Notiz, weil damit eine Konkurrenzsituation zwischen Jesus und dem Täufer dargestellt wird, die der Täufer durch sein Zeugnis sogleich verneinen wird. Dass sich darin auch eine Kon-

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kurrenz zwischen späteren Täufergemeinden und christlichen Gemeinden widerspiegelt, kann man nur vermuten. Jedenfalls wird ausdrücklich festgestellt, dass auch der Täufer seine Tauftätigkeit fortsetzte und die Menschen weiter zu ihm kamen und sich taufen ließen (23), allerdings nicht mehr dort, wo er zunächst gewirkt hatte und Jesus begegnet war (vgl. 1,28), und auch nicht dort, wo Jesus sich aufhielt, sondern in Ainon, in der Nähe von Salim. Die Lage dieses Ortes ist nicht sicher festzustellen. Ainon oder Änon bei Salim ist entweder ein quellenreiches Gebiet im Jordantal südlich von Beth Shean / Skythopolis an der Nordgrenze Samarias (so die alte Pilgertradition) oder das heutige Dorf Ainun bei Salem ca. 5 km östlich von Sichem/Nablus in Samaria, wo es ebenfalls Quellen gibt.

Die Information, dass Johannes und Jesus noch einige Zeit nebeneinander wirkten, überrascht und muss deshalb begründet werden: denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden (24). Der Evangelist setzt also voraus, dass seine Leser und Leserinnen wissen, wodurch die Tätigkeit des Täufers ein Ende fand, auch wenn er selbst nicht darüber berichtet. Aber anders als in den anderen Evangelien beginnt bei ihm Jesus nicht erst nach der Gefangennahme des Täufers öffentlich zu wirken. Das ist historisch denkbar, vielleicht sogar wahrscheinlich. Der Evangelist möchte aber vor allem eines zeigen: Trotz der Gleichzeitigkeit ihres Wirkens sah der Täufer in Jesus keinen Konkurrenten, sondern den, in dem seine Mission ihr Ziel finden würde. Das sollte wohl auch ein Signal sein für das Verhältnis zwischen späteren Anhängern des Täufers und den Gemeinden, aus denen das Johannesevangelium stammt. Diese Frage wird aber erst in V. 26 aufgegriffen. Zunächst berichtet der Evangelist von einem Streit zwischen den Jüngern des Johannes und einem Juden über (Fragen der) Reinigung (25). Merkwürdig ist, dass von einem einzelnen Juden erzählt wird – viele Handschriften haben deshalb den Plural. Offen ist auch, worum es bei dieser Auseinandersetzung ging und warum sie zu einer Anfrage an den Täufer zur Tauftätigkeit Jesu führt. War ursprünglich von einem Streit mit Jesus oder seinen Jüngern die Rede, wie manche Ausleger vermuten? Aber warum sollte man dies verändert haben? Oder geht es um einen Judäer, also einen Mann aus Judäa, der von Jesus getauft worden war? Auch das wird nicht gesagt. Offensichtlich soll an einem Einzelfall Grundsätzliches aufgezeigt werden: In welchem Verhältnis stehen die Taufe des Johannes und die Taufe Jesu zu den vielfältigen jüdischen Reinigungsriten? Doch im Folgenden geht es gar nicht um unterschiedliche Weisen des Taufens oder Untertauchens, sondern allein um die Person

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Jesu. Anlass ist der Hinweis, mit dem die Jünger des Johannes ihren Lehrer konfrontieren (26): Rabbi, (der Mann,) der bei dir jenseits des Jordans war und für den du Zeugnis abgelegt hast, sieh, der tauft (jetzt auch), und alle kommen zu ihm. In dieser Feststellung steckt eine Frage, vielleicht sogar ein Vorwurf: Wie kann das sein, und was bedeutet das für dich und für uns? Johannes antwortet zunächst mit einer allgemeinen Wahrheit (27): Kein Mensch kann sich irgendetwas nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel, und das heißt: von Gott gegeben ist. Das könnte als platte Rechtfertigung jeden Erfolgs verstanden werden oder als tiefsinniger Hinweis darauf, dass letztlich nichts ohne den Willen Gottes abläuft. Im Zusammenhang geht es um die Begründung der Vollmacht Jesu. Er ist kein Usurpator. Dass so viele (alle) zu ihm kommen, entspricht dem Willen Gottes. Umgekehrt ist Johannes bereit, sich mit der Rolle zu begnügen, die ihm Gott zugewiesen hat. Davon spricht V. 28: Ihr seid ja selbst Zeugen für mich, dass ich sagte: Ich bin nicht der Messias. Damit wird auf die Aussage des Täufers in 1,20 verwiesen. Er hat eine andere Rolle: Ich bin vor jenem her gesandt worden. Seine Aufgabe ist, dem Kommenden den Weg zu bereiten und ihn für die Menschen in Israel als Sohn Gottes zu identifizieren (vgl. 1,26f.29–34). Dass er das von Anfang an gesagt hat, sollen seine Jünger weiter bezeugen – auch die, die nicht wie Andreas und der andere Jünger Jesus gefolgt sind. Der Täufer erläutert den Unterschied zwischen seiner Rolle und der Rolle Jesu mit einem Bildwort (29): Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams, der dasteht und ihn hört, freut sich voll Freude über die Stimme des Bräutigams. Damit wird das Geschehen bei einer Hochzeit angesprochen. Es bietet schon im Alten Testament Bildmaterial für das Verhältnis von Gott und Israel. So sagt in Jes 62,5 der Prophet zum Volk Israel: »Wie sich ein Bräutigam freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen« (vgl. Jer 2,2; Hos 2,21). Es ist der Bräutigam, der die Braut hat, das heißt: Die aufblühende messianische Gemeinde gehört zum Messias, dem Christus, in dem Gott für sein Volk gegenwärtig wird (vgl. zur neutestamentlichen Verwendung des Bildes Mk 2,19; 2Kor 11,2; Eph 5,25ff; Offb 21,2; 22,17). Aber daneben steht der Freund des Bräutigams, der Brautführer, der dem Bräutigam die Braut zuführt und die Hochzeitsfeier ausrichtet. Er hat eine wichtige, aber ganz und gar dienende Rolle. Mitzuerleben, wie Bräutigam und Braut zueinander finden, einfach danebenzustehen und die Stimme des Bräutigams zu hören, der seine Braut begrüßt, ist seine größte Freude (zur »Stimme des

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Bräutigams und der Braut« als Bild für Jubel und Freude in der Endzeit vgl. Jer 33,11). Mit dieser Rolle identifiziert sich der Täufer: Diese meine Freude ist erfüllt worden. Zu erfahren, dass die Menschen aus Israel zu Jesus kommen, das bedeutet für ihn, dass sein Auftrag erfüllt ist, und darin liegt für ihn die größte Freude. Denn: Jener muss wachsen, ich aber abnehmen (30). Auch wenn sich das Wirken des Täufers und die Wirksamkeit Jesu überschneiden: Das Licht dessen, der kommt, muss zunehmen, das seines Vorläufers schwinden. Das Begriffspaar wachsen – abnehmen stammt aus der Sprache der Astronomie und beschreibt Aufgang und Untergang eines Gestirns. Der Wechsel zwischen dem Wirken des Täufers und dem Auftreten Jesu markiert eine Zeitenwende. Dass sich ihr Wirken zeitlich überschneidet, macht diese Tatsache umso deutlicher. Doch das bleibt alles mehr oder weniger Andeutung. Sehr viel eindeutiger sprechen die V. 31–36 von dem, der kommen wird, bzw. – wie es mit dem für das 4. Evangelium typischen Begriff heißt – von dem Sohn. Formal scheint weiterhin der Täufer zu sprechen, aber seine Person tritt ganz hinter dem zurück, was er über den, der von Gott kommt, zu sagen hat – ähnlich wie in 3,14–21 Jesus selbst. Dabei nehmen die V. 31–36 viele Motive auf, die sich schon in 3,1–21 finden. Hier wird noch einmal die Summe dessen gezogen, was im ganzen Kapitel gesagt wurde. Wie oft bei Johannes wird zunächst von Jesus eher verschlüsselt gesprochen (31): Er ist der Kommende (so wörtlich), genauer gesagt: der, der von oben kommt bzw. – wie gleich ergänzt werden wird – der vom Himmel kommt. Damit wird in räumlichen Vorstellungen gesagt: Er kommt von Gott. Deshalb gilt: Er ist über allen, und das heißt in unserem Zusammenhang: In seiner Bedeutung für die Menschen übertrifft er alle, die auch im Namen Gottes sprechen mögen. Das wird an einem Gegenbeispiel erläutert: Der von der Erde ist, ist von der Erde. Die Menschen bleiben ihrem irdischen Ursprung verhaftet und daher in ihrer Erkenntnis auf ihre irdische Perspektive begrenzt. Dem entspricht auch ihre Botschaft: Wer von der Erde ist und als irdischer Zeuge wirkt, spricht von der Erde her. Das ist nicht abwertend gemeint. Erde ist kein widergöttlicher Bereich, sondern Lebensraum der Geschöpfe Gottes. Aber zu ihr zu gehören markiert auch die Begrenzung menschlichen Wissens und Redens. Das ist anders bei dem, der vom Himmel, also von Gott kommt (32): Was er gesehen und gehört hat, das bezeugt er. Diese Aussage greift ein Motiv auf, das schon in V. 11 anklang und immer wieder im Johannesevangelium erscheint (vgl. 1,18; 6,46): Jesu

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Verkündigung schöpft nicht aus den Quellen menschlicher Gotteserkenntnis. Dabei erzählt Jesus nie, was er im Himmel gesehen und gehört hat. Er bezeugt, das heißt, er gibt wahrheitsgemäß weiter, was von Gott, seinem Wesen und seinem rettenden Handeln zu sagen ist. Er offenbart, wie Gott zu seiner Schöpfung und den Menschen steht. Und dennoch muss festgestellt werden: niemand nimmt sein Zeugnis an. Das scheint der Aussage in V. 26: alle kommen zu ihm zu widersprechen, und auch der nächste Vers setzt einen anderen Akzent. Dennoch ist diese Feststellung wichtig und wird im 4. Evangelium häufig wiederholt (vgl. 1,11; 3,11). Weil das, was Jesus über Gott offenbart, irdisches Verstehen übersteigt und mit menschlichen Mitteln nicht zu beweisen ist, scheint es grundsätzlich unannehmbar zu sein. Und doch ereignet sich immer wieder das Wunder, dass Menschen sich den Worten Jesu öffnen, sein Zeugnis annehmen und zum Glauben kommen (33). Das paradoxe Nebeneinander der Aussagen: niemand nimmt sein Zeugnis an und: wer sein Zeugnis annimmt (ähnlich 1,11/12; 3,19/21) soll klarstellen: Dass Menschen die Botschaft Jesu annehmen geschieht nicht aus ihrer eigenen, besseren Einsicht, sondern ist ein unverdientes Geschenk. Dennoch ist wichtig, dass sie bewusst den Schritt zum Glauben wagen. Denn wer die Botschaft des Offenbarer annimmt, hat (damit) besiegelt, dass Gott wahrhaftig ist. Wie auf Dokumenten das Siegel bestätigt, dass die Urkunde echt ist, so bestätigt die Tatsache, dass die Botschaft trotz ihrer Unannehmbarkeit Glauben findet, die Treue und Wahrhaftigkeit Gottes: Gott schlägt durch Jesu Wort die Brücke zu den Menschen und erweist sich dadurch als verlässlich und sein Wort als wahr. In den V. 34f wird dafür eine dreifache Begründung gegeben: 1. Zuerst wrden Person und Wirken Jesu noch einmal mit einem Relativsatz umschrieben: Er ist der, den Gott gesandt hat. Dass Jesus vom Vater gesandt ist, ist eine der Kernaussagen des Johannesevangeliums. Das gibt ihm seine ganze Autorität. Denn nach altorientalisch-biblischem Verständnis vertritt ein Bote oder ein Gesandter in allen Belangen den, der ihn gesandt hat. Darum spricht Jesus, den Gott gesandt hat, wirklich und wirksam die Worte Gottes. Er sagt das, was Gott den Menschen sagen will. 2. Dass dieses Wort Glauben findet, wird mit einer überraschenden Aussage begründet: denn er gibt den Geist, ohne abzumessen. Plötzlich ist vom Geist die Rede. Unklar ist aber, wer wem den Geist gibt. Meist wird angenommen, dass Gott das Subjekt des Satzes ist. Er gibt dem Sohn den Geist in unbegrenzter Fülle, und daher hören Menschen gegen allen Augenschein in seinen

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Worten das Reden Gottes. Da aber im vorhergehenden Satz Jesus das Subjekt war, ist möglich, dass er es auch hier ist. Er schenkt denen, die auf sein Wort hören, den Geist maßlos, also über alle menschlichen Begrenzungen hinaus. Er ist der von Johannes angekündigte Geisttäufer (1,33). Das Wirken des Geistes öffnet die verschlossenen Augen und Ohren der Menschen, sodass sie in Jesus den von Gott Gesandten sehen und in seinem Wort das Reden Gottes hören. 3. Doch dann wird endlich im Klartext gesagt, von wem die Rede ist, und zwar mit der Bezeichnung für Jesus, die für Johannes am typischsten ist: Es ist der Sohn. Nun wird die Verlässlichkeit seines Zeugnisses nicht mehr mit juristischen Argumenten aus dem Botenrecht begründet. Jetzt heißt es: Der Vater liebt den Sohn – und zwar schon immer und bleibend, wie das Präsens des Verbs zeigt –, und darum hat er alles in seine Hand gegeben. Die Einheit von Vater und Sohn, d.h. von Gott und Jesus Christus, gründet in der Liebe des Vaters zum Sohn. Das ist eine zentrale Aussage des Evangeliums (vgl. 5,20; 10,17; 17,26). Das Verhältnis von Vater und Sohn wird durch völliges Vertrauen und letzte Übereinstimmung bestimmt. Das ist die Grundlage für die Übertragung der unbeschränkten Vollmacht, die bleibend gültig ist. In der Liebe des Vaters zum Sohn offenbart sich auch seine Liebe zur Welt (17,23f). Sie aber findet ihr Ziel, wo Menschen sich im Glauben an den Sohn dieser Liebe öffnen. V. 36 nennt die Konsequenz der Begegnung mit Jesus als Sohn und Offenbarer: Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben. Damit wird noch einmal die Frage nach der Teilhabe am Reich Gottes und dem Leben mit Gott aufgenommen, die das ganze Kap. 3 bestimmt. Die Aussage von 3,15–18 wird knapp zusammengefasst: Wer sich der Gegenwart Gottes und seiner Liebe in Jesu Botschaft öffnet und sich ihm anvertraut, für den öffnet sich Gottes lebenspendende Wirklichkeit. Gott nimmt ihn oder sie hinein in seine Gemeinschaft und die Fülle des Lebens, die er schenkt. Diese Beziehung umgreift schon jetzt das Leben der Glaubenden und kann auch vom Tod nicht zerstört werden. Diese positive Folge der Begegnung mit Jesus und seinem Wort ist das Ziel seiner Sendung und steht daher am Anfang. Aber es gibt eine negative Kehrseite: Wer dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht schauen. Die Wortwahl lässt aufhorchen. Unglaube ist Ungehorsam, das ist das Signal, das sie setzt. Jesus nicht zu vertrauen, wenn sein Wort einen Menschen trifft, ist nicht Schicksal oder Bestimmung, sondern willentliche Verweigerung. Es bedeutet auch, sich dem Leben zu verschließen, das Jesus schenkt. Deshalb gilt: Wer sich so verhält, wird das Leben, also das wahre,

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bleibende, von Gottes Liebe erfüllte Leben, nicht schauen, und das heißt: auch in Zukunft Gott nicht in seiner Leben schaffenden Wirklichkeit begegnen. Im Gegenteil: Gottes Zorn(gericht) bleibt auf ihm. Dies ist die einzige Stelle, an der im Johannesevangelium von Gottes Zorn gesprochen wird. Vielleicht ist es eine Anspielung auf die Verkündigung des Täufers, der das Volk vor dem »kommenden Zorn«, d.h. dem letzten Gericht Gottes, warnte (Mt 3,7; Lk 3,7). Aber Gottes Zorn ist weder eine befremdliche Gefühlsaufwallung Gottes noch einfach das Jüngste Gericht. Ähnlich wie bei Paulus in Röm 1,18 meint Gottes Zorn das grundsätzliche Nein Gottes zu aller Ungerechtigkeit und Missachtung seines gnädigen Willens, kurz gesagt, zur Sünde. Dieses Nein ist keine willkürlich ausgesprochene Strafe. Es stellt fest, dass sich die Menschen durch ihre Ablehnung Gottes von ihm getrennt haben, und stellt klar, dass sie damit auch die Verbindung zur Quelle ihres Lebens abschneiden. Wer Gottes Ja zu den Menschen in Jesus Christus nicht hört und ihm nicht mit dem Ja des Glaubens antwortet, über dem bleibt Gottes Nein bestehen. Ein Urteil in einem zukünftigen Gericht ist nicht mehr nötig. Der Unglaube vollzieht selbst das Urteil über sich. Mit dieser Warnung schließt der Abschnitt, und es mag kein Zufall sein, dass es die letzten Worte Johannes des Täufers sind, die so enden. Dieser Abschnitt ist das Vermächtnis Johannes des Täufers, wie es sich aus der Sicht des 4. Evangeliums darstellt. Zuerst wird die gemeinsame Basis betont: Johannes und Jesus taufen, eine Angabe, die uns historisch in gewisse Schwierigkeiten bringt. Aber dann tritt der Täufer ganz zurück, obwohl seine Wirksamkeit nicht endet. Das Bild des Freundes des Bräutigams beschreibt sehr schön, in welcher Rolle der Evangelist den Täufer sieht. Es ist eine völlig selbstlose Aufgabe, die er wahrnimmt, denn er hat nur eines zu tun: Bräutigam und Braut zusammenzuführen, und seine größte Freude ist, wenn ihm das gelingt. Für die christliche Gemeinde hatte der Täufer mit seiner Tätigkeit vor allem die Aufgabe, das Volk Israel Jesus, dem verheißenen Messias, zuzuführen. Wie gewiss sich der historische Täufer dessen war, ist eine offene Frage (vgl. Mt 11,2–5). Wirkungsgeschichtlich hat er diese Rolle eingenommen. Der Täufer tritt so sehr hinter seinem Zeugnis zurück, dass im letzten Abschnitt (V. 31–36) offen bleibt, ob das noch seine Worte sein sollen. Wie in 3,18–21 wird die Vollmacht dessen, der von Gott kommt, mit der Tragik konfrontiert, dass ihn so viele ablehnen und damit selbst das Urteil über ihr Leben sprechen. Indem Unglaube als Unge-

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horsam definiert wird, wird die Eigenverantwortung der Menschen für ihre Entscheidung hervorgehoben. Doch ist das nur die Schattenseite der positiven Zusage: Wer an den Sohn glaubt, hat das ewige Leben. Niemand kann aufgrund eigener Willensanstrengung glauben. Glaube ist ein Geschenk. Aber man kann einem Geschenk die Annahme verweigern. Das ist die eigene Verantwortung. 4,1–42 Jesu Wirken in Samaria – eine unerwartete Mission Der Abschnitt 4,1–42 hat eine einheitliche Thematik: Jesu Wirken in Samaria. Dabei ist 4,1–3 ein typisch johanneischer Brückentext. Er dient einerseits als abschließende Bemerkung für den Bericht über Jesu Tauftätigkeit und wird deshalb von manchen Auslegern noch zu 3,22–36 gestellt. Andererseits bereitet die Information über Jesu Reisepläne die Erzählung von seinem Wirken in Samaria vor und gehört daher als Einleitung zu 4,4–42. Dieser Abschnitt bildet ein großes zusammenhängendes Ganzes und ist eine der wenigen johanneischen Darstellungen von Jesu Lehre und Verkündigung, die nicht mit einem offenen Schluss endet, sondern mit einer klaren und positiven Reaktion der Menschen (V. 42). Zwischen V. 26 und V. 27 liegt aber ein gewisser Einschnitt, sodass wir um der Übersichtlichkeit willen den Abschnitt 4,1–42 in zwei Teile teilen: 4,1–26:

Lebendiges Wasser – das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen 4,27–42: Reif zur Ernte – der Glaube der Samaritaner

4,1–26 Lebendiges Wasser – das Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen 4 1Als nun Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten: Jesus gewinnt und tauft mehr Jünger als Johannes – 2obwohl Jesus selbst nicht zu taufen pflegte, sondern seine Jünger –, 3verließ er Judäa und ging wieder weg nach Galiläa. 4 Er musste aber durch Samaria reisen. 5Er kommt also zu einem Ort in Samaria, der Sychar heißt, nahe dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hat; 6es war aber dort auch der Jakobsbrunnen. Da Jesus also müde von der Wanderung war, setzte er sich einfach an den Brunnen. Es war etwa die sechste Stunde. 7(Da) kommt eine Frau aus Samaria, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagt zu ihr: Gib mir zu trinken. 8Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Le-

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bensmittel zu kaufen. 9Da sagt die samaritanische Frau zu ihm: Wie kannst du, obwohl du Jude bist, von mir, die ich eine samaritanische Frau bin, zu trinken bitten? Juden verkehren nämlich nicht mit Samaritanern. 10Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du die Gabe Gottes kennen würdest und (wissen), wer der ist, der zu dir sagte: Gib mir zu trinken, würdest du ihn bitten, und er würde dir lebendiges Wasser geben. 11 Sagt die Frau zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist sehr tief, woher hast du lebendiges Wasser? 12Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben hat, und er hat daraus getrunken und seine Söhne und sein Vieh? 13 Jesus antwortete und sagte zu ihr: Jeder, der aus diesem Brunnen trinkt, wird wieder Durst bekommen, 14wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird keinen Durst mehr leiden in Ewigkeit, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle sprudelnden Wassers werden, (das) zum ewigen Leben (fließt). 15Die Frau sagt zu ihm: Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr bekomme und nicht mehr hierher kommen muss, um (Wasser) zu schöpfen. 16 Sagt er zu ihr: Geh, rufe deinen Mann und komm (wieder) hierher. 17 Die Frau antwortete und sagte zu ihm: Ich habe keinen Mann. Jesus sagt zu ihr: Du hast zu Recht gesagt: Ich habe keinen Mann. 18 Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Das hast du wahrheitsgemäß gesagt. 19Die Frau sagt zu ihm: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet. 20Unsere Väter haben auf diesem Berg angebetet. Und ihr sagt, dass in Jerusalem der Ort sei, wo man anbeten muss. 21Jesus sagt zu ihr: Glaube mir, Frau: Es kommt die Stunde, in der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. 22Ihr betet an, was ihr nicht kennt. Wir beten an, was wir kennen, denn das Heil kommt von den Juden. 23 Aber es kommt die Stunde und ist jetzt (da), in der die wahrhaften Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden. Denn auch der Vater sucht solche (Leute), die ihn (so) anbeten. 24 Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. 25Sagt die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der Gesalbter genannt wird. Wenn jener kommt, wird er uns alles verkünden. 26Jesus sagt zu ihr: Ich bin (es), der mit dir spricht. Durch wen Jesus erfuhr (1), was die Pharisäer bewegt, wird nicht gesagt. Vielleicht will der Evangelist auch sagen, dass der, der die Menschen durchschaut (vgl. 2,25), erkannte (so REB), was seine Gegner beschäftigt. Wieder erscheinen die Pharisäer als eine Art Geheimpolizei der jüdischen Obrigkeit. Was sie gehört haben,

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klingt zunächst wie eine harmlose Feststellung: Jesus gewinnt (wörtlich: macht) und tauft mehr Jünger als Johannes. Auffallend ist die Verbindung zwischen Taufe und dem Gewinnen von Anhängern (Jünger). Das ist für die christliche Taufe charakteristisch (vgl. Mt 28,19), nicht aber für die Taufe des Johannes, obwohl auch dieser eine kleine Schar von Schülern um sich gesammelt hat (vgl. 1, 35; 3,25). Dabei bricht aber noch einmal die Frage auf: Hat Jesus wirklich getauft (s. zu 3,22)? Hier wird sie durch eine Zwischenbemerkung aufgegriffen (2). In ihr wird festgestellt, dass Jesus selbst nicht zu taufen pflegte, sondern seine Jünger. Offensichtlich ist diese Bemerkung erst relativ spät eingefügt worden, vermutlich als das Buch mit der Anfügung von Kap. 21 abgeschlossen wurde. Wahrscheinlich sollte damit ein Ausgleich zu den anderen Evangelien geschaffen werden, in denen nichts von einer Tauftätigkeit Jesu berichtet wird – allerdings auch nichts davon, dass seine Jünger tauften. Warum die Bemerkung erst hier und nicht schon in 3,22 eingefügt wurde, ist nicht klar. Welchen Schluss die Pharisäer aus dieser Information zogen, wird nicht gesagt. Jesu Reaktion deutet an, dass sie gegen ihn vorgehen wollen. Daher verließ er Judäa und ging wieder zurück nach Galiläa (3). Damit wird sich ein erster Kreis des Wirkens Jesu schließen. Geschah sein erstes Zeichen in Kana in Galiläa (2,1–11), wird er nun wieder dorthin zurückkehren und erneut Menschen in Not helfen (vgl. 4,46–54). Für die Reise von Judäa nach Galiläa gab es verschiedene Routen. Die eine führte auf direktem Weg über das judäisch-samaritanische Bergland nach Norden. Da es aber wegen der Spannungen zwischen Juden und Samaritanern zu Feindseligkeiten kommen konnte (vgl. Lk 9,52f), wurde er oft gemieden. Man wählte dann den weiteren Weg durchs Jordantal bzw. das Ostjordanland (vgl. Mt 19,1; Mk 10,1) oder im Westen an der Küste entlang. Das ist der Hintergrund für die Bemerkung des Evangelisten, dass Jesus durch Samaria reisen musste (4). Allerdings bleibt offen, warum so betont gesagt wird, dass er diesen Weg wählen musste. Sollen Ortsunkundige informiert werden, dass man von Judäa nach Galiläa normalerweise durch Samaria reisen musste? Oder soll angedeutet werden, dass Jesus ausnahmsweise – vielleicht weil er in Eile war – gezwungen war, durch Samaria zu ziehen, obwohl das Juden meist vermieden? Oder steckt darin auch der Hinweis, dass er diesen Weg nach Gottes Willen nehmen musste, um seine Mission in Samaria zu erfüllen? Für Johannes ist jedenfalls wichtig, dass sich die folgende Begegnung nicht einfach zufällig ergeben hat.

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Um diese Situation und das folgende Gespräch richtig verstehen zu können, ist es wichtig, etwas über die Vorgeschichte der Beziehungen zwischen Juden und Samaritanern zu wissen. Ursprünglich war Samaria (hebräisch: Schomerøn) die Hauptstadt des Nordreichs Israel, die im Jahr 876 v.Chr. gegründet wurde (vgl. 1Kön 16,24). Nach der Eroberung Samarias durch die Assyrer im Jahr 722 v.Chr. und dem Ende des Nordreichs erhielt die neu errichtete assyrische Provinz den Namen Samaria. Teile der Bevölkerung wurden deportiert und Bewohner anderer Teile des Reichs angesiedelt (2Kön 17,24–41). Diese übernahmen zwar die Verehrung Jahwes als Gott des Landes, beteten aber auch weiter zu ihren angestammten Göttern. Nach dem Exil kam es anlässlich des Wiederaufbaus des Tempels bzw. der Stadtmauer von Jerusalem unter Nehemia zu heftigen Spannungen zwischen den herrschenden Kreisen in Samaria und Jerusalem (Esr 4; Neh 2,9f.19f; 3,33f; 6). Wegen Meinungsverschiedenheiten im Blick auf Mischehen verließ Ende des 4. Jahrhunderts v.Chr. ein Teil der Priesterschaft Jerusalem und gründete ein eigenes Heiligtum auf dem Garizim bei Sichem, das 129/128 v.Chr. und noch einmal 108/107 v.Chr. von dem jüdischen Herrscher Johannes Hyrkanus I. zerstört wurde. Die Samaritaner hielten aber an ihrer Überzeugung fest, dass der Gott Israels nur dort verehrt werden dürfe. Sie erkannten nur die Tora, also die fünf Bücher Mose, als Heilige Schrift an. Von jüdischer Seite wurden sie als Abtrünnige betrachtet (vgl. Sir 50,28: »die törichten Leute von Sichem«). Deshalb gab es vielfältige Spannungen zwischen beiden Gruppen (vgl. Lk 9,52f). Nach Mt 10,5 hat auch Jesus seinen Jüngern zunächst verboten, unter Samaritanern zu missionieren; andererseits lobt er im Gleichnis vom barmherzigen Samariter und der Geschichte von den zehn Aussätzigen (Lk 10,29–37; 17,11–19) das vorbildliche Verhalten von Samaritanern. Nach Apg 8,4–25 hat die christliche Botschaft in der Gegend um Sichem früh Aufnahme gefunden. Möglicherweise hat dies auch die positive Darstellung der Samaritaner in Joh 4 beeinflusst. Heute leben noch etwa 700 Samaritaner in Israel.

Das folgende Gespräch Jesu mit der Frau aus Samaria gliedert sich nach einer kurzen Einleitung (5f) in drei thematisch deutlich voneinander abgegrenzte Teile: 1. Jesu Bitte um Wasser und die Gabe »lebendigen Wassers« (7–15) 2. Die persönliche Situation der Frau (16–19) 3. Die Anbetung Gottes »im Geist und in der Wahrheit« (20–26).

Die Einleitung beschreibt kurz die Situation, in der das Gespräch Jesu mit der samaritanischen Frau stattfand (5f). Jesus kommt zu einem Ort in Samaria, der Sychar heißt. Dieser Ort, wohl das heutige Dorf Askar unweit von Sichem, wurde nach dessen Zerstörung zum Hauptort der samaritanischen Gemeinde. Der Erzähler ergänzt: Der Ort liegt nahe dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hat. Vom Kauf dieses Grundstücks berichtet Gen 33,18f, von der Übergabe an Josef Gen 48,22 und von der

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Bestattung seiner Gebeine dort Jos 24,32. Ein weiterer Hinweis leitet zur eigentlichen Erzählung über: Es gibt dort den Jakobsbrunnen, so genannt, weil ihn der Überlieferung nach Jakob hatte graben lassen (V. 12). Damit ist die Situation geklärt, die Erzählung kann beginnen: Jesus war müde von der Wanderung und setzte sich deshalb einfach an den Brunnen. Denn es war um die sechste Stunde, also um die Mittagszeit, der heißesten Zeit des Tages, eine Zeit, zu der eigentlich niemand Wasser holt. Dennoch findet sich eine Frau aus Samaria, also wohl aus dem nahe gelegenen Sychar, ein, um Wasser zu schöpfen (7). Jesus spricht sie an und bittet sie: Gib mir zu trinken. Warum Jesus ganz allein am Brunnen sitzt, erklärt der Hinweis: Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Lebensmittel zu kaufen (8). Die Szene erinnert an ein Erzählmuster, das im Alten Testament mehrfach begegnet. Elieser, der Knecht Abrahams, trifft Rebekka, die zukünftige Frau Isaaks, am Brunnen (Gen 24,15–20), ebenso Jakob seine künftige Frau Rahel (Gen 29,1–14) und Mose die sieben Töchter Jethros, unter ihnen seine Frau Zippora (Ex 2,16–22). Dahinter steht die Erfahrung, dass sich fremde Menschen an den Wasserstellen treffen und kennenlernen. Dass, wie manche Ausleger meinen, auch in unsere Geschichte eine verborgene Symbolik verwoben ist, die Jesus und die erste Gemeinde, die in Samaria entsteht, als Brautpaar zeichnet, das zueinander findet, ist aber unwahrscheinlich.

Allerdings wird zuerst festgestellt, dass es sich dabei eigentlich um eine unstatthafte Begegnung handelt (9). Die Frau erfüllt nicht Jesu Bitte, sondern fragt verwundert: Wie kannst du, obwohl du Jude bist, von mir, die ich eine samaritanische Frau bin, zu trinken erbitten? Und der Evangelist schiebt sogleich den erklärenden Hinweis nach: Juden verkehren nämlich nicht mit Samaritanern – eine Bemerkung, die verrät, dass die Leser und Leserinnen des Evangeliums nicht (mehr) mit der Situation in Judäa und Samaria zur Zeit Jesu vertraut waren. Jesus durchbricht mit seiner Bitte ein doppeltes Tabu: Anders als in alttestamentlicher Zeit redete damals kein frommer Jude eine fremde Frau an. Vor allem aber versuchten die Juden, den Verkehr mit Samaritanern auf ein Minimum zu beschränken. Jesu Antwort geht nicht auf diese Frage ein. Er hebt das Gespräch sofort auf eine andere Ebene. Indirekt beantwortet er damit aber doch ihre Frage. Denn sein Verhalten erklärt, wer er ist: Wenn du die Gabe Gottes kennen würdest und (wissen), wer der ist, der zu dir sagte: Gib mir zu trinken, würdest du ihn bitten, und er würde dir lebendiges Wasser geben (10). Für die Frau ist Jesus einfach ein jüdischer Mann. Das ist richtig. Aber Jesu Identität geht nicht

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darin auf. Er selbst ist die Gabe Gottes, der einziggeborene Sohn, in dem Gott sich selbst den Menschen gibt (3,16). Der durstige jüdische Wanderer, der um einen Becher Wasser bittet, ist Gottes Repräsentant unter den Menschen. Er schenkt wahres Leben oder – wie Jesus im Bild sagt – lebendiges Wasser. In dem Stichwort lebendiges Wasser steckt eine doppelte Bedeutung: Lebendiges Wasser ist zunächst fließendes Wasser, also Quellwasser im Unterschied zu stehendem Wasser aus Zisternen, das oft verunreinigt war. Aber fließendes Wasser ist im Alten Testament auch Bild für die »Ausgießung« des Geistes Gottes (Jes 44,3f; Joel 3,1f; vgl. Joh 7,38f). Wasser, das gegen den Lebensdurst angeboten wird, ist Gleichnis für Gottes Offenbarung in seinem Wort (Jes 55,1; Sir 24,29). Ja, Gott selbst ist die Quelle lebendigen Wassers, die sein Volk verlassen hat (Jer 2,13). Lebendiges Wasser ist also mehr als das, was im Märchen Wasser des Lebens heißt, und trägt doch die Verheißung in sich, wahres, ewiges Leben zu schenken.

Die samaritanische Frau kann das nur missverstehen und fragt erstaunt (11): Herr, du hast kein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist sehr tief, woher hast du lebendiges Wasser? (Der Brunnen, den man heute als Jakobsbrunnen zeigt, ist 35 m tief.) Maßte sich dieser Fremde etwa an, eine andere Quelle auftun zu können als Jakob, der einst diesen Brunnen graben ließ? (12) Sollte die Gabe, die dieser seinen Nachkommen geschenkt hat, nicht genügen, wo er doch selbst daraus getrunken hat und seine Söhne und sein Vieh? Es hat für alle gereicht. Kann Jesus mehr bieten als das? Dass die Frau nicht versteht, wovon Jesus redet, und auf der Ebene des Irdisch-Vorfindlichen diskutiert, gibt Jesus die Gelegenheit zu erklären, worum es ihm geht (13f): Jeder, der aus diesem Brunnen trinkt, wird wieder Durst bekommen. Das ist die allgemeinmenschliche Erfahrung: Man mag trinken, so viel man will, man wird wieder durstig werden. Dem stellt Jesus gegenüber, was er gibt: Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird keinen Durst mehr leiden in Ewigkeit. Es ist deutlich, dass er damit nicht das Durstgefühl meint. Jesus geht es um den Durst nach Leben, der die Menschen quält und durch nichts wirklich zu stillen ist. Doch wer von dem Wasser trinkt, das Jesus geben wird, dessen Lebensdurst ist für immer gestillt. Was aber ist das für ein Wasser? Jesus sagt das nicht eindeutig. Aber der zweite Teil seiner Antwort deutet es an. Dabei verändert sich das Bild: das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle sprudelnden Wassers werden, (das) zum ewigen Leben (fließt). Jesus spricht nicht mehr vom Trinken des Wassers, sondern davon, dass das Wasser, das er schenkt, in denen, die es aufnehmen, zur Quelle wird, aus der Wasser sprudelt (vgl. 7,38f).

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Das erinnert an die Aussage des Paulus in Röm 5,5: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist«. Wer sich von Jesus beschenken lässt, ist nicht mehr auf einzelne, flüchtige Glücksmomente und Zeichen von Anerkennung und Zuwendung angewiesen, um den Lebensdurst zu stillen. Gottes Liebe erfüllt ein für alle Mal das Leben und wird zur nie versiegenden Quelle, die den Durst nach Leben stillt. Das Wasser, das Jesus gibt, ist also der Heilige Geist, den er denen schenken wird, die sich seinem Wort öffnen. Er, der selbst die entscheidende Gabe der Liebe Gottes ist (3,16), gibt sich bleibend in der Gabe des Geistes (14,26; 16,7–15). Wie sprudelndes Wasser ist Gottes Geist. Das entsprechende Wort steht in der griechischen Übersetzung von Ri 14,6.19; 15,14; 1Sam 10,10 für das überraschende Herabfallen des Geistes Gottes auf Simson und Saul. In Jesu Wort beschreibt es die sprudelnde Lebendigkeit, mit der der Geist in die Wirklichkeit wahren, ewigen Lebens hineinführt. Vielleicht wird damit angedeutet, dass solche Menschen auch für andere zur Quelle werden, die sie zum ewigen Leben leitet (ob auch 7,38f davon spricht, ist umstritten; s. dort). Die Frau ist beeindruckt. Noch einmal spricht sie wie in V. 11 Jesus ehrerbietig mit Herr an und bittet ihn: Gib mir dies Wasser, damit ich keinen Durst mehr bekomme und nicht mehr hierher kommen muss, um (Wasser) zu schöpfen (15). Obwohl für Leser und Leserinnen klar ist, dass Jesus von einer ganz anderen Art Wasser spricht, bleibt die Frau an einem buchstäblichen Verständnis hängen und bittet um dieses Wunderwasser, das ihr den täglichen Weg zum Brunnen ersparen würde. Vergleichbar ist dies mit der Situation nach der wunderbaren Speisung, wo die Leute Jesus zum König machen wollen, damit er sie dauerhaft mit Brot versorgt (6,14f). Aber anders als dort entzieht sich Jesus nicht der Bitte der Frau, sondern will sie zum rechten Verstehen seines Angebots führen. Er tut das mit einer überraschenden Aufforderung: Geh, rufe deinen Mann und komm (wieder) hierher (16). Warum sie ihren Mann holen soll, wird nicht gesagt. Im Zug der Erzählung dient die Aufforderung dazu, die Lebenssituation der Frau und Jesu Wissen darum aufzudecken. Doch ihre Antwort lautet zunächst: Ich habe keinen Mann (17). Das ist wahr, und Jesus bestätigt das: Du hast zu Recht gesagt: Ich habe keinen Mann. Aber es ist eben nur die halbe Wahrheit, die formelle Außenseite ihrer Situation. Ihre wahre Lebenssituation sieht anders aus (18): Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Offensichtlich lebt die Frau

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jetzt mit einem Partner zusammen, mit dem sie nicht verheiratet ist. Vorher war sie mit fünf Männern verheiratet gewesen, vermutlich hintereinander. Wodurch es zu diesem häufigen Wechsel an Partnern kam, ob durch Todesfälle oder durch häufige Scheidung, wird nicht gesagt. Was hinter der Lebensgeschichte dieser Frau steht, hat die Ausleger sehr beschäftigt. Sie sind zu unterschiedlichen Antworten gekommen. (1) Traditionell ist die Auffassung, dass es sich um eine Frau mit unmoralischem Lebenswandel, möglicherweise ein Prostituierte, handelt. Dafür wird auch angeführt, dass sie zu einer ungewöhnlichen Zeit an den Brunnen kommt. Das zeige, dass sie am Rand der dörflichen Gemeinschaft lebte. Auch ihre Äußerung: »Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe« (V. 29.39) wird als Indiz dafür gewertet. Die Erzählung selbst weist aber kaum auf eine solche Problematik hin. (2) Manche nehmen an, es läge wie in Mk 12,18–27 ein Fall von Schwagerehe nach Dtn 25,5 vor. Aber es ist ganz unwahrscheinlich, dass solch ein Fall in Wirklichkeit vorkam. (3) In neuerer Zeit bevorzugen viele eine symbolische Deutung, die von der merkwürdigen Fünfzahl der Männer ausgeht. Die Frau wird dann mit Samaria identifiziert und die fünf Männer mit den Göttern der fünf Herkunftsländer der vom assyrischen König nach Samaria Verbannten (vgl. 2Kön 17,24). Der Mann, den sie nicht hat, wäre der Gott Israels, den die Samaritaner nicht in der rechten Weise anbeten. Eine Variante deutet die fünf Männer auf die fünf Bücher der Tora und den Mann, den sie (noch) nicht hat, auf Jesus, der sich am Brunnen als ihr zukünftiger Bräutigam präsentiert (s.o. zu V. 5f und 3,29). Aber es gibt keine Signale im Text, die diese symbolische Deutung stützen. (4) Neuerdings sieht man in der Frau ein Opfer prekärer Verhältnisse: Weil sie sonst ohne soziale Absicherung und rechtlichen Schutz gewesen wäre, konnte sie nicht ohne Mann leben, wurde aber immer wieder verlassen oder so misshandelt, dass sie die Ehe auflösen musste. Jetzt aber litt sie unter der sexuellen und wirtschaftlichen Ausbeutung durch einen Mann, der nicht einmal die rechtlichen Verpflichtungen ihr gegenüber eingegangen war, die ein Ehevertrag geboten hätte. In Form einer Befreiungsgeschichte werde erzählt, wie Jesus diese Frau aus diesen Verhältnissen herausholt. Doch gibt es auch für diese sympathische Deutung wenig Anhalt am Text selbst. (5) Die neueste Auslegung sieht in der Frau eine wohlhabende, selbstbewusste und selbstbestimmte Bürgerin der Stadt, deren Status es ihr erlaubte, unbefriedigende Verbindungen auch wieder schnell zu lösen, und die es jetzt vorzieht, in einer nichtehelichen Partnerschaft zu leben.

Wie immer man den außergewöhnlichen »Männerverbrauch« der Frau auch deutet, klar ist, dass in der verzweifelten Suche dieser Frau nach dem rechten Partner der Lebensdurst abgebildet ist, von dem Jesus die Menschen befreien will. Zugleich zeigt die Art, wie Jesus die Situation der Frau aufdeckt, dass er die existentielle Not derer, die ihm begegnen, kennt. Er deckt auf, ohne bloßzustellen und zu verurteilen. Er erweist sich als der, der weiß, wie es

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um den Menschen steht, und der gerade deshalb den Blick für Gott und den Weg zu ihm öffnen kann. All das liegt in dem Ausruf der Frau: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet (19). Oberflächlich gesehen heißt das zunächst nur: Du hast mich durchschaut. Aber in der Tiefenschicht der Erzählung bedeutet das zugleich: Du kannst den Weg zu Gott zeigen. Die Erwartung »eines Propheten wie Mose« war für die Samaritaner sehr wichtig. Die entsprechende Verheißung aus Dtn 18,18 steht in ihrer Version der Tora sogar in der Rahmenerzählung zum Dekalog. Zu Ex 20,21 heißt es dort: »Einen Propheten wie dich will ich ihnen aus ihren Brüdern erwecken und meine Worte in seinen Mund geben. Und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm befehlen werde«. Deshalb greift die Frau die Frage auf, die zwischen Samaritanern und Juden in der Frage der Gottesverehrung strittig war (20): Unsere Väter haben auf diesem Berg angebetet, d.h. auf dem Garizim, an dessen Fuß der Jakobsbrunnen liegt. Der Verweis auf die Vorfahren (unsere Väter) begründet die Ansicht der Samaritaner, dass der Garizim von Anfang an die Stätte war, an der Israel Gott angebetet hat, da er nach Dtn 11,29; 27,12 der Berg des Segens war. Dagegen steht der spätere Anspruch der Juden: (ihr sagt), dass in Jerusalem der Ort sei, wo man anbeten muss. Wer hat Recht? Wäre dies das Protokoll eines heutigen Seelsorgegesprächs, würde man sagen: Die Frau lenkt von ihrer persönlichen Situation ab, indem sie ein theologisches Problem anschneidet. Aber Johannes will ja nicht zeigen, wie Jesus mit der persönlichen Situation dieser Frau umgegangen ist, sondern wie ihr in der Person Jesu Gott und sein Heil begegnet. Darum geht Jesus auf ihre Frage ein. Für ihn wird sich das Problem auf unerwartete Weise lösen (21): Glaube mir, Frau: Es kommt die Stunde, in der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Es kommt die Zeit, in der die Frage, an welchem Ort man Gott verehren soll, völlig unwichtig sein wird. Es ist der Zeitpunkt, an dem die Menschen Gott als den Vater erkennen und ehren. Das aber wird durch Jesus geschehen, weil er in einzigartiger Weise der Sohn ist. Damit ist aber die Frage, wo und wie Gott in der Zeit davor angebetet wird, nicht einfach erledigt. Jesus nimmt, bevor er seine eigentliche Antwort weiter ausführt, doch noch Stellung zu dieser Frage (22): Ihr betet an, was ihr nicht kennt. Wir beten an, was wir kennen, denn das Heil kommt von den Juden. Jesus stellt sich mit seinem Wir auf die Seite der Juden. Obwohl die Samaritaner die Tora, also die fünf Bücher Mose, kennen, bleibt ihnen das wahre Wesen Gottes verschlossen. Die Juden aber, mit denen sich

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Jesus durch das Wir identifiziert, kennen nicht nur Gottes Gesetz, sondern auch die Verheißung des kommenden Retters. Weil der Retter aus Israel kommt, darum gilt: das Heil, die Rettung, kommt von (wörtlich aus) den Juden. Nicht, dass die Juden selbst die Rettung brächten, aber aus ihrer Mitte, aus dem Raum, den Gottes Offenbarung für sie eröffnet hat, kommen Rettung und Heil für die ganze Welt. Diese Aussage hat den Auslegern viel Kopfzerbrechen gemacht: Sie unterbricht den Zusammenhang, der in eine ganz andere Richtung weist und die Unterscheidung zwischen Juden und Samaritanern aufhebt. Sie steht im Gegensatz zu allem, was sonst bei Johannes kritisch über die Juden und ihre feindliche Haltung gegenüber Jesus und seine Botschaft gesagt wird. Wie ist das zu erklären? Ist der Satz ein Überbleibsel aus einer älteren, judenchristlichen Fassung der Geschichte, die an der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Judentums festhält? Oder handelt es sich um eine Einfügung bei einer späten Überarbeitung des Evangeliums, die antijüdischen Tendenzen entgegentreten will? Doch all diese Versuche, den Widerspruch aufzulösen, haben sich als unbefriedigend erwiesen. Man wird die Spannung als eine der typisch johanneischen Paradoxien stehen lassen müssen. Und wie immer man seine Entstehung erklärt, der Satz: das Heil kommt von den Juden ist fester Bestandteil des Evangeliums! Er ist ein wichtiges Bollwerk gegen allen christlichen Antisemitismus und hätte es immer sein müssen.

Man beachte: Jesu Wort lautet nicht: Das Heil kommt vom Zion, wo wir Gott anbeten, sondern: von den Juden. Es geht nicht um die Frage, an welchem Ort Gott in rechter Weise verehrt wird. Das macht die Antwort auf die Frage, wo Gott zu suchen ist, nicht beliebig. Das Heil, das Gott Abraham verheißen hat und von dem die Heiligen Schriften der Juden Zeugnis ablegen (5,39; 8,56), wird durch die Offenbarung Gottes in Jesus Christus für alle Menschen Wirklichkeit. Aber es bleibt im Weg Gottes mit Israel verwurzelt. Die Behauptung, dass unter allen Religionen der Menschheit sich Gott diesem Volk in einzigartiger Weise geoffenbart hat, war immer anstößig und bleibt es auch. Die Juden haben an diesem Anspruch unendlich viel leiden müssen. Dass Gottes Heilshandeln in Jesus allen Menschen gilt, bedeutet nicht, dass der Ursprung dieses Geschehens gleichgültig wird und jeder nach seiner Fasson selig werden könne. Das machen die nächsten Sätze klar (23f). Aber – so beginnt Jesus und signalisiert damit, dass sich durch sein Wirken ein ganz neuer Horizont auftut, der über das hinausführt, was er gerade gesagt hat: es kommt die Stunde. Damit wird die Ansage einer neuen Weise der Begegnung mit Gott aus V. 21

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aufgenommen. Hier aber wird sie in überraschender Weise fortgeführt: und ist jetzt (da). Wieder treffen wir auf ein spannungsvolles Nebeneinander von zwei sich anscheinend widersprechenden Aussagen, das für Johannes so typisch ist (vgl. 5,25). Beide Aussagen sind ernst gemeint. Das jetzt gilt für die Samaritanerin, weil sich in der Begegnung mit Jesus schon die neue Weise, Gott zu begegnen, öffnet, auch wenn Gottes Geist, von dem gleich gesprochen werden wird, erst mit der »Verherrlichung« Jesu am Kreuz geschenkt werden wird (vgl. 7,39). Das jetzt gilt aber vor allem für die Leserinnen und Leser des Evangeliums, für die das Geschenk des Geistes erfahrene Realität ist, die aber auch noch auf die »Stunde«, also die Zeit einer vollkommenen Gemeinschaft mit Gott warten (1Joh 3,1f). Dann – und doch auch schon jetzt – wird es Menschen geben, die Gott in der richtigen Weise begegnen. Sie werden die wahrhaften, echten Anbeter Gottes sein. Denn sie werden den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten. Wieder wird Gott Vater genannt (vgl. V. 21). Damit wird deutlich, dass die Anbetung oder Huldigung, von der Jesus spricht, keine Unterwerfung unter eine fremde oder gar feindliche Macht darstellt, sondern ein vertrauensvolles Sich öffnen für den, den Jesus als liebenden Vater offenbart (vgl. zu 20,17). Solche Anbetung geschieht im Geist und in der Wahrheit. Man hat oft gemeint, damit werde eine Art »vergeistigter«, rein »spiritueller« Gottesdienst im Gegensatz zu einer kultischen und rituellen Verehrung mit äußeren Formen beschrieben. Das aber ist nicht das eigentliche Ziel dieser Aussage. Es wird nicht vom Geist der Menschen und ihrer Wahrhaftigkeit gesprochen. Es geht um einen Gottesdienst und ein persönliches Gottesverhältnis, die durch den Geist der Wahrheit, den Jesus schenkt, erfüllt werden (vgl. 7,39; 14,17; 15,26; 16,13). Es ist der Geist Gottes, der die Menschen erneuert; er führt in die Wahrheit der göttlichen Wirklichkeit, die Jesus Christus offenbart. Anbetung im Geist und in der Wahrheit ist also »Anbetung, die durch Jesus Christus ermöglicht und vom Heiligen Geist im Glaubenden verwirklicht wird« (Nützel, EWNT III,421). Ihr »Ort« ist die Gemeinschaft mit Jesus. Diese neue Art der Begegnung mit Gott ist keine menschliche Erfindung. Jesus führt zu ihr, weil sie dem Willen Gottes entspricht: Denn auch der Vater sucht solche (Leute), die ihn anbeten. Weil er der Vater ist, darum will er, dass ihn die Menschen im Geist der Liebe verehren und anbeten. Aber hier wird nicht nur von dem gesprochen, was Gott will (so LÜ; EÜ). Im Griechischen steht: Gott sucht solche Menschen.

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Damit ist ein Doppeltes gesagt: Nicht die Gottsucher, die mit ihren menschlichen Möglichkeiten nach Gott forschen, begegnen ihm wirklich. Gott selbst sucht durch Jesus Menschen, die sich der Wirklichkeit und Wahrheit seiner Liebe öffnen. Er muss die Initiative ergreifen. Aber zugleich gilt auch das andere: Die Menschen sind gefragt, ob sie sich finden lassen: Gott sucht, aber er zwingt nicht. Jesus nennt eine letzte Begründung für die Art der Verehrung Gottes, die mit ihm anbricht (24): Gott ist Geist. Das ist eine grundlegende Wesensbestimmung Gottes, ähnlich der in 1Joh 4,8.16: »Gott ist Liebe«. Es ist eine der Aussagen im Johannesevangelium, in der das Wesen göttlichen Seins und Handelns in einer Weise ausgesagt wird, die Juden wie Griechen etwas sagen konnte – ähnlich wie das, was in 1,1–18 über das Kommen des Wortes/Logos gesagt wird. Aber mit dieser Wesensbestimmung ist nichts über die »materielle« Beschaffenheit Gottes gesagt. Es geht – wie in 1Joh 4,8.16 – um eine Wesensbestimmung, die Gott durch die Art seiner Beziehung zum Menschen beschreibt. Gott ist Geist heißt also: Er ist der, der Leben in sich trägt, Leben schafft, neues Leben schenkt (5,26; 6,63) und als Geber von Licht und Leben in Beziehung zu den Menschen tritt. Sein Wirken ist frei und unverfügbar wie das Wehen des Windes (3,8) und doch treu und verlässlich für die, die sich ihm öffnen. Die Konsequenz ist klar: Die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Wahre Gottesverehrung muss dem Wesen Gottes entsprechen – und sie kann dem Wesen Gottes entsprechen, weil er sich in Person und Werk Jesu den Menschen geöffnet, sich ihnen »geoffenbart« hat. Es gibt keine Vorschriften im Blick auf Zeit und Ort, feste Riten oder vorformulierte Liturgien. Nur eines ist nötig in der Begegnung mit Gott, sei es im Gottesdienst oder im persönlichen Gebet: offen zu sein für Gott, wie er in Jesus begegnet. Irgendwie hat die Frau erkannt, dass die gottesdienstliche Praxis, sei es auf dem Garizim, sei es in Jerusalem, nur vorläufig sein kann, und es eine Hoffnung darauf gibt, dass Gott durch einen autorisierten Boten der Verwirrung ein Ende schafft (25): Ich weiß, dass der Messias kommt, sagt sie und greift damit eine typisch jüdische Hoffnung auf, die die Samaritaner zur Zeit Jesu noch nicht teilten. Und so fügt sie auch noch an: der (von euch Juden) Gesalbter genannt wird – was im Griechischen das Signal für Leser und Leserinnen enthält: Hier geht es um Christus (vgl. 1,41; 11,27). Und sie fährt fort: Wenn jener kommt, wird er uns alles verkünden. Damit aber verbindet sie die jüdische Messiashoffnung mit der Erwartung der Samaritaner an den Propheten

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wie Mose aus Dtn 18,18, der dem Volk »alles verkünden« wird, was Gott gebietet. Die Hoffnung auf einen, der wirklich im Namen Gottes spricht und seinen Willen verkündet, ist fast universal. Jesu Antwort auf die Feststellung der Frau aber ist einfach und lapidar (26): Ich bin (es), der mit dir spricht. In diesem kurzen Satz steckt eine doppelte Aussage. Einerseits sagt Jesus damit: Ich bin der Messias, auf den ihr wartet. Ich bin dazu gekommen, alles, und das heißt: das, was vor Gott entscheidend ist, zu verkünden. Aber andererseits steht im griechischen Text nur ein: Ich bin. Und im Zusammenhang des Johannesevangeliums ist eindeutig, dass dieses ich bin an das »ICH BIN, der ich bin« der Selbstvorstellung Gottes in Ex 3,14 anknüpft, mit dem sich Gott auch in Jes 43,10f offenbart. Dieses Ich bin wird im 4. Evangelium immer wieder aufgegriffen (6,20; 8,24.28; 13,19; 18,6) und an einigen Stellen zu den Ichbin-Worten Jesu erweitert (vgl. etwa 6,35: »Ich bin das Brot des Lebens«). Damit ist das Entscheidende gesagt. In V. 10 hatte Jesus zu der Frau gesagt: Wenn du wüsstest, wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken. Jetzt hat er sein Inkognito gelüftet. In dem durstigen Wanderer, dem erschöpften Juden am Brunnen, ist sie Gott begegnet, dem Gott, der wahres Leben schenkt. Damit ist alles gesagt und das Gespräch mit der Samaritanerin beendet, auch wenn die Geschichte noch weitergeht. Was wir hier erleben, ist ein Kontrastprogramm zu Jesu Gespräch mit Nikodemus: Statt mit einem angesehenen Vertreter jüdischer Gelehrsamkeit im Dunkel der Nacht spricht Jesus im Licht der grellen Mittagssonne mit einer einfachen Frau, die zur verachteten Gruppe der Samaritaner gehört. Sie aber bleibt im Gespräch mit Jesus. Missverständnisse werden überwunden, und die Lebensnot der Frau kommt ans Licht. Die Szene ist zwar kein Protokoll eines Seelsorgegesprächs, das sich auf die Probleme der Frau konzentrieren würde. Es geht in diesem Gespräch vor allem um die Verkündigung der Christusbotschaft. Aber diese Botschaft wird als Antwort auf die Lebensnot der Menschen formuliert. Lebendiges Wasser oder Wasser des Lebens – so bezeichnet Jesus das, was er gibt und was er für die Menschen ist. Es ist Wasser, das den scheinbar unstillbaren Lebensdurst stillt. Im Fall der Frau scheint sich dieser Lebensdurst an ihren vielen missglückten Beziehungen zu Männern zu zeigen. Jesus deckt diese Not auf. Wie sieht die Antwort darauf aus? Auf den ersten Blick scheinen beide Gesprächspartner diese Frage durch die Flucht in religiöse Themen zu meiden. Aber tatsächlich liegt darin die Antwort: Gott wirklich zu kennen und zu

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ihm in eine Beziehung zu treten, die nicht nur äußere Form ist, sondern auch das Innerste des Menschen umfasst und erfüllt, das ist die Antwort auf den Lebendurst und die Beziehungsnot der Menschen. Wer in Jesus Gott begegnet, wird hineingenommen in eine Beziehung zu Gott, die einem liebeleeren Leben ein liebendes Gegenüber schenkt. Wie freilich die Sehnsucht nach Leben und letzter Gemeinschaft, wie sie sich im sexuellen Verlangen zeigt, und die Erfahrung von Nähe, die aus der Begegnung mit Gottes Liebe in Jesus Christus erwächst, aufeinander bezogen werden können, ist eine bleibende Herausforderung für das Leben der Christen. Eng verbunden mit dieser existentiellen Frage ist die grundsätzliche Frage der Religion: Wie und wo wird Gott richtig verehrt? Jesus öffnet einen universalen Horizont, der die Verehrung Gottes unabhängig von bestimmten Orten und Zeiten und Formen macht. Die Formulierung, dass Gott im Geist und in der Wahrheit verehrt und angebetet werden soll, überlässt die Antwort aber nicht der subjektiven Willkür. Rechte Verehrung Gottes ist die, die sich ganz auf die Offenbarung des wahren, lebendigen Gottes einlässt, des Gottes, der Leben schafft und Leben liebt, des Gottes, dessen Wirklichkeit die Liebe ist, die er im Weg Jesu für alle erweist. Aber gerade darum kann rechter Gottesdienst die Rückbindung an den Ursprung dieser Offenbarung in Gottes Geschichte mit Israel nicht aufgeben. Das religiöse Mühen anderer wird dadurch nicht einfach entwertet. Aber Maßstab und Garant für wirkliche und umfassende Universalität bleibt Gottes Handeln in Jesus Christus. 4,27–42 Reif zur Ernte – der Glaube der Samaritaner 27

Währenddessen kamen seine Jünger und wunderten sich, dass er mit einer Frau sprach; jedoch sagte niemand: Was willst du (von ihr) und warum sprichst du mit ihr? 28Die Frau nun ließ ihren Wasserkrug stehen und ging weg in die Stadt und sagt zu den Leuten: 29 Kommt! Seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe! Ob der nicht womöglich der Messias ist? 30Und sie gingen aus der Stadt hinaus und kamen zu ihm. 31 In der Zwischenzeit baten ihn seine Jünger und sagten: Rabbi, iss (doch)! 32Er aber sagte ihnen: Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt. 33Da sprachen die Jünger zueinander: Hat ihm etwa jemand zu essen gebracht? 34Jesus sagt zu ihnen: Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat und sein Werk vollende. 35Sagt ihr nicht selbst: Es dauert noch vier Monate und (dann) kommt die Ernte? Siehe, ich sage euch: Hebt eure Augen auf und seht die Felder: Sie sind weiß für die Ernte. Schon 36erhält der, der

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erntet, Lohn und sammelt für ewiges Leben, damit sich der, der sät, und der, der erntet, zugleich freuen. 37Denn darin ist das Sprichwort wahr: Ein anderer ist es, der sät, und ein anderer, der erntet. 38Ich habe euch gesandt, um das zu ernten, wofür ihr euch nicht gemüht habt. Andere haben sich abgemüht, und ihr seid in ihre Mühe eingetreten. 39 Aber aus jener Stadt kamen viele der Samaritaner aufgrund des Wortes der Frau zum Glauben an ihn, weil sie bezeugte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe! 40Als nun die Samaritaner zu ihm kamen, baten sie ihn: Bleibe bei uns. Und er blieb zwei Tage dort. 41 Und noch viel mehr (Leute) kamen aufgrund seines Wortes zum Glauben. 42Und zu der Frau sagten sie: Nicht mehr aufgrund deines Redens glauben wir, denn (jetzt) haben wir selbst gehört und wissen: Dieser ist wirklich der Retter der Welt. Der zweite Teil der Erzählung über Jesu Wirken in Samaria gliedert sich in drei kurze Szenen. Die erste (V. 27–30) leitet den folgenden Szenenwechsel ein: Die Jünger Jesu kehren von ihrem Einkauf zurück, während die Frau weggeht, um weiterzuerzählen, was sie erlebt hat. Das wiederum macht die Leute neugierig, und sie kommen zu Jesus. Die zweite Szene (V. 31–38) berichtet von einem Gespräch Jesu mit seinen Jüngern. Unter dem Thema »Speise« weist es Parallelen zu dem Gespräch mit der Frau auf, schneidet dann aber mit dem Bild von Saat und Ernte eine neue Thematik an. Die letzte Szene (V. 39–42) erzählt im Telegrammstil von Jesu Wirken in der Stadt und endet mit dem Bekenntnis zu Jesus als dem Retter der Welt. Die Erzählung nimmt den Faden von V. 8 wieder auf. Dort war berichtet worden, dass die Jünger in die Stadt gegangen waren, um Essen zu kaufen. Nun kommen sie zurück (27) und wundern sich, ihn im Gespräch mit einer Frau zu finden. Das zeigt noch einmal, wie ungewöhnlich das Verhalten Jesu ist. Aber die Jünger scheuen sich, Jesus zu fragen: Warum sprichst du mit ihr? oder Was willst du (von ihr)? Wörtlich übersetzt lautet diese Frage: Was suchst du? und lässt das Motiv aus dem vorigen Gespräch anklingen, dass Gott Menschen sucht, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten! Die Frau aber hält es nicht länger bei Jesus (28). Sie bricht auf und lässt den Wasserkrug, den zu füllen sie gekommen war, einfach stehen. Das ist nicht nur Zeichen für die Eile des Aufbruchs, sondern auch dafür, dass sie verstanden hat, dass es bei Jesus um mehr geht als um Wasser für den täglichen Bedarf. Sie muss einfach weitersagen, was sie mit Jesus erlebt hat. Darum geht sie zu-

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rück in die Stadt und ruft den Menschen zu: Kommt! Seht einen Menschen, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe! (29) Kommt, seht selbst – das ist die typische Aufforderung johanneischer Zeugen für Jesus (vgl. 1,39.46). Die eigene Überzeugung ist wichtig, entscheidend aber ist, andere zur persönlichen Begegnung mit Jesus zu führen. Was die Frau so bewegt, ist die Erfahrung, dass Jesus wusste und ihr sagen konnte, wie es um ihr Leben steht. Wieder bleibt verborgen, was hinter der Tatsache, dass sie so viele Männer hatte, an menschlichen Problemen steckt. Es scheinen schwierige Verhältnisse zu sein, für die sie zumindest auch Mitverantwortung trägt (was ich getan habe). Aber sie scheint auch nicht so am Rand der Gesellschaft zu stehen, dass die Leute ihr Zeugnis kopfschüttelnd übergehen. Jedenfalls weiß sie sich von Jesus in einer Weise erkannt, dass sie dahinter Gottes Erkennen spürt. Das aber ist nicht beschämend für sie, sondern befreiend. Sie beginnt, in Jesus die Gegenwart Gottes zu erspüren. Freilich bleibt ihr Zeugnis vorsichtig: Ob der nicht womöglich der Messias ist, also der Christus, der Gesalbte? Es ist kein vollmundiges Bekenntnis, das sie ausspricht, eher noch eine vage Vermutung. Aber in der offenen Frage liegt eine große Hoffnung: Sollte in diesem Menschen (V. 28) Gott selbst auch zu Menschen wie sie gekommen sein? Es ist dieses offene Fragen, das andere einlädt, selbst zu sehen und zu erkennen, wer Jesus ist, und sie in Bewegung setzt. Knapp und eindrücklich heißt es: Sie gingen aus der Stadt hinaus und kamen zu ihm (30). Aber die Erzählung richtet den Blick zunächst wieder auf Jesus und auf das Gespräch, das sich in der Zwischenzeit zwischen ihm und seinen Jüngern entwickelt hat (31–38). Die Jünger, die Lebensmittel eingekauft haben, fordern Jesus auf, sich zu bedienen. Rabbi, iss (doch)! sagen sie und zeigen sich damit als ehrerbietige Schüler, die für ihren Lehrer sorgen. Er aber lehnt ab mit der Begründung: Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt (32). Für die Leser und Leserinnen ist klar, dass Jesus wie im Gespräch mit der Samaritanerin die Bedeutungsebene wechselt. Hier geht es um eine andere Art der Nahrung als um das tägliche Brot. Aber die Jünger verstehen das nicht. Es entsteht ein typisch johanneisches Missverständnis, wie es uns schon im Gespräch Jesu mit Nikodemus (3,4) und der Samaritanerin (4,11.15) begegnet ist. Sie fragen einander verwundert: Hat ihm etwa jemand zu essen gebracht? (33). Jesus aber macht klar, von welcher Art der »Nahrung« er spricht (34): Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollende. Er sagt damit, wovon er lebt und was ihm die Kraft zum Wirken gibt.

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Das bedeutet natürlich nicht, dass er nichts zu essen und zu trinken brauchte. Aber es öffnet den Blick für das, was sein Leben im Letzten trägt und nährt. Was »Grundnahrungsmittel« eines Lebens mit Gott ist, davon spricht schon das Alte Testament: Nach Dtn 8,3 soll das Volk durch die Gabe des Manna lernen: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN geht«. Amos 8,11 spricht von einer Zeit, in der Gott einen Hunger schicken wird, »nicht einen Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des HERRN, es zu hören«, und Jeremia bekennt: »Kamen Worte von dir, so verschlang ich sie« (Jer 15,16 EÜ). Wie im Gespräch mit der Samaritanerin am Bild des Wassers zeigt Jesus jetzt am Beispiel der Nahrung, wovon der Mensch wirklich lebt. An unserer Stelle macht er dies an sich selbst deutlich und in einer Weise, die für das Johannesevangelium typisch ist. Dass Jesus nicht seinen eigenen Willen tut, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat, das ist geradezu sein »Markenzeichen« im vierten Evangelium (5,30; 6,38f; 9,31). Damit ist nicht so sehr die vollkommene Erfüllung der Gebote Gottes beschrieben, sondern Jesu völlige Konzentration auf seinen Auftrag, Gottes Willen zum Heil der Welt zu erfüllen. So erscheint hier auch zum ersten Mal die für Johannes so zentrale Bezeichnung Gottes: der mich gesandt hat (vgl. 5,23f; 6,44). Schon in der ältesten Jesustradition bezeichnet Jesus Gott als den, »der mich gesandt hat«, so in Mt 10,40: »Wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat« (vgl. Lk 9,48; Joh 13,20). Hintergrund ist die Sendung und Beauftragung der Propheten als Boten Gottes (vgl. Jes 6,8; 61,1: »Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen«). Nach antikem Botenrecht gilt der Gesandte als Stellvertreter des Sendenden, der diesen vollgültig repräsentiert und bevollmächtigt ist, für ihn zu handeln. Ein rabbinischer Rechtssatz lautet: »Der Abgesandte eines Menschen ist wie dieser selbst« (mBer 5,5). Wie bei Paulus (vgl. Gal 4,4f; Röm 8,3f) ist bei Johannes damit die Vorstellung von der Sendung des Sohnes verbunden, der aus der innigsten Gemeinschaft mit Gott (vgl. 1,18) hinein in diese Welt kommt (vgl. 3,16).

Entscheidend für die Sendung ist die Beauftragung, und darum nennt Jesus als zweiten Teil seines Lebensinhalts den Auftrag Gottes, dass ich sein Werk vollende. Gottes Werk ist sein Handeln zum Heil der Menschen im Sohn, den er gesandt hat (6,29). Jesus vollendet dieses Werk durch seinen Weg ans Kreuz, mit dem er Gott und seine abgrundtiefe Liebe »verherrlichen wird« (17,4). Diesen Auftrag zu erfüllen, davon lebt Jesus – das ist seine Speise.

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Doch dann scheint Jesus das Thema zu wechseln (35). Er zitiert eine gebräuchliche Redewendung: Es dauert noch vier Monate und (dann) kommt die Ernte. Soweit wir wissen, lagen damals zwischen der letzten Aussaat und der ersten Ernte mindestens vier Monate, wenn man im Durchschnitt auch eher mit sechs Monaten Abstand rechnete. Als Sprichwort könnte der Satz bedeutet haben: Es hat noch Zeit; man muss eben warten! Aber das, worauf ihr wartet, kommt bestimmt. Mit dem Stichwort Ernte ist ein neues Thema angesprochen. Im Alten Testament ist Ernte ein stehendes Bild für die Sammlung des Volks, aber auch für das Gericht am Ende der Zeit (vgl. Ps 126,5f; Jes 27,12; Hos 6,11; Joel 4,13). In diesem Sinn kommt es auch in Gleichnissen Jesu und der Offenbarung vor (Mt 13,30.39–42; Mk 4,29; Offb 14,15). Jesus vergleicht aber auch die gegenwärtige Mission der Jünger mit der Arbeit in der Ernte (Mt 9,37f; Lk 10,2). Das ist auch hier der Fall. Mit der alttestamentlichen Redewendung Hebt eure Augen auf (Gen 13,14; Jes 60,4) fordert er sie auf zu erkennen, in welcher Zeit sie sich befinden. Zunächst bleibt Jesus im Bild und sagt: Seht die Felder: Sie sind weiß für die Ernte. Wenn das Getreide nicht mehr grün ist, sondern goldgelb oder weiß in der Sonne glänzt, dann weiß der Bauer: Die Zeit zur Ernte ist da! Das verrät nichts über die Jahreszeit, in der Jesus spricht. Vielmehr soll der Blick der Jünger (und der Leserinnen und Leser) auf die Schar der Leute gerichtet werden, die gerade zu Jesus kommen. Das ist die Ernte, von der Jesus spricht. Nun vermischen sich Bild und Sache auf eigentümliche Weise (36): Obwohl die Ernte erst kurz bevorsteht, erhält der, der erntet, schon den Lohn, sodass der Bauer, der gesät hat und dem die Ernte gehört, und der Saisonarbeiter, der für die Ernte geholt wurde, sich miteinander über den reichen Ertrag freuen können. Das mag zum Teil damaligen Gepflogenheiten entsprechen, aber Jesus deutet sofort an, worum es ihm eigentlich geht. Der, der erntet, sammelt zum ewigen Leben. Dass diese Ernte jetzt beginnt, das ist sein Lohn. Mit Jesu Wirken beginnt die große Sammlungsbewegung, die Menschen hineinführt in eine Gemeinschaft mit Gott, die ihnen bleibendes Leben schenkt. Mit dem, der sät, ist also Gott gemeint, der schon in der Schöpfung mit der Saat des Lebens begonnen hat. Und der, der erntet, ist Jesus, der Gottes Werk vollendet, indem er die sammelt, die zum ewigen Leben bestimmt sind. Und die Schar der Leute aus Samaria, die unterwegs zu Jesus sind, stellen die Erstlingsfrucht seiner Ernte dar. So freuen sich der, der sät, und der, der erntet,

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zugleich. Gott, der Vater, und Jesus, der Sohn, sind in der Freude über Menschen vereint, die zu Gott und damit zu wahrem, ewigem Leben finden. Aber das Bild von der Ernte hat noch mehr Potential. Jesus greift ein weiteres Sprichwort auf, das darauf hinweist, dass der, der die Mühe des Säens hat, oft nicht in den Genuss der Früchte seiner Arbeit kommt (37): Ein anderer ist es, der sät, und ein anderer, der erntet. Ähnlich sagt ein griechisches Sprichwort: »Die einen werden säen, die anderen aber werden sammeln« (nach Theobald, 336). Dass man erntet, wo man nicht gesät hat, kann als Unrecht angeprangert werden (so der Knecht in Jesu Gleichnis Mt 25,24), es kann aber auch als unverdiente Gnade erlebt werden (vgl. Jos 24,13). Jesus greift den zweiten Aspekt der Aussage auf und lenkt den Blick von der glücklichen »Arbeitsteilung« zwischen Gott und ihm weiter auf die missionarische Arbeit, die die Jünger in seiner Nachfolge tun werden (38). Ich habe euch gesandt, um das zu ernten, wofür ihr euch nicht gemüht habt. Wir haben hier eines der Worte Jesu bei Johannes, die über die augenblickliche Situation der Jünger schon auf ihren Weg nach Ostern vorausblicken. Denn von einer Aussendung der Jünger ist bisher nichts berichtet worden. Und anders als in den anderen Evangelien wird es im vierten Evangelium auch keine Aussendung der Jünger vor ihrer österlichen Beauftragung in 20,21 geben! Diesen Missionsauftrag aber vergleicht Jesus mit der Arbeit von Erntearbeitern, die ernten dürfen, was sie weder gesät noch in mühevoller Arbeit gehegt und gepflegt haben. Sie brauchen nur zu ernten. Das scheint eine recht einseitige Perspektive christlicher Missionsarbeit zu sein. Aber Jesus verstärkt das Gesagte noch einmal: Andere haben sich abgemüht, und ihr seid in ihre Mühe eingetreten. Auffallend ist, dass mit dem Wort, das wir mit (ab)mühen übersetzen, ein Begriff verwendet wird, der die schweißtreibende und dreckige Arbeit beschreibt, die Sklaven oder Taglöhnern vorbehalten war. Paulus benutzt dieses Wort sehr gerne, um damit die Mühe seiner missionarischen Arbeit zu beschreiben, nicht zuletzt deswegen, weil sie für ihn oft mit einer handwerklichen Tätigkeit als Zeltmacher verbunden war (vgl. für ihn selbst 1Kor 4,12; 15,10; Gal 4,11; für seine Mitarbeiter/innen Röm 16,6.12; 1Kor 16,16). Doch nach Jesu Worten werden sich die Jünger bei ihrer missionarischen Arbeit nicht mehr abplagen müssen. Sie dürfen ernten, was andere unter Mühen gesät haben. Wer aber sind diese anderen? Man hat mit sehr unterschiedlichen Erklärungen versucht, diese Frage zu beantworten. Sind die alttestamentlichen Propheten ge-

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meint, deren Wirken oft von Verfolgung und Leiden gekennzeichnet war? Oder Johannes der Täufer und seine Jünger? Für beides gibt es keine Hinweise. Oder ist hier Jesus (und mit ihm Gott selbst) gemeint, der nun nicht mehr als Erntender gezeichnet ist, sondern als der, der mit dem Einsatz seines Lebens die missionarische Ernte der Jüngergemeinde erst möglich gemacht hat? Aber kann man von Gott und Jesus sagen, dass sie sich abgemüht haben? Oder sind die Frau und ihre Nachbarn aus Samaria gemeint, die mit ihrem Zeugnis die Entstehung einer Gemeinde in Samaria möglich gemacht haben? Oder wird das Ganze schon aus der Perspektive der missionarischen Arbeit zur Zeit des Evangeliums gesehen und die johanneische Gemeinde darauf hingewiesen, dass ihre missionarischen »Erfolge« auf dem Wirken von Leuten wie Philippus und Petrus in Samaria (vgl. Apg 8,4–25) und auf der mühevollen Arbeit eines Paulus beruht? Wahrscheinlich kommen die beiden letztgenannten Vorschläge der Absicht des Evangelisten am nächsten; aber letzte Sicherheit lässt sich nicht erreichen. Die Erfahrung freilich, dass dort, wo missionarische Arbeit »ernten« darf, sich fast immer schon andere gemüht haben, wird sich in der Geschichte der christlichen Mission oft bestätigen. Johannes lässt hier Jesu Gespräch mit seinen Jüngern enden und fügt einen knappen Bericht von seiner »Ernte« in Samaria an, der den großen Abschnitt 4,4–42 eindrucksvoll abschließt (39–42). Zunächst wird noch einmal zurückgeblendet zu dem, was schon in V. 29f berichtet worden war. Die Leute aus Sychar, die sich aufgrund des Berichts der Frau auf den Weg machen und zu Jesus kommen, treibt nicht nur die Neugier. Hier geschieht mehr: Aber aus jener Stadt kamen viele der Samaritaner zum Glauben an ihn. Zu Jesus zu kommen ist der Beginn des Wegs zum Glauben, auch wenn das zunächst nur aufgrund des Wortes der Frau geschieht, weil sie bezeugte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe! Dass Jesus weiß, wie es um einen Menschen steht, ist Grund, sich ihm anzuvertrauen. Das erinnert sehr an die Geschichte Nathanaels in 1,47–51. Aber wie bei Nathanael ist dieser Glaube erst der Anfang einer tieferen Begegnung mit Jesus. Inzwischen sind die Samaritaner bei Jesus angekommen und bitten ihn: Bleibe bei uns (40). Das heißt zunächst: Gib uns die Gelegenheit, dich näher kennenzulernen. Aber im Johannesevangelium hat auch diese Bitte eine tiefere Bedeutung. Immer wieder wird Jesus dazu auffordern, bei ihm und in ihm zu bleiben (8,31; 15,4; vgl. auch in Lk 24, 29 die Bitte der Emmausjünger: »Herr, bleibe bei uns«). Jesus geht auf die Bitte ein und bleibt zwei Tage. Über

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sein Wirken dort wird nichts gesagt. Er ist da und spricht mit den Menschen. Das zeigt sich an der Wirkung seiner Gegenwart. Dabei wird zunächst vom quantitativen Ergebnis berichtet: Noch viel mehr (Leute) kamen aufgrund seines Wortes zum Glauben (41). Aber das ist nicht das Entscheidende. Die Begegnung mit Jesus führt zu einer qualitativen Vertiefung ihres Glaubens (42). Die Leute sagen zu der Frau: Nicht mehr aufgrund deines Redens glauben wir. Das ist keine Abwertung des Zeugnisses der Frau. Es heißt nicht: aufgrund deines Geschwätzes, wie manche Ausleger meinen. Ihr Zeugnis war wichtig, es führte die Menschen zu Jesus. Ihr Kommt! Seht! entspricht dem Komm und sieh, mit dem Philippus Nathanael zu Jesus führt (1,46). Entscheidend aber ist die Begegnung mit Jesus selbst und seinem Wort: (Jetzt) haben wir selbst gehört, und darum wissen wir: Dieser ist wirklich der Retter der Welt. Ihr Glaube ist zur inneren Gewissheit geworden; sie sind aus Jüngern »zweiter Hand«, die nur durch andere von Jesus gehört haben, zu Jüngern »erster Hand« geworden, die ihm und seinem Wort selbst begegnet sind. Das aber hat sie zu der grundlegenden Einsicht geführt: Dieser Jesus ist wirklich der Retter der Welt. Der Titel Retter (LÜ: Heiland) war in der griechisch sprechenden Welt sehr geläufig. Vielen Göttern wurde dieser Titel zugesprochen, weil von ihnen Hilfe in Not und Schutz vor Gefahr erwartet wurde. Aber auch im hellenistischen und römischen Herrscherkult wurde er häufig verwendet. Augustus wurde Retter des Menschengeschlechts genannt und Kaiser Hadrian führte den Titel Retter der Welt. Im griechischen Alten Testament ist Retter eine Bezeichnung für Gott (Ps 24,5; Mi 7,7; Hab 3,18, meist für hebräisch Heil, Rettung). Sie wird auch im griechisch sprechenden Judentum gerne verwendet (Weish 16,7; Sir 51,1; 1Makk 4,30; PsSal 3,6; 8,33; 16,4; 17,3). Retter/Heiland ist also ein Hoffnungsbegriff für Juden wie Heiden in der griechisch sprechenden Welt. Auch im Neuen Testament wird oft Gott als Retter bezeichnet (Lk 1,47; 1Tim 1,1; 2,3; 4,10: Retter aller Menschen), aber noch häufiger Jesus (Lk 2,11; Apg 5,31; 13,23; Phil 3,20 u.ö.). Der Titel Retter der Welt wird noch einmal in 1Joh 4,14 aufgenommen: »Der Vater hat den Sohn als Retter der Welt gesandt«. Vermutlich handelt es sich dabei nicht um eine direkte Polemik gegen den Kaiserkult. Doch musste der Anspruch, dass es Jesus Christus und nicht der Kaiser ist, durch den Gott die Welt aus ihrer Not rettet und den Schaden der Menschheit heilt, zwangsläufig zu Konflikten führen.

Damit schließt sich ein dreifacher Bogen in der Erzählung. Das Selbstbekenntnis Jesu Ich bin’s am Ende des Gesprächs mit der Samaritanerin (V.26) wird zum Bekenntnis von Menschen zu ihm. Und dieses Bekenntnis sagt eindeutig und unübertrefflich,

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wer er wirklich ist: Du bist der Retter der Welt. Die Hoffnung der Menschen auf Rettung aus der Not ihrer Gottferne und auf Hilfe und Heilung in all den Nöten, die menschliche Ungerechtigkeit und menschliches Unvermögen verursachen, ist in Jesus Christus erfüllt. Damit wird auch der Streit, ob Garizim oder Jerusalem der rechte Ort ist, überholt: Das Heil, das »von den Juden kommt«, begegnet in Jesus, dem Retter und Heiland der Welt. Damit wird aufgenommen, was in 3,16 über Gott und die Welt gesagt worden war: »So sehr hat Gott die Welt geliebt!« Gott lebt diese Liebe, in dem er den Retter der Welt schickt. Eine Geschichte mit Happy End ist selten bei Johannes. Sie passiert an einem ungewöhnlichen Ort bei einer unerwarteten Mission. Jesus geht nicht in die Falle einer missionarischen Selbstzensur, durch die wir oft vorentscheiden, bei wem unser Zeugnis ankommen könnte und bei wem wohl nicht. Er spricht eine fremde Frau aus dem verachteten Samaria an, und das Unerwartete geschieht: Gerade die Menschen in Samaria sind offen für Jesus, kommen zum Glauben und bekennen ihn als Retter der Welt. Die Hoffnung, dass Gott diese Welt nicht verloren gibt, sondern sie retten will, findet in Jesus ihre Erfüllung. Der Messias Israels erweist sich als der Retter der Welt! Das schlägt sich freilich nicht in globalen Aktionen nieder, sondern in der schlichten Tatsache, dass Menschen zum Glauben und damit zu Gott finden und ihr Leben heil und frei wird. Gerne würden wir wissen, wie die Frau vom Jakobsbrunnen ihr persönliches Problem gelöst hat. Jedenfalls dringt Jesus nicht auf eine legalistisch-moralische Lösung für ihre Situation, z.B. mit der Bedingung: Zuerst musst du deine persönlichen Verhältnisse in Ordnung bringen, bevor du zu Gott kommen kannst. Für die Frau scheint die Tatsache, dass Jesus mit ihr offen und ehrlich, aber ohne sie zu verurteilen, über ihr Problem gesprochen hat, schon ein erster, grundlegender Schritt zu seiner Bewältigung zu sein. Für Johannes ist die Frau vor allem als Zeugin für Jesus wichtig. Ihr Zeugnis ist gerade durch sein tastendes, aber von Hoffnung erfülltes Fragen wirksam. An ihrem Beispiel wird zugleich eine Frage angesprochen, die die missionarische Verkündigung bis heute beschäftigt: Wie werden aus Jüngern »zweiter Hand«, die Jesus nur vom Hörensagen kennen, solche »erster Hand«, die ihm persönlich begegnet sind? Damals konnten die Leute einfach zu Jesus hinausgehen und ihn einladen, bei ihnen zu bleiben. Aber Johannes erzählt diese Geschichte, weil er überzeugt ist, dass auch nach Ostern Menschen Jesus persönlich begegnen können, wenn er ihnen im Wort der Verkündiger entgegenkommt. Von wunderbaren Zeichen, die Jesus tut, wird in Samaria nichts erzählt. Auch ohne Wunder wirkt Jesus durch

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4,43–54

sein Wort, und in diesem Wort erkennen die Menschen: Er ist der Retter und Heiland der Welt. 4,43–54 Das zweite Zeichen in Kana – ein Kind wird geheilt 43

Nach zwei Tagen aber ging er von dort weg nach Galiläa. 44Jesus selbst nämlich hatte bezeugt, dass ein Prophet in seinem Vaterland kein Ansehen genießt. 45Als er nun nach Galiläa kam, nahmen ihn die Galiläer (freundlich) auf, weil sie noch alles vor Augen hatten, was er in Jerusalem beim Fest getan hatte; denn auch sie waren zum Fest gekommen. 46 Und er ging wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser in Wein verwandelt hatte. Es war aber ein königlicher (Beamter), dessen Sohn lag krank in Kapernaum. 47Als dieser hörte, dass Jesus von Judäa nach Galiläa gekommen war, kam er zu ihm und bat, dass er herabkomme und seinen Sohn heile, denn er lag im Sterben. 48Jesus nun sagte zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so werdet ihr nicht glauben! 49Der königliche (Beamte) sagt zu ihm: Herr, komm herab, bevor mein Sohn stirbt. 50Jesus sagt zu ihm: Mach dich auf den Weg, dein Sohn lebt. Der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte, und ging los. 51Aber schon als er hinabging, kamen ihm seine Diener entgegen und sagten: Dein Kind lebt. 52 Er erfragte nun von ihnen die Stunde, in der es ihm besser ging. Sie sagten darauf: Gestern um die siebte Stunde hat ihn das Fieber verlassen. 53Da erkannte der Vater, dass es jene Stunde war, in der Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und er kam zum Glauben und (mit ihm) sein ganzes Haus. 54Das wiederum tat Jesus als zweites Zeichen, als er von Judäa nach Galiläa gekommen war. Ein erster Kreis schließt sich: Jesus geht wieder zurück nach Galiläa. Johannes erzählt davon in zwei Etappen: Die V. 43–45 beschreiben die Situation, die er dort vorfindet, allerdings in einer recht zwiespältigen Weise. Der Schwerpunkt der Erzählung liegt aber auf V. 46–54, die von einem zweiten Aufenthalt Jesu in Kana und der wunderbaren Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten erzählen. Dass sich Jesus dabei wieder dort aufhielt, wo er Wasser in Wein verwandelt hat, wird eigens betont, ist dem Evangelisten also wichtig. Die Erzählung knüpft unmittelbar an die Ereignisse in Samaria an. Wie in V. 40 berichtet, blieb Jesus dort zwei Tage und machte sich dann auf den Weg nach Galiläa (43). Die Begründung, die

4,43–54

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der Evangelist dafür gibt, ist für uns nicht leicht einzuordnen: Jesus selbst hatte nämlich gesagt (wörtlich: bezeugt), dass ein Prophet in seinem Vaterland kein Ansehen genießt (44). Eine ähnliche Äußerung Jesu findet sich in den anderen Evangelien im Zusammenhang mit Jesu Ablehnung in seiner Heimatstadt Nazareth (Mt 13,57; Mk 6,4; Lk 4,24). Davon berichtet Johannes nichts. Bei ihm bezieht sich das Wort also auf ganz Galiläa, die Heimat Jesu (7,41). Aber wie kann diese Aussage begründen, dass er sich auf den Weg dorthin macht, zumal im Folgenden von einer freundlichen Aufnahme berichtet wird? Es gibt zwei Lösungsmöglichkeiten: 1. Viele nehmen an, dass sich Vaterland hier nicht auf Galiläa bezieht, sondern auf Judäa und Jerusalem, die eigentliche Heimat jedes Juden (vgl. für Jesus Lk 2,49). Dort wurde er abgelehnt, und deshalb geht er nach Galiläa. 2. Andere sehen in V. 44 weniger eine Begründung für Jesu Weg nach Galiläa, sondern eine vorausschauende Bemerkung, die davor warnt, die freundliche Aufnahme Jesu in Galiläa (V. 45) zu hoch zu werten. Man müsste also übersetzen: allerdings hatte Jesus selbst gesagt. Da im Johannesevangelium immer betont wird, dass Jesus aus Nazareth bzw. Galiläa kommt (1,45; 7,41.52), und bisher nichts von einer Ablehnung Jesu in Judäa zu hören war, ist die zweite Lösung wahrscheinlicher. Zunächst wird erzählt, dass die Galiläer Jesus gastfreundlich aufnahmen (45). Das hatte freilich einen nicht ganz uneigennützigen Grund: Viele von ihnen waren beim Passahfest in Jerusalem gewesen und hatten gesehen, was Jesus dort getan hatte. Das dürfte sich auf die Zeichen beziehen, von denen in 2,23; 3,2 kurz berichtet wurde. Vermutlich waren damit wunderbare Heilungen gemeint. All das stand den Menschen noch lebhaft vor Augen, und sie erwarteten, dass Jesus nun auch bei ihnen solche Wunder tun würde. Auch das wird nicht gesagt, aber durch V. 48 nahegelegt. Dennoch erzählt der Evangelist davon ohne kritischen Unterton und nennt damit den Hintergrund, auf dem die folgende Geschichte zu verstehen ist. Nach seiner Ankunft in Galiläa geht Jesus wieder nach Kana (46). Eine Begründung dafür wird nicht gegeben. Es wird aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies der Ort ist, an dem Jesus Wasser in Wein verwandelt hat. Das sollen Leserinnen und Leser nicht vergessen. Doch bleibt Jesu Wirksamkeit nicht auf diesen Ort beschränkt. Auch in Kapernaum hört man von ihm, unter anderem ein »Königlicher«, d.h. ein Mann in königlichen Diensten. Er war wohl Hofbeamter oder Offizier bei Herodes Antipas, dem Landesherrn von Kapernaum. Dieser durfte zwar offiziell nur den

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4,43–54

Titel Tetrarch, also »Vierfürst«, führen, wird aber in den Evangelien und auch sonst oft König genannt (Mt 14,9; Mk 6,14). Die folgende Geschichte weist große Ähnlichkeit mit der Erzählung vom »Hauptmann von Kapernaum« in Mt 8,5–13 und Mt 7,1–10 auf. Dort handelt es sich allerdings um einen heidnischen Zenturio, der um Hilfe für seinen Sklaven bittet (so Lk 7,2; bei Matthäus kann es ein junger Diener oder ein Sohn sein). Hier scheint der Mann dagegen ein Jude zu sein. Beide Erzählungen stimmen darin überein, dass die Heilung aus der Ferne erfolgt. Bei Matthäus und Lukas weilt auch Jesus in Kapernaum, soll aber nicht in das Haus eines Heiden gehen. Bei Johannes hält sich Jesus dagegen in Kana auf, was eine Heilung aus der Ferne noch erstaunlicher macht. Die Unterschiede sind so groß, dass kaum anzunehmen ist, dass Johannes die Geschichte aus den anderen Evangelien übernommen und umgeschrieben hat. Die Vermutung, dass es sich um unterschiedlich erzählte Versionen der gleichen Begebenheit handelt, liegt nahe.

Dieser Mann hörte, dass Jesus von Judäa nach Galiläa gekommen war (47). Zwar hat Johannes noch von keiner Heilung durch Jesus erzählt, aber er setzt voraus, dass die Menschen in Galiläa von solchen gehört haben (vgl. 2,23; 4,43). Deshalb macht sich der Mann in das ca. 25 km entfernte Kana auf und bittet ihn, nach Kapernaum herabzukommen (der Höhenunterschied betrug gut 400 m) und seinen Sohn zu heilen, der schwer krank im Sterben lag. Die Antwort Jesu ist merkwürdig harsch (48): Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht. Das klingt nicht nach einer verständnisvollen Antwort für einen Vater, der um das Leben seines Kindes bangt. Aber die Dialoge im Johannesevangelium sind ja keine wörtlichen Wiedergaben der jeweiligen Gespräche, sondern binden auch Reflektionen des Evangelisten ein. Mit der Bemerkung Jesu ist also nicht so sehr das Anliegen des Vaters zurückgewiesen, sondern das Problem eines Glaubens benannt, der von der Erfahrung wunderbarer Taten (Zeichen und Wunder) lebt. Allerdings verstehen manche den Satz eher positiv im Sinn von: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, werdet ihr niemals glauben (können) (vgl. Thyen, 291). Damit würde Jesus die Zeichen zu wichtigen Hilfen zum Glauben erklären. Die Bedeutung von Zeichen und Wundern bleibt im 4. Evangelium merkwürdig zweideutig. Einerseits wird immer wieder und ohne kritische Anmerkungen davon berichtet, dass Menschen durch Wunder zum Glauben kommen (2,11.23; 4,53; 7,31; 11,25.42.45; 12,11; 20,31). Andererseits kann das Verlangen nach Wundern als Begründung für den Glauben kritisiert (2,18; 4,48; 6,26f.30; 20,29) und die Tragfähigkeit eines solchen Glaubens infrage gestellt werden (2,24f; 3,2f; 12,37). Dennoch wird man nicht, wie

4,43–54

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manche meinen, sagen können, Johannes lehne den Glauben aufgrund von Wundern grundsätzlich ab. Dazu wird er zu häufig positiv erwähnt. Wichtig aber ist, dass der Zeichencharakter der Wunder beachtet wird. Sie weisen auf das wahre Wesen und die Bedeutung Jesu hin. Wo Menschen sich durch die Zeichen der Wunder zu ihm führen lassen, da finden sie auch zum echten Glauben (s. zu 20,29–31).

In der vorliegenden Erzählung wirkt die Bemerkung jedoch eher wie eine Zurückweisung als eine Ermutigung. Aber sowenig wie die Mutter Jesu in der ersten Geschichte aus Kana (2,4f), sowenig lässt sich dieser Vater davon entmutigen (49). Noch einmal sagt er: Herr, komm herab, bevor mein Sohn stirbt. Doch um helfen zu können, muss Jesus nicht erst den Tagesmarsch nach Kapernaum auf sich nehmen. Er sagt zu dem Vater: Mach dich auf den Weg, dein Sohn lebt (50). Das hätte auch ein leeres Versprechen sein können, um den Bittsteller loszuwerden. Aber der Mann vertraut Jesus. Er glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte, und ging los. Das ist ein Glaube, der sich auf Jesu Wort verlässt, bevor er ein Wunder sieht. Und er wird nicht enttäuscht (51). Noch als er unterwegs war, kamen ihm seine Diener entgegen und sagten: Dein Kind lebt. Der Mann will es genau wissen und fragt nach dem genauen Zeitpunkt (der Stunde), ab dem es seinem Sohn besser gegangen war. Die Diener können das genau sagen: Gestern um die siebte Stunde (gegen 13 Uhr) hat ihn das Fieber verlassen (52). Bei dieser Gelegenheit erfahren wir auch, welche Krankheit der Sohn hatte. (Wir würden heute an Malaria denken.) Aber das ist nicht mehr wichtig. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die Besserung genau zu dem Zeitpunkt (der Stunde) eingetreten war, in der Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt (53). Das aber hat eine klare Konsequenz: Der Mann kam zum Glauben und (mit ihm) sein ganzes Haus. Das ist eine eindeutige Aussage, wie sie im Johannesevangelium eher selten vorkommt. Die Wendung und (mit ihm) sein ganzes Haus erinnert an Berichte in der Apostelgeschichte, die erzählen, dass die Angehörigen eines ganzen Haushalts zum Glauben kommen (Apg 11,14; 16,31; 18,8). Damit wird auch signalisiert, dass der Glaube, von dem hier die Rede ist, kein vorläufiger oder oberflächlicher Wunderglaube ist. Das Wunder wurde zum echten Zeichen, das die Menschen, die es erlebten, zum Glauben an Jesus und damit zu wahrem Leben führte. Eine wichtige Bemerkung des Evangelisten schließt die Geschichte ab (54). Das wiederum tat Jesus als zweites Zeichen, als er von Judäa nach Galiläa gekommen war. Der Kreis dieses Erzählkranzes schließt sich: Am Anfang stand als erstes Zeichen das »Luxus-

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wunder« in Kana, in dem Gottes Herrlichkeit aufleuchtet und das die Jünger zum Glauben führte. Nun wurde ein Kind aus Todesgefahr gerettet, ein Zeichen, durch das eine Familie zum Glauben findet. Nur diese beiden Zeichen werden gezählt. Die Wunder, die in Jerusalem geschahen, stehen innerhalb dieser Klammer. (In dieser merkwürdigen Zählweise sehen viele Ausleger ein Indiz dafür, dass der Evangelist eine schriftliche Quelle, die sog. Zeichenquelle, verwendet hat, die vor allem Wunder Jesu berichtete und an deren Beginn diese beiden Erzählungen standen; vgl. dazu die Zusammenfassung in Band 2.) 1. Dies ist eine Geschichte vom Glauben. Sie beginnt mit der Erwartung der Menschen in Galiläa, dass Jesus auch bei ihnen demonstrieren würde, zu welchen Wundertaten er in der Lage ist. Einer, der wirklich um Hilfe für den todkranken Sohn bittet, muss daher zunächst Jesu Kritik an der Wundersucht der Menschen aushalten. Aber wie der Hauptmann von Kapernaum und die Frau aus Syrophönizien (Mt 15,21–28; Mk 7,24–30) lässt er sich von der Ablehnung Jesu nicht abschrecken. Er bleibt bei seiner vertrauensvollen Bitte, und die wunderbare Hilfe, die er erfährt, führen ihn und seine Familie zum Glauben an Jesus. Wir erleben hier so etwas wie einen »Zirkel des Glaubens«: Aus einem Vertrauen, das sich an Jesus als letzter Hoffnung in der Not festhält, erwächst durch die Erfahrung der Hilfe das Geschenk des Glaubens, eines Glaubens, der auch tragfähig bleibt, wenn solche Erfahrungen ausbleiben. Das Wunder ist ein Zeichen, das weiter weist. 2. Dies ist eine Geschichte von Jesu Vollmacht. Sog. Fernheilungen werden auch im Alten Testament (2Kön 5,1–19) und von zeitgenössischen jüdischen und heidnischen Wundertätern berichtet. In der Jesusüberlieferung finden sie sich in den beiden verwandten Geschichten vom Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5–13 par Lk 7, 1–10) und von der syrophönizischen Frau (Mt 15,21–28 par Mk 7, 24–30). In allen geht es um Hilfe für das eigene Kind oder einen vertrauten Diener. Sie zeigen: Jesu Vollmacht überbrückt räumliche Distanzen genauso wie soziale oder religiöse Barrieren. 3. Es ist auch eine menschliche Geschichte. Im Mittelpunkt steht ein tief besorgter Vater. Väter, die für ein krankes Kind kämpfen, tauchen im Evangelium an verschiedenen Stellen auf (vgl. Jairus in Mk 5,21– 43 und den Vater des besessenen Jungen in Mk 9,14–29). Bis heute lässt sich beobachten, dass Väter schwer kranker Kinder mit großer Hartnäckigkeit nach Möglichkeiten suchen, ihr Kind zu retten. Der unerschütterliche Glaube, von dem diese und ähnliche Geschichten erzählen, hat also auch eine menschliche Dimension. Und doch ist es nicht die Kraft des positiven Denkens, um die es geht, sondern das

5,1 – 6,71

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Geschenk des tiefen Vertrauens, das Jesus in einem Menschen erweckt. Oder, wie der Vater des besessenen Jungen sagt: »Ich glaube! Hilf meinem Unglauben« (Mk 9,24). Auch diese Geschichte findet ein glückliches Ende. Dein Sohn lebt – diese frohe Botschaft wird in der Geschichte dreimal ausgesprochen, zuerst als Zusage Jesu und dann als staunende und dankbare Nachricht der Zeugen. Jesus schenkt Leben, wo tödliche Gefahr droht. Auch heute erleben Eltern, dass Kinder durch die Gnade Gottes und die Kunst der Ärzte von tödlicher Krankheit geheilt werden und ihr Leben neu geschenkt bekommen. Was aber bewirkt das im Leben der Betroffenen? 5,1 – 6,71 Auseinandersetzungen in Jerusalem und in Galiläa Die Kap. 5 und 6 schließen sich unmittelbar an Kap. 2–4 an und bilden zusammen mit ihnen den ersten großen Abschnitt des ersten Hauptteils des Evangeliums. Jesus setzt seine Pendelbewegung zwischen Galiläa und Jerusalem fort: War er nach 4,43–54 gerade nach Galiläa zurückgekehrt, so führt ihn Kap. 5 wieder nach Jerusalem, während der Schauplatz von Kap. 6 erneut Galiläa sein wird. Erst in 7,1–13 begibt sich Jesus endgültig nach Jerusalem. Dabei bilden Kap. 5 und 6 in gewisser Weise ein Kontrastprogramm zu Kap. 2–4. Waren dort die Zeichen Jesu Anlass dafür, dass Menschen zum Glauben kamen, so sind sie hier Anlass zu mehr oder weniger heftigen Auseinandersetzungen. Kap. 5 spricht von einer Heilung und ihren Folgen. Vom Glauben des Geheilten ist nicht die Rede. Stattdessen kommt es zum Disput über Jesu Vollmacht, an dessen Ende die Verwunderung über den Unglauben der Gegner Jesu steht. In Kap. 6 ist es die wunderbare Brotvermehrung, aufgrund derer Jesus sich als Brot des Lebens offenbart. Das aber findet heftigen Widerspruch, und am Schluss steht das Bekenntnis des Petrus, aber auch die Ankündigung des Verrats des Judas (6,69–71). Wohin führt der Weg Jesu? Allerdings gibt es unter den Auslegern erhebliche Zweifel, ob dies die ursprüngliche Reihenfolge der Erzählung war. Vor allem der abrupte Übergang von 5,47 (Jesus diskutiert in Jerusalem) zu 6,1 (Danach ging Jesus weg auf die andere Seite des Sees von Galiläa) lässt fragen, ob das der ursprüngliche Zusammenhang gewesen sein kann. Stünde Kap. 6 vor 5, würde sich ein nahtloser Übergang von 4,54 zu 6,1 ergeben: Jesus fährt auf

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5,1–47

die Ostseite des Sees und kehrt 6,17 wieder auf die andere Seite zurück, wo Kapernaum liegt. 5,1 würde dann Jesu erneuten Aufbruch nach Jerusalem schildern. Daran könnte sich 7,1ff anschließen. Allerdings würde sich als Weiterführung von 5,47 auch 7,15–24 anbieten, wo sich die Diskussion unmittelbar fortzusetzen scheint. 7,1–14 würde dann von einem kurzen Zwischenaufenthalt in Galiläa berichten, dem eine erneute Reise nach Jerusalem zum Laubhüttenfest folgt. Davon berichtet dann 7,25ff. Die ursprüngliche Reihenfolge wäre also 6,1–71; 5,1–47; 7,15–24.1–14.25–52; 8, 12–59 gewesen. Diese Rekonstruktion löst nicht alle Probleme (so bleibt der Neuansatz in 7,1 unmotiviert), scheint aber plausibel. Gegen sie sprechen jedoch zwei Argumente: 1. In keiner Handschrift findet sich auch nur eine Andeutung, dass es ursprünglich eine andere Reihenfolge gab. Der Text müsste also schon vor seiner Veröffentlichung in Unordnung geraten sein. 2. Es ist schwer zu erklären, warum die Reihenfolge geändert worden ist. Eine ungewollte Blattvertauschung, die oft als mögliche Ursache genannt wird, ist unwahrscheinlich, weil man in der Antike die Seiten kontinuierlich beschrieb, die Blätter also nicht mit einem neuen Sinnabschnitt begannen. Wir erklären den Text deshalb in seiner überlieferten Reihenfolge.

5,1–47 Eine Heilung und ihre Folgen Von seiner äußeren Struktur her ist Kap. 5 eine geschlossene Einheit. Am Anfang steht die Geschichte der Heilung eines Kranken am Teich Bethesda, die mit V. 9a stilgerecht endet. Mit der nachgetragenen Information, dass die Heilung am Sabbat erfolgt ist (9b), wird ein neuer Diskussionsgang eröffnet. Es geht um die Frage, warum Jesus das Gebot der Sabbatheiligung missachtet. Der Disput darüber geht bis V. 18. Für Johannes bilden beide Teile der Geschichte eine innere Einheit. V. 17 bringt aber schon das Stichwort für die nächste Auseinandersetzung. In ihr geht es um die Vollmacht Jesu und sein Verhältnis zu Gott. Die Diskussion darüber läuft von V. 19 bis zum Schluss ohne erkennbare Unterbrechung. Aber es gibt zwei thematische Schwerpunkte: Die V. 19–30 sprechen von der Übereinstimmung des Handelns Jesu mit dem Willen Gottes, während die V. 31–47 die Zuverlässigkeit des Zeugnisses Jesu betonen. Das führt zur folgenden Einteilung des Kapitels: 5,1–18 5,19–30 5,31–47

Die Heilung eines Kranken am Sabbat Die Vollmacht des Menschensohns Zwischen Verteidigung und Anklage

5,1–18

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5,1–18 Die Heilung eines Kranken am Sabbat 5 1Danach war ein Fest der Juden, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. 2Es gibt aber in Jerusalem beim Schafs(tor) einen Teich, auf Hebräisch Bethesda genannt, zu dem fünf Säulenhallen gehören. 3a In ihnen lagen eine Menge von Kranken, Blinden, Lahmen und an Auszehrung Leidenden. 5Es war dort aber auch ein Mensch, der schon 38 Jahre unter seiner Krankheit litt. 6Als Jesus den liegen sah und erkannte, dass er schon so lange Zeit (zu leiden) hatte, sagt er zu ihm: Willst du gesund werden? 7Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich tragen könnte, wenn das Wasser bewegt wird. Wenn ich aber komme, steigt (schon) ein anderer vor mir hinein. 8Sagt zu ihm Jesus: Stehe auf, nimm deine Matte und geh umher. 9Und der Mann wurde sofort gesund und nahm seine Matte und ging umher. Es war aber Sabbat an jenem Tag.10Da sagten die Juden zu dem Geheilten: Es ist Sabbat, und es ist dir nicht gestattet, deine Matte zu tragen. 11Der aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, der hat zu mir gesagt: Nimm deine Matte und geh umher! 12Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm (sie) und geh umher!? 13Der Geheilte aber wusste nicht, wer es war, denn Jesus war verschwunden, weil eine Volksmenge an dem Ort war. 14Danach findet ihn Jesus im Heiligtum und sagte zu ihm: Sieh, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nichts Schlimmeres widerfährt. 15Der Mensch ging weg und berichtete den Juden, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hat. 16Und deshalb verfolgten die Juden Jesus, weil er das am Sabbat getan hatte. 17 Jesus aber antwortete ihnen: Mein Vater ist bis jetzt am Wirken, und (so) bin auch ich (immer) am Wirken. 18Deshalb also suchten die Juden umso mehr, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat abschaffte, sondern auch Gott seinen eigenen Vater nannte, womit er sich Gott gleich machte. Einige Zeit danach steht ein Fest der Juden vor der Tür (1). Die Formulierung zeigt: Die Gemeinde des Johannes feiert es nicht mehr. Hier sagt der Evangelist nicht, um welches Fest es sich handelt. Zwischen Passahfest (2,13) und Laubhüttenfest (7,2) findet das Wochen- bzw. Pfingstfest (50 Tage nach Passah) statt (Lev 23,15–21). Es gehört zu den drei Festen, an denen »alles, was männlich ist, vor dem Herrn erscheinen«, also zum Tempel in Jerusalem pilgern soll (Dtn 16,16). So geht auch Jesus hinauf nach Jerusalem, das zu den am höchsten gelegenen Städten des Landes gehört.

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5,1–18

Doch zunächst stellt der Evangelist den Ort der Handlung vor (2). Er liegt in Jerusalem beim Schafstor. Dieses Tor lag im Norden der Stadtmauer und führte direkt zum Tempelareal. Es hieß so, weil die Opfertiere durch dieses Tor zum Tempel gebracht wurden. Dort gab es einen Teich, auf Hebräisch Bethesda genannt. Bei Ausgrabungen in dieser Gegend unter der mittelalterlichen St. Annenkirche wurde eine ca. 5000 qm große Doppelteichanlage mit zwei großen Wasserbecken freigelegt. In ihnen wurde Regenwasser für den Tempel gesammelt, möglicherweise gab es auch eine unterirdische Quelle. Eines der Becken wurde wohl auch als Miqwe für rituelle Tauchbäder benutzt. Der hebräische bzw. aramäische Name der Anlage ist in den Handschriften unterschiedlich überliefert. Aber wahrscheinlich hieß er Bethesda, nach volkstümlicher Etymologie Haus der Gnade. Die fünf Säulenhallen könnten an den vier Seiten der Anlage und auf dem Damm, der zwischen beiden Becken lag, gestanden haben. Allerdings wurden bei den Ausgrabungen keine Spuren von ihnen gefunden. Einige Zeit nach der Zerstörung der Anlage bei der Eroberung Jerusalems wurde an der Stelle ein Heiligtum für den Heilgott Äskulap errichtet. Das lässt darauf schließen, dass es eine Ortstradition gab, die dem Wasser heilende Kraft zuschrieb.

In den fünf Hallen dieser Anlage hielten sich viele kranke und behinderte Menschen auf (3). Mit knappen Worten wird ein Bild des Elends gezeichnet: Kranke sind da, Blinde, die das Augenlicht verloren haben, durch Unfall oder Krankheit Gelähmte und Leute, die durch ein chronisches Leiden völlig abgemagert sind (an Auszehrung Leidende). Sie alle erwarten Hilfe. Dass – wie viele Ausleger meinen – die Zahl fünf symbolisch für die Bücher der Tora steht, in denen das kranke Israel vergeblich auf Heilung wartet, ist durch nichts angedeutet. Spätere Handschriften fügen als Erklärung in V. 3b und 4 ein, dass die Kranken auf die Bewegung des Wassers warteten. Denn ein Engel (des Herrn) stieg von Zeit zu Zeit in den Teich hinab und ließ das Wasser aufwallen. Wer nun zuerst hineinstieg nach dem Aufwallen des Wassers, wurde gesund, mit welcher Krankheit er auch behaftet war. Aber keine der älteren Handschriften enthält diese Sätze. Es handelt sich um eine spätere Zufügung, die im Stil der Legende ausführt, was in V. 7 zur heilenden Wirkung des Wassers angedeutet wird.

Dann aber wird die Person vorgestellt, um die es geht: ein Mensch, der schon 38 Jahre unter seiner Krankheit litt (5). Über die Art der Krankheit wird nichts Näheres gesagt, aber offensichtlich war der Mann aufgrund seiner Krankheit nicht in der Lage, selbständig zu gehen (V. 7f). Der griechische Text spricht sehr plastisch davon, dass der Mann schon so lange in seiner Krankheit

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wie in einem Gefängnis leben musste. Auch für die Dauer der Krankheit schlagen manche Exegeten eine symbolische Deutung vor, da nach Dtn 2,14 auch Israel 38 Jahre in der Wüste herumirrte (doch vgl. Dtn 2,7: 40 Jahre). Aber dafür gibt es keinen Anhaltspunkt in der Geschichte selbst. Die 38 Jahre gehören zur Schilderung der Not und zeigen die extrem lange Zeit und die Aussichtslosigkeit des Leidens. Jesu Weg führt ihn durch die Hallen voll kranker Menschen, und sein Blick fällt auf diesen Mann (6). Und natürlich weiß bzw. erkennt Jesus, wie es um den Mann steht und dass er schon so lange Zeit (zu leiden) hatte. Darum wendet er sich an ihn. Aber die Frage, die er stellt, überrascht: Willst du gesund werden?, fragt er. Darf man das einen chronisch kranken Menschen fragen, der schon 38 Jahre an seiner Krankheit leidet? Ist das nicht unbarmherzig? Oder ist diese Frage der Schlüssel zu jeder Heilung? Ist wirklich gesund werden zu wollen zwar keine Garantie, wohl aber die notwendige Voraussetzung dafür? Wer resigniert alle Hoffnung aufgegeben hat oder – meist unbewusst – von einem heimlichen »Krankheitsgewinn« zehrt, hat wenig Aussicht auf Heilung, trotz aller therapeutischen Bemühungen. Und vielleicht steckt für den Evangelisten in dieser Frage noch ein tieferer Sinn. Fragt Jesus nicht alle: Willst du geheilt werden von der tödlichen Krankheit, in der dein Leben gefangen ist, und wahres, ewiges Leben empfangen? Das bleibt zunächst offen. Der Kranke jedenfalls hört in der Frage einen Vorwurf: Warum hast du die heilenden Kräfte dieses Teiches nicht besser genutzt? Und so entschuldigt er sich (7): Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich tragen könnte, wenn das Wasser bewegt wird. Es scheint also in dem Teich eine intermittierende Quelle gegeben zu haben, oder das Wasser hat sich bewegt, wenn es für den Tempel abgeleitet wurde. Jedenfalls hat man dem Wasser für diesen Augenblick besondere heilende Kräfte zugeschrieben, allerdings – so scheint es – nur für die ersten, die dann ins Wasser stiegen. Denn der Kranke fährt fort: Wenn ich aber komme, steigt (schon) ein anderer vor mir hinein. Er ist also nicht völlig bewegungsunfähig; aber bis er sich zum Teich geschleppt hat, ist ihm schon lange ein anderer zuvorgekommen. Der spätere Nachtrag in V. 3b.4 führt die Bewegung des Wassers und seine heilende Kraft auf das Herabkommen eines Engels zurück. Eine klare Antwort hat Jesus auf seine Frage nicht erhalten. Indirekt sagt der Kranke: Ich möchte schon, aber ich habe niemand, der mir hilft; ich habe keinen Menschen. Diesen Notschrei hört Jesus und sagt ganz einfach (8): Stehe auf, nimm deine Matte und geh umher. Das heißt: Ich gebe dir die Kraft, dich aufzurichten. Deine Matratze ist nicht mehr dein Gefängnis, sondern eine Schlaf-

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gelegenheit, die du mitnimmst, wo immer du willst (die meisten Übersetzungen schreiben hier Bett; aber das »Bett des kleinen Mannes«, das das griechische Wort meint, ist sicher eher eine Matte oder Matratze, die auf den Boden gelegt wird). Und dann geh umher: Du kannst dich bewegen, wie du willst, du bist frei. Das Wunder geschieht. Ganz knapp stellt der Erzähler fest (9): der Mann wurde sofort gesund und nahm seine Matte und ging umher. Mehr ist nicht zu sagen! Eine neue Etappe der Erzählung (9b–18) beginnt mit einer überraschenden Nachbemerkung: Es war aber Sabbat an jenem Tag. Davon war bisher nicht die Rede, und wahrscheinlich wurde die Geschichte ursprünglich ohne diesen Aspekt erzählt. Jetzt aber wird aus der Heilungsgeschichte eine Konfliktgeschichte. Die Juden, die hier wie eine Art Aufsichtsbehörde erscheinen, stellen den Geheilten (der ja auch Jude war) zur Rede (10): Es ist Sabbat, und es ist dir nicht gestattet, deine Matte zu tragen. Der Konflikt entsteht also zunächst nicht daran, dass Jesus den Kranken geheilt hat, sondern dass er am Sabbat seine Matratze wegträgt. Das Tragen von Lasten aber gehörte zu den »Arbeiten«, die nach Ansicht der Rabbinen am Sabbat verboten waren. Das Gebot, den Sabbat als siebten Tag der Woche zu heiligen und an diesem Tag keine Arbeit zu verrichten, ist eines der Grundgebote Israels. Es gehört zu den Zehn Geboten und wird in beiden Fassungen des Dekalogs ausführlich begründet (Ex 20,8–11; Dtn 5,12–15). Seine Übertretung wird mit der Todesstrafe geahndet (Ex 31,12–17; 35,2; Num 15,32–36). Ursprünglich wurde das Gebot damit begründet, dass es ermöglicht, sich von der Arbeit zu erholen, wovon auch Tiere, Sklaven und Fremde profitieren sollten (Ex 23, 12). Seit dem Exil und vor allem in der Diaspora wurde das Halten des Sabbats zu einem jüdischen Identitätsmerkmal. Sehr strenge Vorschriften für das Halten des Sabbats galten in der Gemeinschaft von Qumran, während die Pharisäer und das Rabbinat durch eine Fülle von Zusatzvorschriften ein unbeabsichtigtes Übertreten des Sabbatgebots verhindern wollten, aber auch darauf achteten, dass seine Einhaltung praktikabel blieb. Dass Jesu freie Interpretation des Sabbatgebots eine der Ursachen für den tödlichen Konflikt mit den herrschenden jüdischen Kreisen war, bezeugen die Evangelien einhellig. Besonderen Anstoß erregte, dass er am Sabbat heilte (vgl. Mk 2,23 – 3,6 par Mt 12,1–14; Lk 6,1–11; Lk 13,10–17; Joh 5,9–18; 7,22f; 9,1–16). Worum es ihm dabei ging, zeigt Mk 2,27: »Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen«. Er wollte nicht den Sabbat abschaffen, sondern seine ursprüngliche Bestimmung, Wohltat für den Menschen zu sein (Mk 3,4), wiedergewinnen.

Der zur Rede Gestellte verteidigt sich mit dem Hinweis auf die Anweisung, die Jesus ihm gegeben hat (11): Der mich gesund gemacht hat, der hat zu mir gesagt: Nimm deine Matte und geh

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umher! In dieser Antwort liegt ein tiefer Sinn: Die heilende Tat Jesu und die Aufforderung, das Leidenslager wegzuschaffen und sich frei zu bewegen, gehören zusammen – auch wenn das den gängigen religiösen Regeln widerspricht. Doch den Fragern bleibt dieser Zusammenhang verborgen. Sie forschen weiter nach (12): Wer ist denn der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm (sie) und geh umher!? Aber der Geheilte kann auf diese Frage nicht antworten (13). Denn er wusste nicht, wer es war. Auch darin steckt eine typisch johanneische Doppelsinnigkeit. Einerseits heißt das einfach, dass der Mann nicht wusste, wer ihn geheilt hat. Andererseits klingt Jesu Wort an die Samaritanerin nach: »Wenn du wüsstest, wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken?« (4,10). Der Mann weiß nicht nur den Namen Jesu nicht; er weiß vor allem nicht, wer der wirklich ist, der ihn geheilt hat. Die Begründung dafür bleibt aber zunächst auf der äußerlichen Ebene: Jesus war verschwunden, und der Mann hatte ihn aus den Augen verloren, weil eine Volksmenge an dem Ort war. Doch es kommt zu einer neuen Begegnung zwischen den beiden (14). Etwas später findet ihn Jesus im Heiligtum (also auf dem Tempelgelände). Ob er ihn gesucht hat oder in der Menge trifft, bleibt offen (vgl. 1,43). Jedenfalls ergreift Jesus die Initiative und sagt zu dem Geheilten: Sieh, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nichts Schlimmeres widerfährt. Diese Aussage überrascht und erinnert an den Zuspruch der Sündenvergebung für den Gelähmten in Mk 2,1–12 vor dessen Heilung. Heißt das, dass die lange Krankheit des Mannes auf eine schwere Sünde zurückzuführen ist? Einerseits wird im Alten wie im Neuen Testament ein innerer Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit gesehen (Ps 103,3; Sir 38,9f; 1Kor 11,30; Jak 5,16). Körperliches Leiden kann durch schuldhaftes Verhalten verursacht werden und Symptom für die Gebrochenheit menschlicher Existenz durch die Entfremdung von Gott sein. Andererseits verneint Jesus in 9,2 einen Zusammenhang von individueller Schuld und Krankheit. Auch an unserer Stelle bezeichnet er die Sünde nicht als Ursache der Krankheit. Er fordert den Geheilten auf, seine Heilung nicht nur als »Symptomheilung« zu sehen, durch die er wieder gehen kann, sondern als Heilwerden des ganzen Menschen, durch das auch das Verhältnis zu Gott geheilt ist. Sündige nicht mehr heißt also: Lebe so, wie es deiner heil gewordenen Gemeinschaft mit Gott entspricht. Und die warnende Begründung: damit dir nichts Schlimmeres widerfährt, weist nicht

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auf eine noch schlimmere Krankheit, sondern auf die Gefahr, die Lebensgemeinschaft mit Gott ganz zu verspielen. Das aber scheint der Mann nicht zu verstehen (15). Er ging weg und berichtete den Juden, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hat. Die Ausleger rätseln über die Bedeutung dieses Schrittes. Noch einmal sagt der Mann ganz klar, was Jesus für ihn getan hat. War das ein Bekenntnis zu ihm, wie es in Kap. 9 der Blindgeborene so mutig für Jesus ablegt? Oder verrät der Geheilte hier seinen Wohltäter? Der Evangelist lässt das merkwürdig offen – eine der vielen Stellen im Evangelium, die einen Impuls zum Nachdenken geben und zur eigenen Entscheidung herausfordern. Die Konsequenz freilich ist eindeutig negativ. Der Erzähler stellt ganz knapp fest (16): Und deshalb verfolgten die Juden Jesus, weil er das am Sabbat getan hatte. Was hat Jesus getan? Jetzt geht es nicht mehr nur um das Tragen der Matratze. Jesus hat am Sabbat geheilt! Kann, ja darf das als etwas gesehen werden, was dem Willen Gottes widerspricht? Aber plötzlich ist Jesus im Gespräch mit seinen Gegnern (17). Er nimmt ihren unausgesprochenen Vorwurf, er handle gegen Gottes Gebot, auf und antwortet: Mein Vater ist bis jetzt am Wirken und (so) bin auch ich (immer) am Wirken. Eine ganz neue Dimension der Frage tut sich damit auf. Jesus, der Mensch, der das getan hat (vgl. V. 12), beruft sich auf Gott und nennt ihn: mein Vater. Gott aber ist bis jetzt, also noch immer, unaufhörlich, am Wirken. Dass Gott am siebten Tag »von allen seinen Werken ruhte« (Gen 2,3), bedeutet nicht, dass er sich von dieser Welt zurückzieht. Auch die Rabbinen waren überzeugt, dass Gott mit seinem richterlichen Handeln selbst am Sabbat die Welt regiert. Für Jesus aber gilt dies auch im Blick auf Gottes schöpferisches und rettendes Wirken. Doch der Skandal besteht darin, dass er sich mit der Aussage: und (so) bin auch ich (immer) am Wirken Gott gleichstellt. Das führt zum entschiedenen Widerstand seiner Gegner (18): Deshalb suchten die Juden umso mehr, ihn zu töten. Aus der Verfolgung wird der erklärte Wille, Jesus zu töten. Auch in Mk 3,6 wird berichtet, dass die Gegner Jesu nach einer Heilung am Sabbat sehr früh den Beschluss fassten, »ihn umzubringen«. Hier werden noch andere Gründe genannt. Jesus soll eliminiert werden, weil er nicht nur den Sabbat abschaffte (wörtlich: auflöste), sondern auch Gott seinen eigenen Vater nannte, womit er sich Gott gleichmachte. Es ist nicht nur der gelegentliche Bruch des Sabbats, der Jesus vorgeworfen wird. Gegen ihn spricht, dass er mit seiner Argumentation das Sabbatgebot als Ganzes auflöst und damit den Sabbat abschafft. Vielleicht steht im Hintergrund dieses Vorwurfs auch

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die Tatsache, dass die christlichen Gemeinden zur Zeit des Johannes den Sabbat nicht mehr hielten. Viel schwerer aber ist der Vorwurf, dass Jesus Gott seinen eigenen Vater nannte, sich also nicht allgemein unter die Israeliten als Gottes Kinder eingereihte, sondern exklusiv von meinem Vater sprach. Damit aber machte er sich Gott gleich. Das ist Gotteslästerung, und die muss nach Lev 24,16 mit dem Tod bestraft werden. Dieser Vorwurf wird noch zweimal (10,33; 19,7) gegen Jesus erhoben. An unserer Stelle geben die V. 17f auch die Stichworte für die folgenden beiden Abschnitte, in denen die Wesens- und Willenseinheit Jesu mit Gott erklärt werden. Manche Ausleger ziehen deshalb die V. 16–18 schon zum nächsten Abschnitt. Aber V. 18 markiert deutlich das Ende der Sabbatkontroverse. Es handelt sich um typische Übergangs- und »Scharnier«-Verse. Drei Zitate zeigen die Brennpunkte des Textes auf und regen zum Weiterdenken an. 1. Die Frage: Willst du gesund werden? an einen Menschen gerichtet, der so lange krank war, scheint unnötig und unsensibel. Aber viele Ärzte betrachten dies als die entscheidende Frage jeder Heilung. Das bedeutet nicht, dass denen, die nicht geheilt werden, mangelnder Willen zur Heilung vorgeworfen wird. Der Wille, gesund zu werden, ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine Heilung. Auch den blinden Bartimäus fragt Jesus: »Was willst du, dass ich dir tun soll?« (Mk 10,51; vgl. Mt 20,32). Jesus heilt nicht ungefragt. Und als Bartimäus antwortet: »Dass ich wieder sehe«, sagt Jesus zu ihm: »Geh! Dein Glaube hat dich geheilt« (Mk 10,52; vgl. auch 5,34). Von Glauben kann freilich bei dem Geheilten in unser Geschichte keine Rede sein. So blieb seine Heilung eher eine »Symptomheilung«: Der Körper funktioniert wieder, aber der Mensch ist nicht heil geworden. Was für die Heilung gilt, gilt auch für das Heil der Menschen: Gott rettet nicht ungefragt. Die Frage nach dem Glauben ist keine Aufforderung, durch die Kraft unseres positiven Denkens an unserer Rettung mitzuwirken. Aber sie fragt, ob wir offen sind für Gottes Wirken. Oder, wie der Kirchenvater Augustin (354–430) gesagt hat: »Der dich ohne dich geschaffen hat, rechtfertigt dich nicht ohne dich« (Sermo 169 zu Phil 3,3–16, XI,13). Er fragt: Willst du gerettet werden? 2. Die Antwort: Ich habe keinen Menschen, könnte als Ausflucht erscheinen. Ich möchte ja schon, aber … . Zugleich aber ist es der Ausdruck der tiefen Einsamkeit, in die chronisch Kranke geraten können. Der Mann wird zum Gegenbild des Gelähmten in Mk 2,1–12, den seine vier Freunde auch über Hindernisse hinweg zu Jesus bringen. Der Mann am Teich Bethesda hatte keinen Menschen – vielleicht er-

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klärt das auch ein wenig sein späteres merkwürdiges Verhalten. Jesus wird für den Mann zu dem Menschen, den er braucht, so wie der barmherzige Samariter dem unter die Räuber Gefallenen zum Nächsten wurde. Die Geschichte spricht keine Mahnung aus. Aber sie setzt einen starken Impuls, sich nach Leuten umzuschauen, die keinen Menschen haben und doch so dringend Hilfe brauchen. 3. Jesus verteidigt sein Verhalten am Sabbat mit den Worten: Mein Vater ist bis jetzt am Wirken, und so bin auch ich immer am Wirken. Indirekt ist dies eine Antwort auf die Frage, die in Mk 3,4 gestellt wird: »Was ist am Sabbat erlaubt: Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten?« (EÜ). Gott ist ein Freund des Lebens (Weish 11,26), und was immer dem Leben dient, ist am Sabbat erlaubt. Dafür steht auch Jesus mit seinem Wirken. So wie Gott auch am Sabbat diese Welt erhält, so verhält sich auch der Sohn, der in seinem Auftrag handelt. Deshalb muss er auch am Sabbat zum Wohl und zum Heil der Menschen wirken. Oder wie es in Mk 2,28 heißt: »Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat.« Folgerichtig handelt der nächste Abschnitt von der Vollmacht des Menschensohns. 5,19–30 Die Vollmacht des Menschensohns 19

Jesus antwortete nun und sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, wenn er es nicht den Vater tun sieht. Denn was immer jener tut, das tut auch der Sohn in gleicher Weise. 20Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er selbst tut, und wird ihm noch größere Werke als diese zeigen, damit ihr euch wundert. 21Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will. 22Denn der Vater richtet auch niemand, sondern hat das ganze Gericht dem Sohn übergeben, 23damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Denn wer den Sohn nicht ehrt, ehrt (auch) den Vater nicht, der ihn gesandt hat. 24Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tod ins Leben hinübergegangen. 25Amen, amen, ich sage euch: Es kommt eine Stunde und ist jetzt (schon da), in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden und die, die hören, werden leben. 26 Denn wie der Vater Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben in sich zu haben. 27Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er (der) Menschensohn ist. 28Wundert euch nicht darüber. Denn es kommt eine Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören, 29und die das Gute getan haben,

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werden herausgehen zur Auferstehung zum Leben, die aber das Schlechte getan haben zur Auferstehung zum Gericht. 30Ich kann nichts von mir selbst aus tun; wie ich höre, (so) richte ich, und mein Urteil ist gerecht, denn ich suche nicht meinen eigenen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. In 5,19–30 nimmt Jesus zu dem Vorwurf Stellung, er würde sich Gott gleichmachen. Er tut dies in einem langen Monolog, der aber auch dialogische Elemente aufweist. Doch dort, wo die Hörer angeredet werden (V. 20.28), zeigt sich, dass die Adressaten nicht nur die Gegner Jesu sind, sondern alle, die das Evangelium lesen oder hören. Auf den ersten Blick erscheint die Argumentation etwas unübersichtlich. Aber bei näherem Zusehen ist der Abschnitt sehr sorgfältig aufgebaut. Herzstück sind drei feierlich mit doppeltem Amen eingeleitete Worte (V. 19.24.25). V. 19 und 30 sagen inhaltlich das Gleiche und bilden so eine Klammer um den Abschnitt. Auch V. 21f und 26f sind formal (wie der Vater … so der Sohn) und inhaltlich parallel. Mit V. 24 und 25 stehen zwei der Amen-Worte in der Mitte. V. 24 beschließt die erste Argumentationsreihe, während V. 25 parallel dazu die zweite eröffnet. Diese konkretisiert, was in der ersten grundsätzlich gesagt wurde. Beide Reihen werden durch Worte Jesu im Ich-Stil abgeschlossen, während er sonst (ähnlich wie in 3,13–21) von sich in der dritten Person spricht. Auch V. 28, den manche Ausleger als Einschub ansehen (s.u.), erweist sich durch das Motiv des Wunderns und die persönliche Anrede als Parallele zu V. 20 und fügt sich so in die Ringkomposition ein. Hier eine graphische Darstellung der wichtigsten Beziehungen: 19 Amen, amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, … 20 …, damit ihr euch wundert. 21 Denn wie der Vater … lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig … 22 … denn er hat das ganze Gericht dem Sohn übergeben, 24

Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört … hat ewiges Leben und … ist vom Tod ins Leben hinübergegangen.

30 Ich kann nichts von mir selbst aus tun; … 28

Wundert euch nicht darüber: Denn wie der Vater Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben in sich zu haben. 27Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten … 25 Amen, amen, ich sage euch, dass … die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden und die, die hören, werden leben. 26

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Ohne dass erklärt wird, wie Jesus von den Plänen seiner Gegner erfahren hat, antwortet Jesus auf ihre Anklage (19). Dabei redet er zunächst – wie oft bei Johannes – von sich in der dritten Person. Es geht nicht um die subjektive Meinung Jesu, sondern um das, was grundsätzlich von dem Sohn gilt. Das wird durch das doppelte Amen besonders hervorgehoben: Amen, amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, wenn er es nicht den Vater tun sieht (vgl. Mt 11,27; Lk 10,22). Jesu Wort nimmt zunächst gleichnishaft die Erfahrung einer Handwerkerfamilie der damaligen Zeit auf. Der Sohn lernt das Handwerk bei seinem Vater, indem er genau beobachtet, was dieser tut, und es dann so macht, wie er es beim Vater gesehen hat: Denn was immer jener tut, das tut auch der Sohn in gleicher Weise. Vater und Sohn arbeiten Hand in Hand, und ihr Werk lässt sich nicht unterscheiden. Die Zuneigung des Vaters zum Sohn zeigt sich in dieser Lern- und Arbeitsgemeinschaft (20): Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er selbst tut. Aber wie meist bei Gleichnissen im 4. Evangelium wird nicht zuerst das alltägliche Geschehen geschildert und dann auf die Sache angewandt, sondern die Sache ist gleich mit dem Bild verwoben: Nicht irgendein Handwerkersohn ist gemeint, sondern der Sohn, das heißt Jesus als der einzigartige Repräsentant Gottes, des Vaters. Er stellt sich nicht Gott gleich, aber in dem, was er tut, wirkt der Vater. Wenn also Jesus einen Langzeitkranken am Sabbat heilt, dann ist das Ausdruck der Liebe Gottes, aus der heraus der Sohn handelt. Der Nachsatz durchbricht dann vollends den Rahmen des Gleichnisses: Der Vater wird dem Sohn noch größere Werke als diese zeigen. Damit sind keine noch spektakuläreren Wunder gemeint. Wie V. 21 zeigt, geht es darum, dass der Sohn zum Herrn über Leben und Tod eingesetzt wird. Die Auferweckung des Lazarus (Kap. 11) wird das äußere Zeichen dafür sein. Das aber wird geschehen, damit ihr euch wundert. Sich wundern beschreibt im Johannesevangelium meist das ungläubige Staunen der Juden angesichts des anstößigen Handelns Jesu (vgl. 7,15.21). Aber hier dürfte der positive Anstoß gemeint sein, den Jesu Wunder bieten, also ein Staunen, das noch unentschieden zwischen Glaube und Unglaube schwankt. Worum es wirklich geht, macht V. 21 mit einer ersten Erläuterung klar. Nun wird der entscheidende Aspekt der Willens- und Wirkenseinheit von Vater und Sohn beschrieben: Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will. Dass Gott »töten und lebendig machen kann« gehört zu den Grundaussagen über seine Macht im

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Alten Testament (Dtn 32,39; 1Sam 2,6). Dort bedeutete lebendig machen Rettung aus tödlicher Krankheit oder tödlicher Bedrohung des Volkes (2Kön 5,7; Hos 6,2). Aber im Judentum der neutestamentlichen Zeit war damit die Hoffnung auf die Auferstehung verbunden. Die zweite Bitte des sog. Achtzehnbittengebets preist Gott als den, »der die Toten auferstehen lässt … und die Toten lebendig macht«. Was im Alten Testament und im Judentum alleiniges Vorrecht Gottes ist, daran hat auch der Sohn, Jesus Christus, Anteil. Wie der Vater so macht auch er lebendig. Das wird bemerkenswerterweise im Präsens gesagt. Jesus macht lebendig: Wenn er zu dem Kranken sagt: Steh auf (gleiches Wort wie auferstehe) und ihn aus seiner Matratzengruft herausruft (5,8), ist das genauso, wie wenn er Lazarus aus dem Grab ins Leben zurückruft (11,43)! Vor allem aber übt er diese Kraft dadurch aus, dass er allen, die an ihn glauben, ewiges Leben schenkt (3,16f; 11,25f). Eigenartig ist freilich der Zusatz, dass der Sohn dies für die tut, welche er will. Auf den ersten Blick scheint das der Aussage in V. 30 zu widersprechen, dass Jesus nicht seinen eigenen Willen sucht. Die Formel ist sonst Ausdruck für die Souveränität, die sich Machthaber anmaßen (vgl. Dan 5,19; 2Makk 7,16), die aber allein Gott gebührt. Die Autorität des Sohnes aber ist nicht angemaßte Willkür, sondern entspricht Gottes Willen. Er hat sie ihm verliehen. Das unterstreicht eine zweite Erläuterung (22): Denn der Vater richtet auch niemand, sondern hat das ganze Gericht dem Sohn übergeben. Auch das Urteil im letzten Gericht ist im Alten Testament alleiniges Vorrecht Gottes (vgl. Dan 7,10.22). Aber in der frühjüdischen Apokalyptik kam die Vorstellung auf, dass Gott das Gericht dem Messias (4Esr 12,32f) bzw. dem Menschensohn übergibt (1Hen 45,3 u.ö.; vgl. besonders 69,27: »die Summe des Gerichts wurde ihm, dem Menschensohn, übergeben«). Diese Aussage wird hier übernommen, auch wenn es in 3,17 heißt, dass Gott den Sohn nicht in die Welt gesandt hat, »dass er die Welt richte«. Dem Sohn ist das Gericht übergeben, und doch ist es nicht er, der richtet, denn das Urteil über die Menschen entscheidet sich daran, ob sie an ihn glauben oder nicht (3,18). Dass die Rede vom Gericht auch hier so gemeint ist, zeigt die Zielbestimmung in V. 23: Das geschieht, damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wieder wird der universale Horizont des Heilswillens Gottes im Evangelium deutlich: »Alle Menschen sollen den Sohn in der gleichen Weise ehren, wie sie den Vater ehren« (Dietzfelbinger I, 197). Denn in ihm begegnet ihnen Gott, wie er wirklich ist, und an ihm entscheidet sich, ob sie mit ihrer

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Religiosität wirklich Gott meinen oder aber ein selbst gestaltetes Idol. Das macht die abschließende Bemerkung klar: wer den Sohn nicht ehrt, ehrt (auch) den Vater nicht, der ihn gesandt hat. Wer sich dem Sohn verweigert, der verfehlt auch den Vater, Gott selbst! Damit wird der jüdische Vorwurf abgewehrt, Jesus mache sich Gott gleich bzw. die christliche Gemeinde verehre Christus als zweiten Gott. Zugleich wird damit in einer Ausschließlichkeit, die uns heute Mühe macht, klargestellt, dass der Zugang zu Gott nur noch durch Christus möglich ist (vgl. zu 14,6). Ein zweites Amen-Wort fasst diese erste Argumentationsreihe zusammen (24). Nun spricht Jesus ganz persönlich, in der Ich-Form: Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben. Damit ist die Summe dessen gezogen, was Jesus im Johannesevangelium über das gegenwärtige Heil und den Weg dahin sagt (vgl. 3,16–18). Sich für Jesu Botschaft zu öffnen und auf sein Wort zu hören, ist das eine, und Gott zu vertrauen, der ihn gesandt hat, das andere – aber für Johannes sind das nicht zwei verschiedenen Formen des Glaubens, sondern der eine entscheidende Schritt, sich Gott, wie er in Jesus begegnet, ganz anzuvertrauen. Es geht nicht um einen Glauben an Jesus, als sei er ein zweiter Gott. Es geht um das glaubende Vertrauen zu dem, der in Christus als der Gott begegnet, der die Welt liebt. Wer sich in diesem Vertrauen in die Gemeinschaft mit Gott hineinnehmen lässt, wird auch hineingenommen in das Leben, das er schenkt, und das ist wahres, ewiges Leben. Das aber hat Konsequenzen. Wer so mit und in Gott lebt, kommt nicht ins Gericht, ein verdammendes Urteil über sein oder ihr Leben würde ins Leere gehen. Die Bedrohung durch das tödliche Geschick endgültiger Gottferne ist abgewendet. Wer so glaubt, ist vom Tod ins Leben hinübergegangen. Der Schritt aus der tödlichen Entfremdung von Gott hinein in das Leben mit ihm ist geschehen (Perfekt). Das bedeutet kein »unendliches, himmlisches Leben nach dem irdischen, sondern die Fülle des Lebens nach Gottes Willen, die hier und jetzt im Glauben an den Offenbarer geschenkt wird«, deren Wirklichkeit aber nicht durch den physischen Tod begrenzt ist (Zumstein, 226). In einer zweiten Argumentationsreihe greift Jesus die Hoffnung auf eine zukünftige Auferstehung auf und führt sie auf sehr dialektische Weise weiter. Auch dieser Abschnitt beginnt wieder mit einem doppelten Amen (25): Amen, amen, ich sage euch: Es kommt eine Stunde und ist jetzt (schon da), in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die, die hören, werden leben. Wie schon in 4,23 bedeutet das, dass der Zeitpunkt

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(die Stunde) eines Ereignisses, das erst am Ende der Geschichte erwartet wird, schon jetzt gegenwärtig wird. Es ist die Zeit, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die, die hören, werden leben. Allerdings spricht Jesus weiter von der Zukunft (hören werden). Aber weil er sagt: und ist jetzt (schon da), kann sich seine Aussage nicht erst auf die Auferweckung des Lazarus oder die Auferstehung der Toten am Ende der Zeit beziehen. Es geht offensichtlich um ein dynamisches Geschehen, das jetzt schon beginnt. Und darum sind mit den Toten keine physisch Tote gemeint, sondern geistlich Tote, Menschen, die fern von Gott, der Quelle wahren Lebens, sind (vgl. Eph 2,1.5: »tot in Sünden«). Aber gerade sie werden die Stimme des Sohnes Gottes hören und den Ruf des Lebens vernehmen, und die, die wirklich hören, also die Botschaft aufnehmen und annehmen, sie werden leben und teilhaben an der Fülle wahren, ewigen Lebens, das Gott durch Jesus schenkt. Dass Tote hören und leben beschreibt das Wunder des Glaubens: Er entsteht nicht durch menschliche Entschlusskraft. Es ist das lebendig machende Wort der Botschaft des Evangeliums, das in Menschen das Vertrauen erweckt, sich für Gottes Gegenwart in Jesus und seinem Wort zu öffnen. Das aber geschieht nicht nur jetzt, in der Begegnung mit dem irdischen Jesus. Diese Stunde und dieses jetzt ereignen sich immer wieder, wenn Jesu Botschaft weitergegeben wird. Die V. 26f erläutern das mit Worten, die noch einmal auf die V. 21f zurückweisen. Wie der Vater Leben in sich hat – das ist die Voraussetzung, von der ausgegangen wird. Gott ist die Quelle des Lebens, er allein kann Leben schaffen, erwecken und schenken (Zumstein, 227). Daraus aber folgt: so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben in sich zu haben. Damit wird ein Doppeltes gesagt: Der Sohn hat das Leben in sich, das heißt: Er ist Quelle des Lebens für andere, so wie Gott! Zugleich aber gilt: Es ist ihm gegeben. Alles, was er an göttlicher Vollmacht besitzt, ist Geschenk. Wann er es empfangen hat, wird nicht gesagt. Im Prolog wird vom WORT gesagt: »In ihm war Leben« (1,4). Er trug also das Geschenk des Lebens für andere schon vor allem Anfang in sich und wird so zum Repräsentanten des Gottes, der allein Leben schafft und schenkt. Das auf begrifflicher Ebene zu klären hat später die Trinitätslehre der alten Kirche versucht. Im Johannesevangelium bleibt es bei der Grundaussage, dass im Sohn der Vater handelt und es doch der eine Gott ist, der in ihm begegnet. Leben zu schenken ist die eine Seite der Vollmacht des Sohnes, über das Gelingen des Lebens zu urteilen die andere. Davon spricht

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V. 27: Der Vater hat dem Sohn Vollmacht gegeben, Gericht zu halten. Neben die Aussage, dass der Sohn Schöpfungsmittler ist, der Leben schenkt, wird noch einmal die grundsätzliche Aussage von V. 22 gestellt: Er ist auch beauftragt, im Gericht die letzte Entscheidung über die Menschen zu fällen. Die Begründung dafür wird nachgeschoben: weil er (der) Menschensohn ist. In Kreisen des endzeitlich-apokalyptisch ausgerichteten Judentums sah man in der Gestalt des Menschensohns den von Gott bevollmächtigten Richter im Endgericht (Belege bei V. 22; zum Begriff Menschensohn allgemein vgl. zu 1,51). Im Urchristentum wurde diese Überzeugung auf Jesus bezogen (Mt 13,41; 16,27; 25,31f). Das scheint also der Sinn dieses knappen Hinweises zu sein: Der Sohn ist nicht nur der einziggeborene Sohn Gottes, der alles geschaffen hat, sondern auch jener Menschensohn, dem das Gericht über die Welt übergeben ist. Irritierend ist freilich, dass dies die einzige Stelle ist, an der der Begriff Menschensohn ohne Artikel gebraucht wird. Heißt das, dass hier kein fester Titel (der Menschensohn), sondern die Umschreibung für einen einzelnen Menschen gemeint ist (ein Menschenkind, Thyen, 316)? Manche Ausleger sehen gerade darin die Pointe von V. 27: Nicht weil er der apokalyptische Menschensohn ist, wird Jesus zum Richter bestellt. Vielmehr wird dem, der sich angeblich Gott gleichstellt, das Gericht deswegen übergeben, weil er ein Mensch ist und darum alles Menschliche beurteilen kann. Als Parallele wird auf Hebr 2,17f; 4,15 und vor allem auf eine jüdische Apokalypse verwiesen, in der es in Anspielung auf Gen 9,6 heißt: »jeder Mensch wird vom Menschen gerichtet« (TestAbr Rez A 13,3; vgl. Thyen, 316f). Doch ist diese Aussage singulär und unsere Stelle mit dieser Auslegung wohl überinterpretiert.

Aber obwohl die traditionelle Vorstellung von einem zukünftigen Gericht durch den Menschensohn den Hintergrund dieser Aussage bildet, gilt auch hier, was in V. 23 angedeutet und in 3,17f ausdrücklich erklärt ist: Für Johannes findet das Gericht nicht erst am Ende der Zeit statt, sondern vollzieht sich jetzt im Ja oder Nein der Menschen zur Botschaft Jesu Christi. Daran entscheidet sich auch das Ja oder Nein, das über ihr Leben gesprochen wird. Dennoch knüpft V. 27 zunächst einmal an die traditionellen Zukunftsbilder an, und auch die V. 28f greifen die Vorstellung von einer zukünftigen Auferstehung auf. Die Gegner werden nun – ähnlich wie Nikodemus in 3,7 – direkt angesprochen: Wundert euch nicht darüber, dass der Menschensohn diese Vollmacht hat. Allerdings bestünde durchaus Grund, sich zu wundern: Denn es kommt eine Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören. Die Stunde, von der in V.

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25 gesagt wurde, dass sie schon jetzt ist, scheint nun doch noch in der Zukunft zu liegen, und die Stimme des Sohnes bzw. des Menschensohnes gilt den physisch Toten, die in den Gräbern sind – und sicher auch all den andern Toten, die nicht begraben werden konnten. Hier wird deutlich an die traditionelle Vorstellung von der endzeitlichen Auferstehung der Toten angeknüpft, wie sie erstmals in Dan 12,2 formuliert worden ist: »Und viele von denen, die im Erdenstaub schlafen, werden erwachen, die einen zu ewigem Leben und die anderen zu Schmach, zu ewigem Abscheu« (ZB; vgl. auch Jes 26,19). Wie passt das mit der Aussage von V. 25 zusammen? Viele Ausleger sind der Überzeugung, dass die V. 28f (und vermutlich auch schon 27c) nicht ursprünglich in diesem Zusammenhang standen, sondern erst bei der Endredaktion des Werks, vielleicht sogar noch später, eingefügt wurden, um die präsentische Eschatologie des Evangeliums mit der zukünftigen Erwartung der übrigen Urchristenheit zu verbinden. Dafür könnte sprechen: (1) das und ist jetzt aus V. 25 fehlt, (2) es ist nur von physisch Toten die Rede, (3) alle hören die Stimme des Sohnes; aber das bedeutet nicht für alle Leben, sondern für manche die Verurteilung im Gericht (V. 29). Dass als Maßstab im Gericht genannt wird, ob Menschen Gutes oder Schlechtes getan haben, ist für das Johannesevangelium ebenfalls fremd. Streicht man die V. 27c–29, so ergibt sich ein sehr guter Zusammenhang. Andere Ausleger wollen allerdings nicht von einem Einschub durch spätere Redaktoren sprechen, die einen völlig anderen Akzent setzen, sondern von einer Relecture, d.h. einem Prozess des erneuten Lesens und Durcharbeitens des Textes durch den Autor. Es wird nicht einfach ein fremder Gedanke eingefügt, sondern im Gespräch mit anderen Traditionen und Texten werden die Aussagen »fortgeschrieben«.

Die Spannung zwischen beiden Aussagen ist nicht zu leugnen. Aber die V. 28f sind dennoch kein Fremdkörper im Text, sondern sorgfältig in ihn eingebettet. Sie sprechen die traditionelle Sprache jüdischer und urchristlicher Zukunftserwartung und übernehmen vielleicht Formulierungen aus der johanneischen Gemeindetradition. Vor allem aber ist zu beachten: Die Hörer (und vor allem die Leser und Leserinnen) sollen sich nicht über die Aussagen von V. 28f wundern, sondern darüber, dass Jesus, der Menschensohn, schon jetzt die Vollmacht hat zu richten (V. 25–27). Die V. 28f begründen das mit dem Hinweis auf die traditionelle Vorstellung vom Gericht. Es ist also möglich, dass der Evangelist bewusst die traditionelle Redeweise vom Endgericht aufgreift, um mit ihr den Ernst und die Tragweite der aktuellen Begegnung mit Jesus zu begründen. Wie wir bei V. 25 sahen, übergeht er auch dort, wo er selbst formuliert, den zukünftigen Aspekt des Handelns Jesu keineswegs.

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Die Scheidung, die sich im Gericht – gleich ob gegenwärtig oder zukünftig – in jedem Fall vollzieht, wird in der traditionellen Sprache als doppelte Auferstehung beschrieben (vgl. Dan 12,2): Sie ist entweder Auferstehung zum Leben oder Auferstehung zum Gericht. Das Gericht ist also nicht die Veranstaltung, bei der erst entschieden wird, was die ewige Bestimmung eines Menschen sein wird. Das Geschick der Einzelnen ist entschieden. Die zum Leben gerufen werden, werden nicht gerichtet (vgl. 3,18); für die anderen bedeutet das Gericht die endgültige Trennung von Gott. Für Johannes ungewöhnlich ist freilich der Maßstab, nach dem diese Scheidung geschieht. Die das Gute getan haben, werden ins Leben gerufen, die das Schlechte getan haben, in das Verderben bringende Gericht. Das zweite erinnert an 3,20f. Dort wird von denen, die das Schlechte tun, gesagt, dass sie das Licht scheuen, das durch Christus in die Welt gekommen ist. Die ins Licht kommen, sind dagegen die, welche die Wahrheit tun. Diese Wendung beschreibt alle Aspekte eines Lebens, das Gott zugewandt ist – auch den Glauben. Ähnlich ganzheitlich dürfte Johannes die traditionelle Formulierung, die das Gute getan haben, verstehen, die an unserer Stelle beschreibt, wer zum Leben aufersteht. Biblisch gesehen ist das Gute das, was dem Leben dient, und das Schlechte das, was Leben beschädigt und zerstört. Es geht im Gericht also um das Ja oder das Nein zum Leben. Auch nach Paulus wird im Gericht denen, »die Gutes tun«, von Gott »Herrlichkeit, Ehre und Friede« zugesprochen werden (Röm 2,6–10). Und im Zusammenhang des Römerbriefs ist klar: Das »Gute« ist nicht einfach diese oder jene gute Tat, die der Mensch Gott gegenüber vorweisen könnte. Es ist die positive Bilanz eines Lebens, das sich dem Wirken Gottes geöffnet hat. Der letzte Satz bleibt beim Thema Gericht und führt doch zurück zum Anfang des ganzen Gesprächsgangs (30). Was dort scheinbar neutral in der 3. Person gesagt wurde: »Der Sohn kann nichts von sich aus tun« wird jetzt zum persönlichen Bekenntnis Jesu: Ich kann nichts von mir selbst aus tun. Das gilt auch für das Gericht, das der Sohn vollzieht. Sein Richten und sein Urteil besteht in nichts anderem als in der Scheidung, die sich an seiner Person und seiner Botschaft vollzieht. Dass daran die Entscheidung über Leben und Tod fällt, ist keine Willkür. So vollzieht sich der Wille des Vaters. Jesus formuliert das noch einmal in der Sprache des Rechts: Wie ich höre, (so) richte ich. Er hört auf das Urteil des Vaters, und deshalb gilt: mein Urteil ist gerecht. Das aber wird ein weiteres Mal begründet: denn ich suche nicht meinen eigenen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Die Vollmacht Jesu ist

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nicht angemaßt, und die Aussage, dass sich an der Stellung zu ihm das Geschick der Menschen entscheidet, ist nicht Willkür. Es ist Ausdruck dessen, dass Gott den Sohn gesandt hat, um die Menschen für sich und seine Liebe zu gewinnen. Damit aber wird schon zum Thema des nächsten Abschnitts übergeleitet: Wer bürgt für die Wahrheit der Aussagen Jesu? Zwei Themen bilden den Brennpunkt dieses Teils des Gesprächs Jesu mit den Juden: 1. Die umfassende Vollmacht Jesu, die doch ganz an seinen Auftrag gebunden ist. Jesus beansprucht keine Blankovollmacht für sich. Das Bild von der Lerngemeinschaft von Vater und Sohn soll seine völlige Abhängigkeit von Gott und seine Bindung an ihn aufzeigen. Diese Vollmacht ist inhaltlich auf eine Aufgabe fokussiert: den Menschen Leben zu schenken. Indem Jesus sie in die Gemeinschaft mit dem lebendigen und Leben schaffenden Gott stellt, gibt er ihnen Leben, das bleibt, ewiges Leben. Das ist eine Erfahrung, die alle, die auf Jesu Wort hören und sich dem anvertrauen, der ihn gesandt hat, schon hier und jetzt machen: Sie haben ewiges Leben, weil sie wissen: Mein Leben ist in Gottes Liebe geborgen. Aber diese Erfahrung hat Zukunft. Und davon spricht das zweite Thema. 2. Die fruchtbare Spannung zwischen schon jetzt und noch nicht. Diese Spannung ist charakteristisch für die Zukunftshoffnung Jesu. Wenn er Dämonen austreibt und damit die Macht des Bösen überwindet, ist Gottes Herrschaft schon da (Mt 12,28 par Lk 11,20; vgl. Lk 17,21). Zugleich aber kündigt er sein endgültiges Kommen in Macht und Herrlichkeit für die Zukunft an (Mk 13,26). Auch Paulus kennt diese Spannung: Gottes Geist schenkt die Gewissheit und den Vorgeschmack der endgültigen Gemeinschaft mit Gott (Röm 8,16.23; 2Kor 1,22; 5,5). Und doch hoffen die Glaubenden noch auf »die herrliche Freiheit der Kinder Gottes«, wenn Gott alles in allem sein wird (Röm 8,21; 1Kor 15,28). Diese Spannung prägt auch die Hoffnungsperspektive im Johannesevangelium, nur dass hier die Pole schroffer nebeneinandergestellt sind. Einerseits gilt: Wer glaubt, hat das ewige Leben (3,15f.36; 5,24; 6,40.47.54). Der Tod ist grundsätzlich überwunden (11,25). Aber das soll bis hinein in die Leiblichkeit erfahren werden. Darum gilt andererseits auch, dass die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden und herausgehen zur Auferstehung zum Leben (V. 28f). Die Vollendung der Vollmacht des Sohnes bedeutet: Leben aus den Gräbern. Dass damit auch die Auferstehung zum Gericht verbunden ist, widerspricht dem nicht: Denn dieses Gericht vollzieht sich am Ja oder Nein zum Leben, das die Menschen selbst ausgesprochen haben.

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5,31–47 Zwischen Verteidigung und Anklage 31

Wenn ich für mich selbst Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis nicht wahr; 32ein anderer ist es, der für mich Zeugnis ablegt, und ich weiß, dass das Zeugnis, das er für mich ablegt, wahr ist. 33Ihr habt zu Johannes gesandt, und er hat für die Wahrheit Zeugnis abgelegt. 34Ich aber nehme kein Zeugnis von einem Menschen an, sondern ich sage dies, damit ihr gerettet werdet. 35Jener war die Leuchte, die brennt und leuchtet, ihr aber wolltet euch (nur) für kurze Zeit an ihrem Licht erfreuen. 36Ich aber habe das Zeugnis, (das) größer (ist) als das des Johannes; denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat, damit ich sie vollende, diese Werke, die ich tue, legen für mich Zeugnis ab, dass der Vater mich gesandt hat. 37Und der Vater, der mich gesandt hat, der hat Zeugnis über mich abgelegt. Weder seine Stimme habt ihr jemals gehört noch seine Gestalt gesehen, 38und (auch) sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch, weil ihr dem, den jener gesandt hat, nicht glaubt. 39 Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben, und es sind (wirklich) jene, die für mich Zeugnis ablegen. 40 Und (doch) wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu haben. 41Ehre von Menschen nehme ich nicht an, 42aber ich habe euch erkannt (und weiß), dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch tragt. 43Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein anderer kommt im eigenen Namen, jenen werdet ihr aufnehmen. 44Wie könnt ihr glauben, wenn ihr Ehre voneinander annehmt und nach der Ehre, die von dem alleinigen Gott (kommt), nicht sucht? 45 Meint nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde; wer euch anklagt, ist Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. 46Denn wenn ihr Mose glauben würdet, würdet ihr (auch) mir glauben; denn über mich hat jener geschrieben. 47Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben? Formal betrachtet läuft die Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern einfach weiter; inhaltlich aber schlägt V. 31 ein neues Thema an: Wer bürgt für die Wahrheit des Anspruchs Jesu, der einzig wahre Bevollmächtigte Gottes zu sein? Jesus spricht weiter allein; aber er befindet sich in einem inneren Dialog mit seinen Gegnern. Vermutlich bilden sich in seinen Worten auch Auseinandersetzungen der johanneischen Gemeinden mit jüdischen und anderen Gesprächspartnern ab. Dabei folgt die Argumentation teilweise dem Grundsatz, dass der Angriff die beste Verteidigung ist. Immer wieder wird Jesu Werben um Anerkennung seiner Le-

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gitimation zur Anklage gegen die, die sich seiner Vollmacht verweigern. Der Abschnitt ist ein typisches Beispiel für die Art, wie Jesus bei Johannes redet. Die Argumentation windet sich wie ein mäandrierender Fluss, kreist manchmal um das gleiche Motiv, kann aber auch überraschend zu einem neuen wechseln. Dennoch ist ein klarer Gedankenfortschritt zu erkennen. Die V. 31–40 werden durch das Stichwort Zeugnis zusammengehalten, während ab V. 41 der Begriff Ehre dominiert. So teilen viele Ausleger den Abschnitt auf. Noch klarer aber wird der Gedankengang, wenn man die V. 31f als Grundsatzerklärung versteht, die dann in den V. 33–38 ausgehend vom Zeugnis Johannes des Täufers und in den V. 39– 47 am Zeugnis der Schrift erläutert wird (Theobald, 408). Die Frage, auf die Jesu Worte ab V. 31 antworten, lautet: Wie begründest du deinen Anspruch, der Gesandte Gottes zu sein, der in seiner Vollmacht handelt? Wer bürgt dafür? Als erstes weist Jesus darauf hin, dass es keinen Sinn machen würde, wenn er für sich selbst als Zeuge auftreten würde: Wenn ich für mich selbst Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis nicht wahr. Sowohl im Judentum als auch im griechisch-römischen Recht gilt »die Regel, dass eine beschuldigte Person im Falle eines Rechtsstreits nicht für sich selbst Zeugnis ablegen kann, ohne sich selbst zu diskreditieren« (Zumstein, 232). In der antiken Rechtsprechung war ein Zeuge auch weniger Augenzeuge, der möglichst objektiv berichtet, was er gesehen hat, sondern Bürge, der sich für den Angeklagten verbürgt. Auf diese Abgrenzung folgt die positive Aussage ( 32): Es ist ein anderer, der für mich Zeugnis ablegt. Und im Blick auf ihn ist sich Jesus gewiss, dass das Zeugnis, das er für mich ablegt, wahr ist. Für alle, die das Evangelium bis hierher gelesen haben, ist klar, dass damit nur Gott gemeint sein kann. Aber ist Jesu Argumentation hier nicht zirkulär? Auf die Frage, wer seinen Anspruch, für Gott zu reden, legitimiert, beruft er sich auf Gott. Gibt es nicht doch auch menschliche, direkt befragbare Zeugen dafür? Als Antwort auf diese unausgesprochene Frage weist Jesus auf das Zeugnis Johannes des Täufers hin, von dem in 1,19–28 berichtet worden war (33–35): Ihr habt zu Johannes gesandt, und er hat für die Wahrheit Zeugnis abgelegt. Was Johannes über Jesus gesagt hat, behält seine volle Gültigkeit. Er hat nicht nur subjektiv die Wahrheit gesagt. Was er gesagt hat, ist auch objektiv die Wahrheit, denn er hat die Wirklichkeit Gottes bezeugt, die in Jesus gegenwärtig ist. Dennoch gilt auch im Blick auf das Zeugnis des Täufers (34): Ich nehme kein Zeugnis von einem Menschen an. So eindrücklich und von Gott inspiriert das Zeugnis des Jo-

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hannes ist (1,33), seine Worte bleiben Menschenworte, und kein Mensch kann mit letzter Sicherheit bezeugen, dass Jesus von Gott gesandt ist. Gleichwohl ist die Erinnerung an das Zeugnis des Täufers wichtig. Dass Jesus seine Gesprächspartner darauf hinweist, hat seinen Grund. Er tut das, damit ihr gerettet werdet. Rettender Glaube entsteht im Hören auf das Wort glaubwürdiger Zeugen. Und die Wahrheit, die Johannes bezeugt hat, war sein Bekenntnis: »Das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt wegträgt«, und sein Zeugnis: »Dieser ist Gottes Sohn«, d.h. der, in dem Gottes Liebe persönlich begegnet (1,29.34; vgl. 3,16). Sich für diese Botschaft zu öffnen würde Rettung und Heil bedeuten. Johannes war »nicht das Licht« (1,8). Aber er war die Leuchte, die brennt und leuchtet (35), weil sie vom Licht entzündet wurde, um »für das Licht Zeugnis abzulegen, damit sie alle durch ihn glauben« (1,7). Dass von der Leuchte gesprochen wird, ist eine Anspielung auf Ps 132,17, wo es heißt: »Ich habe meinem Gesalbten eine Leuchte zugerichtet«. Die frühen Christen sahen diese Aussage in der Gestalt des Täufers erfüllt. Er war nicht nur »die Stimme eines Rufenden in der Wüste« (1,23 nach Jes 40,3), der dem Kommenden den Weg bereitete; er war auch die Leuchte, die zum Licht des Gesalbten, des Messias Gottes, hinführen sollte. Aber darauf haben sich die Gegner Jesu nicht eingelassen: Ihr aber wolltet euch (nur) für kurze Zeit (wörtlich: eine Stunde) an ihrem Licht erfreuen. Das Auftreten des Täufers war eine geistliche Sensation und die Reaktion darauf ein kurzes Aufflackern der Begeisterung, aber ohne nachhaltigen Effekt (vgl. zu ähnlichen Vorwürfen Mt 11,7–19 par Lk 7,24–35 und Mt 21,23–27 par Mk 11,27– 33; Lk 20,1–8). Vor allem haben nur wenige erkannt, dass im Wirken des Täufers ein entscheidender Hinweis auf die Bedeutung der Sendung Jesu lag. Wenn aber nicht einmal das Zeugnis des Täufers die Legitimität der Sendung Jesu verbürgen kann, was dann? Hier muss Jesus nun doch auf sich selbst verweisen (36): Ich aber habe das Zeugnis, (das) größer (ist) als das des Johannes. Das ist kein Widerspruch zu V. 31, denn es geht nicht um ein Zeugnis, das Jesus für sich selbst ablegt, sondern um ein Zeugnis, das er hat, das ihm mitgegeben ist und durch das er sich ausweisen kann. Es ist das entscheidende Zeugnis, größer, und das heißt: gewichtiger, als das des Johannes. Es sind die Werke, die mir der Vater gegeben hat. Damit bringt Jesus ins Spiel, wie Gott, der Vater, also der andere von V. 32, Zeugnis von ihm abgelegt. Was aber sind die Werke, die mir der Vater gegeben hat? Der Hinweis auf die Werke, die Jesus tut, kann sich auf seine Wunder be-

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ziehen (7,3.21; 10,32). Sind also Jesu Wunder der entscheidende Beweis für seine Vollmacht? Sicher nicht allein. 5,20 hat von den »größeren Werken« gesprochen, die der Vater dem Sohn zeigt. Der Zusammenhang stellt klar, was damit gemeint ist: Sie bestehen in der »Spendung wahren Lebens an den Menschen; sie werden anschaulich in den Wundern …, sind aber mit ihnen nicht identisch; was sie ›wirken‹ ist unendlich mehr, eben die Teilhabe am ›ewigen (unzerstörbaren) Leben‹ im Glauben« (Theobald, 412). Auch der Zusatz damit ich sie vollende macht deutlich: Mit den Werken ist Jesu Heilswerk als Ganzes gemeint, das Jesus am Kreuz mit den Worten »Es ist vollendet« beschließt (19,30). Deshalb sagt Jesus: Diese Werke, die ich tue, all das, was ich zum Heil der Menschen nach dem Willen Gottes wirke und so »sein Werk vollende« (4,34), legen für mich Zeugnis ab, dass der Vater mich gesandt hat. Die Legitimität seiner Sendung zeigt sich in seinem Wirken. Dadurch, dass ihm diese Aufgabe anvertraut ist, hat der Vater, der mich gesandt hat, selbst schon immer Zeugnis über mich abgelegt (37). Gott selbst verbürgt sich für Jesus und die Echtheit seiner Vollmacht. Das ist in gewisser Hinsicht ein Zirkelschluss. Aber der Glaube erhält keine objektiven »Beweise«, die unabhängig sind vom Wagnis des Glaubens, das sich Gottes Reden öffnet! Das aber zu tun weigern sich die jüdischen Gegner Jesu. Deshalb stellt er fest: Weder seine Stimme habt ihr jemals gehört noch seine Gestalt gesehen. Das ist in Anlehnung, aber auch im Gegensatz zu einer Aussage in Dtn 4,12 formuliert: »Die Stimme der Worte hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt«. Dass man Gott nicht sehen kann, ist eine jüdische Grundüberzeugung (vgl. Ex 33,20), auch wenn es Ausnahmen gibt (Gen 32,31; Ex 24,11). Aber genauso tief verankert ist die Gewissheit, dass Gott zu seinem Volk geredet hat (Dtn 4,33), nicht nur am Sinai, sondern immer wieder durch die Propheten. Das wird von Jesus nicht bestritten. Wie sonst könnte er sagen, dass die Schrift von ihm Zeugnis ablegt (V. 39) und Mose von ihm geschrieben hat (V. 46), ja, dass das Heil von den Juden kommt (4,22)? Gott hat zu Mose geredet (Ex 19,9; Num 7,89); er durfte sogar »die Gestalt des H ERRN schauen« (Num 12,8), also erkennen, wer Gott wirklich ist. Aber immer wieder hat Israel nicht auf Gottes Stimme gehört und darum auch nicht seine »Gestalt«, d.h. sein wahres Wesen erkannt. Die Pauschalität der Aussage, die uns erschreckt, steht im Gefolge entsprechender prophetischer Anklagen (vgl. Jes 1,3). Weil aber das Volk nicht wirklich auf Gottes Stimme gehört und sein Gestaltwerden in Jesu Wirken nicht wahrgenommen hat,

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darum muss Jesus seinen jüdischen Gegnern sagen (38): (auch) sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch. Gott will durch sein schöpferisches und in Jesus Fleisch gewordenes WORT in seinem Volk wohnen. Aber was schon im Prolog festgestellt wurde: »Es kam in das Seine, und die Seinen nahmen es nicht auf« (1,11), das bestätigt sich auf tragische Weise in der Ablehnung Jesu durch sein Volk. Gottes Wort findet keine Bleibe in seinem Volk, weil ihr dem, den jener gesandt hat, Jesus von Nazareth, dem einziggeborenen Sohn, nicht vertraut und ihm nicht glaubt. Mit dem Hinweis auf Gottes Reden zu seinem Volk ist ein zweiter möglicher Zeuge für Jesus aufgeboten, nämlich die Schriften, also die Bibel Israels (39–47). Die Hebräische Bibel hatte in neutestamentlicher Zeit noch keine ganz fest umrissene Gestalt. Deshalb wird im Neuen Testament von den (heiligen) Schriften im Plural gesprochen. Dazu gehörten die Tora, also das »Gesetz«, d.h. die fünf Bücher Mose, und die Propheten (vgl. 1,45), aber auch schon die Psalmen, Hiob und die Sprüche. An unserer Stelle geht es aber vor allem um die Tora (V. 45–47). Die Argumentation beginnt mit einer positiven Feststellung (39). Jesus gesteht seinen jüdischen Gegnern zu: Ihr erforscht die Schriften. Ihr Eifer im Studium der biblischen Schriften wird anerkannt. Aber sie tun das unter einer falschen Voraussetzung, nämlich: weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben. Die vermeintliche Lebensverheißung des Gesetzes: »Wer es tut, wird dadurch leben« (Lev 18,5; vgl. Gal 3,12), wird missverstanden, als könne die Schrift von sich aus ewiges Leben geben (Sir 17,9 spricht vom »Gesetz des Lebens«). Ewiges Leben aber schenkt Gott allein durch den Glauben an den Sohn. Recht geleitetes Studium der Schriften aber würde zeigen, dass sie es sind, die für mich, d.h. für Jesus, Zeugnis ablegen. Einzelne Belegstellen dafür werden nicht genannt. Es ist das Ganze der Schriften, das auf Gottes Handeln im Sohn verweist. Der aber muss feststellen (40): Und (dennoch) wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu haben. Zu Jesus kommen ist im 4. Evangelium ein bildhafter Ausdruck für an Jesus glauben (vgl. 6,35; 7,37). Das ist der einzige Weg zum Leben, das Gott schenkt. Die Frage nach dem Zeugnis der Schriften wird durch einen Zwischengedanken unterbrochen. Hieß es in V. 34: Ich nehme kein Zeugnis von Menschen an so hier (41): Ehre von Menschen nehme ich nicht an. Wurde dort mit dieser Bemerkung die Bedeutung des Zeugnisses des Johannes relativiert, so wird hier erläutert, in welcher Weise die Tora für Jesus spricht. Dabei geht es um die Frage, woher jemand die Ehre, das Gewicht – man könnte auch übersetzen die Herrlichkeit (griechisch: doxa) –, also den Wert

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seines Lebens ableitet. Für sich behauptet Jesus, dass er das, was seinem Leben und Wirken Gewicht und Bedeutung gibt, nicht in der Zustimmung durch Menschen sucht. Er lebt allein von der Anerkennung durch Gott. Das aber ist bei denen, die ihm nach dem Leben trachten, nicht der Fall (42). Er hat sie erkannt und durchschaut und weiß deshalb, dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch tragt. Damit kann die Liebe Gottes gemeint sein, mit der er die Menschen liebt und für die sich die Gegner nicht geöffnet haben. Der griechische Text kann aber auch mit Liebe zu Gott übersetzt werden. Vermutlich ist das gemeint. Denn hinter der Argumentation steht Dtn 6,4f: Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft (vgl. auch V. 44). Diejenigen, die Jesus anklagen, dass er sich Gott gleichmacht (V. 18), sind selbst nicht wirklich auf Gott ausgerichtet und nicht von der Liebe zu Gott erfüllt und bewegt. Jesus dagegen bestimmt sein Leben und Wirken allein von Gott her (43): Ich bin im Namen meines Vaters gekommen. Aber gerade von denen, die sich als Wächter der Ehre Gottes aufspielen, gilt: Ihr nehmt mich nicht auf. Dabei sind sie inkonsequent: Wenn ein anderer im eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen. Das ist eine schwerwiegende Anklage, die einen konkreten Vorgang in der Zukunft im Blick zu haben scheint. Die Ausleger haben sich den Kopf zerbrochen, ob damit eine bestimmte Person gemeint sein könnte, die in der Zeit auftrat, in der das Johannesevangelium entstand. Man könnte z.B. an die Männer denken, die während des jüdischen Aufstands (66–70 n.Chr.) durch ihr persönliches Charisma viele um sich scharten und ins Verderben führten. Aber vermutlich ist keine bestimmte Person im Blick, sondern es wird ganz allgemein darauf verwiesen, wie sehr ein selbstherrliches und selbstbewusstes Auftreten andere beeindrucken und verführen kann. Das aber erklärt, warum die Gegner Jesu (und auch die jüdischen Gesprächspartner der johanneischen Gemeinde) sich so schwer damit tun, an Jesus zu glauben (44). Denn: Wie könnt ihr glauben, wenn ihr Ehre voneinander annehmt? Gegenseitige Anerkennung ist für das menschliche Miteinander wichtig. Aber wo die »anderen«, die »Peers« oder der Korpsgeist, die letzte Instanz sind für das Selbstwertgefühl und die Entscheidung, was richtig ist, da fällt es schwer, sich ganz für Gott und seinen Anruf zu öffnen. Das bewirkt, dass man nach der Ehre, die von dem alleinigen Gott (kommt), nicht sucht.

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Hier zeigt sich, dass das Grundbekenntnis Israels zu Gott als alleinigem Gott im Hintergrund der Auseinandersetzung steht (Dtn 6,4; 2Kön 19,15 u.ö.). Dieses Bekenntnis wollen Jesu Gegner verteidigen, wenn sie ihm vorwerfen, er mache sich Gott gleich. Das aber führt im Gegenzug zu dem Vorwurf an sie: Gerade dadurch verschließen sie sich dem Handeln Gottes und suchen nicht die Ehre, also die wertschätzende Anerkennung, die allein Gott schenken kann. Sie, die die Ehre des alleinigen Gottes schützen wollen, richten ihr Leben nicht auf ihn aus. Das ist ein harter Vorwurf gegen »die Juden«, und wir werden fragen müssen, ob ihnen damit Recht geschieht. Obwohl das im Stil einer Anklage formuliert ist, sagt Jesus dennoch (45): Meint nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde. Jesus will und wird nicht als Ankläger auftreten. Das wird ein anderer tun: Wer euch anklagt, ist Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. In der alttestamentlich-jüdischen Tradition ist Mose der große Fürsprecher für das Volk (vgl. Ex 32,11–14.30–32; Num 11,2). Von ihm wird auch erwartet, dass er weiter als Verteidiger für das Volk vor Gott eintritt (AssMos 11,17; 12,6; Jub 1,19–21). Für die Jesusbewegung, die sich für ihr Bekenntnis zu Jesus auch auf die Tora beruft und deren Stimme Jesus hier artikuliert, wird Mose zum Zeugen der Anklage, ja zum Ankläger selbst. Statt das Zeugnis Moses als Steinbruch für das eigene religiöse System zu benutzen, wäre es nötig und richtig, sich seinem Zeugnis von Gottes Handeln zu öffnen und ihm wirklich zu vertrauen und zu glauben. Aus den Worten Jesu spricht eine grundlegende Überzeugung der Urchristenheit: Der Gott, der sich in der Tora, dem Gesetz Moses, bezeugt und seinem Volk Heil und Leben zusagt, begegnet in Jesus in ganz neuer Weise. Würden die Gegner also dem Zeugnis Moses glauben, dann würden sie notwendigerweise auch an ihn, Jesus, glauben (46). Denn – so die Begründung Jesu – über mich hat jener geschrieben. Das bedeutet wohl nicht, dass es in den fünf Bücher Mose einzelne Stellen gibt, die auf Jesus zu beziehen sind. Es ist das Zeugnis der Tora als Ganzes, das auf Gottes Handeln in Jesus verweist. Darum lautet die letzte Frage Jesu an seine Gegner: Wenn ihr, die ihr euch auf Mose beruft, seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben? (47) Für die johanneische Gemeinde war klar, dass das WORT, das im Menschen Jesus von Nazareth Fleisch geworden ist, sich auch schon in Gottes Reden zu den Erzvätern und -müttern und zu Mose und dem Volk geäußert hat (vgl. zu 1,17). Darum musste es eine letzte Übereinstimmung zwischen den Schriften Moses, die das bezeugen, und den Worten Jesu geben. Nur wer sich dem Zeugnis des Redens Gottes in den

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Schriften Moses öffnet und sich ihm anvertraut, kann auch für die Worte Jesu offen sein und ihm glauben – und umgekehrt! Allerdings ist das, was im Mund Jesu lebendige Worte sind, bei Mose in Form von Schriften festgehalten und so menschlichem Missbrauch und Unverständnis ausgeliefert. Zum ersten Mal kommt es in diesem Kapitel zu einer ausführlichen Auseinandersetzung Jesu mit den Juden. Wie wir gesehen haben, sind mit die Juden nicht alle jüdischen Menschen gemeint. Auch der Täufer, Jesus selbst und viele der ersten Christen waren Juden. Dort, wo sie als Gegner Jesu auftreten, sind die Juden Repräsentanten eines religiösen Systems, das sich gegen Jesus und damit gegen Gott stellt, obwohl dies gerade im Namen Gottes geschieht. Deshalb sind die Juden auch nicht einfach mit der Welt identisch, obwohl sie in manchem auch als deren Vertreter erscheinen. Die Auseinandersetzung mit ihnen zeugt vom Ringen der Christen jener Zeit mit Vertretern des Judentums um Gottes Offenbarung in seinem Bund mit Israel. Spricht diese Offenbarung für Jesus oder gegen ihn? Doch aus dem Plädoyer für die Rolle der heiligen Schriften als Zeugen für Jesus wurde bald eine Anklage gegen die Juden. Das stellt uns vor die schwierige Frage: Geschieht den Juden Recht mit der Anklage, die hier erhoben wird? Die Antwort kann heute auf keinen Fall ein uneingeschränktes Ja sein; in mancher Hinsicht muss es sogar ein eindeutiges Nein sein – nicht nur wegen der katastrophalen Folgen eines christlichen Antijudaismus, der sich auf diese Anklage berief, sondern auch, weil wir heute aus den Originalquellen jüdischer Theologie und Frömmigkeit die Ernsthaftigkeit ihres Ringens um Gott erkennen. Ähnlich wie bei vergleichbaren Aussagen in Mt 23 müssen wir uns fragen, ob solche Anklagen heute nicht eher uns als christlicher Kirche gelten, weil – bei äußerem Bekenntnis zu Jesus – auch für uns die Gefahr einer Immunisierung gegen die radikale Botschaft Jesu besteht. Weiter ist wichtig: Jesus führt die Kontroverse mit seinen Gesprächspartnern, damit ihr gerettet werdet. Für Johannes ist Israel nicht abgeschrieben. Drei Argumente werden dabei genannt, die bis heute bedacht werden sollten: 1. Das Zeugnis Johannes des Täufers. Es ist historisch einmalig, nicht wiederholbar und war primär Ruf zur Umkehr. Aber in der Forderung, umzukehren und zu Gott zu kommen, sah die Urchristenheit einen indirekten, aber klaren Hinweis auf Jesus, in dem Gott den Menschen entgegenkommt. Das bleibt ein Impuls zum Nachdenken auch für uns. 2. Das Zeugnis der Schriften Israels. Wir können heute an vielen Stellen, in denen man in neutestamentlicher Zeit direkte Hinweise auf

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Jesus Christus gesehen hat, dies nicht mehr nachvollziehen. Aber die Überzeugung, dass in der Hoffnung Israels auf Gottes rettendes und befreiendes Handeln der Schlüssel für die Bedeutung des Weges Gottes mit Jesus Christus liegt, kann uns die Augen für ein tieferes Verständnis der Botschaft des Alten Testaments öffnen. 3. Das Zeugnis Jesu – gerade, weil er nicht für sich selbst Zeugnis ablegt! Es gibt so etwas wie die Selbstevidenz des Wirkens Jesu: Seine Person, sein Weg und seine Worte, sein Tun und sein Leiden sprechen bis heute Menschen unmittelbar an. Das Heil Israels ausschließlich an das Bekenntnis zu Jesus als den Messias zu binden, ist uns heute nicht mehr möglich. Aber mit Menschen jüdischen Glaubens über die Bedeutung des Christuszeugnisses für sie und die ganze Welt zu reden, sollten wir uns nicht selbst verbieten. 6,1–71 Jesus – das Brot des Lebens Kap. 6 ist eine große zusammenhängende Erzählkomposition. Ihr Aufbau lässt uns tief in die Werkstatt des Evangelisten blicken. Ausgangspunkt ist die Erzählung von der wunderbaren Speisung der 5000, die sich auch in allen anderen Evangelien findet (Mt 14,13–21; Mk 6,32–44; Lk 9,10–17). Daran schließt sich die Geschichte vom Seewandel Jesu an, die in Mt 14,22–33; Mk 6,45– 22 ebenfalls unmittelbar folgt. Dass dies auch bei Johannes der Fall ist, verwundert, da er ab V. 23 und in der folgenden »Brotrede« ausschließlich an das Brotwunder anknüpft. Wir werden fragen müssen, ob das nur auf seiner Treue zur vorgegebenen Tradition beruht oder auch inhaltliche Gründe hat. Die »Brotrede« Jesu umfasst die V. 26–58 und ist in mehrere Gesprächseinheiten gegliedert (V. 26–40; 41–47; 52–58). Während die Reaktion der Menge und »der Juden« offen bleibt, kommt es im Kreis der Jünger zu einer Entscheidung, die auch zur Scheidung führt (60–71): Viele gehen weg (V. 66), und dem Bekenntnis des Petrus (V. 68f) steht der Verrat des Judas gegenüber. Hat das Kapitel mit dem gemeinsamen Handeln von Jesus und seinen Jüngern begonnen, so endet es mit der Alternative: Trennung von Jesus oder Bekenntnis zu ihm? Auffallend ist, dass Johannes in diesem Kapitel in der Auswahl der Motive und ihrer Reihenfolge stärker als sonst dem Vorbild des Markus (und Matthäus) folgt, ohne dass eine direkte Abhängigkeit besteht. Eine kleine Tabelle mag dies zeigen:

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6,1–15

Brotvermehrung Seewandel Jesus und die Volkmenge Zeichenforderung Rede vom wahren Brot Bekenntnis des Petrus Einer ist der Satan

Joh 6,1–15 Joh 6,16–21 Joh 6,22–25 Joh 6,30f Joh 6,32–58 Joh 6,60–66 Joh 6,67–71

Mk 6,32–44; 8,1–9 Mk 6,45–52 Mk 6,53–56 Mk 8,11–13 Mk 8,14–21 Mk 8,27–30 Mk 8,31–33

Offensichtlich setzt Johannes bei seinen Lesern und Leserinnen auch die Kenntnis eines alttestamentlichen Textes voraus, nämlich der Geschichte von der Speisung des Volkes in der Wüste mit Manna (Ex 16). Die »Brotrede« ist nur auf ihrem Hintergrund zu verstehen. Um die Auslegung übersichtlich zu halten, teilen wir das Kapitel in folgende Abschnitte ein: 6,1–15 6,16–21 6,22–59 6,60–71

Jesus gibt mehr als fünftausend Menschen zu essen Jesus erscheint seinen Jüngern auf dem See Jesus offenbart sich als Brot, das den Lebenshunger stillt Jesus provoziert Ent-Scheidungen im Kreis der Jünger

6,1–15 Jesus gibt mehr als fünftausend Menschen zu essen 6 1Danach ging Jesus weg an das jenseitige Ufer des Sees von Galiläa, (d.h. des Sees) von Tiberias. 2Es folgte ihm aber eine große Menge, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. 3Jesus aber stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. 4Es war aber das Passah nahe, das Fest der Juden. 5 Als Jesus aber seine Augen aufhob und sah, dass eine große Menge zu ihm kommt, sagt er zu Philippus: Woher sollen wir Brot kaufen, damit diese (Leute) zu essen haben? 6Das sagte er aber, um ihn auf die Probe zu stellen. Denn er selbst wusste, was er tun wollte. 7 Philippus antwortete ihm: Brot für zweihundert Denar reicht nicht aus für sie, dass jeder wenigstens ein wenig bekommt. 8Da sagt zu ihm einer der Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: 9Es ist hier eine kleiner Junge, der fünf Gerstenbrote und zwei kleine Fische hat; aber was ist das für so viele? 10Jesus sagte: Lasst die Menschen sich lagern. Es gab aber viel grünes Gras an dem Ort. Da ließen sich die Männer nieder, etwa fünftausend an der Zahl. 11Dann nahm Jesus die Brote, und nachdem er das Dankgebet gesprochen hatte, teilte er (sie) an die Lagernden aus und ebenso auch von den Fischen, soviel sie wollten. 12Als sie aber gesättigt waren, sagt er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken zusammen, damit nichts verdirbt. 13Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken

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von den fünf Gerstenbroten, die die übriggelassen hatten, die gegessen hatten. 14Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus getan hatten, sagten sie: Dies ist wahrhaftig der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15Da Jesus nun erkannte, dass sie kommen wollten und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, ging er wieder auf den Berg zurück, (und zwar) er allein. Der Abschnitt beginnt mit einer knappen Einleitung, in der die Situation geschildert wird (1–4). Die eigentliche Geschichte wird in den V. 5–15 erzählt: In den V. 5–9 wird die Vorbereitung und in V. 10f die Mahlzeit selbst geschildert, in V. 12f das überreiche Ergebnis konstatiert und in V. 14f von der Reaktion der Menschen berichtet. Wie schon erwähnt, ist dies eine der wenigen Geschichten, die Johannes und die anderen Evangelien gemeinsam haben (vgl. Mt 14,13–21; Mk 6,32–44; Lk 9,10–17; dazu die Variante der Speisung der Viertausend in Mt 15,32–38; Mk 8,1–9). Die Grundelemente der Erzählung und die Zahlen, die genannt werden, sind gleich. Aber wörtliche Übereinstimmungen gibt es kaum. Daher muss offenbleiben, ob Johannes das Markus- oder Matthäusevangelium benutzt hat oder eine Überlieferung der Geschichte kannte, die in den Grundzügen mit ihrer Erzählung übereinstimmte. Wie wir sehen werden, hängen viele der Unterschiede mit der theologischen Ausrichtung des 4. Evangeliums zusammen. Mit dem Stichwort danach (1) signalisiert der Evangelist, dass eine neue Episode beginnt (vgl. 3,22; 5,1; 7,1; 21,1). Jesus ging weg von Jerusalem, wo er sich nach 5,1 aufhielt, und begab sich an das jenseitige Ufer des Sees Genezareth, der hier See von Galiläa bzw. von Tiberias heißt. Mit dem etwas abrupten Übergang signalisiert der Evangelist, dass Jesus sich nun wieder in Galiläa aufhält. Das Wechselspiel zwischen aufsehenerregenden Zeichen und der Frage, worauf sie verweisen und wer Jesus ist, beginnt erneut. Die gängige Übersetzung ans andere Ufer (ZB; EÜ) suggeriert, dass Jesus mit dem Schiff von Kapernaum dorthin fährt (so LÜ: fuhr Jesus weg über das Galiläische Meer). Diese Vorstellung hat zu der Vermutung geführt, dass Kap. 6 ursprünglich nach 4,46–54 stand, wo Jesus sich in dieser Gegend aufhält (s. die Diskussion bei 5,1 o. S. 133f). Aber das ist nicht zwingend. Jenseits des Sees bzw. das jenseitige Ufer des Sees kann auch einfach das östliche Ufer bzw. die Ostseite des Sees bedeuten, ohne dass etwas über die Richtung gesagt wird, aus der man kommt (wie jenseits des Jordans das Ostjordanland bezeichnet; vgl. 1,28; Mt 4,25). Der See Genezareth hatte in der Antike viele Namen: Im Alten Testament heißt er Meer von Kinneret (Num 31,14; Jos 12,3; 13,27), hier und in Mk

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1,16; 7,31 par Mt 4,18; 15,29 See (wörtlich: Meer) von Galiläa, in Joh 21,1 wie hier ergänzt durch Meer von Tiberias, wobei die Bezeichnung Meer die Perspektive der Binnenländer verrät. Die Stadt Tiberias wurde erst zum Jahr 26/27 n.Chr. durch Herodes Antipas zu Ehren des Kaisers Tiberius als neue Landeshauptstadt erbaut und benannt.

Aber Jesus bleibt nicht allein. Eine große Menge folgte ihm, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat (2). Zwar hat Johannes erst von zwei Heilungen berichtet, eine in Galiläa (4,46– 54) und eine in Jerusalem (5,1–9). Aber offensichtlich geht er davon aus, dass seinen Leserinnen und Leser bewusst ist, wie umfassend Jesu heilendes Wirken war und dass die Menschen viele Gelegenheiten hatten, das zu sehen (vgl. 2,23; 4,45). Doch zunächst berichtet er, wie Jesus auf diesen Ansturm reagiert (3): Er stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. Dass Jesus auf einen Berg steigt, wird in den Evangelien immer wieder erzählt. Er tut dies, um in der Einsamkeit zu beten (V. 15; Mk 6,46; Lk 6,12), um mit seinen Jüngern allein zu sein (Mk 3,13; 9,2; Mt 17,1; 28,16) oder um zu lehren (Mt 5,1). Trotz des bestimmten Artikels meint also der Berg keinen bekannten Ort, sondern ist Stätte der Begegnung mit Gott. Dahinter steht auch die Erinnerung an die Offenbarung Gottes an Mose auf dem »Gottesberg« (Ex 19,20; 24,1; 34,2). An unserer Stelle wird der Grund für Jesu Verhalten nicht genannt. Die fast wörtliche Parallele zu Mt 5,1; 15,29 lässt sowohl an Rückzug als auch an Lehre denken. Eigenartig ist die ergänzende Bemerkung in V. 4: Es war aber das Passah nahe, das Fest der Juden. Das ist sicher mehr als eine Datierungshilfe. Dreimal wird im Johannesevangelium auf dieses Fest verwiesen. Damit ist immer der Hinweis verbunden, dass es das Passah der Juden ist, einerseits Erklärung für nichtjüdische Leser, andererseits auch Zeichen einer Distanzierung. Die drei Datumsangaben gliedern den ersten Teil des Evangeliums: Zum ersten Passah weilt Jesus in Jerusalem (2,13). Das dritte Mal wird das Fest erwähnt, wo berichtet wird, dass Jesus verhaftet werden sollte, wenn er zum Fest kommt (11,55–57). Tatsächlich wird er in Jerusalem zur gleichen Stunde am Kreuz sterben, in der die Passahlämmer im Tempel geschlachtet werden. Hier aber, in der Mitte seines Wirkens, speist er kurz vor dem Passah auf wunderbare Weise die Menschen, die zu ihm kommen – Hinweis darauf, dass sein Mahl, das Mahl des Herrn, für die Seinen das Passahmahl ablösen wird. Mit einer feierlichen, an alttestamentliche Redeweise anklingenden Formulierung (vgl. 4,35 und Gen 13,14; Jes 60,4) schildert

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Johannes, wie Jesus die Menschen wahrnimmt, die zu ihm kommen (5): Als Jesus aber seine Augen aufhob und sah, dass eine große Menge zu ihm kommt. In den parallelen Erzählungen von der Speisung der Fünftausend sind es die Jünger, die Jesus darauf aufmerksam machen, dass die Menschen Hunger haben, weil sie so lange bei ihm waren (Mk 6,35f; Mt 14,15). Bei der Speisung der Viertausend aber ist es Jesus selbst, der aus Mitleid mit den Menschen, die so lange bei ihm geblieben waren, die Frage nach ihrer Versorgung anschneidet (Mk 8,1f; Mt 15,32). Auch bei Johannes stellt Jesus die Frage selbst. Ohne dass von einer drängenden Not der Menschen berichtet worden wäre, sagt er zu Philippus: Woher sollen wir Brot kaufen, damit diese (Leute) zu essen haben? Dass Jesus aber gefragt haben könnte, weil er Hilfe und Rat brauchte, ist für Johannes undenkbar. Jesus fragt Philippus aus einem anderen Grund (6), und zwar, um ihn auf die Probe zu stellen. Denn er selbst wusste, was er tun wollte. Bei Johannes ist Jesus von vorneherein Herr des Geschehens, was diesem freilich auch ein wenig den Eindruck des Inszenierten verleiht. Dass Jesus fragt: Woher? macht schon auf die weiterführende Deutung des Vorgangs in der Frage nach dem »Brot vom Himmel« (V. 32) aufmerksam. Aber Philippus bleibt der irdischen Realität verhaftet und ist deshalb skeptisch (7): Brot für zweihundert Denar reichen nicht aus für sie, dass jeder (von ihnen) wenigstens ein wenig bekommt. In Mk 6,37 werden zweihundert Denar, nicht ganz der Jahreslohn eines Tagelöhners, als Summe genannt, die man brauchen würde, um genügend Lebensmittel zu kaufen. Hier wird gesagt, dass sie bei weitem nicht reichen würden. Wir können nicht nachrechnen, wer Recht hat. Jedoch ist klar, dass der Hinweis auf den Mehrbedarf für Johannes auch die Größe des Wunders steigert. Immerhin kann einer der Jünger auf einen kleinen Vorrat an Proviant hinweisen (8f). Es ist Andreas, der Bruder des Simon Petrus, den Johannes auch sonst zusammen mit Philippus erwähnt (vgl. 1,40.44; 12,22). Er berichtet, dass ein kleiner Junge (oder ein junger Bursche) fünf Gerstenbrote und zwei kleine Fische dabei hat. Er weiß auch, dass es Gerstenbrote sind, grobes Brot, das die armen Leute aßen. Das aber weckt die Erinnerung an eine ähnliche Erzählung in 2Kön 4,42–44. Während einer Hungersnot erhielt der Prophet Elisa 20 Gerstenbrote. Als er seinen Diener beauftragt, damit die Leute, die bei ihm waren, zu versorgen, sagt dieser: »Wie soll ich davon hundert Mann geben?« Der Prophet aber entgegnet: »Gib den Leuten, dass sie essen! Denn so spricht der H ERR : Man wird essen, und es wird noch übrig bleiben.« Und so geschah es.

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Auch Andreas fragt angesichts der kleineren Menge Proviant und der viel größeren Zahl an Menschen: Aber was ist das für so viele? Kaum der berühmte Tropfen auf den heißen Stein! Doch Jesus geht auf diese resignierende Frage nicht ein. Er handelt und sagt (10): Lasst die Menschen sich lagern. Dass es bei der Speisung geordnet zuging, ist ein Anliegen aller Versionen der Geschichte. Johannes weist sogar darauf hin, dass es bequem möglich war, auf dem Boden Platz zu nehmen, denn es gab viel grünes Gras an dem Ort. Das entspricht dem Stand der Vegetation im Frühjahr, in der Zeit vor Passah. Vielleicht liegt in der Betonung dieses Details auch ein Hinweis auf die »grüne Aue« von Ps 23,1f. Wenn es dann heißt: Da ließen sich die Männer nieder, ist wohl nicht gemeint, dass nur Männer anwesend waren. Die Aussage bezieht sich schon auf die folgende Zahlenangabe etwa fünftausend an der Zahl, die nur die Männer einschließt, ohne die anwesenden Frauen und Kinder (so Mt 14,21; 15,38). Die Menge derer, die zu essen bekamen, war also noch weit größer. Doch nun handelt Jesus selbst (11): Er nahm die Brote, und nachdem er das Dankgebet gesprochen hatte, teilte er (sie) an die Lagernden aus. Dass Jesus das Dankgebet über den Broten spricht, ist Grundbestand aller Speisungsgeschichten und zeigt ihn in der Rolle eines jüdischen Hausvaters. Das verbindet die Szene aber auch mit dem Bericht über Jesu letztes Mahl und der Einsetzung des Abendmahls. Johannes verwendet für danken dasselbe Wort wie Paulus in 1Kor 11,24 (von ihm ist der Begriff Eucharistie abgeleitet). Johannes erwähnt nicht eigens, dass Jesus das Brot bricht, wohl aber, dass er selbst (und nicht die Jünger) das Brot austeilt. Jesus allein ist der Geber der Speise. Allerdings gibt es bei diesem Mahl – anders als beim Abendmahl – auch Fische. Auch von ihnen teilt Jesus aus, soviel sie wollten. Es muss nicht rationiert werden. Erstaunlich ist, dass nicht versucht wird, das Wunderbare, das hier geschieht, auszumalen oder zu erklären. Nur beiläufig, in einem Nebensatz, wird angedeutet, was passiert ist (12): Als sie aber gesättigt waren. Das heißt: Alle sind satt geworden. Und nun sind die Jünger an der Reihe. Zu ihnen sagt Jesus: Sammelt die übrigen Brocken zusammen, damit nichts verdirbt. Das ist gute Haushalterschaft, vor allem aber eine Demonstration der Fülle an Nahrung, die Jesus aus fünf Gerstenbroten und zwei kleinen Fischen bereitet hat. Könnte es darüber hinaus auch andeuten, dass die Jünger verantwortlich dafür sind, dass nichts von dem verloren geht, was Jesus den Menschen an wahrem Brot gibt? Dafür könnte auch sprechen, dass diese genau zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten füllten, die die übriggelas-

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sen hatten, die gegessen hatten (13), und am Ende des Kapitels plötzlich die Zahl Zwölf für die Jünger auftaucht (V. 67.70). Was hier geschieht, macht auf die Beteiligten einen tiefen Eindruck (14). Sie sehen und erkennen, dass die wunderbare Speisung ein Zeichen ist, das auf Gottes Handeln hinweist. Das führt sie zu dem Schluss: Dies ist wahrhaftig der Prophet, der in die Welt kommen soll. Die Formulierung »der Prophet« zeigt, dass an die Verheißung von Dtn 18,15 gedacht ist, wo Mose zum Volk sagt: Einen Propheten wie mich wird dir der HERR, dein Gott, erwecken. Dafür spricht auch, dass ab V. 30 Jesu Handeln dem des Mose gegenübergestellt wird. Auch der Nachsatz: der in die Welt kommen soll, zeigt: Dieser Prophet ist einzigartig. Er ist nicht einer von vielen, die im Namen Gottes sprechen. Es ist der Gesandte Gottes, den dieser in diese Welt schicken wird. Aber Jesus sieht in diesem Bekenntnis zu ihm eine verborgene Gefahr (15). Er erkannte, dass sie kommen wollten und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen. Wo man erwartete, dass der endzeitliche Prophet die Befreiungstat und die Wunder Mose wiederholt, war der Schritt nicht weit, in ihm den kommenden messianischen König zu sehen, der alle Not überwindet und für immer »Wohlergehen und Glück garantiert« (Theobald, 437). Es gehört zu den tiefen Paradoxien des menschlichen Verhaltens, dass die Menschen den, der ihnen Leben schenkt, in ihre Gewalt bringen wollen, um so ihre Zukunft zu sichern. Das aber muss fehlschlagen. Jesus entzog sich ihnen und ging wieder auf den Berg zurück, (und zwar) er allein. 1. Die Botschaft der Speisungsgeschichten der Evangelien ist klar. Jesus sieht auch die leibliche Not der Menschen und sorgt dafür, dass sie nicht Hunger leiden müssen. Er zeigt seinen Jüngern, dass auch knappe Ressourcen Hilfe bieten können, und überwindet ihre vorauseilende Resignation angesichts der Größe der Not. Die Berichte darüber gehen auf Mahlzeiten Jesu mit vielen Menschen in Galiläa zurück, bei denen er wie ein jüdischer Hausvater das Brot, das zur Verfügung stand, mit anderen teilt. Eine rationale Erklärung des Wunders, etwa dadurch, dass plötzlich alle ihre Vorräte öffneten und mit den anderen teilten, ist reizvoll, trifft aber nicht die Pointe der Geschichte. 2. Im Brennpunkt der Fassung der Geschichte bei Johannes steht aber weniger die Notsituation der Menschen. Sie ist nur angedeutet. Johannes betont die Souveränität, mit der Jesus hilft. Nicht die Jünger geben weiter, was Jesus ihnen in die Hände legt; er selbst teilt aus, und es reicht für alle. Johannes zeigt aber auch die Gefahr auf, die im wunderbaren Handeln Jesu liegt. Die Menschen sehen darin nicht

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das Zeichen, das auf Gottes unverfügbare Gegenwart und Hilfe verweist. Sie sehen in Jesus den Garanten für eine problemlose Versorgung mit Brot. Ihre Absicht, ihn zum König zu machen, ist von tiefer Zweideutigkeit geprägt. Einerseits anerkennen sie damit seine Sendung von Gott, andererseits wollen sie sich damit aber seiner bemächtigen und ihn zur Geisel ihrer Bedürfnisse machen. Jesus muss sich dem entziehen. Als »König der Juden« wird ihn erst das Kreuz ausweisen (18,33–37; 19,19). Immer wieder sind auch Christen der Versuchung einer triumphalistischen Jesusverehrung erlegen, die das Kreuz ausklammert und Jesu Vollmacht für eigene Zwecke zu instrumentalisieren versucht. Auch ihnen hat er sich auf die Dauer immer entzogen. 3. Die Geschichte von der Speisung der Fünftausend ist bei Johannes Auftakt zur »Brotrede« in 6,26–59. Sie ist eine erste Veranschaulichung der Aussage Jesu, dass er das »Brot des Lebens« ist, das Brot, das den Lebenshunger der Menschen stillt. 6,16–21 Jesus erscheint seinen Jüngern auf dem See 16

Als es Abend geworden war, stiegen seine Jünger zum See hinab, und nachdem sie ins Boot gestiegen waren, fuhren sie zum jenseitigen Ufer des Sees in Richtung Kapernaum. Und Dunkelheit war schon hereingebrochen, und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen, 18und der See wurde aufgewühlt, weil ein heftiger Wind blies. 19 Als sie nun etwa fünfundzwanzig oder dreißig Stadien gerudert waren, sehen sie Jesus auf dem See einhergehen und nahe zum Schiff kommen, und sie fürchteten sich. 20Er aber sagt zu ihnen: Ich bin (es). Fürchtet euch nicht. 21Nun wollten sie ihn in das Boot nehmen, und sofort war das Schiff am Land, (dort,) wohin sie fuhren. 17

Der Zusammenhang zwischen Speisung der Fünftausend und Jesu Seewandel ist fest in der Evangelientradition verankert. Auch in Mk 6,32–52 par Mt 14,13–33 sind beide Geschichten miteinander verbunden. Die Berichte bei Markus bzw. Matthäus und Johannes stimmen in Grundzügen überein. Vor allem die zentrale Aussage Jesu in V. 20 findet sich auch in den anderen Evangelien. Aber es gibt Unterschiede. Markus und Matthäus erzählen aus der Perspektive Jesu, betonen aber auch die Notlage der Jünger. Bei ihnen steigt Jesus ins Boot und stillt den Sturm, während bei Johannes die Geschichte mit der wunderbaren Landung des Bootes endet. Johannes hat also wohl nicht Markus oder Matthäus als Vorlage benutzt, sondern folgt einer unabhängigen, aber ihnen nahestehenden Tradition.

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Erstaunlich ist auch, dass Johannes diese Episode nicht auslässt, unterbricht sie doch den engen Zusammenhang zwischen der Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung und der Rede Jesu vom Brot des Lebens. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass Johannes nicht einfach dem Zwang der traditionellen Vorgabe folgt, sondern die Geschichte sehr bewusst an dieser Stelle erzählt. Denn sie greift auf besondere Weise die Frage auf, die sich am Ende der vorigen Erzählung (V. 14f) gestellt hat: Wer ist Jesus wirklich? Der Evangelist erzählt knapp den Hergang der Geschichte. Bei ihm ist es nicht Jesus, der die Jünger wegschickt, um allein sein zu können (so in Mk 6,45; Mt 14,22). Als Jesus am Abend noch nicht von dem Berg, auf den er sich zurückgezogen hat, zurückgekommen ist, gehen sie zum See hinab und besteigen ihr Boot, um über den See nach Kapernaum zu fahren (16f). Dass sie Jesus allein zurücklassen, scheint kein Problem zu sein. Es war schon dunkel geworden, was Johannes freilich mit der eigenartigen Wendung Dunkelheit war schon hereingebrochen beschreibt. Dunkelheit (LÜ: Finsternis) ist für den Evangelisten zentraler Begriff für den Schrecken der Trennung von Gott (vgl. 1,5; 3,19; 8,12). Wahrscheinlich hat auch die merkwürdig nachgeschobene Bemerkung: und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen einen symbolischen Hintergrund. Sie soll weniger daran erinnern, dass sie ohne Jesus abgefahren waren, sondern andeuten, dass erst das Kommen Jesu die Herrschaft der Finsternis durchbricht. Da der See Genezareth tief zwischen Bergen liegt, verursachen Fallwinde oft ganz plötzlich heftige Stürme, die durch ihre unberechenbaren Windstöße den kleinen Booten gefährlich werden können. Ein solcher Sturm bricht in der Nacht über die Jünger und ihr Boot herein (18). Allerdings weist Johannes nicht ausdrücklich auf die Notlage hin, in der sie sich dadurch befanden. Für ihn ist wichtiger, was sie mit Jesus erleben. Als sie etwa fünfundzwanzig oder dreißig Stadien (das sind ca. viereinhalb bis fünfeinhalb Kilometer) gerudert waren und damit etwa in der Mitte des Sees waren, sehen sie Jesus auf dem See einhergehen und nahe zum Schiff kommen (19). Dass ein Mensch auf dem Wasser gehen kann, ist etwas ganz Unerhörtes und eigentlich Undenkbares. Im Alten Testament ist dies Zeichen für Gottes Souveränität über die Mächte des Verderbens und sein rettendes Erscheinen. »Er geht auf den Wogen des Meeres«, heißt es von Gott in Hiob 9,8 (vgl. Ps 89,10; aber auch Ps 77,20; 78,13). Die Jünger scheinen wirklich zu sehen und wahrzunehmen, was hier geschieht. Anders als in Mk 6,49; Mt 14,26 denken sie nicht,

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es sei ein Gespenst. Sie erkennen: In Jesus begegnet uns Gott. Darum heißt es: Sie fürchteten sich. So reagieren Menschen auf die Gegenwart Gottes (Gen 3,10; 28,17; Mk 4,41). Jesus aber ruft ihnen zu: Ich bin (es) (20). In den anderen Evangelien signalisiert dieser Ruf den Jüngern zunächst: Ich bin es selbst, Jesus, und kein Gespenst. Auch dort gewinnt er eine tiefere Bedeutung, wie die Reaktion der Jünger zeigt (Mk 6,51). Im Zusammenhang des 4. Evangeliums aber wird daraus eine entscheidende Aussage: Aus dem Ich bin, das Jesus spricht und das schon in 4,26 anklang und im Folgenden noch oft laut werden wird (vgl. 8,24.28.58; 13,19; 18,5f), spricht das ICH BIN Gottes, mit dem er sich in Ex 3,14 Mose und immer wieder neu seinem Volk vorstellt (vgl. Dtn 32,39; Jes 43,10.25; 51,12; 52,6). In Jesus begegnet Gott als der Herr über Wind und Wellen. Dem entspricht Jesu Reaktion: Fürchtet euch nicht, ruft er den Jüngern zu, so wie Gott und seine Boten zu Menschen sprechen, die über der Begegnung mit dem Göttlichen erschrecken (vgl. Gen 15,1; 21,17; Lk 2,10; 5,10; Offb 1,17). So erschütternd eine solche Begegnung ist, es ist die Begegnung mit dem rettenden Gott, durch die alle Furcht überwunden wird. Tatsächlich verlieren die Jünger ihre Furcht und wollen Jesus in das Boot nehmen (21). Aber dazu kommt es nicht. Denn sofort war das Schiff an Land, auf das sie zufuhren. Darin liegt ein letzter Unterschied zu Matthäus und Markus. Bei ihnen steigt Jesus zu den Jüngern ins Boot und stillt den Sturm. Hier sind sie mit Jesus sofort am Ziel. 1. Diese Geschichte berichtet von einer Begebenheit, die sich der historischen Forschung entzieht. Aber ihre Pointe ist nicht, dass sie den Glauben an übernatürliche »Fakten« fordert. Sie lädt vielmehr dazu ein, sich der Botschaft zu öffnen, die in der Symbolik des Berichteten liegt. Und die lautet in allen Evangelien: In Jesus begegnet Gott, der durch Finsternis und Sturm trotz Wellen und Wogen rettend auf die Seinen zukommt. 2. Wer ist Jesus? Das ist die Frage, die diese Geschichte provoziert. In der Markusversion der Geschichte bleiben die Jünger ratlos und entsetzt angesichts des Geschehens (Mk 6,51f), bei Matthäus fallen sie vor Jesus nieder und bekennen: »Du bist wahrhaft Gottes Sohn« (Mt 14,33). Bei Johannes bleibt die Frage offen. Kurz zuvor hatten die Menschen bekannt: »Dies ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommt« (V. 14), und am Ende der ganzen Erzählung wird das Bekenntnis des Petrus stehen: »Du bist der Heilige Gottes« (6,69). Leser und Leserinnen sind aufgefordert, sich eine eigene Meinung zu bilden. Helfen wird ihnen dabei Jesu eigenes Bekenntnis: »Ich bin das Brot des Lebens« (6,35).

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3. Solche Geschichten laden ein, auch der Bedeutung von Details nachzuspüren. Zum Beispiel lässt sich Jesus nicht immer so einfach an Bord nehmen und stillt nicht alle Stürme. Aber er ist da und führt ans Ziel. Manchmal schneller als gedacht. 6,22–59 Jesus offenbart sich als Brot für den Hunger nach Leben Dieser Abschnitt wird oft als die Brotrede Jesu bezeichnet. Genau besehen besteht er aber aus einem langen Dialog Jesu mit verschiedenen Gesprächspartnern. Der Gesprächscharakter wird bis zum Schluss durchgehalten, und der Abschnitt bildet eine große, in sich geschlossene Komposition. Zwar lassen sich größere und kleinere Unterabschnitte abgrenzen. Aber – anders als etwa in 5,19–47 – bleibt das Thema immer dasselbe. Das Ganze ist eine Auslegung von Ps 78,14: »Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu essen« in Gesprächsform. Deshalb werden wir auch den ganzen Abschnitt, trotz seiner Länge, im Zusammenhang auslegen. 22

Am folgenden Tag stand die Menge (immer noch) jenseits des Sees, und (die Leute) hatten gesehen, dass kein anderes Boot dort gewesen war, außer einem, und dass Jesus nicht zusammen mit seinen Jüngern in das Boot gestiegen war, sondern nur seine Jünger weggefahren waren. 23Andere Boote kamen von Tiberias nahe zu dem Ort, wo sie das Brot gegessen hatten, nachdem der Herr das Dankgebet gesprochen hatte. 24Als die Menge nun sah, dass Jesus nicht (mehr) dort war und auch seine Jünger nicht, stiegen sie in die Boote und kamen nach Kapernaum und suchten Jesus. 25Und als sie ihn auf der anderen Seite des Sees gefunden hatten, sagten sie zu ihm: Rabbi, wann bist du hierhergekommen? 26 Jesus antwortete ihnen und sagte: Amen, amen, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid. 27Erarbeitet (euch) nicht die Speise, die vergänglich ist, sondern die Speise, die zum ewigen Leben bleibt, die euch der Menschensohn geben wird; denn ihn hat der Vater, (also) Gott, mit seinem Siegel beglaubigt. 28 Sie nun sagten zu ihm: Was sollen wir tun, damit wir die Werke Gottes wirken? 29Jesus antwortete und sagte zu ihnen: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. 30 Da sagten sie zu ihm: Welches Zeichen tust du denn, damit wir sehen und dir glauben? Was wirkst du? 31Unsere Väter haben in der Wüste das Manna gegessen, wie geschrieben ist: »Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu essen« (Ps 78,24). 32Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot aus dem

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Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot aus dem Himmel. 33Denn das Brot Gottes ist das, das aus dem Himmel herabkommt und der Welt Leben gibt. 34 Sie sagen zu ihm: Herr, gib uns immer dieses Brot. 35Jesus sagte zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird gewiss nicht mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten. 36Aber ich sagte euch (schon): Ihr habt mich gesehen und glaubt (doch) nicht. 37Alles, was mir mein Vater gibt, wird zu mir kommen, und den, der zu mir kommt, werde ich gewiss nicht hinausstoßen, 38 denn ich bin nicht aus dem Himmel herabgekommen, damit ich meinen eigenen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. 39Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich von allem, was er mir gegeben hat, nichts verloren gehen lasse, sondern es am letzten Tag auferwecke. 40Denn das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges Leben hat, und ich werde ihn am letzten Tag auferwecken. 41 Da murrten die Juden über ihn, weil er gesagt hatte: Ich bin das Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist, 42und sagten: Ist dieser nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wieso sagt er jetzt: Ich bin aus dem Himmel herabgekommen? 43Jesus antwortete und sagte zu ihnen: Murrt nicht untereinander. 44Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zieht, und ich werde ihn am letzten Tag auferwecken. 45Bei den Propheten ist geschrieben: »Und alle werden von Gott gelehrt sein« (Jes 54,13). Jeder, der vom Vater gehört und gelernt hat, kommt zu mir. 46Nicht, dass jemand den Vater gesehen hätte, außer dem, der von Gott ist, der hat den Vater gesehen. 47 Amen, amen, ich sage euch, wer glaubt, hat ewiges Leben. 48Ich bin das Brot des Lebens. 49Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind (doch) gestorben. 50Dies ist das Brot, das aus dem Himmel herabkommt, damit jemand von ihm isst und nicht stirbt. 51 Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist; wenn jemand von diesem Brot isst, wird er in Ewigkeit leben. Das Brot nämlich, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (gegeben) für das Leben der Welt. 52 Da stritten die Juden untereinander und sagten: Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben? 53Da sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns esst und sein Blut trinkt, habt ihr kein Leben in euch. 54Wer mein Fleisch verzehrt und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben, und ich werde ihn am letzten Tag auferwecken. 55Denn mein Fleisch ist wahre Speise und mein Blut ist wahrer Trank. 56Wer mein Fleisch verzehrt und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm. 57Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich durch den Vater lebe, (so)

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wird auch der, der mich verzehrt, durch mich leben. 58Das ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. (Es ist) nicht wie (das, welches) die Väter gegessen haben und (doch) gestorben sind. (Sondern:) Wer dieses Brot verzehrt, wird in Ewigkeit leben. 59 Das sagte er, als er in der Synagoge in Kapernaum lehrte. Der lange Abschnitt lässt sich gut gliedern. Die V. 22–25 verbinden die beiden vorhergehenden Geschichten mit der folgenden Auseinandersetzung. Darauf folgen drei größere Gesprächseinheiten. Die V. 26–40 führen auf die Kernaussage des Abschnitts hin, Jesu Wort: Ich bin das Brot des Lebens (V. 35). Sie wird in den darauffolgenden Versen erklärt. Die V. 41–51 kreisen um die Frage nach der Herkunft dieses Brotes von Gott, und in den V. 52–58 wird die Frage, wie man dieses Brot »essen« kann, auf provozierende Weise beantwortet. Es gibt weitere Gliederungssignale: Der erste und der letzte Abschnitt beginnen mit einem feierlichen Amen-Wort Jesu (V. 26.53), im zweiten Abschnitt steht ein solches Wort gegen Ende (V. 47). »Leit-Text« des Ganzen ist Ps 78,24, dessen Auslegung mit einem weiteren Amen-Wort beginnt (V. 31f). In der Mitte des ersten und zweiten Abschnitts steht Jesu Aussage Ich bin das Brot des Lebens (V. 35.48). Ihr entspricht im dritten Teil das Wort: Mein Fleisch ist wahre Speise und mein Blut ist wahrer Trank (V. 55). Jeder Abschnitt enthält die Verheißung: Ich werde ihn am letzten Tag aufwecken (V. 39f.44.54), und jeder endet mit der Zusage, dass der Glaube an den Sohn Gottes bzw. das »Essen« dieses Brotes ewiges Leben schenkt (V. 40.51.58). Wir haben also ein sehr regelmäßiges, aber nicht uniform gestaltetes »Gewebe« vor uns. Die Gedanken kreisen immer wieder um die gleichen Grundaussagen, und doch bewegt sich der Argumentationsgang zielgerichtet vorwärts wie ein mäandrierender Fluss. Die V. 22–25 leiten von der Speisung der Fünftausend und dem Geschehen in der Nacht danach über zum folgenden Gespräch mit Jesus. Gleichzeitig bestätigen sie noch einmal den Seewandel Jesu. Der Erzähler führt uns zurück an das Ufer jenseits des Sees, also das Ostufer (22). Die Menschen, die von Jesus mit Essen versorgt worden waren, hatten dort ausgeharrt, weil sie erwarteten, dass Jesus wieder vom Berg herabkommen würde. Sie hatten aber auch gesehen, dass kein anderes Boot dort gewesen war, außer einem, und registriert, dass Jesus nicht zusammen mit seinen Jüngern in das Boot gestiegen war, sondern dass nur seine Jünger weggefahren waren. Die unausgesprochene Frage lautet also: Wo war Jesus geblieben?

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Doch aus Gründen, die wir nicht erfahren, kamen von Tiberias, also von der Westseite des Sees, eine ganze Reihe anderer Boote und landeten in der Nähe der Stelle, wo sie das Brot gegessen hatten, nachdem der Herr das Dankgebet gesprochen hatte (23). Die ausführliche Formulierung lässt aufhorchen. Es wird nur das Brot erwähnt, von ihm aber ausdrücklich gesagt, dass der Herr das Dankgebet darüber gesprochen hat. Das erinnert an 1Kor 11,24. Dort wird berichtet, dass der Herr beim letzten Mahl mit seinen Jüngern vor dem Austeilen des Brotes das Dankgebet gesprochen hat. Die Erwähnung des Dankgebets (griechisch: eucharistia) soll offensichtlich einen Bezug zum Abendmahl schaffen. Inzwischen hat sich die Menge überzeugt, dass Jesus nicht (mehr) dort war und auch seine Jünger nicht (24). Deshalb nützten die Leute die Gelegenheit und stiegen in die Boote, die inzwischen angekommen waren. Ob sich der Erzähler vorstellt, dass mehr als fünftausend Menschen per Boot über den See befördert wurden, bleibt offen. Wichtig ist ihm, dass viele, die die wunderbare Speisung und Jesu rätselhaftes Verschwinden erlebt haben, noch einmal Jesus begegnen. Deshalb berichtet er nur knapp: Sie kamen nach Kapernaum und suchten Jesus. Wollen sie sich erneut seiner bemächtigen und zum Brotkönig machen, oder werden sie verstehen, worum es ihm wirklich geht? Doch als sie ihn auf der anderen Seite des Sees gefunden hatten, bewegt sie eine vordergründige Frage (25): Rabbi, wann bist du hierhergekommen? Wie und wann ist er ohne Boot über den See gelangt? Jesus wird diese Frage nicht beantworten. Die Leserinnen und Leser wissen, was geschehen ist. Nur – was hat das wirklich zu bedeuten? Worauf weist das Zeichen hin? Das soll im folgenden Gespräch deutlich werden. 6,26–40 Wovon lebt der Mensch? Der erste Teil dieses Gesprächs (26–40) gliedert sich in drei kurze Gesprächsgänge: V. 26–29: Welche Nahrung ist zum Leben notwendig? V. 30–33: Wer gibt diese Nahrung? Und darauf die entscheidende Antwort und ihre Deutung in V. 34–40: Ich bin das Brot des Lebens (35). Wie oft bei Johannes antwortet Jesus nicht direkt auf die Frage der Leute in V. 25. Seine Antwort geht vielmehr darauf ein, dass sie ihn gesucht haben. Jesus zu suchen hat im Johannesevangelium einen besonderen Klang (vgl. 1,38; 7,34; 8,21; 18,4). Entscheidend aber ist, warum die Menschen ihn suchen. Deshalb sagt er mit großem Nachdruck zu denen, die zu ihm kommen (26): Amen, amen, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt gewor-

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den seid. Die Leute haben gesehen, was Jesus getan hat. Aber sie haben darin kein Zeichen gesehen, das sie auf den hingewiesen hätte, der sie so wunderbar mit Nahrung versorgt hat. Sie haben versäumt, »in der Fülle der irdischen Gaben deren göttlichen Geber wahrzunehmen« (Thyen, 345). Jesu nächste Mahnung soll ihnen helfen, sich um das zu mühen, was wirklich Leben schenkt (27). Erarbeitet (euch) nicht die Speise, die vergänglich ist, sagt er, oder anders übersetzt: Müht euch nicht um Speise (ZB; EÜ) oder: Verschafft euch nicht Nahrung, die vergänglich ist (vgl. LÜ). Wörtlich heißt es: Wirkt nicht die Speise, und diese Formulierung bewahrt das Wortspiel wirken – Werk, das die V. 27–30 durchzieht. Jesus will die Leute nicht davon abhalten will, sich um ihr tägliches Brot zu kümmern. Entscheidend aber ist, was sie an Bleibendem durch ihr Leben erarbeiten und bewirken wollen. Dafür aber nennt Jesus ein lohnenderes Ziel: die Speise, die zum ewigen Leben bleibt. Es geht also um »Nahrung«, die unvergänglich ist und ein Leben schenkt, das bleibend in der Gemeinschaft mit Gott gelebt wird. Die Aussage erinnert an 4,10–14, wo Ähnliches von dem lebendigen Wasser gesagt wird, das Jesus geben wird. Im Hintergrund stehen aber auch alttestamentliche Aussagen wie Dtn 8,3: Die Gabe des Manna soll zeigen, »dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN geht«, oder Jes 55,2: »Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben«. Gottes Wort ist das »Brot«, das wirklich Leben schenkt und satt macht (Jer 15,16). Hier wird diese Nahrung aber noch anders gekennzeichnet. Es ist die Speise, die euch der Menschensohn geben wird. Wieder einmal spricht Jesus von sich als dem Menschensohn. Und wie in 1,51 und 3,13f weist das darauf hin, dass er Gottes Repräsentant unter den Menschen ist. Er ist aus Gottes Welt, dem Himmel, herabgestiegen, er wird am Kreuz erhöht werden und stellt so die Verbindung zu Gott her. Er spricht schon jetzt allen, die glauben, wahres Leben zu (V. 35.47). In seiner ganzen Fülle aber werden es die Menschen empfangen, wenn sein Werk mit Kreuz und Auferstehung vollendet sein wird (beachte das Futur: geben wird). Dass der Menschensohn diese Vollmacht hat, wird begründet: denn ihn hat der Vater, (d.h.) Gott, mit seinem Siegel beglaubigt (wörtlich: versiegelt). Mit einem Siegel wird die Echtheit einer Urkunde bestätigt, aber auch – wie hier – die Vollmacht eines Gesandten. Dabei wird nicht auf ein bestimmtes Ereignis angespielt, etwa die Taufe, wie viele Ausleger meinen. Sie wird von Johannes

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ja gar nicht berichtet (doch vgl. 1,32). Es geht grundsätzlich um die Bevollmächtigung und Beglaubigung des Menschensohns aufgrund seiner Sendung durch den Vater, also durch Gott, wie hier ausdrücklich ergänzt wird. Die Gesprächspartner Jesu haben ein Stück weit begriffen, was Jesus meint (28). Es gilt darauf hinzuwirken und zu arbeiten, in die lebenspendende Gemeinschaft mit Gott aufgenommen zu werden. Daher die Frage: Was sollen wir tun, damit wir die Werke Gottes wirken? Die Werke Gottes, das ist der Ertrag eines Lebens, der Gottes Willen entspricht und vor ihm bestehen kann. Was sollen und müssen wir tun, dass wir solche Werke schaffen und wirken? fragen die Menschen, und das ist eine ernsthafte und respektable Frage (vgl. Apg 16,30). Und doch zeigt Jesu Antwort, dass sie im Entscheidenden verfehlt ist (29): Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. Die Formulierung rückt die Frage an zwei Stellen zurecht: Jesus spricht vom Werk Gottes und nicht von den Werken. Es geht nicht darum, dies oder das zu tun, sondern darum, dass das Entscheidende geschieht. Damit wird auch die doppelte Bedeutung der Genetivverbindung Werk Gottes neu gedeutet. Das Werk, das Gottes Willen entspricht, ist das Werk, das Gott in den Menschen wirkt. Er bewirkt, dass Menschen an den glauben, den er gesandt hat. Kein Tun, sondern Glauben ist gefragt. Zwar sind es die Menschen, die glauben. Doch es gilt: »Das Werk Gottes ist eine Tat, die zwar von mir getan wird, aber zugleich nicht mein, sondern Gottes Werk ist. Der Glaube ist als des Menschen Tat Gottes Werk« (Weder, Menschwerdung 375f). Jesus sagt auch nicht einfach: dass ihr an mich glaubt, sondern an den, den er (nämlich Gott) gesandt hat. Glaube an Jesus ist Vertrauen auf Gott und sein Handeln in Jesus Christus. Der nächsten Gesprächsgang (30–33) hat eine doppelte Funktion: Zunächst fragt die Menge nach einem Zeichen, mit dem Jesus seinen Anspruch auf Glauben beglaubigt. Damit wird aber auch wieder die Frage nach der rechten Speise, dem Brot, das Leben schenkt, aufgegriffen. Allerdings kommt die Frage: Welches Zeichen tust du denn, damit wir sehen und dir glauben? überraschend (30). Sind das nicht die gleichen Leute, die am Tag zuvor erlebt haben, wie Jesus mehr als fünftausend Leute mit fünf Broten und zwei Fischen satt gemacht hat? Das erinnert an Mk 8,11, wo erzählt wird, dass die Pharisäer nach der Speisung der Viertausend »ein Zeichen vom Himmel« forderten. Aber schon in V. 26 hat Jesus festgestellt, dass die Leute zwar satt geworden sind, aber darin kein Zeichen gesehen haben, das auf

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die tiefere Bedeutung des Geschehens hinweisen würde. Und wie das folgende Zitat aus Ps 78,24 mit dem Stichwort Brot aus dem Himmel zeigen wird, erwarten auch sie ein solches »Zeichen vom Himmel«, das heißt, einen eindeutigen Beweis, dass die verheißene Heilszeit anbricht und die immer neue Gabe von Himmelsbrot paradiesische Zustände bewirkt. Was wirkst du?, fragen sie, also: Was bewirkst du denn wirklich? Jesus, dem Propheten »wie Mose« (vgl. V. 15 und Dtn 18,15), wird das Handeln Moses als Beispiel vor Augen gestellt (31): Unsere Väter haben in der Wüste das Manna gegessen, wie geschrieben ist: »Brot aus dem Himmel hat er ihnen zu essen gegeben«. Das Zitat geht wohl auf Ps 78,24 zurück, bezieht in seine Formulierung aber auch Ex 16,4 und Neh 9,15 ein, wo ebenfalls von der Gabe des Manna berichtet wird. So wie das Volk am Anfang seiner Existenz bei der Befreiung aus Ägypten und dem Weg durch die Wüste Tag für Tag versorgt wurde, so soll der Prophet in den letzten Tagen für das Volk sorgen. Jesus aber korrigiert ihre Auslegung der Schrift und die damit verbundene Erwartung (32). Das feierliche Amen, amen gibt seiner Antwort Gewicht: Nicht Mose hat euch das Brot aus dem Himmel gegeben. Das sagen auch die genannten Schriftstellen: Es ist Gott, der jenes wunderbare Brot gegeben hat. Aber Jesus belässt es nicht bei der rückblickenden Korrektur. Entscheidend ist, was jetzt geschieht: mein Vater gibt euch das wahre Brot aus dem Himmel. Jesus spricht also von der Gegenwart, von dem, was Gott jetzt tut und schenkt. Und er nennt Gott seinen Vater und stellt so die Verbindung zu seiner Person her. Vor allem aber macht er deutlich, dass er nicht von einer paradiesischen Nahrungsmittelversorgung, sondern von dem wahren Brot aus dem Himmel spricht. Dieses wahre Brot ist das Brot Gottes, das Brot, das Gott schenkt und in dem er selbst gegenwärtig wird (33). Es ist das Brot, das aus dem Himmel herabkommt, das also wirklich die Verbindung zu Gott herstellt und dadurch der Welt Leben gibt. Im griechischen Text dieser Aussage steckt freilich noch ein besonderer Hinweis: Da das Wort für Brot im Griechischen ein Maskulinum ist, kann auch gelesen werden: der aus dem Himmel kommt und der Welt Leben gibt. Damit ist schon angedeutet, dass das Brot, das Gott gibt, Jesus selbst ist! Das aber wird erst im letzten Gesprächsgang dieses Abschnittes ausgesprochen und entfaltet werden (34–40). Das Stichwort dafür geben die Leute, die nicht verstehen, was Jesus meint. Sie denken immer noch an eine Art Wunderbrot und sagen: Herr, gib uns immer dieses Brot (34). Ganz ähnlich hatte die Frau am Jakobs-

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brunnen reagiert (4,15). Für die Erzählweise des Evangelisten sind diese Missverständnisse typisch; er will damit nicht Jesu Gesprächspartner bloßstellen, sondern auf diesem Hintergrund die wahre Bedeutung der Aussagen Jesu herausstellen. Und so sagt Jesus nun das entscheidende Wort: Ich bin das Brot des Lebens (V. 35). Das Brot, das Jesus den Fünftausend austeilte, war Zeichen dafür, dass der, der es austeilt, selbst das Brot ist, das wahres Leben schenkt. Mit dieser Aussage begegnen wir dem ersten der sieben Ich-bin-Worte Jesu, die für seine Botschaft im Johannesevangelium so charakteristisch sind. Außer an unserer Stelle finden sie sich noch in 8,12; 10,9; 10,11(14); 11,25f; 14,6; 15,1(5). In ihnen wird das knappe Ich bin der Selbstvorstellung Jesu in 4,26; 6,20; 8,24.28 u.ö. durch Bilder oder Begriffe ergänzt, die Jesus als Träger und Spender wahren Lebens erweisen. Vermutlich sind zunächst Bilder wie Brot (6,35), Licht (8,12) und Weg (14,6) aufgenommen worden. Andere Metaphern sind im Rahmen von gleichnishaften Bildreden entwickelt worden, so die Bilder Tür und Hirte in der Hirtenrede (10,9.11) und das Bild vom Weinstock in 15,1.5. Dabei verwundert, dass das Bild vom Wasser im Gespräch Jesu mit der Samaritanerin sich nicht zu einem Ichbin-Wort verdichtet hat. Schließlich wurden auch zentrale theologische Begriffe in Ich-bin-Worte eingebunden: Auferstehung und Leben (11,25f) oder Wahrheit und Leben (14,6). Alle Bilder und Begriffe haben den bestimmten Artikel: Jesus ist das Brot, der Weg, die Wahrheit und das Leben, also der Inbegriff dessen, was diese Worte aussagen. Bei manchen wird das durch einen Zusatz erläutert: Er ist das Brot des Lebens, das Licht der Welt, der gute Hirte, der wahre Weinstock. Alle Ich-bin-Worte aber werden ergänzt durch eine bedingte Lebensverheißung, meist in Form einer Einladung: Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern (6,35); wer an mich glaubt, wird leben (11,25); wenn jemand durch mich hineingeht, wird er gerettet werden (10,9). Durch die Ich-bin-Worte werden drei Anliegen des 4. Evangeliums aufgenommen: 1. Die Konzentration auf die Person Jesu. In ihm offenbart sich Gott in seiner lebenspendenden Zuwendung zu den Menschen. 2. Die Zusage, dass Menschen in der Begegnung mit ihm die Fülle wahren Lebens finden, wie sie mit den Bildern und Begriffen umschrieben wird. 3. Die Einladung, zu Jesus zu kommen und an ihn zu glauben und so Leben in Fülle zu haben. In den anderen Evangelien findet sich keines dieser Worte. Sachlich entsprechen ihnen am ehesten Worte Jesu, in denen er sagt: Ich bin gekommen bzw. der Menschensohn ist gekommen (Mk 2,17; 10,45; Lk 12,49; 19,10). In ihnen wird schon in der ältesten Jesusüberlieferung die Person Jesu eng mit seinem Werk verbunden. Die Ich-bin-Worte führen diese Aussagen über die Heilsbedeutung Jesu weiter. Sie greifen auf die Selbstvorstellung Gottes durch sein ICH BIN in Ex 3,14; Dtn 32,39; Jes 41,4; 43,10f u.ö. zurück und bekennen: Gottes Zuwendung zu den Menschen, wie sie Israel in seiner Geschichte erfahren hat, wird in Jesu Person für alle Menschen leib-

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haftes Ereignis. Menschen, die andere Religionen der damaligen Zeit kannten, insbesondere Anhänger der Isis-Religion, werden in den Ich-binWorten Jesu auch ein Kontrastprogramm zu Selbstvorstellung und Lebensverheißung dieser Göttin gefunden haben. Aber ihr Ursprung liegt in der biblisch-jüdischen Vorstellungswelt. Die ›Ich-bin-Worte‹ fassen die Offenbarungstheologie des Johannes zusammen. »In ihnen offenbart sich der Sohn wie zuvor der Vater« in seinem ICH BIN (Schnelle, 171).

Brot ist für die Menschen der Bibel kein Lebensmittel unter anderen. Es ist das Grundnahrungsmittel schlechthin, Inbegriff für das, was man zum Leben braucht. Wenn Jesus von sich sagt: Ich bin das Brot des Lebens, d.h. das Brot, das wahres Leben schenkt, verspricht er den Menschen, dass die Gemeinschaft mit ihm ihren Lebenshunger stillt. Das wird im nächsten Satz ausdrücklich zugesprochen: Wer zu mir kommt, wird gewiss nicht mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten. Das Motiv des Lebensdurstes, das schon in 4,14 aufgegriffen worden war, wird wie selbstverständlich neben das vom Hunger nach Leben gestellt. Die Parallelität der beiden Satzteile macht klar: Zu Jesus kommen bedeutet an Jesus glauben und umgekehrt. Nach dem Verständnis des Johannesevangeliums ist Glaube an Jesus weit mehr als Zustimmung zu bestimmten Glaubenssätzen. Glaube ist Einkehr bei Jesus und damit Einkehr bei Gott. Jesu Wort in V. 35b steht in einem eigenartig spannungsvollen Zusammenhang zu der Aussage der Weisheit in Sir 24,21, die ihrerseits Motive aus Jes 55,1f aufnimmt: »Wer mich isst, den hungert immer noch mehr, wer mich trinkt, den dürstet immer noch mehr« (LÜ 24,28f). Es ist zweifellos eine tiefe Wahrheit, dass jeder, der von der Weisheit Gottes kostet, nie satt werden wird und nie genug hat. Aber zu Jesus zu kommen und an ihn zu glauben, führt zu einer Begegnung und in eine Gemeinschaft, in der der Hunger und der Durst nach »mehr« aufgehoben und gestillt ist, ohne dass man einfach satt wäre oder genug hätte. Diese grundsätzliche Zusage von V. 35 wird in den V. 36–40 näher erläutert und entfaltet. Am Anfang steht allerdings ein Vorwurf an die Gesprächspartner (36): Obwohl ihr mich gesehen habt, glaubt ihr (doch) nicht. Schon vorher (V. 26) hatte Jesus der Menge gesagt, dass sie zwar gesehen hat, was er tat, aber darin nicht das Zeichen erkannt hat, das auf Gottes Handeln durch ihn hinweist. Jetzt vertieft er diesen Vorwurf: Sie haben ihn gesehen, wie er Brot austeilte, aber sie haben ihr Herz nicht für die Wirklichkeit geöffnet, die in diesem Geschehen liegt, und glauben nicht, dass Gott durch ihn und in ihm wahres Lebensbrot schenkt. Dem wird eine doppelte Zusage gegenübergestellt ( 37): Alles, was mir mein Vater gibt, wird zu mir kommen, und den, der zu mir

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kommt, werde ich gewiss nicht hinausstoßen. Es ist Gott, der die Menschen auf den Weg zu Jesus schickt, und alle, die so von Gott bewegt werden, werden auch zu ihm kommen, das heißt: Sie werden an ihn glauben. Und keinen, der zu Jesus kommt, wird er wieder aus seiner Gemeinschaft hinausstoßen. Manche Übersetzungen schreiben hier abweisen (EÜ), um deutlich zu machen: Jesus weist keinen ab, der zu ihm kommt. Das ist sicher richtig; aber das griechische Wort bedeutet eindeutig hinausstoßen. Dasselbe Wort kommt noch einmal in 9,34 vor, wo die Juden den geheilten Blindgeborenen aus der jüdischen Gemeinschaft hinausstoßen. Dastut Jesus nicht, und wenn Menschen seine Gemeinschaft verlassen, dann nicht, weil er sie nicht duldet (vgl. V. 66). Ziel dieser Aussagen ist zweifellos, allen, die zu Jesus kommen und an ihn glauben, die Gewissheit zu schenken: Dass ihr zu Jesus gehört, ist nicht euer Werk, sondern Gottes Tat. Ihr gehört nicht nur auf Bewährung zu ihm, sondern für immer. Für uns steckt in dem Alles, was mir mein Vater gibt auch eine Frage: Bestimmt Gott im Voraus, wer zu Jesus kommt und wer nicht? Erwählt er die einen zum Glauben, aber die anderen nicht? Die Frage bleibt im Johannesevangelium merkwürdig offen. Einerseits wird immer wieder gesagt: Dass Menschen zum Glauben kommen, verdanken sie nicht eigener Entschlusskraft, sondern Gottes gnädigem Willen. Andererseits wird von denen, die nicht glauben, nicht gesagt, dass sie nicht glauben konnten (doch vgl. 12,39f). Ihnen gilt der Vorwurf: Obwohl ihr mich gesehen habt, glaubt ihr (doch) nicht. Zunächst aber versichert Jesus, dass sein Handeln und das, was daraus wird, ganz dem Willen Gottes entspricht (38): Denn ich bin nicht aus dem Himmel herabgekommen, damit ich meinen eigenen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Jesus greift damit zurück auf das, was er in V. 32f gesagt hat: Er selbst ist das Brot, das aus dem Himmel herabkommt. Und er kommt von Gott, nicht um aus eigener Vollmacht zu handeln und sich selbst durchzusetzen, sondern um den Willen Gottes zu tun. Die Willenseinheit Jesu mit dem, der ihn gesandt hat, ist ein ganz wichtiges Thema des Johannesevangeliums (vgl. 4,34; 5,30). Gottes Wille aber ist ein Wille zum Heil (39). Gott will, dass ich von allem, was er mir gegeben hat, nichts verloren gehen lasse. Hier wird mit anderen Worten wiederholt, was schon in 3,16f von der Sendung des Sohnes gesagt wird: Er ist gekommen, nicht um zu richten, sondern »damit die Welt durch ihn gerettet wird«. Hier aber scheint der Auftrag Jesu eingeschränkt; er gilt allem, was er (Gott) mir gegeben hat«. Damit tut sich eines der Rätsel des Evangeliums auf: Hat Gott Jesus die ganze Welt zur Rettung anvertraut oder nur die Schar der Auserwählten?

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Doch zunächst nennt Jesus positiv, was nach Gottes Willen das Ziel seiner Sendung ist: dass ich es (nämlich alles, was Gott ihm anvertraut hat) am letzten Tag auferwecke. Diese Wendung kommt in unserem Text fast refrainartig vor (vgl. V. 40.44.54). Man hat früher oft angenommen, diese Formel sei ein Zusatz einer späteren Redaktion, der die ursprünglich rein präsentische Aussage: »Wer glaubt, hat das ewige Leben« (3,36) an die traditionelle Endzeithoffnung der Christen anpasste. Aber die neueren Ausleger sind meist von dieser Vermutung abgerückt. Auch für Johannes hat die Hoffnung einen Zukunftshorizont, wenn am Ende der Geschichte, am letzten Tag (LÜ: Jüngsten Tag), die Glaubenden durch die Auferweckung des ganzen Menschen in die ungebrochene Gemeinschaft mit Gott hineingestellt werden. V. 40 fasst zusammen und verweist noch einmal auf V. 36 zurück: Denn das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges Leben hat, und ich werde ihn am letzten Tag auferwecken. Wer den Sohn sieht, also wahrnimmt, dass Gott in ihm gegenwärtig ist und handelt, und darum an ihn glaubt und sich Gottes Gegenwart in ihm anvertraut, der wird nach Gottes Willen in die Lebensgemeinschaft mit ihm aufgenommen werden, also ewiges, bleibendes Leben haben (3,36). Ihre Erfüllung aber findet diese Gemeinschaft in der Auferweckung am letzten Tag, dann, wenn Gottes Geschichte mit dieser Welt ans Ziel kommt. Das »Leben, das hier und jetzt im Glauben empfangen wird, ist untrennbar mit einer eschatologischen Zukunft verbunden, die sich in der Auferstehung am letzten Tag konkretisiert« (Zumstein, 266). 6,41–51 Wer bringt uns Brot von Gott? Mit den V. 41–51 beginnt ein neuer Gesprächsgang, in dem es vor allem um die Person Jesu und seine Behauptung geht, er sei das Brot des Lebens, die lebenspendende Nahrung, die Gott vom Himmel gesandt hat. Auffällig ist, dass als Gesprächspartner Jesu plötzlich die Juden auftreten. Bisher war es einfach die Volksmenge. Taucht eine neue Gruppe auf, vielleicht die Leute einer Art Religionsbehörde, wie das in 1,19 der Fall zu sein scheint? Oder wird jetzt die Volksmenge als Juden identifiziert, weil sie eine Rolle übernimmt, die der Evangelist mit diesem Begriff kennzeichnet? Für die zweite Alternative spricht gleich das erste Verb, das das Verhalten der Leute beschreibt: die Juden murrten über ihn (41). Damit wird wieder auf die Mannageschichte in Ex 16 angespielt. Im Bericht über die Wüstenwanderung des Volks ist das Murren der Israeliten Zeichen immer neuer Auflehnung gegen Gott (Ex

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15,24; 16,2.7; 17,3; Num 14,27). Nach Ps 106,24f war dieses Murren durch mangelndes Gottvertrauen verursacht und daher Ausdruck des Unglaubens. In diesem Sinn wird auch hier von Murren gesprochen. Denn im Folgenden geht es weniger um Unzufriedenheit, sondern um den Protest gegen den Anspruch Jesu. Dieser Protest richtet sich vor allem gegen Jesu Aussage: Ich bin das Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist. Der Satz ist zwar bisher nicht wörtlich gefallen, aber eine sinngemäße Zusammenfassung der Worte Jesu in den V. 33.35.38. Dass ein Mensch beanspruchte, das entscheidende »Lebensmittel« zu sein, durch das Gott neues und wahres Leben schenkt, das war unannehmbar. Ein Argument gegen Jesu Anspruch, aus dem Himmel herabgekommen, d.h. direkt von Gott gesandt zu sein, sehen seine Gegner in der Tatsache, dass sie zu wissen glauben, woher er kommt (42): Ist dieser nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Eine ähnliche Situation wird in Mk 6,1–6 (par Mt 13,53–58) berichtet. Dort sagen die Leute in Nazareth: »Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn, und der Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simons? Sind nicht auch seine Schwestern hier bei uns?« Sie denken, sie wissen, woher Jesus kommt, und deshalb auch, wer er ist. Bei Johannes wird das Argument dadurch verschärft, dass Jesus Sohn Josefs genannt wird (vgl. auch 1,45). Bezeichnenderweise greift Johannes nie auf die Überlieferung von Mt 1 oder Lk 2 zurück, die sagt, dass Jesus in Wahrheit von Gottes Geist gezeugt und deshalb Gottes Sohn sei und Josef nur sein menschlicher Adoptivvater war (vgl. Lk 3,23). Für ihn gehört die Elternschaft von Josef und Maria zur Fleischwerdung des Wortes. Jesu Gottessohnschaft hat nichts mit seiner biologischen Abstammung zu tun. Jesus weiß um den Protest seiner Gesprächspartner und ruft sie auf, sich nicht gegenseitig in dieser negativen Haltung zu bestätigen (43): Murrt nicht untereinander, sagt er. Aber er zerstreut ihre Einwände nicht, indem er auf das Geheimnis seiner Herkunft verweist. Er spricht zu ihnen über das Geheimnis des Glaubens (44): Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zieht. Zu Jesus kommen ist bei Johannes gleichbedeutend mit an Jesus glauben (vgl. V. 35). Dadurch wird klar: Zu glauben ist nicht nur eine intellektuelle oder emotionale Entscheidung. Zu glauben bedeutet, sich mit seinem ganzen Leben in die Gemeinschaft Jesu zu begeben. Das aber »liegt nicht in der Entscheidungsmacht des Menschen« (Zumstein, 268). Gott selbst, der Jesus gesandt hat und in seinem

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Wirken handelt, muss die Menschen dazu befähigen, zu Jesus zu kommen: Er muss sie ziehen. Dass Gott Menschen in seine Gemeinschaft zieht, sie zu ihrem Heil lockt, ist im Alten Testament Ausdruck der Liebe Gottes (vgl. Hos 11,1.4; aber auch Hld 1,4). Dass Jesu Wesen und Vollmacht nicht von seinen menschlichen Eltern bestimmt wird, sondern von dem Vater, der mich gesandt hat, können nur die glauben und erkennen, die von Gottes Liebe, die sich in ihm offenbart, ergriffen und zu ihm geführt werden. »Der Mensch kann über den Glauben nicht verfügen, er ist ein Geschenk Gottes« (Schnelle, 174). Wo das geschieht, wo ein Mensch zu Jesus kommt, da gehört er ihm ganz, mit Leib und Leben, in Gegenwart und Zukunft. Darum gilt ihm auch die Zusage: Ich werde ihn am letzten Tag auferwecken. Dass Gott so handelt, ist schon in den Heiligen Schriften Israels verheißen (45). Bei den Propheten ist geschrieben: »Und es werden alle von Gott gelehrt sein«. Das ist kein wörtliches Zitat, greift aber sinngemäß Jes 54,13 auf: »Alle deine Söhne werden Jünger des Herrn sein« (vgl. auch Jer 31,34). Das Ziehen Gottes zeigt sich also nicht in einem irrationalen Überwältigtwerden, sondern darin, dass Menschen in die Schule Gottes gehen, sein Wort hören und von ihm lernen, worauf es wirklich ankommt: Jeder, der vom Vater gehört und gelernt hat, kommt zu mir. Vielleicht steht im Hintergrund dieser Aussage die Überzeugung der Rabbinen, dass Gott die Menschen im Studium der Tora zu sich zieht. Die Schrift aber verweist auf Jesus (vgl. 5,39). Auf ihn zu hören und von ihm zu lernen ist der Weg zum Glauben, auf dem Gott Menschen zu Jesus führt. Nur er kann den Menschen Gott nahebringen und den Blick für ihn öffnen (46). Denn es ist ja nicht so, dass jemand anderes den Vater gesehen hätte. Es gibt keinen, der das sagen könnte, außer dem, der von Gott ist, der hat den Vater gesehen. Damit wird aufgenommen, was schon in 1,18 gesagt wurde: Der Einzige, der über Gott Auskunft geben und seine Wirklichkeit aufdecken und auslegen kann, ist der, der aus Gottes Wesen und Wirklichkeit kommt und lebt, der »einziggeborene Sohn«. Er hat den Vater gesehen, und das heißt ja nicht, dass er Gott irgendwie zu Gesicht bekommen hat, sondern dass er Gott und seine Liebe in ihrer ganzen Tiefe kennt. Weil die Glaubenden in ihm wirklich Gott begegnen, darum gilt (47): Amen, amen, ich sage euch, wer glaubt, hat ewiges Leben (vgl. 3,16.36). Wer sich im Glauben hineinnehmen lässt in die Gotteswirklichkeit, die in Jesus gegenwärtig ist, der hat schon jetzt Anteil am Leben, das Gott schenkt, d.h. am wahren, am ewigen Leben. Das klingt wie eine Einladung und nimmt noch einmal

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V. 43 auf: Murrt nicht, d.h. lehnt euch nicht gegen Gottes Weg auf, sondern glaubt, vertraut euch Gott an! Zwischen diesen beiden Aufforderungen wird freilich gesagt, dass niemand zu Jesus kommen und an ihn glauben kann, wenn ihn Gott nicht zieht. Und doch ergeht auch an die, die (noch) nicht glauben, die Einladung, zu Jesus zu kommen. Sie sind nicht einfach als nicht-erwählt abgeschrieben! Immer wieder treffen wir im 4. Evangelium auf diese Spannung: Dass Menschen glauben können, ist allein Gottes Werk. Aber gerade deshalb trifft alle der Ruf, sich seinem Wirken zu öffnen. Aber dann geht Jesus auf die eigentliche Frage ein, die seine Gesprächspartner bewegt: Wer ist dieser Mann wirklich: ein Mensch unter anderen oder Gottes einzigartiger Gesandter? An die Zusage ewigen Lebens anknüpfend wiederholt Jesus die Kernaussage des Gesprächs (48): Ich bin das Brot des Lebens (vgl. V. 35) und erklärt dann mit Hilfe der Mannageschichte (Ex 16), was er mit Leben meint (V. 49f) und welche Bedeutung es hat, dieses Brot zu essen (V. 51). Zuerst weist er auf die begrenzte Wirkung des Manna hin. Es war trotz seiner wunderbaren Herkunft ein Nahrungsmittel wie viele andere (49): Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind (doch) gestorben. Das mag einfach ein Hinweis darauf sein, dass auch die, die dieses »Himmelsbrot« (Ps 78,24f) gegessen haben, wie alle Menschen sterben mussten. Vielleicht wird damit aber auch daran erinnert, dass gerade die Wüstengeneration als Folge ihres Ungehorsam vor dem Einzug ins Gelobte Land den Tod fand (Num 14,26–30). Das Manna konnte sie nicht vor diesem Geschick bewahren. Ganz anders das Brot des Lebens (50). Das ist wirklich das Brot, das aus dem Himmel herabkommt. Es stillt nicht nur vorübergehend den leiblichen Hunger. Gott schickt es, damit jemand von ihm isst und nicht stirbt. Dass damit keine leiblich-irdische Unsterblichkeit gemeint ist, wird in 11,25f bei der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus klargestellt werden. Wer von diesem Brot isst – und das bedeutet offensichtlich: Wer an Jesus glaubt –, »ist dem Sterben in die ewige Nichtigkeit hinein, der absoluten Gottferne, enthoben« (Theobald, 475). Anders als die Väter und Mütter des Volkes Israel werden die Glaubenden das »Gelobte Land« der Gemeinschaft mit Gott sehen und darum leben. Noch einmal variiert Jesus die Grundaussage der »Brotrede« (51): Ich bin das lebendige Brot, heißt es jetzt. Das Brot des Lebens, das Leben schenkt, ist lebendiges Brot, d.h. es ist in Jesu Person und Leben gegenwärtig. Er, der vom Vater gesandt ist, ist aus dem

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Himmel herabgekommen und bringt deshalb Leben von Gott mit sich. Darum gilt: wenn jemand von diesem Brot isst, wird er in Ewigkeit leben. Wurde bisher das Ereignis des Glaubens mit dem Bild des Kommens zu Jesus umschrieben, so liefert das Bild vom Brot eine neue Metapher: Vom Brot essen, das Jesus ist und das er gibt, das ist der Weg, am Leben aus Gott teilzuhaben, das in ihm gegenwärtig wird. Es liegt nahe, hier an das Essen beim Abendmahl zu denken, aber das Bild steht zugleich für das Ereignis des Glaubens als Ganzes. Dann aber nimmt die Erklärung Jesu eine ganz unerwartete Wende: das Brot nun, das ich geben werde und – so darf ergänzt werden – das ich selbst bin, ist mein Fleisch (, gegeben) für das Leben der Welt. Plötzlich ist nicht nur von der Herabkunft des Sohnes vom Himmel und der Fleischwerdung des Wortes die Rede, sondern von der Lebenshingabe Jesu. Ganz offensichtlich wird damit auf Jesu Tod am Kreuz hingewiesen (vgl. 10,11.15; 11,50f; 15,13). Er gibt sein Leben, und zwar gerade sein ganz und gar irdischen Leben, sein Fleisch, für das Leben der Welt. Heißt es bei der Einsetzung des Abendmahls in Lk 22,19; 1Kor 11,24: »mein Leib für euch (gegeben)«, so bei Johannes: mein Fleisch (, gegeben) für das Leben der Welt! Dass Jesus als »Träger göttlichen Lebens« und Fleisch gewordenes WORT die menschliche Existenz (das Fleisch) »bis zur Neige des Todes durchschritten hat«, das öffnet für die von Gott getrennte und dem Tod verfallene Welt das Tor zu wahrem Leben (Theobald, 477f). Die Wendung für das Leben der Welt ist im Neuen Testament einzigartig. Im Johannesevangelium steht sie in einer Linie mit 1,29 (»das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt«), 3,16 (»So sehr hat Gott die Welt geliebt«), 4,42 (»Dieser ist wirklich der Retter der Welt«) und 6,33 (das Brot vom Himmel »gibt der Welt das Leben«). Das ist die universale Linie im 4. Evangelium, die festhält, dass Gottes rettendes Handeln in Christus der ganzen Welt gilt. 6,52–59 Wie wird das konkret? Die beiden Wendungen Brot essen und mein Fleisch liefern die Stichworte für den letzten Gesprächsgang in Jesu Rede über das Brot des Lebens (52–59). Er spricht in geradezu provozierender Weise von der Notwendigkeit, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken. Den Anstoß dafür liefert aber eine Diskussion unter den Juden, die auf den ersten Blick auf einem typischen Missverständnis zu beruhen scheint. Dabei wenden sie sich nicht gegen Jesus, sondern streiten untereinander über die Frage, wie er ihnen denn sein Fleisch zu essen geben könnte. Das Wort für streiten

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wird oft auch für Lehrstreitigkeiten verwendet (vgl. 2Tim 2,23f; Tit 3,9; Jak 4,1f), es könnte aber auch auf das Hadern der Israeliten in der Wüste anspielen (vgl. Ex 17,3; Num 20,3.13). Jedenfalls wird signalisiert: Was Jesus sagt, ist Anlass zum Streit. Dabei hatte Jesus bisher gar nicht vom Essen seines Fleisches gesprochen. Die Bilder vom Essen des Brotes und der Hingabe des Fleisches (= Lebens) standen noch unverbunden nebeneinander. Aber mit einem feierlichen Amen-Wort nimmt er die Frage seiner jüdischen Gesprächspartner auf und sagt, worum es in ihr wirklich geht (53): Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns esst und sein Blut trinkt, habt ihr kein Leben in euch. Das ist eine zutiefst anstößige Aussage. Das Fleisch eines Menschen zu essen war für Juden und Heiden ein Tabu und der Genuss von Blut für Israel absolut verboten (Gen 9,4; Lev 3,17; 7,26f; vgl. Apg 15,20). Doch hat das Begriffspaar Fleisch und Blut vielfältige Bedeutung. Es bezeichnet Menschsein in seiner natürlichen Begrenzung (Mt 16,17; 1Kor 15,50; Gal 1,16) oder die von gewaltsamen Tod bedrohte Grundsubstanz menschlichen Lebens (Jes 49,26; Hes 39,17f 1Makk 7,17) und die Hauptbestandteile eines Opfers (Lev 6,20; Dtn 12,27), aber auch das, was Verwandte und Volksgenossen verbindet (Gen 37,27; Neh 5,5; Jes 58,7). Auffällig ist dabei, dass von Fleisch und Blut des Menschensohns gesprochen wird. Im Johannesevangelium wird damit auf den verwiesen, der vom Himmel herabgekommen ist und durch seinen Tod erhöht werden wird (3,13f). Aber es dürfte auch eine Anspielung auf die Leidensweissagungen der anderen Evangelien vorliegen, in denen durchgehend vom gewaltsamen Tod des Menschensohns gesprochen wird (Mk 8,31 par Lk 9,22; Mk 9,31 par Mt 17,22; Lk 9,43; Mk 10,33 par Mt 20,18; Lk 18,31). Sein Fleisch essen und sein Blut trinken, bedeutet also, Leben und Tod des von Gott gesandten »Menschen« in sich aufzunehmen. Sonst habt ihr kein Leben in euch, das heißt: Nur so wird von Gott geschenktes Leben Grundlage eurer Existenz! Was zunächst negativ abgrenzend formuliert war, wird noch einmal positiv als Zusage ausgesprochen (54): Wer mein Fleisch verzehrt und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben. Nun spricht Jesus ausdrücklich von sich, wenn er sagt: mein Fleisch und mein Blut. Er ist der Menschensohn. Und statt essen heißt es verzehren (wörtlich: kauen; doch bedeutet das Wort oft auch einfach essen, z.B. in dem Zitat von Ps 41,10 in 13,18). Das aber scheint ein klarer Hinweis zu sein, dass mit mein Fleisch essen und mein Blut trinken auf das Abendmahl angespielt wird. Zwar wird sonst in der Abendmahlsüberlieferung von Leib und Blut Jesu gesprochen

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(vgl. Mk 14,22–24 par Mt 26,26–28; Lk 22,19f par 1Kor 11,24f). Aber die immer neue Wiederholung der Wendung mein Fleisch essen/verzehren und mein Blut trinken scheint unausweichlich auf den Genuss von Brot und Wein beim Abendmahl zu verweisen. Haben wir hier den johanneischen »Einsetzungsbericht« des Abendmahls vor uns, der dann in Kap. 13 fehlt? Die Ausleger sind gegensätzlicher Meinung. Für viele ist klar, dass hier vom Essen und Trinken der Elemente des Abendmahls die Rede ist. Andere sehen in der Wendung mein Fleisch essen / mein Blut trinken eine bildhafte Redeweise für einen Glauben, der sich die Lebenshingabe Jesu (Fleisch und Blut) als lebenspendende Nahrung mit jeder Faser der Existenz einverleibt (essen und trinken). Sie sind überzeugt, dass der Evangelist – selbst wenn die Szene erst aus nachösterlicher Perspektive erzählt wird – unmöglich der Meinung sein konnte, Jesus habe zu seinen jüdischen Gesprächspartnern schon jetzt von der grundlegenden Bedeutung des Abendmahls gesprochen. Eine Entscheidung ist schwierig. Einerseits kann der Evangelist diese Worte kaum geschrieben haben, ohne an das Abendmahl zu denken oder zumindest damit zu rechnen, dass seine Leser und Leserinnen das tun. Andererseits gibt es eine Reihe von Signalen dafür, dass er trotz des starken Bildes vom Essen und Trinken von Fleisch und Blut Jesu gerade nicht wie Ignatius von Antiochien († ca. 115 n.Chr.) vom Abendmahl als einer Arznei der Unsterblichkeit spricht, sondern von einer ganz intensiven Beziehung zu Jesus, die mit diesen Bildern veranschaulicht wird. Denn hieß es bisher: »Wer an mich glaubt, hat das ewige Leben« (3,36; 5,24), so hier: Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben. Beide Wendungen nennen verschiedene Aspekte des gleichen Geschehens. Die Grundaussage Jesu lautet also: Wer sich mich und mein Leben und Sterben einverleibt – im Glauben und durch Brot und Wein beim Abendmahl –, der nimmt das wahre Leben in sich auf. Und noch einmal ertönt der Refrain, der die ganze Rede durchzieht: und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag. Nicht eine durch magische Speise erworbene Unsterblichkeit ist Grund zur Hoffnung, sondern die lebendige Beziehung zu Jesus. Allerdings weist das folgende Wort Jesu noch einmal ausdrücklich auf die grundlegende Bedeutung des Essens und Trinkens hin (55): Denn mein Fleisch ist wahre Speise und mein Blut ist wahrer Trank. Aber gleich, ob man Fleisch und Blut auf die Elemente des Abendmahls bezieht oder sehr viel allgemeiner auf die Lebenshingabe Jesu: Essen und Trinken sind in jedem Fall Bild für eine tiefere Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit, dass in der Begeg-

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nung mit Jesus, und zwar gerade auch beim Mahl, wahres Leben aus Gottes Hand unser Leben erfüllt. Darum sind sein Fleisch und sein Blut wahre Speise und wahrer Trank, die den Hunger und Durst nach Leben wirklich stillen. Was die Begegnung mit Jesus bewirkt, wird in einer weiteren Variation der grundsätzlichen Aussage erklärt (56): Wer mein Fleisch verzehrt und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm. Das ist die Stelle, die am klarsten zeigt, dass der Akt wirklichen Essens nicht im Vordergrund dieser Worte steht. Wäre dies der Fall, müsste im Nachsatz das ich in ihm an die erste Stelle treten. »Bleibt in mir und ich in euch« ist eine der zentralen Weisungen Jesu im Johannesevangelium (vgl. 15,4–7). Hier ist das Motiv Inhalt einer Verheißung. Wer Jesu Lebenshingabe in sein Leben aufnimmt, dessen Leben ist bleibend in Jesus und der Gottesgegenwart in ihm geborgen. Und umgekehrt wird so die Christuswirklichkeit, d.h. die durch ihn verkörperte Liebe Gottes, Inhalt und Mittelpunkt eines Lebens. Das paulinische »in Christus« (2Kor 5,17 u.ö.) und »Christus in mir« (Gal 2,20) wird hier als Wort und Verheißung Jesu formuliert. Dass das Essen von Fleisch und Blut Jesu wahres Leben schenken kann, wird durch seine einzigartige Verbindung mit Gott erklärt (57): Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich durch den Vater lebe, (so) wird auch der, der mich verzehrt, durch mich leben. Entscheidend für alles, was Jesus tut und sagt, ist, dass er von Gott, dem lebendigen Vater, dem Ursprung und Schöpfer allen Lebens, gesandt ist. Darum lebt er durch den Vater – doch nicht nur für sich selbst. Als Träger wahren Lebens wird er auch für andere zur Quelle des Lebens. Der, der mich verzehrt, wird leben – hier wird ganz deutlich, dass es bei dem Bild vom Essen und Trinken von Fleisch und Blut Jesu um die Begegnung mit ihm geht und darum, ihn ganz in das eigene Leben aufzunehmen. Wer das tut, bekommt Anteil an dem Leben, das Jesus selbst lebt. Am Schluss wird noch einmal das Motiv vom Anfang aufgenommen, nämlich die Frage nach dem Brot, das Gott schenkt, nach der Nahrung, die den Lebenshunger stillt (58): Jesus und seine Lebenshingabe, das ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Und noch einmal wird betont, dass sich dieses Brot grundsätzlich vom Manna unterscheidet: (Es ist) nicht wie (das, welches) die Väter gegessen haben und (doch) gestorben sind. Nein: Wer dieses Brot verzehrt, wird in Ewigkeit leben. Christus schenkt wahres Leben, das nicht dem Tod unterworfen ist. Der Bericht endet mit einer eigenartigen Notiz (59): Das sagte er, als er in der Synagoge in Kapernaum lehrte. Gemeint ist nicht die prächtige Synagoge, deren Reste man heute bei den Ausgrabun-

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gen von Kapernaum bewundern kann. Sie wurde erst viel später, Ende des 4. Jahrhunderts gebaut. Wahrscheinlich liegen unter ihr die Reste einer sehr viel kleineren Synagoge aus dem 1. Jahrhundert. Manche Ausleger wollen deshalb das griechische Wort synagoge mit Versammlung übersetzen, weil die Menge Menschen, mit der Jesus nach 6,24–26 diskutierte, nicht in ein solches Haus gepasst hätte. Tatsächlich dürfte der Evangelist nicht nur das Gebäude gemeint haben, sondern auch die dort versammelte »Gemeinde«. Aber warum ist ihm diese Notiz so wichtig, dass er sie noch nachträglich hier anhängt? Sie hat drei Funktionen: 1. Sie zeigt: Jesus hat öffentlich gelehrt (vgl. 18,20: »Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und im Tempel«). Joh 6 ist das einzige Beispiel dafür, das von Johannes erzählt wird. 2. Sie nimmt die für die anderen Evangelien so wichtige Kapernaum-Tradition auf. 3. Jesu Auseinandersetzung mit den »Juden« findet im Lehrhaus Israels statt. Der Abschnitt 6,51c–59 wirft viele Fragen auf, und zwar nicht nur die Frage, ob er direkt von Abendmahl spricht oder mit dem Bild vom Essen und Trinken von Fleisch und Blut Jesu ganz allgemein die Teilhabe an der Lebenshingabe Jesu meint. Viele Ausleger betrachten den Abschnitt als Fremdkörper im ursprünglichen Evangelium und sehen in ihm den Einschub einer späteren »kirchlichen« Redaktion, die den Sakramentsgedanken eingetragen hat, der dem Evangelium fremd war. Argument dafür ist der überraschende Wechsel der Thematik in V. 51: Nicht Jesus ist das Lebensbrot, das der Vater gibt, sondern er selbst gibt das wahre Brot in Gestalt seines Fleisches und Blutes. Merkwürdig ist auch der eklatante Widerspruch zu 6,63: »Das Fleisch nützt nichts«. Allerdings sind die meisten Ausleger heute der Meinung, dass der Einschub nicht durch eine dem Evangelisten fernstehende Redaktion, sondern im Zuge einer erneuten Durcharbeitung des Evangeliums, einer relecture, vom Evangelisten selbst oder der ihm nahestehenden Gruppe der Herausgeber (s. 21,24) eingefügt wurde. Aber, wie unsere Auslegung gezeigt hat, ist der Abschnitt auch als ursprünglicher Bestandteil des Evangeliums verständlich.

1. Wovon lebt der Mensch? Das ist die Frage, um die dieses lange Gespräch kreist. Dass der Mensch Brot oder andere substantielle Nahrung braucht, ist unbestritten. Jesus hat ja gerade eine große Menschenmenge mit fünf Brötchen und zwei Fischen gespeist. Aber reicht das, um wirklich zu leben? Auch bei Israels Weg durch die Wüste speist Gott das Volk mit Manna, um es am Leben zu erhalten (Ex 16). Aber das Geschenk des Manna ist wie die Speisung der 5000 Zeichen für die umfassendere Wahrheit, »dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN geht« (Dtn 8,3; vgl. Mt 4,4). Darum ist Jesus, das Fleisch gewordene

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Wort Gottes, das Brot des Lebens, die »Nahrung«, die wirkliches und bleibendes Leben schenkt. Diese Aussage lebt von der Anschaulichkeit des Bildes vom Brot. Wird sie mit abstrakten Worten erklärt, verliert sie an Kraft. Dennoch sollen zwei, drei Aspekte genannt werden: Wer sich für Jesu Wort und Wirken öffnet, wird hineingenommen in die Gemeinschaft mit Gott, der Leben schafft und erhält. Wer sich Gottes Gegenwart in Jesus Christus anvertraut und an ihn glaubt, wird aus der »todbringenden Ich-Befangenheit« gelöst und hineingestellt »in die Weite des Lebens«, das Gott schenkt und dessen Horizont weit über unsere zeitlich begrenzte Existenz hinausreicht (Theobald, 486). Insofern hat, wer glaubt, schon jetzt das ewige Leben. Doch auch wer schon jetzt ein erfülltes Leben von Gott empfängt, darf auf Vollendung hoffen, Vollendung, in der uns Christus mit Leib und Leben in die völlige Gemeinschaft mit Gott stellt. Das ist der Sinn der refrainartigen Verheißung Jesu: und ich werde ihn am letzten Tag aufwecken (V. 40.44.54). 2. Wie können wir glauben? Das ist die zweite Frage, die sich durch dieses Gespräch zieht. Die Antwort scheint zwiespältig, wie oft bei dieser Frage im Johannesevangelium. Einerseits gibt es eine klare Aufforderung Jesu: Erarbeitet (euch) oder (wörtlich) wirkt … die Speise, die zum ewigen Leben bleibt (V. 27). Und auf die Frage der Leute: Was sollen wir tun? gibt Jesus die Antwort: Das rechte Tun vor Gott ist, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat (V. 28f). Darum auch der Vorwurf, dass die Leute gesehen haben, was Jesus tat, und doch nicht glauben (V. 36). Daneben aber steht die Feststellung: Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zieht (V. 44; vgl. V. 37). Wie V. 35 zeigt, bedeutet wer zu mir kommt und wer an mich glaubt dasselbe. Das heißt: Wir sollen glauben und können es doch nicht, wenn Gott es nicht schenkt! Paulus drückt diese Paradoxie mit ganz ähnlichen Worten aus: »Bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern! Denn Gott ist es, der in euch wirkt, sowohl das Wollen als auch das Wirken zu seinem Wohlgefallen« (Phil 2,13f REB). Der Mensch ist gefragt, im Glauben das Tor zum Leben zu durchschreiten. Aber er wird dankbar und demütig erkennen: Wenn Gott nicht selbst das Tor öffnet und uns zu sich holt, können wir den Weg nicht gehen. Auch »als des Menschen Tat« bleibt der Glaube »Gottes Werk« (Weder, Menschwerdung 375f). 3. Wie wird das konkret? Das ist die letzte Frage, auf die Jesus antwortet. Fast möchte man annehmen, jemand habe dazwischengerufen: »Aber der Mensch muss doch etwas zu beißen haben!« – so konkret und anstößig spricht Jesus vom Verzehren, ja vom Kauen seines Fleisches und vom Trinken seines Bluts. Es liegt nahe, dass hier vom

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Genuss des Abendmahls die Rede ist, jedenfalls werden alle späteren Leser diese Verbindung ziehen. Hier wird Glaube konkret: Ich darf durch die Gaben des Mahls schmecken und sehen, wie freundlich und barmherzig Gott ist (vgl. Ps 34,9). Aber auch für diese Gaben gilt: Letztlich sind sie Zeichen, die darauf hinweisen, wo die Liebe Gottes in Jesus Christus ganz konkret wird: auf die Lebenshingabe Jesu, in der er mit seinem Fleisch und Blut für diese Welt eintrat, um ihr und den Menschen in ihr durch seinen Tod Leben zu geben. 6,60–71 Jesus provoziert Ent-Scheidungen im Kreis der Jünger 60

Viele nun von seinen Jüngern, die (das) hörten, sagten: Hart ist diese Rede. Wer kann sie hören? 61Da Jesus bei sich wusste, dass seine Jünger darüber murrten, sagte er zu ihnen: Daran nehmt ihr Anstoß? 62(Was aber,) wenn ihr nun den Menschensohn hinaufsteigen seht (dorthin), wo er zuerst war? 63Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich euch gesagt habe, sind Geist und sind Leben. 64Aber es sind einige unter euch, die nicht glauben. Denn Jesus wusste von Anfang an, welche es sind, die nicht glauben, und wer es ist, der ihn ausliefern würde. 65Und er sagte: Deshalb habe ich euch gesagt, dass niemand zu mir kommen kann, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist. 66Von da an zogen sich viele seiner Jünger zurück und wanderten nicht mehr mit ihm umher. 67 Da sagte Jesus zu den Zwölf: Wollt etwa auch ihr weggehen? 68 Simon Petrus antwortete ihm: Herr, zu wem sollen wir (denn) gehen? Du hast Worte ewigen Lebens, 69und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist. 70Jesus antwortet ihnen: Habe ich nicht euch, die Zwölf, ausgewählt? Und (doch) ist einer von euch ein Teufel. 71Er meinte aber Judas, den (Sohn) des Simon Ischariot, denn dieser sollte ihn ausliefern, einer von den Zwölf! Mit dem Bericht von der Reaktion der Jünger auf Jesu Rede schließt Kap. 6 eindrucksvoll. Der Abschnitt gliedert sich in zwei Teile: Die V. 60–66 beschreiben die negative Reaktion vieler seiner Jünger, die V. 67–71 die Antwort der Zwölf auf Jesu Frage, ob auch sie weggehen wollen. Simon Petrus formuliert ein klares Bekenntnis zu Jesus. Aber auch hier steht mit der Vorhersage des Verrats des Judas ein warnendes Negativbeispiel daneben. Nicht mehr »die Juden« und ihr Unverständnis stehen nun im Blick des Evangelisten, sondern Probleme unter den Jüngern. Of-

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fensichtlich geht der Erzähler von einem relativ großen Kreis von Menschen aus, die Jesus folgen. Er berichtet nämlich, dass viele von seinen Jüngern, nachdem sie Jesus zugehört hatten, ablehnend reagierten und sagten (60): Hart ist diese Rede. Wer kann sie hören? Sie finden das, was Jesus sagt, unerträglich. Woran in den Worten Jesu nehmen sie Anstoß? Es gibt zwei Anknüpfungspunkte: Ihre Entrüstung kann sich auf die grundsätzlichen Aussagen in den V. 35–51 beziehen, in denen sich Jesus als das vom Himmel gekommene Lebensbrot bezeichnet. Kann ein irdischer Mensch behaupten, dass Gottes Wirken in ihm so ausschließlich gegenwärtig wird? Es ist das Ärgernis der Inkarnation, das hier angesprochen wird. Möglich ist aber auch, dass sich diese Reaktion auf Jesu Aussage über das Essen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes in den V. 52–58 bezieht. Vermutlich liegt das Problem nicht darin, dass sie Jesu Worte missverstehen, indem sie sie wörtlich nehmen. Solche Missverständnisse dienen im vierten Evangelium dazu, den richtigen Sachverhalt zu erklären. Die Jünger nehmen vielmehr Anstoß daran, dass nur die von Gott wahres Leben empfangen, die die Hingabe des Lebens Jesu, sein Fleisch und Blut, für sich annehmen. Es ist das Ärgernis des Kreuzes, das hier aufscheint (vgl. 1Kor 1,18–25). Die Jünger sprechen darüber nicht mit Jesus (61). Aber er weiß, dass sie sich innerlich empören und murren, wie die Juden in V. 41 und die Israeliten beim Zug durch die Wüste. Sie fragen nicht, sondern wenden sich innerlich von Jesus ab. Und Jesus fragt verwundert: Daran nehmt ihr Anstoß? Man müsste eigentlich übersetzen: Daran kommt ihr zu Fall? denn es geht nicht nur darum, dass sie Jesu Verhalten unpassend finden, sondern dass sie in ihrer Empörung auf dem Weg zu Gott straucheln und zu Fall kommen. Aber – so scheint Jesus zu fragen – ist das wirklich schon Anlass, an mir irre zu werden? Denn er fragt weiter (62): (Was aber,) wenn ihr nun den Menschensohn hinaufsteigen seht (dorthin), wo er zuerst war? Diese Frage lässt darauf schließen, dass sich die Jünger vor allem an der Behauptung Jesu stoßen, er sei vom Himmel herabgekommen. Wie kann das ein Mensch von sich sagen? Aber, so fragt Jesus: Wie werdet ihr reagieren, wenn ich, der Menschensohn, wieder zum Vater hinaufsteige? Denn – so die stillschweigende Voraussetzung dieser Frage – dieses hinaufsteigen wird keine triumphale Himmelfahrt mit einem feurigen Wagen sein. Jesus steigt hinauf, dorthin, wo er zuerst war, indem er am Kreuz »erhöht« wird (vgl. 3,13f; 8,28; 12,32f). Jesu Weg zum Vater geht über das Kreuz. Zum Ärgernis der Inkarnation tritt das Ärgernis des Kreuzes.

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Beide gehören für Johannes untrennbar zusammen. Was werden die Jünger dann sagen? Jesus erwartet keine Antwort, sondern fügt eine sehr überraschende Aussage an (63): Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts. Überraschend ist die Aussage deswegen, weil Jesus ja gerade so intensiv von der Notwendigkeit gesprochen hat, sein »Fleisch zu essen« (V. 51–56). Dies ist einer der Gründe, warum viele Ausleger diese Verse für einen späteren Einschub halten. Aber auch, wenn wir sie ausscheiden, bleibt der Widerspruch zu 1,14. Warum wurde das WORT Fleisch, wenn das Fleisch nichts nützt? Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Widerspruch zu erklären: Entweder bezieht man auch hier das Wort Fleisch auf die irdische Existenz des Menschensohns. Wer nur sie sieht, bleibt blind für das, was Gott durch ihn tut. Für Menschen, die ihn nur so wahrnehmen, kann das Kreuz nur Ausdruck einer menschlichen Katastrophe sein. Jesus nur als menschliches Vorbild ist zu wenig. Es ist der Geist, der durch Jesus wirkt und den er den Seinen nach seinem Weggang zum Vater schicken wird (14,26; 16,13), der Jesus als Bringer des Lebens ausweist und die lebendig macht, die an ihn glauben. Die andere Möglichkeit besteht darin, wie in 3,6 den Gegensatz von Fleisch und Geist auf die Existenz und das Verstehen der Menschen zu beziehen. Dort heißt es: »Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist«. Für unsere Stelle würde das bedeuten: Wer sich in seiner Begegnung mit Jesus und seiner Botschaft nur von den Maßstäben seiner irdischen Existenz (dem Fleisch) leiten lässt, wird ihn nicht verstehen. Nur wer sich von Gottes Geist leiten lässt, wird verstehen, wer Jesus wirklich ist und wie Gott durch ihn handelt. Nur der Geist kann Menschen dafür öffnen, Jesus, das Brot des Lebens, und seine Worte aufzunehmen. Darum kann nur er lebendig machen. Für (und gegen) beide Möglichkeiten gibt es gute Argumente, die Fortsetzung der Aussage Jesu spricht eher für die zweite Variante: Die Worte, die ich euch gesagt habe, sind Geist und sind Leben. Wie können Menschen, die doch von der Begrenztheit ihrer irdischen Existenz (dem Fleisch) bestimmt sind, Jesu Wort verstehen und aufnehmen? Nur deshalb, weil seine Worte vom Geist durchdrungen und bestimmt sind. Daher sind sie Leben und schaffen Leben in Fülle bei denen, die sie hören und aufnehmen. Dennoch bleibt das Rätsel des Unglaubens (64): Aber es gibt welche unter euch, die nicht glauben. Für Jesus ist das freilich keine Überraschung: Er wusste von Anfang an, welche es sind, die nicht

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glauben. Für ihn war auch klar, wer es ist, der ihn ausliefern würde. Die Tat des Judas, der Jesus an seine Gegner verrät und ausliefert, wird hier als Folge von Unglauben bezeichnet. Dieser reicht bis in den innersten Zirkel der Nachfolger. Zugleich betont Johannes, dass Jesus davon nicht überrascht war, sondern wusste, dass ihn einer seiner engsten Mitarbeiter verlassen und verraten würde. Die Souveränität Jesu zeigt sich in seinem Wissen. Das aber entlastet die Betroffenen nicht von der Verantwortung für ihren Weg. Um das Rätsel des Unglaubens zu erklären, erinnert Jesus die Jünger an ein Wort, das er ihnen schon vorher (V. 37.44) gesagt hatte (65): Deshalb habe ich euch gesagt, dass niemand zu mir kommen kann, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben wurde. Noch einmal wird betont: Zu Jesus zu kommen und an ihn glauben zu können, ist Geschenk und Gabe Gottes. Aber heißt das: Wer nicht glaubt, kann nichts dafür; er ist eben von Gott nicht beschenkt worden? Das dürfte kaum die Meinung des Evangelisten sein. Nach 16,9 besteht die Sünde der Welt darin, »dass sie nicht an mich glauben«. Unglaube ist »Ausdruck dafür, dass dem menschlichen Willen gegenüber dem Angebot des Offenbarers der Vorzug gegeben wird« (Zumstein, 280). Das bedeutet nicht im Umkehrschluss, dass diejenigen, die glauben, dies aus eigener Willensanstrengung geschafft haben. Es geht bei diesen gegensätzlich klingenden Aussagen »um das Geheimnis des Glaubens und Unglaubens …, das letztlich Gott allein kennt, weil nur er dem Menschen den Glauben gewähren kann, ohne seine Freiheit zu verletzen« (Blank Ib, 382). Die Wirkung dieser Aussage ist tiefgreifend. Es kommt zu einer Spaltung in der Gruppe der Jünger (66): Von da an zogen sich viele seiner Jünger zurück und zogen nicht mehr mit ihm umher. Das Wirken Jesu ist keine große Erfolgsstory, die erst am Karfreitag durch seine Liquidierung durch missgünstige Gegner beendet wurde. Auch unter seinen Anhängern ist es immer wieder zu Spaltungen und zur Abkehr vom ihm gekommen. Manche Ausleger vermuten, dass sich in dieser Erzählung auch Ereignisse in der Zeit nach Ostern widerspiegeln. Gab es so etwas wie eine »galiläische Krise« im frühen Urchristentum, bei der viele der Anhänger Jesu die Gemeinde verließen und sich wieder der Synagoge anschlossen? Oder steht hinter diesen Sätzen eine Abspaltung in der johanneischen Gemeinschaft, weil sich eine Gruppe gegen das Bekenntnis wandte, dass »Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist« (1Joh 4,2)? Beides ist möglich, bleibt aber Vermutung. Doch nun steuert die Erzählung ihrem eigentlichen Höhepunkt zu (67–71). Jesus wendet sich direkt an die Zwölf. Von diesem enge-

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ren Kreis um Jesus, den er selbst berufen hat (Mk 3,13–19), war bisher nicht die Rede. Johannes hat nichts von seiner Entstehung berichtet und wird ihn auch nur noch einmal erwähnen (20,24). Er setzt die Kenntnis dieser Gruppe bei seinen Lesern und Leserinnen selbstverständlich voraus. Das zeigt ein weiteres Mal, dass der Evangelist die urchristliche Evangelientradition kennt und in ihr lebt, seine Akzente aber sehr selbständig setzt. Ob die Zwölf die einzigen Jünger waren, die bei Jesus blieben, ist nicht sicher. Aber an sie stellt er die entscheidende Frage (67): Wollt etwa auch ihr weggehen? Wie in dem parallelen Bericht vom Bekenntnis des Petrus bei Cäsarea Philippi (vgl. Mk 8,27– 30; Mt 16,13–20; Lk 9,18–21) ergreift Simon Petrus das Wort und antwortet – gewissermaßen stellvertretend für den ganzen Kreis (68). Es war im Gedächtnis der Urchristenheit tief verankert, dass es Simon Petrus war, der an einem Wendepunkt des Weges Jesu das entscheidende Wort im Namen der Jünger aussprach. Allerdings werden Situation und Wortlaut des Bekenntnisses von Johannes anders geschildert als in den anderen Evangelien. Dort hatte Jesus die Jünger gefragt, wofür ihn »die Leute« halten, um sich dann an sie mit der Frage zu wenden: »Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?« (Mk 8,29). Hier aber folgt auf den Bericht, dass viele aus dem Kreis der Jünger weggingen, die Frage: Wollt etwa auch ihr weggehen? Es ist eindrucksvoll, wie die Antwort des Petrus diese Situation aufnimmt. Herr, zu wem sollen wir (denn) gehen? fragt er zurück. Er hat bei Jesus Orientierung und Sinn für sein Leben gefunden und kann sich nicht vorstellen, nach einem anderen Ziel oder Führer für sein Leben zu suchen, auch wenn so viele der Weggenossen wieder eigene Wege gehen. Petrus begründet auch, warum Jesus für ihn zum unverzichtbaren Lebensmittelpunkt geworden ist. Er bekennt: Du hast Worte ewigen Lebens und bestätigt damit Jesu Aussage in V. 63, dass seine Worte Geist und Leben sind. Seine Botschaft schenkt wahres, unzerstörbares Leben, weil sie in die Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott hineinführen. Das aber hat mit Jesu Person zu tun, denn: wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist (69). Glauben und erkennen sind für Johannes keine Gegensätze, sondern gehören zusammen (vgl. 8,31f; 10,38). Sich Jesu Botschaft zu öffnen ist der erste Schritt. Er aber führt dazu, zu erfahren und zu erkennen, dass sein Anspruch und seine Zusage wahr sind, weil sie in die Wirklichkeit Gottes führen. Dabei bezeichnet die griechische Vergangenheitsform nicht nur ein Ereignis in der Vergangenheit, sondern etwas, das bis heute gilt. Noch einmal scheint im Hintergrund Jes 43,10f auf, wo Gott Israel selbst als Zeugen auf-

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bietet, »damit ihr erkennt und mir glaubt und begreift, dass ich es bin!« (ZB) Auf Jesu ermutigende Zusage im Sturm: Ich bin’s (6,20) antworten die Jünger mit ihrem glaubenden und wissenden Du bist! Allerdings überrascht der Inhalt des Bekenntnisses: Jesu ist der Heilige Gottes. Die Wendung kommt in den Evangelien nur noch einmal in Mk 1,24 vor, dort im Mund eines Dämons. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele Handschriften hier mit Mt 16,16 schreiben: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes. Aber fast alle guten, alten Handschriften haben der Heilige Gottes, und es wäre nicht zu erklären, warum sie die vertraute Formulierung nachträglich durch eine ganz ungewöhnliche Bezeichnung ersetzt haben sollten. Allerdings ist es nicht richtig, wenn manche Ausleger meinen, das Bekenntnis des Petrus sei »etwas dürftig« und »mager« (Dietzfelbinger I, 186). Denn es heißt ja nicht ein Heiliger, sondern der Heilige Gottes. Heilig ist für biblisches Denken Gott selbst (Jes 6,3; Ps 99,9) und alles, was zu ihm gehört (Lev 19,2). Gott heißt »der Heilige Israels« (Jes 10,20; 30,15; 45,11). Aaron, der als erster Hohepriester den Zugang zu Gott vermittelt, ist »der Heilige des H ERRN « (Ps 106,16). Wenn Petrus zu Jesus sagt: Du bist der Heilige Gottes, dann sagt er: Du stehst ganz auf der Seite Gottes, gehörst zu ihm wie kein anderer, du öffnest den Weg ins himmlische Heiligtum (vgl. Offb 3,7)! Kann man mehr sagen? Aber Jesus scheint auf diese Aussage nicht einzugehen. In Mk 8,30; Lk 9,21 reagiert er auf das Bekenntnis des Petrus mit dem Verbot, das weiterzusagen, in Mt 16,17–19 mit der Bevollmächtigung des Petrus. Bei Johannes aber folgt die Ankündigung des Verrats des Judas! Jesus fragt (70): Habe ich nicht euch, die Zwölf, ausgewählt? Das ist natürlich eine rhetorische Frage. Sie ruft das Ereignis der Berufung und Erwählung der Zwölf in Erinnerung (Mk 3,13–19; Mt 10,1–4, Lk 6,12–16), die Johannes selbst gar nicht berichtet! Er setzt voraus, dass seine Leser und Leserinnen diese Geschichte kennen. Und doch gilt die erschreckende Tatsache: Einer von euch ist ein Teufel. Uns heute macht die »Verteufelung« eines Menschen Mühe, selbst wenn es um Judas geht. Aber merkwürdigerweise folgt auch bei Markus und Matthäus auf das Bekenntnis des Petrus eine harte Zurückweisung mit ähnlichen Worten (»Geh weg von mir, Satan«), weil er Jesus von seinem Leidensweg abhalten will (Mt 16,23; Mk 8,33). Dort ist es Petrus, der Bekenner, der plötzlich zum Sprachrohr des Satans wird. Hier ist es Judas, der zum Werkzeug des »Durcheinanderwerfers« wird (das bedeutet

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das griechische Wort für Teufel wörtlich). Galt von ihm nicht: wir haben geglaubt und erkannt? War er nicht erwählt? Gehörte er nicht zu denen, die der Vater Jesus gegeben hat und die er nicht hinausstoßen wird? Das Geheimnis des Abfalls von Jesus als eigentlich unmögliche Möglichkeit wird nur angedeutet. »Das Unmögliche ist möglich. Denn Erwählung stellt nicht unter Zwang, sondern ruft in die Bewußtheit des Glaubens und des Verstehens«. Judas »ist nicht von einem nicht ganz verstandenen Jesus fortgegangen, sondern er hat den von ihm verstandenen Jesus ausgeliefert« (Dietzfelbinger I, 187). Und erst jetzt, nachdem diese Situation zumindest andeutungsweise in den Raum gestellt ist, erklärt der Evangelist, von wem Jesus spricht (71): Er meinte aber Judas, den (Sohn) des Simon Ischariot, denn dieser sollte ihn auszuliefern, einer von den Zwölfen. Anders als in 12,4 (vgl. Mk 3,19) ist hier Ischariot nicht der Beiname des Judas, sondern seines Vaters Simon. Er bedeutet wohl Mann aus Keriot (Jer 48,24; Am 2,2). Aber es war nicht unüblich, dass ein solcher Beiname vom Vater auf den Sohn überging. Die Gestalt des Judas ist eines der großen Rätsel in der Geschichte Jesu. Die Evangelien berichten einhellig, dass es einer von den Zwölfen war, der Jesus an die jüdischen Behörden auslieferte, indem er ihnen verriet, wo sie Jesus verhaften konnten, ohne in der Menge der Festpilger Aufsehen zu erregen (Mk 14,1f.10f). Während die älteste Überlieferung bei Markus kein Motiv für diese Tat nennt, deutet Mt 26,14f Geldgier an, während Lk 22,3 erklärt, dass der Satan in ihn gefahren war. Bei Johannes scheinen beide Motive miteinander verbunden (6,70; 12,6; 13,2.27); allerdings berichtet Johannes nichts von einer Abmachung mit den jüdischen Behörden, sondern setzt auch hier ein Basiswissen voraus. Der Bericht von der Reue des Judas in Mt 27, 3–10 deutet an, dass Judas nicht mit einer Verurteilung Jesu gerechnet hat. Doch womit hat er gerechnet? Wir wissen es nicht. Dass der Beiname Iskariot ihn als Mitglied der Sikarier (von sica, Dolch), einer Gruppe der Zeloten und Widerstandskämpfer gegen Rom, ausweisen würde, wird durch die Angabe des Johannes, dass schon sein Vater diesen Namen trug (6,71, 13,26), unwahrscheinlich gemacht. Menschen verlassen Jesus, abgestoßen durch die Radikalität seines Anspruchs, die einzige Stimme Gottes zu sein. Es sind Menschen, die von der Verkündigung und dem Wirken Jesus angezogen worden waren, die in gewisser Weise auch an ihn glaubten, aber diese Ausschließlichkeit nicht ertragen konnten.

6,60–71

197

Bis heute gibt es nicht wenige, die von der Humanität und den ethischen Forderungen Jesu beeindruckt sind und ihm einen guten Platz unter ihren religiösen oder philosophischen »Hausgöttern« zuweisen möchten. Aber ihn als das entscheidende Wort Gottes anzuerkennen, das ist zu viel für sie. Jesus selbst hat niemand weggeschickt (vgl. V. 37)! Aber irgendwann merken die Menschen: In der Gemeinschaft mit ihm gibt es nur ein ganz oder gar nicht. Petrus erscheint als positiver Kontrast. Er bekennt sich ohne Wenn und Aber zu Jesus. Er sieht keine Alternative zum Weg mit ihm. Für ihn ist Jesus der Heilige Gottes, der, der ganz zu Gott gehört und darum in die Gemeinschaft mit ihm führt. Dass hier nicht der Wortlaut des traditionellen Petrusbekenntnisses zitiert wird (vgl. Mk 8,29; Mt 16,16; Lk 9,20), mag zeigen: Es kommt nicht auf das Wiederholen bestimmter Bekenntnisformeln an, sondern darauf, sich ganz zu Jesus zu stellen und sich seinem Anspruch und Zuspruch anzuvertrauen. Aber auch im Kreis der Zwölf, für den Petrus spricht, sind Bekenntnis und Verrat ineinander verwoben! Judas scheint so nahe bei Jesus wie Petrus und liefert ihn doch an seine Feinde aus. Fast sieht es so aus, als würde Johannes nur deshalb die Zwölf erwähnen, um das herauszustellen. Die Gründe für das Verhalten des Judas bleiben im Dunkeln. Johannes identifiziert ihn und sein Verhalten mit dem Teufel und seinen Machenschaften. Das ist nicht nur historisch, sondern auch theologisch unbefriedigend. Es macht freilich bewusst, dass es Verhaltensweisen gibt, die menschlich unerklärlich sind und bei denen man den Eindruck gewinnt, die Macht des Bösen habe ihre Hand ganz unmittelbar im Spiel. Menschen verlassen Jesus, einer aus dem engsten Kreis verrät ihn – wie kann das sein? Wie verträgt sich das mit dem Anspruch Jesu, keinen von denen verloren zu haben, die ihm der Vater gegeben hat (6,39; 10,28f; vgl. die Überlegungen in 17,12)? Jesus schützt die Seinen und tritt für sie ein. Aber er hält sie nicht fest. »Erwählung eröffnet dem Menschen die Wirklichkeit Christi und ruft in sie hinein. Aber sie fesselt nicht – dann wäre sie nicht Erwählung –, sondern stellt in den Raum einer vorher nicht vorhandenen Freiheit und Möglichkeit. Beides kann vertan werden« (Dietzfelbinger I, 187).

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7,1 – 8,59

II 7,1 – 12,50 Leben oder Tod – Entscheidung in Jerusalem Der zweite Teil des großen ersten Hauptteils des Evangeliums führt uns nach Jerusalem. Jesus wird bis zu seiner Kreuzigung in der Hauptstadt bleiben, abgesehen von kurzen Aufenthalten auf der anderen Seite des Jordans (10,40f) und in Betanien (11,17 – 12,11). In diese Zeit fallen zentrale Aussagen zur Bedeutung seiner Sendung und Person, die aber immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern führen. Der Abschnitt ist durch Berichte über Jesu Lehre im Tempel anlässlich von drei Festen locker gegliedert. Dazwischen stehen zwei größere Abschnitte, die von den beiden letzten Zeichen Jesu und den Kontroversen, die sich daran anschließen, erzählen. Das ergibt folgende Gliederung: 7; 8 9; 10,1–21 10,22–42 11,1–54 11,55 – 12,50

Der Widerstreit der Meinungen beim Laubhüttenfest Jesus – Heiler und Hirte Entscheidung beim Tempelweihfest Die Auferweckung des Lazarus und das Todesurteil über Jesus Jesu Weg zum Todespassah

7,1 – 8,59 Der Widerstreit der Meinungen beim Laubhüttenfest Dieser Abschnitt macht vielen Auslegern Mühe. Sie vermissen vor allem eine klare Gliederung. Doch dafür gibt es deutliche Signale. Nach der Einleitung in 7,1–13 signalisiert 7,14 den Beginn des Lehrens Jesu im Tempel und 8,59 das Ende seines Aufenthalts dort. Das ist der Rahmen des Ganzen. In 7,37 setzt die neue Zeitangabe einen deutlichen Einschnitt, das Gleiche gilt für die Ortsangabe in 8,20. Aber auch der Neuansatz des Redens Jesu in 8,12 und 8,31 markiert den Beginn neuer Sinneinheiten. Die Gliederung, die sich so ergibt, zeichnet einen außerordentlich dynamischen und kontrastreichen Spannungsbogen: 7,1–13: Die Zeit der Welt und die Zeit Jesu ist die Einleitung und erzählt die Vorgeschichte der Reise Jesu zum Laubhüttenfest. Darauf folgen verschiedene Phasen der Gespräche beim Fest, in denen von ganz

7,1–13

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unterschiedlichen Reaktionen auf Jesu Botschaft berichtet wird: 7,14–36 Fragen zu Jesu Vollmacht, Herkunft und Ziel werden kontrovers diskutiert; 7,37–52: Die große Einladung Jesu steht am Ende des Festes; 8,12–20: Jesus – das Licht der Welt wird zur Herausforderung für seine Gegner; 8,21–30: Die entscheidende Frage wird von Jesus gestellt. Bis hierher sind die Gespräche dadurch gekennzeichnet, dass die Frage, wer Jesus ist und was von ihm zu halten ist, immer noch offen bleibt und im Widerstreit der Meinungen diskutiert wird. Ihr Höhepunkt und Ziel ist 8,30: Als er das sagte, glaubten viele an ihn. Das aber ändert sich im Schlussabschnitt: 8,31–59: Befreiende Wahrheit und tödlicher Widerstand. Hier stehen sich Verheißung von Leben und Freiheit für die, die glauben, und harte Kritik am Unglauben der Gegner unversöhnlich gegenüber. Der Abschnitt 7,53 – 8,11 gehört nicht zum ursprünglichen Text des Evangeliums; s. dazu u. S. 223 und 292–299.

7,1–13 Die Zeit der Welt und die Zeit Jesu 7 1Und danach wanderte Jesus in Galiläa umher, denn er wollte nicht in Judäa umherwandern, denn die Juden suchten ihn zu töten. 2 Es stand aber das Fest der Juden, (nämlich) das Laubhüttenfest, bevor. 3Da sagten seine Brüder zu ihm: Mach dich auf den Weg von hier und geh nach Judäa, damit auch deine Jünger deine Werke sehen, die du tust. 4Denn niemand tut etwas im Verborgenen und sucht (doch) selbst in der Öffentlichkeit (bekannt) zu sein! Wenn du das tun willst, offenbare dich der Welt. 5Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn. 6Da sagt Jesus zu ihnen: Meine Zeit ist noch nicht da, aber eure Zeit ist immer bereit. 7Euch kann die Welt nicht hassen, mich aber hasst sie, weil ich von ihr bezeuge, dass ihre Werke böse sind. 8Geht ihr (nur) hinauf zum Fest; ich gehe nicht hinauf zu diesem Fest, denn meine Zeit ist noch nicht erfüllt. 9 Nachdem er dies gesagt hatte, blieb er selbst in Galiläa. 10 Als aber seine Brüder zu dem Fest hinaufgegangen waren, ging auch er hinauf, aber nicht öffentlich, sondern wie im Verborgenen. 11 Die Juden aber suchten ihn beim Fest und sagten: Wo ist jener? 12 Und es gab viel Gerede über ihn in der Volksmenge; die einen sagten nämlich: Er ist gut. Die anderen aber sagten: Nein, sondern er verführt die Menge. 13Niemand aber sprach öffentlich über ihn, aus Furcht vor den Juden.

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7,1–13

Das Verhalten Jesu in dieser Erzählung gibt Lesern und Leserinnen manche Rätsel auf. Sie berührt sich darin mit der Geschichte von der Hochzeit in Kana (2,1–11). Auch dort sagt Jesus, seine »Stunde« sei noch nicht gekommen, und vollbringt dann doch sofort danach ein großes Wunder. Auch dort ist es eine Verwandte, seine Mutter, die ihn zum Handeln auffordert und von der er sich zunächst distanziert. Hier sind es seine Brüder, die ihn bedrängen, nach Jerusalem zu gehen (vgl. 2,12). Am Anfang jedes der beiden großen Abschnitte des ersten Teils des Evangeliums steht also eine Geschichte, die auf die Abhängigkeit des Handelns Jesu vom Willen Gottes hinweist und davor warnt, seine Vollmacht zu instrumentalisieren. Das mag der Grund sein, warum dieser Abschnitt – anders als die Streitgespräche in Kap. 5, 6, 9 oder 11 – nicht mit einer Wundererzählung beginnt. Zunächst wird die Situation Jesu geschildert (1). Nach den Ereignissen am See Genezareth, von denen in Kap. 6 erzählt wurde, wanderte Jesus in Galiläa umher und ging nicht zum bevorstehenden Passahfest (s. 6,4). Als Grund dafür wird genannt: Er wollte nicht in Judäa umherwandern, denn die Juden suchten ihn zu töten. Davon war in 5,18 berichtet worden. Unsere Stelle könnte nahelegen, dass mit Juden eigentlich Judäer, also die Bewohner Judäas, gemeint sind. Aber wie in 1,19 (u.ö.) bezeichnet die Wendung die Juden auch in Kap. 7 die führenden Kreise der jüdischen Bevölkerung. Ein halbes Jahr später, Anfang Oktober, stand ein anderes Fest vor der Tür, zu dem die Galiläer nach Jerusalem pilgerten, nämlich das Laubhüttenfest (2; vgl. Lev 23,33–43; Num 29,12–39). Ursprünglich wohl ein Erntefest nach der Weinlese (Ex 23,16; daher die Laubhütten in Gärten und Weinbergen) wurde es später zum Gedenken an die Zeit gefeiert, in der das Volk während der Wüstenwanderung in Laubhütten lebte (Lev 23,42f). In neutestamentlicher Zeit war es das bedeutendste und beliebteste der drei großen Wallfahrtsfeste. Dass Johannes es das Fest der Juden (hier natürlich in der Bedeutung jüdisches Volk) nennt, zeigt, dass seine Gemeinde es nicht mehr feierte. Plötzlich tauchen Jesu Brüder auf, die nach 2,12 mit ihm nach Kapernaum gezogen waren (3). Sie fordern ihn auf, sein Wirkungsfeld in Galiläa zu verlassen und nach Judäa zu gehen. Sie haben dafür eine merkwürdige Begründung: damit auch deine Jünger die Werke sehen, die du tust. Man fragt sich erstaunt: Haben die Jünger nicht alle Zeichen und Wunder gesehen, die er bisher getan hat? Warum soll Jesus deswegen nach Judäa gehen?

7,1–13

201

Es gibt zwei mögliche Erklärungen: Entweder ist gar nicht der engere Jüngerkreis mit den Zwölfen im Zentrum gemeint, sondern die Schar der Anhänger Jesu in Judäa (vgl. 2,23), die bisher nur wenig von Jesu Wirken erlebt haben. Oder der Evangelist gibt mit seiner Formulierung ein Signal, mit dem er auf eine tiefere Bedeutung der Worte der Brüder aufmerksam macht. Denn für Johannes sind die Werke Jesu nicht nur die Wunder, die er tut (so 9,3f; 10,32f), sondern sein ganzes Leben und Handeln, mit dem er den Menschen die Liebe Gottes offenbart (vgl. 5,20.36; 10,25; 14,10f). Sein Werk, das ihm Gott aufgetragen hat, gipfelt im Weg hinauf zum Kreuz, der sich im Weg hinauf nach Jerusalem und in den Tempel (7,10.14) schon abzeichnet. Diese Werke werden die Jünger sehen und endlich begreifen, worum es Jesus ging. Aber daran denken die Brüder Jesu nicht. Sie nennen einen ganz anderen Grund für ihre Aufforderung. Sie sagen (4): Niemand tut etwas im Verborgenen und sucht (doch) selbst in der Öffentlichkeit (bekannt) zu sein! Das ist eine Klugheitsregel auf dem Niveau von: Tue Gutes und rede davon. Wer in der Öffentlichkeit etwas zu sagen haben will, darf sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern muss das, was er tut, bekannt machen. Dafür aber reicht es nicht, in der Provinz zu wirken; dazu muss man nach Judäa und nach Jerusalem, ins Zentrum jüdischen Lebens, gehen. Für die Brüder scheint es ausgemacht, dass auch Jesus mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten nach Macht und Ansehen in der Öffentlichkeit strebt. Deshalb sagen sie: Wenn du das (oder: diese Werke) tun willst, offenbare dich der Welt. Jesus soll vor aller Welt bekannt machen und offenbaren, welche Vollmacht er besitzt. Die Ironie dieser Worte liegt darin, dass Jesus seinen Auftrag gerade darin sieht, der Welt die Werke Gottes und seine Wirklichkeit zu offenbaren (3,21; 9,3; vgl. 17,6). Das aber geschieht nicht durch eine öffentlichkeitswirksame Vermarktung seiner Wunder, sondern durch ein Leben, das ganz Gottes Auftrag treu bleibt. Eine Zwischenbemerkung erklärt, warum Jesu Brüder ihn mit diesem Vorschlag bedrängen (5): Denn auch seine Brüder glaubten nicht an ihn. Das wirft ein Schlaglicht auf das Verständnis des Glaubens bei Johannes: Die Brüder haben ja gerade nicht daran gezweifelt, dass Jesus Wunder getan hat. Im Gegenteil, sie animieren ihren Bruder, sie zu einem religiösen Werbefeldzug zu nutzen. Aber sie haben sich nicht für das Geheimnis seiner Person und das, was Gott durch ihn tun will, geöffnet. Jesus lehnt ihr Ansinnen nicht einfach ab. Aber er antwortet mit einer Aussage, durch die ihre unterschiedliche Haltung klar hervortritt (6): Meine Zeit ist noch nicht da. Das griechische Wort

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7,1–13

für Zeit, das er benutzt (kairos), »bezeichnet den geeigneten Moment, die von Gott angebotene und bestimmte Zeit« (Zumstein, 290). Jesus spricht hier nicht wie in 2,4 von der Stunde der Erhöhung am Kreuz, »die eine entscheidende von Gott erwählte Zeit zur Vollendung der Offenbarung ist« (ebd.). Aber die Begriffe stehen sich sehr nahe. Jesu Zeit, sein Kairos, wird Gottes Ruf zum Gang nach Jerusalem sein, »der für ihn selbst die Entscheidung zum Todesgeschick bedeutet« (Schnackenburg II, 195). Einen solchen Kairos kennen seine Brüder nicht. Eure Zeit ist immer bereit, sagt Jesus zu ihnen. Das heißt: Für euch ist immer die rechte Zeit (EÜ), wenn ihr euch etwas vornehmt. Aber ein Kairos, über den man verfügen kann, ist ein Widerspruch in sich selbst. Die Meinung, über die eigene Zeit zu jedem Zeitpunkt selbst bestimmen zu können und immer alle Möglichkeiten des Handelns zur Verfügung zu haben, entspricht zwar dem Wunschdenken einer Welt ohne Gott, die ihr eigener Herr sein möchte, aber nicht einem Leben, das sich ganz an Gottes Willen gebunden hat. Das spiegelt sich auch im unterschiedlichen Verhalten der Welt gegenüber Jesus und seinen Brüdern wider (7): Euch kann die Welt nicht hassen. Es gibt keinen Grund, sich gegen die zu wenden, die sich regelkonform verhalten. Anders als in V. 4, wo Welt neutral den Raum möglicher Offenbarung bezeichnete, ist Welt an unserer Stelle das gottfeindliche System einer sich autonom dünkenden Schöpfung. Mit dem Rat an Jesus, sich durch seine Wunder in dieser Welt zu profilieren und durchzusetzen (V. 4), haben seine Brüder gezeigt, dass sie an die Gesetze und Werte dieses Systems angepasst sind. Das gilt nicht für Jesus. Ihn trifft der Hass der Welt, und zwar, weil ich von ihr bezeuge, dass ihre Werke böse sind (vgl. 15,18f). Jesus tritt als Belastungszeuge gegen eine gottfeindliche Welt auf. »Dabei wirkt Jesus nicht als Moralprediger«. Er geißelt nicht die Laster der Welt. Er stellt die Welt, die Gott nicht wirklich als Gott anerkennt, grundsätzlich infrage. »Denn ihre Werke sind nicht erst da ›böse‹, wo sie unmoralisch werden, sondern schon dort, wo ihre Täter sich der Wahrheit Gottes verschließen« (Theobald, 511). Deshalb trennen sich die Wege Jesu und seiner Brüder (8): Geht ihr (nur) hinauf zum Fest, sagt er zu ihnen. Sie mögen ruhig dem Rhythmus der religiösen Feste folgen in der Meinung, dass sie Gottes Zeit für die Menschen und ihre Zeit für Gott bestimmen. Für ihn gilt das nicht: Ich gehe nicht hinauf zu diesem Fest, denn meine Zeit ist noch nicht erfüllt. Plötzlich scheint das Hinaufgehen doppeldeutig zu werden: Vordergründig spricht Jesus vom Hinaufgehen nach dem hochgelegenen Jerusalem (vgl. Lk 18,31), hintergründig klingt sein Hinaufgehen zum Vater durch die Er-

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höhung am Kreuz an. Dazu aber wird es nicht bei diesem Fest, sondern erst beim nächsten, dem Todespassah Jesu, kommen. Erst dann ist seine Zeit, sein Kairos, erfüllt (vgl. Mk 1,14f; Gal 4,4), Gottes Handeln durch ihn zum Ziel gekommen. Abschließend stellt der Erzähler fest (9): Nachdem er dies gesagt hatte, blieb er selbst in Galiläa. Zur Überraschung der Leser und Leserinnen scheint Jesus seine Meinung rasch zu ändern (10): Als aber seine Brüder zu dem Fest hinaufgegangen waren, ging auch er hinauf. Das ist ein eklatanter Widerspruch zu V. 8. Eine Reihe von Handschriften sucht ihn zu vermeiden, indem sie dort statt Ich gehe nicht hinauf »noch nicht« schreiben. Der Widerspruch wird etwas dadurch gemildert, dass Jesus erst nach seinen Brüdern geht. Vor allem betont der Erzähler, dass Jesus nicht öffentlich, sondern quasi im Verborgenen nach Jerusalem ging, also gerade nicht, um sich – wie seine Brüder vorschlugen – durch eine spektakuläre Selbstinszenierung vor der Welt zu offenbaren. »Der joh(anneische) Jesus offenbart sich nicht auf dem Schauplatz der ›Welt‹, sondern im Inkognito«, in der Verborgenheit eines schlichten Festpilgers (Zumstein, 292). Man sollte nicht versuchen, den scheinbaren Meinungsumschwung Jesu psychologisch zu erklären. Auch in 2,4–7 folgte unmittelbar auf die Zurückweisung der unausgesprochenen Bitte seiner Mutter das helfende Handeln Jesu (ähnlich 4,48f; 11,6f). Die Art der Erzählung soll grundsätzlich klarmachen: Jesu Handeln richtet sich nicht einfach nach den Wünschen und dem Terminkalender seiner Mitmenschen – und seien es seine Mutter oder Brüder. Er handelt in völliger Abhängigkeit von Gott. Offensichtlich kann Jesus zunächst sein Inkognito in der Menge der Festpilger wahren (11). Denn die Juden, also die Jerusalemer Autoritäten, suchten ihn (unablässig) beim Fest und fragten immer wieder: Wo ist denn dieser Mensch (das jener hat einen leicht abschätzigen Klang)? Die Leute wussten offensichtlich, dass er da war, denn (12) es gab viel Gerede über ihn in der Menge. Und nun stellt sich heraus, dass die Meinungen über ihn gespalten sind. Die einen nämlich sagten: Er ist gut, wobei offenbleibt, ob dies ein eher oberflächliches Lob ist (er ist ganz okay) oder fast ein Bekenntnis, dass er Gottes Güte repräsentiert (vgl. Mk 10,17f). Vielleicht ist eine mittlere Linie gemeint: »Jesus sinnt niemandem gegenüber auf Böses, er ist rechtschaffen und voller Güte« (Theobald, 513). Aber es gibt auch die andere Seite diejenigen, die sagten: Nein, sondern er verführt die Menge. Durch seine beeindruckenden Wunder nimmt er das einfache Volk, das leicht zu beeinflussen ist, für sich und seine Irrlehre ein. Das war ein gefährlicher Vor-

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wurf. Denn das kennzeichnete ihn als falschen Propheten, der das Volk lehrt, von Gott abzufallen, und es verführt, von dem von Gott gewiesenen Weg abzuweichen. Darauf stand die Todesstrafe (Dtn 13,6). Dass Jesus ein Volksverführer gewesen sei, gehört in den späteren jüdisch-christlichen Auseinandersetzungen zu den Standardvorwürfen gegen ihn (vgl. Mt 27,63f; TestLev 16,3; bSanh 43a; 107b). Doch für den Bericht über die Begegnungen am Laubhüttenfest ist charakteristisch, dass zunächst sehr unterschiedliche Meinungen geäußert werden (bis 8,30). Aber es kommt zu keiner offenen Debatte (13): Denn niemand sprach öffentlich über ihn, aus Furcht vor den Juden. Dies ist eine der Stellen, die besonders deutlich den eigentümlichen Gebrauch des Begriffs die Juden bei Johannes zeigt: Die Menge jüdischer Festpilger wagt nicht offen über Jesus zu sprechen – aus Furcht vor den Juden! Mit den Juden kann also nur die Jerusalemer Führungsschicht, aber nicht das ganze Volk gemeint sein. Dass es zwischen Jesus und seiner Familie während seines irdischen Wirkens erhebliche Spannungen gab, wird in den Evangelien nicht verschwiegen. Das ist umso bemerkenswerter, als in der nachösterlichen Gemeinde zumindest sein Bruder Jakobus eine maßgebliche Rolle spielte (Apg 15,13–21; 21,18; 1Kor 15,7; Gal 1,19; 2,9.12). Allerdings wird die Problematik unterschiedlich geschildert. Nach Mk 3,21.31 kommen Jesu Mutter und Brüder, um ihn nach Hause zu holen, weil sie meinen, er sei verrückt geworden. Hier wollen ihn seine Brüder dazu überreden, aus seinem Talent etwas zu machen und sich selbst groß herauszustellen. So gegensätzlich die beiden Aktionen sind, sie weisen auf das gleiche Grundproblem hin: Jesus muss seinen Weg unabhängig von den Befürchtungen und Wunschträumen seiner Familie gehen. Das berührt sich mit dem zweiten Thema des Berichts: Jesu Abhängigkeit in seinem Handeln von dem Kairos, dem rechten Zeitpunkt, den Gott ihm vorgibt. Zwar wird das in dieser Geschichte etwas schematisch veranschaulicht: Jesus macht sich schon kurz nach der Abreise seiner Brüder auch auf den Weg. Aber gerade das macht deutlich, dass es ihm nicht darum geht, den unter psychologischen, politischen oder sonstigen menschlichen Gesichtspunkten günstigsten Zeitpunkt abzuwarten. Er ist abhängig von Gottes Willen; das macht ihn unabhängig von menschlichem Kalkül. Eine letzte Beobachtung, gewissermaßen das Leitmotiv für das Folgende: Es gibt viele, die offen sind für Jesu Wirken und Wort. Aber sie wagen es nicht, das zu bekennen, weil sie sich vor möglichen Folgen fürchten. Das dürfte auch zur Zeit des Johannes ein Problem gewesen sein und ist es bis heute, selbst in einer christlich geprägten Ge-

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sellschaft, in der man keine staatlichen Sanktionen zu befürchten hat, wohl aber sein Image als aufgeklärter Zeitgenosse verlieren könnte. 7,14–36 Fragen zu Jesu Vollmacht, Herkunft und Ziel 14

Als es aber schon um die Mitte des Festes war, ging Jesus hinauf ins Heiligtum und lehrte (dort). 15Da wunderten sich die Juden und sagten: Wie kann dieser die Schriften kennen, obwohl er (sie) nicht studiert hat? 16Da antwortete ihnen Jesus und sprach: Meine Lehre ist nicht meine (eigene Lehre), sondern die (Lehre) dessen, der mich gesandt hat. 17Wenn jemand seinen Willen tun will, wird er im Blick auf die Lehre erkennen, ob sie von Gott ist oder ob ich aus mir selbst spreche. 18Wer aus sich selbst redet, sucht die eigene Ehre; wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, (der) ist wahrhaftig, und in ihm ist keine Ungerechtigkeit. 19 Hat euch nicht Mose das Gesetz gegeben? Und niemand von euch tut das Gesetz. Warum sucht ihr mich zu töten? 20Die Menge antwortete: Du hast einen Dämon! Wer sucht dich zu töten? 21Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Ein Werk habe ich getan, und ihr wundert euch alle. 22Deshalb (sage ich): Mose hat euch die Beschneidung gegeben – nicht dass sie von Mose ist, sondern von den Vätern – und ihr beschneidet einen Menschen (auch) am Sabbat. 23 Wenn aber ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfängt, damit das Gesetz Mose nicht verletzt wird, (warum) zürnt ihr mir, weil ich einen ganzen Menschen am Sabbat gesund mache? 24Urteilt doch nicht nach dem Augenschein, sondern fällt ein gerechtes Urteil! 25 Da sagten einige von den Jerusalemern: Ist dieser nicht der, den sie zu töten suchen? 26Und sieh, er spricht in der Öffentlichkeit, und sie sagen nichts zu ihm! Sollten die führenden Leute wirklich erkannt haben, dass dieser der Messias ist? 27Aber von dem wissen wir (doch), woher er kommt; der Messias aber, wenn er kommt, (von ihm) weiß niemand, woher er ist. 28Da rief Jesus aus, als er im Heiligtum lehrte und (mit ihnen) sprach: Ihr kennt mich und wisst auch, woher ich bin, und doch bin ich nicht von mir selbst gekommen, sondern der ist wahrhaftig, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. 29Ich (jedoch) kenne ihn, weil ich von ihm bin und jener mich gesandt hat. 30Da suchten sie ihn zu verhaften, und doch legte keiner die Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen. 31 Von der Menge kamen viele zum Glauben an ihn und sagten: Wird der Messias, wenn er gekommen ist, denn mehr Zeichen tun, als dieser getan hat? 32Die Pharisäer hörten, wie die Menge dies über ihn

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munkelte, und (deshalb) sandten die Hohepriester und die Pharisäer Diener aus, um ihn zu verhaften. 33Da sagte Jesus: Nur noch kurze Zeit bin ich bei euch und gehe (dann) zu dem, der mich gesandt hat. 34Ihr werdet mich suchen und werdet mich nicht finden, und wo ich (dann) bin, könnt ihr nicht hingehen. 35Da sagten die Juden zueinander: Wohin will dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden können? Will er etwa in die griechische Diaspora gehen und die Griechen lehren? 36Was bedeutet dieses Wort, das er sagte: Ihr werdet mich suchen und mich nicht finden, und wo ich bin, könnt ihr nicht hingehen? Die Gespräche Jesu in diesem Abschnitt verlaufen in drei Schritten: (1) In 7,14–24 geht es um Jesu Vollmacht, am Sabbat zu heilen (vgl. 5,1–18). (2) In 7,25–30 treten neue Gesprächspartner auf (die Jerusalemer). Sie streiten mit Jesus über seine Herkunft. (3) Nach der Bemerkung, dass man Jesus verhaften wollte, aber nicht konnte, die sich in Kap. 7 und 8 fast refrainartig wiederholt (7,30; vgl. 7,44; 8,20), blendet das Gespräch wieder hinüber zur Menge der Festpilger (V. 31). Das führt in 7,31–36 zur Diskussion mit einer neuen Gruppe, den Pharisäern, über das Ziel des Weges Jesu. Auffallend ist, dass im ganzen Abschnitt viel über, aber wenig mit Jesus geredet wird, während Jesus selbst das Gespräch mit den Menschen sucht. 7,14–24 Die Frage nach Jesu Vollmacht Jesus hält sich zunächst in der Menge der Festpilger verborgen. Erst in der Mitte des Festes (14), das sieben bzw. acht Tage dauerte, geht er hinauf in das Heiligtum, das riesige Areal der von Herodes mit großer Pracht neu erbauten Tempelanlage. Dort, am Rande des sog. Vorhofs der Heiden, gab es Säulenhallen, in denen man zu Lehrgesprächen einladen konnte (vgl. 10,23). Das erregt bei den Besuchern des Tempels (den Juden), die ihn beobachten, Erstaunen. Sie fragen verwundert: Wie kann dieser die Schriften kennen, obwohl er (sie) nicht studiert hat? (15). Natürlich gab es zu neutestamentlicher Zeit noch keine theologischen Hochschulen, an denen man die Auslegung der Heiligen Schriften studieren konnte. Wer ein Schriftgelehrter werden wollte, schloss sich einem Rabbi als Lehrer an. Autodidaktisches Erlernen der Schriften galt als problematisch (Wengst I, 276). Die Frage ist also nicht von der Bewunderung für im Selbststudium erworbene Kenntnis der Heiligen Schriften getragen, sondern vom Misstrauen gegenüber einer selbstgestrickten Auslegung der Schrift. Darauf geht die Erwiderung Jesu ein. Er erkennt, was die Leute denken, und sagt (16): Meine Lehre ist nicht meine (eigene Leh-

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re), sondern die (Lehre) dessen, der mich gesandt hat. Jesus leitet die Autorität seiner Lehre weder von seinen eigenen Erkenntnissen noch von der Weisheit eines menschlichen Lehrers ab, sondern von der Autorität dessen, der ihn gesandt hat, also von Gott. Hier kommt einmal mehr das antike Botenrecht ins Spiel: Ein bevollmächtigter Bote kann rechtsverbindlich für den handeln, der ihn gesandt hat. Das wird hier auf Jesu Lehrtätigkeit angewandt: Was er sagt, ist getragen von der Autorität Gottes, der ihn gesandt hat. Jesus sagt nichts über den Inhalt seiner Lehre. Aber er erklärt, wie man erkennen kann, dass er in der ihm von Gott übertragenen Vollmacht lehrt (17): Wenn jemand seinen Willen tun will, wird er im Blick auf die Lehre erkennen, ob sie von Gott ist oder ob ich aus mir selbst spreche. Um zu erkennen, ob jemand zu Recht im Namen Gottes spricht, muss man sich Gottes Sache zu eigen machen. Den Willen Gottes tun bedeutet hier also nicht zuerst das praktische Handeln gemäß der Gebote Gottes (so in Mt 6,10; 7,21 u.ö.), sondern die Ausrichtung des ganzen Lebens auf Gottes Heilswillen. Jesus tut den Willen Gottes, indem er das ihm aufgetragene Heilswerk erfüllt (vgl. 4,34; 6,38–40). Wer sich bereitwillig dem öffnet (beachte: den Willen tun will), wird erkennen, dass in Jesu Botschaft und Lehre Gott selbst spricht. Gottes Willen tun bedeutet: an Jesus glauben! Jesus macht seine absolute Abhängigkeit vom Reden Gottes an einem doppelten Grundsatz deutlich, der noch einmal das sog. Botenrecht aufgreift (18): Wer aus sich selbst redet, sucht seine eigene Ehre. Wenn ein Bote statt der ihm aufgetragenen Botschaft das weitergibt, was er selbst für wichtig hält, dann will er selbst groß dastehen und Beifall ernten. Er sucht seine eigene Ehre. Wer aber will, dass sein Auftraggeber anerkannt wird, wer also die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der wird die ihm aufgetragene Botschaft so klar und so treu wie möglich wiedergeben. Das heißt: Er ist wahrhaftig, glaubwürdig und zuverlässig und macht sich nicht der Untreue gegenüber dem Auftraggeber und der Verfälschung der Botschaft schuldig: in ihm ist keine Ungerechtigkeit. Sein Reden wird transparent für die Wahrheit, Zuverlässigkeit und Gerechtigkeit dessen, der ihn gesandt hat. Für Israel gilt das Gesetz, die Tora, als klarster und zuverlässigster Ausdruck des Willens Gottes. Darauf spricht Jesus seine Gesprächspartner an (19): Hat euch nicht Mose das Gesetz gegeben? An ihm wäre der Wille Gottes zum Heil seines Volkes klar abzulesen (vgl. 5,45–47). Aber – so lautet der Vorwurf Jesu: Niemand von euch tut das Gesetz. Das scheint zunächst eine sehr pauschale Verurteilung zu sein. Ähnliche Feststellungen finden sich in der

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Auseinandersetzung mit Schriftgelehrten und Pharisäern in Mt 23,13–36 oder in der Kritik jüdischer Gesetzesfrömmigkeit bei Paulus in Röm 2,17.24; 3,9–20. Aber die folgende Frage Jesu: Warum sucht ihr mich zu töten? zeigt: Hier wird dieser Vorwurf aus einem ganz bestimmten Grund erhoben: »Indem ihr mich, den von der Tora Bezeugten, beseitigen wollt, streitet ihr gegen die Tora« (Dietzfelbinger I, 212). Der Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz entscheidet sich nicht am Befolgen dieser oder jener Vorschrift, sondern daran, ob man anerkennt, dass der im Gesetz bezeugte Wille Gottes zum Heil sich in Jesus erfüllt. Aber die Leute wollen diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen (20). Sie zahlen mit ähnlich harter Währung zurück. Die Menge (wohl speziell die galiläischen Festpilger) antwortete in verständlicher Empörung: Du hast einen Dämon! Das kann unterschiedlich verstanden werden: in übertragener Bedeutung: Du spinnst wohl oder: »Du leidest unter Verfolgungswahn« (Theobald, 522). Oder wörtlich: Du bist besessen bzw. dich reitet der Teufel. Merkwürdigerweise stehen in Mk 3,21f.30 beide Vorwürfe nebeneinander. Jesu Verwandte sagen: »Er ist verrückt«, und die Schriftgelehrten: »Er hat einen unreinen Geist«. Im Zusammenhang unserer Stelle liegt zunächst die erste Bedeutung nahe, aber Johannes mag kundigen Leser und Leserinnen signalisieren: Dahinter steckt ein schlimmerer Vorwurf. Doch die Menge der Pilger hat offensichtlich nichts von dem Todesbeschluss der Jerusalemer Behörden (»die Juden« in 5,18) gehört und fragt entrüstet: Wer sucht dich zu töten? Auf diese Idee kann doch niemand kommen! Jesus geht auf diese echte oder vorgeschobene Bekundung von Unverständnis nicht ein, sondern argumentiert weiter in der Sache. Wie und warum ist es denn zu diesem vorweggenommenen Todesurteil gekommen? In deutlicher Anspielung auf die Geschichte von der Heilung eines Kranken am Sabbat in 5,1–18 sagt er (21): Ein (einziges) Werk habe ich getan und ihr wundert euch alle. Zwar hat Jesus nach 2,23 viele »Zeichen« in Jerusalem getan, aber nur ein solches Wunder wird ausführlich erzählt, ein Werk, wie es hier heißt, weil Jesus Heil für einen Menschen wirkt. Und doch wundern sich alle. Das hat einen negativen Ton: Sie sind empört und nehmen Anstoß, weil das am Sabbat geschah. Dass dies völlig unangemessen ist, macht Jesus durch eine schriftgelehrte Überlegung deutlich (22). Er stellt fest: Mose hat euch die Beschneidung gegeben. Genau genommen ist sie sogar viel älter als die mosaische Gesetzgebung. Sie stammt aus der Zeit der Väter Israels und wurde erstmals Abraham befohlen (Gen 17,10–14; vgl. Lev 12,3). Dennoch gilt nach jüdischer Gesetzesauslegung: Man beschneidet einen Menschen (auch) am Sabbat. Das entspricht

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der rabbinischen Lehre: Rabbi Eliezer (um 90 n.Chr.) sagte: »Die Beschneidung verdrängt den Sabbat« (tShab 15,16; vgl. Shab 19, 1f). Denn wenn ein Junge nicht am achten Tag beschnitten würde, würde er nach Gen 17,14 »ausgerottet aus seinem Volk«. Mit einem typisch rabbinischen Schlussverfahren macht Jesus seine Gegner auf ihre Inkonsequenz aufmerksam (23): Wenn aber ein Mensch am Sabbat die Beschneidung empfängt, damit das Gesetz Mose nicht verletzt wird, (warum) zürnt ihr mir (dann), weil ich einen ganzen Menschen am Sabbat gesund mache? Sehr schön arbeitet Zumstein den Sinn der Argumentation Jesu heraus: »Wenn die theologischen Autoritäten im Namen eines höheren Gutes – der Eingliederung eines Menschen in das Volk Gottes – die Suspendierung des Sabbatgebots akzeptieren, wie können sie dann zürnen, wenn Jesus nun seinerseits das Sabbatgebot übertritt, um einer noch höheren Intention zu folgen, nämlich um einer Person durch die Heilung ihre vollkommene Identität als Geschöpf zurückzugeben? Erfüllt er damit nicht die eigentliche Intention des Gesetzes, nämlich das Wohl des Menschen in seiner Ganzheit zu fördern?« Zweifellos »ist die Heilung am Teich von Bethesda am Sabbat die Verwirklichung der eigentlichen Intention der Thora. Jesus offenbart sich dadurch als der wahre Lehrer, der den Willen Gottes offenbart« (298). Es gilt also bei einem Urteil aufgrund des Gesetzes sorgfältig auf die Intention des Gesetzes zu achten (24): Urteilt doch nicht nach dem Augenschein, sondern fällt ein gerechtes Urteil, das im Einklang mit dem Willen Gottes steht! Aufmerksamen Leserinnen und Lesern fällt auf, wie eng sich die V. 15–24 mit den Auseinandersetzungen in Kap. 5 berühren. Sie könnten die perfekte Fortsetzung dieses Kapitels bilden. Darum nehmen viele Ausleger an, dass diese Verse ursprünglich direkt auf Kap. 5 folgten. Denn sie beschreiben die unmittelbare Reaktion der Hörer auf 5,45–47 und nehmen ausdrücklich Bezug auf die Heilung, insbesondere darauf, dass sie am Sabbat geschah. Der Abschnitt scheint sehr viel verständlicher, wenn man ihn unmittelbar an Kap. 5 anschließt. Auch V. 25 würde sehr gut an V. 14 anschließen, wenn die V. 15–24 versetzt werden würden. Gegen diese Annahme sprechen allerdings gewichtige Gründe. Es gibt keine wirklich stichhaltige Erklärung dafür, warum der Abschnitt von Kap. 5 gelöst und hier eingefügt worden sein sollte. Eine unabsichtliche Blattvertauschung ist aus verschiedenen Gründen ganz unwahrscheinlich. Und es gibt eine Reihe von Motiven, die den Abschnitt mit dem Rest von Kap. 7 verbinden: das Thema der Lehre Jesu (V. 14.16f.35), die enge Beziehung zwischen V. 3f und 16f oder von V. 25 mit 19f. Der Evangelist knüpft also beim dritten Aufenthalt Jesu in Jerusalem bewusst an das an, was dort bei dessen zweitem Aufenthalt geschehen war.

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7,14–36

7,25–30 Die Frage nach Jesu Herkunft Eine neue Gruppe taucht auf (25–30): einige von den Jerusalemern. Sie suchen nicht das Gespräch mit Jesus, aber wir erfahren von dem Erzähler ihre Mutmaßungen über Jesus. Als sie Jesus im Tempelbereich lehren sehen, fragen sie verwundert: Ist dieser nicht der, den sie zu töten suchen? Sie sind also informiert über die Pläne der jüdischen Behörden. Umso erstaunlicher finden sie (26), dass Jesus in der Öffentlichkeit lehrt und die zuständigen Leute nicht eingreifen (sie sagen nichts zu ihm). Was die Brüder von Jesus erwarteten, dass er sich öffentlich vor der Welt offenbaren solle (V. 4), das geschieht jetzt – allerdings nicht in einer mitreißenden Wunderperformance, sondern indem Jesus durch seine Lehre aufdeckt, wer er in Wahrheit ist. Darum geht es auch in der folgenden Überlegung der Jerusalemer: Sollten die führenden Leute wirklich erkannt haben, dass dieser der Messias ist? Das ist böse Ironie. Dass die führenden Leute in Jerusalem (wörtlich: die Oberen) erkannt haben könnten, dass Jesus der Messias, der Christus, d.h. der erwartete Friedenskönig Israels ist, damit rechnen diese Leute sicher nicht. Und doch sagen sie in ihrem Spott, worum es eigentlich geht: Ist Jesus der verheißene, von Gott gesandte Messias? Sie selbst haben sich freilich längst ihre Meinung gebildet (27): Von dem wissen wir (doch), woher er kommt. Man wusste um die Herkunft Jesu aus Nazareth. Und dass der Messias von dort kommen würde, das war ausgeschlossen (1,45f; 6,42; 7,41). Sie meinen: Wenn der Messias kommt, weiß niemand, woher er ist. Das war nicht die gängige Auffassung über die Herkunft des Messias. Aufgrund von Mi 5,1 nahm man an, dass der Messias aus Bethlehem kommen würde (so in 7,41f). Allerdings gibt es Belege dafür, dass manche Kreise im Judentum annahmen, dass die Herkunft des kommenden Messias unbekannt sein würde. Johannes geht es jedoch nicht darum, eine Variante jüdischer Messiashoffnung vorzustellen. Für ihn ist es entlarvende Ironie, dass die Leute mit dieser Aussage, ohne es zu merken, ihre Unwissenheit über Jesu wahre Herkunft bekennen. Das Wissen über Jesu Heimat bedeutet gar nichts. Menschliches Nachforschen wird nie herausfinden, woher er ist. »Nur Jesus selbst weiß um seine wahre Herkunft von Gott, den Menschen jenseits des Glaubens bleibt sie verborgen« (Schnelle, 195). Darum greift er selbst in das Geschehen ein. Im Heiligtum erhebt er seine Stimme und spricht die Zweifler an (28). Seine Worte sind entweder eine kritische Rückfrage: Ihr kennt mich und wisst auch, woher ich bin? Meint ihr das wirklich? Oder eine ironische Bestätigung ihrer Aussage: Ihr kennt mich und wisst auch, woher

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ich bin! Ganz recht! Aber dadurch, dass ihr wisst, dass ich Josefs Sohn aus Nazareth bin, wisst ihr gerade das Entscheidende nicht. Denn ich bin nicht von mir selbst gekommen. Entscheidend sind nicht die Herkunftsangaben in Jesu menschlicher Biographie, entscheidend ist seine Sendung durch den, der wahrhaftig ist, weil er Ursprung und Grund allen Seins ist und weil nur durch ihn die Wahrheit offenbar werden kann: Gott. Fast erschreckend ist freilich die Fortsetzung dieser Aussage: Es ist der, den ihr nicht kennt. Ist nicht der Gott Israels der Vater Jesu Christi? Das wird auch im Johannesevangelium nicht infrage gestellt. In Frage aber steht, ob die jüdischen Zeitgenossen Jesu und der Gemeinde des Johannes wirklich den Gott kennen, der sich Abraham und Mose bezeugt hat und dessen ganze, den Menschen zugewandte Liebe in Jesus gegenwärtig und erfahrbar wird (vgl. 3,16). Nur Jesus kann wirklich sagen (29): Ich kenne ihn. Jesus nennt dafür eine doppelte Begründung: (1) Weil ich von ihm bin. Das göttliche WORT, der Logos, der von Anfang bei Gott war, ist in Jesus Mensch geworden ist. (2) Weil jener mich gesandt hat. Nicht weil sich ein Teil göttlichen Seins von Gott getrennt hat, wie das später die Gnosis sah, kommt Gott den Menschen nahe, sondern weil Gott in Jesus seinen Sohn in die Welt gesandt hat, um ihnen im Vater den wahren, wirklichen Gott zu zeigen und sie so zu retten. Sein Wirken hat »seine Grundlage in der Wesensgemeinschaft Jesu mit Gott« (Blank Ib, 88). Die Reaktion auf Jesu Aussage ist unterschiedlich. Seine unmittelbaren Gesprächspartner, einige von den Jerusalemern (V. 25), finden seinen Anspruch unerträglich und gefährlich für die öffentliche Sicherheit. Sie suchten ihn zu verhaften (30). Aber es bleibt beim Wollen. In Wirklichkeit legte keiner die Hand an ihn an. Die Leute »scheinen wie gelähmt« (Theobald, 528). Der Erzähler sagt auch warum: seine Stunde war noch nicht gekommen. Die von Gott bestimmte Zeit seiner Passion war noch nicht angebrochen (vgl. 2,4; 13,1). Noch zweimal wird das in diesen beiden Kapiteln betont (7,44; 8,20). Jesus wird zwar ans Kreuz gebracht werden, weil das von klugen Realpolitikern so beschlossen wurde (11,53), aber dass und wann das geschieht, steht in Gottes Hand. 7,31–36 Die Frage nach dem Ziel des Weges Jesu Doch es gibt auch andere Reaktionen (31–36). Die Erzählung blendet wieder zurück auf die Menge der Festpilger, die aus dem Umland und vor allem auch aus Galiläa zum Fest nach Jerusalem gekommen waren. Von ihnen heißt es: Von der Menge kamen viele zum Glauben an ihn. Auch das Johannesevangelium stellt

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7,14–36

die jüdischen Zeitgenossen Jesu nicht pauschal als verlorene Masse dar. Immer wieder werden Menschen durch Jesu Wirken angesprochen und kommen zum Glauben. Allerdings entzündet sich der Glaube der Leute vor allem an den Wundern Jesu. Sie begründen das auch im Gespräch mit anderen, wenn sie sagen: Wird der Messias, wenn er gekommen ist, denn mehr Zeichen tun, als dieser getan hat? Die Frage ist im griechischen Text so formuliert, dass die Antwort eigentlich klar ist: Nein, das ist nicht denkbar, und daher muss mit Jesus schon die messianische Zeit angebrochen sein. Merkwürdigerweise wird weder im Alten Testament noch in jüdischen Texten aus neutestamentlicher Zeit die Erwartung geäußert, dass der Messias Wunder tun würde. Auf der Basis von Jes 35,5f besteht allerdings die Hoffnung, dass Gott am Ende der Tage in der Zeit des Heils alle Krankheiten heilen wird (Jub 23,30; 1Hen 96,3). In einem eindrucksvollen Text aus Qumran, der messianischen Apokalypse 4Q 521,2.II,12, wird diese Hoffnung ausdrücklich mit dem Auftreten des Gesalbten Gottes verknüpft. Doch wird auch dort festgehalten, dass Gott es ist, der »die schwer Verwundeten heilen und Tote lebendig machen« wird. Dagegen werden in Mt 11,2– 6 die Wunder Jesu ausdrücklich als »Werke des Messias« bezeichnet. Die christliche Gemeinde sieht in Jesus den Messias Gottes, durch den Gott die Menschen heilt und rettet.

Noch einmal tritt eine neue Gruppe auf, die Pharisäer (32). Sie werden die Hauptgegner Jesu in den weiteren Auseinandersetzungen sein und treten bei Johannes im Unterschied zu den anderen Evangelien nur in Jerusalem auf. Sie erscheinen hier, wie schon in 1,24, fast wie eine Art Religionspolizei. Obwohl die Menge nur heimlich munkelte, was sie von Jesus wirklich hielt (vgl. V. 12), erfahren die Pharisäer davon und beschließen einzugreifen. Sie verbünden sich mit den Hohepriestern, die hier zum ersten Mal im Johannesevangelium erwähnt werden. Als Hohepriester oder – in heutigem Sprachgebrauch – Oberpriester bezeichnet man eine Gruppe, zu der außer dem amtierenden Hohepriester und seinem Vorgänger auch andere hohe Tempelbeamte wie der Tempelhauptmann, der Tempelaufseher und der Schatzmeister gehörten. Es sind die Vertreter der hohepriesterlichen Familien, die zusammen mit den Ältesten und Schriftgelehrten den Hohen Rat bildeten (vgl. zu Mk 8,31; Mt 16,21). In ihm hatten die Hohepriester die führende Rolle. Ihnen unterstand auch die kleine Polizeitruppe der jüdischen Tempelwache (vgl. 18,3; Mk 14,43). Johannes kennt als Gegner Jesu nur noch die Hohepriester und Pharisäer (11,47.57; 18,3), was wohl die Verhältnisse zur Zeit der Abfassung des Evangeliums widerspiegelt.

Gemeinsam sandten die Hohepriester und die Pharisäer Diener – also wohl die Tempelwache oder eine Gruppe anderer Gerichts-

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diener – aus, um ihn zu verhaften. Die Leser und Leserinnen, die gespannt darauf warten, wie es denen bei dem Versuch ergeht, Jesus zu ergreifen, müssen sich allerdings noch ziemlich lange, bis V. 45, gedulden. Der Evangelist schiebt zunächst ein Wort Jesu dazwischen, das die wahre Perspektive seines nahenden Todesgeschicks andeutet und die eigentliche Tragik eines vergeblichen Suchens nach ihm beschreibt (33): Nur noch kurze Zeit bin ich bei euch und gehe (dann) zu dem, der mich gesandt hat. Dass ihn die Leute, die ihn verhaften wollen, jetzt nicht packen können, bedeutet nicht, dass er ihnen immer entkommen wird. Die Zeit seines Wirkens ist nur noch kurz (vgl. 12,35; 13,33; 14,19). Dann wird er wieder zu dem gehen, der mich gesandt hat. In dieser Ankündigung stecken ein Trost und eine Warnung. Sein Tod bedeutet zugleich seine Rückkehr zum Vater (vgl. 13,1; 14,28; 16,17). »Er ist also keine Niederlage, sondern Erfüllung« (Zumstein, 305). Aber es gilt auch: »Das Kreuz markiert einen Wendepunkt: Für die, die nicht geglaubt haben, ist keine Beziehung zu Jesus mehr möglich« (ebd.): Ihr werdet mich suchen und werdet mich nicht finden, und wo ich (dann) bin, könnt ihr nicht hingehen (34). Die Aktion der Diener der Hohepriester und Pharisäer wird zum Gleichnis für ein viel dramatischeres Geschehen. Es wird eine Zeit geben, in der Menschen Jesus suchen werden, um wirklich ins Gespräch mit ihm zu kommen. Aber dann werden sie ihn nicht mehr finden, und dorthin, wo er sein wird, ist ihnen der Weg versperrt. Die Zeit zur Umkehr ist knapp bemessen. Das bedeutet sicher nicht, dass für die Juden Jesu Botschaft nur in der Begegnung mit dem irdischen Jesus zugänglich ist und nicht mehr in der Verkündigung der nachösterlichen Gemeinde. Es ergeht vielmehr eine grundsätzliche Warnung: »Es gibt ein Zu-spät, die Offenbarung ›steht nicht beliebig zur Verfügung, sondern nur in einer beschränkten, von ihr selbst gesetzten Zeit‹« (Theobald, 531 mit Zitat von Bultmann, 232). Wie an manchen Stellen des Johannesevangeliums sind diese Worte Jesu von Motiven der Weisheitstheologie geprägt. Schon in Am 8,11f heißt es: »Siehe, es kommt die Zeit, spricht Gott der HERR, dass ich einen Hunger ins Land schicken werde, nicht einen Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des HERRN, es zu hören; dass sie hin und her von einem Meer zum andern, von Norden nach Osten laufen und des HERRN Wort suchen und doch nicht finden werden.« In Spr 1,28 warnt die Weisheit für den Fall, dass die Menschen nicht auf ihren Rat hören: »Dann werden sie nach mir rufen, aber ich werde nicht antworten; sie werden mich suchen und nicht finden«. Und in 4Esr 5,9f, einer apokalyptischen Schrift vom Ende des 1. Jh., heißt es, dass sich die Weisheit verbergen wird. »Sie

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wird von vielen gesucht, aber nicht gefunden.« Dass es ein Zu-Spät für Gottes Offenbarung geben könne, ist also keine antijüdische Erfindung des Johannes, sondern gehört zum Erbe prophetisch-weisheitlicher Mahnung.

Plötzlich sind wieder die Juden im Gespräch. Damit sind hier wohl diejenigen in der Menge gemeint, die sich Jesu Worte verschließen. Deshalb fragen sie auch nicht Jesus selbst, was seine Worte bedeuten, sondern diskutieren untereinander (35): Wohin will dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden können? Will er etwa in die (jüdische) Diaspora bei den Griechen gehen und die Griechen lehren? Das ist ein typisch johanneisches Missverständnis. Die Hörer beziehen Jesu Worte nur auf die innerweltliche Möglichkeit, in einem fernen Land Zuflucht zu suchen. Damals war es naheliegend, sich in die Diaspora bei den Griechen zu begeben, also zu den Juden, die in der Zerstreuung (das bedeutet Diaspora ursprünglich) in heidnischem Gebiet leben. (Wie bei Paulus in Röm 1,16, stehen die Griechen hier stellvertretend für die Heiden, also für Nichtjuden einer hellenistisch geprägten Gesellschaft.) Die Gegner Jesu erwägen sogar, ob er etwa die Grenze des Judentums überschreiten wolle und die Griechen – also die Heiden – lehren. Diese Frage ist zwar, wie ihre Formulierung zeigt, nicht wirklich ernst gemeint. Aber es ist typisch johanneische Ironie, dass die Leute zwar Jesus völlig missverstehen, aber dennoch, ohne es zu wissen, etwas aussprechen, was zur Zeit des Evangeliums Wirklichkeit geworden ist, dass nämlich die Botschaft Jesu nicht nur die jüdische Diaspora, sondern auch die griechisch-heidnische Welt erreicht hat. Da sie aber nicht den Weg zu Jesus finden, um ihn zu fragen, bleibt ihnen nur das ratlose Grübeln über die Frage (36): Was bedeutet dieses Wort, das er sagte: Ihr werdet mich suchen und mich nicht finden, und wo ich bin, könnt ihr nicht hingehen? Dass diese Aussage Jesu am Ende des Abschnitts noch einmal wiederholt wird, ist zugleich ein Impuls für Leserinnen und Leser, selbst über diese Frage nachzudenken. Drei Fragen beantworten die drei Teile dieses langen Abschnitts: (1) Woher stammt Jesu Befähigung und Vollmacht zur Lehre? (2) Woher kommt er? Das heißt: Welche Herkunft und Heimat bestimmt und prägt das Wesen seiner Person und seines Wirkens? Und (3): Wohin geht er? Was ist das Ziel seines Weges und damit der Orientierungspunkt seines Wirkens? Die Antwort ist für alle drei Fragen dieselbe: Es ist Gott, der Vater, der ihn gesandt hat, der ihn zu seiner Lehre und Botschaft bevollmächtigt. Es ist Gott, aus dessen Wirklichkeit und Wesen er stammt und herkommt und dessen rettende Liebe seinen Weg bestimmt. Und

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es ist Gott, zu dem sein Weg zurückführt und in dessen Gemeinschaft er alle die führen möchte, die von Gottes Ruf erreicht werden. Die Entscheidung darüber fällt jetzt, in der Begegnung mit ihm, der seinen Weg unbeirrt mit Gott geht. Er sucht nicht die eigene Ehre und Herrlichkeit und wird deshalb ans Kreuz gebracht. Aber gerade so wird er Gott, den Vater, verherrlichen. 7,37–52 Die große Einladung 37

Am letzten Tag, dem großen (Tag) des Festes, stand Jesus da und rief und sagte: Wenn jemand Durst hat, der komme zu mir, und es trinke, 38wer an mich glaubt. (Es ist,) wie die Schrift gesagt hat: Aus seinem Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. 39Das aber sagte er über den Geist, den diejenigen, die zum Glauben an ihn kommen, empfangen sollten; denn noch war der Geist nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht war. 40 Als nun (einige) aus der Menge diese Worte hörten, sagten sie: Dieser ist wahrhaft der Prophet, 41andere sagten (sogar): Dieser ist der Messias. Andere aber sagten: Kommt denn der Messias aus Galiläa? 42 Hat nicht die Schrift gesagt: Aus dem Samen Davids und von Betlehem, dem Dorf, wo David (zu Hause) war, kommt der Messias? 43 Da entstand eine Spaltung in der Menge wegen ihm. 44Aber einige von ihnen wollten ihn verhaften, aber niemand legte Hand an ihn. 45 Da kamen die Diener zu den Hohepriestern und Pharisäern, und diese sagten zu ihnen: Warum habt ihr ihn nicht hergebracht? 46Die Diener antworteten: Noch nie hat ein Mensch so geredet. 47Da antworteten ihnen die Pharisäer: Habt etwa auch ihr euch verführen lassen? 48Ist denn einer von den führenden Leuten zum Glauben an ihn gekommen oder von den Pharisäern? 49Aber dieses Volk da, das das Gesetz nicht kennt – verflucht sind sie! 50Nikodemus, einer von ihnen, der früher zu ihm gekommen war, sagt zu ihnen: 51Verurteilt denn unser Gesetz den (betreffenden) Menschen, wenn man ihn nicht zuerst verhört hat und erkannt hat, was er tut? 52Sie antworteten und sagten zu ihm: Bist du etwa auch aus Galiläa? Forsche nach und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht. Eine neue Zeitangabe signalisiert eine neue Phase der Ereignisse bei Jesu Aufenthalt am Laubhüttenfest (37f). Was folgt, geschah am letzten Tag des Festes, dem Höhepunkt (dem großen Tag) dieses Festes. Damit dürfte der siebte Tag gemeint sein, an dem das eigentliche Fest endete (vgl. Lev 23,33–43; der achte Tag war ein Ruhetag). An diesem Tag wurde zum letzten Mal der Ritus

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der Wasserspende begangen. Ein Priester holte mit einem Krug Wasser vom Teich Siloah, brachte es in einer feierlichen Prozession zum Tempel und goss es in eine auf dem Brandopferaltar stehende Schale (Suk 4,9). Man sah darin die Erfüllung von Jes 12,3: »Ihr werdet Wasser schöpfen voll Freude aus den Quellen des Heils« (EÜ). Nach einer rabbinischen Tradition ist dies Grund zur Freude, »weil man dort den Heiligen Geist schöpft« (jSuk 5,1). An diesem Tag des Festes steht Jesus inmitten der Menschenmenge und erhebt seine Stimme. Dass er laut ruft, erinnert an die Propheten, die wie Amos bei den Festen Israels auftraten und zur Umkehr riefen. Doch Jesu Ruf zur Umkehr wird nicht durch das drohende Gericht motiviert, sondern ist die dringende Einladung, sich ihm zuzuwenden und sich von Gott das schenken zu lassen, was am Nötigsten für das Leben ist: Wenn jemand Durst hat, der komme zu mir! Auch das nimmt prophetisches Reden auf: »Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser«, heißt es in Jes 55,1. Auch die Weisheit lädt ein: »Kommt, esst von meinem Brot und trinkt von dem Wein, den ich gemischt habe« (Spr 9,5; vgl. Sir 24,25– 29; 51,31–33). Was Propheten und Weisheitslehre im Alten Testament in Namen Gottes den Menschen zusagen, das erfüllt sich in Jesus: Wer zu ihm kommt, wird die Fülle wirklichen Lebens genießen und den ganzen Durst nach Leben stillen, wie es Jesus schon der Frau am Jakobsbrunnen verheißen hat (4,13f). Allerdings ist umstritten, wie der genaue Wortlaut des Rufes Jesu lautet, da man die Satzzeichen unterschiedlich setzen kann. In den meisten Übersetzungen und auch in der maßgeblichen Ausgabe des griechischen Urtextes (Nestle/Aland 28 ) lesen wir: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.

Leider haben die meisten der alten Handschriften keine Interpunktion, aber schon sehr früh gibt es Zeugen für eine andere Lesart: Wenn jemand Durst hat, der komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Aus seinem [Jesu] Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.

Der sachliche Unterschied besteht vor allem darin, dass nach der ersten Version die Glaubenden zu einer Quelle lebendigen Wassers werden, während dies in der zweiten Jesus selbst ist.

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Eine Entscheidung ist schwierig. Für die erste Version spricht, dass eine der ältesten Handschriften (Papyrus 66) doch einen Punkt hinter trinke setzt. Der Gedanke, dass die Glaubenden zu einer Quelle für das Wasser des Lebens werden, ist in 4,14 angedeutet und entspricht der missionarischen Perspektive des 4. Evangeliums. Es scheint auch naheliegender zu sein, seinen/dessen Leib auf das Subjekt von wer an mich glaubt zu beziehen. Aber es gibt auch erhebliche Einwände gegen diese Deutung und gute Argumente für die zweite Version, sodass sie von den meisten heutigen Auslegern bevorzugt wird: Dass die Glaubenden zur Quelle lebendigen Wassers werden, wird im Zusammenhang des Textes nirgends aufgenommen. In ihm geht es ausschließlich um Jesus. So wird dann auch in V. 39 das Wasser auf den Geist bezogen, den Christus den Glaubenden schenken wird. Für Johannes aber geht der Geist allein von Gott bzw. von Jesus aus (14,16f; 16,7). Und nicht zuletzt ist das angebliche Schriftzitat nur sinnvoll entsprechenden alttestamentlichen Aussagen zuzuordnen, wenn es sich auf Christus bezieht. Denn im Alten Testament lässt sich keine wörtliche Entsprechung zu dem Schriftzitat finden. Am nächsten kommt Ps 78,20: »Siehe, er hat wohl den Felsen geschlagen, dass Wasser strömten und Bäche sich ergossen« (vgl. auch V.15f). Für Paulus war dieser Felsen, aus dem die Israeliten bei der Wüstenwanderung »geistlichen Trank« getrunken haben, niemand anderes als Christus (1Kor 10,4). So bezieht wohl auch Johannes das Motiv von Wasser aus dem Felsen auf Christus. Vielleicht steckt auch in der ungewöhnlichen Aussage, dass Ströme lebendigen Wassers aus seinem Leib bzw. seinem Inneren (wörtlich: seinem Bauch) fließen, ein Hinweis auf Christus: Nach Jesu Tod stieß einer der Soldaten »mit dem Speer in seine Seite, und sogleich kam Blut und Wasser heraus« (19,34). Jesu in den Tod gegebener Leib wird zur Quelle des Lebens, symbolisiert durch Blut und Wasser. Im Hintergrund dieser Aussage steht eine breite biblische Tradition, die ankündigt, dass Gott aus dem Heiligtum lebenspendendes Wasser schenken wird. Die Verheißungen von Joel 4,18: »Und es wird eine Quelle ausgehen vom Hause des HERRN« oder Sach 14,8: »Zu der Zeit werden lebendige Wasser aus Jerusalem fließen« werden in Ez 47,1–12 zu einer großartigen Vision lebenstiftenden Wassers ausgeweitet, das aus dem Tempel in Jerusalem fließt und das ganze Land fruchtbar und heil macht. Sie wird in Offb 22,1f aufgenommen und in 22,17 in eine ganz persönliche Einladung gefasst: »Komm! Und wer es hört, sage: Komm! Und wer dürstet, der komme, und wer will, der nehme vom Wasser des Lebens, umsonst«. Dagegen spricht Jesus für Johannes in 7,38 vom »Tempel seines Leibes« (2,21), aus dem die Quelle wahren Lebens entspringt.

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7,37–52

Der Evangelist fügt noch eine Erläuterung ein, die erklärt, was mit den Strömen lebendigen Wassers gemeint ist (39). Jesus hat damit auf die Gabe des Geistes hingewiesen, den diejenigen, die zum Glauben an ihn kommen, empfangen würden. Dass fließendes, also lebendiges Wasser in der biblischen Tradition Bild für das Wirken des Geistes ist, zeigt sich schon daran, dass oft vom Ausgießen des Geistes gesprochen wird. So heißt es in Jes 44,3: »Ich will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre: Ich will meinen Geist auf deine Kinder gießen und meinen Segen auf deine Nachkommen« (vgl. auch Ez 39,29; Joel 3,1; Sach 12,10; Apg 2,33; 10,45; Röm 5,5). Die lebenspendende Kraft des Wassers, die dürres Land fruchtbar macht und verdurstenden Menschen neues Leben einflößt, wird zum Bild für das Wirken des Geistes Gottes, der neues, wahres Leben schenkt. Das war freilich ein Versprechen, das sich erst in Zukunft erfüllen würde. Der Evangelist weist darauf ausdrücklich hin: denn noch war der Geist nicht da, denn Jesus war noch nicht verherrlicht. Das entspricht einer Grundaussage des 4. Evangeliums. Obwohl Johannes der Täufer Jesus als den ankündigt, »der mit dem Heiligen Geist tauft« (1,33), wird der Geist erst nach Jesu Tod und Auferstehung verliehen werden (vgl. 20,22; weiter 14,26; 16,7). Der Geist, oder – wie es dann in den Abschiedsreden heißt – der Beistand, der Tröster, wird Jesus, wenn er wieder zum Vater zurückgekehrt ist, in räumlich und zeitlich entgrenzter Weise vertreten. Zum ersten Mal erscheint hier für das irdische Ende Jesu der Begriff verherrlicht werden. Er wird im zweiten Teil des Evangeliums immer wieder auftauchen. Jesus, der Menschensohn, wird verherrlicht werden (12,23; 13,31f; 16,14) und Gott, der Vater, wird durch den Sohn verherrlicht werden (13,31f; 14,13; 15,8; 16,14). Dabei ist damit keineswegs nur der Glanz des Auferstehungslichtes gemeint, sondern – wie insbesondere 12,23 und 13,31f zeigen – gerade Jesu Passion. Ähnlich paradox wie beim Stichwort erhöhen (vgl. 3,13) wird der Augenblick tiefster Schande im Tod am Kreuz als Verherrlichung bezeichnet. Wurzel dieser Formulierungen ist die griechische Übersetzung von Jes 52,13: »Siehe mein Knecht … wird erhöht und überaus geehrt/verherrlicht werden«. Unter dieser »Überschrift« wird dann vom Leiden und der Erniedrigung des Gottesknechts erzählt, der »unsere Sünden trägt und um unsertwillen leidet« (53,4), aber am Ende »das Licht schauen und Fülle haben« wird (53,11). Das Johannesevangelium verdichtet diese Zusammenschau von Tod und Verherrlichung noch mehr: In seinem Tod am Kreuz wird Jesus »als wahrhaftiger Gesandter Gottes offenbart und in eine universale Ehrenstellung beim Vater aufgenommen« und so verherrlicht. »Umgekehrt ehrt [= verherrlicht] Jesus den Vater durch die Hingabe seines Lebens

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und offenbart darin die hingabebereite Liebe Gottes« (vgl. 3,16; ChibiciRevneanu, Herrlichkeit 623).

All das scheint aus nachösterlicher Perspektive gesprochen zu sein. Wie konnten Jesu Hörer und Hörerinnen das verstehen? Der Evangelist stellt diese Frage nicht. Unsere Stelle zeigt, dass es ihm nicht darum geht, die Verkündigung des irdischen Jesus zu rekonstruieren, sondern darum, sie in ihrer Bedeutung für seine Leser und Leserinnen zu entfalten. Dennoch berichtet er von unterschiedlichen Reaktionen in der damaligen Zuhörerschaft, und zwar von positiven und negativen. Vielleicht spiegeln sich darin auch konträre Stellungnahmen zur Botschaft Jesu aus seiner eigenen Zeit wieder. Eine Gruppe aus der Menge sagte unter dem Eindruck dieser Worte (40): Dieser ist wahrhaft der Prophet. Der Prophet, das ist der in Dtn 18,15–18 angekündigte Prophet »wie Mose«, der das Volk zum Gehorsam führen soll (vgl. 1,21; 6,14). Andere gehen noch weiter in ihrer Begeisterung und bekennen (41): Dieser ist der Messias, also der Christus, der Gesalbte Gottes, der Heil und Frieden für Israel bringen wird. Kann man mehr von Jesus sagen? In Mk 8,29 und Mt 16,16 ist es Petrus, der nach unterschiedlichen Stimmen aus dem Volk dieses entscheidende Bekenntnis ausspricht. Aber an diesem Bekenntnis entzündet sich der Streit. Eine andere Gruppe wendet dagegen ein: Kommt denn etwa der Messias aus Galiläa? Die Antwort ist klar: Nein, denn nach dem Zeugnis der Schrift kommt der Messias aus dem Samen Davids und von Betlehem, dem Dorf, wo David (zu Hause) war (42). Der Messias wird als Nachkomme Davids (2Sam 7,12f) aus Bethlehem, der Heimat der Familie Davids, kommen (1Sam 20,6; Mi 5,1). Jesus aber – so wusste man – stammte aus Nazareth in Galiläa. Er konnte also nicht der Messias sein. Die problematische Herkunft Jesu aus Nazareth wird im Johannesevangelium immer wieder thematisiert (1,45f; 6,42; 7,27.52). Merkwürdigerweise verweist der Evangelist nie auf die Überlieferung, dass Jesus tatsächlich ein Nachkomme Davids war und in Bethlehem geboren wurde (vgl. Mt 1,1–18; 2,1–6; Lk 2,4–7; Röm 1,3). Kannte er diese Tradition nicht oder hielt er sie für die Frage, wer Jesus wirklich ist, für unerheblich? »Nicht seine menschliche Herkunft ist entscheidend – auch wenn sie durch Schriftbeweise begründet wäre –, sondern seine göttliche Herkunft, also sein Wesen als Gesandter des Vaters« (Zumstein, 312). Diese Kontroverse führt zu einer Spaltung in der Menge (43). Die Erzählung veranschaulicht das rätselhafte Wort Jesu in Mt 10,34f

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par Lk 12,51, in dem er sagt, er sei nicht gekommen Frieden zu bringen, sondern das Schwert. An Jesus scheiden sich die Geister (vgl. 9,16; 10,19). Ein Riss geht durch das Volk. Um die Bedrohung für die Einheit des Volks zu bannen, beschließen einige, ihn zu verhaften und ihn so aus dem Verkehr zu ziehen (44). Aber wie schon in V. 30 wird festgestellt, dass diese Initiativen ins Leere gehen: niemand legte Hand an ihn. Den Zeitpunkt, die »Stunde«, wann Jesus festgenommen werden wird, bestimmt nicht das politische Kalkül der Menschen, sondern allein Gott. Das zeigt auch die Fortsetzung der Geschichte: Die Diener, die von den Hohepriestern und Pharisäern ausgesandt worden waren, um Jesus zu verhaften (V. 32), kommen zu ihnen zurück (45), aber offensichtlich mit leeren Händen. Ihre Auftraggeber fragen verärgert: Warum habt ihr ihn nicht hergebracht? Die Antwort der Diener zeigt, dass sie von Jesu Verkündigung tief beeindruckt wurden (46): Noch nie hat ein Mensch so geredet, sagen sie und begründen damit, warum sie Jesus nicht festgenommen haben. Der hier sprach, hatte eine Vollmacht, die menschliche Möglichkeiten übersteigt. Die Pharisäer sind verständlicherweise verärgert und fragen (47): Habt etwa auch ihr euch verführen lassen? Für sie war Jesus ein falscher Prophet, der das Volk in die Irre führte, ein Vorwurf, der immer wieder von jüdischer Seite gegen Jesus erhoben wurde (vgl. 7,12; Mt 27,63; dazu Dtn 13,2–6;). Wie konnten sich die Leute von ihm so beeindrucken lassen! Denn – so ihr Argument (48): Ist denn einer von den führenden Leuten (wörtlich: den Oberen) oder von den Pharisäern zum Glauben an ihn gekommen? Die Antwort scheint klar: Nein, keiner von ihnen, und daran sollen sich doch bitte auch die Diener und kleinen Leute halten! Damit wird ein schwieriges Thema angeschnitten. In der jüdischen Gesellschaft weist die soziale Schichtung auch auf religiöse Differenzen hin. Die Gegner Jesu vollziehen eine scharfe Unterscheidung (49): Dieses Volk da (wörtlich: die Menge), das das Gesetz nicht kennt – verflucht sind sie! Gemeint ist damit eine Gruppe von Leuten, die in den rabbinischen Schriften als Volk des Landes bezeichnet wird: einfache Leute vom Land oder arme Taglöhner, die weder die Bildung besaßen, um das Gesetz und die Gesetzesauslegung der Schriftgelehrten zu kennen, noch es sich leisten konnten, die oft recht aufwändigen Vorschriften über die Abgabe des Zehnten oder die Bewahrung levitischer Reinheit zu befolgen. Möglicherweise sind es die gleichen Leute, die in Mk 2,16f oder Lk 15,1f Sünder genannt werden. Wie verächtlich man mit ihnen von Seiten der politischen und religiösen Eliten (Obere und Pha-

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risäer) umging, zeigt unsere Stelle: Solche Leute sind verflucht. Sie gelten als anfällig für neue Heilslehren, die die hohen Standards rechter Frömmigkeit gefährdeten! Aber in den eigenen Reihen erhebt sich Widerstand gegen diese Haltung, zumindest was die Vorverurteilung Jesu betrifft (50): Nikodemus, einer von ihnen, also einer der führenden Leute, vermutlich ein Mitglied des Hohen Rates, der ja schon früher zu ihm gekommen war (3,1–21), findet das Verfahren ungerecht. Mit seinem Einwand stützt er sich ausdrücklich auf die Tora, das Gesetz Moses. Er fragt (51): Verurteilt denn unser Gesetz den (betreffenden) Menschen, wenn man ihn nicht zuerst verhört hat und erkannt hat, was er tut? Und die Antwort kann nur lauten: Nein. Es gehört zu den Kennzeichen alttestamentlicher Gesetzgebung, dass sie für eine faire Rechtsprechung eintritt. Angeklagte müssen ein Recht auf Gehör bekommen und bei Zeugenaussagen soll genau geprüft werden, ob sie den Sachverhalt wahrheitsgemäß darstellen (Ex 23,1; Dtn 1,16f; 17,4; 19,18). Es ist sicher von tieferer Bedeutung, dass sich Nikodemus bei seinem Eintreten für Jesus auf unser Gesetz, also die Tora, beruft. »Er fordert seine Gesprächspartner auf, den Willen Gottes ernst zu nehmen, und dies kann nur ein Beitrag zur Verteidigung Jesu sein«. Zugleich gibt er zu verstehen, »dass die Pharisäer sich durch ihr Verhalten gegenüber Jesus genau dessen schuldig machen, was sie dem einfachen Volk vorwerfen: der Übertretung der Thora« (Zumstein, 314). Aber seine Kollegen gehen nicht auf sein Argument ein. Mit der spöttischen Frage (52): Bist du etwa auch aus Galiläa? werfen sie Nikodemus indirekt vor, ein Sympathisant Jesu zu sein. Galiläa war vielen Judäern als Brutstätte einer revolutionären Frömmigkeit suspekt. So fordern sie Nikodemus auf: Forsche nach – und zwar in den Heiligen Schriften – und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht. Für sie kann Galiläa kein Ort wegweisender Verkündigung sein. Der Papyrus 66, eine Evangelienhandschrift aus der Zeit um 200 n.Chr., hat an dieser Stelle einen anderen Wortlaut, nämlich: dass der Prophet nicht aus Galiläa aufsteht (vgl. 1,21; 6,14). Viele Ausleger halten das für den ursprünglichen Text der Stelle. Sie nennen dafür zwei Gründe: 1. Nach 2Kön 14,25 stammte der Prophet Jona, der Sohn Amittais, aus Gat-Hefer, das in Galiläa liegt. 2. Nach dem Zeugnis der rabbinischen Schriften wird der endzeitliche Prophet, der wie Mose (Dtn 18,15–20) das Volk zum Heil führen wird, in der Wüste auftreten und kann deshalb nicht aus Galiläa kommen. Die Aufforderung seiner Kollegen an Nikodemus: Forsche in den Heiligen Schriften nach … hat also nur Beweiskraft, wenn es nicht um irgendeinen, sondern um den erwarteten endzeitlichen Propheten geht.

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Allerdings bietet nur diese eine Handschrift diese Lesart. Könnte sie nicht die Verbesserung eines schriftgelehrten Abschreibers sein? Müssen die führenden Leute und die Pharisäer in den Augen des Erzählers so bibelfest gewesen sein, dass ihnen nicht auch ein Fehler unterlaufen konnte?

Nikodemus antwortet nicht mehr auf diese Entgegnung seiner Kollegen. Der Gesprächsgang ist zu Ende, und das nächste Wort hat Jesus selbst (8,12). Viele Ausleger haben deshalb Nikodemus Feigheit und Halbherzigkeit vorgeworfen und ihn als abschreckendes Beispiel für den fehlenden Mut, sich zu Jesus zu bekennen, dargestellt. Für andere ist er der Typ des Judenchristen, der im Verband des Judentums bleibt, aber gerade dadurch sein Bekenntnis zu Jesus verdunkelt. Aber Nikodemus erscheint in 19,39 noch einmal in positivem Licht; deshalb sollte man mit einer vorschnellen Verurteilung seines Verhaltens vorsichtig sein. Menschen suchen nach Sinn und Erfüllung für ihr Leben – damals im Tempel bei großen Festen, heute bei Rockkonzerten, in Fußballstadien oder religiösen Events. Jesus steht mitten im festlichen Treiben und lädt zu sich ein: Wenn jemand Durst hat, der komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Zu ihm zu kommen stillt die Sehnsucht nach einem Leben, das es wert ist, gelebt zu werden. An ihn zu glauben, macht offen dafür, das Geschenk des Lebens voll Dankbarkeit zu genießen. Jesus lädt mit Worten ein, die schon die Propheten und die Lehrer der Weisheit verwendet haben, um die große Einladung Gottes weiterzugeben. Es sind zugleich Worte, die die Tiefe menschlichen Sehnens und Verlangens anrühren, indem sie versprechen, den Durst nach wahrem und erfülltem Leben zu stillen. Für die Menschen, zu denen Jesus im Tempel spricht, galt diese Einladung ganz unmittelbar. Aber für die Leserinnen und Leser des Evangeliums wird klargestellt: Ganz erfüllen wird sich Jesu Zusage erst, wenn er seinen Weg vollendet hat und verherrlicht worden ist, das heißt, wenn durch seinen Tod am Kreuz die Liebe Gottes gesiegt hat. Die Ströme lebendigen Wassers, die von seinem Leib fließen werden, sind der Geist der Liebe, der nach Jesu Tod und Auferstehung für die Glaubenden ausgegossen werden wird. Paulus sagt dasselbe, wenn er in Röm 5,5 schreibt: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist« (5,5). Und auch für Paulus hat Gott diese Liebe dadurch erwiesen, dass Christus für uns starb, als wir noch Feinde Gottes waren (5,8f). Gottes Liebe ist das lebendige Wasser, durch das Jesus den Lebensdurst der Menschen stillt. Denn Gottes Geist macht gewiss: Gott liebt mich! Er liebt mich so sehr, dass er in seinem Sohn auch die tiefste Not meines Lebens, den Tod, auf sich genommen und für mich ge-

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tragen hat. In seiner Liebe bin ich geborgen, und seine Liebe macht mich fähig und bereit, selbst zu lieben. Das gibt dem Leben Sinn und Erfüllung. Immer wieder neu wird in diesem Zusammenhang über die Frage gestritten: Woher kommt Jesus? Für uns heute scheint das kaum von Belang zu sein. Stammt er aus Nazareth oder vielleicht doch aus Bethlehem? Auch für Johannes ist diese Frage sekundär. Entscheidend ist, dass er von Gott kommt – aber gerade nicht senkrecht von oben auf diese Erde gebeamt, sondern von einer jüdischen Frau in einem jüdischen Dorf geboren. Gerade hier gilt: »das Heil kommt von den Juden«. Jüdischer Messias und Retter der Welt – das ist Jesus. 7,53 – 8,11 Jesus und die Ehebrecherin Die Erzählung in 7,53 – 8,11: Jesus und die Ehebrecherin fehlt in fast allen alten griechischen Handschriften und gehörte nicht zum ursprünglichen Text des Johannesevangeliums. Um den ursprünglichen Zusammenhang an dieser Stelle zu bewahren, besprechen wir diesen Abschnitt nicht hier, sondern im Anhang dieses Bandes auf S. 292–299. 8,12–20 Jesus – das Licht der Welt 12

Da redete Jesus wieder zu ihnen und sagte: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird gewiss nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben. 13Da sagen die Pharisäer zu ihm: Du legst (doch) über dich selbst Zeugnis ab; dein Zeugnis ist nicht wahr. 14Jesus antwortete und sagte zu ihnen: Auch wenn ich über mich selbst Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wohin ich gehe. 15Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemanden. 16Aber auch wenn ich richte, ist mein Gericht wahr, denn ich bin nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat (, richten gemeinsam). 17Und in eurem Gesetz steht geschrieben, dass das Zeugnis zweier Menschen wahr ist. 18Ich bin es, der über mich selbst Zeugnis ablegt, und auch der Vater, der mich gesandt hat, legt Zeugnis über mich ab. 19Da sagten sie zu ihm: Wo ist dein Vater? Jesus antwortete: Ihr kennt weder mich noch meinen Vater; wenn ihr mich kennen würdet, würdet ihr

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auch meinen Vater kennen. 20Diese Worte sprach Jesus bei der Schatzkammer, als er im Heiligtum lehrte; und niemand verhaftete ihn, denn noch war seine Stunde nicht gekommen. Die Auseinandersetzung um Jesu Herkunft und Autorität geht unmittelbar weiter. Nach dem Bericht vom Streit zwischen Nikodemus und seinen Kollegen, die darauf beharren, dass aus Galiläa kein Prophet und schon gar nicht der Messias kommen wird, ergreift Jesus wieder selbst das Wort, und zwar mit einer Aussage, die den Horizont weit über diese Streitfrage hinaus weitet (1 1 2). Seine Antwort auf die umstrittene Frage, woher er kommt und was sein Kommen bedeutet, lautet: Ich bin das Licht der Welt. Dies ist das zweite der Ich-bin-Worte Jesu. Wie das erste dieser Worte, das vom Brot des Lebens spricht (6,35.48), nimmt auch dieses Wort ein zentrales biblisches, aber auch allgemein-menschliches Ur-Bild auf: Licht schafft Leben. Licht schenkt Erleuchtung und Erkenntnis. Licht symbolisiert Freude und Glück. Schon im Prolog war vom WORT, vom göttlichen Logos, gesagt worden: »In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen« (1,4). Stand dort das Licht der Schöpfung im Vordergrund (vgl. Gen 1,3), so ist es hier das Licht der Offenbarung, das das Dunkel einer gottfernen Existenz erhellt. Man hat darauf hingewiesen, dass zum Laubhüttenfest eine reiche Lichtsymbolik gehörte: Im Vorhof der Frauen waren große Leuchter aufgestellt, die am Abend angezündet wurden. Aber im Text gibt es keinen direkten Hinweis darauf. Dafür findet sich im Alten Testament und in der frühjüdischen Literatur eine Fülle von Beispielen, in denen Licht als Symbol für Heil und Leben erscheint. Das Gesetz, die Tora, wird oft mit dem Licht verglichen (Ps 119,105; Spr 6,23; TestLev 19,1). In Jes 42,6; 49,6 wird der Gottesknecht zum Licht der Völker berufen (ähnlich 1Hen 48,4 vom Menschensohn) und nach Weish 7,26 ist die göttliche Weisheit »Abglanz des ewigen Lichts«. Gemeinsam ist all diesen Aussagen: Nicht das innere Licht der Menschen bringt die Erleuchtung, Gott muss sie schenken, sei es durch die Tora, den Gottesknecht und seine Verkündigung oder die göttliche Weisheit.

Sehr betont wird gesagt: Jesus ist das Licht. Er ist kein Licht unter anderen, vielleicht besonders hell, aber nicht einzigartig. Nein, er ist das Licht, er strahlt aus, was die Menschen brauchen, um wirklich zu leben. Und er ist das Licht der Welt. Im Auftrag des Gottesknechts, Licht der Völker zu sein (Jes 42,6; 49,6), war die Entgrenzung der Offenbarung Gottes über Israel hinaus schon vorweggenommen. Durch Jesus Christus wird sie endgültig für die ganze Menschheit verwirklicht. Unsere Stelle ist eines der Leucht-

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feuer im Evangelium, die auf die universale Bedeutung des Handelns Gottes in Jesus Christus hinweisen (vgl. 1,29; 3,16; 4,42). Wie bei allen Ich-bin-Worten ist mit der Selbstvorstellung Jesu eine Heilszusage verbunden: Wer mir nachfolgt, wird gewiss nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben. Ein neues Bild wird aufgenommen, das Bild vom Weg, der ans Ziel führt (vgl. schon Ps 119,105 von Gottes Gesetz und Weisung: »Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege«). Dass das Licht, das für die ganze Welt aufleuchtet, wirklich zum Licht für einen Menschen wird und seinen Weg erleuchtet, ist an eine Voraussetzung geknüpft. Sie lautet: Wer mir nachfolgt. Oder etwas freier formuliert: Jesu Zusage gilt für alle, die der Einladung folgen, mit ihm zu gehen. Das Thema Nachfolge steht bei Johannes nicht im Mittelpunkt (doch vgl. 1,43; 12,26). Hier wird es aufgenommen und damit gesagt: Wer Jesus folgt und sich an ihm, seinem Wort und seinem Handeln orientiert, wird nicht mehr im Dunkeln umherirren. Die etwas altertümliche Übersetzung nicht in der Finsternis wandeln (LÜ; ZB) macht deutlich: Hier geht es um Gelingen oder Misslingen des Lebenswegs. Es geht um die Frage: Ist unser Tun und Lassen im Dunkel der Gottferne gefangen oder vom Licht der Liebe Gottes erleuchtet? Für die, die Jesus nachfolgen und sich an ihm orientieren, gilt: sie werden das Licht des Lebens haben. Licht des Lebens hat eine doppelte Bedeutung: Es ist das Licht, das Leben schenkt, und es ist das Licht, das selbst Leben ist. Weil es das Licht ist, in dem Gottes Liebe, sein Ja zu den Menschen, in diese Welt hineinstrahlt, darum schafft und schenkt es Leben, ja, ist das Leben selbst. Dieses Licht hat man nicht, wie man eine angezündete Kerze in einer Laterne nach Hause tragen kann. Aber das Licht des Lebens, das in Jesus brennt, entzündet mit dem Feuer seiner Liebe auch das Leben derer, die ihm folgen und sich Gottes Gegenwart in ihm öffnen. Die Pharisäer aber verweigern sich einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Anspruch Jesu. Sie greifen zu einem formalen Argument (13). Sie weisen darauf hin, dass Jesus sich selbst widerspricht, wenn er mit einer solchen Behauptung auftritt. Denn bei einer früheren Begegnung hatte er gesagt: »Wenn ich für mich selbst Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis nicht wahr« (5,31). Also kontern sie: Du legst (doch) über dich selbst Zeugnis ab; dein Zeugnis ist (also) nicht wahr. Für Jesus aber beruht dieser Einwand auf der Logik rein menschlicher Urteilsfähigkeit. Aussagen, die er selbst über sich macht, entspringen einer anderen Quelle als einem nur auf sich selbst bedachten menschlichen Ich (14): Auch wenn ich über mich selbst

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Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis wahr. Grund dafür ist Jesu Gewissheit über die Herkunft seiner Person und den Ursprung und das Ziel seiner Sendung: denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe. Diese Erkenntnis geht seinen Gegnern ab, deshalb verschließen sie sich auch seiner Zusage: Ihr aber wisst nicht, woher ich komme oder wo ich hingehe. Das zeigt sich an der Art, wie sie ihr Urteil über ihn und seine Sendung fällen (15): Ihr richtet nach dem Fleisch, das heißt: Ihr beurteilt mich und natürlich auch vieles andere in eurem Leben nach rein menschlichen Maßstäben (nach dem Fleisch; vgl. zu 2Kor 5,16). Für Jesus aber gilt: Ich richte (= ich verurteile) gar niemanden. Noch einmal wird die Aussage von 3,18 aufgenommen, dass Jesus nicht gekommen ist, um die Welt zu richten und zu verurteilen, sondern um sie zu retten. Allerdings bleibt es dabei, dass sich an Jesu Verkündigung die Geister scheiden. Wenn sich Menschen der Botschaft Jesu verweigern und das Dunkel ihrer Selbstbezogenheit mehr lieben als das Licht der Liebe Gottes, sprechen sie sich selbst das Urteil, und es kommt doch zur »Ent-Scheidung« und damit zum Gericht. Das Gericht urteilt also nicht willkürlich (16): Auch wenn ich richte, ist mein Gericht wahr, das heißt: es entspricht dem, wie es um die Betreffenden steht, und Gottes Urteil über sie. Denn – so betont Jesus – ich bin nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat, (richten gemeinsam). Das Gericht, das sich an der Sendung Jesu vollzieht, ist kein privater Racheakt des Menschen Jesus von Nazareth. An der Stellung zu Jesus entscheidet sich die Stellung zu Gott. Die Frage nach der Verlässlichkeit und Wahrheit der Botschaft Jesu führt zu einem letzten Hinweis (17). Er lenkt wieder zurück zur Frage der Beweiskraft von Zeugen vor Gericht. Jesus greift dazu eine Bestimmung im mosaischen Gesetz, der Tora, auf: In eurem Gesetz steht geschrieben, dass das Zeugnis zweier Menschen wahr ist. Die Wendung euer Gesetz klingt distanziert, muss aber nicht bedeuten, dass Jesus nach Meinung des Evangelisten das Gesetz für sich und seine Gemeinde ablehnt. Die Formulierung euer Gesetz ist ein Appell an die Gesprächspartner: Lasst uns doch auf der Grundlage dessen diskutieren, was euch angeblich so wichtig ist. Jesu Aussage bezieht sich auf Dtn 19,15: »Durch zweier oder dreier Zeugen Mund soll eine Sache gültig sein«. Dabei hebt Jesu Formulierung die Frage auf eine Ebene, die über die Situation einer Gerichtsverhandlung hinausführt. Es geht nicht nur um die Frage, welche Aussage mit den äußeren Fakten übereinstimmt, sondern welche Aussage wahr ist, d.h. die Wirklichkeit richtig be-

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schreibt. Und darum geht es im Folgenden nicht nur darum, dass es sich um zwei Zeugen handelt, sondern was für Zeugen das sind (18): Ich bin es, der über mich selbst Zeugnis ablegt, und auch der Vater, der mich gesandt hat, legt Zeugnis über mich ab. Jesus argumentiert hier mit dem typisch rabbinischen Schlussverfahren »vom Leichteren zum Schwereren«: »Wenn nach dem Gesetz schon das übereinstimmende Zeugnis wenigstens zweier Menschen zur Überführung eines Schuldigen ausreicht, um wie viel verbindlicher muß dann das übereinstimmende Zeugnis des Vaters und seines göttlichen Sohnes sein« (Thyen, 424). Damit fordert Jesus seine Gesprächspartner auf, sich auf einen Zirkel des Verstehens einzulassen. Um die Autorität und Wahrheit seiner Botschaft zu erkennen, muss man sich für Jesu Anspruch, von Gott zu kommen, öffnen. Einen Beweis durch angeblich »unabhängige« Zeugen kann es um der Sache willen nicht geben. Jesu Gesprächspartner aber lassen sich darauf nicht ein (19). Ihre Frage: Wo ist dein Vater? zeigt ihre ganze Verständnislosigkeit. Merkwürdigerweise fragen sie nicht: Wer ist dein Vater? Haben sie doch verstanden, dass Jesus nicht einfach von seinem irdischen Vater spricht, sondern von Gott, und fragen nun: Wo ist dieser göttliche Vater, auf den du dich berufst? Wo legt er denn Zeugnis für dich ab? Oder bleiben sie doch bei dem Missverständnis stehen, Jesu spreche von seinem menschlichen Vater und fragen: Wo soll denn dieser Vater sein, der für dich eintreten könnte? Jesu Antwort zeigt das Grundproblem auf, das er bei seinen Gegnern sieht: Ihr kennt weder mich noch meinen Vater; denn: wenn ihr mich kennen würdet, würdet ihr auch meinen Vater kennen. Es gehört zu den Kernaussagen des Johannesevangeliums, dass diejenigen, die sich wirklich auf die Begegnung mit Jesus einlassen und ihn kennen, in ihm auch Gott als dem liebenden Vater begegnen und so Gott in seiner ganzen, dem Menschen zugewandten Wirklichkeit kennen. »Wer mich sieht, sieht den Vater«, heißt es in 14,9 (vgl. 12,45), wobei kennen und sehen dasselbe bedeuten, nämlich im Glauben die Gegenwart Gottes in Jesus zu erfahren und zu erfassen. Dass die Diskussion über die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses Jesu gerade im Anschluss an Jesu Wort vom Licht geführt wird, dürfte kein Zufall sein. Licht braucht für seine Existenz keinen weiteren Beweis. Es ist sozusagen selbstevident. Der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien (15 v.Chr. – 40 n.Chr.) hat dieses Phänomen als Bild für die Art, wie Gott sich offenbart, verwendet. In einer Auslegung von Ex 33,13 lässt er Mose zu Gott sagen: »Denn wie das Licht durch nichts anderes zu erkennen ist und selbst von sich Zeugnis ablegt, so kannst auch Du allein Dich

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offenbaren« (SpecLeg I,42; nach Theobald, 569f). So wie das Licht ohne unabhängige Zeugen sein Wirken unter Beweis stellt, so offenbart sich auch Jesus selbst als der, der von Gott kommt und ihn unter den Menschen vergegenwärtigt. Diese Gesprächsphase schließt mit einem doppelten Hinweis (20). Zunächst werden die Aussagen »verortet«. Jesus hat sie gesprochen, als er im Heiligtum lehrte. Dort, wo Gott nach alttestamentlicher Überzeugung seinen Namen wohnen lässt, dort lehrt Jesus und eröffnet den Menschen in ganz neuer Weise den Zugang zu Gott. Und zwar hatte Jesus seinen Platz bei der Schatzkammer, in die Gaben der Tempelbesucher eingeworfen werden konnten (vgl. Mk 12,41; LÜ: Gotteskasten; ZB: Opferstock). Sie befand sich im Vorhof der Frauen, zu dem alle Israeliten, Männer und Frauen, Zugang hatten und in dem am Laubhüttenfest die großen Leuchter aufgestellt waren, die in das Dunkel der Nacht leuchteten. Einmal mehr wird dokumentiert, was Jesus in seinem Verhör vor dem Hohepriester Hannas sagen wird: »Ich habe frei und offen vor aller Welt geredet. Ich habe allezeit gelehrt in der Synagoge und im Tempel, wo alle Juden zusammenkommen, und habe nichts im Verborgenen geredet.« Und noch einmal (vgl. 7,33.40) wird festgestellt: Und niemand verhaftete ihn, denn noch war seine Stunde nicht gekommen. Jesus geht seinen Weg nach Gottes Plan. Er wird ihn in den Tod führen. Aber nicht nach den Plänen seiner Gegner, sondern gemäß dem Willen Gottes. Wasser und Licht, das sind Grundelemente allen Lebens. Ströme lebendigen Wassers hatte Jesus denen versprochen, die an ihn glauben (7,38). Jetzt wählt er das andere Bild: Ich bin das Licht der Welt. Wer Jesus folgt, wird nicht mehr im Dunkeln seinen Weg suchen müssen. Aber nicht nur das: Das Licht des Lebens, d.h. das Licht, das Leben schafft und erhält, das Wachstum schenkt und das Dunkel erleuchtet, erfüllt und umhüllt die, die Jesus folgen. Jesu Anspruch: Ich bin das Licht der Welt ist groß. Wo wird das Realität? Lässt er dieses Licht über alle scheinen, so wie der himmlische Vater seine Sonne über Böse und Gute aufgehen lässt (vgl. Mt 5,45)? Ja und Nein. Jesu Licht leuchtet für alle. Denn es ist das Licht der Liebe Gottes. Sie gilt allen, das ist der Kern der Botschaft Jesu. Aber nicht alle nehmen dieses Licht an. Die Menschen »lieben das Dunkel mehr als das Licht« (3,19; vgl. 1,5). Jesu Einladung will sie aus ihrer Verblendung herauslocken: »Wer mir nachfolgt, …wird das Licht des Lebens haben«. Das klingt wie eine Bedingung. Aber es ist eine Bedingung, die in der Sache selbst liegt, vergleichbar Aussagen wie: »Wer von dem Brot isst, wird satt werden« oder: »Wer seine leeren

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Hände öffnet, dem können sie gefüllt werden«. Der Ruf: »Wer mir nachfolgt …« lädt ein, sich auf den Weg Jesu einzulassen und das Leben auf ihn auszurichten und sich so für das Licht der Liebe Gottes zu öffnen, das Jesus in die Welt trägt. In der Bergpredigt sagt Jesus: Ihr seid das Licht der Welt (Mt 5,14). Das ist kein Widerspruch zu der Aussage: Ich bin das Licht der Welt, sondern die Konsequenz aus ihr. Jesus spricht zu denen, für die in den Seligpreisungen das Licht der Liebe Gottes aufleuchtet. Sie strahlen aus und geben weiter, was sie selbst empfangen haben (vgl. zu 9,5). Bleibt die Frage, wer für die Wahrheit der Zusage Jesu bürgt. Es gibt keine unabhängige Prüfstelle, die ein entsprechendes Zertifikat ausstellt. Man muss es wagen, sich auf Jesu Anspruch einzulassen und in seinem Wort Gottes Reden zu hören. Wer das tut, wird erfahren: Es stimmt! Dann bürgen Jesu Wort und Gottes Ja zu uns für sich selbst. Dann bewahrheitet sich, dass Jesus zu kennen auch bedeutet, Gott zu kennen, weil gilt, was Johannes in seinem ersten Brief formuliert: Gott ist Liebe (1Joh 4,16). 8,21–30 Die entscheidende Frage 21

Da sagte er wieder zu ihnen: Ich gehe weg, und ihr werdet mich suchen, und ihr werdet (doch) in eurer Sünde sterben; wo ich hingehe, (dahin) könnt ihr nicht kommen. 22Da sagten die Juden: Will er sich etwa selbst töten, weil er sagt: Wohin ich gehe, (dahin) könnt ihr nicht kommen? 23Und er sagte zu ihnen: Ihr seid von unten, ich bin von oben; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. 24 Ich habe euch ja gesagt, dass ihr in euren Sünden sterben werdet; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich (es) bin, werdet ihr in euren Sünden sterben. 25Da sagten sie zu ihm: Du, wer bist (denn) du? Jesus sagte zu ihnen: Von Anfang an (bin ich), was ich euch sage. 26Vieles habe ich über euch zu sagen und zu richten; aber der, der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das sage ich der Welt. 27Sie erkannten nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach. 28Da sagte Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass ich (es) bin und von mir aus nichts tue, sondern wie mich der Vater gelehrt hat, das sage ich. 29 Und der mich gesandt hat, der ist mit mir; er hat mich nicht alleingelassen, denn ich tue immer, was ihm gefällt. 30Als er das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn. Wieder und wieder (21; vgl. 8,12) wendet sich Jesus seinen Gesprächspartnern zu. Der nächste Gesprächsgang schließt sich un-

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mittelbar an den vorhergehenden an, ist aber durch die Einleitung, ein neues Thema und den Schluss in V. 30 deutlich als gesonderte Einheit ausgewiesen. Jesus greift ein Thema auf, das schon in 7,34f erörtert wurde, das aber nun einen neuen Akzent bekommt. Es ist die Frage, wohin der Weg Jesu führen wird. Dazu stellt Jesus noch einmal fest: Ich gehe weg, und ihr werdet mich suchen, … wo ich hingehe, (dahin) könnt ihr nicht kommen. Sinngemäß wiederholt er damit, was er schon in 7,34 gesagt hat: Wenn Jesus sein irdisches Werk vollendet hat, wird er für die, die sich seiner Botschaft verschließen, nicht mehr greifbar sein, denn die Dimension, in der er dann sein und wirken wird, ist ihnen nicht zugänglich. Die Ausleger sind sich nicht einig, ob mit suchen ein spätes Erwachen echten Interesses an Jesus gemeint ist (vgl. zu 7,34) oder an die spätere Verfolgung der Gemeinde Jesu durch jüdische Gegner gedacht ist. Der Zusammenhang spricht für die erste Alternative. Denn an unserer Stelle tritt zu der Feststellung: ihr werdet mich (vergeblich) suchen die Vorhersage Jesu: und ihr werdet in eurer Sünde sterben. Der Tod wird für die, die sich dem Geschenk wahren Lebens verweigert haben, nicht das Tor zur ewigen Gemeinschaft mit Gott sein. Ihr Tod wird ihre Trennung von Gott verewigen. Sehr betont wird von eurer Sünde im Singular gesprochen. Die Grundsünde des Menschen ist im Johannesevangelium der Unglaube, der sich der Gegenwart Gottes in Jesus verschließt (16,9). Der Tod ist also nicht Strafe für die Sünde, sondern ihre Konsequenz: Wer sein Leben von der Quelle allen Lebens abschneidet, stirbt nicht nur den natürlichen Tod eines sterblichen Geschöpfs, sondern den geistlichen Tod der Trennung von Gott. Wie in 7,35 wird diese Aussage von Jesu Gesprächspartnern völlig missverstanden (22). Und wie dort sind es nun wieder die Juden, die mit Jesus diskutieren. Fragten sie sich dort, ob Jesus in die Diaspora auswandern wolle, so hier, ob er sich etwa selbst töten wolle, um ihren Nachstellungen endgültig zu entgehen. Denn in den Tod würden sie ihm natürlich nicht folgen. Auch hier steckt in dem Missverständnis die Andeutung des wahren Sachverhalts. Tatsächlich führt Jesu Weg zum Vater durch den Tod; aber nicht durch den Tod von eigener Hand, sondern durch den Beschluss der jüdischen Führung, die in Jesus ein notwendiges Opfer der Staatsräson sieht (vgl. 11,50). Für Jesus ist dies Anlass, den grundsätzlichen Unterschied zwischen sich und seinen Gesprächspartnern aufzuzeigen. Er benennt dabei eine radikale Differenz (23): Ihr seid von unten, ich bin von oben; ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. Sie können ihn nicht verstehen, weil sie in ihrem Denken und auch in

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ihrer Frömmigkeit ganz dem Irdisch-Vorfindlichen verhaftet sind. Dass Jesus von Gott kommt und was es bedeutet, sich ganz der Realität Gottes zu öffnen, bleibt ihnen verschlossen. Dass sie von dieser Welt sind, bedeutet, dass sie von dem leben und ihr Leben danach ausrichten, was diese Welt bietet. Jesus aber ist unabhängig von dem »System Welt«. Er ist Licht für die Welt, weil er ganz anders ist und sein Leben und Handeln durch die Energie der Liebe Gottes bestimmt und erfüllt ist. Darum ist er von oben, von Gott, und wird zu ihm zurückkehren. Sie aber sind von unten, verhaftet und verstrickt in den Niederungen einer Existenz fern von Gott. Deshalb wiederholt Jesus seine Ansage (24): Ich habe euch ja gesagt, dass ihr in euren Sünden sterben werdet. Diesmal spricht er von euren Sünden im Plural: Aus der grundsätzlichen Entfremdung von Gott erwachsen Taten, die die Menschen wie in einem Netz gefangen halten und in ihrer Gottferne festsetzen (vgl. V. 34). Die Grundproblematik aber bleibt dieselbe: Das Todesgeschick ist unabwendbar, wenn ihr nicht glaubt. Was aber bedeutet zu glauben, dass ich (es) bin. Die Formulierung gibt zunächst Rätsel auf. Worauf bezieht sich dieses: dass ich bin? Was ist zu ergänzen? Einfach aus V. 23 ein: dass ich von oben bin? Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass wir hier wieder dem absoluten ICH BIN Jesu begegnen (vgl. 4,26; 6,20), mit dem er die Selbstvorstellung des Gottes Israel in Ex 3,14; Dtn 32,39; Jes 43,11 aufnimmt. Das ist die große Herausforderung, das Ärgernis und die rettende Botschaft, die in Jesu Person, seiner Verkündigung und seinem Wirken liegen: In ihm wird Gott Mensch und für uns Menschen in dieser Welt erfahrbar. Nur wer sich voll Vertrauen der Gegenwart Gottes in Jesus Christus öffnet, hat Anteil an dem Leben, das den Tod überwindet. Jesu Gesprächspartner reagieren entrüstet auf Jesu Worte, die sie als Provokation empfinden (25). Sarkastisch fragen sie: Du, wer bist du (denn)? Oder frei übersetzt: Wie kommst denn gerade du dazu, so anmaßend zu reden? Die Antwort Jesu ist schwierig zu übersetzen. In der Lutherbibel (LÜ 1984 ) lautet sie: Zuerst das, was ich euch auch sage (LÜ 2017 : Was soll ich euch zuerst sagen?). Andere übersetzen: Warum rede ich überhaupt noch mit euch? (EÜ; ZB). Aus sprachlichen Gründen bevorzugen viele Ausleger diese Fassung. Aber die folgenden Sätze Jesu passen schlecht dazu. Wir übersetzen deshalb: Von Anfang an (bin ich), was ich euch sage. Jesu ICH BIN ist keine Anmaßung, sondern entspricht dem, was er immer und von Anfang an war (vgl. 1,1). Aber wie steht es um die Identität derer, die ihn infrage stellen? Auch ihnen gegenüber steht dem von Gott Gesandten das ent-

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scheidende Urteil zu (26): Viel habe ich über euch zu sagen und zu richten. Aber genau das tut Jesus nicht – jedenfalls nicht jetzt und an dieser Stelle. Ihm kommt es nur auf eines an: der mich gesandt hat, ist wahrhaftig. Dass Jesus durch seine Sendung an der Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit Gottes Anteil hat, das ist die entscheidende Begründung seines Auftrags und der Inhalt seiner Existenz. Darum ist auch die Verkündigung Jesu ganz darauf ausgerichtet, Gottes Stimme in dieser Welt zu sein. Sie bleibt der Adressat seines Wirkens: Was ich von ihm gehört habe, das sage ich der Welt (oder wörtlicher: hinein in die Welt). Dabei geht es nicht um eine Art Geheimwissen, das Jesus aus seiner himmlischen Existenz mitbringt und das er jetzt vor denen ausbreitet, die auf ihn hören. Was er vom Vater gehört hat, ist die schlichte Wahrheit, die in 3,16 mit dem Satz zusammengefasst ist: »So sehr hat Gott die Welt geliebt …«. Aber seine Gesprächspartner verstehen nicht, worum es Jesus geht (27): Sie erkannten nicht, dass er zu ihnen vom Vater sprach. Dabei bleibt offen, ob sie nicht gemerkt haben, dass er von Gott sprach. Entscheidend ist, dass sie nicht verstanden, aus welcher einzigartigen Beziehung zum Vater, seinem göttlichen Ursprung und Gegenüber, heraus Jesus spricht. Und dann gibt Jesus den entscheidenden Hinweis, wann und wie erkennbar sein wird, dass er in völliger Abhängigkeit von Gott, seinem Vater, lebt und lehrt (28): Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass ich (es) bin und von mir aus nichts tue, sondern wie mich der Vater gelehrt hat, das sage ich. Wieder begegnet uns der doppeldeutige Gebrauch des Wortes erhöhen. »Der Menschensohn muss erhöht werden« ist die johanneische Form der Leidensweissagungen Jesu (vgl. 3,14; 12,32–34 mit Mk 8,31). In ihr wird das »erhöht werden« am Kreuz und die Erhöhung zu Gott in einer Perspektive gesehen (vgl. bes. 12,32f). Jetzt freilich wird die Ansage noch viel direkter: Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt heißt nichts anderes als: Wenn ihr mich ans Kreuz bringen werdet! Weil sie aber gerade dadurch zum Werkzeug dafür werden, dass Jesus seiner Sendung treu bleibt und seine Bestimmung erfüllt, werden die Juden erkennen, dass ich (es) bin. Wieder taucht das geheimnisvoll vollmächtige I CH BIN als Kennzeichen Jesu auf. Die Aussage erinnert an Jes 43,10, wo Gott das Volk zum Zeugen seines rettenden Handelns beruft, »damit ihr erkennt und mir glaubt und begreift, dass I CH BIN «. So sollen Jesu Gegner im Tod Jesu am Kreuz erkennen, dass Gott selbst in diesem Geschehen sein Volk rettet. Sie sollen auch erkennen, dass Jesus von sich aus nichts tut, also nicht seinen eigenen Weg geht, sondern in seinem

8,21–30

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Tun und Leiden ganz von dem abhängt, der ihn gesandt hat. Alles, was Jesus tut und erleidet, ist zugleich Verkündigung, deshalb gilt: wie mich der Vater gelehrt hat, das sage ich (bzw. so rede ich). Jesu Handeln und Reden sind eins. Offen ist freilich die Frage, worauf sich diese Vorhersage bezieht. Spricht sie von einer heilsamen Erkenntnis, die zu einem rettenden und befreienden Glauben führt? Und bezieht sich das darauf, dass nach Karfreitag und Ostern viele Juden zum Glauben an Jesus gekommen sind, wohl auch aus den Reihen ehemaliger Gegner? Aber lässt sich das mit dem Feindbild vereinbaren, das Johannes im Folgenden zeichnen wird? Oder wird es eine Erkenntnis zum Gericht sein, die nicht zum Glauben, sondern in die Verurteilung führt? In 19,37 wird Sach 12,10 zitiert werden: »Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben«. Ist dies ein Blick, der zur Umkehr führt oder nur zur Erkenntnis der eigenen Gerichtsverfallenheit? Der Evangelist lässt diese Frage an beiden Stellen offen. Klar ist nur: Durch Jesu Tod am Kreuz werden den Juden, aber auch den anderen Menschen, die Augen für die wahre Bedeutung des Weges Jesu geöffnet werden, und sie werden sich entscheiden müssen! Zunächst aber spricht Jesus noch einmal über sich und sein Verhältnis zum Vater (29): der mich gesandt hat, der ist mit mir. Auch wenn der Sohn vom Vater in eine gottfeindliche Welt hineingestellt wurde, steht er nicht auf verlorenem Posten. Die Verbindung zu ihm bleibt erhalten (vgl. 16,32). Und wenn Jesus feststellt: Er, der Vater, hat mich nicht alleingelassen, so klingt das fast wie eine vorweggenommene Rückschau auf seinen ganzen Weg. Auch in der letzten Not des Todes, in der Jesus nach dem Zeugnis von Mk 15,34 / Mt 27,46 mit Ps 22,2 rief: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«, auch in dieser Stunde hat ihn Gott nicht alleingelassen. Denn – so wird das begründet – ich tue immer, was ihm gefällt. Gerade im Tod erweist der Sohn seinen völligen Gehorsam gegenüber dem Vater, und darum wird ihre Gemeinschaft auch durch den Tod nicht zerstört. Und dann folgt eine völlig überraschende Feststellung (30): Als er das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn. Wie kommt es zu diesem Umschwung, und von was für einem Glauben ist hier die Rede? Die Unsicherheit über diese Frage wird dadurch verstärkt, dass in 8,31–59 die Auseinandersetzung Jesu mit den Juden, die ihm geglaubt hatten, eskaliert. Aber wir finden im 4. Evangelium immer wieder Hinweise darauf, dass viele zum Glauben kamen (2,23; 7,31; 10,42; 11,45), selbst führende Leute (12,42). Jesu Wort und Tun bleiben nicht ohne Wirkung. Aber immer wieder bleibt auch die Frage offen: Was wird aus diesem Glauben?

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8,31–59

Endlose Kontroversen ohne Ergebnis, das ist unser Eindruck nach all dem Hin und Her in den Auseinandersetzungen Jesu mit seinen jüdischen Gesprächspartnern. Und doch vermeldet der Erzähler gerade nach dieser schwierigen Phase des Gesprächs: Als er das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn. Warum gerade jetzt? Liegt es daran, dass Jesus nicht nur seine wunderbaren Einladungen zum Leben ausspricht, sondern auch von den tödlichen Konsequenzen einer ablehnenden Entscheidung redet (vgl. V. 21.24)? Oder will der Evangelist zeigen: Wo das Kreuz zum Erkennungszeichen für Gottes Handeln in Jesus wird, da kommen Menschen zum Glauben (vgl. V. 28)? Oder ist es gerade das Gesamtbild dieser kontroversen Gespräche, in denen Jesus unbeirrbar seine Sendung und seine Botschaft vertritt und verteidigt, das den Weg zum Glauben frei macht? Die Leser und Leserinnen müssen selbst entscheiden. Aber vielleicht will der Evangelist durch die Art seiner Darstellung gerade deutlich machen, dass das Wunder des Glaubens nicht einfach durch die Analyse seiner Entstehungsbedingungen erklärbar ist, sondern geschieht, wann immer Gott es schenkt. Klar ist jedenfalls: Es ist kein »Wohlfühlevangelium«, das Menschen zum Glauben führt, sondern das »Wort vom Kreuz«. In ihm kommt Gottes Liebe zu den Menschen genauso zur Sprache wie ihre Verlorenheit in einem Leben, das diese Liebe nicht kennt. 8,31–59 Befreiende Wahrheit und tödlicher Widerstand 31

Da sagte Jesus zu den Juden, die ihm geglaubt hatten: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger, 32und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. 33Da antworteten sie ihm: Same Abrahams sind wir und sind nie jemandes Sklaven gewesen; warum sagst du: Ihr werdet frei werden? 34Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Jeder der Sünde tut, ist Sklave der Sünde. 35Der Sklave aber bleibt nicht auf ewig im Haus; der Sohn bleibt auf ewig. 36Wenn euch also der Sohn frei macht, werdet ihr wirklich frei sein. 37 Ich weiß, dass ihr Abrahams Same seid; aber ihr sucht mich zu töten, weil mein Wort keinen Raum in euch findet. 38Was ich beim Vater gesehen habe, das sage ich. Auch ihr tut ja, was ihr vom Vater hört. 39Sie antworteten und sagten zu ihm: Unser Vater ist Abraham. Sagt Jesus zu ihnen: Wenn ihr (wirklich) Kinder Abrahams wäret, würdet ihr die Werke Abrahams tun. 40Jetzt aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt habe, die ich von Gott gehört habe. Das hat Abraham nicht getan. 41Ihr tut die

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Werke eures Vaters. Da sagten sie zu ihm: Wir sind nicht aus Unzucht gezeugt worden; wir haben einen Vater, (nämlich) Gott. 42 Jesus sagte zu ihnen: Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben, denn ich bin von Gott ausgegangen und gekommen. Denn ich bin nicht von mir selbst aus gekommen, sondern jener hat mich gesandt. 43Warum versteht ihr meine Rede nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. 44Ihr stammt von dem Vater, dem Teufel, und wollt die Begierden eures Vaters tun. Der war ein Menschenmörder von Anfang an und stand nicht in der Wahrheit, denn in ihm ist keine Wahrheit. Wenn er Lüge spricht, spricht er aus dem Eigenen, denn er ist ein Lügner und Vater (der Lüge). 45Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht. 46Wer von euch kann mich einer Sünde überführen? Wenn ich (die) Wahrheit sage, warum glaubt ihr mich nicht? 47Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; deshalb hört ihr nicht, weil ihr nicht aus Gott seid. 48 Die Juden antworteten und sagten zu ihm: Sagen wir nicht zu Recht, dass du ein Samaritaner bist und einen Dämon hast? 49Jesus antwortete: Ich habe keinen Dämon, sondern ich ehre meinen Vater, und ihr entehrt mich. 50Ich aber suche nicht meine eigene Herrlichkeit. (Doch) da ist (einer), der (sie) sucht und der richtet. 51 Amen, amen, ich sage euch: Wenn jemand mein Wort bewahrt, wird er den Tod nicht sehen in Ewigkeit. 52Da sagten zu ihm die Juden: Jetzt haben wir erkannt, dass du einen Dämon hast. Abraham ist gestorben und die Propheten, und du sagst: Wenn jemand mein Wort bewahrt, wird er den Tod nicht schmecken in Ewigkeit. 53Bist du etwa mehr als unser Vater Abraham, der gestorben ist? Auch die Propheten sind gestorben. Zu wem machst du dich selbst? 54Jesus antwortete: Wenn ich mich selbst verherrlichen würde, wäre meine Herrlichkeit nichts; es ist mein Vater, der mich verherrlicht, von dem ihr behauptet: Er ist unser Gott. 55Und (doch) habt ihr ihn nicht erkannt, ich aber kenne ihn. Wenn ich sagen würde, ich kenne ihn nicht, dann wäre ich ein Lügner gleich wie ihr. Aber ich kenne ihn und halte sein Wort. 56Abraham, euer Vater, jubelte, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah (ihn) und wurde froh. 57Da sagten die Juden zu ihm: Noch nicht fünfzig Jahre bist du alt und hast Abraham gesehen? 58Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ehe Abraham (geboren) wurde, BIN ICH . 59Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Jesus aber verbarg sich und ging aus dem Heiligtum hinaus. Das ist ein langer Abschnitt. Aber die einzelnen Gesprächsphasen sind so eng miteinander verknüpft, dass es besser ist, sie im Zusammenhang auszulegen. Dennoch kann man einzelne Gesprächsteile unterscheiden. Ein klarer Neueinsatz liegt in V. 48 mit der

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8,31–59

Entgegnung der Juden auf Jesu Aussagen vor. Ein solcher Einschnitt fehlt zwar zwischen V. 36 und 37, aber der deutliche Themenwechsel stellt auch hier eine Zäsur dar. Der Abschnitt gliedert sich also in drei Gesprächsgänge: V. 31–36 V. 37–47 V. 48–59

Wahrheit und Freiheit Kinder Gottes oder des Teufels? Die unvergleichliche Würde Jesu

8,31–36 Wahrheit und Freiheit Das Streitgespräch knüpft unmittelbar an den letzten Vers des vorigen Abschnittes an (8,30). Dort war berichtet worden, dass viele an Jesus glaubten. Nun spricht Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten (31). Das ist an und für sich selbstverständlich. Und auch der erste Satz: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger passt als weiterführende Belehrung sehr gut in diesen Zusammenhang. Mit einer kurzfristigen Begeisterung für Jesus ist es nicht getan. Um wirklich zu ihm zu gehören und sein Jünger zu sein ist es nötig, sich weiter an seine Weisung zu halten oder – wie es in einer typisch johanneischen Redewendung heißt – in seinem Wort zu bleiben. Der weitere Fortgang des Gesprächs ist überraschend. Die Auseinandersetzung eskaliert. Jesu Vorwurf an seine Gesprächspartner, dass sie ihn zu töten suchen (V. 37), scheint überhaupt nicht zu einem Gespräch mit Leuten zu passen, die soeben zum Glauben an ihn gekommen sind. Ein genauerer Blick in den Text hilft zu einem besseren Verständnis: In V. 31 wird nicht wie in V. 30 gesagt, dass die Angesprochenen an Jesus glaubten. Es heißt viel zurückhaltender, dass sie ihm glaubten bzw. dass sie ihm geglaubt hatten. Geht es also gar nicht um die neu zum Glauben Gekommenen, sondern ist ihr Schritt Anlass, auf die Gefahr eines oberflächlichen Glaubens hinzuweisen, bei dem Begeisterung schnell in Feindschaft umschlägt? Dafür spricht manches, wobei mitbedacht werden muss, dass der Evangelist in den Gegnern Jesu oft auch Gruppen zeichnet, die in seiner Zeit Probleme bereiteten. In jedem Fall gilt: Menschen, die zum Glauben an Jesus kommen und ihr Leben ihm anvertrauen, müssen in seinem Wort bleiben. Seine Botschaft soll für sie der Raum werden und bleiben, in dem sie leben und Schutz finden. Sie ist die Basis, von der aus sie Dinge beurteilen und auf andere zugehen. Dann sind sie wirklich Menschen, die zu Jesus gehören und als seine Jünger bei ihm in die Lebensschule gehen. Das aber wird ihnen zur entscheidenden Erkenntnis verhelfen (32): Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.

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Dies ist sicher einer der Spitzensätze johanneischer Christusverkündigung – viel zitiert, aber auch nicht selten missbraucht. Und die skeptische Frage »Was ist Wahrheit?« (18,38) hat nicht nur Pilatus zu einer Lebenseinstellung verführt, die nicht nach dem fragt, was wahr ist, sondern nach dem, was geht oder was einem selbst nützt. Was aber ist Wahrheit im Verständnis des Johannesevangeliums? Wahrheit ist nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums ein zentraler Begriff der Verkündigung Jesu. Wie der Begriff WORT/Logos ist es ein Wort, das sowohl für die, die in den Heiligen Schriften des Judentums zu Hause sind, als auch für Menschen, die in der griechisch sprechenden Kultur beheimatet sind, von großer Bedeutung ist. Grundsätzlich bedeutet Wahrheit, dass eine Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt (vgl. Ps 15,2; Spr 8,7; bei Johannes 4,17f; 10,41; 19,35). Aber bei dieser formalen Bedeutung bleibt es nicht. Für die Griechen ging es im Ringen um Wahrheit darum, vom Schein zum wahren, unverborgenen Sein vorzustoßen. Für die von der hebräischen Sprache geprägte Vorstellung von Wahrheit dagegen war die Zuverlässigkeit einer Person, einer Aussage oder eines Verhaltens von grundlegender Bedeutung. Dass Gott treu (= wahr) ist, gehört zu seinen wesentlichen Eigenschaften (vgl. Dtn 7,9; 32,4; Ps 31,6; Jes 49,7). Das Begriffspaar Gnade und Wahrheit (bzw. Güte und Treue) beschreibt Wesen und Wirken Gottes (Ps 40,11; 57,11; 108,5 u.ö.). Die Wirklichkeit Gottes bedeutet Heil für die Menschen. Hier knüpft der Prolog des 4. Evangeliums an: Die Herrlichkeit des Fleisch gewordenen Wortes, die die bekennende Gemeinde »gesehen« hat, war »voller Gnade und Wahrheit« (1,14). Die Wirklichkeit des gnädigen Gottes wird durch das geschichtliche Ereignis der Menschwerdung Jesu Christi erschlossen und dadurch für Menschen erfahrbar! Darum sagt und bezeugt Jesus nicht nur die Wahrheit, indem er die ihm aufgetragene Botschaft von Gottes rettender Liebe ausrichtet (8,40; 16,7; 18,37). Er selbst ist die Wahrheit (14,6; vgl. 1,17), weil er diese Liebe verkörpert und durch seinen Weg in den Tod verwirklicht (vgl. 13,1). Der Geist der Wahrheit wird dann die Jünger in der ganzen Wahrheit leiten, weil erst nach Jesu Tod und Auferstehung die Wirklichkeit der Liebe Gottes in ihrer ganzen Tiefe erkennbar wird (14,17; 16,13).

Die Wahrheit, von der Jesus spricht, ist nicht die philosophische Wahrheit, mit der Menschen zu ergründen suchen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Wahrheit bezeichnet »die Offenbarung der göttlichen Wirklichkeit« (Zumstein, 338), die in Jesu Person und Botschaft aufleuchtet. Wer Gott wirklich ist, das erkennen die, die sich an Jesu Wort halten und sich für Gottes Gegenwart in seinem Wort und seiner Person öffnen. Sie erkennen dann aber auch, wie es um diese Welt und um sie selbst steht. Und diese Wahrheit macht sie frei: Frei von Illusionen über die eigene Stärke und Weisheit oder über die Sicherheit und das

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Glück, die das System dieser Welt verspricht, frei von dem ständigen Kreisen um sich selbst und den eigenen Vorteil, frei von der Sorge um das eigene Leben und der Angst, zu kurz zu kommen, frei von der Resignation im Blick auf die eigene Unfähigkeit und von dem Gefühl, ein Versager zu sein, und deshalb auch frei, sich voll Vertrauen und Zuversicht für andere einzusetzen. Das ist eigentlich eine wundervolle Zusage für Menschen, die an Jesus glauben. Aber die Angesprochenen reagieren sauer. Sie haben den Eindruck, dass Jesu Verheißung sie diskreditiert. Ihre Reaktion gleicht der von freien Bürgern eines demokratischen Staates, denen ein Fremder anbietet, sie endlich in die Freiheit zu führen. Sie sagen (33): Same Abrahams sind wir und sind nie jemandes Sklave gewesen; warum sagst du: Ihr werdet frei werden? Sie sind Nachkommen (Same) Abrahams und gehören durch ihn zum auserwählten Volk. Und wenn es auch mit der politischen Freiheit des Volkes oft schlecht bestellt war, innerlich sind sie frei geblieben und haben sich nie dem Zwang gebeugt, anderen Göttern zu dienen. Wie kann Jesus ihnen anbieten, sie zu befreien? Allerdings hatte schon Johannes der Täufer seine Hörer und Hörerinnen gewarnt, sich darauf zu berufen, Abraham zum Vater zu haben (vgl. Mt 3,9; Lk 3,8). Das ist ein wunderbares Vorrecht, aber keine Garantie dafür, sein Leben nicht zu verfehlen. Und so warnt auch Jesus (34): Jeder der Sünde tut, ist Sklave der Sünde. Ähnlich wie bei Paulus wird Sünde hier als Macht gesehen. Auf der einen Seite ist Sünde ein falsches Verhalten, das nicht dem Willen Gottes entspricht und andere (oder auch sich selbst) schädigt. Sünde ist etwas, was man tun kann. Aber wer diesen Schritt tut, gerät unter die Herrschaft der Sünde. Die Entfremdung von Gott und das Misstrauen gegen ihn bemächtigt sich der Menschen, sodass sie immer wieder neu sündigen müssen. Sünde wird zur Droge, die süchtig macht. Das aber ist eine gefährliche Situation. Man mag immer noch den Eindruck haben, in der Gemeinschaft mit Gott zu leben, hat aber das Wohnrecht im Hause Gottes schon lange verwirkt. Jesus macht das durch ein Bild deutlich (35): Der Sklave aber bleibt nicht auf ewig im Haus. Sklaven mögen sich durchaus als zum Haushalt gehörig fühlen, aber ihr Bleiben ist ungewiss, denn sie können jederzeit verkauft oder weggeschickt werden. Der Sohn dagegen bleibt auf ewig – und hier kippt das Bild auf einmal. Es geht nicht mehr um die, die sich für Söhne und Töchter Abrahams halten und doch Gottes Kinder werden sollen. Der Sohn ist Jesus Christus. Er lebt in der bleibenden Gemeinschaft mit dem Vater. Deshalb hat er die Vollmacht, diejenigen, die zu Sklaven der Sünde geworden sind, in die Freiheit der Kinder Gottes zu führen

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(36): Wenn euch also der Sohn frei macht, werdet ihr wirklich frei sein. Die beiden Aussagen in V. 32 und 36, die Wahrheit wird euch frei machen und wenn euch der Sohn frei macht, interpretieren sich gegenseitig: Die befreiende Wahrheit wird nicht durch die Kraft des eigenen Mühens um die Wahrheit erkannt. Ihre Erkenntnis erwächst aus der Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes im Sohn, d.h. in Jesus Christus. Er, der Sohn, befreit aus der Macht der Lüge, der Sünde und des Todes. Aber auch der Sohn handelt nicht in eigener Machtvollkommenheit. Sein befreiendes Handeln beruht einzig und allein darauf, dass er die Wahrheit ist (14,6), die Fleisch gewordene Gegenwart der Wirklichkeit Gottes. 37–47 Kinder Gottes oder des Teufels? Der nächste Gesprächsgang (37–47) schließt sich unmittelbar an. Jesus setzt seine Rede fort, greift aber ein neues Thema auf: Sind seine Gesprächspartner Kinder Abrahams, Kinder Gottes oder gar Kinder des Teufels? Dabei stellt er zunächst ganz sachlich fest: Ich weiß, dass ihr Abrahams Same seid (37). Dass die Juden Nachkommen Abrahams sind, soll nicht bezweifelt werden. Aber leben sie das auch? Dagegen spricht Jesu Vorwurf: Ihr sucht mich zu töten. Schon mehrmals ist im Evangelium davon berichtet worden, dass »die Juden« versuchten, Jesus zu verhaften und zu töten (5,18; 7,1.25). Dass diese Absicht nun auch denen unterstellt wird, die »zum Glauben an ihn gekommen waren« (V. 30f) bzw. – nach unserer Übersetzung von V. 31 – »die ihm geglaubt hatten«, verwundert. Offensichtlich vermischen sich hier verschiedene Ebenen, auf die sich diese Aussagen beziehen. Da ist die Absicht führenden Kreise im Judentum, Jesus aus dem Weg zu schaffen, die uns auch an anderer Stelle bezeugt wird (vgl. Mk 3,6). Das ist für den Evangelisten Anlass, daraus eine grundsätzliche Auseinandersetzung Jesu mit dem Judentum zu entwickeln, das zu seiner Zeit der jungen christlichen Bewegung mehrheitlich eher feindlich gegenüberstand. Und damit verbindet er wohl eine kräftige Mahnung an Judenchristen seiner Zeit, sich entschieden zu Christus zu bekennen und es nicht bei einer halbherzigen Jesusverehrung bewenden zu lassen, die ihn im Ernstfall verraten wird. Dass sie gemeint sind, zeigt die Begründung, die Jesus für die Mordpläne seiner Gegner gibt: weil mein Wort keinen Raum in euch findet. Diese Feststellung greift auf V. 31 zurück: Wenn ihr bleiben werdet in meinem Wort … Das aber ist bei den Gegnern nicht der Fall. Sie nehmen Jesu Wort nicht wirklich auf und geben ihm keinen Raum in ihrem Leben. Folglich können sie auch nicht

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in ihm und mit ihm leben. Und so können aus Sympathisanten Jesu Mithelfer derer werden, die ihm den Tod bringen. Jesus begründet, warum sein Wort diese Bedeutung hat (38). Dabei stellt er sehr betont sein eigenes Verhalten dem seiner Gesprächspartner gegenüber: Was mich betrifft, sagt er, was ich beim Vater gesehen habe, das sage ich. Was Jesus beim Vater gesehen hat, sind nicht irgendwelche himmlischen Geheimnisse. Es ist die Wirklichkeit Gottes selbst, die er aus eigener »Anschauung« kennt (vgl. 1,18). Sie gibt er mit seiner Botschaft weiter. Anders das Verhalten seiner Gegner: Was aber euch betrifft: Auch ihr tut ja, was ihr vom Vater hört. Bei ihnen redet ihr Tun. Und dieses Tun entspricht dem, was sie vom Vater hören. Sie handeln nicht aus eigener Anschauung, sondern lassen sich vom Hörensagen leiten. Von welchem Vater ist hier die Rede? Anders als in der Lutherübersetzung steht im ursprünglichen griechischen Text weder mein noch euer Vater. Es soll offen bleiben, wer gemeint ist. Wer könnte es sein, der den Gegnern Jesu einflüstert, ihn zu töten? Hier ist eine Art »Missverständnisfalle« aufgebaut, in die Jesu Gesprächspartner auch prompt tappen. Voll gekränktem Stolz antworten sie: Unser Vater ist Abraham. Wir Juden sind seine Nachkommen (39). Jesus hatte das zunächst auch eingeräumt (V. 37). Aber entsprach das der gelebten Wirklichkeit? Und so wendet er jetzt ein: Wenn ihr (wirklich) Kinder Abrahams wäret, würdet ihr die Werke Abrahams tun. Anders als bei Paulus ist zunächst nicht vom Glauben Abrahams die Rede (vgl. Röm 4,3–5; Gal 3,6), sondern von seinen Werken. Was damit im Einzelnen gemeint ist, wird nicht gesagt. In der alttestamentlich-jüdischen Tradition gilt Abraham als Vorbild durch seinen »beispielhaften Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes« (Zumstein, 342). Dieser äußert sich aber vor allem in seinem Glauben, mit dem er sich ganz Gott anvertraut (Gen 15,6). Gerade diesen Glauben aber vermisst Jesus bei denen, mit denen er spricht, auch wenn es hieß, dass sie ihm geglaubt hatten (V. 31). Können sie wirklich Abrahams Kinder sein? Spricht ihr Verhalten nicht eine völlig andere Sprache? Noch einmal hält ihnen Jesus vor: (40) Jetzt aber sucht ihr mich zu töten, und zwar keinen Verbrecher, sondern einen Menschen, der ich euch die Wahrheit gesagt habe, die ich von Gott gehört habe. Das, was Jesus beim Vater gesehen, und die Wahrheit, die er von Gott gehört hat, ist die Wirklichkeit Gottes, die den Menschen gnädig zugewandt ist. Von ihr redet er, sie bringt er durch sein Wort und in seiner Person zu den Menschen. Wie kann man den töten wollen, in dem

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man Gott so begegnet?! Abraham jedenfalls hat das nicht getan. Die das tun, können nicht seine legitimen Kinder sein! Also muss ein anderer ihr Vater sein, dessen geistliche DNA sich in ihrem Verhalten zeigt. Denn (41): Ihr tut die Werke eures Vaters. Empört weisen Jesu Gesprächspartner diesen Vorwurf zurück: Wir sind nicht aus Unzucht gezeugt worden, wir sind keine illegitimen Nachkommen Abrahams, sondern gehören mit vollem Recht zu dem Volk, das von ihm abstammt. Da im Alten Testament Unzucht und Götzendienst oft miteinander verbunden sind (vgl. Jes 1,21; 57,3–13; Jer 3; Ez 16; Hos 1), heißt das auch: Wir haben uns treu zu dem Gott unseres Vaters Abraham gehalten und sind nicht der Verführung durch andere Götter erlegen. Deshalb beanspruchen die Juden, die mit Jesus sprechen, nicht nur, Abrahams Nachkommen zu sein. Sie gehen einen Schritt weiter und bekennen kühn: Wir haben einen einzigen Vater, (nämlich) Gott. Hier leuchtet zunächst das Grundbekenntnis Israels auf: »Höre, Israel: Der HERR, unser Gott, ist der einzige HERR« (Dtn 6,4 ZB). Auch dass Abrahams Nachkommen sich Gottes Söhne und Töchter nennen dürfen, wird im Alten Testament immer wieder dankbar oder auch mahnend bezeugt (Ex 4,22f; Jes 63,16; Hos 11,1; Mal 2,10; zum Zusammenhang zwischen Abrahamskindschaft und Gotteskindschaft vgl. auch Gal 4). Aber Jesus lässt diese Aussage für seine Gesprächspartner nicht gelten (42): Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben. Gott als Vater zu beanspruchen und den abzulehnen, der ihn auf einmalige und endgültige Weise unter den Menschen repräsentiert, das geht nicht. Und noch einmal bekräftigt Jesus seinen Anspruch mit dem Hinweis auf seine Sendung durch Gott: Denn ich bin von Gott ausgegangen und gekommen. Denn nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern jener hat mich gesandt. Er beansprucht keine eigenmächtig usurpierte Vollmacht. Gott selbst hat ihn bevollmächtigt. Fast verzweifelt fragt er seine Gegner (43): Warum versteht ihr meine Rede bzw. meine Sprache nicht? Eigentlich spricht Jesus in klaren und eindeutigen Worten zu ihnen. Warum bleibt ihnen das, was er meint, verschlossen? Er gibt selbst die Antwort auf seine Frage: Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Die Ohren ihrer Herzen bleiben verschlossen für das, was Jesus weitergeben will, und damit auch für die Stimme Gottes, die aus ihm spricht. Denn dieses Herz ist von ihrer Zugehörigkeit zu einem anderen Vater besetzt. Darum können sie nicht hören und verstehen. V. 44 gibt die zutiefst erschreckende Erklärung für diese Tatsache: Ihr stammt von dem Vater, dem Teufel oder – etwas freier übersetzt: von dem Vater, der sich als Teufel entlarvt. Das ist eine

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entsetzliche Provokation. Die Juden – wer immer im Zusammenhang damit konkret gemeint ist – werden als Kinder des Teufels bezeichnet. Wie ist das möglich, dass die, die mit so großer Treue an dem einen Gott Israels festhalten, hier als Kreaturen des Gegenspielers Gottes denunziert werden? Im Johannesevangelium spielt die Gestalt des Teufels eine untergeordnete Rolle. Der Name Satan kommt nur einmal, in Verbindung mit dem Verrat des Judas, vor (13,27; vgl. Lk 22,3). Auch vom Teufel ist vor allem in diesem Zusammenhang die Rede (6,70; 13,22). Die Rolle dieser Gestalt hat sich im Lauf der Geschichte stark verändert. Nach Hiob 1 und 2 gehört der Satan zu den »Gottessöhnen«, d.h. dem himmlischen Gefolge Gottes, und hat die Aufgabe, die Echtheit menschlicher Frömmigkeit zu prüfen. Erst im Judentum der neutestamentlichen Zeit wird er zum Widersacher Gottes. Das ist vor allem in den Schriften von Qumran der Fall (hier oft unter dem Namen Belial). Aber auch Belial, der Geist der Finsternis, ist von Gott geschaffen (1QS 1,18; 2,5–19; 3,20.23). In den synoptischen Evangelien wird Jesus vom Teufel zu Beginn seiner Wirksamkeit auf die Probe gestellt (Mk 1,12f; Mt 4,1–11; Lk 4,1–11; vgl. auch Lk 22,31). Seine Macht steht auch hinter der Versklavung von Menschen durch böse Geister. Wenn Jesus Dämonen austreibt, ist dies ein Sieg über den Teufel (Mk 3,22–30). Dessen Macht ist grundsätzlich gebrochen, sodass Jesus sagen kann: »Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz« (Lk 10,18). Obwohl Johannes nichts von Dämonenaustreibungen Jesu berichtet, knüpft er an diese Aussage an. Jesus sagt in 12,31: »Jetzt wird der Herrscher dieser Welt ausgestoßen werden« bzw. in 16,11: »dass der Herrscher dieser Welt gerichtet ist«. Auch wenn der Herrscher (LÜ: Fürst) dieser Welt noch die Macht zu haben scheint, Jesus den Tod zu bringen (14,30), ist seine Herrschaft grundsätzlich am Ende. Das bedeutet freilich nicht, dass Menschen sich nicht mehr von ihm beeinflussen lassen und sich als Kinder des Teufels erweisen (8,44). Ihr Handeln zeigt, dass sie in den Machtbereich des Teufels gehören. Eine solche Denunzierung des theologischen Gegners war im Judentum nicht ungewöhnlich. In den Schriften von Qumran werden sie »Söhne der Finsternis« (1QS 1,10) oder »Gemeinde Belials« (1QH 10[2],22) genannt. Dass Jesus selbst Petrus in einer bestimmten Situation Satan nennt (Mk 8,33 par Mt 16,23), zeigt: Mit dieser Aussage soll die Problematik seines Verhaltens entlarvt werden, das sich gegen Gottes Willen wendet, aber es soll niemand »verteufelt« werden. Die Wirkung der Aussage Jesu an unserer Stelle war freilich eine ganz andere (s.u.).

Der johanneische Jesus wirft seinen jüdischen Gegnern vor, dass sie in ihrer heftigen Opposition gegen ihn nicht mehr die Sache Gottes vertreten, sondern die seines Gegenspielers, des Teufels. Wenn sie Jesus töten wollen, stellen sie sich auf seine Seite und folgen dem, was er will (ihr wollt die Begierden eures Vaters tun; vgl. 14,30). Denn – so wird diese Aussage begründet – der war ein Menschenmörder von Anfang an. Damit wird die jüdisch-

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christliche Auslegung der Sündenfallgeschichte aufgenommen, nach der die Schlange im Paradies eine Gestalt des Teufels war, der die Menschen zur Sünde verführte und ihnen damit den Tod brachte. So heißt es in Weish 2,23–25: »Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören.« Damit ist auch klar: Der Teufel stand nicht in der Wahrheit. Die Wirklichkeit des Gottes, der Leben ist und Leben schafft, war nicht Lebensraum und Aktionsbasis seines Widersachers. Denn in ihm ist keine Wahrheit, er hat keinen Anteil an dem, was Gottes Wesen und Willen ausmacht. Wenn er also Lüge spricht, das heißt, wenn er Leben zu seinen Bedingungen verspricht und den Menschen vorspiegelt, sie könnten »sein wie Gott« (Gen 3,5), dann spricht er nicht wie Jesus im Auftrag Gottes, sondern spricht aus dem Eigenen, aus dem, was sein eigenes Wesen und sein eigener Wille vorgibt. Denn er ist ein Lügner und ihr [d.h. der Lüge] Vater. Das mögen auch die Gegner Jesu nicht bezweifelt haben. Aber bedeutet das, dass sie selbst Kinder des Teufels sind? Der Evangelist lässt Jesus diese Aussage noch einmal begründen (45): Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht. Es ist die große Tragik, um die das 4. Evangelium immer wieder kreist: Diejenigen, die den Auftrag erhalten haben, Zeugen des einen wahren Gottes zu sein, öffnen sich nicht für die Botschaft dessen, den Gott in diese Welt gesandt hat, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen (vgl. 18,37). Dabei gibt es doch keine wirklichen Argumente gegen ihn. Denn – so fragt Jesus (46): Wer von euch kann mich einer Sünde überführen? Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob man Jesus irgendeinen moralischen Fehltritt nachweisen kann. Vielmehr fragt Jesus, ob irgendetwas in seinem Verhalten darauf verweist, dass er nicht im Einklang mit Gottes Willen handelt und redet. Das bleibt eine rhetorische Frage. Niemand ist in der Lage, diesen Nachweis zu führen. Deshalb noch einmal die drängende Rückfrage: Wenn ich (aber die) Wahrheit sage, warum glaubt ihr mir (denn) nicht? Dieses Verhalten scheint unbegreiflich, gerade wenn es Juden betrifft. Denn es gilt doch (47): Wer aus Gott ist, das heißt, wer seine Existenz ganz in Gott gründet und aus der Quelle seiner Gegenwart lebt, der hört die Worte Gottes und versteht, was Gott durch seinen Gesandten sagt. Das ist aber bei Jesu Gegnern nicht der Fall. Und so bleibt nur der Schluss: Ihr hört deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid. Obwohl sie sich zu dem einen Gott bekennen, ist ihr Leben nicht wirklich in ihm verwur-

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zelt und von ihm bestimmt. Das ist ein harter Vorwurf, und wir werden am Ende des ganzen Abschnitts darüber nachdenken müssen, ob er zu Recht erhoben wird. 8,48–59 Die unvergleichliche Würde Jesu Im nächsten Abschnitt (48–59) ist es Jesus, dessen Integrität infrage gestellt wird. Wortführer sind die Juden, hier wohl die Jerusalemer Autoritäten, die schon lange gegen Jesus vorgehen. In ihren Augen hat er sich mit seinen Aussagen selbst entlarvt. Sie sehen ihr negatives Urteil über ihn bestätigt (48): Sagen wir nicht zu Recht, dass du ein Samaritaner bist und einen Dämon hast? Mit dieser Beschuldigung drehen sie gewissermaßen den Spieß um. Einen Samaritaner nennen sie Jesus, weil er wie diese die Zugehörigkeit zur Nachkommenschaft Abrahams beansprucht, sich aber durch sein Verhalten ausgeschlossen hat. Ein Samaritaner ist ein Abtrünniger, der von der rechten Gottesverehrung abgefallen und deshalb schlimmer als ein Heide ist (zum Verhältnis der Juden zu den Samaritanern s. oben S. 109). Mit der Anschuldigung, er sei von einem Dämon besessen, wird er nicht nur für verrückt erklärt. Es wird ihm auch unterstellt, er stehe unter der Herrschaft des Teufels. Von einem solchen Vorwurf berichten auch die anderen Evangelien (Mk 3,30: »Er hat einen unreinen Geist«). Dort wird dieser Vorwurf im Zusammenhang mit Jesu Dämonenaustreibungen erhoben (vgl. Mk 3,22–27; Mt 12,22–30; Lk 11,14–23), von denen Johannes nichts berichtet. Hier bedeutet diese Anschuldigung: Jesu Anspruch, Gottes Gesandter und Vertreter in dieser Welt zu sein, zeigt, dass er von einer dämonischen Macht besessen ist, die ihn dazu verführt, sich an Gottes Stelle zu setzen. Dagegen wendet sich Jesus entschieden (49): Ich habe keinen Dämon, sagt er und fügt die Begründung sofort an: sondern ich ehre meinen Vater. Vater und Mutter zu ehren, gehört zu den Zehn Geboten (Ex 20,12; Dtn 5,16); für Jesus aber bedeutet das, dass sein ganzes Wirken darauf ausgerichtet ist, Gott, seinen Vater, zu ehren. Gerade dadurch erweist er sich als echter Israelit, dem alles daran liegt, dass Gottes Name geehrt wird (Ps 69,31; 86,12). Seinen Gegnern aber wirft er vor: Ihr entehrt mich. Sie ziehen mit ihrer Beschuldigung sein Ansehen in den Schmutz und erniedrigen ihn. Damit aber verweigern sie auch Gott, der ihn gesandt hat, Anerkennung und Ehre. Schon 5,23 war festgestellt worden: »Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat«. Jesu Verkündigung und Handeln ist ganz darauf ausgerichtet, Gott, seinen Vater, in den Vordergrund zu stellen; deshalb entscheidet sich an der Stellung zu ihm, wie man zu Gott steht.

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Sucht Jesus also für sich selbst Anerkennung und Ehre? Diesen Verdacht sollen seine nächsten Worte ausräumen (50). Jesus betont: Ich suche nicht meine Ehre (LÜ). So übersetzen die meisten Übersetzungen. Das ist lexikalisch richtig. Aber im Griechischen steht hier für Ehre ein anderes Wort als für ehren in V. 49, nämlich doxa (vgl. Doxologie). Dieses Wort kann Ehre, Ruhm heißen, bedeutet aber oft Herrlichkeit (so in 1,14; 2,11). Deshalb ziehen wir die Übersetzung vor: Ich aber suche nicht meine eigene Herrlichkeit. Jesus argumentiert also auf zwei Ebenen: Einerseits greift er das allgemein-menschliche Thema des Strebens nach Ehre und Ruhm auf und verneint, dass es ihm darum geht. Andererseits macht er darauf aufmerksam, dass die entscheidende Frage für einen Menschen lautet: Welche Bedeutung und welches Gewicht hat mein Leben bei Gott? Habe ich Anteil an der göttlichen Herrlichkeit (vgl. Röm 3,23 EÜ: »Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren«)? Doch Jesus muss danach nicht selbst suchen. Er ist kein menschlicher Heros, der sich seine Göttlichkeit erkämpfen muss. Nein, da ist (einer), der (diese Herrlichkeit) für ihn sucht und durch den er sie empfängt. Im Johannesevangelium sind zwei Dimensionen göttlichen Handelns in der Person Jesu eng miteinander verflochten: Jesus als das Fleisch gewordene Wort bringt Gottes Herrlichkeit in die Welt, eine Herrlichkeit »voller Gnade und Wahrheit« (1,14). Zugleich aber ist es sein entehrender Tod am Kreuz, durch den Gott und seine Liebe zu den Menschen verherrlicht werden wird (17,1f). Jesus muss also weder die Ehre von Menschen noch die Herrlichkeit von Gott suchen. Darum handeln die falsch, die ihm die Ehre nehmen wollen, indem sie ihn als von Dämonen besessen verleumden. Gott aber ist nicht nur der, der für Jesus die Herrlichkeit sucht und sie ihm gibt; er ist zugleich der, der richtet. Für uns kommt diese Zusammenstellung überraschend. Aber für die Antike – und wohl auch für heute – sind damit die beiden wichtigsten Kategorienpaare angesprochen, mit denen über Wert und Sinn eines Lebens entschieden wird: Ehre oder Schande und Rechtschaffenheit oder Schuld. Gott ist der Richter, der über Leben und Tod entscheidet – jetzt und für die Ewigkeit. Das ist die Grundlage für die folgende Verheißung Jesu, die durch das feierliche doppelte Amen besonders hervorgehoben wird (51): Amen, amen, ich sage euch: Wenn jemand mein Wort bewahrt, wird er den Tod nicht sehen in Ewigkeit. Damit wird Jesu Zusage von V. 31: »Wenn ihr in meinem Wort bleibt …« aufgenommen. Sie wird hier zur Verheißung für alle, die das lesen oder hören. Jesu Wort zu bewahren heißt natürlich sehr viel mehr, als seinen

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Wortlaut sicher aufzubewahren. Es bedeutet, es zu beachten, es zu befolgen, darauf zu vertrauen. Denn in diesem Wort ist Leben, dieses Wort führt in die Gemeinschaft mit Gott. Darum gilt: Wer es bewahrt, wird den Tod nicht sehen in Ewigkeit. Den Tod sehen ist eine bildhafte biblische Wendung für das Erleiden des Todesgeschicks (Ps 16,10; 89,49; Lk 2,26). Dennoch meint Jesu Verheißung nicht, dass diejenigen, die Jesu Wort bewahren, nicht sterben würden. Wovor sie die Gemeinschaft mit Jesus und seinem Wort bewahrt, ist der »ewige Tod«, die bleibende Trennung von Gott, der Quelle des Lebens (vgl. 11,25f). Aber »die Juden« können das nur missverstehen und fühlen sich in ihrem negativen Urteil über Jesus bestätigt (52): Jetzt haben wir erkannt, dass du einen Dämon hast. Wer so etwas sagt, ist entweder verrückt oder ein Verführer. Denn: Abraham ist gestorben und die Propheten, und du sagst: Wenn jemand mein Wort bewahrt, wird er den Tod nicht schmecken in Ewigkeit. Sie benutzen ein anderes Bild für das Sterben: den Tod schmecken (vgl. Mk 9,1), das die Bitterkeit des Todes beschreibt, und meinen, Jesus spreche »von einer zeitlichen Lebensverlängerung« (Dietzfelbinger I, 267). Zwar kennt das Alte Testament mit Henoch und Elia zwei Menschen, die ohne zu sterben zu Gott entrückt wurden (Gen 5,24; 2Kön 2,11). Aber ansonsten sind all die anderen Frommen gestorben. Wie kann Jesus den Menschen verheißen, dass sie nicht sterben werden, wenn sie ihm folgen? Darum die entrüstete Frage (53): Bist du etwa mehr als unser Vater Abraham, der sterben (musste)? Auch die Propheten sind gestorben. Zu wem machst du dich selbst? Wie kann Jesus so etwas versprechen?! Setzt er sich damit nicht an die Stelle Gottes? Jesus verwahrt sich gegen diesen Vorwurf, indem er darauf hinweist, dass seine Vollmacht allein von Gott kommt (54): Wenn ich mich selbst verherrlichen würde, wenn ich mir selbst göttliche Würde und Autorität anmaßen würde, wäre meine Herrlichkeit nichts. Dann wären Jesu Anspruch und das, was er verheißt, leeres Gerede. Aber so ist es eben nicht: Es ist mein Vater, der mich verherrlicht. Gott selbst verleiht Jesus und seinem Wort dieses Gewicht. Und das ist der Gott, von dem ihr behauptet: Er ist unser Gott. Noch einmal tritt die ganze Tragik des Bruchs zwischen »den Juden« und Jesus und seinen Nachfolgern vor Augen: »Es ist derselbe Gott, um den beide Seiten ringen« (Theobald, 617), und doch kommen sie zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Trotz ihres Bekenntnisses zu diesem Gott muss Jesus zu seinen Gesprächspartnern sagen (55): Und (doch) habt ihr ihn nicht erkannt. Sie haben ihn nicht erkannt als den Gott, der sich in Jesus offenbart und entscheidend zum Heil der Welt handelt.

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Gerade darum kann und muss Jesus sagen: Ich aber kenne ihn. Jesus lebt und spricht aus der tiefen Verbundenheit mit Gott, seinem Vater. Hier wäre Selbstverleugnung am falschen Platz: Wenn ich sagen würde, ich kenne ihn nicht, dann wäre ich ein Lügner gleich wie ihr. Würde er seinen Gegnern in ihrer Skepsis zustimmen, würde er sich ihnen auch darin gleichstellen, dass er zum Lügner würde. Denn für ihn gilt: Ich kenne ihn und halte sein Wort. Dass er wirklich Gott kennt, zeigt sich darin, dass er Gottes Wort und Auftrag befolgt. Darin wird auch noch einmal deutlich, »dass sein Wort kein anderes ist als das Wort Gottes« (Wengst I, 346). Aber darauf folgt die eigentliche Provokation Jesu (56): Abraham, euer Vater, jubelte, dass er meinen Tag sehen sollte, und er sah (ihn) und wurde froh. Dieser Satz ist sorgfältig formuliert; am Anfang und Ende steht die Freude, dazwischen treffen sich die beiden Aussagen über die Verheißung des Sehens und ihre Erfüllung: Abraham, euer Vater, jubelte, dass er meinen Tag sehen sollte,

x

und er sah (ihn) und wurde froh

Aber worauf bezieht sich die Aussage, dass Abraham den »Tag Jesu« gesehen hat, nach Meinung des Evangelisten? Ansatzpunkt ist zweifellos Gen 17,17, wo berichtet wird, dass Abraham lachte, als ihm die Geburt Isaaks angekündigt wird. Im Zusammenhang ist das eher ein ungläubiges Lachen, aber die jüdische Auslegung hat dieses Lachen wie das der Sara (Gen 18,12) als Ausdruck der Freude und des Jubels über die Verheißung eines richtigen Erben gedeutet. Die Wendung mein Tag geht auf die Rede vom »Tag des HERRN« im Alten Testament zurück. Das ist der Zeitpunkt der endgültigen und entscheidenden Begegnung des Volks mit seinem Gott. Er wurde von manchen als Tag des Heils ersehnt, aber die Propheten machen klar, dass es ein Tag des Gerichts werden wird (Am 5, 18–20; Jes 2,12–17; Joel 2,1–11). In Lk 17,22 sind die »Tage des Menschensohns« die Zeit der Erlösung, die die Jünger herbeisehnen, während bei Paulus der »Tag des Herrn« die Wiederkunft Jesu bezeichnet. Es ist eine Zeit des Gerichts, aber auch der Errettung und Anerkennung (vgl. 1Kor 1,8; 5,5; 2Kor 1,14; 1Thess 5,2). Bei Johannes aber meint der Tag Jesu wie alle endzeitlichen Aussagen kein Ereignis in der fernen Zukunft. Er bezeichnet auch nicht nur den Tag der Erhöhung und Verherrlichung Jesu durch Kreuz und Auferstehung. Mein Tag ist die Zeit des Heils, die im Kommen Jesu als des Fleisch gewordenen Wortes in diese Welt anbricht. Dieser »Tag« ist nicht im Kalender fixiert; er bricht »immer auch da an, wo Jesus Glauben weckt« (Theobald, 618; vgl. 14,20).

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Aber in welchem Sinn kann man sagen, dass Abraham nicht nur voll Freude nach diesem Tag Ausschau hielt, sondern ihn auch sah? In jüdischen Schriften aus der Zeit des Neuen Testaments wird davon berichtet, dass Gott Abraham schon sehen ließ, was er am Ende der Zeiten tun wird. So heißt es in 4Esr 3,14 von ihm: »Den hattest du lieb und offenbartest ihm allein das Ende der Zeiten«, und in der Apokalypse Abrahams sagt Gott zu Abraham: »So zeige ich dir, was kommen wird, wie vieles in den letzten Tagen noch geschieht« (24,2). Für nachdenkliche Christen jener Zeit, die solche Überlieferungen kannten, war es kein großer Schritt zu der Überzeugung, dass Abraham schon sehen durfte, was Gott in Jesus Christus zum Heil seines Volkes und der ganzen Welt tun würde. Gerade für die johanneische Tradition war Jesus ja nicht nur ein auf eine kurze Lebensspanne begrenzter Mensch, sondern die Inkarnation des ewigen Wortes. Abraham, euer Vater, sagt Jesus. Das muss keine Distanzierung sein, als würden er und seine Jünger sich nicht mehr zu den Nachkommen Abrahams zählen. Es ist eher ein Versuch, die Gegner einzuladen, den, den sie ihren Vater nennen, als Zeugen für die Autorität Jesu zu akzeptieren. Für sie aber ist Jesu Aussage schlichtweg unverständlich. Sie fragen erstaunt zurück (57): Noch nicht fünfzig Jahre bist du alt und hast Abraham gesehen? Allerdings erstaunt die Aussage, Jesus sei noch nicht fünfzig Jahre alt, denn in Lk 3,23 heißt es, dass Jesus »etwa dreißig Jahre alt« war, als er auftrat. Das widerspricht sich zwar nicht völlig, aber passt doch nicht zusammen. Hatte Johannes andere Informationen über Jesu Alter? Vermutlich wird mit den 50 Jahre auf die »durchschnittliche Dauer eines Menschenlebens« in der damaligen Zeit hingewiesen (Zumstein, 352). Obwohl Jesus gar nicht gesagt hatte, dass er Abraham gesehen habe, geht er auf ihren Einwand ein. Er beantwortet ihn mit einer feierlich eingeleiteten Selbstaussage, die den Dialog endgültig beendet (58): Amen, amen, ich sage euch: Ehe Abraham (geboren) wurde, BIN ICH. Dieser Satz will sorgfältig gelesen werden. Jesus sagt nicht: Ehe Abraham wurde, war ich, sondern bin ich. Darin liegt ein doppeltes Signal: 1. Jesus beansprucht nicht einfach, älter zu sein als Abraham. Das Leben Abrahams und die Existenz des Sohnes Gottes gehören unterschiedlichen Dimensionen an. Abraham lebte in der Welt des Werdens und Vergehens unter Bedingungen eines Geschöpfes. Jesu Leben jedoch gehört in die Welt der Ewigkeit, die Welt des Schöpfers, die alle Zeit übergreift. Was wir Präexistenz Jesu nennen beschreibt nicht einfach die Vorzeitigkeit der Existenz Jesu.

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Es geht dabei um »den qualitativen Unterschied zwischen Abraham, der der Endlichkeit und dem Tod unterworfen ist, und dem joh(anneischen) Jesus, dessen Dasein seinen Grund in Gott hat und der mit ihm durch eine Beziehung einzigartiger Nähe verbunden ist« (Zumstein, 352). 2. In Jesu bin ich klingt einmal mehr das hoheitsvolle I CH BIN an, hinter dem die Selbstvorstellung Gottes in Ex 3,14 steht. In Jesus begegnet die Wirklichkeit Gottes in ihrer ganzen Fülle, wie sie immer war und immer sein wird. Wäre das einfach der Anspruch eines Menschen, wäre das unerträgliche, um nicht zu sagen pathologische Selbstüberhebung. Für die Leser und Leserinnen des Johannesevangeliums aber ist klar: Hier spricht nicht einfach der Mensch Jesus von Nazareth, sondern der Mensch Jesus von Nazareth spricht als Fleisch gewordenes WORT, in dem Gott den Menschen begegnet. Die Gegner Jesu aber können das nur als ungeheure Provokation verstehen (59). Mit einem solchen Anspruch macht sich Jesus Gott gleich (vgl. schon 5,18), und das ist Gotteslästerung. Die Strafe, die das Gesetz dafür vorsieht, ist Steinigung (Lev 24,16), und obwohl es zu keinem ordentlichen Gerichtsverfahren gekommen ist, wollen die aufgebrachten Gegner das Urteil gleich vollziehen: Sie hoben Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Aber auch hier gilt: Jesu Stunde ist noch nicht gekommen. Er entzog sich der Lynchjustiz und verbarg sich, verließ das Tempelgelände und ging aus dem Heiligtum weg. Aber es ist nicht das letzte Mal, dass Jesus im Gebiet des Tempels lehren wird (vgl. 10,23). Die Trennung ist noch nicht vollzogen. Auch wenn das in 8,30 angedeutet schien, die Christusgeschichte hat doch kein schnelles Happy End. Der Konflikt bricht mit größter Schärfe auf, und zu unserer Verwunderung ist es Jesus, der diese Schärfe in die Auseinandersetzung hineinträgt. Das wirft viele Fragen auf. Die johanneische Christusverkündigung zeigt hier ein merkwürdiges Doppelgesicht: Neben die Verkündigung der befreienden Wahrheit scheint eine gnadenlose Denunziation des Gegners zu treten. Wie verhält sich beides zueinander? Und kann man das eine ohne das andere haben? 1. Es darf nicht vergessen werden: Am Anfang steht: Die Wahrheit wird euch frei machen. Damit ist keine abstrakte, von Menschen zu findende Wahrheit gemeint, sondern die Wirklichkeit Gottes, der die Menschen in Jesus begegnen. In andere Worte übersetzt heißt das: Die Liebe Gottes, wie sie Jesus verkündigt und gelebt hat, wird euch frei machen. Stillschweigende Voraussetzung dieser Zusage ist freilich, dass die Menschen das nötig haben. Der Widerspruch dagegen

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8,31–59

wird ja dann auch zum Anlass der Auseinandersetzung. Die Menschen sind versklavt, und zwar unter der Macht der Sünde. Die selbstgewählte Trennung von Gott wird zum Gefängnis, aus dem sich niemand selbst befreien kann. Gefangen in verlogenen ideologischen Systemen oder religiösen Zwängen, verstrickt in eigener Schuld oder tödlichen Versagensängsten, gebunden an das eigene Ich, das nur um sich selbst kreist, braucht der Mensch das befreiende Wort: Du bist geliebt, damit sich die Gefängnistore öffnen und der Weg in die Freiheit gefunden wird. Dieses befreiende Wort Gottes ist in Jesus Christus Mensch geworden. Das ist die Wahrheit, die frei macht. 2. Die offene Frage aber lautet: Wer ist mit denen gemeint, die diese Botschaft ablehnen? Wer sind die Juden, die Jesus geglaubt haben? Aus der erzählten Situation allein wird die Heftigkeit der Reaktion Jesu nicht verständlich. Offensichtlich will der Evangelist durch die Art, wie er von dieser Begegnung spricht, auch Probleme seiner Zeit ansprechen, Probleme, in denen er grundsätzlich eine Gefahr für die Gemeinde Jesu sieht. Ganz sicher gelten die Vorwürfe Jesu nicht pauschal allen jüdischen Menschen aller Zeiten, selbst wenn sie nicht zum Glauben an Jesus kommen. Vermutlich hatte der Evangelist zunächst Zeitgenossen im Auge, die Sympathien für Jesus und seine Gemeinde entwickelt hatten, dann aber in die Synagoge zurückkehrten und nach der Art mancher Apostaten ihre bisherige Überzeugung besonders heftig bekämpften. Dass es gerade um die Zugehörigkeit zu Abraham zwischen Juden und (Juden-)Christen erhebliche Meinungsunterschiede gab, zeigt sich auch bei Paulus (vgl. Gal 3 und 4; Röm 4). Darüber hinaus könnten diese Figuren für Johannes Prototyp einer Religiosität sein, die Jesus in das eigene religiöse System vereinnahmt, aber sich von ihm nicht wirklich infrage stellen lässt und die Notwendigkeit von Umkehr und Befreiung weit von sich weist? Das ist zweifellos eine Gefahr, der auch die christlichen Kirchen immer wieder erlegen sind! Aber selbst wenn dies alles bedacht ist, ist es recht, solche Menschen als Kinder des Teufels zu bezeichnen? Wie wir gesehen haben, muss im Kontext damaliger religiöser Auseinandersetzung eine solche Bezeichnung nicht unbedingt die »Verteufelung« des Gegenübers bedeuten (vgl. Jesu Wort an Petrus in Mk 8,33), sondern ist sozusagen die höchste Alarmstufe geistlicher Warnung. Jesus bricht den Dialog nicht einfach ab, sondern fragt voll Schmerz: Warum versteht ihr meine Rede nicht? (V. 43). Warum glaubt ihr mir denn nicht? (V. 46). Dennoch ist für uns heute, vor allem auch in Kenntnis der katastrophalen Wirkungsgeschichte der Bezeichnung »der Juden« als Teufelskinder, die Art der Auseinandersetzung höchst problematisch und nicht mehr nachvollziehbar.

9,1 – 10,21

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3. Was heißt das für die Botschaft, die Jesus hier verkündet, als Ganze? Es ist nicht zu leugnen: Es besteht ein Zusammenhang zwischen der eindeutigen Gewissheit einer Zusage wie: Die Wahrheit wird euch frei machen und der Notwendigkeit, sich gegenüber anderen Wahrheitsansprüchen abzugrenzen. Das wird uns noch bei der parallelen Aussage in 14,6 (»niemand kommt zum Vater außer durch mich«) beschäftigen. Das Johannesevangelium bleibt eine warnende Stimme gegenüber einer allzu leichtfüßigen Toleranz, die behauptet: Wir glauben doch alle an denselben Gott. Die Unterscheidung zwischen dem befreienden Gott und versklavenden Göttern und Götzen aller Art bleibt nötig. Aber muss deshalb grundsätzlich geleugnet werden, dass auch in anderen Religionen, besonders aber im Judentum, Erfahrung von Gnade und Freiheit möglich ist? Könnte Jesu Zusage: Die Wahrheit wird euch frei machen nicht auch von der vermeintlichen Notwendigkeit einer verletzenden Abgrenzung von anderen Meinungen frei machen – selbst wenn diese nach unserer Überzeugung falsch und gefährlich sind – und zu einer Art religiösen Feindesliebe befähigen? 9,1 – 10,21 Jesus – Heiler und Hirte Der nächste Abschnitt ist nicht einfach zu gliedern. Formale und inhaltliche Strukturmerkmale scheinen sich zu widersprechen. Die Erzählung von der Heilung eines Blindgeborenen mit den sich daran anschließenden Auseinandersetzungen (9,1–41) ist eine der geschlossensten Kompositionen des Evangeliums. In 10,1 setzt demgegenüber eine völlig neue Thematik und eine ganz andere Art der Rede Jesu ein. Formal jedoch schließt sich 10,1 ohne jede Zäsur an 9,39–41 an. Nirgendwo sonst beginnt im Johannesevangelium ein neuer Abschnitt mit einem Amen-Wort. Für eine enge Verbindung von 10,1–21 mit Kap. 9 spricht auch, dass in 10,19– 21 noch einmal auf die Heilung des Blindgeborenen verwiesen wird. Dagegen signalisiert die Zeitangabe in 10,22 den Beginn eines neuen Gesprächsgangs, wenn auch in 10,27f noch einmal die Hirtenthematik aufgenommen wird. Darum fassen wir 9,1–41 mit 10,1–21 zu einer Einheit zusammen, die sich in die beiden Unterabschnitte 9,1–41: Die Heilung eines Blindgeborenen am Sabbat und 10,1–21: Jesus – der gute Hirte gliedert. Offensichtlich wollte der Evangelist Jesu Wirken als vollmächtiger Heiler und als Hirte, der bereit ist, sein Leben für die ihm Anvertrauten einzusetzen,

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ganz eng zusammenbinden. 10,22–42: Entscheidung beim Tempelweihfest bildet einen eigenen Abschnitt. 9,1–41 Die Heilung eines Blindgeborenen am Sabbat 9 1Und als er vorbeiging, sah er einen Menschen, (der) von Geburt an blind (war). 2Und seine Jünger fragten ihn und sagten: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde? 3 Jesus antwortete: Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. 4Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, in der niemand wirken kann. 5Solange ich in der Welt bin, bin ich Licht für die Welt. 6 Nachdem er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde und machte einen Brei aus dem Speichel und strich den Brei auf seine Augen 7 und sprach zu ihm: Geh und wasche dich im Teich Siloah, das bedeutet übersetzt: Gesandter. Da ging er weg und wusch sich und kam sehend (zurück). 8 Die Nachbarn nun und die ihn früher gesehen hatten, weil er ein Bettler war, sagten: Ist dieser nicht der, der (immer hier) saß und bettelte? 9Die einen sagten: Er ist es, andere sagten: Nein, aber er sieht ihm ähnlich. Jener (selbst) sagte: Ich bin es. 10Da sagten sie zu ihm: Wie sind denn deine Augen geöffnet worden? 11Jener antwortete: Der Mensch, der Jesus heißt, hat einen Brei gemacht und (ihn) mir auf die Augen gestrichen und zu mir gesagt: Geh hin zum (Teich) Siloah und wasche dich. Da ging ich hin und wusch mich und konnte sehen. 12Und sie sagten zu ihm: Wo ist jener? Er sagt: Ich weiß (es) nicht. 13 Sie führen ihn, der früher blind war, zu den Pharisäern. 14Es war aber Sabbat an dem Tag, an dem Jesus den Brei gemacht und seine Augen geöffnet hatte. 15Wieder fragten ihn nun auch die Pharisäer, wie er sehend geworden war. Er sagte zu ihnen: Er hat mir Brei auf die Augen aufgetragen, und ich habe mich gewaschen und (jetzt) sehe ich. 16Da sagten einige der Pharisäer: Dieser Mensch ist nicht von Gott, denn er hält den Sabbat nicht. Andere aber sagten: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es entstand eine Spaltung unter ihnen. 17Da sagen sie wiederum zu dem Blinden: Was sagst du über ihn, dass er dir die Augen geöffnet hat: Er aber sagte: Er ist ein Prophet. 18 Nun glaubten die Juden nicht von ihm, dass er blind gewesen war und sehend wurde, bis sie die Eltern dessen, der sehend geworden war, gerufen hatten. 19Und sie fragten sie und sagten: Ist dies euer

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Sohn, von dem ihr sagt, dass er blind gewesen sei? Wieso kann er jetzt sehen? 20Da antworteten seine Eltern und sagten: Wir wissen, dass dies unser Sohn ist und dass er blind geboren wurde. 21Wieso er aber jetzt sehen kann, wissen wir nicht, oder wer seine Augen geöffnet hat, wissen wir (auch) nicht. Fragt ihn selbst; er ist alt genug, für sich selbst zu sprechen. 22Das sagten seine Eltern, weil sie die Juden fürchteten. Denn die Juden waren schon übereingekommen, dass, wenn ihn jemand als Messias bekennen würde, er aus der Synagoge ausgeschlossen werden sollte. 23Deshalb sagten seine Eltern: Er ist alt genug, fragt ihn. 24 Da riefen sie zum zweiten Mal den Menschen, der blind gewesen war, und sagten zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist. 25Da antwortete jener: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Eines weiß ich (aber): Ich war blind, und jetzt sehe ich. 26Sie sagten zu ihm: Was hat er dir getan? Wie hat er deine Augen geöffnet? 27Er antwortete ihnen: Ich habe (es) euch schon gesagt, und ihr habt nicht gehört. Warum wollt ihr (es) wieder hören? Wollt etwa auch ihr seine Jünger werden? 28Und sie beschimpften ihn und sagten: Du bist ein Jünger jenes (Menschen), wir aber sind Jünger Moses. 29Wir wissen, dass Gott zu Mose gesprochen hat; von ihm aber wissen wir nicht, woher er ist. 30Der Mensch antwortete und sagte zu ihnen: Das ist allerdings das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher er ist, und (doch) hat er mir die Augen geöffnet. 31Wir wissen, dass Gott Sünder nicht erhört, sondern wenn einer gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er. 32Von Ewigkeit her hat man nicht gehört, dass einer die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat; 33wenn dieser nicht von Gott wäre, hätte er nichts tun können. 34Sie antworteten und sprachen zu ihm: Du bist ganz in Sünden geboren und willst uns belehren? Und sie warfen ihn hinaus. 35 Jesus hörte, dass sie ihn hinausgeworfen hatten, und als er ihn fand, sagte er: Glaubst du an den Menschensohn? 36Jener antwortete und sagte: Und wer ist es, Herr, damit ich an ihn glaube? 37Jesus sagte zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir spricht, der ist es. 38Er aber sagte: Ich glaube, Herr. Und er fiel vor ihm nieder. 39 Und Jesus sagte: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, dass die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden. 40Das hörten (einige) der Pharisäer, die bei ihm waren, und sprachen zu ihm: Sind etwa auch wir blind? 41Jesus sagte zu ihnen: Wenn ihr (wirklich) blind wäret, hättet ihr keine Sünde. Nun aber sagt ihr: Wir sehen. (Deshalb) bleibt eure Sünde. Die Erzählung von der Heilung eines Blindgeborenen ist einer der Abschnitte im Johannesevangelium, die am klarsten und zielstrebigsten aufgebaut sind. Sie ähnelt in manchem der Geschichte von

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der Heilung eines Kranken am Teich Bethesda. Wie dort wird auch hier erst nach dem Bericht über das Wunder festgestellt, dass es an einem Sabbat geschehen ist (9,14; vgl. 5,9), und daraus entwickelt sich die Kontroverse mit den jüdischen Autoritäten. In beiden Geschichten wird der Geheilte nach der Person dessen, der ihn geheilt hat, gefragt. Während aber der Kranke vom Teich Bethesda eine unklare Position zu ihm einnimmt, stellt sich der Blindgeborene entschlossen auf die Seite Jesu. Nicht Jesus steht im Mittelpunkt dieser Erzählung, sondern der Geheilte, und die Leserinnen und Leser können seinen Weg zum Glauben Schritt für Schritt verfolgen. Die Erzählung gliedert sich in sieben Szenen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

9,1–7 9,8–12 9,13–17 9,18–23 9,24–34 9,35–38 9,39–41

Die Heilung des Blindgeborenen Die Reaktion der Nachbarn und Bekannten Das erste Verhör des Geheilten durch die Pharisäer Das Verhör der Eltern des Geheilten Das zweite Verhör und die Verstoßung des Geheilten Die entscheidende Begegnung mit Jesus Die Ankündigung des Gerichts

Die letzte Szene bildet zugleich die Überleitung zur Hirtenrede in 10,1–21. 9,1–7 Die Heilung des Blindgeborenen Die erste Szene (1–7) erzählt knapp und anschaulich die Heilung des Blindgeborenen. Den Anfang dieses Berichts bildet jedoch ein kurzes Lehrgespräch über die Ursache dieses harten Geschicks (V. 2–5). Dass Jesus im Vorbeigehen (1) einen Menschen sieht und auf ihn zugeht, wird auch an anderer Stelle in den Evangelien erzählt (vgl. Mk 1,16; 2,14). Jesus geht nicht an den Leuten und ihrer Not vorüber. Beim Verlassen des Tempelareals (vgl. 8,59) trifft Jesus vor einem der Tore auf eine Schar von Bettlern, die dort um ein Almosen bitten (vgl. Apg 3,2). Da sah er einen Menschen, (der) von Geburt an blind (war). Jesus sah ihn: Er wirft nicht nur einen Blick auf ihn, um dann weiterzugehen. Jesus nimmt ihn wahr und geht auf ihn zu, um ihm zu helfen (vgl. das Beispiel des barmherzigen Samariters in Lk 10, 31–33). Woran zu erkennen war, dass dieser Mensch von Geburt an blind war, wird nicht gesagt. Jedenfalls gibt diese Tatsache Anlass für ein Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern. Für die Menschen der Antike galt es als ausgemacht, dass eine so schwere Behinderung die Strafe für schuldhaftes Verhalten der Betroffenen

9,1–41

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sein musste. Diese Überzeugung findet sich auch in der Bibel und war im Judentum verbreitet (vgl. Ps 38,4; 103,3). Bei einem blind geborenen Menschen warf das eine schwierige Frage auf. Also fragen die Jünger Jesus: (2): Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde? Ob die erste Alternative, dass jemand schon vor seiner Geburt gesündigt haben könnte, ernsthaft erwogen wurde oder ein hypothetischer Gedanke war, bleibt offen. Dass aber Eltern durch die Geburt eines behinderten Kindes für ihre Sünde bestraft werden, war eine verbreitete Anschauung. Auch das Alte Testament kennt eine solche Generationenhaftung (vgl. Ex 20,5; Tob 3,3). Gegen solche Schuldzuweisungen haben Eltern behinderter Kinder bis heute zu kämpfen. Jesus jedoch lehnt diesen Rückschluss von einer Krankheit auf die Schuld der Betroffenen ganz klar ab (3): Weder hat dieser gesündigt noch seine Eltern. Jesus lässt sich nicht auf eine Ursachenforschung ein. Er eröffnet eine neue Perspektive. An die Stelle des Warum tritt für ihn das Wozu. Was immer die Ursache dieser schweren Behinderung sein mag, jetzt wird sie dazu dienen, dass die Werke Gottes, sein rettendes und heilendes Handeln am Menschen, offenbar werden (vgl. auch 11,4). Nicht nur die körperliche Blindheit des Blindgeborenen wird geheilt werden. Seine Augen werden auch für Jesus und für Gottes Wirken durch ihn geöffnet werden. Was Jesus tun wird, ist Leitbild für seinen ganzen Auftrag und für die Sendung seiner Jünger: Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat (4). Das Wir dieser Aussage fasst das Tun Jesu und das seiner Jünger in bemerkenswerter Weise zusammen. Für ihn wie für sie gilt, dass ihr Handeln vom Willen und Wirken dessen bestimmt ist, der Jesus gesandt hat, des Gottes also, der das Heil der Welt will. Aber es gibt eine Begrenzung für solches Wirken. Wir müssen handeln, solange es Tag ist, sagt Jesus. Denn – so die Begründung: es kommt die Nacht, in der niemand wirken kann. Hinter diesem Wort steckt die Erfahrung der damaligen Arbeitswelt: Richtig arbeiten konnte man nur bei Tag, weil die Beleuchtungsmöglichkeiten in der Nacht dürftig waren. Nacht ist aber auch Bild für den Tod. So könnte im Hintergrund dieser Aussage eine sprichwörtliche Redensart sein: Was du in deinem Leben erreichen willst, musst du jetzt tun. Es gibt ein Zu-Spät, eine Zeit, in der wir nicht mehr handeln können. Im Mund Jesu heißt das: Ich muss jetzt durch mein Reden und Tun den Heilswillen Gottes deutlich machen, denn in der Nacht meines Todes wird das nicht mehr möglich sein (vgl. 7,33; 12,35f).

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Was aber bedeutet das für die Jünger? Wird auch ihre Zeit des Handelns begrenzt sein? Darauf gibt der nächste Satz eine Antwort, die freilich auch ihre Rätsel in sich trägt (5): Wann immer ich in der Welt bin, bin ich Licht für die Welt. Damit wird die Aussage von 8,12 weitergeführt. Die meisten Übersetzungen schreiben hier: Solange ich in der Welt bin. Aber der griechische Text sagt: Wann immer. Jesus ist Licht für die Welt nicht nur während seines irdischen Wirkens. Seine Jünger können im Licht seines Wirkens weiterwirken. Jesus verheißt ihnen, dass er »ihrem Leben Helligkeit verschafft, in der sie sehen, was in seiner Nachfolge zu tun ist und was getan werden kann« (Wengst I, 356). Adressat aber bleibt die Welt! Jesu Wort an seine Jünger in Mt 5,14: »Ihr seid das Licht der Welt« findet hier seine johanneische Entsprechung. Nach dieser kurzen Besinnung über die Dringlichkeit des Wirkens Jesu und seiner Jünger schreitet Jesus zur Tat (6). Dabei wendet er fast so etwas wie ein Naturheilmittel an: Er spuckte auf die Erde und machte einen Brei aus dem Speichel und strich den Brei auf seine Augen. Speichel galt in der Antike als ein wichtiges Heilmittel, gerade für Augenleiden. Auch in Mk 8,23 wird berichtet, dass Jesus einem Blinden Speichel auf die Augen strich (Mk 7,33 heilt er so einen Taubstummen). Von Kaiser Vespasian (9–79 n.Chr.) wird erzählt, dass er mit seinem Speichel einen Blinden geheilt habe (Tacitus Hist IV,81). Die Heilung erfolgt jedoch nicht sogleich. Es folgt ein weiterer Schritt, bei dem der Blinde selbst aktiv werden muss (7). Jesus schickt ihn weg mit der Anweisung: Geh und wasche dich im Teich Siloah. Bibelkundige Leser und Leserinnen erinnert das an das »Rezept«, das der Prophet Elisa dem aussätzigen syrischen Feldherrn Naeman ausrichten ließ: »Geh und wasch dich siebenmal im Jordan! Dann wird dein Leib wieder gesund, und du wirst rein« (2Kön 5,10 EÜ). Und wie das Wasser des Jordan, so hatte auch das des Teiches Siloah eine besondere Bedeutung. Der Teich Siloah liegt im unteren Stadttal und wird vom Wasser der Gihon-Quelle gespeist, das durch den 533 m langen Hiskia-Tunnel zu ihm geleitet wurde. Diese Anlage war von König Hiskia (725–699 v.Chr.) gebaut worden, um die Wasserversorgung der Stadt auch bei einer Belagerung sicherzustellen (vgl. 2Kön 20,20; 2Chr 32,3f.30; Sir 48,17). Ursprünglich bezog sich der Name Siloah (wörtlich: das Entsenden) auf die Wasserleitung, bezeichnete allerdings später den Teich, der als Wasserreservoir diente. Aus ihm wurde am Laubhüttenfest Wasser geschöpft und in den Tempel zum Brandopferaltar gebracht, während man Jes 12,3 sang: »Ihr werdet Wasser schöpfen voll Freude aus den Quellen des Heils« (EÜ; vgl. zu 7,37f).

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Der Evangelist weist auf die besondere Bedeutung dieses Ortes durch eine Anmerkung hin: das bedeutet übersetzt: Gesandter. Für ihn ist der Teich Siloah das Wasser des Gesandten und damit Bild für Christus selbst und die heilende Kraft seines Wirkens im Auftrag dessen, der ihn gesandt hat. Er ist die Quelle, durch die Menschen, die von Blindheit geschlagen sind, sehend werden. Der Blinde zögerte auch keinen Augenblick, sondern ging weg und wusch sich und kam sehend (zurück). Ganz nüchtern und unspektakulär wird so von dem Wunder, das hier geschah, berichtet. 9,8–12 Die Reaktion der Nachbarn und Bekannten Wie wenn ein Stein ins Wasser fällt und sich die Wellen in konzentrischen Kreisen ausbreiten, so beschreiben die nächsten Szenen die Wirkung des Handelns Jesu. Die zweite Szene (8–12) zeigt an der Reaktion der Nachbarn und Bekannten des Geheilten noch einmal, was hier geschehen ist. Weil er ein Bettler war, hatten ihn viele früher gesehen und fragten sich nun erstaunt (8): Ist dieser nicht der, der (immer hier) saß und bettelte? Es geht um die Identität des Geheilten. Aber die Meinungen sind geteilt (9): Die einen sagten: Er ist es. Sie stellen sich der Tatsache, dass dieser Mann auf unerklärliche Weise geheilt wurde. Andere sind skeptisch, weil nicht sein kann, was nicht sein darf, und sagten: Nein, aber er sieht ihm ähnlich. Er muss einen Doppelgänger haben. Der Geheilte selbst gibt eine klare Auskunft und sagt: Ich bin es. Das ist derselbe Wortlaut, in dem Jesus sein ICH BIN spricht. Im Falle des Geheilten aber bedeutet es, dass er sich klar zu sich selbst bekennt: zu seiner Vergangenheit als blinder Bettler, aber auch zu der großen Verwandlung, die an ihm geschehen ist. Das aber provoziert die Frage, nach dem Wie dieser erstaunlichen Veränderung (10): Wie sind denn deine Augen geöffnet worden? Der Geheilte antwortet knapp und präzis (11). Er nennt den, dem er die Heilung verdankt; es ist der Mensch, der Jesus heißt. Mehr kann er in diesem Augenblick nicht sagen. Er kennt den Namen Jesu, aber weiß nichts über seine Bedeutung. Dann jedoch schildert er sachlich und klar den Vorgang, der zu seiner Heilung geführt hat: Dieser Jesus hat einen Brei gemacht und mir auf die Augen gestrichen und zu mir gesagt: Geh hin zum Teich Siloah und wasche dich. Als ich nun hinging und mich wusch, konnte ich sehen. Der Erzähler legt sehr viel Wert auf die genaue Schilderung dieser Schritte (vgl. auch V. 15). Wunder kommen oft in einem ganz schlichten, »normalen« Gewand daher, heute z.B. in einer erfolgreichen medizinischen Behandlung! Das führt zu einer letzten Frage der Nachbarn und Bekannten (12): Wo ist denn dieser Jesus jetzt? Darauf muss der Geheilte sa-

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gen: Ich weiß (es) nicht. Das bedeutet im Rahmen der Erzählung natürlich zunächst, dass er nicht weiß, wo sich Jesus zur Zeit aufhält. Aber es ist zugleich ein Hinweis darauf, dass man den, den Gott gesandt hat, um den Menschen Rettung und Heil zu bringen, nicht einfach »verorten« und festhalten kann. Jesus selbst und sein Wort müssen die Menschen »finden« (V. 35), damit sie ihm begegnen können. 9,13–17 Das erste Verhör des Geheilten durch die Pharisäer Die dritte Szene (13–17) berichtet von einem ersten Verhör des Geheilten. Durch die Auseinandersetzung darüber, was bei seiner Heilung wirklich geschehen ist, wird der Mann Schritt für Schritt zum Bekenntnis zu Jesus geführt. Wie oft im 4. Evangelium erscheinen die Pharisäer als eine Art Aufsichtsbehörde für religiöse Angelegenheiten (vgl. zu 1,24). Sie sind die Gesetzeskundigen und haben die Kompetenz, einen solch auffälligen Vorgang zu beurteilen. Deshalb führen die Leute den Mann, der früher blind war, zu den Pharisäern (13). Weil es im Gespräch mit ihnen vor allem um die Frage der Gesetzestreue gehen wird, wird eine wichtige Information nachgetragen (14): Es war aber Sabbat an dem Tag, an dem Jesus den Schlammbrei gemacht und seine Augen geöffnet hatte. Ähnlich wie in 5,9 erfolgt dieser Hinweis reichlich spät, und es ist denkbar, dass die Geschichte zunächst ohne dieses Detail erzählt worden ist. Die Pharisäer nehmen den Mann gründlich ins Verhör und fragen auch ihrerseits zuerst nach den näheren Umständen der Heilung (15). Noch einmal, wenn auch in Kurzfassung, wiederholt der Geheilte seinen Bericht mit den wesentlichen Schritten, die dazu geführt haben, dass er sehen konnte: Er hat mir Brei auf die Augen aufgetragen, und ich habe mich gewaschen und (jetzt) sehe ich. Mit dieser Schilderung liefert er freilich Jesus dem Urteil seiner Gegner aus. Denn sowohl einen Brei aus Speichel und Erde zu machen als auch eine heilende Salbe auf die Augen zu legen galt als Arbeit, die am Sabbat verboten war. Darum ist das Urteil zumindest einiger der Pharisäer klar (16): Dieser Mensch ist nicht von Gott, denn er hält den Sabbat nicht. Das ist ja die entscheidende Frage: Ist das, was Jesus tut, und also auch er selbst von Gott, oder holt er sich seine Kraft aus anderen Quellen (vgl. 6,42; 7,29; 9,33)? Die Antwort scheint eindeutig zu sein: »Wie könnte Gott durch einen Mann handeln, der seinem Gesetz zuwiderhandelt?« (Zumstein, 368). Aber nicht alle sind von dieser Logik überzeugt. Sie geben zu bedenken: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Im-

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mer wieder wird im Johannesevangelium signalisiert, dass Jesu Wunder, also die Zeichen, die er durch sie setzt, ihn als den ausweisen, der von Gott gesandt ist. Auch manche der Pharisäer werden dadurch nachdenklich (vgl. 3,2; 12,42). Angesichts der Frage: Was ist der entscheidende Beweis dafür, dass jemand in göttlicher Vollmacht handelt: seine Gesetzestreue oder die Wunder und Taten der Barmherzigkeit? geht ein Riss durch die Gruppe: Eine Spaltung entstand unter ihnen. Das ist ein bemerkenswertes Phänomen im 4. Evangelium: Einerseits werden die Pharisäer oder die Juden als homogene, feindliche Gruppe geschildert. Andererseits gibt es immer wieder Signale dafür, dass nicht wenige von ihnen sich der Botschaft Jesu geöffnet haben. Möglicherweise wird damit auch die Unübersichtlichkeit der Situation zur Zeit der Entstehung des Evangeliums beschrieben. Unsicher geworden an ihrem eigenen Urteil fragen sie den Blinden selbst (17): Was sagst du über ihn, dass er dir die Augen geöffnet hat? Sein eigenes Bekenntnis ist gefragt. Und er zögert nicht, Jesus auf der Seite derer einzureihen, die von Gott gesandt sind und in seinem Auftrag handeln. Er sagt klar und deutlich: Er ist ein Prophet. Mit Mose, Elia und vor allem Elisa kennt das Alte Testament Propheten als Beauftragte Gottes, die durch ihre Vollmacht, Wunder zu tun, Gottes Volk oder Menschen in Not helfen (vgl. 2Kön 5,8; Joh 6,14). Damit ist noch nicht das volle Bekenntnis zu Jesus ausgesprochen, aber doch ein wichtiger Schritt in diese Richtung getan (vgl. V. 35–38). 9,18–23 Das Verhör der Eltern des Geheilten Die vierte Szene (18–23) erzählt von der Befragung der Eltern des Geheilten. Eine neue Gruppe scheint aufzutauchen, die Juden. Hier ist damit mit Sicherheit nicht die ganze jüdische Bevölkerung gemeint, sondern Angehörige der Jerusalemer Autoritäten. In welchem Verhältnis sie zu den Pharisäern der vorherigen Szene stehen, bleibt offen. Ist es nur eine andere Bezeichnung für die gleiche Gruppe, oder ist es eine neue Instanz, die das Gesetz des Handelns an sich zieht? Der Gang der Erzählung macht das zweite wahrscheinlicher. Denn diese Leute waren der Meinung, dass zunächst einmal die Beweislage gründlicher geklärt werden müsse (18). Sie glaubten nicht einfach, dass dieser Mensch blind gewesen war und sehend wurde. Sie wollten neue Zeugen hören und bezweifelten entsprechende Aussagen, bis sie die Eltern dessen, der sehend geworden war, gerufen hatten. Das geschah dann auch (19), und die Eltern wurden gefragt: Ist dies euer Sohn, von dem ihr sagt, dass er blind gewesen sei? Wieso kann er jetzt sehen?

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Die Eltern aber reagieren sehr vorsichtig. Sie sagen nur, was sie sicher bezeugen können (20): Wir wissen, dass dies unser Sohn ist und dass er blind geboren wurde. Was seine Heilung angeht, halten sie sich bedeckt (21): Wieso er aber jetzt sehen kann, wissen wir nicht, oder wer seine Augen geöffnet hat, wissen wir (auch) nicht. Sie verweisen auf ihren Sohn. Er ist der einzige, der darüber Auskunft geben kann, und ist dazu auch in der Lage: Fragt ihn selbst; er ist alt genug, für sich selbst zu sprechen. Der Evangelist nennt auch den Grund, warum die Eltern so ängstlich reagieren (22): Das sagten seine Eltern, weil sie die Juden fürchteten. Und das hat einen ganz speziellen Grund: Denn die Juden waren schon übereingekommen, dass, wenn ihn (d.h. Jesus) jemand als Messias bekennen würde, er aus der Synagoge ausgeschlossen werden würde. Deshalb vermieden die Eltern des Geheilten jede persönliche Stellungnahme und verwiesen auf ihren Sohn (23): Er ist alt genug, fragt ihn. Die Drohung, aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden, zeigt Wirkung. Denn das würde nicht nur den Ausschluss aus einer religiösen Gemeinschaft bedeuten, sondern auch aus einer Rechtsgemeinschaft, die den Juden im römischen Reich Schutz und Minderheitsrechte gewährte. Historisch stellt uns diese Aussage allerdings vor Probleme. Es ist so gut wie ausgeschlossen, dass in der Zeit der Wirksamkeit Jesu schon ein Ausschluss aus der Synagogengemeinde praktiziert wurde, vor allem nicht in Judäa und Jerusalem, wo es um diese Zeit noch kaum Synagogen gab. Das Wort, das hier gebraucht wird (aposynagogos), ist sonst nirgends belegt (zur Sache vgl. Lk 6,22). Es ist auch unwahrscheinlich, dass zu Lebzeiten Jesu ein Bekenntnis zu ihm als Messias zum Ausschluss aus der Synagoge geführt hätte. Hier dürfte die Situation in der Zeit, in der das Evangelium entstand, auf die Zeit des Wirkens Jesu zurückprojiziert worden sein. Man hat lange gemeint, einen klaren Zeitpunkt zu kennen, ab dem Judenchristen aus der Synagoge ausgeschlossen wurden. In der 12. Benediktion des jüdischen Hauptgebets, des Achtzehn-Bitten-Gebets, steht der sog. Ketzersegen (Birkat-ha-minim), der in der palästinischen Fassung lautet: »Die Nazarener (nosrim) und Ketzer (minim) mögen umkommen in einem Augenblick, ausgelöscht zu werden im Buch des Lebens und mit den Gerechten nicht aufgeschrieben werden«. Man nahm an, dieser Text sei um 90 n.Chr. bei der sog. Synode von Jabne/Jamnia beschlossen worden, als sich nach der Zerstörung Jerusalems 70 n.Chr. das Judentum unter Führung des pharisäischen Rabbinats neu konstituierte. Dazu gehörte auch die Ausgrenzung der Judenchristen und anderer als Ketzer bezeichneter Gruppen. Wurde dieses Gebet in den Synagogen gesprochen, schloss es automatisch die Judenchristen aus, die sich sonst selbst verflucht hätten. Die neuere Forschung hat aber festgestellt, dass es eine solche »Synode« nie gab und dass die Nazarener erst später in den Text aufgenommen wurden. Der Ausschluss aus der Synagoge, der in 9,22 vorausgesetzt wird, scheint

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auch auf ein sehr viel aktiveres Vorgehen hinzuweisen als auf die Verfluchung in einem Gebet. Vermutlich handelt es sich um lokale Aktionen in der Region, in der das Johannesevangelium entstand (vgl. auch Offb 2,9). Für Judenchristen bedeutete ein solcher Ausschluss aus der Synagoge nicht nur den Verlust der religiösen Heimat, sondern auch der sozialen und kulturellen Gemeinschaft. Sie waren nicht mehr von der Pflicht befreit, den Göttern der Stadt und des Staates zu opfern, was sie in schwierige Situationen bringen konnte. Möglicherweise gab es Judenchristen, die, um dem Ausschluss zu entgehen, Kompromisse hinsichtlich der Klarheit ihres Bekenntnisses zu Jesus als dem Messias eingingen, weshalb der Evangelist die Auseinandersetzung Jesu mit den Juden, die an Jesus geglaubt hatten, in 8,31 so konfrontativ gestaltet hat.

9,24–34 Das zweite Verhör und die Verstoßung des Geheilten Während die Eltern des Geheilten dem Druck der jüdischen Autoritäten auswichen, bleibt er selbst standhaft. Das zeigt die fünfte Szene (24–34), das zweite Verhör des Geheilten. Es verläuft viel schärfer als das erste. Der Mann wird bei dieser zweiten Vorladung nicht mehr befragt, sondern soll eine Art Offenbarungseid leisten (24): Gib Gott die Ehre!, so lautet im altisraelitischen Gerichtsverfahren die feierliche Aufforderung, vor Gott die Wahrheit zu sagen und seine Schuld zu bekennen (Jos 7,19; vgl. 1Sam 6,5; Jer 13,16). Hier jedoch soll der Geheilte das Urteil der Religionsbehörde über den, der ihn geheilt hat, akzeptieren und sich von ihm distanzieren. Dieses Urteil lautet: Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist. Wer den Sabbat bricht, vergeht sich gegen Gottes Gebot und ist ein Sünder. Der Geheilte zeigt sich sehr besonnen und standhaft (25). Er maßt sich nicht an, das Urteil der Religionsbehörde grundsätzlich infrage zu stellen. Dafür ist er nicht zuständig: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht. Eines jedoch weiß er ganz sicher: Ich war blind, und jetzt sehe ich. Das ist zunächst eine reine Tatsachenfeststellung. Aber in ihr steckt die unabweisbare Frage: Kann dies das Werk eines Sünders sein? Damit wird de facto doch das offizielle Urteil angezweifelt. Aber damit hat der Mann die Leute, die ihn verhören, in Verlegenheit gebracht. Sie ändern ihre Strategie und fragen noch einmal nach dem Hergang der Heilung (26): Was hat er dir getan? Wie hat er deine Augen geöffnet? Vielleicht hoffen sie, doch noch einen Hinweis darauf zu finden, dass hier Magie oder andere dunklen Mächte im Spiel waren. Oder sie spekulieren darauf, dass sich der Geheilte in irgendeinem Detail widerspricht und sie sein Zeugnis für Jesus für ungültig erklären können. Aber der Mann lässt sich auf dieses Spiel nicht ein (27). Mutig antwortet er: Ich habe (es) euch schon gesagt, und ihr habt nicht

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gehört. Warum wollt ihr (es) wieder hören? Es gibt doch keinen seriösen Grund dafür, diese Befragung zu wiederholen. Oder – und nun wird der Mann sarkastisch: Wollt etwa auch ihr seine Jünger werden und wollt deshalb noch mehr von ihm und seinem Wirken hören? Das kommt bei den Mitgliedern der jüdischen Behörde nicht gut an (28). Sie beschimpften ihn – ein Wort, das im Neuen Testament vor allem gebraucht wird, wenn Christen um ihres Glaubens willen verunglimpft und geschmäht werden (1Kor 4,12, 1Petr 3,9). Sie werfen dem Geheilten vor: Du bist ein Jünger jenes (Menschen) und hältst dich an einen, von dem wir sicher sind, dass er ein Sünder ist. Wir aber – und das wird sehr betont herausgestellt – sind Jünger Moses. Wir halten uns an das, was Mose geboten hat, und dazu gehört auch das Verbot, am Sabbat zu arbeiten. Die Autorität Moses aber ist über jeden Zweifel erhaben (29): Wir wissen – noch einmal wird die theologische Kompetenz hervorgehoben –, dass Gott zu Mose gesprochen hat. Auch im Griechischen steht hier das Perfekt, womit die bleibende Gültigkeit des Redens Gottes mit Mose betont wird. Für ihre Behauptung können die Mitglieder der Untersuchungskommission auf entsprechende Berichte in der Tora verweisen, so z.B. Ex 33,11: »Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freund redet«. Von Jesus aber kann das nicht gesagt werden: Von ihm wissen wir nicht, woher er ist. Woher Jesus wirklich kommt und woher er seine Vollmacht hat, das bleibt ihnen verschlossen. Hier hakt der Geheilte ein und argumentiert konsequent und schlüssig (30). Das eigentlich Erstaunliche ist doch, dass diese religiösen Spezialisten nicht wissen, woher Jesus ist und woher er seine Vollmacht hat, obwohl es doch ein alles entscheidendes Indiz dafür gibt: Er hat mir die Augen geöffnet. Deshalb setzt der Mann ihrem selbstsicheren wir wissen, dass er ein Sünder ist, aber auch ihrem angeblichen Nichtwissen hinsichtlich der Herkunft Jesu, ein klares Argument entgegen (31): Wir wissen, sagt er – und schließt so auch die Vertreter der jüdischen Religionsbehörde in dieses Wissen ein –, dass Gott Sünder nicht erhört, sondern immer, wenn einer gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er. Auch dafür gibt die Geschichte Gottes mit Mose Zeugnis. Als Zeichen dafür, dass er Mose weiter als Führer des Volks bevollmächtigt, sagt Gott in Ex 34,10: »Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern, und das ganze Volk, in dessen Mitte du bist,

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soll des HERRN Werk sehen.« Fragt man auf diesem Hintergrund nach Jesu Bevollmächtigung, gibt es nur eine Schlussfolgerung (32f): Von Ewigkeit her hat man nicht gehört, dass einer die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat; wenn dieser nicht von Gott wäre, hätte er nichts tun können. Jesu Zeichen erweisen sich als Werke Gottes und zeigen, woher seine Vollmacht kommt. Die Leute von der jüdischen Religionsbehörde lassen sich auf dieses Argument nicht ein. Sie greifen die Integrität des Geheilten an (34): Du bist ganz in Sünden geboren und willst uns belehren? Damit wird noch einmal das Vorurteil von V. 2 aufgenommen, der Mann sei blind geboren, weil seine Eltern oder er selbst gesündigt haben. Ironischerweise – und vielleicht ist das vom Erzähler beabsichtigt – wird damit auf Ps 51,7 angespielt, wo der Tradition zufolge der fromme König David von sich sagt: »Siehe, ich bin als Sünder geboren, und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen«. Die Szene endet mit dem lapidaren Satz: Und sie warfen ihn hinaus. Auf den ersten Blick heißt das: Die Leute hatten genug von diesem frechen und aufmüpfigen Kerl und warfen ihn aus dem Lokal. Aber dahinter klingt doch auch die Drohung mit dem Synagogenausschluss von V. 22 an. Noch hat der Mann sich nicht voll zu Jesus bekannt. Aber schon ereilt ihn das Geschick derer, die von den Menschen gehasst und ausgestoßen werden »um des Menschensohnes willen« (Lk 6,22). 9,35–38 Die entscheidende Begegnung mit Jesus Die sechste Szene (35–38) ist der Höhepunkt der ganzen Erzählung. In ihr wird von der entscheidenden Begegnung des Blindgeborenen mit Jesus berichtet. Jesus hörte, dass sie ihn hinausgeworfen hatten (35). Was dieser »Hinauswurf« genau bedeutete, wird nicht gesagt. Aber offensichtlich wird der, der aufgrund seiner Blindheit ein Außenseiter in der Gesellschaft war, nun deshalb zum Outcast, weil er sich nicht an der Diffamierung dessen beteiligt, der ihn geheilt hat. Das haben immer wieder Menschen erfahren, die durch die Botschaft Jesu aus ihrem Lebenselend herausgeholt wurden, aber dann wegen ihres Bekenntnisses zu ihm aus der Mehrheitsgesellschaft ausgestoßen wurden. Jesus lässt den Mann nicht allein. Nicht der Geheilte findet Jesus; er selbst hatte ihn ja noch gar nicht gesehen. Jesus sucht und findet ihn (vgl. 1,43). Und in dieser Begegnung stellt Jesus die entscheidende Frage: Glaubst du an den Menschensohn? Die Formulierung dieser Frage ist sehr ungewöhnlich. Es ist in den Evangelien immer Jesus selbst, der von sich als dem Menschensohn spricht. An keiner Stelle ist der Titel Menschensohn Inhalt eines Glau-

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bensbekenntnisses. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass alle späteren Handschriften hier Sohn Gottes schreiben. In den ältesten und zuverlässigsten Manuskripten steht allerdings Menschensohn. Das hat seinen guten Grund. Eigentlich hätte es angesichts von V. 22 nahegelegen, dass Jesus fragt: Glaubst du an den Messias, den Christus? Aber der Erzähler lässt ihn nach dem Menschensohn fragen. Damit macht er deutlich: Es geht im Glauben an Jesus als dem Christus nicht um die traditionelle jüdische Messiasvorstellung, d.h. den Glauben an den endzeitlichen Friedensherrscher, der sein Volk von aller Unterdrückung befreien würde. Der berühmte Rabbi Akiba (50/55–135 n.Chr.) hat im zweiten jüdischen Aufstand (132–135 n.Chr.) dessen Führer, Simon Bar Kochba, als den Messias ausgerufen, ohne dass dies seinem Ruf als führendem Schriftgelehrten geschadet hätte. Denn trotz des Scheiterns Bar Kochbas entsprach sein Auftreten den Erwartungen. Auch mit dem Begriff Menschensohn waren im damaligen Judentum bestimmte Vorstellungen verbunden. Ausgehend von Dan 7,13 wird der Menschensohn als Gottes endzeitlicher Vertreter gesehen, der in seinem Auftrag das Gericht durchführt (vgl. zu 1,51). Jesus hat den Begriff neu geprägt, in dem er von sich als vom gegenwärtig wirkenden und leidenden Menschensohn sprach. Im Johannesevangelium wird diese Entwicklung konsequent weitergeführt: Jesus ist der Menschensohn, der von Gott in diese Welt gesandt wurde. In ihm wurde das göttliche WORT Fleisch, damit die Menschen in seinem Wirken Gott und seiner göttlichen Herrlichkeit begegnen. Indem er sein Leben hingibt und am Kreuz erhöht wird, verherrlicht er Gott und seine Liebe und kehrt so zum Vater zurück. Jesus fragt nicht: Glaubst du an mich? Er fragt: Glaubst du an den Menschensohn? Es geht also nicht um die Frage: Glaubst du an mich, den großen Wundertäter? Die Frage lautet vielmehr: Willst du dein Leben dem anvertrauen, den Gott in diese Welt gesandt hat, um »seine Werke« zu tun, das heißt: Menschen in die Gegenwart des heilenden und rettenden Gottes zu stellen? Bist du bereit, dich auf seinem Weg zum Vater mitnehmen zu lassen, einen Weg, der über die Erhöhung am Kreuz in die göttliche Herrlichkeit führt? Auch wenn der Blindgeborene das so noch nicht verstehen kann, die Leserinnen und Leser des Evangeliums erkennen, worum es geht. Der Geheilte fragt zunächst zurück (36): Wer ist das, Herr, damit ich an ihn glaube? Die Antwort Jesu ist außerordentlich tiefsinnig. Denn er sagt nicht einfach (37): Du siehst ihn vor dir stehen. Sondern er sagt: Du hast ihn gesehen, obwohl der Geheil-

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te ihn jetzt zum ersten Mal sieht! Aber als ihm die Augen geöffnet wurden, da wurde auch sein Blick frei für den, der ihn geheilt hat. In seiner Heilung ist er zum »wahrhaft ›Sehenden‹ geworden« (Theobald, 654). Deshalb: Du hast ihn gesehen und siehst nun den Menschensohn vor dir. Aber zum »Sehen« tritt das Wort Jesu: Der mit dir spricht und der sich so für dich öffnet und sich dir offenbart, der ist es. »In der personalen Begegnung Jesu mit dem Menschen leuchtet sein Wesen als ›Menschensohn‹ auf« (Theobald, 654; vgl. Joh 4,26). Die Antwort des Mannes ist schlicht und einfach (38): Ich glaube, Herr. Er vertraut sich ganz Jesus an. Erstaunlich ist die nächste Reaktion: Er fiel vor ihm nieder. Diese Geste kann Huldigung vor hochgestellten Menschen sein; in unserem Zusammenhang aber ist sie Ausdruck für das Wissen: In Jesus begegnet mir Gott (vgl. LÜ: er betete ihn an; vgl. auch 4,24; 12,20). 9,39–41 Die Ankündigung des Gerichts Die siebte und letzte Szene (39–41), die Ankündigung des Gerichts, ist zugleich die Überleitung zum nächsten Abschnitt 10,1–21, der dann ohne jede Einleitung mit einem Wort Jesu beginnt. Aber thematisch sind diese Verse noch ganz eng mit der Geschichte der Heilung des Blindgeborenen verbunden und bieten inhaltlich ein Kontrastbild zu dem Bekenntnis des Geheilten in V. 38. Auf den ersten Blick ist das Wort Jesu, mit dem die Szene beginnt, erstaunlich (39). Jesus sagte: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen. Das scheint in eklatantem Widerspruch zu dem zu stehen, was in 3,17 gesagt ist: »Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte …« Allerdings war auch dort schon davon die Rede, dass sich an der Stellung zu Jesus das Gericht vollzieht und zutage tritt, wie es wirklich um die Menschen steht. In diesem Sinn heißt es hier, dass Jesus zum Gericht in diese Welt gekommen sei. An seiner Person werden sich die Geister scheiden (vgl. auch Mt 10,34; Lk 12,51–53). Aber im Gericht wird nicht einfach zwischen Guten und Bösen unterschieden und festgestellt, was die Menschen aus ihrem Leben gemacht haben. Der Vorgang ist paradoxer. Die Scheidung, und damit das Gericht, wird sich so vollziehen, dass die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden. Die Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen wird zur symbolischen Darstellung eines sehr viel tiefer greifenden Vorgangs: Menschen, die in der Finsternis der Gottesferne leben und deshalb weder die Wirklichkeit Gottes noch die Realität ihres eigenen Lebens wahrnehmen können, erfahren im Licht der Offenbarung Gottes, dass sie sehen können: Sie erkennen die Wirk-

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lichkeit und Herrlichkeit Gottes im Wirken Jesu und können sich ihm ganz anvertrauen. Das Gegenbild sind die Sehenden. Das ist offensichtlich ironisch gemeint: Es sind die, die meinen, dass sie sehen, obwohl auch sie im Dunkel der Gottesfinsternis gefangen sind. Hier heißt die unausgesprochene Anklage: Sie halten die Finsternis, in der sie gefangen sind, für Licht und lassen sich von Jesus nicht zum Licht rufen. Das aber zeigt, dass sie in Wirklichkeit blind sind. Diese Spitze bleibt nicht verborgen (40). Einige der Pharisäer, die bei ihm waren, fühlten sich getroffen und fragten: Meinst du damit uns? Sind etwa auch wir blind? Jesu Antwort klingt auf den ersten Blick rätselhaft (41): Wenn ihr (wirklich) blind wäret, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen! (Deshalb) bleibt eure Sünde. Im Urteil Jesu sind die Pharisäer blind für die wahre Wirklichkeit Gottes. Das gilt für alle Menschen, solange sie nicht in Jesus dem Licht begegnet sind, das ihre Gottesfinsternis erhellt. Das Problem der Pharisäer besteht aber darin, dass sie das nicht zugeben. Würden sie anerkennen und bekennen: Wir sind blind, wir können von uns aus Gott nicht erkennen, dann würden sie nicht schuldhaft an ihrer Trennung von Gott festhalten. Sünde ist im Johannesevangelium zuerst und zuletzt die Weigerung, an Jesus zu glauben (16,9). Wer bekennt: Ich bin blind, öffnet sich für das Wirken des Lichts und für das Geschenk des Glaubens. Doch die, die sagen: Wir sehen, obwohl sie blind für das Licht Gottes sind, das im Wirken Jesu in dieser Welt aufscheint, verharren in der Sünde, ihrer Trennung von Gott. Ihre Sünde bleibt. Drei wichtige Themen werden in dieser Geschichte angeschnitten: 1. Vom Sinn der Krankheit. Noch heute fragen Menschen: Was habe ich denn Schlimmes getan, dass ich so krank werden muss? Jesus lehnt dieses Rückschlussverfahren ab. Weder der Betroffene noch seine Eltern haben gesündigt. Das schließt nicht aus, dass falsches Verhalten oder innere Zerrüttung zu einer Krankheit führen können. Aber der Umkehrschluss, dass hinter einer schweren Krankheit oder Behinderung immer persönliche Schuld steht, ist falsch. Im Blick auf den Blindgeborenen nennt Jesus dennoch einen »Sinn« für seine Krankheit: die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. An ihm soll sich zeigen, wie Gott durch Jesus hilft. Aber es wäre ein Missverständnis, daraus zu schließen, dieser Mensch sei deshalb blind geboren worden, damit Jesus an ihm ein Wunder tun könne. Das Warum wird nicht beantwortet, nur das Wozu: Dass er blind geboren wurde, wird zur Verherrlichung Gottes dienen. Menschen erleben immer wieder, dass sie durch eine schwere Behinderung oder

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den Verlust eines lieben Menschen Erfahrungen machen, die für ihr weiteres Leben ganz wichtig werden. Dennoch wäre es falsch zu meinen, dass sie deswegen krank wurden oder ein anderer deshalb sterben musste, damit sie diese Erfahrungen machen konnten. Das Warum bleibt offen. Aber es gibt auch bei schweren Schicksalsschlägen ein Wozu, gleich, ob sie durch das Wunder einer Heilung überwunden oder durch das Wunder des Wachsens an einer Grenzerfahrung bewältigt werden. 2. Was beweisen Wunder? In den Auseinandersetzungen nach der Heilung des Blindgeborenen wird immer wieder argumentiert: Wer ein solches Wunder tun kann, muss von Gott bevollmächtigt sein. Kann ein Wunder diese Beweislast tragen? Die Rabbinen blieben skeptisch. Es gibt eine bewegende Geschichte von einem Rabbi, der durch eine Reihe demonstrativer Wunder seine Meinung in einer Auslegungsfrage gegen die Mehrheit seiner Kollegen durchsetzen wollte. Diese aber blieben dabei: Nicht Wunder, sondern die Mehrheit entscheidet (bBM 59)! Auch die urchristliche Überlieferung ist hier nicht unkritisch: In Mk 13,22 warnt Jesus davor, dass am Ende der Zeit falsche Messiasse und Propheten Zeichen und Wunder tun werden (vgl. auch Offb 13,13f). Welche Wunder beweisen was? In der Evangelienüberlieferung wird betont, dass Jesus es ablehnt, Wunder zu tun, um seine Vollmacht zu demonstrieren (Mt 16,1–4; Mk 8,10–13; Joh 6,30). Das gilt auch für das Johannesevangelium, trotz mancher demonstrativer Züge in seinen Wundererzählungen. Nicht weil er seine Macht zur Schau stellt, sondern weil er Menschen in Not hilft, darum sind Jesu Wunder Zeichen für seine Vollmacht und das Wesen seines Auftrags. 3. Das Wunder des Glaubens und das Rätsel des Unglaubens. Die Geschichte von der Heilung eines Blindgeborenen hat eine tiefe symbolische Bedeutung. Einem Menschen werden die Augen geöffnet – nicht nur für die Welt, in der er lebt, sondern auch für Gottes Gegenwart in Jesus Christus. Das ist das Wunder des Glaubens. So wenig ein Blindgeborener sich selbst das Augenlicht verschaffen kann, so wenig kann ein Mensch aus eigener Kraft glauben. Und dennoch bleibt der Betroffene nicht unbeteiligt: Der Kontrast zu dem Geheilten am Teich Bethesda macht das klar. Ein Mensch kann sich auch dem Handeln Gottes verweigern. Und doch bleibt der Unglaube so vieler ein Rätsel. »Blinde sehen und Sehende werden blind«, so charakterisiert Jesus seine Sendung in V. 39. Es kommt zu einer Umwertung der Werte und Positionen, vergleichbar dem, was Paulus in 1Kor 1,25–31 schreibt: Gott hat das erwählt, was in dieser Welt als töricht, schwach oder gering gilt. Das aber ist nicht göttliche Willkür, sondern legt offen, wie es um den Menschen steht. Gottes Handeln deckt auf, ob sich jemand auf die

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eigene Kraft verlässt oder die vermeintliche Fähigkeit, die Dinge zu durchschauen, und daran scheitert. Es zeigt aber auch, wer sich heilen und die Augen öffnen lässt. V. 41 macht klar: Die Nein Sagenden werden nicht von ihrer Verantwortung entlastet. »Gottes Plan degradiert die Menschen nicht zu Marionetten« (Theobald, 657). 10,1–21 Jesu – der gute Hirte Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Abgrenzung dieses Abschnitts Schwierigkeiten macht. Mit der Nennung des Wochenfestes in V. 22 ist zwar eine Zäsur nach hinten geschaffen. Dass aber ein neuer Abschnitt ohne jede Situationsangabe oder Redeleitung mit einem Amen-Wort Jesu beginnt, wäre ohne Parallele im 4. Evangelium. Wie zu Beginn von Kap. 9 schon erwähnt, bilden 9,1 – 10,21 im jetzigen Text des Evangeliums eine große Einheit, denn in 10,21 wird noch einmal ausdrücklich auf die Blindenheilung zurückverwiesen. Thematisch aber wird in 10,1– 21 durch das Bild vom Hirten und der Herde eine ganz neue Perspektive eröffnet, sodass es hilfreich ist, diesen Text als eigenen Abschnitt zu behandeln, der in gewissem Sinn schon mit 9,39 oder 40 beginnt. Weil das neue Thema so überraschend auftaucht und keinen Bezug zum vorhergehenden Text aufweist, nehmen nicht wenige Ausleger an, dieser Abschnitt sei erst später, bei einer zweiten Durcharbeitung durch den Autor oder seine Schüler eingefügt worden. Das ist denkbar, bleibt aber Vermutung. Wir kennen das Evangelium nur in der vorliegenden Form und legen deshalb auch diesen Abschnitt in seinem jetzigen Zusammenhang aus. 1

Amen, amen, ich sage euch: Wer nicht durch die Türe in den Hof zu den Schafen kommt, sondern von anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber; 2der aber durch die Türe kommt, das ist der Hirte der Schafe. 3Dem öffnet der Türhüter, und die Schafe hören auf seine Stimme, und die eigenen Schafe ruft er beim Namen und führt sie heraus. 4Wenn er seine eigenen (Schafe) alle hinausgetrieben hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme. 5Einem Fremden aber werden sie gewiss nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen, denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht. 6Diese Rätselrede sagte ihnen Jesus, jene aber verstanden nicht, was das bedeutete, was er ihnen sagte. 7 Da sagte ihnen Jesus wieder: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. 8Alle, die vor mir gekommen sind, sind Diebe

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und Räuber, aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. 9Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, der wird gerettet werden und wird hineingehen und herausgehen und Weide finden. 10Der Dieb kommt nur, um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben; ich bin gekommen, damit sie Leben haben und (es) im Überfluss haben. 11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte setzt sein Leben für die Schafe ein. 12Der Taglöhner, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht selbst gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf raubt die Schafe und jagt sie auseinander –, 13 denn er ist ein Taglöhner, und ihm liegt nichts an den Schafen. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, 15wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne, und ich setze mein Leben für die Schafe ein. 16Auch andere Schafe habe ich, die nicht aus diesem Hof sind; und ich muss auch sie führen, und sie werden auf meine Stimme hören, und es wird eine Herde sein (und) ein Hirte. 17 Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben einsetze, damit ich es wieder empfange. 18Niemand nimmt es mir weg, sondern ich setze es von mir aus ein. Ich habe die Vollmacht, es einzusetzen, und ich habe die Vollmacht, es wieder zu empfangen; diesen Auftrag habe ich von meinem Vater erhalten. 19 Wieder entstand eine Spaltung unter den Juden wegen dieser Worte. 20Aber viele von ihnen sagten: Er hat einen Dämon und ist von Sinnen; warum hört ihr auf ihn? 21Andere sagten: Diese Worte passen nicht zu einem, der von Dämonen besessen ist. Kann denn ein Dämon die Augen von Blinden öffnen? Das Bild von den Schafen und ihrem Hirten wird auf überraschende Weise eingefügt. Am Anfang steht nicht die zentrale Aussage von Jesus als dem guten Hirten, sondern ein Hinweis auf Leute, die sich unberechtigt und in böser Absicht Zugang zu den Schafen verschaffen. Viele Ausleger nehmen deshalb an, der Text sei irgendwann in Unordnung geraten, und versuchen, eine ursprüngliche Reihenfolge zu rekonstruieren, die mit V. 11 beginnt. Aber auch das ist reine Vermutung, und ein wirklicher Grund, warum der Text in Unordnung geraten sein könnte, lässt sich nicht nennen. Sieht man den Abschnitt aber im Zusammenhang mit 9,39–41, dann ist sein Aufbau keineswegs so unlogisch, wie oft behauptet wird. Die V. 1–6 bilden die Fortsetzung des Gesprächs mit den Pharisäern. Diese treten bei Johannes als die religiösen Führer des Volkes auf. Es geht folgerichtig in 10,1–18 um die Frage nach der rechten Leitung der von Gott anvertrauten Menschen. Die V. 2–4

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beschreiben in einem kleinen Gleichnis, wie sich ein richtiger Hirte verhält. Diese Beschreibung wird in V. 1 und 5 von warnenden Hinweisen auf das Verhalten derer gerahmt, die sich als Hirten aufspielen, es aber nicht sind. Der ganze Abschnitt gliedert sich in zwei Unterabschnitte: 10,1–6 10,7–18

Die »Rätselrede« von den rechten und falschen Hirten. Die Deutung der Rätselrede: Jesus, die Tür (7–10), und Jesus, der gute Hirte (11–18) 10,19–21 Abschluss des ganzen Zusammenhangs 9,1 – 10,18

Blinde, die behaupten, sie könnten sehen, das sind nach Meinung des johanneischen Jesus die Pharisäer (9,40f). Gerade sie aber haben in der Zeit des Evangelisten Führungsverantwortung übernommen. Sie haben das Machtvakuum ausgefüllt, das nach der Zerstörung des Tempels und dem Ende der beschränkten Selbstverwaltung in Judäa entstanden war, und sind zur führenden Gruppe des sich neu konsolidierenden Judentums geworden. »Blinde Blindenführer« nennt sie Jesus im Matthäusevangelium (Mt 15,14), das in der gleichen Situation entstanden ist. Aber Jesus verlässt ziemlich abrupt das Thema blind – sehen und greift ein völlig anderes Bildfeld auf. Es ist das Bild von den rechten Hirten und der Herde, das schon im Alten Testament immer dann auftaucht, wenn es um die Frage der rechten Führung des Volkes geht (vgl. bes. Ez 34). Die Leitfrage des folgenden Abschnittes ist also: Woran erkennt man, wer zur guten Führung des Volks befähigt und bevollmächtigt ist? Im gewählten Bild aber heißt das: Worin unterscheidet sich der rechte Hirte von den Leuten, die sich als Hirten aufspielen, aber der Herde schaden statt sie zu schützen? In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass die Frage zunächst von der negativen Seite her beantwortet wird (1). Eingeleitet durch das feierliche doppelte Amen sagt Jesus zunächst, wer nicht der rechte Hirte sein kann: Amen, amen, ich sage euch: Wer nicht durch die Türe in den Hof zu den Schafen kommt, sondern von anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Diese Aussage bleibt zunächst ganz im Bild: Im Blick ist wohl ein ummauertes Gehöft oder ein gut umzäunter Sammelpferch, in dem die Schafe verschiedener Hirten in der Nacht in Sicherheit gebracht werden und dessen Tor von einem Türhüter bewacht wird. Diebe und Räuber kommen nicht durch das Tor, sondern steigen über die Mauer und holen die Schafe. Anders ist das bei dem richtigen Hirten (2f). Er kommt durch das Tor, und ihm öffnet der Türhüter, denn er weiß, welche die richti-

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gen Hirten sind. Vor allem aber hören die Schafe auf seine Stimme, und seine eigenen Schafe ruft er beim Namen und führt sie heraus. Das dürfte keine idyllische Verklärung der Beziehung von Hirte und Schafe in früheren Zeiten sein. Die Kenner der damaligen Verhältnisse bestätigen vielmehr, dass das durchaus üblich war. Aber im Kontext der Rede Jesu wird dieser Zug des Gleichnisses schon transparent für das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern. Das gilt erst recht von dem nächsten Detail, das aus der Beziehung von Hirte und Herde hervorgehoben wird (4): Wenn er seine eigenen (Schafe) alle hinausgetrieben hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme. So ist es, wenn ein Schäfer mit seinen Schafen durchs Land zieht. Zugleich jedoch ist das eine deutliche Anspielung auf das Verhältnis Jesu zu den Menschen, die ihm nachfolgen. Wie am Anfang wird auch am Ende des kleinen Gleichnisses noch einmal darauf hingewiesen, wer nicht der richtige Hirte ist. Nun geht es nicht um Diebe und Räuber, sondern um andere Hirten, denen aber die Schafe nicht gehören. Auch hier gilt (5): Einem Fremden aber werden sie gewiss nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen, denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht. Es liegt nahe, bei diesen Fremden an jüdische oder christliche Heilspropheten oder messianische Führergestalten zu denken, die die Leute in ihre Nachfolge rufen. Aber die, die wirklich zu Jesus gehören, werden ihrer Stimme nicht folgen. Man hat versucht, auch die anderen Figuren, also den Türhüter oder die Diebe und Räuber, mit heilsgeschichtlichen oder historischen Gestalten zu identifizieren. Aber dafür gibt es keine klaren Hinweise (doch s. zu V. 8). Die Details dienen dazu, den richtigen Hirten zu identifizieren. Denn das Gleichnis ist ganz auf Jesus und seine Rolle ausgerichtet. Deshalb sind nur bestimmte Züge dessen, was ein Hirte tut, ausgewählt, während andere – die etwa in Psalm 23 im Vordergrund stehen – weggelassen sind. »Wenn der Erzähler alles auf den einen Vorgang konzentriert, dass der Hirt kommt, Einlass in den Hof erhält, die eigenen Schafe hinaus ins Freie führt – ihm nach –, dann spiegelt sich darin das einzigartige und einmalige Kommen des Offenbarers zur Welt, der die Seinen in seine Nachfolge ruft, um sie aus der Welt in das ewige Leben zu geleiten« (Theobald, 669). Den Pharisäern aber, denen Jesus das sagt, bleibt das unverständlich (6). Sie verstanden nicht, was das bedeutete, was er ihnen sagte. Für sie ist Jesu Gleichnis eine Rätselrede. Das Wort, das Johannes hier verwendet, bedeutet nicht Gleichnis (so LÜ; EÜ), sondern eine Rede in Bildern oder Rätseln, die eine Deutung brauchen (vgl. 16,25.29). Eigentlich ist Jesu Gleichnis klar und verständlich.

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Aber ähnlich wie im Gleichniskapitel der anderen Evangelien werden Jesu Gleichnisse trotz ihrer Anschaulichkeit für diejenigen zum Rätsel, die sich seiner Botschaft verschließen (vgl. Mk 4,10– 12; Mt 13,10–17; Lk 8,9f). Die Pharisäer wollen nicht wahrhaben, dass sie mit den Dieben und Räubern oder auch mit den Fremden gemeint sein könnten, und darum verstehen sie die als Gleichnis verschlüsselten Aussagen Jesu nicht. Damit ist aber noch nicht das letzte Wort gesprochen. Johannes fügt eine ausführliche Deutung des Gleichnisses durch Jesus an (7– 18). Diese Deutung zielt freilich weniger auf das Verständnis der Pharisäer, sondern auf das der Leserinnen und Leser. Sie sollen verstehen, worum es Jesus geht. Und nicht von ungefähr endet dieser Abschnitt wieder einmal mit einem »offenen« Schluss (19– 21): Es gibt völlig verschiedene Reaktionen auf Jesu Worte. Die Frage an die Adressaten wird sein: Wessen Meinung schließen sie sich an? Entgegen der Meinung vieler Ausleger ist die Deutung des Gleichnisses in den V. 7–18 durchaus logisch aufgebaut. Man muss sich nur auf die Logik des Evangelisten einlassen. Zwei Motive aus dem Gleichnis werden aufgegriffen: das der Tür (7–10) und das des Hirten (11–18). Beide werden durch ein doppeltes Ichbin-Wort in verschiedener Perspektive entfaltet. Dass die Deutung nicht mit dem zentralen Motiv des richtigen, guten Hirten beginnt, hat immer wieder Verwunderung hervorgerufen bis hin zu einer Textänderung schon in einer der frühesten Handschriften (Papyrus 75 aus dem 3. Jahrhundert). Doch auch hier erklärt sich die Abfolge aus dem Zusammenhang. In der Auseinandersetzung mit dem Führungsanspruch der Pharisäer steht die Frage im Raum: Welches ist der legitime Zugang zu denen, die zum Volk Gottes und zu seiner »Herde« gehören. V. 7 beginnt nach der feierlichen Amen-Einleitung mit einem ersten Ich-bin-Wort: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür der Schafe (so wörtlich). Die im Deutschen schwer verständliche Genetivverbindung Tür der Schafe dürfte ganz bewusst gewählt sein. Nach V. 8 ist die Tür zu den Schafen gemeint, während in V. 9 von der Tür für die Schafe gesprochen wird. Ungewöhnlich ist auch, dass hier eine Sache Bild für eine Person ist. Doch der Sinn ist klar: Jesu Wort und Wirken, seine Person und sein Weg sind der rechtmäßige Zugang zu denen, die zu seiner »Herde« gehören, dem neuen Volk Gottes und der neuen Menschheit, die in der Gemeinschaft mit Gott leben. Die Konsequenz dieser Aussage führt zu einer negativen Abgrenzung (8): Alle, die vor mir gekommen sind, sind Diebe und Räuber. Gemeint sind damit alle Heils- und Offenbarungsmittler, die

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vor und ohne Jesus den Menschen den Zugang zu Gott und zum wahren Leben versprochen haben. Ob damit bestimmte Personen und Gestalten aus der Geschichte Israels oder darüber hinaus im Blick sind, bleibt offen. Sicher nicht gemeint sind damit Mose und die biblischen Propheten. Denn sie sind im Johannesevangelium Zeugen für Jesus und nicht konkurrierende Heilsmittler (vgl. 1,45; 5,46). Erstaunlich ist dann freilich die folgende Feststellung: aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Denn die Erfahrung zeigt: Selbst die merkwürdigsten Heilspropheten haben Anhänger für ihre Parolen gefunden, und religiöse Rattenfänger, die viele mit fast magischer Kraft anziehen, gibt es bis heute. Offensichtlich sind nur die Schafe gemeint, die zur Herde Gottes gehören. Und das zeigt sich daran, dass sie sich nicht von solchen Leuten verführen lassen. Man würde nun eigentlich erwarten, dass noch ein Hinweis auf die richtigen Hirten folgt, die von Jesus autorisiert sind, nach seinem Weggang aus dieser Welt seine Herde zu leiten (vgl. die Bevollmächtigung des Petrus in 21,15–17). Aber Jesus wiederholt seine Aussage Ich bin die Tür, um mit diesem Bild auf eine ganz andere Bedeutung seines Wirkens hinzuweisen (9): Wenn jemand durch mich hineingeht, der wird gerettet werden und wird hineingehen und herausgehen und wird Weide finden. Jetzt heißt die Botschaft: Jesus ist die Tür für die Schafe. Durch sein Kommen in diese Welt, sein Wort und sein Wirken öffnet er für die Menschen den Weg zu Gott. Deshalb ist er die Tür zum Leben (vgl. V. 10b). Wer sich durch ihn zu Gott führen lässt, wird gerettet werden. Damit wird ohne Bild gesagt, worum es geht: Aus der tödlichen Bedrohung durch die Sünde, der totalen Entfremdung von Gott, werden Menschen von Jesus in die Gemeinschaft mit Gott geführt. In ihr sind sie geborgen und bleibend für ein Leben mit Gott gewonnen. Das wird dann noch einmal im Bild ausgedrückt: Ein Schaf, das um die richtige Tür weiß, wird in den schützenden Stall hineingehen, aber dann, wenn der Tag anbricht, auch wieder ins Freie herausgehen und Weide finden, d.h. all das bekommen, was zum Leben nötig ist. Auf gute Weide zu führen ist schon im Alten Testament ein wichtiges Kennzeichen eines guten Hirten (Ps 23,2; Ez 34,13f). Darum wird im Kontrast zu dem, was über den guten Hirten gesagt werden wird, daran erinnert, wie ein Dieb mit der Herde umgeht (10): Der Dieb kommt nur, um zu stehlen und zu schlachten. Ein Dieb stiehlt die Schafe nicht, um sie zu hegen und zu pflegen, sondern um sie zu schlachten und das Fleisch zu verzeh-

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ren oder zu verkaufen. Der Kontrast wird noch überzeugender, wenn man weiß, dass die Schaf- und Ziegenherden damals, wie auch heute bei den Beduinen, nicht wegen des Fleisches der Tiere gehalten wurden. Geschlachtet wurden allenfalls die überzähligen Böckchen. Man betrieb nachhaltige Weidewirtschaft, um Wolle und Milch zu gewinnen. Darum kann der Hirte im ganzen Alten Orient Bild für fürsorgliches und Leben bewahrendes Führen sein. Diejenigen aber, die hier mit Dieben verglichen werden, obwohl sie den Menschen wahres Leben versprechen, kommen in Wirklichkeit nur, um zu verderben (LÜ: umzubringen). Ins Verderben zu geraten bzw. verloren zu gehen ist bei Johannes und Paulus der Gegenbegriff zum gerettet werden (V. 9; vgl. 3,16; 1Kor 1,18). Die vielfachen religiösen und säkularen Angebote, die Leben in Fülle ohne die Gemeinschaft mit Gott versprechen, führen in Wirklichkeit dazu, das Leben zu verlieren, d.h. ins Verderben. Demgegenüber stellt Jesus seine Sendung: Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und (es) im Überfluss haben. In den Evangelien sind Worte Jesu, die mit Ich bin gekommen beginnen, so etwas wie Programmworte (vgl. Mk 2,17; Lk 19,10). So auch hier. In 3,16 war grundsätzlich über Jesu Auftrag gesagt worden: Gott hat ihn aus Liebe in eine vom Verderben bedrohte Welt gesandt, »damit alle, die an ihn glauben, nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben«. Was dort als Ziel des Handelns Gottes formuliert war, identifiziert Jesus hier als Sinn seines Kommens: Die zu ihm gehören, sollen Leben haben, und zwar überreich, ja im Überfluss bzw. in Fülle. Damit meint er nicht, dass die, die ihm folgen, bei voller Gesundheit 120 Jahre alt und im Luxus leben werden. Er verheißt ein Leben, das in der Gemeinschaft mit Gott Bestand hat. Durch seine Liebe erfahren Menschen die Fülle dessen, was Leben wirklich heißt. Damit ist aber der Schritt vom Bild der Tür zu dem vom Hirten schon fast getan. Das Bild vom Hirten ist im Alten Testament wie in der ganzen Antike eine Metapher für fürsorgliches und lebensdienliches Herrschen und Führen. Wie wir sahen, hängt das damit zusammen, dass die antike Weidewirtschaft nicht primär auf die Gewinnung von möglichst viel Schlachtvieh ausgerichtet war, sondern die Tiere wegen ihrer Wolle und Milch gehalten wurden. Das führte zu einem schonenden und nachhaltigen Umgang mit den Tieren. Das Bild wird für Gott und menschliche Herrscher verwendet. In Ps 23 bekennt ein Einzelner, dass Gott sein Hirte ist und ihn sicher führt; Gen 49,24 und Ps 80,2 nennen Gott den Hirten Israels. Sehr eindrücklich wird Gottes Fürsorge in Jes 40,11 mit der eines Hirten verglichen (vgl. auch Mi 7,14; Ps 95,7). In Gottes Auftrag wird der messianische König als guter Hirte das Volk weiden (Jer 23,3–5; Ez 34,23; Mi 5,3f). Den dunklen Hintergrund dieser Verheißung zeichnet die Kritik an den gegenwärtigen Führern als

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treulose Hirten in Ez 34 (vgl. Sach 10,3; 11,4–17; 13,7f). Dort erwächst aus der Kritik an den »Hirten, die sich selbst weiden«, die Verheißung, dass Gott sich seiner Herde selbst annehmen (V. 11–16), und seinen »Knecht David« als den rechten Hirten senden wird (V. 23f). Im frühen Judentum taucht das Motiv selten auf, vielleicht deshalb, weil der Beruf der Hirten nicht mehr angesehen war (darum kommen Hirten in der Weihnachtsgeschichte in Lk 2,8–20 vor). Zerstreut und verlassen wie Schafe, die keinen Hirten haben, so sieht Jesus die Menschen seiner Zeit (Mk 6,34; Mt 9,36).

Die Deutung des Gleichnisses greift nun das zentrale Bildmotiv des Hirten auf und stellt es damit wirkungsvoll ans Ende der Erklärung (11–18). Auch hier identifiziert sich Jesus zweimal (V. 11 und 14) mit einem Hirten und hebt damit zwei unterschiedliche Aspekte des Bildes hervor. Schon die Formulierung des Ich-binWortes setzt einen besonderen Akzent. Ich bin der gute Hirte, sagt Jesus. Das heißt: Ich bin der rechte, der wahre Hirte, der Hirte, der es wirklich gut meint mit seinen Schafen. Diese Aussage ist ungewöhnlich. Wörtliche Parallelen dafür finden sich erst in späteren rabbinischen Schriften. Es zeigt aber deutlich: Es geht um die Frage: Wer kann zu Recht die Führung des Volkes Gottes beanspruchen. Der erste Aspekt des Hirtenbilds, der dabei hervorgehoben wird, ist ebenfalls sehr ungewöhnlich. Nicht die Fürsorge durch das Führen auf gute Weide und zu frischem Wasser (Ps 23,1f) wird hervorgehoben, sondern der totale Einsatz zum Schutz der Herde: Der gute Hirte setzt sein Leben für die Schafe ein. Ein wirklich guter Hirte riskiert sogar sein Leben, um die Herde gegen den Angriff wilder Tiere zu verteidigen. Das wird mit einem Gegenbeispiel illustriert (12f). Ein Taglöhner (LÜ: Mietling), der lediglich kurzfristig für das Hüten der Herde angeheuert ist und dem die Schafe nicht selbst gehören, hat keine echte Beziehung zu ihnen (ihm liegt nichts an den Schafen). Wenn es wirklich gefährlich wird, wenn er zum Beispiel einen Wolf kommen sieht, verlässt er die Schafe und flieht. Die Folge davon ist, dass der Wolf einen Teil der Schafe reißt und raubt und den Rest der Herde auseinanderjagt. Aus rabbinischen Texten wissen wir, dass in solchen Fällen der Hirte nicht zu Schadenersatz verpflichtet war; vielmehr galt der Vorfall als höhere Gewalt. Merkwürdigerweise wird das positive Gegenbild nicht ausführlich geschildert, also nicht ausgemalt, wie ein rechter Hirte seine Schafe unter Einsatz seines Lebens vor der Gefahr schützt. Das mag daran liegen, dass dieser Einsatz nur sinnvoll war, wenn der Hirte dabei nicht selbst ums Leben kam – was normalerweise wohl auch

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der Fall war, weil Wölfe – entgegen der Fama – Menschen in der Regel nicht angreifen. Hinter der Aussage, dass der Hirte sein Leben für die Schafe einsetzt, steht aber auf der Sachebene der Hinweis auf Jesu Tod für die Seinen (vgl. 15,13). Stellvertretend für sie setzt Jesus sein Leben ein, um sie vor dem drohenden Tod, der ewigen Trennung von Gott, zu retten und ihnen die Tür zu wahrem, ewigem Leben zu öffnen. Hier steht also nicht der Sühnegedanke im Hintergrund. Jesu Tod wird vielmehr mit dem von Menschen verglichen, die ihr Leben für ihre Familie, ihre Stadt oder ihr Vaterland einsetzen, um sie vor einer drohenden Gefahr zu retten. Von daher haben sich Ausleger immer wieder gefragt, welche Macht mit der Figur des Wolfs wohl gemeint ist. Meist wird er als Bild des Teufels gesehen. Er bedroht die Menschen, die Jesus als dem Hirten anvertraut sind, und für sie wirft er sich Satan in den Rachen. Dass der Satan durch Jesu Tod entmachtet wird, ist ein Gedanke, der sich durchaus im Johannesevangelium findet (vgl. 12,31). Aber gerade für dieses Evangelium wäre der Gedanke, dass Jesu Tod ein durch die Gewalt des Teufels verursachtes Opfer war, sehr fremd. Man wird sich also besser darauf beschränken, in dem Wolf eine bildliche Darstellung all der Mächte zu sehen, die das Leben der Menschen bedrohen und denen sich Jesus durch die Hingabe des Lebens entgegengestellt und sie besiegt hat. Gleiches gilt für die Figur des Taglöhners bzw. Mietlings, die man häufig mit der jüdischen Führungselite oder – im Blick auf die spätere Gemeindesituation – mit schlechten Gemeindeleitern oder Irrlehrern identifiziert hat. Beides ist denkbar; zunächst jedoch ist der Taglöhner vor allem Kontrastfigur zu Jesus als dem guten, dem wahren Hirten. Aber noch ein zweiter Aspekt des Hirtenbildes wird hervorgehoben, und diesmal steht die positive Aussage ganz im Vordergrund (14): Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich. Die Aussage, dass der richtige Hirte seine Schafe kennt und diese ihn, ist dem Evangelisten sehr wichtig. Er hat darauf schon in V. 4f hingewiesen. In den Hirtenbildern im Alten Testament ist es nur angedeutet, etwa in Ps 95,7, wenn es heißt: »Denn er ist unser Gott und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand. Wenn ihr doch heute auf seine Stimme hören würdet« (vgl. auch Jes 40,11; 43,1). Für Johannes aber hat dies vertrauensvolle Miteinander zwischen Jesus und denen, die ihm anvertraut sind, einen tieferen Grund, der sich nicht mehr durch das Bild des Hirten veranschaulichen lässt (15). Jesus kennt die Seinen, und die Seinen kennen ihn, wie

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mich der Vater kennt und ich den Vater kenne. Diese Erklärung stellt das bisher Gesagte in mehrfacher Hinsicht auf eine ganz neue Ebene. Damit wird zunächst deutlich, dass mit dem gegenseitigen Kennen Jesu und der Seinen mehr gemeint ist als ein oberflächliches Wissen um Namen und äußere Lebensumstände. Das biblische kennen und erkennen von Menschen meint viel mehr: Es ist »ein Kennen des Anderen, das Gemeinschaft bedeutet« (Theobald, 679), Ausdruck einer tiefgreifenden personalen Beziehung, die die ganze Existenz beider Partner umfasst (vgl. Gen 4,1.17.25). Noch tiefgreifender aber ist die Aussage selbst. Vorbild für das Verhältnis zwischen Jesus und den Seinen ist das Verhältnis von Vater und Sohn: wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne! Schon in der Logienquelle wird das Verhältnis zwischen Jesus und Gott mit diesen Kategorien engster Gemeinschaft beschrieben: »Niemand kennt den Sohn außer dem Vater, und niemand kennt den Vater außer dem Sohn und wem es der Sohn offenbaren wird« (Mt 11,27; Lk 10,22). Im Johannesevangelium begründet diese enge Gemeinschaft von Vater und Sohn, dass überhaupt Offenbarung möglich ist. Denn »niemand hat jemals Gott gesehen«, aber »der Einziggeborene, Gott (von Art), der im Schoß des Vaters ist, der hat berichtet« (1,18). In dieser engen Gemeinschaft von Vater und Sohn liegt auch die Erklärung dafür, dass Gott etwas schafft, was außerhalb seiner selbst ist. Dass es in Gott selbst dieses Miteinander und Gegenüber von Vater und Sohn, von Gott und WORT gibt, ist das Geheimnis der Schöpfung: Gott sagt Ja zu dem »anderen« und schafft darum durch sein WORT die Welt als sein Gegenüber. Im Griechischen beschreibt das wie mich mein Vater kennt nicht nur ein Vorbild, sondern nennt auch eine Begründung: Weil mich mein Vater kennt. Weil es die einzigartige Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn gibt, darum ist auch das innige Zusammengehören von Jesus und den Seinen möglich. Im hohepriesterlichen Gebet (Kap. 17) wird diese grundlegende Aussage über das Wesen christlicher Gemeinschaft noch einmal eindrücklich entfaltet werden. Eine Frage bleibt offen: Wen meint Jesus, wenn er von den Meinen spricht? Sind das alle Menschen oder nur ein Zirkel von Erwählten? Auf den ersten Blick möchte man eher an das zweite denken. Aber der Evangelist hält die Spannung offen, wenn er hier noch einmal Jesu Aussage einfügt: Ich setze meine Leben für die Schafe ein. Denn dass Jesu Tod nicht nur für eine Schar Auserwählter gilt, wird im 4. Evangelium mehr als einmal klarge-

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stellt: Er ist das »Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt« (1,29). »So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einziggeborenen Sohn gab …« (3,16; vgl. weiter 8,12; 9,5). Aber es gilt eben auch, dass nicht alle, für die er gestorben ist, seine Stimme hören (10,3.27). Die Frage: Wer gehört zu Jesus? bleibt also merkwürdig offen. Dass dieser Kreis weit größer ist als manche denken mögen, macht das nächste Wort klar (16): Auch andere Schafe habe ich, die nicht aus diesem Hof sind; und ich muss auch sie führen, und sie werden auf meine Stimme hören. Hier wird der Kreis derer, die zu Jesus gehören, erweitert. An wen dabei gedacht ist, dürfte klar sein: Jesu Sendung ist nicht auf die Menschen beschränkt, die zum Volk Israel (dieser Hof) gehören. Er wird auch Nichtjuden zu sich rufen, und auch sie werden auf seine Stimme hören, und das bedeutet in der Sprache des Johannesevangeliums: Sie werden an ihn glauben (vgl. 5,24). Damit werden Verheißungen aufgenommen, die schon im Alten Testament anklingen. In Jes 42,1 wird dem Knecht Gottes aufgetragen, das Recht Gottes unter die Völker zu bringen, und in Jes 49,6 wird ihm verheißen, »Licht für die Völker«, also für die Heiden, zu sein. In Jes 56,6f heißt es, dass auch »die Fremden« zum Berg Zion und zum Tempel Gottes kommen werden, »denn mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker heißen« (vgl. Mk 11,17). Wie von Gott als dem guten Hirten gesagt wird, dass er sein Volk sicher und voll Sorgfalt führt (Ps 23,2; Jes 40,11; 49, 10), so wird Jesus alle, die seinem Ruf folgen, zu wahrem Leben führen. Die Gemeinschaft derer, die sich durch Jesus rufen lassen und ihm folgen, umspannt also die ganze Menschheit. Weil es sein Ruf ist, der diese Gemeinschaft begründet, darum werden in ihr Menschen ganz verschiedener Herkunft zu einer großen Einheit zusammenfinden: es wird eine Herde sein (und) ein Hirte. Auch diese Aussage nimmt alttestamentliche Verheißungen auf: In Ez 34,23 und 37,24 wird betont, dass Gott dem Volk »einen einzigen Hirten erwecken« wird, nämlich den verheißenen messianischen König aus dem Haus Davids (vgl. auch Mi 2,12). Die Einheit der Gemeinschaft derer, die auf Jesu Stimme hören, ist allein darin begründet, dass sie diesem einen Hirten folgen. Zwischen den V. 15 und 17, die von der Bedeutung des Todes Jesu sprechen, klingt V. 16 wie ein Einschub. Dieser Zwischenstellung kommt eine große Bedeutung zu – gleich, ob der Evangelist den Vers von vorneherein an diese Stelle gestellt oder erst bei einer Überarbeitung eingeschoben hat. Weil Jesu Tod für alle geschah, ist die Begrenzung derer, die zu Gott gehören, auf die

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Kinder Israels überwunden. Das wird in 11,51f noch einmal ausdrücklich betont werden: »Denn Jesus sollte für das Volk sterben, aber nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen« (vgl. auch 12,24). V. 17 nimmt erneut die Frage nach der Bedeutung von Jesu Tod auf. Das Bild von Hirte und Herde wird verlassen. Jetzt geht es um die Beziehung von Vater und Sohn. Die Bereitschaft des Sohnes, sein Leben einzusetzen, ist Ausdruck der gegenseitigen Liebe. Wenn Jesus sagt: Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben einsetze ist das nicht so zu verstehen, dass die Liebe des Vaters die Belohnung für den Gehorsam des Sohnes ist. »Das Gegenteil ist wahr: Weil Gott Jesus bedingungslos liebt, wird Jesus seinerseits befähigt, die Menschen auf dieselbe Art zu lieben, nämlich bis zur Hingabe seines Lebens« (Zumstein, 396). Jesus setzt sein Leben ein, um es wieder zu empfangen. Auch diese Aussage sollte nicht missverstanden werden. Sie bedeutet nicht, dass Jesu Tod eigentlich nur Mittel zum Zweck ist, damit er ein besseres Leben erhält, so wie man eine gefährliche Operation in Kauf nimmt, um geheilt zu werden. Dieses Wort ist aus nachösterlicher Perspektive formuliert. Jesu Auferstehung ist der Sieg des Lebens für alle, die an ihn glauben. »Das Ziel der Liebe ist das Leben« (Theobald, 683). Die Souveränität Jesu auf diesem Weg wird in V. 18 noch einmal ausdrücklich betont. Jesus ist nicht das Opfer irgendwelcher irdischer oder widergöttlicher Mächte. Niemand nimmt ihm das Leben weg. Nein, sein Weg in den Tod ist seine freie Entscheidung: ich setze es von mir aus ein. Freilich gründet diese Freiheit gerade in seiner tiefen und einzigartigen Verbindung mit dem Vater. Es ist die Freiheit der Liebe, die frei ist, sich für das Leben anderer einzusetzen: Ich habe die Vollmacht, es einzusetzen, und ich habe Vollmacht, es wieder zu empfangen. Diese Freiheit zu leben und in dieser Vollmacht zu handeln, das ist der Auftrag, den Jesus von seinem Vater erhalten hat. Jesu Worte bleiben nicht ohne Wirkung. Aber sie finden auch hier weder ungeteilte Zustimmung noch einhellige Ablehnung. Es vollzieht sich etwas von der Scheidung, dem »Gericht«, das Jesus angekündigt hat (19): Wieder (vgl. 7,43; 9,16) entstand eine Spaltung unter den Juden wegen dieser Worte. Auch hier dürften wohl mit den Juden die führenden Kreise Jerusalems gemeint sein (vgl. 9,18). Johannes legt Wert auf die Feststellung, dass es gerade auch unter ihnen unterschiedliche Reaktionen auf die Verkündigung und das Wirken Jesu gab. Die einen verweigern sich jeder weiteren Argumentation (20). Ihr Urteil ist klar: Ein Mensch, der so von sich spricht, hat einen Dä-

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mon und ist von Sinnen. So reden kann nur einer, der von einem Dämon, einem bösen Geist, besessen ist und/oder verrückt ist. Dieser Vorwurf ist schon mehrmals aufgetaucht (7,20; 8,48f.52). Eine ähnliche Dämonisierung des Wirkens Jesu findet sich in Mk 3,22.30, auch dort interessanterweise mit der Befürchtung seiner eigenen Angehörigen verbunden, er sei »von Sinnen«. Dass Jesus seine Wunder mit Hilfe magischer Praktiken vollbracht hat, bleibt ein Motiv antichristlicher Polemik. Wer aber so urteilt, für den ist jede Auseinandersetzung mit der Botschaft Jesu unsinnig. Deshalb die vorwurfsvolle Frage an die anderen: Warum hört ihr denn überhaupt auf ihn? Andere halten dagegen (21): Das sind nicht die Worte eines von Dämonen Besessenen. So spricht keiner, der unter der Herrschaft einer bösen Macht steht. Und sie begründen das mit dem Wunder, das Jesus gerade getan hat. Mit seinen Worten ist also nicht nur sein Reden gemeint. Auch sein Handeln spricht eine klare Sprache: Kann denn ein Dämon die Augen von Blinden öffnen? Dass den Blinden die Augen geöffnet werden, ist Zeichen für Gottes endzeitliches Handeln (Jes 35,5f). Das kann nicht durch dämonische Kräfte bewirkt werden. Für aufmerksame Leser und Leserinnen ist klar, dass sich in dieser Begründung die Wendung Augen öffnen nicht nur auf die Heilung körperlicher, sondern auch geistlicher Blindheit bezieht. Das Bild des Hirten scheint unserem heutigen Erleben in einer industrialisierten Welt sehr fern. Und doch berührt es tiefe, uralte Schichten unserer Existenz, wenn wir irgendwo einem Hirten begegnen. Psalm 23 spricht auch noch heute zu vielen Menschen. Gerade wenn die falsche romantische Patina von dem Bild weggewischt und die harte Realität des Hirtenalltags sichtbar wird, bleibt es eine eindrückliche Veranschaulichung dessen, was fürsorgliche Leitung und Begleitung bedeuten. Im menschlichen Bereich sind wir zurückhaltend mit dem Bild. Wir sprechen nur noch selten von Gemeindehirten – obwohl es immer noch die Berufsbezeichnung Pastor gibt –, weil wir in den Gemeindegliedern keine Schäflein mehr sehen, die der Führung bedürftig sind. Aber es gibt eine bleibende Sehnsucht nach einem Gegenüber, dem man zutraut, unser Leben durch alle Irrungen und Wirrungen hindurch ans Ziel zu führen. Wenn Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte, dann lädt er ein, sich ihm anzuvertrauen und darauf zu vertrauen, dass sein Wort und sein Ruf in der oft irritierenden Vielfalt der Stimmen unserer Zeit erkennbar bleiben und in die richtige Richtung weisen wird. Der Einsatz des Lebens für andere am Beispiel des Hirten ist eine wichtige und oft vernachlässigte Veranschaulichung der Bedeutung des

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Todes Jesu. Nicht von Sühne ist die Rede, sondern davon, dass jemand stellvertretend sein Leben für andere einsetzt, um sie vor Gefahr und Tod zu bewahren. Die antike Geschichts- und Sagenüberlieferung kennt viele Beispiele von Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens ihr Land oder ihre Stadt vor Feinden, Naturkatastrophen oder dem Zorn der Götter retteten. Und bis heute bewegen uns Berichte von Ereignissen, in denen Menschen ihr Leben riskiert haben, um andere vor einer drohenden Katastrophe zu bewahren, sie von einem sinkenden Schiff oder aus einem brennenden Haus zu holen. Auf diesem Hintergrund ist das Motiv des Hirten, der sein Leben einsetzt, um die Schafe vor dem Wolf zu retten, eine wichtige Hilfe zum Verständnis der Bedeutung des Todes Jesu: In seinem Tod hat er die verderbenbringende Macht der Sünde und des Todes auf sich gezogen und so den Weg zu Gott und zum Leben frei gemacht. Auch Jesu Aussage Ich bin die Tür hat ihren sachlichen Grund in der Bedeutung seines Todes, durch den der Zugang zum Vater geöffnet wurde (vgl. Hebr 10,19f). Falsche Hirten sind gefährlich, gleich ob es sich um korrupte Politiker oder um auf Eigennutz bedachte Kirchenführer und Gemeindeleiter handelt. Im Neuen Testament findet sich an vielen Stellen eine teilweise heftige Polemik gegen sog. Irrlehrer. Das spiegelt sich auch in der Gestalt der Mietlinge und Diebe in den gleichnishaften Ausführungen über Hirte und Herde wider. Wir sind vorsichtig geworden mit dem Etikett »Irrlehre«, weil wir aus der Kirchengeschichte wissen, wie relativ diese Bezeichnung ist und wie oft sie als Waffe in kirchlichen Machtkämpfen verwendet wurde. Dennoch ist das, was hier über eine unsachgemäße Ausführung der Aufgabe eines Hirten gesagt wird, nicht nur die dunkle Folie für das, was der gute Hirte tut. Es steckt darin auch eine Warnung an alle, die in der Kirche Leitungsverantwortung haben, diese nicht zum eigenen Vorteil zu missbrauchen, sondern so wahrzunehmen, dass sie denen nützt, die ihrer Leitung anvertraut sind. Dass Jesus auch andere Schafe hat, die nicht aus diesem Stall sind, ist eine Aussage mit weitreichender Bedeutung. Für die ersten Leser und Leserinnen war der Bezug klar: Damit waren die Menschen aus den »Völkern«, also die Heiden gemeint, die nicht aus dem Volk Israel stammten und doch zur Gemeinde Jesu gehörten. Es wäre gut gewesen, wenn man in der Christenheit dieses Wort immer wieder neu gehört hätte und dafür offen gewesen wäre, dass zur Gemeinde Jesu nicht nur die Schäfchen aus dem eigenen Stall gehören. Erst die ökumenische Bewegung und manche Theologen mit einem weiten Horizont, die sie vorbereitet haben, wie Graf Zinzendorf oder John Wesley, haben den Weg zu diesem Verständnis gebahnt, das sich freilich immer noch nicht ganz durchgesetzt hat.

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10,22–42

10,22–42 Entscheidung beim Tempelweihfest 22

Es fand aber damals das Tempelweihfest in Jerusalem statt. Es war Winter, 23und Jesus ging im Heiligtum umher, (und zwar) in der Halle Salomos. 24Da umringten ihn die Juden und sagten zu ihm: Wie lange hältst du uns noch hin? Wenn du der Messias bist, sag es uns frei heraus. 25Jesus antwortete ihnen: Ich habe (es) euch gesagt, aber ihr glaubt (mir) nicht; die Werke, die ich im Namen meines Vaters tue, die legen Zeugnis für mich ab. 26Aber ihr glaubt nicht, weil ihr nicht von meinen Schafen seid. 27Meine Schafe hören auf meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, 28und ich gebe ihnen ewiges Leben und sie werden in Ewigkeit nicht zugrunde gehen, und niemand wird sie meiner Hand entreißen. 29Mein Vater, der mir (sie) gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann (sie) der Hand des Vaters entreißen. 30Ich und der Vater sind eins. 31Da hoben die Juden wieder Steine auf, um ihn zu steinigen. 32 Jesus antwortet ihnen: Viele guten Werke habe ich euch vom Vater gezeigt; wegen welchem dieser Werke wollt ihr mich steinigen? 33 Die Juden antworteten ihm: Wegen eines guten Werkes wollen wir dich nicht steinigen, sondern wegen Gotteslästerung, und (zwar) weil du, (obwohl du) ein Mensch (bist), dich zu Gott machst. 34Jesus antwortete ihnen: Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben: Ich habe gesagt, ihr seid Götter (Ps 82,6)? 35Wenn er jene Götter nennt, zu denen das Wort Gottes ergangen ist – und die Schrift kann doch nicht aufgelöst werden –, 36(warum) sagt ihr (zu dem,) den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: »Du lästerst Gott!«, weil ich sagte: Ich bin Gottes Sohn? 37Wenn ich die Werke meines Vaters nicht tue, mögt ihr mir nicht glauben, 38wenn ich (sie) aber tue, selbst wenn ihr mir nicht glaubt, glaubt doch den Werken, damit ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir (ist) und ich im Vater (bin). 39Da suchten sie ihn wieder zu verhaften, aber er entging ihren Händen. 40 Und er ging wieder weg (in die Gegend) jenseits des Jordans zu der Stelle, wo Johannes getauft hatte, und er blieb dort. 41Und viele kamen zu ihm und sagten: Johannes hat zwar keine Zeichen getan, aber alles, was Johannes über diesen gesagt hat, ist wahr. 42Und viele kamen dort zum Glauben an ihn. Die Erzählung von den Ereignissen beim Tempelweihfest umfasst die V. 22–39. Sie gliedert sich in zwei Teile: V. 22–31 und V. 32– 39. Beide enden damit, dass Jesus seine Einheit mit dem Vater betont (V. 30 und 38) und seine Gegner versuchen, ihn zu töten (V. 31) bzw. zu verhaften (V. 39). Der kurze Abschnitt V. 40–42 ist

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eine Reisenotiz, die eine Brücke zum nächsten großen Einheit, der Auferweckung des Lazarus (Kap. 11), bildet. Aber im Kontrast zu den Auseinandersetzungen beim Laubhüttenfest endet dieser Bericht damit, dass viele an Jesus glaubten (V. 42). Damit wird der ganze Komplex von Kap. 9 und 10 sehr bewusst mit einer positiven Aussage abgeschlossen. Drei Feste sind es, an denen sich der Ablauf von Kap. 7–12 orientiert: Das Laubhüttenfest (7,2.14) und die Woche vor dem Passahfest (12,1) bilden den Rahmen. In der Mitte steht das Tempelweihfest, das im Dezember, am 25. Kislew, also im Winter, gefeiert wird (22). Das Tempelweihfest (hebr.: Chanukka) wurde erstmals anlässlich der Weihe des neuen Brandopferaltars im Jahr 165 v.Chr. begangen (1Makk 4,56–59). Der alte Altar war drei Jahre zuvor durch den seleukidischen König Antiochus IV. Epiphanes entweiht worden (1Makk 1,57). Es wurde jährlich acht Tage lang gefeiert und war durch Freude und Fröhlichkeit gekennzeichnet.

Jesus ist immer noch (oder wieder) in Jerusalem und besucht das Heiligtum, also das weitläufige Tempelareal, wo er sich – wohl wegen des winterlichen Wetters – vor allem in der sog. Halle des Salomo aufhält und dort unter den Tempelbesuchern umhergeht (23). Die Halle oder Stoa des Salomo war eine riesige Wandelhalle an der Ostseite des sog. Vorhofs der Heiden. Sie war angeblich schon von Salomo erbaut worden. Doch war der Bau, den Jesus besuchte, sicher erst im Rahmen der großzügigen Tempelerneuerung durch Herodes errichtet worden. Nach Apg 3,11; 5,12 versammelte sich dort auch die Jerusalemer Gemeinde.

Doch Jesus bleibt nicht unbehelligt (24). Die Juden – und damit sind hier sicher nicht alle Festbesucher, sondern Mitglieder Jerusalemer Ordnungsbehörden gemeint – umringten ihn (wörtlich: kreisten ihn ein) und drangen mit ihren Fragen auf ihn ein: Wie lange hältst du uns noch hin? Dahinter steckt ein Vorwurf. Du redest nicht Klartext und verhüllst deine (angemaßte) Identität. Also: Wenn du der Messias bist, sag es uns frei heraus. Hintergrund der Frage sind die immer neuen Vermutungen im Volk, Jesus könnte der verheißene Messias, der Christus, sein (vgl. 7,26f.31.41f; 9,22). Nun wollen es die jüdischen Behörden genau wissen: Was sagt Jesus selbst über sich? So wird die Szene zum Tribunal. Die Art der Frage erinnert an das Verhör Jesu vor dem Hohepriester im Passionsbericht der anderen Evangelien (vgl. Mt 26,63; Mk 14,61; und besonders Lk

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22,67, wo sich der gleiche Wortlaut findet). Zwar war die Behauptung, der Messias zu sein, nach dem Gesetz kein todeswürdiges Verbrechen. Aber damit war eine Fülle möglicher Probleme für das religiöse und politische Leben verbunden, die die führenden Leute des Volks in 11,47–50 klar formulieren werden. Die Antwort Jesu überrascht (25). Denn er erwidert: Ich habe (es) euch gesagt. Aber nach dem Bericht des Johannes hat sich Jesus selbst bisher nicht eindeutig zu dieser Frage geäußert. Nur einmal hat er klar und deutlich bejaht, der Messias zu sein. Das aber war nicht in Jerusalem in aller Öffentlichkeit, sondern in dem Gespräch mit der Frau in Samaria unter vier Augen (4,26). Und doch hat er immer wieder in Worten und Taten deutlich gemacht, welche Aufgabe und Vollmacht ihm von Gott übertragen worden ist. Dieser Anspruch, von Gott zum Heil der Menschen gesandt zu sein, ist freilich viel umfassender als das, was durch einen Titel wie Messias erfasst wird. Aber das eigentliche Problem, das Jesus bei denen feststellt, die ihn fragen, liegt woanders: Ihr glaubt (mir) nicht. Nicht das angebliche Schweigen Jesu über seine wahre Identität ist schuld daran, dass unklar scheint, wer er wirklich ist, sondern dass seine Gegner sich nicht für sein Wirken öffnen und ihm glauben (vgl. Zumstein, 401). Dabei hätten sie allen Anlass dazu. Denn – so begründet das Jesus – die Werke, die ich im Namen meines Vaters tue, die legen Zeugnis für mich ab. Wenn Jesus im Johannesevangelium von seinen Werken spricht, sind damit nicht nur die Zeichen, also die aufsehenerregenden Wunder, gemeint. Seine Werke umfassen sein ganzes Wirken im Namen und Auftrag Gottes zum Heil der Menschen: seine Verkündigung, in der er den Menschen die heilvolle Gegenwart Gottes zuspricht, und sein wunderbares Handeln, in dem sie diese Gegenwart leiblich erfahren. All das sollte klar und glaubhaft bezeugen, wer Jesus ist und was er für die Menschen bedeutet. Doch darauf lassen sich Jesu Gegner nicht ein (26): Aber ihr glaubt nicht, hält Jesus ihnen vor. Und er gibt dafür auch gleich eine Begründung: weil ihr nicht von meinen Schafen seid. Das Bild vom Hirten und seinen Schafen wird wieder aufgenommen (vgl. 10,1–18). Auf den ersten Blick scheint der Grund, warum die Fragenden nicht glauben, sehr einfach zu sein: Nicht weil sie sich der Botschaft verschließen, sondern weil sie nicht zu denen gehören, die dazu erwählt und bestimmt sind, die Stimme Jesu zu hören und ihm zu folgen. Aber diese Erklärung wäre zu einfach. Das zeigt die Beschreibung derer, die sich für Jesu Worte öffnen (27): Meine Schafe hören auf meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir. Noch

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einmal wird klar gesagt, was es bedeutet, zu Jesus zu gehören: seine Botschaft zu hören und sie voll Vertrauen anzunehmen, weil sie die Gewissheit gibt: Ich bin mit meinem ganzen Leben und SoSein bei Jesus geborgen, denn er kennt mich. Das aber befähigt, sich ganz auf ihn auszurichten und an ihm und seinem Wort zu orientieren. Das hat Konsequenzen für das Heil derer, die zu Jesus gehören (28): Ich gebe ihnen ewiges Leben. Schon jetzt werden die, die sich Jesu Leitung anvertrauen, hineingenommen in das wahre Leben, das Leben, das aus der Gemeinschaft mit Gott entspringt, und das daher vom physischen Tod nicht zerstört werden kann und deshalb ewiges Leben ist und bleibt. Wer so mit Jesus lebt, braucht keine Angst vor einer ungewissen Zukunft zu haben. Für solche Menschen gilt: Sie werden in Ewigkeit nicht zugrunde gehen, keine Bedrohung durch irgendwelche Anklagen oder feindliche Mächte kann sie in ihrer Existenz vor Gott vernichten. Denn Jesus sagt ihnen zu: Niemand wird sie meiner Hand entreißen. In seiner Hand sind sie sicher und geborgen. So eindrücklich diese Zusagen sind – wir stehen wieder einmal vor der Frage: Gelten sie nur für eine (kleine) Gruppe von Erwählten, während die anderen gar keine andere Wahl haben, als nicht zu glauben? Und was hätte es dann zu bedeuten, dass Jesus als Lamm Gottes die Sünde der Welt trägt und dass es Gottes Liebe zur Welt ist, die ihn dazu brachte, seinen Sohn in diese Welt zu schicken? Diese Frage bleibt zunächst offen. V. 29 unterstreicht Jesu Zusage durch den Hinweis auf Gottes Handeln, das hinter dem steht, was Jesus verspricht. Allerdings ist der erste Teil des Verses schwer verständlich. Das zeigt sich an der Verschiedenheit der Übersetzungen. Die meisten schreiben wie LÜ: Der Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles (ähnlich EÜ; REB: größer als alle). Dagegen übersetzen die Zürcher Bibel und LÜ 2017 : Was mein Vater mir gegeben hat, ist größer als alles. Auch die Kommentare schwanken zwischen diesen beiden Lösungen; manche versuchen, den griechischen Test noch etwas genauer abzubilden: Mein Vater (im Blick auf das), was er (mir) gegeben hat, ist größer als alles … (Theobald; Zumstein). Eine Entscheidung ist schwierig. Aber gleich, wie man den Satz im Detail versteht, die Grundaussage ist klar. Das Wirken des Sohnes und insbesondere sein Verhältnis zu denen, die zu ihm gehören, ist umgriffen vom Sein und Willen des Vaters. Der Vater steht am Anfang und Ende des Satzes, er ist Anfang und Ziel der Gemeinschaft zwischen Jesus und den Seinen, einer Gemeinschaft, die er selbst gestiftet hat. Und keine Macht dieser Welt kann diese Gemeinschaft zerstören. Gott ist größer als alles, was sich

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ihm widersetzen will. Wer in der Hand Jesu geborgen ist, ist wirklich geborgen. Denn er oder sie liegt damit auch in Gottes Hand, und seiner Hand kann uns niemand entreißen. Die Begründung, die Jesus dafür gibt, ist klar und einfach (30): Ich und der Vater sind eins. Diese Aussage gehört zu den tiefgründigsten Aussagen des Evangeliums über Jesus und sein Wirken. Allerdings muss man sie genau lesen. Es heißt nicht: Ich und der Vater sind einer. Es ist keine Einheit der Personen oder des Seins, auch wenn das spätere Theologie immer wieder herausgelesen hat. Es geht um eine Einheit des Handelns. In Jesu Wirken ist Gottes Hand in dieser Welt am Werk, seine rettende und schützende Macht ist in ihm gegenwärtig (vgl. Dtn 33,3; Jes 43,13; Ps 31,6). So sind Vater und Sohn eins. Damit ist aber auch die Frage, ob er der Messias ist, auf eine andere Ebene gestellt. »Jesus ist mehr als der Messias im traditionellen Sinn. Er ist das Angesicht Gottes für die Welt« (Zumstein, 403). Für die Vertreter der jüdischen Religionsbehörde ist damit die Grenze zur Gotteslästerung überschritten (31). In V. 33 werden sie ihren Vorwurf verbalisieren: »Du machst dich selbst zu Gott«. Jetzt aber bricht sich ihre Entrüstung in einer spontanen Aktion Bahn; wieder – wie schon in 8,59 – hoben die Juden Steine auf, um ihn zu steinigen. Allerdings scheint das eher eine drohende Gebärde zu sein. Denn Jesus macht keine Anstalten, sich in Sicherheit zu bringen, sondern stellt seine Gegner wegen dieser Aktion zur Rede (32): Viele guten Werke habe ich euch vom Vater gezeigt: wegen welchem dieser Werke wollt ihr mich steinigen? Diese Worte Jesu sind vom Evangelisten sehr sorgfältig formuliert worden. Jesus spricht nicht einfach von seinen Wundern. Er verweist auf seine guten Werke. Das sind nach jüdischem Verständnis Taten, die Gottes Willen entsprechen und deshalb gut für die Menschen sind. Und er sagt auch nicht einfach, dass er sie getan hat. Er hat sie ihnen vom Vater gezeigt, das heißt: Was Jesus getan hat, hat seinen Ursprung in Gott und weist auf ihn hin. Seine Wunder sind Zeichen, die Gottes Güte und Herrlichkeit in dieser Welt aufscheinen lassen. Wie kann man einen Menschen deshalb steinigen wollen? Die Angesprochenen wehren sich (33): Wegen eines guten Werkes wollen sie ihn selbstverständlich nicht steinigen, sondern wegen seiner Gotteslästerung. Und sie begründen das auch gleich: und (zwar) weil du, (obwohl du) ein Mensch (bist), dich zu Gott machst. Für ihre Ohren klang das, was Jesus über sein Verhältnis zu Gott sagte, als wolle er sich Gott gleichstellen. In diesem Vorwurf spiegeln sich natürlich auch die Diskussionen zwischen Christen und Juden in späterer Zeit wider. Die Juden sahen in der »Ver-

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göttlichung« Jesu durch das Bekenntnis zu Jesus als »Herr und Gott« (vgl. 20,28) eine Verletzung des ersten Gebots, während die Christen dies nicht als Bekenntnis zu zwei Göttern, sondern gerade als letzte Zuspitzung des Bekenntnisses zu dem einen Gott verstanden. Die Argumentation Jesu, wie Johannes sie berichtet, mutet uns heute etwas merkwürdig an. Sie beruht aber ganz auf Voraussetzungen damaliger jüdischer Auslegung der Heiligen Schrift. Jesus antwortet mit einer Frage (34): Steht nicht in eurem Gesetz geschrieben: »Ich habe gesagt, ihr seid Götter«? Er sagt: in eurem Gesetz – nicht um sich zu distanzieren, sondern um die Gegner auf die für sie verbindliche Autorität festzulegen (vgl. zu 8,17). Jesus spricht vom Gesetz, von der jüdischen Tora, den fünf Büchern Mose, obwohl das Zitat aus Ps 82,6 stammt. Mit Gesetz ist hier also das Ganze der jüdischen heiligen Schriften gemeint, zu denen auch die Psalmen gehören. Die Worte »Ich habe gesagt« spricht in Ps 82,6 Gott selbst. Nach heutiger Auslegung gilt seine Aussage: »Ihr seid Götter und allzumal Söhne des Höchsten« ursprünglich den Göttern der Völker, die Jahwe, der Gott Israels, um sich versammelt hat und über die er Gericht hält, weil sie nicht für Recht und Gerechtigkeit gesorgt haben. Aber Jesus denkt an andere Adressaten (35). Für ihn nennt Gott jene (Leute) Götter, zu denen das Wort Gottes ergangen ist. Damit sind zweifellos die Israeliten gemeint, zu denen Gott am Sinai geredet hat. Das entspricht auch späterer rabbinischer Auslegung der Stelle. Nach ihr werden die Israeliten »deshalb ›Götter‹ und ›Kinder des Höchsten‹ genannt, weil Gott seine Worte an sie gerichtet hat« (Wengst I, 395). Das bezeugt die Heilige Schrift und – wie in einer Klammerbemerkung betont wird – sie kann doch nicht aufgelöst werden, also nicht außer Kraft gesetzt werden. Und nun folgt ein typisch rabbinischer Schluss vom Leichteren aufs Schwerere (bzw. eigentlich vom Schwereren zum Leichteren; 36): Wenn Gott nach dem Zeugnis der Schrift zu allen Israeliten sagt: »Ihr seid Götter und Söhne des Höchsten«, (warum) sagt ihr (dann zu dem,) den der Vater geheiligt (d.h. für einen besonderen Auftrag ausgesondert) und in die Welt gesandt hat: »Du lästerst Gott!«, weil ich sagte: Ich bin Gottes Sohn? Auf dem Hintergrund der genannten Auslegungstradition »beansprucht Jesus, wenn er sagt: ›Ich bin Gottes Sohn‹, nichts anderes als das, was Israel sein sollte und sein könnte, wenn es nicht der Sünde Tor und Tür geöffnet hätte« (Thyen, 504). Nachdem der Vorwurf der Gotteslästerung zurückgewiesen ist, kommt Jesus auf die Frage nach seinen Werken zurück und dar-

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auf, was sie über ihn und seinen Auftrag sagen. Dabei tritt seine Person zunächst ganz zurück. Entscheidend ist vielmehr, ob er die Werke meines Vaters tut, das heißt, ob sein Wirken in Wort und Tat dem Willen Gottes entspricht. Jesus kommt den Gegnern weit entgegen, wenn er sagt (37): Wenn ich die Werke meines Vaters nicht tue, mögt ihr mir nicht glauben. Sollte sich wirklich herausstellen, dass es nicht Gott ist, der in den Wundern Jesu und in seiner Botschaft zum Heil der Menschen wirkt, dann will Jesus keinen Glauben für sich erwarten. Doch dann gilt auch das Umgekehrte (38): Wenn ich (sie) aber tue, dann glaubt doch den Werken, und zwar selbst wenn ihr mir (als Person) nicht glaubt. Das ist eine für das Johannesevangelium ganz ungewöhnliche Trennung von Person und Werk. Es ist im Grunde ein Werben darum, dass Menschen sich aufgrund des Handelns Jesu seinem ganzen Wirken öffnen, um dadurch zu erkennen, wie Gott in ihm und durch ihn in dieser Welt gegenwärtig wird. Hier ist besonders schön zu sehen, wie Johannes Jesu Einladung zum Glauben versteht. Sie hat zum Ziel, damit ihr erkennt und wisst. Der Glaube bleibt nicht blind. Wer sich Jesus und seinem Wirken anvertraut, dessen inneres Auge wird geöffnet. Er oder sie erkennt, wie Gott durch Jesus handelt, und diese Erkenntnis wird zur bleibenden Gewissheit. Es ist die Erkenntnis, dass der Vater in mir und ich im Vater bin. Diese Beschreibung der wechselseitigen Gemeinschaft von Jesus und dem Vater gehört zu den zentralen Christusaussagen des 4. Evangeliums (vgl. 14,10f.20; 17,21–23). Sie zeigt, was das eins sein von Vater und Sohn bedeutet. Indem Jesus mit allem, was er ist, spricht und tut, Gott in dieser Welt vertritt, ist der Vater in ihm, und der Sohn ist im Vater, weil er »nichts aus sich selbst tut, sondern die Worte des Vaters spricht und seine Werke vollbringt« (Zumstein, 408). Wir stehen hier wieder vor dem Paradox der johanneischen Christusverkündigung: Diejenigen, denen gesagt wurde: »Ihr glaubt nicht, weil ihr nicht von meinen Schafen seid«, werden eingeladen, Jesus doch wenigstens um seiner Werke willen zu glauben. Und damit soll nicht nur daran erinnert werden, wie Jesus selbst seine Gegner zu überzeugen versuchte. Diese Einladung gilt allen, die das lesen. Hier wird nicht zwischen Erwählten und Nicht-Erwählten unterschieden. Die damaligen Gesprächspartner freilich lehnten es ab, sich Jesu Wort zu öffnen und sich ihm anzuvertrauen. Sie wollen ihn in ihre Hand bekommen (39): Sie versuchten, ihn wieder zu verhaften. Aber die Zeit dafür war noch nicht gekommen; er entging ihren Händen und ließ sich nicht von ihnen fassen (vgl. 7,30; 8,20).

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Eine letzte Episode schließt diesen Abschnitt ab und führt zugleich über ihn hinaus (40–42). Jesus weicht vor der aktuellen Bedrohung aus und begibt sich wieder dorthin, wo er zuerst in das Licht der Öffentlichkeit getreten war, zu der Stelle, wo Johannes getauft hatte. Dort blieb er eine ganze Zeit. Nach 1,28 hieß der Ort Betanien, aber leider ist nicht bekannt, wo er lag. Vermutlich war auch diese Gegend mehrheitlich von Juden bewohnt, aber die judäischen Behörden hatten dort keinen Zugriff auf ihn. Der Ortswechsel trägt eine tiefe Symbolik in sich. Stand am Anfang des Weges Jesu das Zeugnis des Täufers für ihn, so nun kurz vor seinem Ende dessen Bestätigung durch Menschen, die Jesus persönlich kennenlernen. Denn viele kamen zu ihm (41), und zwar offensichtlich Leute, die das Auftreten des Täufers erlebt haben. Denn sie sagten: Johannes hat zwar keine Zeichen getan, aber alles, was Johannes über diesen gesagt hat, ist wahr. Dies ist eine merkwürdige Gegenüberstellung. Hat man die Glaubwürdigkeit des Täufers in Zweifel gezogen, weil er keine Wunder getan hat? Oder ist das eine Polemik gegen spätere Anhänger des Täufers, die auch ihrem Meister Wunder zuschrieben? Soweit wir wissen, hat Johannes der Täufer sich ganz als Prophet der letzten Stunde gesehen, der das Volk zur Umkehr rief und im Vollzug der Taufe eine letzte Chance bot, dem drohenden Gericht zu entfliehen. Wunder zu tun gehörte nicht zu seinem Auftrag. Es gibt auch keine Belege dafür, dass man ihm solche Taten später zugeschrieben hätte. Der Hinweis soll den Täufer also nicht herabsetzen. Er wird vielmehr noch einmal – wie im ganzen Evangelium – ganz auf seine Rolle als Zeuge für Jesus festgelegt. Woran die Leute erkannt haben, dass alles, was Johannes über Jesus gesagt hat, wahr ist, wird nicht gesagt. Es ist wie ein Fazit der Wirksamkeit Jesu an diesem Wendepunkt seines Weges. Hier und nicht in Jerusalem stellen Menschen angesichts des Wirkens Jesu fest: Was Johannes über ihn gesagt hat, das ist wahr: Er ist wirklich Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. Das aber führt zu der knappen Feststellung (42): Und viele kamen dort zum Glauben an ihn. Das ist eine der vielen Stellen, an denen das Johannesevangelium berichtet, dass Jesu Wirken Glauben fand. Oft, aber nicht immer, wird das mit den Zeichen begründet, die er tat (2,11.23; 3,2; 4,53; 7,31; 11,45; 12,11; anders 4,39–41.50; 6,69; 8,30; 11,27; 12,42). Viele Ausleger meinen deshalb, hier und an ähnlichen Stellen, werde dieser Glaube als bloßer Wunderglaube negativ gesehen. Aber erstens ist gerade an unserer Stelle gar nicht von den Wundern Jesu die Rede und zweitens fehlt jede Andeutung dafür, dass dieser Glaube ungenügend oder unecht ist. Dass Menschen auf-

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grund der Zeichen Jesu zum Glauben kommen, wird nicht grundsätzlich negativ gesehen (vgl. 20,30f und den Vorwurf in 12,37, dass viele trotz der Zeichen nicht glauben). Gelegentlich gibt es auch kritische Worte zum Wunderglauben (4,48). Aber hier steht am Abschluss eines größeren Abschnitts das wichtige Signal: Viele glaubten an ihn. Der Bogen spannt sich vom Zeugnis des Täufers bis hin zum Wirken Jesu an gleicher Stelle, und dankbar wird festgestellt: Jesu Wort findet Glauben! Viele glaubten an ihn, das ist das positive Fazit von Kap. 9 und 10! Und anders als bei der vergleichbaren Aussage in 8,30 wird die Echtheit dieses Glaubens nicht gleich wieder infrage gestellt. Das wäre auch eine schöne »Halbzeitbilanz« für ein Evangelium, das laut der Schlussbemerkung in 20,30f geschrieben wurde, »damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias, der Sohn Gottes ist, und durch den Glauben an ihn Leben habt.« Das ist einer der Gründe, warum manche Ausleger in 10,42 das Ende des ersten großen Hauptteils des Evangeliums sehen. Kap. 11 und 12 betrachten sie als Beginn des zweiten Teils, der auf die Passionsgeschichte hinführt. Nun gibt es viele gute Gründe, diesen Einschnitt erst zwischen 12,50 und 13,1 anzusetzen (vgl. S. 17f). Aber das Körnchen Wahrheit der Alternative liegt darin, dass mit dem Ende von Kap. 10 die Frage, wer Jesus ist und was es bedeutet, an ihn zu glauben, noch einmal auf besonders eindringliche Weise aufgenommen und beantwortet wird. Wie lange hältst du uns noch hin? fragen »die Juden«. Wenn du der Messias bist, sage es frei heraus! Jesus gibt darauf keine direkte Antwort, sondern verweist zurück auf seine Verkündigung und sein Tun. Wer ist Jesus? Die knappste Antwort auf diese Frage ist auch für das Johannesevangelium die Aussage: Er ist der Christus, der Messias, der Sohn Gottes (vgl. 1,34.41.49; 11,27; 20,30f). Aber unser Abschnitt macht klar: Es muss mehr gesagt werden, damit aus diesem Bekenntnis keine Leerformel wird. Worauf dieses Bekenntnis verweist, ist die Willens- und Handlungseinheit zwischen Gott und Jesus. Ich und der Vater sind eins, das ist die eigentliche Antwort, die Jesus auf die Frage der Juden gibt. Sie sollen nicht nur glauben, sondern erkennen und wissen, dass der Vater in mir ist und ich im Vater bin. Was aber heißt das? Ich und der Vater sind eins – damit fasst Jesus nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums das Wesen seiner Sendung und das Geheimnis seiner Person zusammen. Für Johannes geht es dabei noch nicht, wie im späteren christologischen Dogma, um das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Jesu. Jesus ist eins mit dem Vater, weil er ganz in seiner Sendung aufgeht und Gottes Liebe für uns Menschen lebt. In ihm, dem Menschen Jesus von Nazareth,

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begegnet uns das Fleisch gewordene WORT Gottes, Gottes Ja zu seiner Schöpfung und zu den in ihrer Gottferne verlorenen Menschen in einzigartiger Weise. Aber warum können die einen das glauben und die anderen nicht? Wieder begegnet uns das Geheimnis des Glaubens. Zwei Sätze stehen spannungsvoll in diesem Abschnitt nebeneinander: Ihr glaubt nicht, weil ihr nicht von meinen Schafen seid. Denn meine Schafe hören meine Stimme, und sie folgen mir. Was bedeutet das? Glauben die Gegner Jesu nicht, weil sie nicht zu den Schafen Jesu gehören, oder gehören sie nicht zu den Schafen, weil sie nicht glauben? Aber wenig später steht der andere erstaunliche Satz: Wenn ihr mir nicht glaubt, glaubt doch den Werken, die ich im Einklang mit dem Vater tue! Was für eine merkwürdige Konzession macht Jesus hier, im Ringen um den Glauben seiner Gegner? Auch sie müssten doch eigentlich glauben! Offensichtlich lässt sich die Paradoxie nicht auflösen: Es ist die Stimme Jesu, sein Ruf, an dem sich entscheidet, wer zu den Seinen gehört und wer nicht. Aber seine Stimme hören und ihm folgen können nur die, die zu ihm gehören, weil er sie gerufen und zu sich gezogen hat. Die dringende Einladung ergeht an alle, und doch ist es Gnade, wenn Jesu Ruf in ein Herz dringt und es sich für ihn und die Gemeinschaft mit dem Vater öffnet. In diese Gemeinschaft zu gehören bedeutet Leben, wahres Leben, ja, unzerstörbares Leben. Denen, die Jesus folgen, gilt die Verheißung: Ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie werden in Ewigkeit nicht zugrunde gehen. Wer zu ihm gehört, ist bei ihm geborgen. Es klingt fast wie eine Garantieerklärung, wenn Jesus verspricht: Niemand wird sie meiner Hand entreißen. Niemand – keine Bedrohung von außen und keine Versuchung von innen! Ein großes Wort! Und man möchte fragen: Kann jemand sich vielleicht selbst von seiner Hand losreißen? Es mögen uns unterschiedliche Lebenswege in den Sinn kommen: Erfahrungen von solchen, die gehalten wurden, obwohl sie weit weg schienen, und von solchen, von denen wir den Eindruck haben, sie seien doch aus Gottes Hand gefallen. Aber wer darf das beurteilen? Von Jesus her gilt das Versprechen: Niemand wird sie mir aus der Hand entreißen. Es ist die johanneische Entsprechung zu dem Zeugnis des Paulus in Röm 8,38f: »Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn«.

Anhang

7,53 – 8,11 Jesus und die Ehebrecherin Diese Geschichte steht in allen Bibeln. Aber in neueren Ausgaben ist sie mit einer Anmerkung versehen. Sehr knapp heißt es in der Lutherbibel: »Der Bericht 7,53 – 8,11 ist in den ältesten Textzeugen des Johannes-Evangeliums nicht enthalten« (ähnlich REB). Die Zürcher Bibel ist etwas ausführlicher und sagt, was daraus folgt: »Die wichtigsten Handschriften enthalten Joh 7,53 – 8,11 nicht. Die entsprechenden Verse gehören nicht zum ursprünglichen Text des Evangeliums nach Johannes«. Die Einheitsübersetzung kommt zu demselben Schluss: »Dieses Stück gehört nicht zum ursprünglichen Bestand des Johannesevangeliums; die besten Textzeugen überliefern es nicht.« Sie fügt aber eine weitere Information hinzu, die erklärt, dass das die Geschichte nicht entwertet: »Die Erzählung stellt aber wohl eine alte Überlieferung dar und gehört inhaltlich zum Evangelium.« Was steckt hinter diesen knappen Anmerkungen? In der Tat findet sich die Geschichte in keiner der alten, zuverlässigen Handschriften des Johannesevangeliums. Man hat das oft damit erklärt, dass Jesu Verhalten für die Alte Kirche mit ihrer strengen Sexualmoral zu anstößig war und deshalb der Abschnitt weggelassen wurde. Aber gegen diese Hypothese und für die Annahme, dass die Geschichte ursprünglich nicht zum 4. Evangelium gehört hat, sprechen drei Gründe: 1. Die älteste griechische Handschrift des Johannesevangeliums, die die Geschichte enthält, stammt aus dem 5. Jahrhundert. Erst seit dem 9. Jahrhundert vermehrt sich die Zahl der Handschriften, in denen sie steht. Merkwürdigerweise ist sie schon etwas früher in lateinischen Handschriften enthalten. Es muss also auch schon etwas ältere griechische Manuskripte gegeben haben, die der Übersetzung ins Lateinische zugrunde lagen. Auch in der Vulgata, die um 400 n.Chr. entstand, steht sie. Dazu passt, dass lateinisch sprechende Kirchenväter wie Ambrosius (339–397 n.Chr.), Augustinus (354–430 n.Chr.) und Hieronymus (347–420 n.Chr.) sie kennen und zitieren, während sie von keinem griechisch schrei-

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benden Autor vor dem 12. Jahrhundert als Bestandteil des Johannesevangeliums erwähnt wird. 2. In einigen Handschriften steht die Geschichte nicht nach Joh 7,52, sondern entweder nach 7,36; 7,44; 21,25 oder auch bei Lk 21,38; 24,53. Man kannte also die Geschichte, wusste aber nicht, wohin sie gehört. 3. Keine der ausgeprägten stilistischen Besonderheiten, die für die Sprache des 4. Evangeliums charakteristisch sind, finden sich in diesem Abschnitt. Umgekehrt enthält er eine Reihe von Begriffen und Wendungen, die sonst nicht bei Johannes vorkommen (z.B. erscheinen nur hier die Schriftgelehrten). Auch die vorausgesetzte Situation passt nicht in den Zusammenhang von Joh 7 und 8. Zwar besteht darin Übereinstimmung, dass sich die Geschichte im Tempelbereich abspielt, wo Jesus lehrt. Aber der Übergang von 7,52 zu 7,53 ist hart, während der Neueinsatz in 8,12 überhaupt nicht zur Situation passt, die in 8,9–11 berichtet wird. Nun berichtet aber Eusebius von Cäsarea (260–340 n.Chr) in seiner Kirchengeschichte (HistEccl III 39,17), schon Papias, der Bischof von Hierapolis (ca. 60–135 n.Chr.), habe diese Geschichte erwähnt, die im Hebräerevangelium stehe. Vielleicht ist die Fassung der Geschichte, die auf einem Papyrus aus dem 4. Jh. n.Chr. gefunden wurde, ein Fragment dieses Evangeliums. Der Befund ist klar: Die Geschichte als solche ist sehr alt und war schon zu Anfang des 2. Jahrhunderts bekannt. Möglicherweise stand sie ursprünglich in dem apokryphen Hebräerevangelium. Sie wurde dann aber auch als Einzelgeschichte schriftlich weiterverbreitet, und spätestens im 4. Jahrhundert, vielleicht auch schon früher, wurde für sie ein Platz in einem der kanonischen Evangelien gesucht. Den fand sie dann zwischen Joh 7,52 und 8,12 – vielleicht dadurch motiviert, dass Jesus in 8,15 sagt: »Ich verurteile niemanden«. 53

Und sie gingen weg, jeder in sein Haus. 8 ,1Jesus aber ging zum Ölberg. 2Früh am Morgen aber kam er wieder in das Heiligtum, und das ganze Volk kam zu ihm. Und er setzte sich und lehrte sie. 3Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer bringen eine Frau, beim Ehebruch ertappt, und stellten sie in die Mitte 4und sagen zu ihm: Lehrer, diese Frau wurde auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt. 5Im Gesetz hat uns Mose geboten, solche (Frauen) zu steinigen. Was sagst denn du (dazu)? 6Das aber sagten sie, um ihn auf die Probe zu stellen, damit sie (etwas) hätten, um ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7Als sie aber dabei blieben, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der soll als erster einen Stein

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auf sie werfen. 8Und wieder bückte er sich und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das hörten, gingen sie weg, einer nach dem anderen, angefangen bei den Ältesten, und er blieb allein zurück und die Frau, die in der Mitte stand. 10Jesus richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat dich keiner verurteilt? 11Sie sagte: Keiner, Herr. Jesus aber sagte: Auch ich verurteile dich nicht. Geh, und sündige von jetzt an nicht mehr! Die Erzählung beginnt mit einer Beschreibung der Situation, in der die folgende Geschichte sich abspielt (7,53 – 8,2). Dabei ist die Angabe in V. 53 sie gingen weg, jeder in sein Haus der Abschluss einer vorhergehenden Erzählung und passt mit ihrer friedlichen Stimmung nicht zu der heftigen Auseinandersetzung in 7,45–52. Jesus, der kein Quartier in der Stadt hat, verbringt die Nacht im Freien am Ölberg und ist schon früh am Morgen wieder im Tempelbereich, wo die Menschen zu ihm kommen, um ihn zu hören (8,1f). Was hier berichtet wird, stimmt sehr genau mit einer Parallele in Lk 21,37f überein: »Tagsüber pflegte er im Tempel zu lehren, während er nachts hinausging und auf dem Berg, der Ölberg genannt wird, übernachtete. Und das ganze Volk kam frühmorgens zu ihm, um ihn im Tempel zu hören«. Die eigentliche Erzählung beginnt mit V. 3. Knapp und gerafft wird der Vorgang berichtet. Hauptakteure sind die Schriftgelehrten und Pharisäer. Die Gruppe der gesetzeskundigen Schriftgelehrten kommt sonst nicht im Johannesevangelium vor, während sie in den anderen Evangelien die Hauptgegner Jesu sind und oft zusammen mit den Pharisäern auftreten (vgl. Mt 23; Mk 7,5; Lk 5,21.30 u.ö.). Sie schleppten eine Frau mit sich, die beim Ehebruch ertappt wurde, und stellten sie in die Mitte der Zuhörerschar vor Jesus hin. Ihm berichten sie ganz knapp den Sachverhalt (4): Lehrer, diese Frau wurde auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt. Unsere Neugierde ist geweckt. Wir wüssten gerne mehr. Was war das für eine delikate Situation, bei der man diese Frau in flagranti erwischt hat? Vor allem aber: Zu einem Ehebruch gehören immer zwei. Wo ist der Mann, mit dem die Frau zusammen war? Ist er der Sittenpolizei unerkannt entwischt? Wobei davon auszugehen ist, dass die Frau verheiratet war, sodass das Urteil Ehebruch auf jeden Fall galt, gleich was für ein Mann beteiligt war. Nachdem der Tatbestand klar ist, wird die Rechtslage referiert (5). Auch sie ist eindeutig: Im Gesetz hat uns Mose geboten, solche (Frauen) zu steinigen. Damit wird auf das »Du sollst nicht ehebrechen« in den Zehn Geboten verwiesen (Ex 20,14; Dtn 5,18), vor allem aber auf die entsprechenden Strafbestimmungen in Lev

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20,10 und Dtn 22,22–24 (Stellen wie Ez 16,38–41; 23,45–48 und aus dem frühen Judentum Jub 30,8f zeigen, dass bis in neutestamentliche Zeit die Strafe der Steinigung vorgesehen war, während die spätere rabbinische Gesetzgebung die Erdrosselung vorschrieb). Dabei sagt die alttestamentliche Gesetzgebung ausdrücklich, dass beide, Mann und Frau, bestraft werden müssen. Aber hier war man nur der Frau habhaft geworden, und bis heute besteht in patriarchalisch geprägten Gesellschaften die Tendenz, Frauen bei sexuellen Vergehen härter zu bestrafen als Männer. Diese Frau wird nun also zu Jesus gebracht mit der Frage: Was sagst denn du (dazu)? Das verwundert. Warum will man Jesu Meinung wissen? Der Erzähler muss das erklären (6): Das aber sagten sie, um ihn auf die Probe zu stellen, damit sie (etwas) hätten, um ihn anzuklagen. Offensichtlich war Jesu bekannt dafür, dass er in vergleichbaren Fällen dazu neigte, Gnade vor Recht ergehen zu lassen (vgl. die Erzählung von der großen Sünderin in Lk 7,36–50). Was aber würde er in diesem eindeutigen Fall sagen? Würde er auch hier für Gnade plädieren und dadurch Geltung und Autorität des Gesetzes infrage stellen? Das wäre ein Grund für eine Anklage wegen Volksverführung und Anstiftung zum Gesetzesbruch. Würde er sich aber für die Härte des Gesetzes aussprechen, würde das seine liberale Haltung gegenüber dem Sabbatgebot infrage stellen und ihn in den Augen seiner Anhänger desavouieren, die ihn wegen seiner Souveränität dem Gesetz gegenüber liebten (zu einer ähnlichen Fangfrage vgl. die Frage nach der Steuer für den Kaiser in Mk 12,13–17). Aber Jesus geht nicht in ihre Falle. Er gab ihnen keine Antwort, sondern bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Dies ist die einzige Stelle in den Evangelien, in denen davon berichtet wird, dass Jesus etwas schrieb. Natürlich hat man viel darüber gerätselt und auch sehr fantasievolle Auskünfte darüber gegeben, was Jesus schrieb. Die Erklärung, die am ehesten einleuchtet, ist der Hinweis auf Jer 17,13, wo es heißt: »Die Abtrünnigen müssen auf die Erde geschrieben werden; denn sie verlassen den HERRN, die Quelle des lebendigen Wassers.« Hat Jesus damit gerechnet, dass die bibelfesten Schriftgelehrten diese Anspielung erkennen würden? In der Erzählung hat dieses Detail aber nur die Aufgabe, das beredte Schweigen Jesu zu veranschaulichen. Doch Jesu Gegner lassen sich nicht so leicht abwimmeln (7). Sie bleiben dabei, ihn zu fragen, und insistieren auf eine Antwort. Da richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der soll als erster einen Stein auf sie werfen. Damit nimmt Jesus eine Vor-

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schrift im Gesetz auf, die festlegt, dass die Hauptbelastungszeugen die ersten sein sollen, die einen Beschuldigten töten (Dtn 13,10; 17,7). Jesus aber interpretiert diese Vorschrift völlig neu: Nur wer ohne Sünde ist, das heißt, wer das Gesetz noch nie übertreten hat, darf den ersten Stein werfen. Das ist die praktische Anwendung seines Grundsatzes: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« (Mt 7,1). Damit wird freilich eine sehr hohe Hürde aufgestellt. Jesus lässt die, die ihn bedrängen, in Ruhe nachdenken (8). Nachdem er das gesagt hatte, bückte er sich wieder und schrieb auf die Erde. Er fixiert die Leute nicht, sondern lässt sie unbedrängt ihre Entscheidung treffen. Dann jedoch geschieht etwas ganz Unerwartetes (9): Als die Ankläger das hörten, gingen sie weg, einer nach dem anderen, und zwar angefangen bei den Ältesten, vielleicht deswegen, weil sie die größte Lebenserfahrung hatten. Zuletzt blieb Jesus allein zurück und die Frau, die in der Mitte stand. Das ist erstaunlich. Eigentlich würde man erwarten, dass da doch ein paar waren, die behaupteten: Ich habe mir nichts vorzuwerfen! Aber offensichtlich hat sie Jesu Wort getroffen und keiner wagt es, unter dieser Bedingung als erster einen Stein auf die Frau zu werfen. Nun steht sie da – ganz alleine vor Jesus, aber wohl immer noch umringt von der Menge, die das Geschehen stillschweigend und mit großem Staunen verfolgt. Doch erst jetzt reagiert Jesus (10f). Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat dich keiner verurteilt? Sie sagte: Keiner, Herr. Jesu Antwort ist knapp und klar: Auch ich verurteile dich nicht. Auch er, der nach christlicher Überzeugung »versucht wurde wie wir, doch ohne Sünde« (Hebr 4,15; vgl. 2Kor 5,21), bricht nicht den Stab über sie. Gerade deswegen entlässt er sie mit einer ganz wichtigen Weisung: Geh, und sündige von jetzt an nicht mehr! Jesus heißt die Tat der Frau nicht gut. Auch in seinen Augen ist Ehebruch Sünde. Aber er gibt einem Menschen die Chance, neu zu beginnen. Das ist eine faszinierende Geschichte. Angesichts der unsicheren Überlieferung wundert man sich ein wenig, dass sie es doch bleibend in unsere Bibelausgaben geschafft hat. Denn sie war auch für Christen mit einer strengen Sexualmoral immer etwas anstößig. Gut, dass sie Unterschlupf und Schutz im Johannesevangelium gefunden hat. Sie ist ein wunderbares Zeugnis für die Barmherzigkeit Jesu, der auch Menschen, die sich verfehlt haben, eine neue Chance gibt, ohne deshalb in eine Haltung des »Alles ist erlaubt« zu verfallen. Dennoch wird oft gefragt: Liegt dieser Erzählung wirklich eine Begebenheit mit Jesus selbst zugrunde, oder ist sie nicht doch erst später,

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vermutlich anfangs des 2. Jahrhunderts, aus Protest gegen eine immer strengere Bußpraxis in der Alten Kirche entstanden? Für eine solche Datierung könnte sprechen, dass manches in der Geschichte recht unwahrscheinlich ist. Warum konnte der mitbetroffene Mann so einfach entkommen? Ist es denkbar, dass man eine so ernste Sache zunächst einmal probehalber Jesus zur Beurteilung vorlegt? Wie stand es mit der rechtlichen Situation? Wir kennen aus dieser Zeit kein einziges beglaubigtes Beispiel dafür, dass ein Todesurteil wegen Ehebruch vollzogen wurde, zumal die jüdischen Gerichte in Judäa gar nicht berechtigt waren, Todesurteile zu fällen (vgl. 18,31). Aber es gibt auch gute Gründe, die Geschichte auf Jesus selbst zurückzuführen. Die inhaltliche Nähe zu der Geschichte von der »großen Sünderin« in Lk 7,36–50 spricht dafür. Es dürfte auch schwerfallen, in der frühen Kirche eine theologische Richtung zu finden, die eine solch liberale Haltung vertrat. Dagegen gibt es gerade aus Jerusalem Berichte über Lynchjustiz durch Steinigung, wenn auch nicht in Ehebruchsfällen (vgl. die Steinigung des Stephanus in Apg 7 und des Herrenbruders Jakobus nach Josephus, Ant 20,199–203). Vor allem aber weist die Aussage in V. 7: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie (LÜ) alle Merkmale eines echten Jesuswortes auf. Zweifellos ist die Erzählung keine detailgenaue Wiedergabe des Geschehens in der Art eines Polizeiberichts. Sie ist eine »ideale Szene«, die sich auf das für die Pointe Wesentliche beschränkt, hat aber dadurch die Treffsicherheit einer guten Karikatur. Dass sie oft mit einem stark antijüdischen Akzent ausgelegt wurde, verfehlt die Aussage der Geschichte, auch wenn es um eine Bestimmung des mosaischen Gesetzes geht. Die Geschichte spießt vielmehr die Verlogenheit einer Männergesellschaft auf, die sich mit Lust auf deviante Missetäterinnen stürzt. Sie bringt auch ans Licht, was durch Beobachtungen immer wieder bestätigt wird: Die eifrigsten Sittenwächter haben die größten Probleme mit der Sexualität. Sie bekämpfen im anderen (insbesondere aber in der anderen) den eigenen inneren Schweinehund! Das bleibt oft verborgen, hier aber wird es durch die Herausforderung Jesu offenbar. Aber auch Jesus nennt den Ehebruch der Frau Sünde. Das zeigen die Worte, die er ihr mit auf den Weg gibt: Sündige von jetzt an nicht mehr! Ist sein Verzicht auf eine Verurteilung also nur ein Freispruch auf Bewährung? Das wäre eine Fehldeutung. Was geschehen ist, bleibt ungestraft, was immer die Frau tun wird. Aber ein wirklicher Neuanfang erfordert auch eine Neuorientierung des Lebens. Wollte man freilich die ganze Geschichte kennen, müsste auch die Frau zu Wort kommen. Sie sollte sagen können, warum und wie sie in diese

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Situation kam. Es gibt so viel, was da zu sagen und zu hören wäre, vielleicht von tragischer Liebe und Zwangsverheiratung, von sanfter oder handfester Gewalt und jugendlichem Leichtsinn. Davon erzählt die Geschichte nichts, aber Jesu Wort schafft Raum dafür. Allerdings wirft Jesu Verhalten doch auch grundsätzliche Fragen auf. Könnte die Maxime: Wer unter euch ohne Sünde ist … allgemeine Regel in der Strafjustiz sein? Das scheint schwierig. Denn wer könnte dann noch ein Urteil aussprechen? Und müssen nicht Urteile gefällt werden, damit Unrecht auch Unrecht genannt wird und ein Verhalten, das einen anderen schädigt, auch für den Verursacher nicht ohne Folgen bleibt? Es ist aus verschiedenen Gründen sicher richtig, dass Ehebruch in unserem Rechtssystem nicht mehr strafrechtlich geahndet wird. Aber es gibt andere Vergehen, bei denen man schwerlich auf ein Urteil und eine angemessene Strafe verzichten kann. Doch wer wäre schon ohne Sünde – vor allem, wenn man den Maßstab Jesu in der Bergpredigt (vgl. Mt 5,21–48) anlegt? Will man also Jesu Bedingung über diesen Einzelfall hinaus berücksichtigen, wird es nicht darum gehen können, ganz auf Urteil und Strafe zu verzichten. Was aber Jesu Wort für alle Fälle fordert, ist ein reflektiertes, verstehendes Urteil, das nicht von oben herab aus der Position einer angemaßten Rechtschaffenheit ergeht, sondern im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit gefällt wird. Es fordert ein Rechtssystem, in dem Strafe nicht nur der Abschreckung dient, sondern auch Chancen zum Neubeginn bietet – so schwierig das in der Praxis des Strafvollzugs sein mag. Nicht zuletzt ist Jesu Einwand ein indirektes, aber klares Argument gegen die Todesstrafe. Es steht uns Menschen nicht zu, ein letztes Urteil über einen Menschen zu fällen. Noch eine Frage gilt es zu bedenken: Gehört diese Geschichte zum biblischen Kanon? Als die christliche Bibel entstand, stand sie noch nicht in den Handschriften des Johannesevangeliums. Ist es richtig, sie nun als Teil dieses Evangeliums in unseren Bibeln zu drucken? (Eine ähnliche Frage stellt sich bei Mk 16,9–20, dem später zugefügten Schluss des Markusevangeliums.) Für die Katholiken ist das kein Problem. Der Abschnitt steht in der offiziellen lateinischen Übersetzung der Bibel, der Vulgata, die neben dem griechischen Text kanonischen Rang in der Kirche hat, und das Konzil von Trient hat die Zugehörigkeit der Perikope zum Kanon ausdrücklich bekräftigt. Für die katholische Theologie ist dieser Vorgang auch ein wichtiges Beispiel dafür, dass es die Kirche war, die den Kanon geschaffen hat. Schwieriger ist die Sache für ein fundamentalistisches oder biblizistisches Kanonsverständnis, für das die inspirierten apostolischen Urschriften als kanonisch gelten. Nach dieser Überzeugung müsste die Perikope eigentlich weggelassen werden. Allerdings begegnet man in

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diesen Kreisen den Ergebnissen der Textkritik oft mit ziemlichen Misstrauen und hält den späteren Mehrheitstext, den sog. Textus receptus, der den Abschnitt enthält, für inspiriert. Tatsächlich ist der Befund an unserer Stelle ein wichtiges Argument für ein dynamisches Bibelverständnis. Der christliche Kanon funktioniert nicht nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip: Was drin ist, ist reines Gottes Wort, was draußen blieb, nur Menschenwort. Der biblische Kanon hat eine Mitte und einen »Rand«. Der Römerbrief und der Judasbrief haben nicht die gleiche Autorität, obwohl sie beide zum biblischen Kanon gehören. Zu diesem Rand gehören formal auch Texte, die ursprünglich nicht zu den entsprechenden Schriften gehörten, wie etwa Mk 16,9–20; Röm 16,25–27 und Joh 7,53 – 8,11, die aber nach und nach von der Mehrzahl der Handschriften übernommen wurden. Wichtig ist, die Aussagen dieser Stellen von der Botschaft der Schriften, denen sie in der späteren Überlieferung zugehören, zu unterscheiden. Aber als von der kirchlichen Überlieferung übernommene Texte, haben auch sie Anspruch auf unser aufmerksames Hören. Die formale Autorität, die der Kanon verleiht, ist eine notwendige Hilfskonstruktion, entscheidend aber ist die sachliche Autorität eines Textes.

Weiterführende Literatur

a)

Allgemeinverständliche Auslegungen

Dietzfelbinger, Christian, Das Evangeliums nach Johannes (Zürcher Bibelkommentare 4,1–2), Zürich 22004 Gnilka, Joachim, Das Johannesevangelium (Neue Echterbibel 4), Würzburg 4 1993 Maier, Gerhard, Johannes-Evangelium (Edition C Bibelkommentare 6/7), Neuhausen/Stuttgart, Bd. 1, 1984; Bd. 2, 1987 O’Day, Gail R., The Gospel of John (The New Interpreter’s Bible 9), Nashville 1995, 493–865 Porsch, Felix, Das Johannesevangelium (Stuttgarter Kleiner Kommentar Neue Folge 4), Stuttgart 21989 Smith Jr., Dwight Moody, John (Abingdon New Testament Commentaries), Nashville 1999 Wilckens, Ulrich, Das Evangelium nach Johannes (Das Neue Testament Deutsch 4), Göttingen 22000

b)

Wissenschaftliche Auslegungen

Barrett, Charles Kingsley, Das Evangelium nach Johannes (Kritisch-exegetischer Kommentar zum Neuen Testament, Sonderband), Göttingen 1990 Barth, Karl, Erklärung des Johannes-Evangeliums (Kapitel 1–8) [1925/26/ 33] (Karl-Barth-Gesamtausgabe II,4), Zürich 1976 Becker, Jürgen, Das Evangelium nach Johannes (Ökumenischer Taschenbuchkommentar 4,1–2), Gütersloh/Würzburg 31991 Beutler, Johannes, Das Johannesevangelium, Freiburg i.Br. 2013 Blank, Josef, Das Evangelium nach Johannes (Geistliche Schriftlesung, Neues Testament 4,1–3), Düsseldorf, Bd. 1a/b, 1981; Bd. 2, 21986; Bd. 3, 1977 Brown, Raymond Edward, The Gospel according to John (Anchor Bible 29/29A), New York, Bd. 1, 1966; Bd. 2, 1970 Bultmann, Rudolf, Das Evangelium nach Johannes (Kritisch-exegetischer Kommentar zum Neuen Testament 2), Göttingen 211986 Holtzmann, Heinrich Julius, Evangelium, Briefe und Offenbarung des Johannes (Hand-Commentar zum Neuen Testament 4), 3. Auflage, besorgt von W. Bauer, Tübingen 1908 Keener, Craig S., The Gospel of John I/II, Peabody 2003 Schlatter, Adolf, Der Evangelist Johannes: Wie er spricht, denkt und glaubt. Ein Kommentar zum 4. Evangelium, Stuttgart 41975

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Sonstige zitierte und wichtige neuere Literatur

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Weiterführende Literatur

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Abkürzungen

Altes Testament Gen Buch Genesis = 1. Buch Mose Ex Buch Exodus = 2. Buch Mose Lev Buch Levitikus = 3. Buch Mose Num Buch Numeri = 4.Buch Mose Dtn Buch Deuteronomium = 5. Buch Mose Jos Buch Josua Ri Buch der Richter Rut Buch Ruth 1/2Sam Erstes und zweites Buch Samuel 1/2Kön Erstes und zweites Buch der Könige 1/2Chr Erstes und zweites Buch der Chronik Esr Buch Esra Neh Buch Nehemia Est Buch Ester Hiob Buch Hiob = Ijob Ps Buch der Psalmen Spr Buch der Sprüche Salomos = Sprichwörter Pred Buch des Predigers = Kohelet Hld Hohelied Salomos Jes Buch Jesaja Jer Buch Jeremia Klgl Klagelieder Jeremias Ez Buch Ezechiel = Hesekiel Dan Buch Daniel Hos Buch Hosea Joel Buch Joel Am Buch Amos Obd Buch Obadja Jon Buch Jona Mi Buch Micha Nah Buch Nahum Hab Buch Habakuk Zef Buch Zefanja Hag Buch Haggai Sach Buch Sacharja Mal Buch Maleachi Apokryphen Jud Buch Judith Weish Weisheit Salomos

306 Tob Sir 1/2Makk

Abkürzungen

Buch Tobias Buch Jesus Sirach Erstes und zweites Buch der Makkabäer

Neues Testament Mt Evangelium nach Matthäus Mk Evangelium nach Markus Lk Evangelium nach Lukas Joh Evangelium nach Johannes Apg Apostelgeschichte Röm Brief an die Römer 1/2Kor Erster und zweiter Brief an die Korinther Gal Brief an die Galater Eph Brief an die Epheser Phil Brief an die Philipper Kol Brief an die Kolosser 1/2 Thess Erster und zweiter Brief an die Thessalonicher 1/2 Tim Erster und zweiter Brief an Timotheus Tit Brief an Titus Phlm Brief an Philemon Hebr Brief an die Hebräer Jak Brief des Jakobus 1/2 Petr Erster und zweiter. Brief des Petrus 1/2/3Joh Erster, zweiter und dritter Brief des Johannes Jud Brief des Judas Offb Offenbarung des Johannes Andere Schriften aus neutestamentlicher Zeit All Philo, Legum Allegoriae – Allegorische Erklärung der Gesetze Ant Flavius Josephus, Antiquitates – Jüdische Altertümer ApkAbr Apokalypse des Abraham AssMos Assumptio Mosis – Himmelfahrt des Mose Ber/bBer Traktat Berakhot (Segenssprüche) der Mischna bzw. des Babylonischen Talmuds BerR Bereshit Rabba – Midrasch (Auslegung) zur Genesis bBM Traktat Bawa mezija (Mittlere Pforte) des Babylonischen Talmuds bSanh Traktat Sanhedrin (Gerichtshof) des Babylonischen Talmuds Conf Philo: De confusione linguarum – Über die Verwirrung der Sprachen Fug Philo: De fuga et inventione – Über die Flucht und das Finden 1Hen 1. (= äthiopischer) Henoch Hist Tacitus Historien HistEccl Eusebius von Cäsarea, Historia Ecclesiastica – Kirchengeschichte PsSal Psalmen Salomos

Abkürzungen

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1QH

Die Hymnenrolle von Qumran (aus Höhle 1; in [ ] die ältere Zählung der Kolumnen) 1QS Die Gemeinderegel von Qumran (aus Höhle 1) Shab/tShab Traktat Schabbat (Sabbat) der Mischna und des Jerusalemer Talmuds Somn Philo, De somniis – Über die Träume SpecLeg Philo, De specialibus legibus – Über die Einzelgesetze Suk/jSuk Traktat Sukka (Laubhütte) der Mischna und des Jerusalemer Talmuds TestAbr Testament Abrahams TestLev Testament Levis Bibelübersetzungen BasisBibel BasisBibel. Das Neue Testament EÜ Einheitsübersetzung LÜ Lutherübersetzung (Revision 1964/84; in LÜ2017, der Fassung von 2017, stimmt die Verszählung in den Apokryphen mit der Einheitsübersetzung überein) REB Revidierte Elberfelder Bibel ZB Zürcher Bibel