Das »rechtliche Einstehenmüssen« beim unechten Unterlassungsdelikt: Die Emanzipation der Garantenstellung von einzelnen Fallgruppen [1 ed.] 9783428526666, 9783428126668

Bereits seit dem 19. Jahrhundert wird in der Strafrechtswissenschaft über die Frage diskutiert, wann jemand für das Ausb

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Das »rechtliche Einstehenmüssen« beim unechten Unterlassungsdelikt: Die Emanzipation der Garantenstellung von einzelnen Fallgruppen [1 ed.]
 9783428526666, 9783428126668

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Schriften zum Strafrecht Heft 195

Das „rechtliche Einstehenmüssen“ beim unechten Unterlassungsdelikt Die Emanzipation der Garantenstellung von einzelnen Fallgruppen

Von

Sibylle von Coelln

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

SIBYLLE VON COELLN

Das „rechtliche Einstehenmüssen“ beim unechten Unterlassungsdelikt

Schriften zum Strafrecht Heft 195

Das „rechtliche Einstehenmüssen“ beim unechten Unterlassungsdelikt Die Emanzipation der Garantenstellung von einzelnen Fallgruppen

Von

Sibylle von Coelln

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Passau hat diese Arbeit im Jahre 2007 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12666-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde Anfang Juli 2007 abgeschlossen und im August 2007 von der Juristischen Fakultät der Universität Passau als Dissertation angenommen. Später veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Werner Beulke, an dessen Lehrstuhl ich einige Jahre mit großer Freude als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig sein durfte, danke ich sehr herzlich für die Unterstützung während der Entstehungszeit der Dissertation sowie für deren außergewöhnlich zügige Durchsicht und Bewertung. Herrn Professor Dr. Bernhard Haffke danke ich ebenfalls für die überdurchschnittlich rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Weiter gilt mein Dank Frau Edith Kaufmann, Frau Petra Cohrs, Frau Eva Schimpfhauser, Herrn Gerd von Coelln sowie Herrn Privatdozent Dr. Christian von Coelln, die die Mühe des abschließenden Korrekturlesens auf sich genommen haben. Schließlich möchte ich an dieser Stelle von ganzem Herzen meiner Mutter Petra Cohrs sowie meinen Großeltern Edith und Günter Kaufmann dafür danken, daß sie mich während meiner gesamten Ausbildungszeit bis hin zu meiner Promotion in jeder nur denkbaren Weise gefördert und unterstützt haben. Widmen möchte ich die Arbeit den beiden Menschen, die meinen beruflichen Werdegang am stärksten geprägt und begleitet haben: Meinem Großvater Günter Kaufmann und meinem Ehemann Christian. Passau, im Herbst 2007

Sibylle von Coelln

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17

A. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

Teil 1 Der Begriff des „unechten“ Unterlassungsdelikts

20

A. Arten der Unterlassungsdelikte im Strafgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

B. Terminologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Formale Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Materielle Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Echte Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unechte Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konsequenzen dieser Auffassungen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. § 13 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. § 13 Abs. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sprachliche Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Praktikabilität und Begriffskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 21 23 23 24 26 26 27 29 29 30 30 30

Teil 2 Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB A. Strafbarkeit des Unterlassens vor der Normierung im Strafgesetzbuch . . . I. Vom Mittelalter bis zur Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Zeit der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Partikularstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Schaffung von Unterlassungsdelikten durch Wissenschaft und Praxis

32 33 33 34 35 35 36

8

Inhaltsverzeichnis a) Begehungsdelikte als Grundlage für die Bestrafung eines Unterlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Folgen für die Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Entwicklungen im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 1. Die Abkehr vom Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgen der Abwendung vom Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wissenschaftliche Ansätze zur Begrenzung der Unterlassungsstrafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Restriktion der einzelnen Garantenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strengere Anforderungen an eine Garantenstellung aus Ingerenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beschränkung aller Garantenstellungen auf bestimmte „Grundfälle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Gemeinwohl als begrenzender Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Kritik und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kriterien der Sachherrschaft und der Obhut . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Schlußfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Reaktionen in Wissenschaft und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Forderung nach einer Regelung des Unterlassens im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Fürsprecher dieser Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reaktionen im übrigen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Die Entwürfe zur Normierung des unechten Unterlassens im Strafgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Regelung in den Entwürfen eines Strafgesetzbuches von 1956 und 1959 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aufgabe der Großen Strafrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt der Beratungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis der Beratungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Regierungsentwurf von 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Alternativentwurf von 1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die aktuelle Gesetzeslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36 37 37 38 38 40 41 41 41 43 43 44 45 45 46 46 47 47 48 48 49 49 50 50 51 53 54

Inhaltsverzeichnis

9

Teil 3 Die Voraussetzungen der Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

57

A. „Unterlassen“ einer Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der strafrechtliche Begriff des Unterlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriffsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzung vom allgemeinen Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die strafrechtliche Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Objektive Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Subjektive Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subsumtion unter den Oberbegriff „Handlung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Abgrenzung zwischen positivem Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . 1. Subsidiarität des Unterlassens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das (Nicht-)Vorliegen von Begehungskausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rücktritt vom Gebotserfüllungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abbruch medizinischer Behandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Naturalistisch-ontologische Abgrenzungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Normative Abgrenzung nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit . . . a) Die sogenannte Schwerpunktformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kritische Würdigung der aufgeführten Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigener Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 57 57 58 58 60 60 61 62 63 63 63 63 65 65 66 66 67 67 67 68

B. Individuelle Handlungsfähigkeit des Unterlassenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

C. Kausalität des Unterlassens für den Erfolg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Begriffe „Erfolg“ und „Erfolgsdelikt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erfolgsdelikte und Kausalität bei positivem Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erfolgsdelikte und Kausalität beim unechten Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erfordernis einer Unterlassenskausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kausalität als Strafbarkeitsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erweiterung der üblicherweise verwendeten Definition . . . . . . . . . . . c) Anwendungsbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70 70 71 71 71 73 73 74 75

D. Objektive Zurechnung des Erfolgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

E. Rechtliches „Einstehenmüssen“ für das Ausbleiben des Erfolgs . . . . . . . . . .

77

F. Die Entsprechensklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

10

Inhaltsverzeichnis I. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 80

G. Die übrigen Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Teil 4 Die „Garantenstellung“ im besonderen A. Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Garantenpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Relevanz der Differenzierung für die Frage nach der Strafbarkeit eines Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 84 84 85 86

B. Die Theorien zur Begründung von Garantenstellungen früher und heute . . 87 I. Die formelle Rechtspflichttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Darstellung der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 II. Die materiellen Garantenlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Abhängigkeit und Vertrauen als Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . 93 a) Ableitung aus dem Gleichstellungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 aa) Bewirken eines Erfolges durch Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 bb) Garantenstellung aufgrund Abhängigkeitsverhältnisses und Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 cc) Reaktionen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Schwächen dieses Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Garant aufgrund Gefahrverursachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Inhalt und Begründung dieser Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Kritische Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Kriterium der Gefahrschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 bb) Gefahrschaffung als eine Garantengruppe unter anderen . . . . . . 98 cc) Unterlassen nur eines Garanten bei gleichzeitiger Existenz mehrerer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 dd) Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Soziologisch fundierte Garantenlehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 a) Die „soziale Rolle“ als entscheidendes Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . 99 aa) Grundvoraussetzungen des Zusammenlebens in einer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 bb) Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 cc) Normierung des Alltagslebens und Rollenverteilung . . . . . . . . . . 100 dd) Strafrechtliche Relevanz der einzelnen „Rollen“ . . . . . . . . . . . . . 101

Inhaltsverzeichnis b) Die „Systemtheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Entstehung einzelner „Systeme“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erfolgszurechnung bei „echten“ Unterlassungsdelikten . . . . . . . . cc) Erfolgszurechnung bei „unechten“ Unterlassungsdelikten . . . . . . c) Garantenstellung aufgrund gegenseitiger Erwartungshaltungen im sozialen Alltagsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rollen- bzw. Systemtheorie als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . bb) Das Entstehen gegenseitiger Verhaltenserwartungen . . . . . . . . . . cc) Zusätzliche Voraussetzungen der Strafbarkeit durch Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Konsequenzen für das Entstehen einer Garantenstellung . . . . . . d) Ablehnung der soziologischen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Schwächen der „sozialen Rolle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fehlende Praktikabilität der „Systemtheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nachteile der Theorie der gegenseitigen Erwartungshaltungen . . 4. Die Funktionenlehre und die aus ihr entwickelte Herrschaftstheorie . . . a) Ursprung und Ausprägungen der Funktionenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „Herrschaft über den Erfolgsgrund“ als Grundlage der Garantenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Dogmatische Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der vorgefundene Status quo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Entwicklungsstufen der Herrschaftstheorie . . . . . . . . . . . (a) Begehungsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Erfolgszurechnung als Strafgrund qua Natur der Sache (c) Das Tatherrschaftskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Übertragung des Tatherrschaftskriteriums auf Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Anwendung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache . . . (aa) Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Beispiele für eine solche Herrschaft . . . . . . . . . . . . . (b) Die Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers . . . . . . . (aa) Begriffsinhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Exempel aus Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vorzüge der Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Schwächen des Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Abgrenzung der Herrschaftsbegriffe von der bloßen Handlungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Inhaltliche Verschiedenheit der Herrschaftsbegriffe

11 102 102 102 102 103 104 104 105 106 107 107 108 109 110 110 112 112 112 112 112 114 114 115 117 118 118 119 120 120 121 122 122 123 124 124

12

Inhaltsverzeichnis (bb) Herrschaft als bloße Handlungsmöglichkeit . . . . . . (cc) Auswirkungen dieses dritten Herrschaftsbegriffs auf die Theorie Schünemanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zirkelschluß und fehlende dogmatische Begründung . . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Eigener Begründungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangspunkt der Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Problemlösung de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anforderungen an eine Garantenstellung de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „zwei Grundpfeiler“ einer Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erster Pfeiler: Das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte . . . . . . . a) Keine Auslegung des StGB mit Hilfe nur materieller Gesetze . . . . . b) Begrenzte Interpretationshilfe durch gleichrangige Gesetze . . . . . . . c) Normkonkretisierung durch verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Prüfungseinleitende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Schutzbereich des jeweils durch § 13 StGB tangierten Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begriff und Bedeutung des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Grundrechtsadressat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Eingriff durch § 13 StGB in diesen Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der „klassische“ Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der weiter gefaßte Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Abgrenzung des Grundrechtseingriffs von der Grundrechtsausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Grundrechtsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Verbot des Einzelfallgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Zitiergebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Das Übermaßverbot: Generelle Anforderungen an Strafgesetze (1) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Anforderungen des Übermaßverbotes an § 13 StGB . . . . . . . . . .

125 127 128 129 129 129 130 132 133 136 137 137 139 140 143 143 143 144 145 145 146 146 147 147 148 149 150 151 152 153 153 156 156 157 158 161

Inhaltsverzeichnis (1) Die (legitimen) Zwecke des § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB . . . . . . . . . . . . (b) Strafzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die absoluten Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Die relativen Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Die Vereinigungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Strafzwecke des § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Geeignetheit des § 13 StGB zur Erreichung dieser Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Erforderlichkeit des § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Normierung des Rettungsgebots außerhalb des StGB als milderes Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Festlegung einer Strafobergrenze in § 13 StGB . . . . . . . (c) Relevanz der fakultativen Strafmilderung des § 13 Abs. 2 StGB für die Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Generelle rechtliche Gleichstellung von Tun und Unterlassen keine im Rahmen der Erforderlichkeit zu berücksichtigende Regelungsalternative . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Angemessenheit des § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unangemessenheit einer Bestrafung aller Unterlassungstäter aus § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Gründe für eine solche Unangemessenheit . . . . . . . (bb) § 323c StGB kein Argument für die Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Vorgehensweise bei der Prüfung der Angemessenheit einer konkreten Anwendung des § 13 StGB . . . . . . . . . . (aa) Ermittlung und abstrakte Bewertung der durch § 13 StGB betroffenen Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . (bb) Der eigentliche Abwägungsvorgang . . . . . . . . . . . . . (cc) Zwei Varianten eines Fallbeispiels zur Erläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Abwägung der im Beispiel kollidierenden Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Rechtsfolge der Abwägung im Fallbeispiel . . . . . . . (ff) Notwendigkeit eines zusätzlichen Abwägungskriteriums für eine verhältnismäßige Bestrafung aus § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (gg) Abschließende Lösung des Fallbeispiels . . . . . . . . . . 3. Zweiter Pfeiler: Gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen . . . . . . . . a) Erfordernis des zweiten Pfeilers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Quellen für gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen . . . . . . . . . .

13 162 162 163 164 166 173 176 177 178 178 179 180

181 182 182 183 183 185 185 186 187 188 188 189

190 195 198 198 199

14

Inhaltsverzeichnis c) Funktion und Nutzen des zweiten Pfeilers bei der Auffindung von Garantenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anwendungsgebiete des zweiten Pfeilers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsprechungsbeispiele für gesellschaftliche Erwartungen . . . . . . . aa) Bereitschaftsärzte als Garanten gegenüber Kranken . . . . . . . . . . . (1) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Argumentation des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Erwartungen in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Garantenstellung des behandelnden Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anwendungsbeispiele für den eigenen Begründungsansatz . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Garantenstellung von Ehegatten füreinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Lösung mit Hilfe der ersten Säule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Schutzbereichseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Grundrechtsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Zweck der Verpflichtung von Frau M . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Geeignetheit der Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Erste Gewichtung der einander gegenüberstehenden Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Das zusätzliche Kriterium für die Anwendbarkeit des § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überprüfung anhand der zweiten Säule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abwandlung des Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unterschied zum ersten Fall hinsichtlich der Lösung . . . . . . . . . (1) Zweck des Eingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Geeignetheit der Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Erste Gewichtung der Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Keine Anwendbarkeit von § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Keine Garantenstellung von Ehegatten zum Schutz Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Keine besondere Rechtspflicht zum Schutz des anderen Ehegatten vor sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201 203 203 203 204 204 205 206 207 207 208 208 209 209 209 209 210 210 210 210 210 211 212 212 212 213 214 214 214 214 214 215 215 215 216

Inhaltsverzeichnis bb) Rechtsprechung zu dieser Fallkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Frühere Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Aktuelle Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Grund für diese Rechtsprechungsänderung . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Verantwortliche für Räume als Garant für deren Benutzer . . . . . . . . a) Beispielsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lösung mit Hilfe der ersten Säule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zweck der Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Angemessenheit der Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erste Gewichtung der einzelnen Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . (2) Anwendbarkeit des § 13 StGB nach Berücksichtigung des zusätzlichen Abwägungskriteriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Rechtsverzicht durch Aufnahme in die Wohnung . . . . . . (aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Gefahrenquellen in der Wohnung . . . . . . . . . . . . . . . (cc) (Besondere) Hilfsbedürftigkeit des eingeladenen Rechtsgutsinhabers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Überprüfung anhand der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Frühere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Aktuelle Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die gegenseitige besondere rechtliche Verpflichtung von Geschwistern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fallkonstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Inhalte der ersten Säule als Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zweck einer Handlungsverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Geeignetheit der Verpflichtung zur Erreichung dieses Zwecks . . cc) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erste Gewichtung der betroffenen Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . (2) Vorliegen des zusätzlichen Abwägungskriteriums für § 13 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Hinterfragung dieses Ergebnisses anhand der zweiten Säule . . . . . . .

15 216 216 217 218 219 219 219 220 221 221 221 222 222 222 222 223 223 223 224 224 224 226 227 227 228 228 229 229 229 229 229 230 230 230 231 231

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Inhaltsverzeichnis aa) Entscheidungen der obersten Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Urteile der unteren Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abschließende Lösung des Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zusammenfassung des eigenen Begründungsansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abschließende Definition der Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231 232 233 233 233 236

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

Einleitung A. Problemstellung Zu den sogenannten unechten Unterlassungsdelikten und seit 1975 auch zu § 13 StGB findet sich eine Vielzahl von Monographien, Aufsätzen und Urteilen. In all diesen Schriftwerken wurde das Problem, wann jemand als Garant dafür einzustehen hat, daß ein anderer keinen Schaden erleidet, bisher indes nicht zufriedenstellend gelöst.1 Die Vorschläge für eine Definition der Garantenstellung bzw. des „rechtlich Einstehenmüssens“ sind zwar mannigfaltig. Sie entstammen jedoch alle mehr oder weniger einem persönlichen Rechtsempfinden2 bzw. stützen sich auf bestimmte Fallgruppen (Garant aus familiärer Verbundenheit, aus vorangegangenem Tun, aus Vertrag etc.). Letztere sind von der Rechtsprechung anerkannt und werden immer wieder zur rechtlichen Bewertung einzelner Unterlassungstaten herangezogen. Damit herrscht im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte eine Art „case law“, das insbesondere aus dem englischen und angloamerikanischen Recht bekannt, dem deutschen Strafrecht und seiner Dogmatik freilich an sich fremd ist. Hierin ist allerdings nicht der einzige systematische Nachteil dieser Vorgehensweise zu sehen. Hinzu kommt, daß sich bei der Bildung der Garantengruppen weder die Rechtsprechung noch die strafrechtliche Literatur um eine dogmatische Einordnung bemüht.3 Zwar liest man häufig, daß es sich um gesetzliche Pflichten handeln müsse, also um Pflichten, die dem Gesetz zu entnehmen sind. Jedoch erschließt sich dem Rechtsanwender nicht, nach welchen Kriterien bestimmte Gesetze, die systematisch denselben Rang einnehmen wie das StGB 1 Ebenso Gimbernat Ordeig, ZStW 111 [1999], S. 307. In dieselbe Richtung gehen die Ausführungen Rudolphis, NStZ 1984, S. 149. Deutlich auch Seelmanns, GA 1989, S. 241 ff.: „Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte läßt heute weniger denn je klare Grenzlinien für Garantenpflichten erkennen.“ Ähnlich Bringewat, FPR 2007, S. 14; Dencker, in: FS-Stree und Wessels, 1993, S. 159; Ingelfinger, NStZ 2004, S. 410; Kretschmer, Jura 2006, S. 899; Seebode, in: FS-Spendel, 1992, S. 332 f. 2 Stree, in: FS-H. Mayer, 1966, S. 145, konstatierte – freilich vor Einführung des heutigen § 13 StGB in das Strafgesetzbuch: „Es herrscht noch weithin Unsicherheit über das, was im einzelnen vorliegen muß, damit ein Garantenverhältnis angenommen werden kann – eine Unsicherheit, die allzuleicht dazu verführt, das Rechtsgefühl zum ausschlaggebenden Beurteilungsmaßstab zu erheben.“ Seine Worte haben bis heute Gültigkeit. 3 Diese Kritik findet sich ebenfalls bei Gimbernat Ordeig, ZStW 111 [1999], S. 308, der noch auf weitere Autoren verweist.

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Einleitung

(z. B. das BGB mit seinen Vorschriften zum Ehe- und Familienrecht), als Quelle für Garantenstellungen dienen können sollen. Zudem verfolgen die herangezogenen Gesetze oftmals einen ganz anderen Telos als das Strafrecht.4 Die Entscheidungen für oder gegen eine Garantenstellung scheinen daher zumindest teilweise gleichsam nach dem Rechtsgefühl des Richters oder des Wissenschaftlers „aus dem Bauch heraus“ getroffen zu werden. Sie werden im Ergebnis (so in aller Regel auch hier) zwar nicht kritisiert, weil sie sich mit den Erwartungen und dem Rechtsgefühl der Allgemeinheit decken. Dennoch ist der Weg, der zur Erreichung dieses angestrebten Zieles beschritten wird, nicht überzeugend. Aus diesem Grund sollen in dieser Arbeit Wege aufgezeigt werden, wie unter Zuhilfenahme gängiger Auslegungsmethoden § 13 StGB im Sinne des Gesetzgebers interpretiert werden und das Erfordernis des „rechtlichen Einstehenmüssens“ dogmatisch nachvollziehbar definiert werden kann.

B. Gang der Untersuchung Will man dieses Ziel erreichen, kommt man nicht umhin, sich mit der Systematik der allgemeinen unechten5 Unterlassungsdelikte zu befassen. Dabei sollen zunächst begriffliche Fragen geklärt werden (Teil 1, S. 20 ff.). Anschließend wird mit Hilfe der Entstehungsgeschichte des § 13 StGB der Weg für die spätere Lösung bereitet (Teil 2, S. 32 ff.). Hierzu ist es ebenfalls erforderlich, sich kurz mit den allgemeinen Voraussetzungen der Strafbarkeit durch Unterlassen zu beschäftigen (Teil 3, S. 57 ff.). Auf sie wird im letzten Teil der Arbeit immer wieder Bezug genommen werden müssen. In diesem letzten und größten Teil wird sich die Arbeit mit der Garantenstellung befassen, also mit der Frage, wann jemand für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges rechtlich einzustehen hat, obwohl er selbst nicht aktiv gehandelt hat (Teil 4, S. 82 ff.). Um eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, ist es hilfreich, sich vorab einigen wenigen markanten Theorien anderer Autoren zur Begründung von Garantenstellungen zuzuwenden und diese überblicksartig darzustellen. Die Auswahl dieser Theorien ist bewußt klein gehalten. Weitere Auffassungen weichen ohnehin nur in Nuancen von den dargestellten Meinungen ab. Zudem haben sich bereits diverse Autoren intensiv mit diesen Auffassungen auseinandergesetzt, so daß ihre erneute Darstellung keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn brächte.6 4 Die hier angesprochene Rechtspflichttheorie (unten Teil 4 B.I., S. 87 ff.) war zwar um eine gewisse Dogmatik bemüht, litt jedoch aus den dargestellten Gründen an anderen Nachteilen und systematischen Unsauberkeiten. 5 Zu dem Begriff vgl. unten Teil 1 B., S. 21 ff. 6 Vgl. die Nachweise in Teil 4 Fn 6.

B. Gang der Untersuchung

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In dem inhaltlichen sowie wissenschaftlichen Schwerpunkt dieser Arbeit (Teil 4 C., S. 129 ff.) wird der Versuch unternommen, eine abstrakte rechtliche Grundlage für Garantenstellungen zu ermitteln. Dabei wird insbesondere das Ziel verfolgt, sich von den bisher dominierenden Fallgruppen zu lösen, denen es an der gerade im Strafrecht erforderlichen Bestimmtheit gebricht. Es gilt, Kriterien zu finden, die sich ausnahmslos auf alle Unterlassungskonstellationen anwenden lassen und die in jeder Situation eine verläßliche Antwort auf die Frage ermöglichen, ob der jeweilige Unterlassende Garant ist, ob er sich also wegen eines Begehungsdelikts in Kombination mit § 13 StGB strafbar machen kann oder nicht.7 Dabei spielen namentlich verfassungsrechtliche Erwägungen eine Rolle, die bei der Auslegung des § 13 StGB zum Tragen kommen.

7

Solche Kriterien fehlen bisher, vgl. die Ausführungen von Jasch, NStZ 2005, S. 8.

Teil 1

Der Begriff des „unechten“ Unterlassungsdelikts Unterlassungsdelikte werden üblicherweise eingeteilt in „echte“ und „unechte“ Unterlassungsdelikte. Die Rechtsprechung sowie die strafrechtliche Literatur verwenden diese beiden Begriffe nicht einheitlich, so daß vorab klargestellt werden soll, wie sie in dieser Arbeit verstanden werden.

A. Arten der Unterlassungsdelikte im Strafgesetzbuch Im Strafgesetzbuch finden sich verschiedene Arten von Unterlassungsdelikten. Einige Straftatbestände können nur durch Unterlassen begangen werden (beispielsweise § 323c StGB), in manchen Vorschriften werden gleichermaßen die Vornahme wie das Unterlassen einer Handlung unter Strafe gestellt (vgl. § 266 StGB1), andere Normen sind reine Begehungsdelikte (z. B. § 212 StGB), die erst in Kombination mit § 13 StGB zu Unterlassungsdelikten werden können. In den ersten beiden Fällen bedarf es zur Bestrafung aus einem Unterlassungsdelikt keines Rückgriffes auf § 13 StGB.2 Um die angesprochenen Unterlassungsarten voneinander unterscheiden zu können, ist eine terminologische Abgrenzung vonnöten; diese Aufgabe erfüllen in der Regel die Begriffe „echtes“ und „unechtes“ Unterlassen.3

1 Der Mißbrauchs- und der Treubruchstatbestand können sowohl durch Tun als auch durch Unterlassen begangen werden. So zu Recht RGSt 65, S. 333; OLG Bremen NStZ 1989, S. 228; BGHSt 36, S. 227. 2 H.M., beispielsweise Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991, 28. Abschnitt Rn. 10; Rudolphi, ZStW 86 [1974], S. 69; Tenckhoff, in: FS-Spendel, 1992, S. 354. Ebenso prinzipiell Gössel, ZStW 96 [1984], S. 332, der allerdings davon ausgeht, daß nur „in der Regel“ bei den gesetzlich geregelten echten Unterlassungsdelikten die Voraussetzungen der Sonderpflichten genannt werden. A. A. Schünemann, ZStW 96 [1984], S. 303, Fn. 50, der diese Aussage nur für die echten (nicht begehungsgleichen) Unterlassungsdelikte für richtig befindet, nicht aber für die unechten (begehungsgleichen) Omissivtatbestände. 3 Bringewat, Grundbegriffe des Strafrechts, 1. Auflage 2003, Rn. 396; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 16.

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B. Terminologische Einordnung Was allerdings genau unter „echtem“ und „unechtem“ Unterlassen zu verstehen ist, ist Gegenstand einer kontroversen Diskussion.4 Im folgenden sollen die beiden am häufigsten anzutreffenden Auffassungen kurz dargestellt werden.5

I. Formale Kriterien Echte und unechte Unterlassungsdelikte lassen sich am einfachsten nach rein formalen Kriterien unterscheiden: Danach sind echte Unterlassungsdelikte diejenigen, deren Unterlassungsstrafbarkeit ausdrücklich in einem Straftatbestand normiert ist, wie es etwa in § 138 StGB (Nichtanzeige geplanter Straftaten) und § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung) der Fall ist. Unechte Unterlassungsdelikte liegen hingegen vor, wenn ein gem. § 13 StGB Sonderpflichtiger eine Handlung unterläßt und hierdurch den Tatbestand eines Begehungsdelikts verwirklicht.6 4 Sie wird mit einer gewissen Berechtigung von Gössel, ZStW 96 [1984], S. 330, für praktisch wenig bedeutsam gehalten, da die Diskutanten in der Praxis meist zu denselben Ergebnissen gelangen. Ähnlich sieht dies Tenckhoff, in: FS-Spendel, 1992, S. 350; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S. 177. 5 Daneben existieren noch weitere Ansichten, wie man die Unterlassungsdelikte begrifflich unterscheiden sollte. So wurden früher echte und unechte Unterlassungsdelikte danach unterschieden, ob gegen ein Gebot verstoßen wurde (dann echtes Unterlassen) oder gegen ein Verbot (dann unechtes Unterlassen), vgl. die Darstellung bei Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung und Strafgesetz, 1974, S. 247 ff. m.w. N., insbesondere in Fn. 352 bis 354; Krey, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 2. Auflage 2004, Rn. 180 ff.; BGHSt 14, S. 280 [281]; OLG Düsseldorf MDR 1985, S. 342. Zudem finden sich teilweise anstelle der Begriffe „echtes“ und „unechtes“ Unterlassen die Termini „begehungsgleiches“ und „begehungsungleiches“ Unterlassen, z. B. bei Freund, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 55 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 17 ff.; Schünemann, ZStW 96 [1984], S. 302 f. Diese Begriffe verwendet auch Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991, 28. Abschnitt Rn. 10 ff., allerdings jeweils in Kombination mit echtem und unechtem Unterlassen. Nach seiner Auffassung gibt es echte begehungsgleiche und echte nicht begehungsgleiche sowie unechte begehungsgleiche und unechte nicht begehungsgleiche Unterlassungsdelikte. Diese Sichtweise kombiniert die im folgenden dargestellten formellen und materiellen Unterscheidungskriterien. 6 So Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004, S. 178 f.; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991, 28. Abschnitt Rn. 9, 12; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2006, § 35 Rn. 1 f., § 36 Rn. 1 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S. 176 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Auflage 2004, S. 330 ff.; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, Vorbem § 13 Rn. 137; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Auflage 1969, S. 202 f. Ebenso wohl Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 13 Rn. 2, allerdings unklar kommentiert Vor § 13 Rn. 11.

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Diese Differenzierung ist nachvollziehbar und wirkt auf den ersten Blick schlüssig. Gegen sie könnte indes ein rechtshistorisches Argument sprechen: Die Begriffe „echtes“ und „unechtes“ Unterlassen wurden zum ersten Mal7 zwar nicht wörtlich, aber doch dem Sinne nach im Jahre 1840 von Luden in seinen „Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte“ verwendet.8 Zum damaligen Zeitpunkt existierte keine dem § 13 StGB auch nur inhaltlich ähnelnde Norm. Selbst Armin Kaufmann, der sich über hundert Jahre später ausführlich mit der Abgrenzung der beiden Begriffe beschäftigte,9 lag noch kein entsprechender Gesetzestext vor.10 Die beiden Autoren können sich also nicht auf § 13 StGB oder eine funktional vergleichbare Vorschrift als Instrument für die Abgrenzung der einzelnen Unterlassungsdeliktsarten voneinander bezogen haben. Diesem Einwand läßt sich freilich wiederum entgegenhalten, daß es auch vor Einführung des § 13 StGB in seiner heutigen Fassung eine Strafbarkeit wegen Unterlassens gab, die sich allerdings ausschließlich auf Begehungsdelikte stützte (Begehen durch Unterlassen11). Voraussetzung hierfür war – und ist es bei § 13 StGB noch heute –, daß den Täter eine besondere Handlungspflicht 7 Dargestellt bei Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 242, und bei Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, S. 17 f. 8 Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte, Band 2, 1840, S. 219 ff., insbes. S. 242 ff.; Luden spricht von dem „Unterlassungsverbrechen als solchem“ bzw. von „Unterlassungsverbrechen im eigentlichen Sinne“ und anderen Unterlassungsstraftaten, die unter die Begehungsdelikte subsumiert werden können. Auf ihn folgten Krug, Abhandlungen – Commentar zu dem Strafgesetzbuche für das Königreich Sachsen vom 11. August 1855 und den damit in Verbindung stehenden Gesetzen, Vierte Abtheilung, 1855, und Glaser, Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, Erster (Einziger) Band, 1858, S. 290 ff. 9 Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, Göttingen 1959, S. 206 ff., 239 ff., 275 ff. 10 Zur Entstehungsgeschichte des § 13 StGB s. u. Teil 2, S. 32 ff. 11 Landsberg, Die sogenannten Commissivdelikte durch Unterlassung im deutschen Strafrecht, 1890, S. 1: „Ein praktisches Bedürfnis verlangt, dass unter diejenigen Paragraphen der Strafgesetze, welche schuldhafte Verursachung bestimmter Erfolge mit Strafe bedrohen, auch solche Fälle bisweilen miteinbezogen werden können, in welchen der zu Bestrafende jene Erfolge nicht durch Thätigkeit her[b]eiführt, sondern nur, durch Unthätigkeit, zu verhindern unterlassen hat; wir pflegen in solchen Fällen von „Commissivdelikten durch Unterlassung“ zu reden.“ Gegen diese Möglichkeit Armin Kaufmann, JuS 1961, S. 175: Grundlage seiner Argumentation ist die (damals) herrschende Meinung, der zufolge die Garantenpflicht ein zusätzliches ungeschriebenes Merkmal der Begehungstatbestände darstelle. „[. . .] denn wenn die unechte Unterlassung ein zusätzliches Merkmal aufweisen muß, um tatbestandsmäßig zu sein, dann ist der hier in Bezug genommene Tatbestand nicht der des Begehungsdelikts, der dieses Merkmal nicht aufweist, sondern ein anderer: der Garantengebotstatbestand, der eigene Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts. [. . .] Die unechten Unterlassungsdelikte sind im Verhältnis zu den Begehungsverbrechen delicta sui generis mit eigener Tatbestandlichkeit; sie stehen selbständig neben den Begehungsdelikten [. . .].“ (Hervorhebungen im Original.)

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traf und daß sein Unterlassen einem Begehen wertmäßig entspricht. Zudem mußte die Unterlassung denselben Unwert aufweisen wie das aktive Handeln.12 Stellt man auf diese Einordnung der begehungsgleichen Unterlassungsdelikte ab, spricht die Gesetzesgeschichte nicht mehr gegen die zuvor dargestellte terminologische Differenzierung: „Unechte“ Unterlassungsdelikte basierten danach auf den Begehungsdelikten und sind nur durch Garanten begehbar, während „echte“ Unterlassungsdelikte durch jedermann erfüllt werden können und im Gesetz explizit als Unterlassungsdelikte geregelt sind.

II. Materielle Anknüpfungspunkte 1. Echte Unterlassungsdelikte Überwiegend wird diese vereinfachte Sichtweise dennoch abgelehnt.13 Schon Luden hat in seinen Abhandlungen hinsichtlich der „Unterlassungen im eigentlichen Sinne“, die mit den heutigen „echten“ Unterlassungsdelikten vergleichbar sind, genauer differenziert: „Die beste Definition der Unterlassungsverbrechen im eigentlichen Sinne geben die älteren Lehrbücher, welche dieselben für die Verletzung eines Präceptivgesetzes erklären [. . .] Wenn es ein Mal bei Strafe geboten ist, gewisse Handlungen zu begehen, so liegt allerdings in der Nichtbegehung dieser Handlungen eine Uebertretung des Gebotes und ein Verbrechen, welches man Unterlassungsverbrechen nennen kann. [. . .]“14

Weiter führt er aus: „Das ist [. . .] Ansicht unserer Gesetze [. . .], welche bei den Verbrechen dieser Art auf die Verletzung des subjektiven Rechtes nirgends Rücksicht nehmen, und namentlich auch diejenigen Verbrechen, welche in einer Unterlassung als solcher bestehen, nicht als Verletzung eines subjektiven Rechtes auffassen.“15 12

Ausführlicher unten Teil 2 A., S. 33 ff. Vgl. beispielsweise Blei, Strafrecht I, 18. Auflage 1983, S. 309 f.; Bockelmann/ Volk, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1987, S. 132 f., 152, die jedoch auch mit den Begriffen des Verstoßes gegen ein „Gebot“ bei den echten bzw. gegen ein „Verbot“ bei den unechten Unterlassungsdelikten operieren; Bringewat, Grundbegriffe des Strafrechts, 1. Auflage 2003, Rn. 397 f.; Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Vor § 13 Rn. 91 mit Fn. 146; ders./Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 605 f. m.w. N.; Darstellung der h. M. bei Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 16, 21 ff.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/ Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 13 Rn. 10; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 695 ff. 14 Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte, Band 2, 1840, S. 220. 15 Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte, Band 2, 1840, S. 223. 13

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Das bedeutet in anderen Worten: „Eigentliche“ Unterlassungsdelikte sind Straftaten, für deren Erfüllung es ausreicht, daß eine rechtlich gebotene Handlung unterlassen wird – sie sind das Gegenstück zu schlichten Tätigkeitsdelikten. Es kommt nicht darauf an, ob durch dieses Unterlassen ein strafrechtlich relevanter Erfolg herbeigeführt wird. Diese Auffassung kann noch heute als herrschend bezeichnet werden.16 2. Unechte Unterlassungsdelikte Ähnlich konkret äußert sich Luden auch zu den unechten Unterlassungsdelikten, die es neben den „Unterlassungsdelikten im eigentlichen Sinne“ geben müsse: „Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, daß auch durch Unterlassungen ein Verbrechen begangen werden kann, welches nicht in der Unterlassung als solcher bestehet und dessen Grund nicht darin beruht, daß durch die Unthätigkeit selbst schon eine Zwangspflicht verletzt wurde, welche in einem Gesetze auferlegt worden war.“17

Zur Illustration schildert er den Fall, daß jemand sein Kind tötet, indem er es nicht weiter ernährt. „Die Nichterfüllung der Alimentationsverbindlichkeit an und für sich enthält Nichts Strafbares, sondern ist eine Civilverletzung, deren Ausgleichung lediglich dem Amte des Civilrichters anheim fällt; das Strafbare in diesem Falle liegt in der Tödtung und der Grund des Verbrechens darin, daß die Unterlassung, welche aber von ihrer anderen Seite aus als Handlung angesehen werden kann, die Richtung hatte, das Leben des Kindes zu verletzen.“18

Nach der Auffassung Ludens, der bis heute viele Autoren folgen,19 versteht man unter unechten Unterlassungsdelikten folglich Straftaten, bei denen die 16 Sie wird beispielsweise vertreten von BGHSt 14, S. 280 [281]; Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Auflage 2005, § 11 Rn. 94; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, S. 605; Krey, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 2. Auflage 2004, Rn. 184, obwohl er in Rn. 180, 182 nach Gebots- und Verbotsverstößen abgrenzt, die beiden Möglichkeiten zur Unterscheidung der Unterlassungsdeliktsarten also vermischt; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 13 Rn. 8 m.w. N.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 5. Auflage 2004, S. 330. 17 Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte, Band 2, 1840, S. 224. 18 Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte, Band 2, 1840, S. 224. 19 Ähnlich die Bundesregierung in ihrer Begründung zu dem Entwurf eines Strafgesetzbuchs E 1962. Die Bundesregierung konstatiert, daß echtes Unterlassen vorliege, wenn der Tatbestand dadurch verwirklicht werde, daß der Täter die gebotene Handlung unterlasse, und unechtes Unterlassen anzunehmen sei, wenn das strafrechtliche Gebot dahingehe, den tatbestandsmäßigen Erfolg zu verhindern, BT-Drucks. IV/650,

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Herbeiführung eines Erfolges zum Tatbestand gehört.20 Sie als „Spiegelbild der Erfolgsdelikte“ zu bezeichnen,21 wäre indes eine nicht ganz zutreffende Formulierung, da im Zusammenhang mit unechten Unterlassungsdelikten und § 13 StGB unter dem Terminus Erfolg (zumindest22) auch die konkrete23 oder die abstrakte24 Gefährdung des Opfers zu verstehen ist. Der Begriff ist also weiter als der Erfolg im Sinne der Tatbestandslehre, der zufolge abstrakte Gefährdungsdelikte gerade keine Erfolgsdelikte darstellen.25 S. 123. In diese Richtung auch Grünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt, 1956, S. 19. 20 Vgl. dazu BGHSt 16, S. 155 [158]. Im Ergebnis ähnlich Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 55, der sich allerdings kritisch zur Terminologie äußert: „[. . .] erweist sich auch die historisch überkommene Bezeichnung der begehungsgleichen Unterlassungsdelikte als „unechte Unterlassungsdelikte“ [. . .] als sachlich verfehlt. [. . .] Deshalb sollte die anerkanntermaßen irreführende Bezeichnung aufgegeben werden.“ Dagegen wendet sich schon viel früher Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, Göttingen 1959, S. 239, der vielmehr die Bezeichnung „Begehungsdelikt durch Unterlassen“ für irreführend befindet, weil sie darauf hindeute, daß es sich beim unechten Unterlassen eigentlich um ein „Kommissivdelikt“ handele, was nur von Binding, Normen und ihre Übertretung, Band 2: Schuld und Vorsatz, Hälfte 1: Zurechnungsfähigkeit, Schuld, 2. Auflage 1914, S. 102, 516 f., 547, vertreten worden sei. 21 Zu diesem Ergebnis käme Güntge, Begehen durch Unterlassen, 1995, S. 38, der unter „Erfolg“ im Sinne des § 13 StGB den „Erfolg im Sinne der Erfolgsdelikte“ versteht. 22 Tenckhoff, in: FS-Spendel, 1992, S. 347 ff., geht sogar davon aus, daß die Formulierung „[. . .] unterläßt, einen Erfolg abzuwenden [. . .]“ nicht nur Erfolgsdelikte und Gefährdungsdelikte umfaßt, sondern auch schlichte Tätigkeitsdelikte. Der Begriff „Erfolg“ werde vom Strafgesetzbuch an verschiedenen Stellen mit unterschiedlicher inhaltlicher Bedeutung gebraucht, so daß man darunter auch die bloße Erfüllung eines Tatbestandes verstehen kann. Das Erfordernis der Modalitätenäquivalenz stehe dieser Auffassung nicht entgegen, weil durchaus Fälle denkbar seien (z. B. § 257 StGB), in denen trotz Vorliegens eines bloßen Tätigkeitsdelikts die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen zu bejahen sei (S. 355 f.). Wenn er allerdings auf S. 358 zur Untermauerung seiner These die Vorschrift des § 138 StGB anführt, der sich z. B. bei seiner Verweisung auf § 146 StGB auch auf schlichte Tätigkeitsdelikte bezieht, so stützt er damit eher die herrschende Meinung. Diese besagt ja gerade, daß bei echten – anders als bei unechten – Unterlassungsdelikten wie § 138 die bloße Nichtvornahme einer Handlung genügt. Ein Erfolg im Sinne einer Rechtsverletzung oder konkreten Rechtsgefährdung muß nicht eintreten. Diese Auffassung teilt Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz, 1986, S. 20 ff., insbes. S. 32, 61. 23 Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, vor § 13 Rn. 14 ff. 24 BGHSt 46, S. 212 [222]; BGH NStZ 1997, S. 545 f.; Wohlers, in: Kindhäuser/ Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 13 Rn. 2; ebenso, wenn nicht sogar für ein unechtes Unterlassen durch schlichte Tätigkeitsdelikte Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 214 ff.; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 13 Rn. 3. A. A. Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 2.

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III. Konsequenzen dieser Auffassungen für die Praxis Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des § 13 StGB spielt es keine Rolle, wie man echtes und unechtes Unterlassen im einzelnen definieren möchte. Richtigerweise wird § 13 StGB nämlich nur auf diejenigen Delikte angewendet, deren Tatbestand ausschließlich durch positives Tun verwirklicht werden kann.26 1. § 13 Abs. 1 StGB Wer der formellen Ansicht folgt,27 die für die Unterscheidung zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten darauf abstellt, ob das Unterlassen in einem Straftatbestand als Begehungsform enthalten ist oder nicht, wird schon wegen der lex-specialis-Regel die allgemeine Norm des § 13 Abs. 1 StGB nicht auf die spezielleren, im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs geregelten echten Unterlassungsdelikte anwenden.28 Vielmehr kann nach dieser Sichtweise § 13 Abs. 1 StGB nur im Zusammenhang mit reinen Begehungsdelikten Anwendung finden. Befürwortet man die zweite Meinung,29 nach der echte Unterlassungsdelikte das Gegenstück zu reinen Tätigkeitsdelikten sind, unechte Unterlassungsdelikte hingegen Erfolgsdelikte i. w. S. darstellen, ist eine Garantenstellung (persönliches Einstehenmüssen für das Ausbleiben des Erfolges) im Sinne des § 13 Abs. 1 StGB ebenfalls nur bei den Unterlassungsdelikten erforderlich, die im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches als Begehungsdelikte formuliert sind: 25 Vgl. dazu Bringewat, Grundbegriffe des Strafrechts, 1. Auflage 2003, Rn. 327 ff.; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, Vor § 13 Rn. 13a. A. A. Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 2, der davon ausgeht, daß § 13 StGB auf „Erfolgsdelikte i. e. S. zugeschnitten ist“. 26 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 13; Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004, S. 178; Krey, Deutsches Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 2. Auflage 2004, Rn. 182; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz, 1986, S. 76 ff., inbes. S. 86 f., mit dem zusätzlichen Argument, daß § 13 StGB selbst keine selbständige neue Rechtsfolge (von der fakultativen Strafmilderungsoption abgesehen) anordne, sondern auf die bereits gesetzlich angeordnete Folge im Straftatbestand des Besonderen Teils verweise; im Hinblick auf die echten Unterlassungsdelikte sei diese Verweisung jedenfalls im Hinblick auf das Entsprechenserfordernis überflüssig, wenn nicht gar sinnwidrig. Tenckhoff, in: FS-Spendel, 1992, S. 354. Anders beispielsweise Gössel, ZStW 96 [1984], S. 332, der § 13 StGB auch auf diejenigen geregelten Unterlassungsdelikte anwenden will, die nicht schon selbst die Voraussetzungen der erforderlichen Schutzpflichten durch die Beschreibung des tauglichen Täterkreises enthalten. 27 Oben Teil 1 B.I., S. 21 ff. 28 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991, 28. Abschnitt Rn. 10; Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2006, § 37 Rn. 1; Rudolphi, ZStW 86 [1974], S. 69. 29 s. Teil 1 B.II., S. 23 ff.

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Hier bedarf es bestimmter in § 13 StGB beschriebener Eigenschaften des Täters, damit dieser das Begehungsdelikt auch durch Unterlassen verwirklichen kann. Anders ist dies bei den speziell normierten Unterlassungsdelikten: Einige sind von jedermann begehbar – prominentestes Beispiel ist wohl § 323c StGB –,30 andere können nur von sonderpflichtigen Tätern verwirklicht werden (beispielsweise § 266, der eine Vermögensbetreuungspflicht voraussetzt31), wobei diese Sonderpflichten in der jeweiligen Norm selbst umschrieben werden. Ein Rückgriff auf § 13 Abs. 1 StGB ist weder nach dem Zweck dieser Vorschrift noch nach deren Entstehungsgeschichte erforderlich bzw. zulässig.32 2. § 13 Abs. 2 StGB Was die Strafmilderungsoption des § 13 Abs. 2 StGB anbelangt, so gilt für sie im Ergebnis dasselbe.33 Die im Besonderen Teil ausdrücklich geregelten (nur durch Unterlassen oder durch Unterlassen wie durch aktives Handeln gleichermaßen begehbaren) Unterlassungsdelikte beinhalten ein Strafmaß, das nach dem Willen des Gesetzgebers für das dort normierte Verhalten gelten soll. Auch bei den Normen, die explizit nur Begehungsdelikte enthalten, bezieht sich das vom Gesetzgeber vorgegebene Strafmaß zunächst einmal nur auf aktive Handlungen. Für den Fall, daß die Straftatbestände durch Unterlassen erfüllt werden, 30 Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2006, § 37 Rn. 2; Cramer/ Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 323c Rn. 1; Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NomosKommentar Strafgesetzbuch, Band 2, 2. Auflage 2005, § 323c Rn. 1, 3. 31 Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 2, 2. Auflage 2005, § 266 Rn. 1, 31 ff. A. A. hinsichtlich der Vermögensbetreuungspflicht, die nur auf den Treubruchstatbestand anzuwenden sei, Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 266 Rn. 2. 32 Vgl. zu beidem Teil 2, S. 32 ff. Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 7, 60; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, § 13 Rn. 4 ff.; ders., ZStW 86 [1974], S. 68 f.; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 13 Rn. 2. Im Ergebnis wohl ebenso Gössel, ZStW 96 [1984], S. 332. A. A. BGHSt 36, S. 227 [327 f., 329] m.w. N., der § 13 Abs. 2 StGB auf alle unechten Unterlassungsdelikte anwenden will, weil der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift „eine Milderungsmöglichkeit für die Unterlassungsfälle“ schaffen wollte – eine Erwägung, die für alle Unterlassungstatbestände gelten müsse, also auch für den in dieser Entscheidung relevanten § 266 StGB. Etwas anderes gelte nur für die Omissivdelikte, für die sich im Besonderen Teil ein eigener Strafrahmen finde (z. B. §§ 315c Abs. 1 Nr. 2g; 340 StGB). 33 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 13; Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 7 ff., 60.

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Teil 1: Der Begriff des „unechten‘‘ Unterlassungsdelikts

hat der Gesetzgeber in § 13 Abs. 2 StGB eine fakultative Strafmilderung vorgesehen. Dafür, daß diese auch dem Täter eines der im Besonderen Teil abschließend geregelten Unterlassungsdelikte zugute kommen soll, finden sich keine Anhaltspunkte im Wortlaut der Norm. Ein entsprechender gesetzgeberischer Wille ist nicht erkennbar.34 Zwar könnte man argumentieren, daß sich die Vorschrift des § 13 StGB im Allgemeinen Teil befindet und damit prinzipiell für alle Delikte des Besonderen Teiles Geltung beansprucht. Doch kann diesem Argument sogleich wieder entgegengehalten werden, daß es im Besonderen Teil diverse Vorschriften gibt, welche die Anwendbarkeit von Normen des Allgemeinen Teils ausschließen. So läßt z. B. § 20 StGB, der grundsätzlich für alle Delikte des Besonderen Teiles gilt, eine Bestrafung aus § 323a StGB gerade nicht entfallen. Vielmehr bewirkt § 323a eine Bestrafung des im Tatzeitpunkt schuldunfähigen Täters in den Fällen, in denen sein Verhalten trotz Verwirklichung eines Straftatbestandes weder nach allgemeinen Regeln noch nach den Grundsätzen der actio libera in causa sanktioniert werden kann.35 Die Vorschrift des Besonderen Teiles setzt sich auf diese Weise über eine Norm des Allgemeinen Teiles hinweg. In gleicher Weise bewirken gesetzlich geregelte Unterlassungsdelikte, daß in ihrem Anwendungsbereich nicht auf § 13 Abs. 2 StGB zurückgegriffen werden kann. Es ist kein Grund erkennbar, weshalb hinsichtlich dieses Ergebnisses zwischen echten und unechten gesetzlich geregelten Unterlassungsdelikten differenziert werden sollte.36 34 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 10; ders./Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 611 f. A. A. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 250, der argumentiert, daß der Gesetzgeber die Strafmilderungsoption nur eingeführt habe, weil der Unrechts- und Schuldgehalt beim Unterlassen häufig geringer sei als der des Begehens. Diese Prämisse gelte für im Besonderen Teil geregelte und nicht geregelte Unterlassungsdelikte gleichermaßen. Mit demselben Argument und einem Hinweis auf die lex-posterior-Regel, die § 13 StGB auch auf die vor dessen Einführung bereits geregelten Unterlassungsdelikte anwendbar mache, Schünemann, ZStW 96 [1984], S. 317. Allerdings räumt Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 251 ein, daß die Strafmilderung bei den speziell normierten Unterlassungsdelikten seltener gewählt werde: „Denn wenn die Modalitäten des Unterlassens näher beschrieben werden, kann sich auch hinsichtlich der Begehungsweise eine Gleichwertigkeit ergeben, die eine Strafrahmenmilderung ausschließt. Und wenn bei Pflichtdelikten, wie der Untreue, das unterlassene Handeln in den Regelablauf des Lebens eingeplant war [. . .], muß aus diesem Grunde von der Strafmilderung abgesehen werden.“ 35 Einen Überblick über die Rechtsfigur der actio libera in causa und über die aktuelle Rechtsprechung bietet Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 415 ff. Wie die Entscheidungen BGH JR 1997, S. 391, und BGH NStZ 1999, S. 448; 2000, S. 584, zeigen, wird von dieser Rechtsfigur auch heute noch Gebrauch gemacht. 36 So jedoch Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 250; Schünemann, ZStW 96 [1984], S. 317.

B. Terminologische Einordnung

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IV. Fazit Im Ergebnis sprechen die besseren Argumente für die materiellen Kriterien der Begriffsbestimmung. 1. Sprachliche Gründe Das liegt zuvörderst in den Abgrenzungsbegriffen selbst begründet – würde es sich um die Auslegung eines Gesetzes handeln, spräche man vom „Wortlautargument“: Schlägt man den Begriff „Unterlassen“ in einem Wörterbuch nach, so findet man die Umschreibungen „eine Sache sein lassen; eine Sache bleibenlassen; darauf verzichten, eine Sache zu tun; sich einer Sache enthalten; versäumen, etwas zu tun, was notwendig, erforderlich wäre“.37 Der Unterlassende beschränkt sich auf eine rein passive Rolle und läßt allenfalls Dinge geschehen. Damit ein Verhalten sprachlich als Unterlassen qualifiziert werden kann, bedarf es keines (rechtlichen) Erfolges in der Außenwelt. Von daher ist es gerechtfertigt, in dieser Form des reinen Nichthandelns, welches schon als solches mit Strafe bedroht ist, das eigentliche, „echte“ Unterlassen zu sehen. Unechtes Unterlassen hingegen liegt vor, wenn jemand, obwohl er nicht handelt, dennoch (straf-)rechtliche Erfolge bewirkt. Sein Unterlassen entspricht nach der rechtlichen Wertung einem aktiven Tun.38 Für das Opfer spielt es im Ergebnis und dem Grunde nach schließlich keine Rolle, ob der Täter es durch Zuführen vergifteten Essens tötet oder ob er es verhungern läßt (auch wenn der Sterbevorgang sich im einzelnen durch Länge, Art und Intensität der physischen und psychischen Schmerzen unterscheiden kann). Diese Form des Unterlassens, welche die Situation des Opfers kausal und zurechenbar verschlechtert, nimmt somit eine Art „Zwitterstellung“ zwischen Begehen und Unterlassen ein und kann daher als „unechtes Unterlassen“ bezeichnet werden.39

37 Wahrig/Krämer/Zimmermann (Hrsg.), Brockhaus-Wahrig, Deutsches Wörterbuch in sechs Bänden, Sechster Band, 1984, S. 424. Ähnlich Wahrig-Burgfried (Hrsg.), Wahrig – Deutsches Wörterbuch, 8. Auflage 2006, S. 1545: „sein lassen, bleibenlassen, nicht tun, versäumen zu tun, sich enthalten“. 38 Von daher ist es verständlich, daß einige Autoren es vorziehen, von begehungsgleichem bzw. nicht begehungsgleichem Unterlassen zu sprechen, vgl. oben Fn. 5, S. 21. 39 Angesichts der amtlichen Überschrift des § 13 StGB („Begehen durch Unterlassen“) könnte man sogar auf die Idee kommen, von „unechtem Begehen“ zu sprechen. Eingebürgert hat sich jedoch der Begriff des „unechten Unterlassens“ – was im Hinblick darauf, daß dem Täter hier gerade vorgeworfen wird, etwas unterlassen zu haben, auch vorzugswürdig ist.

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Teil 1: Der Begriff des „unechten‘‘ Unterlassungsdelikts

2. Praktikabilität und Begriffskontinuität Der zweite Grund, aus dem die materiellen Abgrenzungskriterien den formellen vorzuziehen sind, ist ein rein praktischer: So unproblematisch nämlich die Unterscheidung anhand formeller Kriterien vorgenommen werden kann, so willkürlich ist sie gleichzeitig: Wenn „echte“ Unterlassungsdelikte im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches oder in seinen Nebengesetzen verankert sind, während „unechte“ Unterlassungsdelikte nicht ausdrücklich geregelt wurden, könnte jedes unechte Unterlassungsdelikt gleichsam „über Nacht“ zum echten Unterlassungsdelikt werden – der Gesetzgeber müßte es nur in den Katalog der als Unterlassungsdelikte normierten Straftaten aufnehmen.40 Auch umgekehrt könnten jedenfalls diejenigen echten Unterlassungsdelikte, die durch Begehen und Unterlassen gleichermaßen verwirklicht werden können,41 durch Streichung der Vorschrift zu unechten Unterlassungsdelikten werden.42 Ein der Abgrenzung verschiedener Delikts(unter)arten dienendes Begriffspaar wird seiner Funktion indes nicht mehr gerecht, wenn die Zuordnung zu den einzelnen Begriffen jederzeit beliebig durch den Gesetzgeber verändert werden kann. 3. Entstehungsgeschichte Daß auch die Entstehungsgeschichte des Strafgesetzbuches und die Arbeiten seiner Vordenker bzw. der Vordenker des § 13 StGB für diese Auffassung sprechen, ist oben bereits dargelegt worden.43 4. Ergebnis Aus diesen Überlegungen heraus werden in der vorliegenden Arbeit solche Delikte als echte Unterlassungsdelikte bezeichnet, die bereits durch die schlichte Nichtvornahme einer bestimmten Handlung erfüllt werden können, als unechte Unterlassungsdelikte hingegen nur solche, die einen Erfolg (im weiteren Sinne) in der Außenwelt voraussetzen. 40 Es gibt bzw. gab durchaus Vorschläge, nach denen die Unterlassungsdelikte allesamt mit ihren Voraussetzungen ausführlich im Gesetz geregelt werden sollten, vgl. dazu näher unten Teil 2 A.IV.3.c), S. 47 f. 41 Die Strafbarkeit derjenigen Unterlassungsdelikte, die keine Entsprechung in einem Begehungstatbestand finden (z. B. die unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB), würde durch Streichung dieser Delikte zur Gänze entfallen. Sie hätte keinerlei Anknüpfungspunkt im Gesetz mehr, weshalb eine Bestrafung nach dem aus Artikel 103 Abs. 2 des Grundgesetzes resultierenden Grundsatz „nulla poena sine lege“ ausschiede. 42 Jedenfalls sofern man dem Gesetzgeber unterstellen könnte, daß er trotz der Streichung das Verhalten noch als strafwürdig betrachtet, was wohl kaum zu begründen wäre. 43 Teil 1 B.II., S. 23 ff.

B. Terminologische Einordnung

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§ 13 StGB erfaßt nur unechte Unterlassungsdelikte. Zugleich sind auch die meisten unechten Unterlassungsdelikte in § 13 StGB normiert. Daher bietet es sich an, von „unechten Unterlassungsdelikten“ zu sprechen, wenn es sich um eine Kombination aus Begehungsdelikt und § 13 StGB handelt, wenn also für die Erfüllung des Tatbestandes neben den Tatbestandsmerkmalen des jeweiligen Delikts noch die Voraussetzungen des § 13 StGB erfüllt sein müssen (insbesondere eine Garantenstellung vorliegen muß). Von „besonderen unechten Unterlassungsdelikten“ soll hingegen die Rede sein, wenn die unechten Unterlassungsdelikte speziell im Besondern Teil des Strafregesetzbuches (oder eines anderen Gesetzeswerks) geregelt sind und wenn für deren Erfüllung nicht auf § 13 StGB zurückgegriffen werden muß.44 Diese Terminologie wird den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt.

44 Zu einer anderen Dreiteilung der Unterlassungsdelikte Sanchez, in: FS-Roxin, 2001, S. 641 ff.

Teil 2

Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB Unabhängig davon, welche Definition man im einzelnen für richtig hält, wird der Begriff des unechten Unterlassens1 heute vielfach wie selbstverständlich im Zusammenhang mit § 13 StGB verwendet.2 Die Norm trägt die amtliche Überschrift „Begehen durch Unterlassen“ und regelt – jedenfalls auf den ersten Blick3 – die Voraussetzungen, unter denen das Unterlassen einer Handlung strafbar ist. Der Paragraph ist jedoch im Vergleich mit dem übrigen Strafgesetzbuch, das in seinen Grundzügen auf dem Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15.5.1871 basiert, noch relativ jung: § 13 StGB wurde in seiner heutigen Form durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4.7.1969 in das Strafgesetzbuch eingefügt und ist am 1.1.1975 in Kraft getreten. Die Rechtslage vor und bis zu seiner Einfügung soll im folgenden nur überblicksartig dargestellt werden,4 da der Schwerpunkt dieser Arbeit nicht im rechtsgeschichtlichen Bereich liegt, sondern sich vielmehr dem Problem der dogmatischen Verortung der Garantenstellungen widmet, das auch heute noch aktuell ist.

1 Wie bereits in Teil 1 B.III., S. 26, gesehen, beschränkt sich die Anwendbarkeit des § 13 StGB auf die unechten Unterlassungsdelikte, auch wenn bei den „besonderen unechten Unterlassungsdelikten“ nicht auf § 13 StGB zurückgegriffen werden darf (hierzu oben Teil 1 B.IV.4., S. 30 f.). 2 Das gilt selbst für die Vertreter der hinsichtlich der Terminologie herrschenden Meinung, oben Teil 1 B.II., S. 23. 3 Dazu, daß die Norm bei weitem nicht alle Probleme gelöst hat, vgl. unten Teil 2 C., S. 54 ff., Teil 3, S. 57 ff., Teil 4, S. 82 ff. Kritisch auch Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 26. 4 Eine ausführlichere Darstellung findet man bei Metzen, Die Problematik und Funktion der fakultativen Strafmilderung für die Begehung durch Unterlassen (§ 13 Abs. 2 StGB 1975), 1977, S. 7 ff. Eine Übersicht über die Unterlassungsdelikte in der Gesetzgebung der deutschen Bundesstaaten gibt Clemens, Die Unterlassungsdelikte im deutschen Strafrecht von Feuerbach bis zum Reichsstrafgesetzbuch, 1912, S. 17 ff.

A. Strafbarkeit des Unterlassens vor der Normierung im Strafgesetzbuch

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A. Strafbarkeit des Unterlassens vor der Normierung im Strafgesetzbuch I. Vom Mittelalter bis zur Renaissance Lange vor Inkrafttreten des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich lassen sich im Mittelalter bzw. in der Renaissance erste Ansätze für die Sanktionierung von Unterlassungen finden. Einzelne Regelungen sind beispielsweise im Schwabenspiegel von 12755 oder in Art. 122 f. der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina, 1532) enthalten. Die „Carolina“, wie sie häufig verkürzt genannt wird, war eines der bedeutendsten Gesetzeswerke des Heiligen Römischen Reiches und hat weit über dessen zeitliches Ende hinaus Wirkungen entfaltet. Sie beruhte auf der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507 und normierte wie diese die durch die Praxis überlieferten Straftatbestände. Wie dem Titel des Gesetzes zu entnehmen ist, handelte es sich nicht um materielle Strafgesetzbücher, sondern vielmehr um Regelwerke, in denen insbesondere das Strafprozeßrecht normiert wurde und in die das Gerichtsorganisations- sowie das Strafvollzugsrecht Eingang fanden.6 Ein Beispiel für die punktuelle Regelung des Unterlassens findet sich bei der Regelung über strafbare Zuhälterei: Straff der jhenen so jre eheweiber oder kinder durch böses genieß willen williglich zu vnkeuschen wercken verkauffen 122. Jtem so jemandt sein eheweib oder kinder, vmb eynicherley genieß willen, wie der namen hett, williglich zu vnehrlichen, vnkeuschen vnd schendtlichen wercken gebrauchen lest, der ist ehrloß, vnd soll nach vermöge gemeyner rechten gestrafft werden.7

Dieses Exempel, bei dem der Ehemann oder Vater bestraft wurde, der gegen Zahlung eines Entgelts bei dem sexuellen „Gebrauch“ seiner Ehefrau oder seiner Kinder durch Dritte untätig geblieben ist, zeigt, daß dem damaligen Gesetzgeber zumindest die Strafwürdigkeit bestimmter Unterlassungshandlungen bewußt war. Losgelöst von einzelnen Delikten hat sich Kress in seiner Kommentierung der Constitutio Criminalis Carolina8 als erster abstrakt dem Phänomen des Un5 Dort wurde das Verhungernlassen eines Gefangenen durch den Gefängniswärter dem Erschlagen mit eigener Hand gleichgestellt. Zitiert nach Schünemann, ZStW 96 [1984], S. 288. 6 Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, Die klassischen Gesetze, München 1998, S. 1 f., 103 f. 7 Der Wortlaut der Norm findet sich abgedruckt in der historischen Gesetzesübersicht von Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, Die klassischen Gesetze, München 1998, S. 143. 8 Kress, Commentatio Succincta in Constitutionem Criminalem Caroli V. Imperatoris, 1736, Art. CXIII § 4 Anm. 3, um nur eine Fundstelle zu nennen.

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Teil 2: Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB

terlassens gewidmet. Ausgehend von dem Grundsatz, daß die Kapitalstrafe dazu diene, die Menschen davon abzuhalten, sich gegenseitig zu verletzen, sie aber nicht dazu anhalten solle, Gutes zu tun, verlangte er für die Strafwürdigkeit des Unterlassens eine rechtliche Pflicht zur Abwendung von Verletzungserfolgen. Diese Forderung griff von Feuerbach in seinem „Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts“ auf; seine Formulierung hat im wesentlichen bis heute Gültigkeit. Er legt dar, daß „die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers nur auf Unterlassungen geht“, so daß ein „Unterlassungsverbrechen immer einen besonderen Rechtsgrund [,] (Gesetz oder Vertrag) voraus[setzt], durch welchen die Verbindlichkeit zur Begehung begründet wird. Ohne diesen wird man durch Unterlassung kein Verbrecher.“9

II. Die Zeit der Aufklärung Der Gesetzgeber des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, das in seinem Strafrechtsteil aus 1577 Paragraphen bestand, übernahm diesen Denkansatz. Bereits die §§ 1 und 2 dieser Kodifikation könnten aus heutiger Sicht in die Thematik der nicht in einem besonderen Straftatbestand geregelten Unterlassungsdelikte passen: Die beiden Normen stellen nicht ein bestimmtes Unterlassen (z. B. Totschlag durch Unterlassen) unter Strafe, sondern scheinen konkrete Sonderpflichten zur Vornahme bestimmter Handlungen zu konstituieren: § 1 Eine jede Obrigkeit und jeder Vorgesetzte im Volke, muß Laster und Verbrechen bey seinen Untergebenen zu verhüten ernstlich beflissen seyn. § 2 Aeltern und Erzieher, Schul- und Volkslehrer, sind besonders verantwortlich, wenn sie die ihnen obliegenden Pflichten, in Ansehung der ihrer Aufsicht anvertrauten Personen vernachlässigen.

In dem sehr kasuistisch angelegten Strafrechtsteil des Preußischen Allgemeinen Landrechts stellten diese Normen indes keine abstrakte Regelung potentieller Garantenstellungen dar, die (wie heute § 13 StGB) vor die Klammer der Besonderen Delikte gezogen wurden und die deren Begehung durch Unterlassen ermöglichten. Es handelte sich vielmehr lediglich um allgemeine Aussagen bzw. rechtliche Grundsätze, die bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzes berücksichtigt werden mußten. Freilich finden sich auch im Preußischen Allgemeinen Landrecht jenseits der konkreten einzelnen Delikte zwei abstrakte Paragraphen zum Unterlassen, nämlich im ersten Abschnitt, der „Von Verbrechen und Strafen überhaupt“ handelt:

9 von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 11. Auflage 1832, S. 22 f.

A. Strafbarkeit des Unterlassens vor der Normierung im Strafgesetzbuch

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§ 8 Auch durch freye Unterlassung dessen, was die Gesetze von jemandem fordern, begehet derselbe ein Verbrechen. § 9 Handlungen und Unterlassungen, welche nicht in den Gesetzen verboten sind, können als eigentliche Verbrechen nicht angesehen werden, wenn gleich Einem oder dem Anderen daraus ein wirklicher Nachtheil entstanden seyn sollte.

Im übrigen findet sich im Preußischen Allgemeinen Landrecht eine Vielzahl von Delikten, die durch Unterlassen begangen werden können.10 Auch die Preußische Neue Kriminalordnung von 1805 regelte die Unterlassungsstrafbarkeit explizit im Rahmen der einzelnen Delikte. Wie fortschrittlich diese Gesetze waren, verdeutlicht eine bis heute vertretene Auffassung im Schrifttum, der zufolge eine befriedigende Regelung der Unterlassungsstrafbarkeit im Allgemeinen Teil gar nicht möglich sei. Vielmehr müßten die Voraussetzungen, unter denen sich ein Täter wegen der Nichtvornahme einer Handlung strafbar machen kann, bei dem jeweiligen Delikt des besonderen Teils aufgeführt werden.11

III. Das 19. und das beginnende 20. Jahrhundert 1. Das Partikularstrafrecht Im Partikularstrafrecht, das sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, fanden sich nur noch sehr vereinzelt Bezüge zu Unterlassungsstraftaten. So enthielt das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 (amtlicher Titel „Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern“), welches das erste Beispiel einer modernen Strafgesetzgebung in Deutschland ist, weil es materielles und prozessuales Strafrecht streng voneinander trennt, in seinem Artikel 1 die Formulierung: „Wer eine unerlaubte Handlung oder Unterlassung verschuldet, für welche ein Gesetz ein gewisses Uebel gedrohet hat, ist diesem gesetzlichen Uebel als seiner Strafe unterworfen. [. . .]“.12 Weitere bzw. genauere Regelungen finden sich im Partikularstrafrecht

10 Vgl. beispielsweise bei den Körperverletzungs- und Tötungsdelikten Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794, II 20 – Strafrecht, § 916 (der uneheliche „Schwängerer“ wird bestraft, wenn er es unterläßt, bei der „Geschwächten“ darauf hinzuwirken, daß diese nach der Niederkunft ihren Anzeigepflichten aus §§ 913 ff. nachkommt) oder § 967 (die Wöchnerin, die ihr Kind durch unterlassene Abbindung der Nabelschnur vorsätzlich verbluten läßt oder dem Kind vorsätzlich „Pflege und Wartung entzieht“, wird als Mörderin bestraft). 11 So beispielsweise Grünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt, 1956, S. 75 ff.; ders., ZStW 70 [1958], S. 424 ff.; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, 1959, S. 287 f.; ders., JuS 1961, S. 175, 176 f. Gegen die Argumentation Armin Kaufmanns in einem Korreferat Böhm, JuS 1961, S. 177 ff. Näher zur Begehung durch Unterlassen unten Teil 2 A.IV.3.c), S. 47 f. 12 Der Wortlaut der Norm ist abgedruckt in: Buschmann, Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, Die klassischen Gesetze, München 1998, S. 448.

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Teil 2: Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB

kaum,13 allenfalls werden Ausführungen zum Unterlassen im Zusammenhang mit dem nulla-poena-Grundsatz, bei den Verbrechensdefinitionen,14 bei Vorschriften über Vorsatz,15 Fahrlässigkeit,16 Erfolg17 oder Versuch18 gemacht.19 2. Die Schaffung von Unterlassungsdelikten durch Wissenschaft und Praxis a) Begehungsdelikte als Grundlage für die Bestrafung eines Unterlassens Daß auf genauere Regelungen verzichtet worden war, kann bzw. konnte jedoch nicht als Beleg dafür gesehen werden, daß der Gesetzgeber das Unterlassen einer Handlung nicht (mehr) unter Strafe stellen wollte.20 Er hatte die Voraussetzungen hierfür nur nicht selbst geschaffen. Somit oblag es der Strafrechtswissenschaft und der Rechtsprechung, Kriterien zu entwickeln, nach denen sich ein Unterlassender strafbar machen konnte. Da auch zu dieser Zeit der Grundsatz „nulla poena sine lege“ bzw. „nullum crimen sine lege“ herrschte,21 gestal13 Dies gilt ebenfalls für das 1862 in Kraft getretene Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern, welches 1871 vom Reichsstrafgesetzbuch abgelöst wurde, oder für das Preußische Strafgesetzbuch von 1851. 14 Neben dem zitierten Artikel 1 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 findet man eine solche Regelung z. B. noch in § 15 des Entwurfes eines peinlichen Gesetzbuchs für die kurpfalzbaierischen Staaten von 1802: „Jene Handlung oder Unterlassung soll als Verbrechen angesehen werden, welche in diesem Gesetzbuche unter Strafe verbothen ist.“ Zitiert nach Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung und Strafgesetz, 1974, S. 290. 15 Vgl. den Entwurf eines Strafgesetzbuches für Bayern aus dem Jahre 1822, Art. 42: „Bei einer strafrechtswidrigen Handlung oder Unterlassung wird gesetzlich angenommen, daß derjenige, der sie begangen hat, vorsätzlich gehandelt habe, solange nicht die Umstände das Gegentheil als gewiß oder wahrscheinlich ergeben.“ 16 Art. 57 des Hessischen Strafgesetzbuches, 1841: „[. . .] findet keine Bestrafung statt, wenn bei der Handlung oder Unterlassung die gewöhnlich gehörige Aufmerksamkeit und Vorsicht angewendet worden ist.“ 17 Art. 38 des Sächsischen Strafgesetzbuchs von 1855: „Als Erfolg ist jede Wirkung anzusehen, welche durch die Handlung oder Unterlassung des Verbrechers verursacht worden ist [. . .].“ 18 Beispielsweise in Art. 44 des Entwurfes für ein Strafgesetzbuch in Bayern, 1822: „Ueber den Vorsatz oder das Vorhaben einer strafbaren Handlung oder Unterlassung kann Niemand zur Untersuchung gezogen werden, wenn nicht dabei eine äußere Handlung vorkommt, welche nach den Gesetzen als Vollendung oder als Versuch eines Verbrechens oder Vergehens anzusehen ist.“ 19 s. auch Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung und Strafgesetz, 1974, S. 286 f. 20 Allerdings ist diese Auffassung umstritten, vgl. Clemens, Die Unterlassungsdelikte im deutschen Strafrecht von Feuerbach bis zum Reichsstrafgesetzbuch, 1912, S. 17 ff.; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung und Strafgesetz, 1974, S. 287. 21 s. nur § 2 des Preußischen Strafgesetzbuches von 1851: „Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Uebertretung kann mit einer Strafe belegt werden, die nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.“

A. Strafbarkeit des Unterlassens vor der Normierung im Strafgesetzbuch

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tete sich diese Schaffung von Deliktstypen jenseits des geschriebenen Rechts als äußerst schwierig. Der einzig gangbare Weg war derjenige, den Unterlassenden unmittelbar aus den Tatbeständen zu bestrafen, die eigentlich das aktive Handeln pönalisierten.22 b) Folgen für die Rechtsanwendung Diese Vorgehensweise barg ihrerseits die Gefahr, die Strafbarkeit des Unterlassens uferlos werden zu lassen, da man hierfür dieselben Bedingungen hätte genügen lassen müssen wie für die Strafbarkeit des aktiven Handelns: Wendet man nämlich die Begehungstatbestände unverändert auf Unterlassungen an, ist für deren Bejahung lediglich ein handlungsgleiches Unterlassen zusammen mit einem Erfolg – wenn es sich um Erfolgsdelikte handelt – sowie Kausalität zwischen beiden ausreichend. Auf diese Weise würde jeder, der eine Rettungshandlung zurechenbar unterläßt, zum Straftäter eines Begehungsdelikts. Die Strafrechtswissenschaft hätte konsequenterweise dieses Risiko in Kauf nehmen müssen – jedenfalls in der Zeit zwischen 1870 und 1900, in welcher der sogenannte strafrechtliche Naturalismus herrschte. Dieser stellte die Verursachung einer Rechtsgutsverletzung der Strafwürdigkeit und damit der Strafbarkeit der Rechtsgutsverletzung gleich.23 Folglich war jeder als Straftäter zu qualifizieren, dessen aktives oder passives Handeln für den Eintritt eines Erfolges ursächlich geworden war. Diese Konsequenz war im Schrifttum zwar nicht erwünscht, ließ sich ohne Aufgabe der vertretenen Dogmatik jedoch nicht vermeiden. Die Rechtsprechung trug dieses Ergebnis freilich nicht mit. Sie hielt so unbeirrt an der Rechtspflichttheorie von von Feuerbach fest, daß sich nach und nach auch die Literatur wieder dieser Auffassung anschloß. 3. Der amtliche Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches Im Jahre 1906 wurde eine Kommission eingesetzt, die einen Entwurf für ein Allgemeines Strafgesetzbuch erarbeiten sollte. Es dauerte indes – nicht zuletzt aufgrund des Ersten Weltkrieges – 19 Jahre, in denen weitere Kommissionen diese Aufgabe verfolgten, bis 1925 der Entwurf eines solchen Gesetzes amtlich veröffentlicht wurde.

22 Die unechten Unterlassungsdelikte wurden lange als eine „spezifische Abart“ der Begehungsdelikte gesehen, Busch, in: FS-von Weber, 1963, S. 193 f. 23 Der Grund dafür war, daß sich die Naturalisten „dem Exaktheitsideal der Naturwissenschaften unterwerfen und das Strafrechtssystem demzufolge auf messbare, empirisch nachzuweisende Realitätsbestandteile zurückführen wollte[n].“ (Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 7 Rn. 20).

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Teil 2: Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB

Dieses Gesetz enthielt in seinem § 1 den Grundsatz, daß „eine Tat nur dann mit einer Strafe belegt werden [kann], wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“ Zudem enthielt es einen § 14, der die „Herbeiführung eines Erfolges durch Unterlassung“ regelte: „Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, obwohl er hierzu rechtlich verpflichtet ist, wird ebenso bestraft, wie jemand, der den Erfolg verursacht. Wer die Gefahr, daß ein bestimmter Erfolg eintritt, durch seine Tätigkeit herbeiführt, ist verpflichtet, den Erfolg abzuwenden.“

Wann jemand „rechtlich verpflichtet“ sein sollte, einen Erfolg abzuwenden, regelte dieser Gesetzentwurf nicht. Im übrigen trat das Gesetz nie in Kraft, so daß die Kriterien für eine Unterlassungsstrafbarkeit weiterhin außergesetzlich bestimmt werden mußten. Nachdem die Literatur wieder der Rechtsprechung und damit von Feuerbachs Rechtspflichttheorie folgte, wurden um das Jahr 1930 einmütig all diejenigen aus den Begehungsdelikten bestraft, die es unter Verstoß gegen eine aus Gesetz, Vertrag oder vorangegangenem Tun folgende Pflicht unterließen, den tatbestandsmäßigen Erfolg zu verhindern.

IV. Die Entwicklungen im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts 1. Die Abkehr vom Zivilrecht Die Pflichten aus Vertrag oder Gesetz wurden primär dem Zivilrecht entnommen. Es handelte sich um „metastrafrechtliche“ Sonderpflichten,24 also um Pflichten, die außerhalb des Strafrechts entstanden. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts begann man, die Richtigkeit dieser dogmatischen Vorgehensweise anzuzweifeln. Strenggenommen paßte in dieses System nämlich schon die aus vorangegangenem Tun folgende Handlungspflicht nicht, da das vorangegangene Tun nicht zwangsläufig eine außerstrafrechtliche Pflicht verletzt; diese aus Ingerenz folgende Sonderpflicht erinnerte vielmehr eher an den überkommenen strafrechtlichen Naturalismus. Des weiteren begann sich die Strafrechtswissenschaft zunehmend vom Zivilrecht zu emanzipieren.25 24

Vgl. zu diesem Begriff Schünemann, ZStW 96 [1984], S. 291 f. Umfassend hierzu Bruns, Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken, 1938, m.w. N., insbesondere auf S. 22 ff., 265 ff. Konkret zu den Unterlassungsdelikten und der Garantenstellung ders., Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken, 1938, S. 265: „Von dem neueren Schrifttum allgemein anerkannt ist die Erkenntnis, daß es nicht angeht, i. S. der von der früher herrschenden Lehre vertretenen sog. Rechtspflichttheorie unmittelbar aus privatrechtlichen Bestimmungen, insbesondere dem BGB, oder aus der Existenz eines vertraglichen Anspruchs auf ein unterlassenes Tun, mit Strafsanktion ausgestattete Rechtspflichten herzuleiten und so die 25

A. Strafbarkeit des Unterlassens vor der Normierung im Strafgesetzbuch

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Es setzte sich die Erkenntnis durch, daß nicht jede Verletzung einer zivilrechtlichen Pflicht bzw. Norm eine Strafbarkeit wegen aktiven Tuns oder Unterlassens nach sich ziehen kann.26 So ist es zum Beispiel denkbar, daß aufgrund des Abschlusses eines nichtigen Vertrages strafrechtliche Sonderpflichten entstehen. Andererseits führt ein zivilrechtlich wirksamer Vertrag, der pflichtwidrig nicht vollzogen wird, nicht zwangsläufig zu strafrechtlichen Handlungspflichten.27 Man stelle sich beispielsweise vor, eine 15jährige Schülerin schließt mit den Eltern eines zweijährigen Kindes einen Vertrag, in welchem sich die Schülerin verpflichtet, gegen Zahlung von Entgelt während der dreistündigen Abwesenheit der Eltern das Kind zu hüten. Die Eltern der Schülerin haben in diesen Vertragsschluß nicht eingewilligt (§ 107 BGB) und verweigern auch dessen Genehmigung (§ 108 BGB). Der Vertrag ist also nichtig. Hat die Schülerin während der vertraglich vereinbarten drei Stunden dennoch die Aufsicht über das Kind übernommen, so oblag ihr die tatsächliche Verantwortung für die Unversehrtheit des Kindes. Das Kind selbst ist nicht fähig, Unheil von sich abzuwenden, die Eltern des Kindes hatten es im Vertrauen auf die Schülerin in deren Obhut gelassen. Durch diese faktische Übernahme von Verantwortung ist eine strafrechtliche Sonderpflicht der Schülerin gegenüber dem Kind entstanden. Fiele das Kind während der Aufsichtszeit in einen Teich, wäre die Schülerin verpflichtet, das Kind herauszuziehen. Ebenso müßte sie beispielsweise verhindern, daß sich das Kind mit einem Küchenmesser verletzt, das es in einer Schublade gefunden hat. Andererseits ist die Konstellation denkbar, daß die Schülerin bei Vertragsschluß volljährig war, der Vertrag also wirksam zustande gekommen ist. An dem Tag, an dem sie das Kind hüten soll, erscheint sie jedoch nicht, so daß die Mutter bei ihrem Kind bleiben muß. Fällt das Kind jetzt in den Teich oder greift es nach einem Küchenmesser, kann die Schülerin strafrechtlich nicht zur Grundlage für die Regelung der unechten Unterlassungsdelikte zu schaffen. [. . .] selbst die hier früher etwas rückständige Rechtsprechung hat sich ihr bereits weitgehend angeschlossen, so daß wir auch diese Entwicklung „geradezu als Musterbeispiel“ für die Überwindung der „von uns heute abgelehnten Zivilisierung des Strafrechts“ (Schaffstein) bezeichnen können.“ 26 In diesem Sinne auch Günther, JuS 1978, S. 8: „So dienen etwa Strafrecht, Verwaltungsrecht oder Bürgerliches Recht unterschiedlichen Zwecken, bedarf deshalb die Frage nach dem Inhalt der Gesetzgebung für diese Disziplinen spezifisch-eigenständiger Antworten.“ (Hervorhebung im Original.) 27 Hierzu ausführlich Schaffstein, in: FS-Gleispach, 1936, S. 70 ff., insbesondere S. 79 f. So verneinte das KG in einer Entscheidung (abgedruckt in wistra 2002, S. 313 ff.) sogar einmal die Unterlassungshaftung eines GmbH-Geschäftsführers, der zwar formell ordnungsgemäß bestellt worden war, dem jedoch tatsächlich neben dem faktischen (nicht bestellten) Geschäftsführer keinerlei Befugnisse zustanden, aufgrund derer er für die GmbH hätte tätig werden können. Dagegen freilich Maurer, wistra 2003, S. 174 ff.

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Teil 2: Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB

Verantwortung gezogen werden, wenn sie Rettungsmaßnahmen unterläßt. Die zivilrechtliche Wirksamkeit des Vertrages sowie die hieraus resultierenden Primär- und Sekundärleistungspflichten der Schülerin sind insofern irrelevant. Strafrechtlich hat nur die Mutter für das Wohl des Kindes einzustehen, da sich die Schülerin nicht in eine Situation begeben hat, in der sie diese Pflichten auch tatsächlich von der Mutter übernommen hat. Sie steht trotz des wirksamen Vertrages mangels realer Sonderbeziehung zu dem Kind diesem wie jeder Dritte gegenüber.28 Folglich kann zwar jemand, der bestimmte zivilrechtliche Pflichten innehat, zugleich Garant sein. Nicht jede zivilrechtliche Pflicht begründet jedoch per se eine Garantenstellung. Andererseits muß auch nicht jede Garantenstellung aus zivilrechtlichen Pflichten resultieren. 2. Folgen der Abwendung vom Zivilrecht Als Konsequenz dieser Abkehr vom Zivilrecht kam es für die Unterlassungsstrafbarkeit Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht mehr darauf an, ob Sonderpflichten durch Vertrag begründet wurden, sondern nur noch darauf, ob diese Pflichten tatsächlich übernommen worden waren.29 Die aus dem Vierten Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches stammenden familiären Pflichten konnten zwar weiterhin eine strafrechtlich relevante Sonderpflicht begründen; daneben ließ man aber beispielsweise ebenso eine „enge natürliche Verbundenheit“ ausreichen.30 Auch hier wurde demnach weniger auf die rechtlichen als auf die tatsächlichen Verhältnisse abgestellt. Jedenfalls der Begriff der „Rechtspflicht“ als Voraussetzung für die Unterlassungsstrafbarkeit war aufgrund dieser Entwicklung zumindest mißverständlich. Zwar mußten weiterhin die realen Gegebenheiten zu einer strafrechtlichen Handlungspflicht führen. Jedoch konnte man bei dem Terminus „Rechtspflicht“ 28 Darüber hinaus dürfte es schon an einem strafrechtlich relevanten Unterlassen fehlen, welches nur dann anzunehmen ist, wenn eine sinnvolle Rettungshandlung auch tatsächlich möglich ist. Das ist zumindest dann nicht der Fall, wenn sich die Schülerin an einem anderen Ort befindet und gar nicht weiß, daß das Kind in den Teich gefallen ist. 29 Ähnlich bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt RGSt 17, S. 260. Diese Auffassung hat sich bis heute gehalten, vgl. z. B. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991, 29. Abschnitt Rn. 48, m.w. N. in Fn. 106. Dagegen Seebode, in: FSSpendel, 1992, S. 341 ff. Stree, in: FS-H. Mayer, 1966, S. 154 ff., verlangt, daß aus der tatsächlichen Übernahme ein Vertrauensverhältnis resultiere. Selbst dieses reiche zur Begründung einer Garantenstellung allerdings noch nicht aus. Vielmehr müsse der Vertrauende sein Verhalten an diesem Vertrauen ausrichten, d.h. eigene Rettungsmaßnahmen unterlassen, sich erst wegen des gebildeten Vertrauens in eine Gefahrensituation begeben o. ä. 30 Überwiegend wird dies noch heute vertreten, vgl. statt vieler Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 716, 718.

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auch auf die Idee kommen, daß die Voraussetzungen, die vorliegen mußten, damit jemand wegen begehungsgleichen Unterlassens bestraft werden konnte, zwingend einem Gesetzbuch zu entnehmen waren. Auch das Schlagwort „Sonderpflichten“ wurde eher mit rechtlichen Pflichten in Verbindung gebracht als mit tatsächlich übernommener Verantwortung. Beide Bezeichnungen waren folglich überholt und wurden durch den Begriff der „Garantenstellung“ ersetzt.31 Der Inhaber einer solchen sollte selbst dann aus einem Begehungsdelikt zu bestrafen sein, wenn ihm lediglich ein Unterlassen zur Last gelegt werden konnte. Eine gesetzliche Regelung zu den tatsächlichen Umständen, unter denen eine Person eine Garantenstellung innehaben sollte, fehlte weiterhin. Durch die Emanzipation von den zivilrechtlichen Vorschriften wurden zudem die Anhaltspunkte für eine Garantenstellung weiter verwischt. Es oblag allein den Gerichten, die Voraussetzungen sowie die Grenzen von Garantenstellungen festzulegen. Mangels rechtlich verbindlicher Kriterien bestand hierbei einmal mehr32 die Gefahr einer ausufernden Unterlassungsstrafbarkeit.

3. Wissenschaftliche Ansätze zur Begrenzung der Unterlassungsstrafbarkeit Dieses Risiko wurde insbesondere von der Strafrechtswissenschaft gesehen, die mit diversen Ansätzen versuchte, die Unterlassungsstrafbarkeit zu begrenzen.33 a) Die Restriktion der einzelnen Garantenstellungen Eine Reihe von Wissenschaftlern bemühte sich um eine Lösung im Rahmen der bisher anerkannten Garantenstellungen. Hier ist nicht der Platz, die Diskussion umfassend darzustellen. Beispielhaft lassen sich jedoch die folgenden Restriktionsversuche nennen: aa) Strengere Anforderungen an eine Garantenstellung aus Ingerenz Rudolphi setzte bei der Garantenstellung aus Ingerenz an.34 Die bis dato herrschende Meinung ließ für die Begründung einer derartigen Garantenstellung 31

So zuerst Nagler, GerS 111 [1938], S. 59. Dieses Risiko barg auch der im 19. Jahrhundert vorherrschende strafrechtliche Naturalismus, s. oben Teil 2 A.III., S. 35. 33 Sofern Wissenschaftler wie z. B. Kraus, ZStW 23 [1911], S. 763 ff., die Bestrafung unechter Unterlassungsdelikte nicht gerade wegen der Gefahren und im Hinblick auf verfassungsrechtliche Grundsätze wie „nulla poena sine lege“ schlechthin für unzulässig hielten. 32

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jedes vorangegangene gefährdende35 Tun des Unterlassenden ausreichen. Diese Vorgehensweise kreierte Garanten, deren Strafbarkeit rechtspolitisch und dogmatisch nicht erwünscht war. Das deutlichste Beispiel hierfür boten Notwehrsituationen: Wenn der in Notwehr Handelnde den Angreifer in erforderlicher und gebotener Weise verletzte, um den Angriff von sich abzuwehren, machte er sich nicht strafbar. Sein Verhalten war gerechtfertigt, weil er gleichsam die vom Angreifer bedrohte Rechtsordnung schützte bzw. wiederherstellte. Geriet der Angreifer jedoch durch die Notwehrhandlung des Angegriffenen in eine Gefahrenlage, aus der er sich nicht selbst befreien konnte, mußte der zuvor rechtmäßig Notwehrübende Hilfe leisten.36 Anderenfalls hätte er sich beispielsweise wegen (versuchten) Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht. Der Angegriffene wurde so zum Garanten seines Angreifers, während jeder zufällig vorbeikommende untätig bleibende Passant lediglich wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden konnte.37 Rudolphi erkannte dieses Dilemma und forderte daher für die Begründung einer Garantenstellung aus Ingerenz, daß das Vorverhalten, aus dem sie resultieren soll, zumindest pflichtwidrig gewesen sein müsse: „Ein vorangegangenes gefährdendes Handeln bildet nur dann einen tauglichen Entstehungsgrund für eine Garantenpflicht zur Bekämpfung der ausgelösten Gefahren, wenn es diese selbst zuvor in pflichtwidriger Weise hervorgerufen hat. Hält sich das vorangegangene Tun im Rahmen der Rechtsordnung, wird es also vom Gesetz gebilligt, so kann es dagegen niemals eine Garantenstellung begründen. Welcher Art die ausgelöste Gefahr ist, ist dabei ohne Bedeutung.“38

Bei der Pflicht, gegen die bei pflichtwidrigem Handeln verstoßen werde, könne es sich nur um eine „ausschließlich oder zumindest auch im Interesse und zum Schutz des gefährdeten konkreten Rechtsgutes bestehende[n] Pflicht“39 handeln.

34 Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 163 ff. 35 Dabei wird überwiegend verlangt, daß die begründete Gefahr nahe und adäquat sein müsse, vgl. z. B. Spindler, MMR 2002, S. 500. 36 Kuhlmann, Die Rechtswidrigkeit der Unterlassung infolge vorausgehenden eigenen Tuns, 1932, S. 23, 26 ff., hält diese Lösung für richtig. Lediglich der Umfang der Handlungspflicht könne im Einzelfall herabgesetzt werden. 37 Für bestimmte Fallkonstellationen wird diese Folge noch heute vertreten, vgl. z. B. Dencker, in: FS-Stree und Wessels, 1993, S. 175 f. Dagegen mit guten Argumenten Ellbogen/Richter, JuS 2002, S. 1195. 38 Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 182. 39 Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 183.

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bb) Beschränkung aller Garantenstellungen auf bestimmte „Grundfälle“ Die Überlegungen von Pfleiderer gingen noch weiter:40 Er war der Auffassung, daß die Bezeichnungen für die unterschiedlichen Garanten zu unpräzise seien; abstrakten Begriffen wie „enge Verbundenheit“ oder „Übernahme“ könne der Rechtsanwender im Einzelfall keine Garantenstellung entnehmen. Vielmehr müsse für die Auslegung dieser Begriffe stets auf den tatsächlichen und rechtlichen Grundfall zurückgegriffen werden, aus dem heraus die Begriffe entwickelt worden seien. Die wenigen existenten Grundfälle, die dadurch gekennzeichnet seien, daß jedermann bei ihnen das Unrecht von Tun und Unterlassen als gleichwertig empfinde, bildeten die Grundlage für die einzelnen Garantenbegriffe; für die Entscheidung, ob ein Unterlassen strafbar sei, müsse ein Vergleich zwischen dem aktuellen Fall und dem jeweiligen Grundfall gezogen werden.41 Jenseits der Vergleichbarkeit einer Unterlassungshandlung mit einem der Grundfälle existiere keine Strafbarkeit wegen begehungsgleichen Unterlassens. cc) Das Gemeinwohl als begrenzender Faktor Als letztes Beispiel mag der Ansatz von Bärwinkel 42 aus dem Jahr 1968 dienen. Seiner Auffassung nach hat der Gesetzgeber mit der Strafbarkeit eines „Verhaltens“ sowohl die strafbare Begehung als auch das strafbare Unterlassen geregelt. Hinsichtlich der Begehung sei der Begriff „Verhalten“ stets hinreichend bestimmt, hinsichtlich des Unterlassens müsse er hingegen konkretisiert werden – oder anders formuliert: Beim Unterlassen müsse im Einzelfall festgestellt werden, ob die Nichtvornahme einer Handlung als Unrecht anzusehen sei.43 Strafrechtlich relevantes Unrecht sei wegen des im Strafrecht vorherrschenden ultima-ratio-Prinzips nur die Verletzung solcher sozialethischer Pflichten, deren Erfüllung für das Gemeinwohl besonders dringlich, also unbedingt not40 Pfleiderer, Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun, 1968, S. 118 ff., insbes. S. 120 ff. 41 Als den „Ur-Grundfall“ sieht Pfleiderer, Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun, 1968, S. 127, denjenigen an, in dem die Mutter ihr Kind verhungern läßt. Diese Fallkonstellation erscheine jedem so eindeutig als Unrecht, daß man auf jede weitere Begründung für die Bejahung eines begehungsgleichen Tötungsdelikts verzichten könne. 42 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 118 ff. 43 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 30 ff., insbes. S. 41 ff.

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wendig sei.44 Garant und Straftäter eines begehungsgleichen Unterlassungsdelikts könne daher nur derjenige sein, dessen Rolle in der Gesellschaft ihm eine solche Pflicht auferlege. Ob dies der Fall sei, hänge von einer Vielzahl faktischer Kriterien ab, die wiederum am Gemeinwohl zu messen seien. Diese Auffassung begrenzte die Strafbarkeit wegen begehungsgleichen Unterlassens insoweit, als ihr zufolge nur noch Personen zu bestrafen waren, die eine für das Gemeinwohl besonders wichtige Rolle innehatten und die in dieser Rolle eine überragende Pflicht verletzten. dd) Kritik und Ergebnis Keiner dieser Restriktionsversuche konnte sich indes durchsetzen. Zwar vermochten sie, die eine oder andere Schwachstelle der bisherigen „Unterlassungsdogmatik“ zu beheben, namentlich die Grenzen der Strafbarkeit besser zu definieren; dies gelang allerdings nicht, ohne daß im Gegenzug neue Schwierigkeiten produziert wurden. So bezog sich Rudolphis Ansatz überhaupt nur auf eine von mehreren Garantenstellungen,45 bezüglich der übrigen blieb es bei der nahezu uferlosen Strafbarkeit. Bei Pfleiderer stellte sich die Frage, wer festlegen soll, wann einer der von ihm geforderten „Grundfälle“ vorliegt, der als Leitbild für andere Entscheidungen über die Strafbarkeit von Unterlassen angesehen werden kann. In welcher Fallkonstellation kann man davon ausgehen, daß „jedermann“ der Meinung ist, das Unrecht des Unterlassens wiege genauso schwer wie das des aktiven Handelns? Die Antwort bleibt Pfleiderer schuldig.

44 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 97 ff., 104 ff., 114 ff., 118 ff., 125 ff. 45 Den Anforderungen Rudolphis an die Garantenstellung aus Ingerenz ist der Bundesgerichtshof schließlich sogar gefolgt. So hat er in BGHSt 23, S. 327 [327 f.], die Garantenstellung des Notwehrübenden gegenüber dem Angreifer nach der Abwehr des Angriffs verneint und in BGHSt 25, S. 218 [220 ff.], eine Garantenstellung des sich sorgfaltsgemäß verhaltenden Kraftfahrers gegenüber dem Unfallopfer abgelehnt. Später hat er sich von dem Kriterium der Pflichtwidrigkeit freilich wieder distanziert bzw. es stark aufgeweicht, wenn nicht im „Lederspray-Urteil“, BGHSt 37, S. 106, letztlich ganz aufgegeben (ebenso wie eine klare Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen, vgl. Schlösser, GA 2007, S. 170 f.). Hierzu näher unten Fn. 485, S. 192. Zu der Frage, ob eine Garantenstellung aus Ingerenz von Dritten übernommen werden kann, BGH NStZ 2003, S. 259, der in dem zugrundeliegenden Fall freilich keine abschließende Entscheidung treffen mußte. Eine solche Übernahmemöglichkeit verneint hingegen eindeutig Jasch, NStZ 2005, S. 10 ff. Jakobs, in: 50 Jahre BGH – Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV Strafrecht, Strafprozeßrecht, 2000, S. 29 ff., liefert einen guten Überblick über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Ingerenz. Eine solche findet sich in Form kleiner Fälle auch bei Sowada, Jura 2003, S. 236 ff.

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Der Lösungsweg von Bärwinkel verlagert die Problematik nur: Schwierig ist nicht mehr die Entscheidung, ob der Unterlassende einer bestimmten Garantenfallgruppe zuzuordnen ist, sondern „nur“ noch, ob die für jedermann geltenden Voraussetzungen einer Garantenstellung erfüllt sind. Die entscheidenden Überlegungen lauten: Ist die Rolle des Unterlassenden für das Gemeinwohl notwendig? Ist die Einhaltung der verletzten Pflicht für das Gemeinwohl besonders dringend? Und schließlich – diese Frage stellt sich auch bei dem Ansatz Pfleiderers: Quis iudicabit? b) Die Kriterien der Sachherrschaft und der Obhut aa) Konzeption Deutlich mehr Beachtung fand die in ihrem Ergebnis auf Armin Kaufmann46 zurückgehende Konzeption Schünemanns.47 Auch dieser geht davon aus, daß der Gesetzgeber die unechten Unterlassungsdelikte gemeinsam mit den bzw. gleichsam in den Begehungsdelikten geregelt hat. Folglich könne ein (nicht selbständig normiertes) Unterlassen nur dann strafbar sein, wenn es der Erfüllung des Tatbestandes durch aktives Tun entspreche, es also begehungsgleich sei. Schünemann fragt daher nach den Voraussetzungen, unter denen Begehung und Unterlassen einander gleichgestellt werden können.48 Dazu setzt er an dem Grund für die Bestrafung wegen einer aktiven Handlung an. Dieser liege darin, daß dem Täter aufgrund seines Verhaltens der tatbestandliche Erfolg zugerechnet werde. Die Zurechnung erfolge, wenn und weil die von der Person vorgenommene Körperbewegung den unmittelbaren Grund für den Erfolg darstelle. Dies sei dann der Fall, wenn die handelnde Person die Herrschaft über den Grund des Erfolges innehabe; es liege in der Macht des Handelnden, den Erfolg eintreten zu lassen, indem er die betreffende Handlung vornehme, oder den Erfolg zu verhindern, indem er diese Handlung nicht vornehme. Damit eine Person wegen begehungsgleichen Unterlassens bestraft werden könne, müßte dieselbe Voraussetzung erfüllt sein: Der Person müsse der Erfolg zuzurechnen sein, sie müsse folglich die Herrschaft über den Eintritt oder das Ausbleiben des Erfolges besitzen.

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Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 282 ff. Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 229 ff.; ders., ZStW 96 [1984], S. 288 ff. Dazu unten ausführlicher, Teil 4 B.II. 4.b), S. 112 ff. 48 Vgl. hierzu insbesondere die Darstellung seines gedanklichen Konzepts, Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 237. 47

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bb) Schlußfolgerung Somit komme es nicht auf die in ihrer Existenz und Reichweite umstrittenen Rechtspflichten an, die auf Vertrag, Gesetz, Ingerenz o. ä. beruhen. Entscheidend sei vielmehr, ob dem Unterlassenden der Erfolg zuzurechnen sei, weil er die Sachherrschaft über den Gefahrenherd habe49 oder weil seine Herrschaft über den Erfolgseintritt aus einer Obhutsbeziehung50 zu dem bedrohten bzw. verletzten Rechtsgut resultiere. Von einer Obhutsbeziehung zwischen dem Garanten und dem zu schützenden Rechtsgut (beispielsweise zwischen einer Mutter und ihrem Kind) sei auszugehen, wenn das Rechtsgut nicht oder nicht ausreichend in der Lage sei, sich selbst zu beschützen bzw. zu verteidigen.51 cc) Reaktionen in Wissenschaft und Praxis Dieser Lösungsversuch ist auf breite Akzeptanz jedenfalls in der Lehre gestoßen. Aus ihm haben sich die beiden großen Gruppen gebildet, in welche die Garantenstellungen heute vielfach eingeteilt werden: Nach der Funktion des Garanten bzw. aus der Schutzrichtung und dem Umfang der Garantenstellung unterscheidet man zwischen Beschützer- bzw. Obhutsgaranten einerseits und Überwachungs- bzw. Aufsichtsgaranten andererseits.52 Roxin hat dieser Zweiteilung „die führende Stellung“ in der Literatur attestiert53 und bezeichnet die Konzeption Schünemanns innerhalb der verschiedenen Varianten der Funktionenlehre als die plausibelste.54 In der Rechtsprechung vermag sie sich erst allmählich durchzusetzen.55 49 Hierzu umfassend Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 281 ff. 50 Schünemann bezeichnet dieses Phänomen in: Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 334 ff., als „Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers“. 51 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 334 ff., unterscheidet dabei allerdings noch zwischen der Herrschaft über die konstitutionelle Hilflosigkeit (S. 342 ff.) und der Herrschaft über die partielle Hilflosigkeit (S. 348 ff.). Nur bei ersterer sei das Rechtsgut völlig hilflos; die Herrschaft könne existentiell vorgegeben sein, durch Zugriff oder durch einen fremden Vertrauensakt begründet werden. Bei der partiellen Hilflosigkeit komme nur eine Herrschaftsbegründung durch Zugriff oder fremden Vertrauensakt in Betracht. 52 Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 2005, S. 537 f. 53 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 6. 54 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 19. 55 Jasch, NStZ 2005, S. 8: Bisher noch nicht durchgesetzt. Dagegen spricht die Entscheidung BGHSt 48, S. 77, in der eine Garantenstellung der Mitglieder des Politbüros bejaht wird. Der Bundesgerichtshof entnimmt die Garantenstellungen zwar noch gesetzlichen Vorschriften (BGHSt 48, S. 77 [83 f.]: Art. 1 Abs. 1 S. 2, 30 Abs. 1, 3 DDR-Verfassung; Art. 6 Abs. 1, 12 Abs. 1, 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte; Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948). Zugleich spricht er aber davon, daß die Politbüro-Mitglieder „Beschützer- und Überwa-

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c) Die Forderung nach einer Regelung des Unterlassens im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches Daher verhallten auch die Rufe nach einer gesetzlichen Regelung der Unterlassungsstrafbarkeit nicht. Während von der Mehrheit der Strafrechtswissenschaftler eine Normierung im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches gefordert wurde, verlangten einige entsprechende Ergänzungen des Besonderen Teils. aa) Fürsprecher dieser Lösung Grünwald beispielsweise hält eine Kodifikation im Allgemeinen Teil für unmöglich,56 da nicht jede Garantenstellung zu jedem Delikt passe: Ein Geschäftsmann könne Garant für die Abwendung eines Vermögensschadens von seinem Geschäftspartner sein; er sei indes nicht schon aufgrund der geschäftlichen Beziehung für das Leben des Geschäftspartners verantwortlich. Wenn jedoch „ein Merkmal A sinnvollerweise nur dem Tatbestand X zugeordnet werden kann, ein Merkmal B nur dem Tatbestand Y, so ist es logisch ausgeschlossen, A oder B vor die Klammer zu ziehen.“57 Im übrigen werde man manchen Unterlassungsdelikten wegen ihrer Schwere oder wegen der konkreten Fallkonstellation nicht gerecht,58 wenn man sie nur als „Anhängsel“ zu den Begehungsdelikten regele.59 Dies bewiesen schon die gesetzlich geregelten Unterlassungsdelikte wie z. B. § 323c StGB.60 Eine gesetzliche Regelung im Besonderen Teil führe hingegen nicht nur zu einer auf jedes Delikt passenden Lösung, die – anders als eine Normierung im Allgemeinen Teil – dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genüge, sie sei auch praktisch umsetzbar.61 Armin Kaufmann ist ebenfalls der Auffassung, daß die Frage, ob eine Unterlassung einem Begehungsdelikt gleichgestellt werden kann, nicht im Rahmen

chergaranten“ gewesen seien, BGHSt 48, S. 77 [91 f.]. Darin sieht Knauer, NJW 2003, S. 3102, zu Recht eine Tendenz des Bundesgerichtshofs, diese Zweiteilung anzuerkennen und sich zunehmend von der formalen Rechtspflichttheorie wegzubewegen. 56 Grünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt, 1956, S. 72 ff., 77. 57 Grünwald, ZStW 70 [1958], S. 424. 58 Als ein Beispiel nennt er den Polizisten, der einen Mord nicht verhindert: Dieser verdiene zwar Strafe; allerdings werde man offensichtlich dem Wesen seiner Tat nicht gerecht, wenn man ihn im Ergebnis wie den Komplizen eines Mörders über §§ 211, 49 StGB bestrafe. 59 Grünwald, ZStW 70 [1958], S. 425. 60 Damals noch § 330c StGB. 61 Grünwald, ZStW 70 [1958], bringt auf S. 431 ein Umsetzungsbeispiel anhand der Strafbarkeit des Totschlags durch Unterlassen.

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des für das (Begehungs-)Delikt typischen Prüfungsaufbaus beantwortet werden könne. Die Problematik, unter welchen Voraussetzungen die Verletzung eines Handlungsgebots die Strafwürdigkeit eines bestimmten Begehungsdelikts erreiche – ergo, ob das Unterlassungsdelikt als solches existiere –, gehöre dorthin, „wo auch sonst über Existenz und Auslegung einzelner Strafbestimmungen befunden wird: in den Besonderen Teil.“62 Eine für alle Delikte des Besonderen Teils und des Nebenstrafrechts gültige, hinreichend bestimmte gesetzliche Lösung könne daher im Allgemeinen Teil gar nicht gefunden werden. bb) Reaktionen im übrigen Schrifttum Die Ansichten dieser beiden Autoren wurden indes mehrheitlich abgelehnt – häufig mit dem Argument, daß es unmöglich sei, sämtliche Arten potentieller Unterlassungstäterschaften in den Delikten des Besonderen Teils abschließend exakt zu umschreiben.63 Der Gesetzgeber hat einen entsprechenden Versuch bisher nicht unternommen; ein solcher wurde auch von der Rechtsprechung nicht gefordert.

B. Die Entwürfe zur Normierung des unechten Unterlassens im Strafgesetzbuch Das bedeutet freilich nicht, daß der Gesetzgeber keinerlei Handlungsbedarf gesehen hat. Seit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 sind im Gesetz diverse „echte“ bzw. „besondere unechte“ Unterlassungsdelikte64 normiert. Diesen Delikten kommt auch im Bereich des Nebenstrafrechts eine große Bedeutung zu.65 Zu einer abstrakten Regelung der Strafbarkeit des „unechten“ Unterlassens im Allgemeinen Teil gab es verschiedene Gesetzentwürfe. Bereits Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts66 und in der Weimarer Republik67 wurde über eine 62

Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 287. So z. B. Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 13 Rn. 6: „nicht durchführbar“. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Auflage 1969, S. 210: „prinzipiell unmöglich“. Ihm hat sich Roxin angeschlossen, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 36. Wie Grünwald und Armin Kaufmann jedoch beispielsweise Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung und Strafgesetz, 1974, S. 2 mit Fn. 4, 5, 6, 7, 8, 9 und S. 342 ff. mit Fn. 78, der die wichtigsten weiteren Vertreter dieser Auffassung benennt. 64 s. zu diesen Begriffen bereits ausführlich oben Teil 1 B., S. 21 ff. 65 Vgl. beispielsweise § 84 GmbHG; §§ 399 Abs. 1, 403 Abs. 1 AktG, jeweils in der Variante des Verschweigens. 66 Schubert (Hrsg.), Protokolle zur Reform des Strafgesetzbuches (1911–1913), 1– 70, Band 1, 1990, S. 419: „[. . .] Ein Mitglied der Kommission hielt es für wünschens63

B. Normierung des unechten Unterlassens im Strafgesetzbuch

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gesetzliche Regelung diskutiert. Insgesamt gab es bis zum Zweiten Weltkrieg neun Entwürfe für eine umfassende Reformierung des Strafgesetzbuches,68 bei deren Beratung immer wieder auch über die Regelung des unechten Unterlassens gesprochen wurde. Diese Überlegungen setzten sich in den Entwürfen nach 1945 fort.

I. Die Regelung in den Entwürfen eines Strafgesetzbuches von 1956 und 1959 1. Aufgabe der Großen Strafrechtskommission Die ersten Entwürfe nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland waren das Ergebnis von (am Ende) weit über hundert Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, die 1954 vom Bundesminister der Justiz eingesetzt worden war.69 Aufgabe der Großen Strafrechtskommission – bestehend aus Strafrechtslehrern, Richtern, Staatsanwälten, Vertretern der Rechtsanwaltschaft, Mitgliedern der Landesjustizministerien und Bundestagsabgeordneten – war es zu dieser Zeit, den Entwurf eines (neuen) Strafgesetzbuchs zu erarbeiten.70 Das seit 1871 geltende Strafgesetzbuch, das aufgrund zahlreicher Änderungen unübersichtlich geworden war, sollte durch die Reform vereinheitlicht und erneuert werden.71

wert, in den Allgemeinen Teil einen besonderen Abschnitt mit der Überschrift „Verursachung. Unterlassung.“ einzustellen. Er soll folgende Vorschriften enthalten: [. . .] Wegen Herbeiführung eines Erfolges durch Unterlassung ist nur strafbar, wer rechtlich verpflichtet war, den Eintritt des Erfolges durch Handeln zu hindern. Diese Pflicht besteht auch für den, der durch seine Tätigkeit die Gefahr des Eintritts eines Erfolges verursacht hat. [. . .]“ Dagegen sei eingewendet worden, daß die Wissenschaft und die Rechtsprechung die Voraussetzungen einer Unterlassungsstrafbarkeit noch nicht hinreichend geklärt hätten, so daß eine gesetzliche Regelung verfrüht sei (S. 420 f.). 67 Vgl. § 16 des Entwurfs zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1919, erklärt und kommentiert in: Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Dritter Teil, Denkschrift zu dem Entwurf von 1919, 1921, S. 27. 68 Lenckner, in: Baumann (Hrsg.), Mißlingt die Strafrechtsreform?, 1969, S. 65. 69 Lenckner, in: Baumann (Hrsg.), Mißlingt die Strafrechtsreform?, 1969, S. 65 f. 70 BT-Drucks. IV/650, Begründung, Einleitung S. 95. 71 BT-Drucks. IV/650, Begründung, Einleitung S. 95. Das Reichsstrafgesetzbuch verglichen einige mit „einem alten, durch zahlreiche Flicken verunstalteten Rock“, so Lenckner, in: Baumann (Hrsg.), Mißlingt die Strafrechtsreform?, 1969, S. 65. In dem Vorwort der Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 1, Gutachten der Strafrechtslehrer, 1954, wird deutlich, daß die früheren Reformbemühungen zum Großteil überholt waren und der Bundesminister der Justiz daher neue Untersuchungen durchführen ließ.

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2. Inhalt der Beratungen Bei den Beratungen kamen die Vertreter der Kommission – veranlaßt durch den ersten Diskussionsbeitrag von Eberhard Schmidt zu diesem Thema – überein, daß dem neuen Strafgesetzbuch auch eine Vorschrift über die Unterlassung beizufügen sei.72 Zwar bestünde hierzu keine verfassungsrechtliche Pflicht, da das Grundgesetz in den Begriff der „Tat“ in Art. 103 das Unterlassen einschließe. Die Rechtssicherheit erfordere jedoch eine Klarstellung, unter welchen Voraussetzungen das Unterlassen dem aktiven Tun rechtlich gleichstehe. Die generelle Frage, ob das Unterlassen im Strafgesetzbuch normiert werden sollte, wurde damit bejaht, streitig waren hingegen der Umfang und die genaue Formulierung der Norm. Insbesondere wurde über die Frage diskutiert, ob sich die gesetzliche Regelung auch zu den Entstehungsgründen der Garantenstellungen äußern sollte73 oder ob sie nur hervorheben sollte, daß ein Garant für die Verhinderung des Erfolges einzustehen hat.74 Für die ausführlichere Regelung sprachen sich schließlich 14 der 17 Kommissionsmitglieder aus.75 Ebenso uneinheitlich gesehen wurde die „richtige“ Terminologie (Erfolgsherbeiführung, Tatbestandserfüllung oder unterlassene Verhinderung des tatbestandsmäßigen Erfolges76) sowie die Idee, die Kausalität in den Tatbestand mit aufzunehmen. Schließlich war auch unklar, ob in der Norm eine fakultative bzw. eine obligatorische Strafmilderung angeordnet werden sollte oder ob das begehungsgleiche Unterlassungsdelikt einer Straftat durch positives Tun hinsichtlich der Strafandrohung ebenfalls gleichzustellen sei.77 3. Ergebnis der Beratungen Aufgrund der Vorschläge in den Diskussionen erarbeitete eine hierfür zuständige Unterkommission78 vier verschiedene Fassungen für die inhaltliche Um72 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, Anhang A Nr. 22, S. 473; Dreher, ZStW 68 [1956], S. 83 ff. 73 So OLGRat Schwalm vom Bundesministerium der Justiz, dessen Auffassung jedoch innerhalb der Strafrechtsabteilung des BMJ keine Mehrheit fand. 74 Dafür Eb. Schmidt. 75 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, Anhang A Nr. 22, S. 473. Dreher, ZStW 68 [1956], S. 88. 76 Der letztgenannte Vorschlag stammte von Mezger und wurde fast wörtlich übernommen. 77 Vgl. hierzu die in den Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, Anhang A Nr. 23 bis 26, S. 472 ff., dargestellten Diskussionen der Kommissionsmitglieder.

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schreibung der Erfolgsabwendungspflicht sowie drei Varianten zur Formulierung der Strafandrohung.79 Im Rahmen einer Abstimmung entschied sich die Mehrheit der Kommissionsmitglieder für folgende Lösung: (1) Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, steht dem Täter oder Teilnehmer, der den Erfolg durch ein Tun herbeiführt, tatbestandsmäßig nur dann gleich, wenn er kraft Gesetzes verpflichtet ist, den Erfolg zu verhindern, und den Umständen nach dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintreten werde. (2) Die Pflicht zur Verhinderung des Erfolges besteht auch für den, der durch sein Verhalten entweder die nahe Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts herbeigeführt oder die Gewähr dafür übernommen hat, daß der drohende Erfolg nicht eintreten werde.

Von einer besonderen Normierung der Strafandrohung wurde abgesehen. Diese Regelung wurde als § 13 E 1958 in erster Lesung beschlossen und zunächst unverändert in den Gesamtentwurf eines neuen Strafgesetzbuchs von 1959 als § 14 übernommen. In der zweiten Lesung im März 1959 hingegen wurde dieser § 14 verändert und wesentlich allgemeiner formuliert:80 Wer es unterläßt, einen zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehörenden Erfolg abzuwenden, wird nur dann als Täter oder Teilnehmer bestraft, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintreten werde, und sein Verhalten auch nach den besonderen Umständen der Tat und unter Berücksichtigung der Handlungsmerkmale des gesetzlichen Tatbestandes dem Begehen durch ein Tun gleichwertig ist.

II. Der Regierungsentwurf von 1962 Dieser Entwurf wurde indes nicht Gesetz. Zwar wurde auf der Grundlage der Beschlüsse der Großen Strafrechtskommission der erste Gesamtentwurf fertiggestellt und der Bundesregierung vorgelegt, die ihn am 8. September 1960 beschloß. Er wurde am 28. Oktober 1960 zudem noch dem Bundesrat bekanntge78 Die Große Strafrechtskommission hatte sich in einigen Fragen zur Erleichterung und Beschleunigung ihrer Arbeit in solche Unterkommissionen aufgeteilt, vgl. BTDrucks. IV/650, S. 95. 79 Alle Varianten werden bei Dreher, ZStW 68 [1956], S. 87 f., dargestellt. 80 Während der 116. und 117. Sitzung (10. und 11. März 1959) wurde allerdings auch vorgeschlagen, die Vorschrift gänzlich zu streichen und den Versuch, das Unterlassen im Gesetz zu regeln, aufzugeben. Vgl. den Änderungsantrag von Bockelmann, abgedruckt in Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, Anhang A Nr. 23, S. 475 f., sowie den Hinweis auf entsprechende Änderungswünsche von Mezger (der seine Auffassung noch in der 116. Sitzung änderte, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, 116. Sitzung, S. 78; 117. Sitzung, S. 91) und von Welzel, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, 116. Sitzung, S. 75.

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Teil 2: Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB

macht. Dieser gab jedoch wegen der auslaufenden Legislaturperiode keine Stellungnahme mehr ab. Auch der Bundestag, der den Entwurf am 3. November 1960 erhielt, konnte sich nicht mehr mit ihm befassen.81 Daß eine Reform des Strafrechts erforderlich war, wurde freilich in der neuen Legislaturperiode nicht in Abrede gestellt, so daß am 4. Oktober 1962 der Entwurf E 1962 von der Bundesregierung an den Bundestag gesandt wurde. Er enthielt teils neue Ansätze, teils bestand er aus früheren Entwürfen sowie aus den Ergebnissen der Tagungen der 1959 gebildeten Länderkommission für die große Strafrechtsreform.82 Er wurde 1963 sowie (in der neuen Legislaturperiode) 1965 in den Bundestag eingebracht83 und wurde bis zum Frühjahr 1969 von einem „Sonderausschuß für die Strafrechtsreform“ beraten.84 Der E 1962, dessen Verfasser großen Wert auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit legten,85 enthielt ebenfalls eine Vorschrift zum Unterlassen, diesmal wieder in § 13: Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist als Täter oder Teilnehmer strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintreten werde, und sein Verhalten den Umständen nach der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun gleichwertig ist.

Auch dieser Entwurf verzichtete auf eine genaue oder exemplarische Darstellung der Garantenstellungen und deren Entstehungsgründe.86 Besonders wichtig für die spätere Gesetzesanwendung war seinen Verfassern (ausweislich ihrer Entwurfsbegründung) die Beachtung der Gleichwertigkeits81 BT-Drucks. IV/650, Begründung, Einleitung S. 95 f. Letztlich fiel der Regierungsentwurf also der „sachlichen Diskontinuität“ des Parlaments zum Opfer. Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 215: „Gesetzesvorlagen verfallen, das Gesetzgebungsverfahren ist gescheitert, wenn vor Ablauf der Legislaturperiode der Bundestag keinen Gesetzesbeschluss gefasst hat, der im Fall des Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG erforderliche erneute Beschluss nicht mehr gefasst, bzw ein Einspruch des Bundesrats nicht zurückgewiesen wurde.“ (Hervorhebung im Original.) 82 BT-Drucks. IV/650, Begründung, Einleitung S. 96. 83 „Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Diemer-Nicolaus, Dr. h.c. Güde, Dr. Dehler, Dr. Wilhelmi und Genossen“, BT-Drucks. V/32. 84 Lenckner, in: Baumann (Hrsg.), Mißlingt die Strafrechtsreform?, 1969, S. 66. 85 Vgl. § 1 E 1962, der die Überschrift „Keine Strafe ohne Gesetz“ trägt, sowie BTDrucks. IV/650, Begründung, Einleitung S. 101. 86 BT-Drucks. IV/650, Begründung § 13, S. 124: „Der Entwurf ist davon abgekommen, die Fälle aufzuzählen, in denen eine Garantenstellung besteht. Sie im einzelnen abschließend zu nennen, was in der für eine Gesetzesfassung gebotenen Kürze ohnehin kaum erreichbar wäre, brächte wenig Gewinn. Zudem könnte hierdurch eine unerwünschte Festlegung der Rechtsentwicklung eintreten, da in dieser Frage noch zahlreiche Zweifelsfragen bestehen, deren Klärung durch die weitere Entwicklung der Rechtslehre und Rechtsprechung zu erhoffen ist. Für die Rechtsanwendung ist auch ein gesetzlicher Hinweis darauf, was das Wesen der Garantenstellung ausmacht, von größerer Bedeutung [. . .].“

B. Normierung des unechten Unterlassens im Strafgesetzbuch

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klausel: Für eine Bestrafung des Unterlassens, die der Bestrafung des positiven Tuns entsprechen solle, müsse das Unrecht beider Verhaltensformen gleich schwer wiegen.87 Auf diese Weise entfielen auch die Kriterien der Zumutbarkeit (wenn eine Rettungshandlung dem Unterlassenden nicht zumutbar ist, dann ist sein Unterlassen der Begehung einer aktiven Rechtsgutsverletzung auch nicht gleichwertig) oder die Frage nach einer Strafmilderung in Form eines modifizierten Strafrahmens. Wenn tatsächlich einmal ein Fall vorliege, so die Entwurfsverfasser, bei dem der Unterlassende geringer zu bestrafen sei als der aktiv handelnde Täter, könne dieses Ergebnis ohne weiteres durch eine geringere Strafzumessung innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens erreicht werden.88

III. Der Alternativentwurf von 1966 Der Regierungsentwurf wurde in der Wissenschaft wie in der Praxis vielfach kritisiert.89 Von den Kritikern schlossen sich 14 deutsche und schweizerische Strafrechtslehrer zusammen und erarbeiteten einen Alternativentwurf. Der Allgemeine Teil dieses Entwurfes wurde im Oktober 1966 veröffentlicht,90 von drei Abgeordneten sowie der FDP-Fraktion in den Bundestag eingebracht und dort am 23. Januar 1968 in erster Lesung beraten.91 Er regelte in einem § 12 die Strafbarkeit des Begehens durch Unterlassen: Wer es unterläßt, den zum Tatbestand gehörenden Erfolg abzuwenden, obwohl er 1. auf Grund einer gesetzlichen oder freiwillig übernommenen Rechtspflicht gegenüber der Allgemeinheit oder dem Geschädigten dafür zu sorgen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, oder 2. eine nahe Gefahr für den Erfolgseintritt geschaffen hat, ist nach dem betreffenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn das Unrecht seines Verhaltens nach den Umständen der Tat dem Unrecht der Begehung durch Tun entspricht.

Auch dieser Vorschlag wurde nicht als Gesetz beschlossen. Vielmehr nahm der Sonderausschuß des Bundestags für die deutsche Strafrechtsreform Bestand87

BT-Drucks. IV/650, Begründung § 13, S. 125. BT-Drucks. IV/650, Begründung § 13, S. 126. Kritisch zu der Strafmilderungsoption auch nach Einführung des heutigen § 13 StGB noch Timpe, Strafmilderungen des Allgemeinen Teils des StGB und das Doppelverwertungsverbot, 1983, S. 152 ff. 89 Lenckner, in: Baumann (Hrsg.), Mißlingt die Strafrechtsreform?, 1969, S. 66; Arthur Kaufmann, ebda., S. 93. 90 Alternativentwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, vorgelegt von Jürgen Baumann, Anne-Eva Brauneck, Ernst-Walter Hanack, Arthur Kaufmann, Ulrich Klug, Ernst-Joachim Lampe, Theodor Lenckner, Werner Maihofer, Peter Noll, Claus Roxin, Rudolf Schmitt, Hans Schultz, Günter Stratenwerth, Walter Stree, Tübingen 1969. 91 BT-Drucks. V/2285. 88

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Teil 2: Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB

teile des E 1962 sowie Bestandteile des AE 1966/68 und vereinte beide im Gesetzentwurf von 1969.92 Dabei hielt er sich insgesamt eher an den E 1962, so auch bei der Formulierung der Unterlassungsstrafbarkeit in § 13.

C. Die aktuelle Gesetzeslage Der § 13 StGB in seiner heutigen Form93 entspricht dem durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4. Juli 196994 am 1. Januar 1975 eingeführten,95 auf dem Entwurf von 1969 basierenden § 13 und regelt die Strafbarkeit des Unterlassens lediglich in allgemeiner Form: (1) Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. (2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Der Gesetzgeber hat nach den jahrzehntelangen Diskussionen wie die Verfasser der beiden vorhergehenden Entwürfe darauf verzichtet, die einzelnen Garantenstellungen zu normieren. Zum einen wurde letztendlich eine solche Regelung für faktisch unmöglich gehalten,96 zum anderen stimmten die Beteiligten darin überein, daß auch die weite Formulierung des § 13 StGB den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genüge.97 Diese Auffassung teilt das Bundesverfas92 Sehr zum Leidwesen der Verfasser des AE, vgl. Baumann, in: Baumann (Hrsg.), Mißlingt die Strafrechtsreform?, 1969, S. 7: „Er [der Sonderausschuß] hat aber übersehen, daß man reformerische Gedanken nicht nur teilweise übernehmen kann. Man kann nicht beide Entwürfe wie Steinbrüche benutzen, jeweils nicht zueinander passende Regelungen zusammenstückeln und gleichwohl hoffen, ein Gesetz aus einem Guß vorlegen zu können.“ Vgl. auch BT-Drucks. V/4095, Zweiter Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Einleitung S. 1 ff. 93 Fassung des Strafgesetzbuchs nach der Bekanntmachung vom 13.11.1998, zuletzt geändert durch Gesetz vom 13.04.2007 (BGBl. I S. 513) mit Wirkung vom 18.04. 2007. 94 BGBl. I S. 717, 719. 95 § 1 des Gesetzes über das Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 30. Juli 1973, BGBl. I S. 909. 96 Zweiter Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Begründung § 13, BT-Drucks. V/4095, S. 8. 97 Landau, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus Eigentum und Besitz bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1976, S. 112, bezeichnet § 13 StGB „in Anbetracht der verfassungsrechtlichen Maxime des nullum-crimen-Satzes“ als den „derzeit einzig gangbaren Weg zur Regelung der unechten Unterlassungsdelikte“. Auch Kühne, Geschäftstüchtigkeit oder Betrug?, 1978, S. 94, hält die Norm für verfassungsgemäß, „weil die Situationstypik der Fälle, aus denen sich Garantenpflichten ergeben können, grundsätzlich geklärt und bekannt ist.“ Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 269 f., bejaht die Verfassungsmäßigkeit ebenfalls mit dem Argument, daß der nulla-poena-Grundsatz „keine größtmögliche Bestimmtheit, sondern nur eine hinreichende Bestimmbarkeit der Strafrechtsnormen“ gebiete. Diese

C. Die aktuelle Gesetzeslage

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sungsgericht.98 So heißt es in dem Beschluß des 2. Senats vom 10.06.1997,99 der insoweit inhaltlich in dem Beschluß vom 21.11.2002 wiederholt wurde:100 „Die Strafbarkeit der unechten Unterlassungsdelikte nach § 13 StGB und insbesondere das die Garantenstellung umschreibende Merkmal „rechtlich dafür einzustehen hat“ ist mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar. Das Bestimmtheitsgebot verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (stRspr seit BVerfGE 25, 269 [285]). Der einzelne Normadressat soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist (vgl. BVerfGE 87, 363 [391]; stRspr). Das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes berücksichtigt jedoch die Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Rechtsaktes. Gesetze können nicht alle zukünftigen Fälle im Detail voraussehen, müssen auch den Wandel der Verhältnisse aufnehmen und der Besonderheit des Einzelfalles in ihrer Allgemeinheit gerecht werden (vgl. BVerfGE 14, 245 [251]; stRspr). Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe sind im Strafrecht jedenfalls dann nicht zu beanstanden, wenn die Norm mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung bietet oder sie eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und damit aus dieser Rechtsprechung hinreichende Bestimmtheit gewinnt (vgl. BVerfGE 45, 263 [371 f.]; 48, 48 [56 f.]; 86, 288 [311]; vgl. auch BVerfGE 78, 374 [389]).“

Die fakultative Strafmilderung wurde jedoch aufgenommen, da dem Gesetzgeber eine Lösung nur über die Strafzumessung innerhalb des für die Begehungsdelikte vorgesehenen Rahmens nicht ausreichte.101

Aussage traf er zu einem Zeitpunkt, als § 13 StGB noch gar nicht existierte. Ebenfalls vor Inkrafttreten des heutigen § 13 StGB äußerte sich Busch, in: FS-von Weber, 1963, S. 199 f., zur Frage der gesetzlichen Bestimmtheit. Zwar hielt er den Zustand vor der gesetzlichen Normierung für verfassungswidrig. Jedoch ging er davon aus, daß auch eine Gesetzesformulierung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoße, nach der derjenige wie ein Begehungstäter bestraft werde, der es unterlasse, einen im Sinne eines Begehungsdelikts tatbestandsmäßigen Erfolg abzuwenden, obwohl er rechtlich hierzu verpflichtet wäre. A. A. für den heutigen § 13 StGB Seebode, in: FS-Spendel, 1992, S. 335 ff., der diesen nur mit Art. 103 Abs. 2 GG für vereinbar hält, soweit dessen geforderte Erfolgsabwendungspflicht gesetzlich oder vertraglich begründet sei. Die derzeit „praktizierte Strafbarkeit unterlassener Erfolgsabwendungen [kennzeichnet] den Gipfel in der Mißachtung der Verfassungsgebote gesetzlicher Strafbegründung (lex scripta) und hinreichender Tatbestandsbestimmtheit (lex certa)“ [S. 328]. 98 Jähnke, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 394. 99 BVerfGE 96, S. 68 [97 f.]. 100 BVerfGE NJW 2003, S. 1030. Sehr ähnlich BVerfG StraFO 2003, S. 88. 101 BT-Drucks. V/4095, S. 8. Diese Auffassung, daß ein Unterlassungsdelikt weniger schwer wiege als ein Begehungsdelikt hält Gimbernat Ordeig, ZStW 111 [1999], S. 314, für einen der beiden Grundfehler in der Dogmatik der Unterlassungsdelikte. § 13 Abs. 2 StGB, der diese falsche Auffassung noch gesetzlich manifestiert, hält er daher für verfehlt. Differenzierter in seiner Kritik Timpe, Strafmilderungen des Allgemeinen Teils des StGB und das Doppelverwertungsverbot, 1983, S. 152 ff., insbesondere S. 217 ff.

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Teil 2: Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB

Damit wurde das Problem einer gesetzlichen Regelung des unechten Unterlassens zwar praktisch gelöst. Jedoch gibt es auch weiterhin kritische Stimmen zu dem gefundenen Ergebnis, so daß die Diskussion um eine Neuregelung des § 13 StGB nicht vollständig beendet werden konnte.102

102 So hält beispielsweise Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz, 1986, S. 147 ff., 151 ff., insbes. 187 f., die Regelung des § 13 StGB für verfassungswidrig: „Wenn im Gesetzgebungsverfahren (im weiten Sinne), d.h. insbesondere in den vorbereitenden Ausschüssen, weder eine Einigung noch überhaupt Klarheit darüber erzielt werden kann, von welchen Voraussetzungen die Strafbarkeit von Unterlassungen abhängig gemacht werden soll [. . .], dann darf konsequenterweise auch keine gesetzliche Regelung ergehen. Die [. . .] Festlegung der Strafbarkeitsvoraussetzungen darf [. . .] nicht mit einer Generalklausel wie § 13 auf den Richter abgeschoben werden, der zu einer solchen Festlegung weder demokratisch legitimiert noch funktionell-rechtlich kompetent ist. Seine Entscheidung wäre hier seinem Rechtsgefühl und damit seiner Willkür anheimgegeben, was mit der Hervorhebung der ,gesetzlichen‘ Strafbarkeitsbestimmung in Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz nicht vereinbar ist [. . .].“

Teil 3

Die Voraussetzungen der Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen Die Garantenstellung ist nur eine von mehreren Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit sich eine Person wegen unechten Unterlassens nach § 13 StGB i.V. m. einem Begehungsdelikt strafbar machen kann. Zunächst muß der potentielle Täter eine Handlung unterlassen haben (unten Teil 3 A., S. 57 ff.), die der Rettung bzw. dem Schutz oder der Überwachung des gefährdeten Rechtsguts dient und zu deren Vornahme der Täter in der Lage gewesen wäre (Teil 3 B., S. 69 f.). Dieses Unterlassen muß für den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges kausal gewesen sein (Teil 3 C., S. 70 ff.). Der Unterlassende muß den Erfolg objektiv zurechenbar herbeigeführt haben (Teil 3 D., S. 76 f.), obwohl er eigentlich rechtlich verpflichtet gewesen wäre, für das Ausbleiben dieses Erfolges zu sorgen (Teil 3 E., S. 77 f., genauer in Teil 4, S. 82 ff.). Daneben müssen die üblichen weiteren Voraussetzungen einer Straftat vorliegen, die von denen eines Begehungsdelikts nicht abweichen (Teil 3 G., S. 81).

A. „Unterlassen“ einer Handlung I. Der strafrechtliche Begriff des Unterlassens 1. Begriffsinhalt a) Abgrenzung vom allgemeinen Sprachgebrauch Weitgehende Einigkeit in der Literatur besteht darüber, daß strafrechtlich relevantes „Unterlassen“ nicht schlichtes „Nichtstun“ bedeuten kann.1 1 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 15; Blei, Strafrecht I, 18. Auflage 1983, S. 96, 309; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 615; Landsberg, Die sogenannten Commissivdelikte durch Unterlassung im deutschen Strafrecht, 1890, S. 21 ff.; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S. 173; Mezger, Strafrecht – Ein Lehrbuch, 2. Auflage 1933, S. 130; Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 532; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Eine solche Definition mag für den allgemeinen Sprachgebrauch zwar zutreffend und ausreichend sein – rechtlich subsumieren ließe sich unter sie kaum: Wann sollte der Begriff „Nichtstun“ erfüllt sein, stellt man in Rechnung, daß der Mensch immer irgend etwas tut, und sei es, daß er atmet, schläft, fernsieht, zuhört etc.? Genügt es für die Verneinung einer Unterlassungsstrafbarkeit, daß der potentielle Täter geatmet, geschlafen, ferngesehen oder jemandem zugehört und somit nicht „nichts“ getan hat? Bejahte man diese Frage, gäbe es keine Unterlassungsstraftaten. Wenn man auf der anderen Seite unter „Nichtstun“ die Nichtvornahme (bestimmter, zur Rettung eines gefährdeten Rechtsguts erforderlicher) Körperbewegungen versteht, würde die Zahl der Unterlassungsdelikte ausufern: Jeder, der gerade irgendwo still verharrt und die erforderliche Handlung nicht vornimmt, könnte theoretisch wegen strafrechtlich relevanten Unterlassens belangt werden. Auch diese Folge kann vom Telos der Unterlassungsdelikte nicht umfaßt sein. Der Begriff des „Nichtstuns“ ist als strafrechtliche Definition daher insgesamt unbrauchbar (selbst wenn man sich bewußt ist, daß für die Bejahung einer Strafbarkeit der Erfolg ohnehin kausal2 und objektiv zurechenbar3 durch den Unterlassenden herbeigeführt werden muß – was nicht der Fall wäre, wenn jemand regungslos in Berlin sitzt, während in München ein Kind ertrinkt). Folglich bedarf es für den auch jenseits der Rechtsordnung existenten Begriff des Unterlassens einer strafrechtlichen Bewertung, die das Unterlassen deliktisch werden läßt. b) Die strafrechtliche Definition aa) Objektive Komponente Strafrechtlich relevant und somit deliktisch ist ein Unterlassen nur dann, wenn die Vornahme der unterlassenen Handlung strafrechtlich geboten, also zur Erfolgsverhinderung sinnvoll, dem Täter möglich4 und ihm zuzumuten5 ist. Beim Unterlassen im Sinne des Strafrechts unterbleibt eine Handlung, die von April 2006, Vor § 13 Rn. 4; im Ergebnis ebenso Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2006, § 35 Rn. 1, 3; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 2, 5 ff.; wohl auch Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004, S. 176. A. A. Heinrich, Strafrecht – Allgemeiner Teil II, 2005, § 25 Rn. 852 f. 2 s. unten Teil 3 C., S. 70. 3 Vgl. Teil 3 D., S. 76. 4 Mezger, Strafrecht – Ein Lehrbuch, 2. Auflage 1933, S. 137: „Denn auch hier gilt der Satz: ,Ultra posse nemo obligatur.‘ Wo schon die Möglichkeit der Erfolgsabwendung gefehlt hat, da kann von einer strafrechtlichen Haftung für den Erfolg niemals die Rede sein.“ 5 BGHSt 17, S. 166 [170]: Bei der Frage der Zumutbarkeit handelt es sich um ein Tatbestandsmerkmal.

A. „Unterlassen‘‘ einer Handlung

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der Rechtsordnung erwartet wurde.6 Diese Erwartung der Rechtsordnung muß strafrechtlich begründet gewesen7 und enttäuscht worden sein.8 Eine dem Täter unmögliche Handlung oder eine, die den Erfolgseintritt nicht sinnvoll verhindern kann, muß nicht vorgenommen werden.9 Ebenso wenig wird von dem Täter eine Handlung erwartet, die ihm objektiv nicht zugemutet werden kann. Im übrigen ist der „Katalog“ der strafrechtlichen Handlungserwartungen nicht abschließend. Vielmehr werden kontinuierlich durch neue rechtliche Pflichten und (Straf-)Tatbestände weitere Handlungserwartungen geschaffen. Bei den gesetzlich speziell normierten Unterlassungsdelikten ergibt sich die Erwartung unmittelbar aus dem Gesetz: So besagt beispielsweise § 323c StGB, daß sich derjenige strafbar macht, der bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht in zumutbarer und ihm möglicher Weise Hilfe leistet. Die dahinterstehende Handlungserwartung lautet: Bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not hat jedermann Hilfe zu leisten, soweit ihm das möglich und zuzumuten ist. Wer diese Erwartung enttäuscht, ist (grundsätzlich) zu bestrafen. Bei den nicht besonders geregelten Unterlassungsdelikten, die erst in Verbindung mit § 13 StGB zu einer Straftat werden, folgt die Handlungserwartung aus der Zusammenschau von Begehungsdelikt und den Umständen des Einzelfalles.10 § 212 StGB alleine begründet z. B. keine Handlungserwartung – eher eine Unterlassungserwartung, die lautet, daß es jeder Mensch zu unterlassen hat, andere Menschen zu töten. Läßt aber eine Mutter ihr Kind verhungern, droht also die Verwirklichung des § 212 StGB durch Unterlassen, so lautet die Handlungserwartung: Die Mutter muß ihr Kind ernähren, solange und soweit ihr dies möglich und zuzumuten ist.11 6 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 615. Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004, S. 177, geht mit Radbruch davon aus, daß sich Tun und Unterlassen zueinander verhielten wie A und Non-A. Das Tun sei empirische Realität, während das Unterlassen keine Wirklichkeit darstelle. Es sei ein Nichts, das nicht erkannt werden könne; vielmehr müsse (und könne nur) ein Urteil darüber gefällt werden. Unterlassen ist danach die Nichtvornahme einer rechtlich geforderten Handlung, die Erwartungen enttäuscht. 7 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 7. 8 Mit anderer Erklärung, aber im Ergebnis ebenso Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S. 171: Positives Tun stellt sich dar als das Begehen von „Rechtsgutsbeeinträchtigungen“, während beim Unterlassen „Rechtsgutserhaltungen“ verweigert werden. Letztlich besagt auch diese Definition, daß beim Unterlassen die Erwartung der Rechtsgutserhaltung enttäuscht wird. 9 Mit der Frage, ob sich jemand bereits wegen Unterlassens strafbar machen kann, der es lediglich unterläßt, die Tat eines anderen zu erschweren, beschäftigt sich Ranft, ZStW 97, Teilband 1 [1985], S. 268 ff., der sie schließlich bejaht. 10 Für letzteres auch Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 615. 11 Ausführlich zum ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der Zumutbarkeit Stree, in: FS-Lenckner, S. 393 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

bb) Subjektive Komponente Allein das Unterbleiben einer Handlung, das eine rechtlich begründete Handlungserwartung enttäuscht, genügt für die umfassende Definition des Unterlassungsbegriffs immer noch nicht. Vielmehr beinhaltet der Begriff auch eine subjektive Seite. Das Unterlassen muß sich darstellen als ein zielgerichtetes bewußtes Verhalten.12 Eine Kenntnis der konkreten Situation, in der Handlungsbedarf besteht, sowie eine Kenntnis der dem Täter möglichen Handlungen ist für den Begriff des Unterlassens hingegen nicht erforderlich, vielmehr nur für die Frage nach dessen Strafbarkeit,13 wenn es sich bei der in Rede stehenden Straftat um ein Vorsatzdelikt handelt. 2. Subsumtion unter den Oberbegriff „Handlung“ Jedoch kommt es für den Unterlassungsbegriff auf das Merkmal der allgemeinen Handlungsfähigkeit an. Diese ist eine grundsätzlich zu fordernde Voraussetzung strafbaren Handelns. Für die Erfüllung des Unterlassungsbegriffs ist sie erforderlich, wenn und soweit das Unterlassen unter den Begriff der „Handlung“ subsumiert werden kann. Um nicht auf jeden einzelnen Definitionsvorschlag für den Handlungsbegriff eingehen zu müssen14 und hier eine Diskussion darzustellen, auf die es im weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht ankommt, soll hier nur der überzeugendste herausgegriffen werden: Roxin15 versteht „Handlung“ im Sinne des Strafrechts als eine „Persönlichkeitsäußerung“, die auch im Unterlassen bestehen kann. Wer zu handeln unterlasse, äußere damit, daß er im Moment nicht aktiv tätig sein wolle. Selbst unbewußtes Unterlassen fällt Roxin zufolge unter diesen Begriff, weil sich die Persönlichkeit des Unterlassenden dann als zerstreut oder sorglos erweise.

12 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S. 171. So auch Blei, Strafrecht I, 18. Auflage 1983, S. 97: Das Unterlassen setzt sich zusammen aus objektiv fehlerhaftem Verhalten und dem auf Tatbestandsverwirklichung gerichteten Willen. 13 Blei, Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 18. Auflage 1983, S. 312. A. A. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904, S. 136 f.: Für den Begriff des Unterlassens sei eine seelische Beteiligung des Unterlassenden, insbesondere ein Wollen nicht wesentlich. 14 Zur Komplexität des Handlungsbegriffs und zu den vielen Definitionsversuchen, auf die hier nicht eingegangen werden soll, vgl. nur Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904. Einen ausführlichen Überblick über die vorhandene Literatur gibt Engisch, in: FS-Gallas, 1973, S. 163 Fn. 1. 15 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 5.

A. „Unterlassen‘‘ einer Handlung

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Auch das Unterlassen stellt sich nach diesem Begriffsverständnis (wie nach den meisten anderen Definitionen) als ein Verhalten bzw. eine Handlung dar,16 der Verhaltens- oder der Handlungsbegriff umfaßt als Oberbegriff gleichsam positives Tun wie Unterlassen. Unterlassen ist dabei ein vom steuernden Willen beherrschter, zielgerichteter Verzicht auf die Vornahme einer Handlung,17 wodurch der Täter die Handlungserwartung der Rechtsordnung enttäuscht. Eine Handlungserwartung stellt die Rechtsordnung wiederum nur an denjenigen, der allgemein handlungsfähig ist. Wenn auch ein Dritter in der konkreten Situation mit den bei einer durchschnittlichen Person vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnissen nicht hätte handeln können, ist die allgemeine Handlungsfähigkeit zu verneinen. In allen übrigen Fällen kann sie bejaht werden und stellt daher in aller Regel in der Prüfung eines Unterlassungsdelikts keine Schwierigkeit dar.

II. Die Abgrenzung zwischen positivem Tun und Unterlassen Nachdem eine Definition für den strafrechtlichen Unterlassensbegriff gefunden worden ist, stellt sich als nächstes die Frage, wie das Unterlassen vom positiven Tun abzugrenzen ist.18 Eine solche Abgrenzung ist schon aus zwei Gründen notwendig.19 Zum einen kann sich wegen eines Begehungsdelikts jedermann strafbar machen, wegen Unterlassens im Zusammenhang mit § 13 StGB hingegen nur der besonders Verpflichtete.20 Zum anderen kommt die fakultative Strafmilderung des § 13 Abs. 2 StGB nur dem Unterlassenden zugute.21 In den meisten Fällen erweist sich die Abgrenzung als unproblematisch22 – ein bestimmtes Verhalten ist entweder eindeutig positives Tun oder aber Unterlassen.

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Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 5. Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S 173. 18 Zur Schwierigkeit dieser Abgrenzung s. nur Samson, in: FS-Welzel, 1974, S. 579 ff.; Struensee, in: FS-Stree und Wessels, 1993, S. 133 ff. Die von Roxin, in: FS-Engisch, 1969, S. 380 ff., untersuchte Rechtsfigur des Unterlassens durch Tun vereinfacht diese Abgrenzung nicht. 19 Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 2006, § 35 Rn. 3, hält eine absolute Abgrenzung nicht für möglich; sie könne nur relativ zur jeweiligen Tatbestandsverwirklichung erfolgen. 20 s. vor allem unten Teil 4, S. 82. 21 Ebenso trotz der seiner Meinung nach im Hinblick auf Straftaten in größeren Organisationen (Staat, Wirtschaft) immer weiter verwischenden Grenzen von Tun und Unterlassen Schlösser, GA 2007, S. 73. 22 So auch Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004, S. 176. 17

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Schwieriger zu beurteilen sind die gelegentlich anzutreffenden mehrdeutigen Verhaltensweisen. Bis heute gibt es keine allgemeingültigen, von der gesamten Strafrechtswissenschaft und Rechtsprechung anerkannten Kriterien für deren Einordnung. Es existieren jedoch diverse dogmatische Ansätze. Die wichtigsten sollen im folgenden kurz dargestellt werden. 1. Subsidiarität des Unterlassens Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen kann ohne weitere Schwierigkeiten vorgenommen werden, wenn in Zweifelsfällen das Unterlassen schlicht für subsidiär gegenüber dem positiven Tun erklärt wird: Kann ein Verhalten sowohl als Begehungs- wie auch als Unterlassungsdelikt qualifiziert werden, tritt das Unterlassen zurück.23 Unter den Wissenschaftlern, die die Abgrenzung auf diese Weise vornehmen, ist umstritten, ob es Situationen geben kann, in denen zwar nach der Subsidiaritätsregel eigentlich ein positives Tun anzunehmen wäre, aber ausnahmsweise bei normativer Betrachtung und bei Berücksichtigung des sozialen Handlungssinns der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens auf das Unterlassen zu legen ist. Eine solche Situation könnte beispielsweise vorliegen, wenn der Arzt das Beatmungsgerät des unheilbar kranken und komatösen Patienten, der nie mehr aus dem Koma erwachen wird, abschaltet.24 Zum Teil wird in solchen Konstellationen aus Wertungsgründen ein Unterlassen bejaht.25 Man möchte dem Arzt, der (in aller Regel) mit dem mutmaßlichen Willen des Patienten oder mit Einverständnis von dessen Angehörigen handelt, die Strafmilderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 StGB zukommen lassen. Dagegen wird eingewendet, daß weder das positive Recht noch die Strafrechtsdogmatik „aus einer Handlung eine Nicht-Handlung machen [können]“.26 Wenn der Arzt ein Gerät aktiv abschalte, begehe er einen Totschlag durch positives Tun. Daß dieses Ergebnis nicht immer interessengerecht und rechtspoli23 Beispielsweise Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 27, sofern durch Tun und Unterlassen derselbe Tatbestand verwirklicht würde, und Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004, S. 176, der die Subsidiarität des Unterlassens auch für den vom Bundesgerichtshof nach seiner Auffassung falsch entschiedenen „Ziegenhaarfall“ und bei der Beseitigung selbst eingeleiteter Rettungsmaßnahmen („Rücktritt vom Gebotserfüllungsversuch“) postuliert (S. 177); Arthur Kaufmann, in: FS-Eb. Schmidt, 2. Auflage 1971, S. 212. 24 Zu diesem konkreten Problem ausführlich Gropp, in: Gedächtnisschrift-Schlüchter, 2002, S. 173 ff. 25 Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004, S. 177, der den Begriff der Handlung hier freilich mit positivem Tun gleichsetzt. 26 Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 33. Im Ergebnis ebenso Gropp, in: Gedächtnisschrift-Schlüchter, 2002, S. 188; Herzberg, in: FS-Röhl, 2003, S. 283 ff.

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tisch wenig erwünscht ist, erkennen auch die Vertreter dieser Auffassung. Sie nehmen jedoch die notwendigen Korrekturen unter Zuhilfenahme der Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe vor und appellieren an den Gesetzgeber, die wenigen kritischen Fälle explizit zu regeln. Folgt man dieser strengeren Subsidiaritätsregel, kann ein Unterlassen nur dann bejaht werden, wenn die Qualifizierung eines Verhaltens als positives Tun a priori ausscheidet. Sobald es auch nur zweifelhaft erscheint, ob das Verhalten als Tun oder als Unterlassen zu qualifizieren ist, muß der Rechtsanwender von positivem Tun ausgehen. Doch auch wenn man mit der Gegenmeinung Wertungsgesichtspunkte in die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen einbezieht, wird das Unterlassen in der Regel als subsidiär zurücktreten. 2. Das (Nicht-)Vorliegen von Begehungskausalität a) Grundsatz Ein ebenfalls in der Praxis gut umzusetzender Vorschlag für die Einordnung von Tun und Unterlassen stammt von Roxin:27 Seiner Meinung nach ist von einem Begehungsdelikt auszugehen, wenn ein aktiver Energieeinsatz in gesetzmäßigem Zusammenhang mit dem Erfolg steht: Sein Abgrenzungskriterium ist die Kausalität. Fehle es an einem aktiven Energieeinsatz oder sei dieser nicht kausal für den in der Außenwelt eingetretenen Taterfolg gewesen, handele es sich bei dem vorwerfbaren Verhalten um Unterlassen. Diese Auffassung teilen die meisten Autoren im Schrifttum.28 b) Ausnahmen aa) Rücktritt vom Gebotserfüllungsversuch Allerdings macht Roxin einige Ausnahmen von seiner Regel. Eine Ausnahme steht im Zusammenhang mit dem abgebrochenen „Gebotserfüllungsversuch“.29 27

Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 77 ff. Brammsen, GA 2002, S. 193; Engisch, in: FS-Gallas 1973, S. 163 ff.; Grünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt, 1956, S. 21 ff.; Roxin, ZStW 74 [1962], S. 415; Ulsenheimer, Das Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, 1965, S. 103; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 603 ff.; Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Vor § 13 Rn. 90; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 13 Rn. 7. 29 Kritisch hierzu und zur hieraus entwickelten Figur des „Unterlassens durch Tun“ Samson, in: FS-Welzel, 1974, S. 579 ff. 28

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Ein solcher liegt vor, wenn der Täter sieht, daß das Opfer Hilfe benötigt, eine entsprechende Rettungsmaßnahme einleitet, diese dann aber wieder abbricht.30 Hatte die Rettungsmaßnahme das Opfer schon erreicht und wird sie dann zurückgezogen, handelt es sich Roxin zufolge bei der Tat um ein Begehungsdelikt.31 Bestand hingegen zu dem Zeitpunkt, in dem der Täter das Rettungsmittel zurückzieht, für das Opfer noch keine realistische Rettungsmöglichkeit, so mache sich der Täter wegen Unterlassens strafbar. Diese Differenzierung soll an einem in der Literatur häufig verwendeten Beispiel32 verdeutlicht werden: Der am Ufer eines reißenden Flusses stehende Täter wirft dem Ertrinkenden einen Rettungsring zu. Als der Ertrinkende diesen mit seinen Fingern berührt, zieht ihn der Täter wieder zurück. Roxin zufolge ist der Täter in so einem Fall aus einem Begehungsdelikt, beispielsweise aus § 212 StGB zu bestrafen. Zieht der Täter den Rettungsring hingegen zurück, noch bevor dieser den Ertrinkenden erreicht hat, hat der Täter nach Roxins Auffassung lediglich ein Unterlassungsdelikt verwirklicht. In beiden Fällen könnte man anführen, daß ein aktiver Energieeinsatz, nämlich die aktive Beseitigung selbst ausgebrachter Rettungsmittel vorliegt. Des weiteren könnte man konstatieren, daß dieser Energieeinsatz auch jeweils kausal für den Taterfolg war. Dennoch differenziert Roxin: Einmal werde dem Opfer das Rettungsmittel, das ihn schon erreicht habe, weggenommen. Das Opfer hätte gerettet werden können, wenn nicht der Täter die für den Rettungserfolg notwendige und schon in Gang gesetzte Kausalkette aktiv unterbrochen hätte. Kausal sei (zumindest bei wertender Betrachtung) also nicht das Unterlassen einer (weiteren) Rettungsmaßnahme, sondern der Abbruch der begonnenen Initiative. Der Täter müsse wegen der Verwirklichung eines Begehungsdeliktes bestraft werden. In dem zweiten Fall hingegen habe für das Opfer zu keinem Zeitpunkt eine (im doppelten Sinne) „greifbare“ Rettungschance existiert. Zwar habe der Täter eine Rettungsmaßnahme eingeleitet, diese aber wieder abgebrochen, noch bevor sie das Opfer erreichte. Für das Opfer mache es in dieser zweiten Konstellation keinen Unterschied, ob der Täter eine Rettungshandlung für einen kurzen Moment begonnen habe oder ob er völlig untätig geblieben sei. Es liege ein Unterlassungsdelikt vor.

30 Der Begriff erklärt sich letztlich aus sich selbst heraus: Dem Täter ist geboten, das Opfer zu retten. Indem der Täter ein Rettungsmittel ergreift, setzt er zu der Erfüllung dieses Gebotes an. Bricht er die Rettungshandlung anschließend wieder ab, tritt er vom Versuch der Gebotserfüllung zurück. 31 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 108 ff. 32 Eine ähnliche Fallkonstellation findet sich z. B. bei Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 701 f.

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bb) Abbruch medizinischer Behandlungen Eine weitere Ausnahme33 sieht Roxin aus normativen Gründen für den bereits dargestellten34 Fall des technischen Behandlungsabbruchs vor.35 Kausal für den Tod des Patienten ist hier sicherlich das Abschalten des Beatmungsgeräts. Dieses Abschalten stellt eine aktive Handlung dar. Es könne jedoch, so Roxin, keinen Unterschied machen, ob der Arzt die weitere medikamentöse Behandlung unterläßt oder ob er ein Beatmungs- oder Kreislaufgerät abstellt. Das medizinische Ergebnis, die Motivation und auch die Schuld des Arztes deckten sich in beiden Konstellationen. Es könne daher nicht angehen, daß dem Arzt einmal eine fakultative Strafmilderung zugute komme und sie ihm ein anderes Mal versagt werde. 3. Naturalistisch-ontologische Abgrenzungsversuche Eine weitere Möglichkeit, zwischen positivem Tun und Unterlassen zu differenzieren, besteht darin, auf den Energieeinsatz abzustellen36 – jedenfalls dann, wenn man das Unterlassen auch als „ontisch“ versteht, also als gegebenen, vorrechtlichen Begriff. Da dieser Begriff, wie oben gesehen, für das Strafrecht zu weit bzw. zu unpräzise ist, verlangen selbst die Verfechter dieser Abgrenzungsmethode eine zusätzliche strafrechtliche Wertung. Nach ihrer Auffassung ist positives Tun anzunehmen, wenn „Energieaufwand in eine bestimmte Richtung“ betrieben wird. Unterlassen liege hingegen vor, bei „Nichtaufwand von Energie in eine bestimmte Richtung“.37 Der Begriff der „Energie“ wird von den Vertretern dieser Theorie nicht physikalisch verstanden, sondern vielmehr als eine Anstrengung oder Leistung, die nicht unbedingt von außen wahrnehmbar sein muß, die aber in jedem Fall vom inneren Willen getragen wird.38 So sei beispielsweise das kontinuierliche Herabdrücken eines Gaspedals, dessen Intensität über Minuten unverändert bleibt,

33 Zur Behandlung der aktiven Teilnahme am Unterlassungsdelikt: Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 101 f.; zur „omissio libera in causa“ vgl. dort Rn. 103 ff. 34 Oben Teil 3 A.II.1., S. 62 f. 35 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 115 ff. 36 Der führende Vertreter dieser Theorie ist Engisch, zunächst in Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 29, später noch einmal ausführlich Engisch, in: FS-Gallas, 1973, S. 163 ff. Ihm folgend Androulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963, S. 51 ff., 55 ff.; Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 109 ff. 37 Engisch, in: FS-Gallas, 1973, S. 174. 38 Engisch, in: FS-Gallas, 1973, S. 172, 178.

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auch eine Anstrengung, die nach außen nicht unbedingt als eine solche erkennbar werde, weil keine Körperbewegung zu sehen sei.39 Mit dem Erfordernis einer „bestimmten Richtung“ soll verdeutlicht werden, daß für das strafrechtlich relevante Unterlassen nicht jeder Nichtaufwand von Energie entscheidend ist, sondern nur derjenige, der einer rechtlichen Handlungserwartung zuwiderläuft.40 Ein Unterlassen im Gegensatz zum positiven Tun liegt nach diesem Ansatz also vor, wenn sich der Täter nicht in der erwarteten bzw. sonstwie vorgestellten Richtung anstrengt. 4. Normative Abgrenzung nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit a) Die sogenannte Schwerpunktformel Schließlich existiert noch der Ansatz, aktives Tun und Unterlassen nach dem „Schwerpunkt der strafrechtlichen Vorwerfbarkeit“ voneinander abzugrenzen.41 Dabei wird in jedem Einzelfall danach gefragt, wogegen sich der strafrechtliche Vorwurf richtet.42 So liegt, wenn der Täter sein Opfer erschlägt, der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im aktiven Zuschlagen, wenn die vielzitierte Mutter ihr Kind verhungern läßt, liegt der Vorwurf in der unterlassenen Ernährung. Auf diese Weise lassen sich sogar Grenzfälle ohne die Konstruktion von Ausnahmefällen lösen – das Schwerpunktkriterium kann immer herangezogen werden.

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U. a. dieses Beispiel bringt auch Engisch, in: FS-Gallas, 1973, S. 172. Vgl. dazu bereits oben Teil 3 A.I.1.b)aa), S. 58 ff. 41 Mit dieser Methode setzt sich Stoffers, Die Formel „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?, 1992, ausführlich auseinander, verwirft sie letztlich aber zugunsten eines von ihm erarbeiteten mehrstufigen Prüfungsverfahrens, bei dem wiederum entscheidend sei, ob das Verhalten für den Erfolg kausal gewesen sei oder nicht. Anschließend sei das Ergebnis, ob es sich nun um Tun oder Unterlassen handele, mit Hilfe allgemeiner Konkurrenzregeln zu erzielen. Ebenso kritisch Herzberg, in: FS-Röhl, 2003, S. 275 f. 42 Diese Abgrenzungsmethode geht zurück auf Mezger, Strafrecht I., Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1948, S. 48 ff., 60 ff., insbes. S. 61; sie wurde beispielsweise fortgeführt von Blei, Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 18. Auflage 1983, S. 310 ff. Ihr haben sich angeschlossen BGH MDR bei Holtz, 1982, S. 624; BGHSt 6, S. 46 [59]; 40, S. 257 [265 f.]; BGH NStZ 1999, S. 607; OLG Karlsruhe GA 1980, S. 429 [431]; OLG Frankfurt GA 1987, S. 549 [551]; OLG Saarbrücken NJW 1991, S. 3045 [3046]; OLG Köln JR 1991, S. 523 [524], mit Anm. Sack, JR 1991, S. 525 f.; OLG Stuttgart wistra 2000, S. 392; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 700; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 158; Ranft, JuS 1963, S. 344, der sich in diesem Beitrag freilich intensiv mit anderen Auffassungen auseinandersetzt. Im Ergebnis auch Geilen, JZ 1968, S. 151; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 54. Auflage 2007, Vor § 13 Rn. 11a. 40

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b) Kritik Da diese Methode überwiegend auf Wertungsgesichtspunkten beruht, wird sie jedoch von ihren Gegnern scharf kritisiert. Engisch hält ihr entgegen, daß sie, solange sie nur mit Formeln wie „sozialer Sinn“, „Gegenstand des Vorwurfs“ oder „Ausschöpfung des Unrechts“ operiere, „nicht nur zu keiner klaren und sicheren Entscheidung, sondern überhaupt nicht zu einer Entscheidung, die mehr als Willkür ist, zu verhelfen“ imstande sei.43 Roxin44 kritisiert an der sogenannten Schwerpunktformel, daß sie auf einem Zirkelschluß beruhe bzw. zu einem solchen führe: Wenn jemand wegen Unterlassens einer gesetzlich geforderten Handlung bestraft werde, liege der Schwerpunkt des Strafvorwurfes natürlich im Unterlassen. Werde ein Täter wegen eines Begehungsdelikts verurteilt, wirft ihm das Gericht naturgemäß ein strafrechtswidriges positives Tun vor. Welches Verhalten dem Täter in erster Linie vorzuwerfen sei, stelle nach der Ansicht Roxins das Ergebnis der strafrechtlichen Prüfung dar, nicht hingegen deren Prämisse. Für die Feststellung, wann welche Verhaltensform vorliege, biete die Schwerpunktformel keine greifbaren Maßstäbe. Vielmehr werde die Abgrenzung einem „irrationalen Gefühlsurteil“ ausgeliefert.45 Darüber hinaus führte die konsequente Anwendung dieser Theorie zu einer faktischen „Abschaffung“ der Fahrlässigkeitsdelikte: Da bei den Fahrlässigkeitsdelikten der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit stets darin zu sehen sei, daß es der Täter unterlassen habe, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anzuwenden, könnten sie alle in Unterlassungsdelikte umgedeutet werden.46 5. Fazit und Stellungnahme a) Kritische Würdigung der aufgeführten Ansätze Jede der dargestellten Abgrenzungstheorien hat ihre Vorteile und ihre Schwachstellen. So kann man zwar eine rasche Lösung des Abgrenzungsproblems herbeiführen, wenn man das Unterlassen für stets subsidiär gegenüber dem aktiven Tun erklärt. Den Umständen des konkreten Einzelfalles wird man auf diese Weise nicht gerecht. Zudem paßt die Subsidiaritätstheorie nicht in das System des Strafgesetzbuches. Im StGB treten nämlich stets die allgemeinen hinter die speziellen Delikte zurück. Würde man die unechten Unterlassungsdelikte und die reinen Be-

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Engisch, in: FS-Gallas 1973, S. 76. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 79 ff. 45 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 80. 46 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 81. Zu diesem Problem auch Herzberg, in: FS-Röhl, 2003, S. 270 ff. 44

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gehungsdelikte in die Kategorien „allgemein“ und „speziell“ einordnen, so handelte es sich bei den Unterlassungsdelikten um die spezielleren Vorschriften: Einen Totschlag kann der Täter schlicht durch die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale des § 212 StGB begehen, für einen Totschlag durch Unterlassen müssen daneben noch die Voraussetzungen des § 13 StGB erfüllt sein. Daß nun der speziellere § 13 StGB bzw. das mit ihm in Zusammenhang stehende Unterlassen gegenüber § 212 StGB subsidiär sein soll, vermag daher nicht recht zu überzeugen. Die anderen drei Theorien bergen den Nachteil, daß sie, um die rechtspolitisch gewünschten Ergebnisse zu erzielen, darauf angewiesen sind, bestimmte Ausnahmen von ihren eigenen Regeln zu bilden, die sie dogmatisch nicht erklären können. b) Eigener Lösungsansatz Da sich diese Auffassungen gegenseitig nicht völlig widersprechen, sondern vielmehr nur von verschiedenen Ausgangspunkten aus versuchen, das Problem zu lösen, kommt man am Ende nicht umhin, die typischen Schwachstellen einer Auffassung durch Vorteile einer anderen Auffassung einzuebnen. Daher erscheint es sinnvoll, die Differenzierung anhand des Energieeinsatzes durch diejenige nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit zu stützen. Geht man von Engischs Definition aus, so ist positives Tun eine Anstrengung oder Leistung, die vom inneren Willen getragen wird. Unterlassen hingegen ist die Nichtvornahme einer Anstrengung, die ebenfalls bewußt in eine bestimmte Richtung erfolgt. Diese Differenzierung alleine besagt jedoch noch nicht, welches Unterlassen bzw. welches positive Tun strafrechtlich relevant ist.47 Sie bedarf folglich noch einer Ergänzung durch die sogenannte Schwerpunktformel. Dies läßt sich an dem zuvor bereits zitierten komplizierten Beispiel des Arztes erläutern, der das Beatmungsgerät seines todkranken Komapatienten abschaltet: Nach dem Ansatz Engischs48 will dieser Arzt etwas unterlassen, nämlich die weitere Behandlung. Er möchte keine zusätzlichen Anstrengungen unternehmen, um den Patienten am Leben zu erhalten, er möchte keine Energie mehr aufwenden. Folglich unterläßt er. Und genau das macht ihm die Rechtsordnung zum Vorwurf. Es kann – und an dieser Stelle muß im Ergebnis den Ausführungen Roxins gefolgt werden – keinen Unterschied machen, ob ein Arzt im 18. Jahrhundert die Mund-zu-Mund-Beatmung abgebrochen hätte, weil er erkannt hat, daß der Patient nicht mehr eigenständig atmen, d.h. ohne die Fremdbeatmung nicht mehr weiterleben kann, oder ob aus demselben Grund im 47 48

Diese Kritik hat schon Brammsen, GA 2002, S. 205, angebracht. Vgl. zu diesem Beispiel auch Engisch selbst in: FS-Gallas, 1973, S. 178.

B. Individuelle Handlungsfähigkeit des Unterlassenden

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21. Jahrhundert ein Gerät abgeschaltet wird, das die Beatmungsversuche des Arztes durch mechanisch-elektronische Vorgänge ersetzt. Nicht das Betätigen eines Hebels oder das Drücken eines Knopfes ist strafrechtlich relevant, sondern der Abbruch der Behandlung bzw. der Rettungsmaßnahme. Wenn man beide Theorien miteinander kombiniert, kann zwischen strafrechtlich relevanten und irrelevanten Handlungen unterschieden werden; zudem kann der „Schwerpunktformel“ nicht mehr entgegengehalten werden, sie unterscheide zwischen Tun und Unterlassen gleichsam „aus dem Bauch heraus“. Vielmehr knüpft sie an wahrnehmbare bzw. beweisbare Vorgänge in der Außenwelt an. Daß dabei der innere Wille des Täters eine gewichtige Rolle spielt, ist unschädlich: So wenig es in Deutschland ein reines Gesinnungsstrafrecht gibt, so wenig gibt es ein rein objektives Strafrecht. Jedem Tatbestands- und Prüfungsmerkmal haftet eine subjektive Komponente an – so auch dem Unterlassensbegriff. Strafrechtlich relevantes Unterlassen ist also die Nichtvornahme einer möglichen sowie sinnvollen Anstrengung oder Leistung zur Verhinderung des Erfolges,49 die von einem inneren Willen getragen wird und an welche die Rechtsordnung einen strafrechtlichen Vorwurf knüpft. Positives Tun und Unterlassen schließen sich im Hinblick auf dieselbe strafrechtlich relevante Handlung, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist (und aus Tätersicht gerichtet sein soll), gegenseitig aus.

B. Individuelle Handlungsfähigkeit des Unterlassenden Damit einem Unterlassenden die Nichtvornahme einer Anstrengung oder Leistung vorgeworfen werden kann,50 sein Unterlassen also tatbestandsmäßig ist, muß er zur Vornahme dieser Handlung physisch51 in der Lage gewesen sein.52 Dabei ist es nicht erforderlich, daß der Unterlassende die eigentliche Rettungs-

49 Soweit freilich die vorzunehmende Leistung darin besteht, einen anderen von dessen aktiver Straftat abzuhalten, wird teilweise nicht von einem täterschaftlichen Unterlassen ausgegangen, sondern nur von Beihilfe durch Unterlassen zum Begehungsdelikt des anderen, vgl. Ranft, ZStW 94 [1982], S. 815 ff. 50 Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Auflage 2004, S. 182. 51 Auf die rechtliche (Un-)Möglichkeit kommt es in diesem Zusammenhang hingegen nicht an, vgl. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 18; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 14. 52 Etwas anders Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 5, 8 ff., der die Handlungsfähigkeit als Bestandteil des Unterlassungsbegriffes ansieht. Nach seiner Auffassung ist das Unterlassen von zwei Voraussetzungen abhängig, nämlich der sozial oder individuell begründeten Handlungserwartung (ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 6), die enttäuscht wird, und der individuellen Handlungsfähigkeit des Täters (ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 8 ff.). Ebenso Blei, Strafrecht I, Allgemeiner Teil, 18. Auflage 1983, S. 312.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

handlung vornehmen kann; es genügt vielmehr schon, wenn er zumindest in der Lage ist, selbst Hilfe zu holen. So ist es denkbar, daß der Vater, der an seinem brennenden Haus vorbeikommt, zwar nicht aus eigener Kraft den am Dachgeschoßfenster um Hilfe rufenden Sohn befreien kann. Insofern ist er handlungsunfähig. Soweit es ihm jedoch möglich ist, die Feuerwehr zu alarmieren oder andere dazu anzuhalten, den entsprechenden Telefonanruf zu tätigen, ist er in der Lage, etwas Sinnvolles53 zur Gebotserfüllung zu tun, und ist somit handlungsfähig. Mehr als die Nutzung dieser Fähigkeit verlangt die Rechtsordnung von ihm nicht, weshalb er sich strafbar zu machen droht, wenn er noch nicht einmal diesen Anforderungen nachkommt.

C. Kausalität des Unterlassens für den Erfolg I. Die Begriffe „Erfolg“ und „Erfolgsdelikt“ Aus § 13 StGB wird nach dem bisher Gesagten derjenige als Unterlassungstäter bestraft, der es unterläßt, einen „Erfolg“ abzuwenden. Daß die Norm nicht nur (Unterlassungs-)Erfolgsdelikte im Sinne der Tatbestandslehre erfaßt, sondern zudem Unterlassungen pönalisiert, die zu einer konkreten oder abstrakten Gefährdung des Rechtsguts führen, wurde bereits oben dargelegt.54 Jedoch darf bei den Unterlassungsdelikten die Subsumtion der abstrakten Gefährdungsdelikte unter den Erfolgsbegriff des § 13 StGB nicht dahingehend mißverstanden werden, daß abstrakte Gefährdungsdelikte plötzlich zu Erfolgsdelikten würden. Vielmehr soll durch diese Einordnung nur verdeutlicht werden, daß auch abstrakte Gefährdungsdelikte durch unechtes Unterlassen begangen werden können. Diese Einordnung stellt insofern keine Besonderheit dar, als auch in der Systematik der Begehungsdelikte nur die konkreten Gefährdungsdelikte noch unter den Begriff des Erfolgsdelikts fallen:55 So stellt beispielsweise die Lebensgefährdung eines anderen Menschen in § 315c Abs. 1 Nr. 1 a) StGB den Erfolg 53 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 617. 54 Teil 1 B.II., S. 23 ff. Ebenso BGHSt 46, S. 212 [222]: „Auch kann ein abstraktes Gefährdungsdelikt durch Unterlassen begangen werden.“ BGH NStZ 1997, S. 545, zur Tatbestandsverwirklichung des § 326 Abs. 1 StGB durch Unterlassen; BayOblG JR 1979, S. 161; Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 13 Rn. 2; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 13 Rn. 3. Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 54. Auflage 2007, § 13 Rn. 2: „strittig“. Dagegen Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 2. Zur Anwendbarkeit des § 13 StGB auf schlichte Tätigkeitsdelikte vgl. den gleichnamigen Beitrag von Tenckhoff, in: FS-Spendel, 1992, S. 347 ff.

C. Kausalität des Unterlassens für den Erfolg

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dieses Gefährdungsdelikts dar. Die abstrakten Gefährdungsdelikte hingegen, die allein ob der Gefährlichkeit der vorgenommenen Tathandlung unter Strafe gestellt werden, fallen bei den Begehungsdelikten nicht unter den Begriff des Erfolgsdelikts. Ein Täter, der im Zustand der rauschbedingten Fahruntüchtigkeit ein Fahrzeug führt, wird gem. § 316 Abs. 1 oder 2 StGB allein dafür bestraft. Einen Erfolg, der über die abstrakte Gefährdung hinausgeht, die er durch seine Teilnahme am Straßenverkehr hervorruft, muß er nicht herbeiführen.

II. Erfolgsdelikte und Kausalität bei positivem Tun Die Qualifizierung eines Straftatbestandes als Erfolgsdelikt spielt im Hinblick auf das Kriterium der Kausalität eine entscheidende Rolle. Bei den Begehungsdelikten wird die Notwendigkeit einer kausalen Verknüpfung zwischen Handeln und Erfolgsherbeiführung nicht bestritten. Kann die Handlung nicht hinweggedacht werden, ohne daß der tatbestandsmäßige Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele, hat sich der Verdächtige nicht strafbar gemacht. Er kann schließlich nicht für einen Erfolg bestraft werden, den er durch sein Verhalten nicht ursächlich herbeigeführt hat.56

III. Erfolgsdelikte und Kausalität beim unechten Unterlassen 1. Erfordernis einer Unterlassenskausalität Ob das Merkmal der Kausalität für die Unterlassungsdelikte ebenfalls relevant ist, ist hingegen seit langem umstritten.57 Von Liszt und Schmidt haben diesen Streit in ihrem Lehrbuch als „einen der unfruchtbarsten, welche die strafrechtliche Wissenschaft je geführt hat“ bezeichnet.58 Tatsächlich zieht die Diskussion keine Folgen für die Frage nach der Strafbarkeit eines Unterlassens nach sich, da die einzelnen Auffassungen in der Regel zu denselben Ergebnis-

55 Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, Vor § 13 Rn. 13 a. 56 s. beispielsweise Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Vor § 13 Rn. 53 m.w. N. 57 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 37, der den Beginn der Streitigkeiten im 19. Jahrhundert ansiedelt. Einen knappen Überblick über die Meinungsentwicklung und Hinweise zu weiterführender Literatur geben Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 618. Ausführlich zum Thema „Kausalität der Unterlassung“: Schellmann, Die Kausalität der Unterlassung, 1934; Sofos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen, 1999, S. 199 ff. 58 von Liszt/Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 25. Auflage 1927, S. 164. Ähnlich Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 13 Rn. 15.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

sen gelangen:59 Wer nicht das Unterlassen als „gesetzmäßige Bedingung“60 für den Erfolg ansieht oder prinzipiell die Möglichkeit der Kausalität des Unterlassens bejaht,61 sondern mit der herrschenden Lehre eine solche Möglichkeit generell verneint,62 der schließt diese Lücke entweder über den Begriff der „hypothetischen“63 oder „Quasi-Kausalität“64 oder über das Erfordernis der objektiven Zurechenbarkeit bzw. über die sonstigen Merkmale des objektiven Tatbestandes eines Unterlassungsdelikts.65 Zu einer grundsätzlichen Straflosigkeit des Unterlassens kommt keiner der Diskutanten.

59 Kritisch zu den Anforderungen der Strafrechtswissenschaft und der Rechtsprechung an das Kriterium der Kausalität Hoyer, GA 1996, S. 160 ff. 60 Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 29, insbes. S. 30; ders., in: FS-von Weber, 1963, S. 264 f.; Hilgendorf, NStZ 1994, S. 564 f., 566. Vgl. auch die Darstellungen bei Beulke/Bachmann, JuS 1992, S. 738 f. 61 So Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 42, der allerdings mit den von ihm im Hinblick auf den Unterschied zwischen Begehungs- und Unterlassungskausalität vorgenommenen Einschränkungen im Ergebnis zu derselben Definition gelangt wie die Vertreter der hypothetischen oder der Quasi-Kausalität. Die Abweichung ist also rein begrifflicher Natur. 62 Vgl. nur Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, Göttingen 1959, S. 61: „Es gibt keine Kausalbeziehung zwischen dem Unterlassenden und der unterlassenen Handlung (es gibt nur die Beziehung der „potentiellen Kausalität“).“ Arthur Kaufmann, in: FS-Eb. Schmidt, 2. Auflage 1971, S. 213 ff.; Bockelmann, in: FSEb. Schmidt, 2. Auflage 1971, S. 449 ff.; Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 201; Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 17; Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, S. 83; Stratenwerth, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Auflage 2000, § 13 Rn. 53, jeweils m.w. N. 63 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Vor § 13 Rn. 53, der sie als „gedanklich vermittelte“ Kausalität definiert. 64 Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 13 Rn. 61 m.w. N.: „Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass ein Unterlassen als solches nichts zu bewirken vermag und daher bei Unterlassungen nicht iglS [scil. im gleichen Sinne] von Kausalität gesprochen werden kann wie bei positivem Tun. Handlung und Unterlassung sind artverschiedene Formen menschlichen Verhaltens, die nur im normativen, nicht im ontologischen Bereich auf eine Stufe gestellt werden können. [. . .] Kausalität ist eine ontologische Realität, nicht nur ein Denkzusammenhang. [. . .] Daher kann bei Unterlassungen allenfalls von Quasi-Kausalität [. . .] gesprochen werden. Diese „Kausalität“ ist eine Kausalität der nichterfolgten Handlung, die hypothetisch zum eingetretenen Erfolg in Beziehung gesetzt wird [. . .]. Nur wenn das erwartete Handeln den Erfolg hätte abwenden können, ist das Unterlassen dem Tun gleichzustellen.“ Ähnlich Kölbel, JuS 2006, S. 310. 65 Mit der Kausalität des Unterlassens für den tatbestandsmäßigen Erfolg hat sich der Bundesgerichtshof im „Lederspray-Urteil“ auseinandergesetzt, BGHSt 37, S. 106 [111 ff.; 126 ff.]. Hierzu Hilgendorf, NStZ 1994, S. 561 ff.; Kühne, NJW 1997, S. 1951 ff., der dabei auch auf den „Contergan-Beschluß“ des LG Aachen, JZ 1971, S. 507, und das „Holzschutzmittel-Urteil“ des Bundesgerichtshofs, NJW 1995, S. 2930, eingeht.

C. Kausalität des Unterlassens für den Erfolg

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In der Begründung des Entwurfs eines Strafgesetzbuches E 1962 heißt es zu diesem Problem: „[. . .] Weitgehend wird in der Rechtslehre der ursächliche Zusammenhang nicht mehr als die mechanische Verbindung zwischen zwei Geschehnissen, sondern als eine Frage des Sinnzusammenhangs in einer Welt fließender Entwicklungen aufgefaßt, wodurch es möglich wird, auch eine ursächliche Verknüpfung der Unterlassung bestimmten Tuns mit einem Erfolg zu vollziehen. Die Rechtsprechung geht gemeinhin davon aus, daß bei einer Unterlassungstat der ursächliche Zusammenhang dann zu bejahen ist, wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit entfiele. Im Ergebnis wird die Brauchbarkeit dieser Formel allseits anerkannt. Durch die Regelung des Entwurfs soll sich hieran nichts ändern. [. . .]“66

Diese Definition67 einer „Quasi-“ bzw. „hypothetischen Kausalität“ hat bereits das Reichsgericht sinngemäß verwendet,68 der Bundesgerichtshof hat sich ihr angeschlossen.69 2. Stellungnahme a) Kausalität als Strafbarkeitsvoraussetzung Auf das Kriterium der Kausalität unter Zugrundelegung der Definition der Entwurfsverfasser, des Reichsgerichts sowie des Bundesgerichtshofs darf nicht verzichtet werden. Auf diese Weise kann nämlich bereits im Vorfeld der Prüfung der objektiven Zurechnung eine Verknüpfung zwischen der unterlassenen Handlung und dem tatbestandsmäßigen Erfolg hergestellt werden. Das Merkmal ermöglicht eine erste Eingrenzung des Kreises der in Frage kommenden Täter. Des weiteren hat der Gesetzgeber nicht erkennen lassen, daß er bei den Unterlassungsdelikten des § 13 StGB auf das Merkmal der Kausalität verzichten wollte. In den Entwurfsbegründungen ist an keiner Stelle die Rede davon, 66 BT-Drucks. IV/650 S. 124. Ähnlich für die Unterlassenskausalität bereits Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Auflage 1931, § 1 Anm. IV., S. 16 f. m.w. N. 67 Zu der Frage, ob es für die Bejahung der Kausalität nicht schon ausreicht, daß die Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg möglicherweise entfiele, ausführlich: Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 31 Rn. 46 ff. Dafür, daß jede Rettungschance vom Täter wahrzunehmen ist und nicht nur eine, die den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen ließe: Otto/ Brammsen, Jura 1985, S. 652. Kritisch zu dem Erfordernis der „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ auch Gimbernat Ordeig, ZStW 111 [1999], S. 321 ff. Gar nicht angesprochen wird dieser Definitionsbestandteil bei Beulke/Bachmann, JuS 1992, S. 742. 68 RGSt 15, S. 151 [153 f.]; 51, S. 127; 58, S. 130 [131]; 63, S. 392 [393]; 74, S. 350 [352]; 75, S. 49 [50]; 75, S. 372 [374]. 69 BGHSt 6, S. 1 [2]; 7, S. 211 [214]; 37, S. 106 [126 f.]; BGH NStZ 1981, S. 218; 1985, S. 26 [27]; 1986, S. 217 f.; BGH NJW 1979, S. 1258; 1987, S. 2940; 2000, S. 2754 [2757].

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

daß unter Kausalität lediglich eine naturwissenschaftliche Kausalität zu verstehen ist, die bei Unterlassungen a priori ausscheidet. Auch soll die Terminologie der „Quasi-“ bzw. „hypothetischen Kausalität“ zugrunde gelegt werden, um bereits begrifflich auf den Unterschied zwischen der Kausalität bei Begehungsdelikten und derjenigen bei Unterlassungsdelikten hinzuweisen: Bei Unterlassungsdelikten darf die Handlung nicht hinzugedacht werden, ohne daß der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele, bei Begehungsdelikten darf sie nicht hinweggedacht werden. b) Erweiterung der üblicherweise verwendeten Definition Allerdings ist die bisher dargestellte Definition noch um ein Merkmal zu erweitern,70 das – je nach Auslegung des Erfolgsbegriffes – auch lediglich der Klarstellung dienen mag: Letztlich ist das Unterlassen nur dann tatsächlich kausal für den Erfolg, wenn die von der Rechtsordnung erwartete Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.71 Eine Ursache, und sei es durch Unterlassen, kann der Täter schließlich immer, auch bei Begehungsdelikten, nur im Hinblick auf den konkreten Erfolg in dem zu entscheidenden Fall setzen, nicht bezüglich des tatbestandlichen Erfolges im allgemeinen.72 Selbst wenn bei der Vornahme der geforderten Hand70 Bei den Begehungsdelikten stellt die h. M. bei der conditio-sine-qua-non-Formel auf den konkreten Erfolg ab: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 14 Rn. 10 ff.; OLG Stuttgart JR 1982, S. 419 ff., mit Anm. Ebert, JR 1982, S. 421 ff.; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 26. Auflage 2001, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 79; Maurach/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, 8. Auflage 1992, S. 257; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. Februar 2006, Vor § 1 Rn. 44; Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, S. 30; Schlüchter, JuS 1976, S. 380 f.; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 156. Kritisch hinsichtlich dieses Begriffes: Hilgendorf, GA 1995, S. 515 ff.; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991, 29. Abschnitt Rn. 15 ff.; Puppe, ZStW 92 [1980], S. 870 ff.; dies., GA 1994, S. 299 ff.; dies., Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, 2. Auflage 2005, Vor § 13 Rn. 62 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs; 1988, S. 552 mit Fn. 154; Koriath, Grundlagen strafrechtlicher Zurechnung, 1994, S. 501 ff. 71 Vertiefend zu diesem Begriffsverständnis Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 712. Diese Definition findet sich auch bei Kölbel, JuS 2006, S. 310. Dagegen (freilich insgesamt gegen die conditio-Formel) schon bei Begehungsdelikten Arthur Kaufmann, in: FS-Eb. Schmidt, 2. Auflage 1971, S. 207 ff. 72 Dagegen Hilgendorf, NStZ 1994, S. 566, der gegen die umgekehrte conditio-Formel als solche argumentiert, da „mittels der Rechtsfigur des ,Erfolgs in seiner konkreten Gestalt‘ und der c.s.q.n.-Formel im Prinzip beliebige Umstände als für den Beschluß kausal ,erwiesen‘ werden können [. . .].“ Dabei verkennt er freilich, daß zur Eliminierung ungerechtfertigter Ergebnisse noch die Prüfung der objektiven Zurechnung vorzunehmen ist. Die Filterfunktion der Kausalität ist im Vergleich zur objektiven Zurechnung somit zwar tatsächlich eher gering. Dieser Befund allein läßt die Definition der Kausalität aber noch nicht als „unsinnig“ erscheinen.

C. Kausalität des Unterlassens für den Erfolg

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lung der Erfolg auf andere Art und Weise eingetreten wäre, hat der Unterlassende den konkreten Erfolg kausal herbeigeführt. Jede andere Bewertung führt zu einer Zuhilfenahme von Reserveursachen, die den Täter ungebührlich entlasten würden. c) Anwendungsbeispiel Dies soll an folgendem Beispiel73 verdeutlicht werden: Zwei Brüder haben bei einem Lieferservice, der sich auf exotische Speisen spezialisiert hat, ein Abendessen bestellt, das sie nun gemeinsam zu sich nehmen wollen. Beide sind sehr hungrig, weitere Speisen haben die Junggesellen nicht im Haus. Sie sitzen alleine am Eßtisch, das Essen steht vor ihnen. Der Bruder A hat Kugelfisch (Fugu) mit Kartoffelgratin bestellt. Der Bruder B, selbst Koch, hat länger in Japan gelebt und gearbeitet. Daher erkennt er, daß der Fugu falsch zubereitet wurde und sich auf dem Teller nicht nur das ungiftige Muskelfleisch, sondern auch Teile der hochgiftigen Haut befinden. Statt seinen Bruder A zu warnen, schweigt B, obwohl er weiß, daß wegen der Abgeschiedenheit des Hauses, in dem A und B leben, ärztliche Hilfe nicht rechtzeitig vor Ort sein kann. A beginnt von dem Fisch zu essen. Das Nervengift wirkt sofort, A ist innerhalb von Sekunden vollständig gelähmt, kann sich nicht mehr bewegen, nicht mehr sprechen und stirbt nach kurzer Zeit an einem Herzstillstand. Hätte B den A hingegen von Anfang an gewarnt, hätte A nicht von dem Fisch gegessen, sondern nur das Kartoffelgratin zu sich genommen. Dieses war jedoch – für keinen der Brüder erkennbar – mit Mandelsplittern verfeinert, gegen die A allergisch ist. Durch den Verzehr dieses Gratins hätte A einen allergischen Schock erlitten, der seine Atemwege angegriffen und innerhalb kürzester Zeit ebenfalls zum Herzstillstand geführt hätte. 73 Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 712, bringen als Beispiel den lebensnahen und vom Bundesgerichtshof (JZ 1973, S. 173) entschiedenen „Fensterwurffall“. Sie kritisieren zu Recht, daß der Bundesgerichtshof nicht danach fragt, ob die Kinder dem Flammentod entgangen wären, sondern nur ganz allgemein danach, ob die Kinder, wenn die Mutter sie aus dem Fenster eines brennenden Hauses in die Arme der sechs Meter tiefer stehenden, auffangbereiten Männer geworfen hätte, am Leben geblieben wären. Daran sei zwar richtig, daß die Strafbarkeit nicht an den konkreten Erfolg anknüpfen dürfe; sonst würde sich die Mutter auch dann strafbar machen, wenn das Geschehen sich im 20. Stockwerk eines Hochhauses abspiele und ein Hinauswerfen den sicheren Tod der Kinder zur Folge gehabt hätte. Diese Folgerung ist aber deshalb nicht zutreffend bzw. dieses Beispiel paßt deshalb nicht, weil eine Mutter, die sich weigert, ihre Kinder aus dem 20. Stock eines brennenden Hochhauses zu werfen, sich schon aus einem anderen, logisch vorgelagerten Grund nicht wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar machen kann: Ein solcher Wurf wäre keine rechtlich gebotene Handlung, die vorzunehmen sie verpflichtet wäre. Das Gesetz kann niemanden zu einer Handlung auffordern, die den Tod eines anderen sicher (oder zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) zur Folge hätte.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

In beiden Fällen stirbt ein Mensch; der Todeseintritt hat jedoch jeweils eine andere Gestalt: einmal erfolgt er durch Herzstillstand, der durch eine Lähmung nach Einnahme eines Nervengifts ausgelöst wird, einmal durch einen Herzstillstand aufgrund Atemnot nach einem allergischen Schock. Folglich kann die unterlassene Warnung des B nicht hinzugedacht werden, ohne daß der Erfolg in der konkreten Gestalt des Herzstillstandes aufgrund Nervengifts und Lähmung entfiele. Diesen konkreten Erfolg hat B trotz der Tatsache kausal herbeigeführt, daß ein gleichwertiger Erfolg – für den Fall, daß B seinen Bruder A doch gewarnt hätte – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf andere Weise, nämlich durch einen allergischen Schock, eingetreten wäre.

D. Objektive Zurechnung des Erfolgs Ob der Täter in einer solchen Konstellation den objektiven Tatbestand tatsächlich verwirklicht hat, ist im letzten Schritt keine Frage der Kausalität, sondern vielmehr eine der objektiven Zurechnung. Objektiv zuzurechnen ist dem Täter im Rahmen des § 13 StGB nur der Erfolg, der gerade auf der Pflichtwidrigkeit des Unterlassens beruht. In dem tatbestandsmäßigen Erfolg muß sich eine Gefahr verwirklicht haben, die zuvor durch das Unterlassen auf rechtlich mißbilligte Weise aufrechterhalten wurde.74 Dies ist anzunehmen, wenn die in der konkreten Situation gebotene Rettungshandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit75 den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges verhindert bzw. das Rechtsgut deutlich geringer verletzt hätte.76 Wäre hingegen der tatbestandsmäßige Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten, fehlt es an einem Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolgseintritt, die objektive Zurechnung des Erfolges ist zu verneinen.

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So Kölbel, JuS 2006, S. 311. Bei der Kausalität und bei der objektiven Zurechnung wird darüber gestritten, wie wahrscheinlich das Entfallen des tatbestandlichen Erfolges sein muß. Wie hier und vertiefend zu weiteren Ansichten: Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 13 Rn. 15; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 713; Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 13 Rn. 15; BGHSt 37, S. 106 [127]; BGH NStZ 1986, S. 217; 1987, S. 505; 2001, S. 188 [190 f.]; BGH NJW 2000, S. 2754 (2757); BGH NStZ-RR 2002, S. 303. 76 Kölbel, JuS 2006, S. 313; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 713. Deutlich strenger ist hier die Risikoerhöhungslehre, die beispielsweise von Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S. 186 f. m.w. N., vertreten wird. 75

E. Rechtliches „Einstehenmüssen‘‘ für das Ausbleiben des Erfolgs

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Erforderlich ist jeweils eine genaue Überprüfung der konkreten Umstände des Einzelfalles. Im obigen Kugelfischfall liegt der tatbestandsmäßige Erfolg der §§ 212, 13 StGB im Tod des A durch Herzstillstand. Hätte B seinen Bruder gewarnt, hätte dieser – angesichts seines Hungers und der Tatsache, daß keine anderen Nahrungsmittel im Hause waren – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Kartoffelgratin verzehrt, was ebenfalls zum Herzstillstand des A geführt hätte. Damit hat sich im Tod des A aber nicht eine Gefahr verwirklicht, die gerade durch das pflichtwidrige Verhalten des B aufrechterhalten wurde und so zum tatbestandlichen Erfolg geführt hat. Denn auch bei pflichtgemäßem Verhalten des B wäre der tatbestandsmäßige Erfolg eingetreten. Dieser ist dem B daher nicht objektiv zuzurechnen.77 Von diesem Ergebnis bleibt eine Strafbarkeit des B wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen, §§ 212, 22, 23 Abs. 1, 13 StGB, freilich unberührt.

E. Rechtliches „Einstehenmüssen“ für das Ausbleiben des Erfolgs Der wohl größte Unterschied zwischen den Begehungsdelikten und den unechten Unterlassungsdelikten besteht darin, daß letztere nicht von jedermann begangen werden können.78 Nicht jedermann kann – über die Anforderungen des § 323c StGB hinaus – verpflichtet sein, bei einer drohenden Gefahr helfend einzugreifen, wo ihm dies möglich ist.79 Die Umsetzung und Durchsetzung einer solchen Pflicht würde den einzelnen und die Rechtsordnung überfordern.80 Vielmehr kann sich der Täter nur dann wegen unechten Unterlassens i. S. d. § 13 StGB strafbar machen, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der 77 Kölbel, JuS 2006, S. 313, zu einen ähnlich gelagerten Fall: „Da sich ein vergleichbarer Erfolg durch das gebotene Einschreiten nicht hätte vermeiden lassen, besteht kein Grund, der Missachtung des Gebots mit einer strafrechtlichen Erfolgshaftung zu begegnen.“ 78 Viele bezeichnen die Garantenstellung als eines der beiden „Gleichstellungskriterien“ für die Gleichstellung der Nichtabwendung eines Erfolges mit dessen Herbeiführung durch positives Tun, so z. B. Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 4, m.w. N. in Fn. 7. Das zweite Gleichstellungskriterium sei die Entsprechensklausel. 79 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S. 190: „[. . .] dadurch würde jedermann als „gleichsam allzuständige(r), in den Mitteln nicht begrenzte(r) Privat-Polizist“ (Naucke, JR 77, 292) zum Hüter sämtlicher Rechtsgüter bestellt, eine zu unerträglicher Bevormundung der Rechtsgenossen untereinander führende und deshalb vor allem in autoritären Systemen mit verordneter (sozialistischer!) Moral beliebte Auffassung, die sich mit liberalen, pluralistischen Systemen dagegen als unvereinbar erweist [. . .].“ 80 Dazu, daß der Bürger grundsätzlich nur verpflichtet ist, Handlungen zu unterlassen, die Rechtsgüter gefährden können, s. schon oben Teil 2 A.I., S. 33 f. mit Fn. 9.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Erfolg nicht eintritt.81 Mit anderen Worten: Er muß gegenüber dem Opfer eine Garantenstellung innehaben, aus welcher eine Pflicht zum Handeln resultiert.82 In dem Entwurf E 1962 zu § 13 StGB heißt es hierzu: „Diese Umschreibung verdeutlicht das Erfordernis der Garantenstellung und der aus ihr entspringenden Garantenpflicht, in Richtung auf die Abwendung des drohenden Erfolges tätig zu werden. In der Garantenstellung liegt ein besonderes Pflichtenverhältnis begründet, das den Garanten aus der Masse der übrigen Rechtsgenossen heraushebt und gerade ihm den Schutz des betreffenden Rechtsgutes vor dem drohenden tatbestandsmäßigen Erfolg auferlegt. Dem Garanten ist die Unversehrtheit des Schutzwertes anvertraut.“83

Einen abschließenden oder auch nur beispielhaften Katalog, aus dem sich ergibt, unter welchen Voraussetzungen eine solche Garantenstellung zu bejahen ist, enthält das Strafgesetzbuch nicht. Die Entscheidung, wann genau jemand gegenüber welcher Person Garant ist, müssen die Rechtsprechung und die strafrechtliche Literatur treffen. Die abstrakten Kriterien, die dieser Entscheidung zugrunde liegen, bilden den Schwerpunkt dieser Arbeit, so daß ihnen ein eigener, von den übrigen Voraussetzungen des § 13 StGB losgelöster Abschnitt gewidmet werden soll.84 Im Rahmen dieses Überblicks muß folglich nicht näher auf sie eingegangen werden.

F. Die Entsprechensklausel I. Anwendungsbereich Schließlich verlangt § 13 Abs. 1 StGB noch, daß das „Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht“.85 Diese 81 Vgl. hierzu Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz, 1986, S. 61 ff. 82 Ausführlich zu der Frage, wann diese Schlußfolgerung zutreffend ist und wann nicht: Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz, 1986, S. 66 ff. Es komme nämlich ganz darauf an, was man unter dem Begriff der Garantenstellung, der nicht im Gesetz zu finden sei, verstehe. Verstehe man darunter allgemein eine „Erfolgsabwendungspflicht“, sei diese begriffliche Gleichsetzung mit dem Einstehenmüssen richtig. Verstehe man hingegen unter „Garantenstellung“ nur ganz bestimmte Erfolgsabwendungspflichten, die sich von den allgemeinen Erfolgsabwendungs- bzw. Handlungspflichten unterscheiden, sei diese Gleichsetzung falsch. Da die zweite Auslegung des Begriffes die führende für Garantenstellungen sei, müsse man zu dem Schluß kommen, daß das Merkmal des rechtlich dafür Einstehenmüssens „nicht [. . .] das Erfordernis einer sog. Garantenpflicht normiert“ (S. 74). 83 BT-Drucks. IV/650, S. 124. 84 Unten Teil 4, S. 82 ff. 85 Die ursprünglich im Gesetzentwurf E 1962 geforderte Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen wurde in der Gesetzesfassung aufgegeben. In BT-Drucks. V/4095, Zweiter Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Begründung § 13, S. 8 heißt es dazu: „Die geänderte Gleichwertigkeitsklausel setzt voraus,

F. Die Entsprechensklausel

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auf einen Vorschlag Gallas’ zurückgehende86 Entsprechungsklausel, deren Bedeutung umstritten war und ist,87 spielt bei reinen Erfolgsdelikten keine Rolle. Hier „entsprechen“ die Unterlassungsdelikte schon deshalb den Begehungsdelikten, weil sie wie diese den in der Norm umschriebenen tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführen. Neben den reinen Erfolgsdelikten existieren Begehungsdelikte, für deren Verwirklichung es neben dem Erfolg auch auf die konkrete Art und Weise der Erfolgsherbeiführung ankommt. Nur wenn über die Erfolgsverursachung hinaus bestimmte Handlungsmodalitäten verlangt werden88 (z. B. die Täuschung beim Betrug,89 § 263 Abs. 1 StGB, oder die spezifischen Begehungsweisen bei der zweiten Gruppe der Mordmerkmale, § 211 Abs. 2 StGB), wird nach herrschender Meinung90 die Entsprechungsklausel relevant91 (sogenannte Theorie der Modalitätenäquivalenz92). daß das Unterlassen der Tatbestandsverwirklichung durch ein Tun „entspricht“. Dieser etwas neutralere Begriff als die Entwurfsformulierung „gleichwertig ist“ wurde gewählt, weil sich der Ausschuß [. . .] für die Zulassung einer fakultativen Milderung entschied, für eine solche Regelung aber kein Raum gewesen wäre, wenn man an dem Erfordernis festgehalten hätte, daß die Unterlassung der aktiven Verwirklichung des Tatbestandes tatsächlich gleich sein muß.“ 86 Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, S. 79 ff. Einen Überblick über die Entstehungsgeschichte der Entsprechungsklausel gibt auch Roxin, in: FS-Lüderssen, 2002, S. 577 f.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 218 ff. 87 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 76; Roxin, in: FS-Lüderssen, 2002, S. 577; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 218. 88 Ob auch ein erfolgsqualifiziertes Delikt durch Unterlassen begangen werden kann, ist umstritten. Hierzu BGHSt 41, S. 113 [116 ff.], m. Anm. Hirsch, NStZ 1996, S. 37. Im Ergebnis wird man mit Ingelfinger wohl davon ausgehen müssen, daß dies nur möglich ist, wenn erst durch das Unterlassen die Gefahr des qualifizierten Erfolges geschaffen oder diese durch das Unterlassen zumindest wesentlich erhöht wird. 89 A. A. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 78, die alle Tatbestandsmerkmale beim Betrug als Erfolg der jeweils vorangegangenen Handlung bzw. des vorangegangenen Unterlassens ansehen. So sei der Irrtum der Erfolg der unterlassenen Aufklärung, die Täuschung daher immer gleichermaßen durch positives Tun wie durch Unterlassen begehbar. Ebenso Roxin, in: FS-Lüderssen, 2002, S. 581 f.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 230 ff. 90 Dargestellt bei Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Auflage 2003, § 15 Rn. 77; Güntge, Begehen durch Unterlassen, 1995, S. 63; Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 5; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, S. 629 f.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, § 13 Rn. 18. Eine Übersicht über die Vertreter dieser Auffassung findet sich bei Roxin, in: FS-Lüderssen, 2002, S. 579 in Fn. 13; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 225 in Fn. 367. A. A. Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 192 f.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Ob diesem Entsprechenserfordernis im konkreten Einzelfall Genüge getan ist, ist eine Frage der Auslegung des betreffenden Begehungstatbestandes und der Subsumtion des Geschehens unter die Vorschrift.93 So müßte ein Gericht beispielsweise im Rahmen der §§ 263 Abs. 1, 13 StGB prüfen, ob eine Täuschung gerade dadurch begangen wurde, daß jemand die von ihm geforderte Irrtumsaufklärung unterlassen hat; bei §§ 211 Abs. 2, 2. Gruppe, 2. Alternative, 13 StGB stellte sich die Frage, ob eine Tötung durch Unterlassen mit gemeingefährlichen Mitteln vorliegt.

II. Verfassungsmäßigkeit Die Entsprechensklausel ist mangels greifbarer Kriterien für das „Entsprechen“ sehr vage gehalten.94 Freilich dürfte es – betrachtet man das langjährige Ringen um eine Formulierung des § 13 StGB –95 nicht oder nur sehr schwer möglich sein, eine exakte, auf alle verhaltensgebundenen Delikte anwendbare gesetzliche Regelung zu finden. Daß der Gesetzgeber sich redlich um eine konkrete Regelung bemüht hat, qualifiziert ein unzulängliches Gesetz jedoch noch nicht als verfassungsgemäß. Daher ist auch die unpräzise Strafbarkeitsvoraussetzung96 der Entsprechensklausel im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG zumindest 91 Andere sind der Auffassung, die Entsprechungsklausel sei überflüssig bzw. erfülle gar keine Funktion. So schreibt Nitze, Die Bedeutung der Entsprechungsklausel beim Begehen durch Unterlassen, 1989, S. 189: „Bereits die Materialien zur Strafrechtsreform lassen unklar, welche Aufgabe die Gleichwertigkeits- oder Entsprechensklausel erfüllen soll. Der Strafrechtswissenschaft ist es seither nicht gelungen, der Entsprechensklausel eine Bedeutung abzugewinnen. Und es kann dies auch nicht gelingen. Alle Suche nach einer Bedeutung muß scheitern, weil sich mit der Entsprechensklausel nicht korrigieren läßt, was schon in der systematischen Erfassung der Straftatmerkmale verfehlt wurde.“ 92 Der Begriff geht zurück auf die Ausführungen von Gallas zu der besonderen Bedeutung der Handlungsmodalitäten bei den Beratungen der Großen Strafrechtskommission, nachzulesen in den Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, S. 79 ff. 93 Ebenso Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, § 13 Rn. 5. Hingegen verlangt die Vorschrift nicht, daß eine Gesamtabwägung vorzunehmen ist, „ob dem Unterlassen in der Unrechtsbewertung das gleiche Gewicht zukommt wie der Begehung durch ein Tun“. 94 Walter, NStZ 2005, S. 241: „Überhaupt ist ziemlich unklar, was sich hinter der Entsprechensklausel in § 13 verbirgt [. . .].“ 95 Vgl. oben die Zusammenfassung in Teil 2 B., S. 48 ff. 96 Einzig für Qualifikationsmerkmale, die auf den Begehungstäter zugeschnitten sind, hat Roxin, in: FS-Lüderssen, 2002, S. 583 ff., sowie in: Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 239 ff., faßbare Kriterien gefunden, wobei er seine Ausführungen jedenfalls zum Teil auf Armin Kaufmann stützt: Die Erfüllung eines solchen Qualifikationsmerkmals könne nur dann angenommen werden, wenn sich die besondere Begehungsweise eines zwischen das Opfer und den Unterlassenden geschalte-

G. Die übrigen Voraussetzungen

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unbefriedigend.97 Sie wurde bisher vom Bundesverfassungsgericht allerdings nicht beanstandet. Vielmehr hat dieses, wie bereits dargestellt,98 § 13 StGB ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt – und somit auch die Entsprechensklausel. Eine anderslautende Entscheidung ist in nächster Zukunft nicht zu erwarten.99

G. Die übrigen Voraussetzungen Daß ein Täter, um voll deliktisch zu handeln, bei vorsätzlichen Unterlassungsdelikten eines Vorsatzes hinsichtlich aller Merkmale des objektiven Tatbestandes – insbesondere auch hinsichtlich seiner Garantenstellung – bedarf, versteht sich von selbst und braucht an dieser Stelle nicht näher erläutert zu werden. Daneben muß für ein rechtswidriges Unterlassen des Täters aus seiner Garantenstellung eine Pflicht zum Handeln resultieren, die sogenannte Garantenpflicht.100 Schließlich muß der Täter auch im übrigen rechtswidrig und schuldhaft101 gehandelt haben.

ten Begehungstäters auch auf den tatbestandsmäßigen Erfolg auswirke. So könne z. B. eine Tötung mit gemeingefährlichen Mitteln durch Unterlassen begangen werden, weil die größere Gefährlichkeit einer solchen Tötung auch das Unrecht und die Schuld des Unterlassenden steigere. Ein Mord durch Unterlassen sei insofern vorstellbar. Hingegen könne eine heimtückische Tötung nicht durch Unterlassen begangen werden, da sich eine solche nicht auf den Erfolg auswirke und im Verhalten des Unterlassenden keine Entsprechung finde. 97 Jähnke, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 407: „Die Gleichstellungsklausel in § 13 StGB verlangt Analogie von Gesetzes wegen und leidet schon deshalb an innerer Unbestimmtheit.“ 98 Oben Teil 2 C., S. 54 ff. 99 Allgemein dazu, daß das Bundesverfassungsgericht angesichts der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers eine Strafnorm nur höchst selten für verfassungswidrig befinden wird, Kudlich, JZ 2003, S. 127 f. Beispielsweise in seiner Entscheidung vom 16.03.2004 (BVerfG NVwZ 2004, S. 597; JuS 2004, S. 714) hat das Bundesverfassungsgericht den § 143 Abs. 1 StGB wegen Verstoßes gegen Art. 72 Abs. 2 GG a. F. für verfassungswidrig erklärt. 100 Näher dazu im folgenden Teil 4 A., S. 84 ff. 101 Zur Strafbarkeit durch Unterlassen trotz fehlender (Handlungs- und) Schuldfähigkeit Baier, GA 1999, S. 272 ff.

Teil 4

Die „Garantenstellung“ im besonderen Das Erfordernis einer Garantenstellung kann – wie nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht ausführte –1 der gesetzlichen Anordnung entnommen werden, daß nur derjenige aus § 13 StGB i.V. m. einem besonderen Deliktstatbestand bestraft wird, der „rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt“. Diese Erkenntnis hilft allerdings insofern nicht weiter, als offen bleibt, unter welchen Voraussetzungen eine solche Garantenstellung anzunehmen ist. Seit dem 19. Jahrhundert2 diskutieren Literatur und Rechtsprechung diverse Ansätze zur Begründung der Garantenstellungen, die allerdings fast gänzlich einer greifbaren (gesetzlichen) Grundlage entbehren und die bislang nicht zu einer allgemein akzeptierten Dogmatik geführt haben.3 Eine Normierung der exakten Voraussetzungen einer Garantenstellung wurde während der langjährigen Entwicklung des § 13 StGB zwar immer wieder diskutiert, jedoch in den verschiedenen Entwürfen mit jeweils ähnlichen Argumenten verworfen. Bei der Begründung des E 1962 heißt es hierzu: „Der Entwurf ist davon abgekommen, im einzelnen die Fälle aufzuzählen, in denen eine Garantenstellung besteht. Sie im einzelnen abschließend zu nennen, was in der für eine Gesetzesfassung gebotenen Kürze ohnehin kaum erreichbar wäre, brächte wenig Gewinn. Zudem könnte hierdurch eine unerwünschte Festlegung der Rechtsentwicklung eintreten, da in dieser Hinsicht noch zahlreiche Zweifelsfragen bestehen, deren Klärung durch die weitere Entwicklung der Rechtslehre und Rechtsprechung zu erhoffen ist. Für die Rechtsanwendung ist auch ein gesetzlicher Hinweis darauf, was das Wesen der Garantenstellung ausmacht, von größerer Bedeutung als eine nicht abschließende Angabe, welche einzelnen Umstände und Verhältnisse eine solche Garantenstellung begründen können.“4

1

s. oben Teil 2 C., S. 54 ff. Knapp hierzu auch das umfassende Werk von Feuerbachs, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 14. Auflage 1847, S. 50. 3 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 2, bezeichnet die Gleichstellungsproblematik bei den unechten Unterlassungsdelikten daher als „das heute noch umstrittenste und dunkelste Kapitel in der Dogmatik des Allgemeinen Teils“. Vgl. auch die Nachweise in Fn. 1 auf S. 17 dieser Arbeit. 4 BT-Drucks. IV/650, S. 124 f. 2

G. Die übrigen Voraussetzungen

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Diese Einschätzung wird im Zweiten schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform bei der Begründung zu § 13 StGB bestätigt: „Allerdings erwies sich bei den Beratungen im Ausschuß – wie bereits früher in der Großen Strafrechtskommission –, daß es unmöglich ist, auch die einzelnen Entstehungsgründe der Handlungspflicht in einer sachgemäßen und erschöpfenden Weise gesetzlich festzulegen. [. . .] Abgesehen von der Schwierigkeit, einen für die praktische Anwendung geeigneten Katalog der Entstehungsgründe aufzustellen, beweist die Tatsache, daß in der Rechtslehre noch sehr über die Einzelheiten dieser Entstehungsgründe gestritten wird, daß die Zeit für eine sachgemäße gesetzliche Regelung jedenfalls dieser Problematik noch nicht reif ist. Der Sonderausschuß beschränkte sich deshalb nach dem Vorbild des § 13 E 62 darauf, das Erfordernis der Garantenstellung und der aus ihr entspringenden Garantenpflicht sowie der Gleichwertigkeit des Unterlassens mit der Tatbestandsverwirklichung durch ein aktives Tun gesetzlich festzulegen.“5

Aus diesem Grunde wird noch heute über die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenstellungen diskutiert. Von den verschiedenen Erklärungsmethoden sollen im folgenden nur einige ausgewählte, und auch diese größtenteils nur überblicksartig dargestellt werden. Es würde zum einen den Rahmen dieser Arbeit sprengen, ginge man auf jede bisher vertretene Auffassung näher ein. Des weiteren haben namhafte Autoren diese Leistung bereits (viel) früher erbracht.6 5

BT-Drucks. V/4095, S. 8. Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 58 ff.; von Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht, Band II: Die Schuld nach dem Strafgesetze, 1907, S. 248 ff. (zumindest inzident); Binding, Normen und ihre Übertretung, Band 2: Schuld und Vorsatz, Hälfte 1: Zurechnungsfähigkeit, Schuld, 2. Auflage 1914, S. 521 ff.; Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 45 ff.; Cambas, Die unechten Unterlassungsdelikte, 1928, S. 12 ff.; Geisler, Das unechte Unterlassungsdelikt, 1930, S. 20 ff.; van Gelder, Die Entwicklung der Lehre von der sog. Erfolgsabwendungspflicht aus vorangegangenem Tun im Schrifttum des 19. Jahrhunderts, 1967, S. 4 ff.; Gentzsch, Die Rechtswidrigkeit der Unterlassung im Strafrecht, 1928, S. 14 ff.; Glaser, Über strafbare Unterlassungen, in: Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, Erster (Einziger) Band, 1858, S. 347 ff., 363 ff.; Granderath, Die Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung aus einem vorangegangenen gefährdenden Verhalten bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1961, S. 55 ff.; Hanke, Das Kommissivdelikt durch Unterlassung, 1917, S. 2 ff.; Kissin, Die Rechtspflicht zum Handeln bei den Unterlassungsdelikten, 1933, S. 15 ff.; Krause, Entwicklung und Wandel des Begriffs der „Rechtspflicht“ bei den unechten Unterlassungsdelikten bis zur Rechtsprechung des Reichsgerichts, 1965, S. 21 ff., 37 ff., 48 ff., 101 ff.; Kugler, Ingerenz und Selbstverantwortung, 1972, S. 12 ff.; Kuhlmann, Die Rechtswidrigkeit der Unterlassung infolge vorausgehenden eigenen Tuns, 1932, S. 2 ff., 28 ff.; Landau, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus Eigentum und Besitz bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1976, S. 8 ff.; Landsberg, Die sogenannten Commissivdelikte durch Unterlassung im deutschen Strafrecht, 1890, S. 7 ff., 44 ff.; Nagler, GerS 111 [1938], S. 7 ff.; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG), 1971, S. 71 ff.; Pfleiderer, Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun, 1968, S. 18 ff., 48 ff., 81 ff.; Redslob, Die kriminelle Unterlassung, 1906, S. 4 ff.; von Rohland, Die strafbare Unterlassung, Erste Abtheilung, 1887, S. 1 ff., 6 ff., 53 ff.; Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlas6

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Im Anschluß an diese Darstellung wird der eigene Lösungsansatz entwickelt werden.

A. Zur Terminologie Als Synonyme für den sperrigen und sprachlich wenig gelungenen Begriff „Einstehenmüssen“ liest man in der Regel die Begriffe „Garantenstellung“ und „Garantenpflicht“. Einige Autoren scheinen tatsächlich zwischen diesen beiden Begriffen nicht zu differenzieren.7 Da jedoch bei der Frage nach der Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens im Zusammenhang mit dem Einstehenserfordernis zwei rechtlich verschiedene,8 wenn auch inhaltlich eng zusammenhängende Voraussetzungen bejaht werden müssen, bietet sich eine terminologische Unterscheidung an. Der Begriff der Garantenstellung sollte für die eine Strafbarkeitsvoraussetzung, der Begriff der Garantenpflicht für die andere verwendet werden.9

I. Die Garantenstellung Das StGB stellt in § 13 klar, daß nur derjenige wegen (unechten) Unterlassens zu bestrafen ist, der rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt. Diese Voraussetzung des „Einstehenmüssens“ ist erfüllt, wenn der Täter in einem bestimmten rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnis zu dem zu schützenden Rechtsgut steht, aus dem sich eine besondere strafrechtliche Verantwortung diesem gegenüber ergibt. Dieses Verhältnis ist als Garantenstellung zu bezeichnen.10

sungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 5 ff.; Schellmann, Die Kausalität der Unterlassung, 1934, S. 8 ff.; Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 79 ff.; W. Schwarz, Die Kausalität bei den sogenannten Begehungsdelikten durch Unterlassen, 1929, S. 3 ff.; Welp, Vorausgegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 26 ff. 7 So lautet beispielsweise die Dissertation von Brammsen aus dem Jahr 1986 „Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten“. Tatsächlich stellt Brammsen in seiner Arbeit die Voraussetzungen dar, unter denen jemand für das Ausbleiben eines Erfolges einzustehen hat – also jedenfalls nach heute häufig vorzufindender Terminologie die Voraussetzungen der Garantenstellung. Keine Differenzierung auch bei Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 715 ff., 718 ff., 738. 8 Unten Teil 4 A.III., S. 86. 9 Ähnlich Busch, in: FS-von Weber, 1963, S. 194: Für die Rechtspflicht habe sich die Bezeichnung „Garantenpflicht“ eingebürgert, für deren Voraussetzungen die Bezeichnung „Garantenstellung“. Sehr deutlich wird diese Differenzierung auch bei Kunkel, StV 2002, S. 334 f.: Die Garantenstellung eines Mitarbeiters im Jugendamt für das Wohl eines Kindes könne zwar nicht mehr bestritten werden; jedoch sei fraglich, welche Handlungspflichten sich aus dieser Garantenstellung ableiteten. Vgl. zudem Knauer, NJW 2003, S. 3102 f.

A. Zur Terminologie

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II. Die Garantenpflicht Die Garantenpflicht kennzeichnet demgegenüber die aus der Garantenstellung resultierende Handlungspflicht. Aus der besonderen strafrechtlichen Verantwortung eines Garanten gegenüber einem anderen Rechtsgut resultiert in der Regel die Verpflichtung, in dem Moment, in welchem dem Rechtsgut Gefahren drohen, geeignete Erfolgsabwendungsmaßnahmen zu ergreifen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann beispielsweise anzunehmen sein, wenn eine sogenannte Pflichtenkollision besteht. Eine solche entsteht, wenn der Unterlassende Garant gegenüber zwei Rechtsgütern ist, die zur selben Zeit seiner Hilfe benötigen, die in gleicher Intensität gefährdet sind und von denen der Garant nur eines retten kann. Entscheidet er sich schließlich für das eine Rechtsgut, kann gegenüber dem anderen keine Handlungspflicht mehr bestehen, obgleich der Unterlassende Garant ist. Anderenfalls würde sich der Unterlassende in einer solchen Konstellation stets strafbar machen: Rettet er beide nicht, würfe die Rechtsordnung ihm dies (zu Recht) vor, rettet er so viele Rechtsgüter, wie ihm im relevanten Zeitpunkt möglich ist, bliebe der Erfolgseintritt bei den verletzten Rechtsgütern immer noch ein Anknüpfungspunkt für den strafrechtlichen Vorwurf. Auch das Strafrecht kann indes den „Täter“ nicht bestrafen, weil er sich zwischen verschiedenen gleichwertigen Rechtsgütern für die Rettung eines Rechtsgutes zu Lasten eines anderen Rechtsgutes entscheidet. Durch eine solche Regelung liefen nämlich beide Rechtsgüter Gefahr, daß der Täter – da er sich ohnehin strafbar machen würde – womöglich gänzlich auf die (auch für ihn selbst nicht immer risikofreie) Rettungshandlung verzichtet. Nach überwiegender Auffassung ist der „Täter“ daher durch einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund gerechtfertigt, weil die Rechtsordnung sein Verhalten nicht mißbilligt. Zu etwas Unmöglichem könne der einzelne rechtlich nicht verpflichtet werden („ultra posse nemo obligatur“).11

10 Früher fanden sich auch andere Bezeichnungen, z. B. diejenige der „Sonderpflicht“ oder der „Rechtspflicht“. Letztere wurde spätestens nach Aufgabe der formellen Rechtspflichttheorie freilich zu Recht als unpassend bzw. unpräzise empfunden, vgl. oben Teil 2 A.IV.2., S. 40 f. 11 Brückner, Das Angehörigenverhältnis der Eltern im Straf- und Strafprozeßrecht, 2000, S. 68 f.; Gropp, in: FS-Hirsch, 1999, S. 215 ff.; Küper, JuS 87, S. 89; Hirsch, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Vor § 32 Rn. 71; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, Vorbem §§ 32 ff. Rn. 73 ff.; Otto, Jura 2005, S. 472; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 735 f. Von seinem eigenen Rechtsgefühl her ebenso Arthur Kaufmann, JuS 1978, S. 361 [366], der freilich keinen Rechtfertigungsgrund findet, der auf einen solchen Fall anwendbar wäre. Zur Pflichtenkollision im Zusammenhang mit § 323c und § 13 StGB Beulke, in: FS-Küper, 2007, S. 1 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

III. Relevanz der Differenzierung für die Frage nach der Strafbarkeit eines Verhaltens Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen zeigt sich folglich in den Konstellationen, in denen zwar eine Garantenstellung zu bejahen ist, eine Garantenpflicht jedoch fehlt. Während die Garantenstellung für die Tatbestandsmäßigkeit einer unterlassenen Handlung eine entscheidende Rolle spielt, wird die Garantenpflicht erst bei der Frage nach der Rechtswidrigkeit bzw. nach der Schuld relevant. Diese Differenzierung wirkt sich vor allem bei der Irrtumslehre aus: Irrt sich der Täter über seine Eigenschaft als Garant, also über die tatsächlichen Voraussetzungen, die diese begründen, fehlt ihm der Vorsatz hinsichtlich eines Merkmals des objektiven Tatbestandes. Er unterliegt einem Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB. Eine fahrlässige Begehung durch Unterlassen über § 16 Abs. 1 S. 2 StGB kommt nur in Betracht, wenn dem Täter ein Fahrlässigkeitsvorwurf gerade im Hinblick auf das (Nicht-)Erkennen der Tatsachen gemacht werden kann, die seine Garantenstellung begründen. Dies wird nur selten der Fall sein. Man stelle sich beispielsweise einen Vater vor, der im Schwimmbad ein Kind ertrinken sieht, ohne zu erkennen, daß es sich um sein Kind handelt. Zum einen ist das Kind zu weit entfernt von ihm, zum anderen hat er es nach der Scheidung von dessen Mutter seit Jahren nicht gesehen. Das Kind stirbt, da ihm niemand zu Hilfe kommt. Der Vater hätte ohne weiteres helfen können, hat dies aber aus Bequemlichkeit unterlassen. Hinsichtlich der Tatsache, daß es sich um sein Kind handelt, er also Garant ist, unterliegt er einem Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB. Der Vorsatz für §§ 212, 13 StGB entfällt. Auch eine Strafbarkeit nach §§ 222, 16 Abs. 1 S. 2 StGB muß verneint werden. Schließlich scheidet als Anknüpfungspunkt für den Fahrlässigkeitsvorwurf die Tatsache aus, daß der Vater vor dem Ertrinkenlassen des Kindes nicht genau nachgesehen hat, ob es sich nicht doch um sein eigenes gehandelt hat. Das Gesetz kann nicht die Sorgfaltspflicht statuieren oder voraussetzen, daß man, bevor man andere ertrinken läßt, sich erst versichert, ob es sich bei diesen nicht womöglich um Anverwandte handelt. Daher verbleibt es in solchen Konstellationen für den Unterlassenden meistens bei einer Strafbarkeit nach § 323c StGB. Sind dem Unterlassenden hingegen die Umstände, aus denen seine Garantenstellung folgt, bewußt, geht er aber davon aus, dennoch nicht handeln zu müssen, so liegt ein Verbotsirrtum nach § 17 S. 1 StGB vor. Erkennt also der Vater in dem obigen Beispiel das ertrinkende Kind als seinen Sohn, denkt jedoch, er müsse diesem nicht helfen, weil er ihn jahrelang nicht gesehen und somit die Verantwortung längst an die Mutter des Kindes abgegeben habe, fehlt ihm lediglich die Einsicht, Unrecht zu tun. Ein solcher Täter ist im Ergebnis grund-

B. Theorien zur Begründung von Garantenstellungen früher und heute

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sätzlich wegen Unterlassens (§ 13 StGB i.V. m. einem Begehungsdelikt) zu bestrafen, es sei denn, daß sein Irrtum unvermeidbar war, § 17 S. 2 StGB. Um gerade hinsichtlich dieser divergierenden – für den Täter durchaus relevanten – Rechtsfolgen die richtige Entscheidung zu treffen, ist eine saubere inhaltlich-rechtliche Unterscheidung zwischen Garantenstellung und Garantenpflicht entscheidend. Dabei hilft es zumindest, von Anfang an terminologisch sauber zu differenzieren.

B. Die Theorien zur Begründung von Garantenstellungen früher und heute I. Die formelle Rechtspflichttheorie 1. Darstellung der Lehre Der erste bekannte Erklärungsversuch für die Entstehung von Garantenstellungen ist in der „formellen Rechtspflichttheorie“ bzw. „Rechtsquellenlehre“ zu sehen.12 Sie fand viele Anhänger im strafrechtlichen Schrifttum; auch das Reichsgericht hielt über einen größeren Zeitraum an ihr fest.13 Die Strafwürdigkeit und die Strafbarkeit bestimmter Unterlassungen waren, wie bereits dargestellt,14 lange vor der Einfügung eines Unterlassungstatbestan-

12 Von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 11. Auflage 1832, S. 22 f. Einen Überblick über die Entwicklung der Rechtspflichttheorie(n) bietet Landau, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus Eigentum und Besitz bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1976, S. 8 ff. 13 RGSt 10, S. 100 [101]: Garantenstellung aus Gesetz, Vertrag, freiwilliger Übernahme; 11, S. 153 [154]; 15, S. 58 f.; 17, S. 260 [261]: die Rechtspflicht bestehe u. U. jedoch über das Ende eines wirksamen Vertrages hinaus fort; 22, S. 332 [333]; 30, S. 125 [125 f.]; 39, S. 397 [398 f.]; 46, S. 337 [343]; 51, S. 9 [12]; 58; S. 130 [131 f.]; 58, S. 244 [245 f.]; 63, S. 392 [394]; 64, S. 272 [276 ff.]; 66, S. 71 [73 ff.]; 71, S. 187 [189]; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Auflage 1931, § 1 Anm. IV, S. 17 ff. (das Unterlassen sei rechtswidrig, wenn die Vornahme der Handlung durch einen Rechtssatz, auch Gewohnheitsrecht, geboten gewesen sei, wenn die Verpflichtung zur Erfolgsabwendung rechtswirksam übernommen worden sei oder wenn eine Pflicht mangelhaft erfüllt worden sei); Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht, 2. Auflage 1932, S. 169 f., der freilich auch schon Ingerenz-Kriterien als Entstehungsgründe einer Garantenstellung nennt; von Liszt/Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 25. Auflage 1927, S. 179 f.; Mezger, Strafrecht I., Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1948, S. 64 ff. Ebenso von Hippel, Deutsches Strafrecht, Band 2 – Das Verbrechen, 1930, S. 161 ff., und ders., Lehrbuch des Strafrechts, 1932, S. 101 f., der wie Gerland diese Theorie nicht im strengsten Sinne vertritt: Seinen Ausführungen zufolge können Rechtspflichten des Unterlassenden auch durch staatliche Anordnung, freiwillige Übernahme oder vorangegangenes eigenes Tun entstehen. 14 s. oben Teil 2 A., S. 33 ff., insbesondere für den hier interessierenden Zusammenhang Teil 2 A.III., S. 35 ff., sowie Teil 2 A.IV., S. 38 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

des bzw. einer allgemeinen Norm, die Unterlassungen unter Strafe stellte, anerkannt. Dabei waren sich Wissenschaftler einerseits einig, daß sich nicht jedermann wegen Nichtvornahme einer im konkreten Einzelfall erforderlichen Rettungshandlung strafbar machen konnte. Andererseits fiel es ihnen schwer, Voraussetzungen und damit auch Grenzen der Unterlassungsstrafbarkeit jenseits der geltenden Gesetze zu entwickeln.15 Der Ausgangspunkt für die Bestrafung eines Unterlassens waren die Begehungsdelikte.16 Die Vertreter der formellen Rechtspflichttheorie konstatierten, daß ein Täter ein Begehungsdelikt auch durch Unterlassen erfüllen könne – dies freilich nur, wenn ihn eine besondere, normativ begründete Rechtspflicht zur Abwehr bzw. Verhinderung des tatbestandlichen Erfolges treffe. Die Auffassung, daß nur die einer Rechtsnorm zu entnehmende Pflicht eine Garantenstellung begründen könne, wird teilweise bis heute vertreten.17 Allerdings war und ist zwischen den Anhängern dieser Theorie umstritten, in welchen Rechtsquellen diese Pflichten statuiert sein müssen. Überwiegend herrscht(e) die Auffassung vor, allein metastrafrechtliche Rechtsquellen könnten eine Garantenstellung begründen.18 Insbesondere wurde hierfür auf das Zivilrecht zurückgegriffen. Die Garantenstellungen sollten unmittelbar aus zivilrechtlichen Gesetzen sowie aus abgeschlossenen Verträgen folgen.19 Diese streng formellen Voraussetzungen wurden indes zu Hindernissen, als man begann, zunehmend Garantenstellungen aus einem gefahrschaffenden Vor15

Andeutungen dazu bereits oben Teil 2 A.IV.3., S. 41 ff. Oben Teil 2 A.III.2., S. 36 f. 17 Vehement beispielsweise von Seebode, in: FS-Spendel, 1992, S. 340 ff. Zur Dogmengeschichte der formellen Rechtspflichttheorien vgl. Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 218 ff. 18 RGSt 58, S. 130 [131 f.]; 63, S. 392 [394]; Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 53: Als seine Monographie erschien, herrschte noch die Dreiteilung der Quellen von Garantenstellungen in Vertrag, Gesetz und vorangegangenes Tun vor. Später wurde aus der Dreiteilung eine „Fünfteilung“: Hinzu kamen die Garantenstellungen aus freiwilliger Übernahme und enger Lebensgemeinschaft: Arzt, JA 1980, S. 648. Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 132, hält solche Pflichten und „sozialethische Normen“ zumindest für „ein (wohl das schwerwiegendste) Indiz für die Allgemeingültigkeit der dieser Norm zugrundeliegenden Wertung“ und damit letztlich für mögliche Grundlagen einer Garantenstellung. Näher zu Bärwinkels Thesen oben Teil 2 A.IV.3.a)cc), S. 43 f., und unten Teil 4 B.II.3.a), S. 99 ff. 19 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 226, machte sich die metastrafrechtliche Wertung zwar auch zunutze, aber nur im negativen Sinne: „Wo nach der engeren Ordnung [damit meint er die metastrafrechtliche Rechtsordnung] eine Rechtspflicht ausscheidet, kommt auch keine Bestrafung in Frage; die bloße Existenz einer metastrafrechtlichen Rechtspflicht besagt dagegen für die Frage der Strafbarkeit noch nichts.“ 16

B. Theorien zur Begründung von Garantenstellungen früher und heute

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verhalten (Ingerenz)20 und aus Gemeinschafts- und Vertrauensverhältnissen21 anzuerkennen: In den (zivilrechtlichen) Gesetzen fanden sich keine Vorschriften, die jemandem aufgrund eines gefährlichen (Vor-)Verhaltens Pflichten auferlegten. Auch waren Pflichten, die aus einem bloßen Zusammenleben mehrerer Personen in einer Wohngemeinschaft oder aus dem Verantwortungsgefühl einer Bergsteigergruppe füreinander resultierten, nirgends gesetzlich festgelegt. Damit aus solchen Verhältnissen Garantenstellungen erwachsen konnten, galt es, die Prämisse zu verändern, daß Garantenstellungen unmittelbar auf eine Norm zurückzuführen sein müssen. Jedoch wollte niemand seine bisher angewandte Dogmatik, die lange als richtig empfunden worden war, für falsch erklären, so daß schließlich ein rechtlicher „Kompromiß“ gefunden wurde: Man bemühte sich, die neuen Garantenstellungen zumindest mittelbar auf Rechtsnormen zurückführen, und sei es z. B. durch Bezugnahme auf zivilrechtliche Schadensersatzpflichten oder auf Gewohnheitsrecht.22 Somit mußte man weder auf den gesetzlichen Ursprung der Sonderpflichten und Sonderverantwortlichkeiten verzichten, noch machte man sich durch widersprüchliche Forderungen (gesetzliche Grundlage einerseits, daneben ausnahmsweise gesetzlich nicht statuierte Pflichten andererseits) unglaubwürdig. Andere stellten von Anfang an nicht auf die außerstrafrechtlichen Rechtsnormen ab. Sie gingen vielmehr davon aus, daß strafrechtlich relevante Pflichten nur aus dem Strafrecht selbst folgen könnten, da der Eintritt einer strafrechtlichen Haftung zwingend die Verletzung einer „strafrechtsgenuinen“ Pflicht voraussetzt.23 Wiederum andere entnahmen und entnehmen die Garantenpflichten sowohl dem Strafrecht als auch außerstrafrechtlichen Normen, wie beispielsweise dem Zivilrecht.24 Diese erweiterten25 Rechtspflichttheorien waren vor allem während der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert anzutreffen und herrschten während der 1930er Jahre nahezu unangefochten im Schrifttum.26

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Bereits BGHSt 4, S. 20 [21 f.]; 11, S. 353, 355. Vgl. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 4. 22 Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 28 m.w. N., insbes. in Fn. 14, 15. 23 Im Ergebnis Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 215 f. Dargestellt auch bei Güntge, Begehen durch Unterlassen, 1995, S. 41, der selbst diese Auffassung nicht teilt. 24 Güntge, Begehen durch Unterlassen, 1995, S. 41, unter Hinweis auf Schultz, Amtswalterunterlassen, 1984, der auf S. 66 ff., 95 ff., 102 ff. darstellt, daß und unter welchen Voraussetzungen Garantenstellungen aus der Amtsstellung und den damit einhergehenden (größtenteils gesetzlich statuierten) Pflichten resultieren. 25 In Abgrenzung zu der streng formellen Rechtspflichttheorie. 26 „Völlig unangefochten“ meint Schünemann, ZStW 96 [1984], S. 290 f. 21

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2. Kritik Gegen die formelle Rechtspflichtlehre spricht heutzutage bereits, daß sie durch die tatsächlichen Gegebenheiten, insbesondere durch die Rechtsprechung überholt ist. Sie konnte schon die Ingerenz-Garantenstellung, die überwiegend, vor allem aber auch vom Bundesgerichtshof akzeptiert wird, nicht zufriedenstellend erklären – der Verweis auf die Schadensersatzpflichten des BGB vermag nicht zu überzeugen. Darüber hinaus ist die formelle Rechtspflichttheorie aus dogmatischen Gründen abzulehnen, da sie in sich nicht schlüssig ist: Bei weitem nicht alle Gesetze, die Handlungspflichten statuieren, führen zu strafrechtlichen Garantenstellungen.27 So beinhaltet beispielsweise § 631 Abs. 1 BGB die Pflicht des Unternehmers, das dem Besteller versprochene Werk herzustellen. Produziert der Unternehmer ein mangelhaftes Werk (also nicht das versprochene Werk bzw. ein Werk, das sich nicht in dem versprochenen Zustand befindet), so ist er unter den Voraussetzungen des § 634 Nr. 4 BGB, der in das allgemeine Leistungsstörungsrecht verweist, zur Leistung von Schadensersatz verpflichtet. Aus der ursprünglichen Vertragserfüllungs- oder aus der später entstandenen Schadensersatzpflicht resultiert jedoch nicht automatisch eine strafrechtliche Garantenstellung des Unternehmers gegenüber den Rechtsgütern – z. B. dem Vermögen – des Bestellers. Die zivilrechtlichen Primär- und Sekundärleistungspflichten dienen dazu, die ordnungsgemäße Vertragsabwicklung sicherzustellen, also dazu, den Geschäftsverkehr zu schützen. Das Leistungsstörungsrecht erreicht diesen Zweck aus seinen Normen heraus – eines Rückgriffes auf die Vorschriften des Strafrechts bedarf es hierzu in der Regel nicht.28 Ein solcher ist als ultima ratio29 vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn „weniger einschneidende Mittel (etwa die des bürgerlichen oder des öffentli27 Arzt, JA 1980, S. 650; Bürkle, DStR 2006, S. 912, zur vermeintlichen Garantenstellung eines Lebensversicherungsunternehmens (bzw. wohl eher dessen Inhabers) gegenüber seinen Versicherungsnehmern; Freund, NJW 2003, S. 3385; Maaß, Betrug verübt durch Schweigen, 1982, S. 18 f.; Mezger, Strafrecht – Ein Lehrbuch, 2. Auflage, 1933, S. 140 f.: Eine gesetzlich statuierte Rechtspflicht müsse den „erweislichen Sinn“ haben, „eine strafrechtliche Haftung für den Erfolg begründen zu wollen. Es genügt mithin nicht das bloße Bestehen einer Pflicht, selbst dann nicht, wenn diese Pflicht auferlegt worden ist, damit Erfolge dieser Art abgewendet werden.“ Dennoch werden auch heute noch häufig außerstrafrechtlichen Gesetzen Garantenstellungen entnommen. Vgl. etwa zur Frage der Garantenstellung von GmbH-Geschäftsführern, die es unterlassen haben, ein schädliches Produkt zurückzurufen, Böse, wistra 2005, S. 42. Dieser schließt aus dem Produktsicherheitsgesetz bzw. aus dem Geräte- und Produktsicherheitsgesetz, die bestimmte Sicherungspflichten für Hersteller von Produkten enthalten, auf eine Garantenstellung der Hersteller. In seinem Beitrag in NStZ 2003, S. 638, konstatiert freilich auch Böse, daß nicht jede Rechtspflicht geeignet sei, eine Garantenstellung i. S. d. § 13 StGB zu begründen. 28 In diese Richtung auch Maaß, Betrug verübt durch Schweigen, 1982, S. 20 ff. 29 BVerfGE 88, S. 203 [258].

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chen Rechts) im Interesse eines wirksamen Rechtsgüterschutzes nicht ausreichen“30 und wenn die Vertragsverletzung für sich genommen strafwürdig erscheint.31 Dieses Ergebnis hat der Bundesgerichtshof im Hinblick auf das Deliktsrecht bereits in seiner „Ledersprayentscheidung“ angedeutet. Welche Voraussetzungen in concreto erfüllt sein müssen, damit auf das Strafrecht zurückgegriffen werden kann bzw. muß, hat das Gericht freilich mangels Entscheidungserheblichkeit offengelassen: „In der Tat spricht manches dafür, daß dieselben Pflichten, die für die zivilrechtliche Produkthaftung maßgebend sind, auch die Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit bilden, zumal die Verpflichtung zum Ersatz produktfehlerbedingter Schäden als ein Fall deliktischer Haftung (§[§] 823 ff. BGB) begriffen wird. Andererseits dürfen die schadensersatzorientierten Haftungsprinzipien des Zivilrechts nicht unbesehen zur Bestimmung strafrechtlicher Verantwortlichkeit benutzt werden.“32

Daß eine Garantenstellung nicht schon aus dem Abschluß eines Vertrages und somit unmittelbar aus dem Zivilrecht folgt, sondern vielmehr der tatsächlichen Übernahme hieraus erwachsender Pflichten bedarf, ist zuvor bereits an anderer Stelle dieser Arbeit dargestellt worden.33 Aus strafrechtlichen Vorschriften, beispielsweise aus § 323c StGB, können hingegen niemals Garantenpflichten erwachsen. Vielmehr wird die Verletzung einer Pflicht, die einem Straftatbestand des StGB zu entnehmen ist, in diesem Tatbestand selbst unter Strafe gestellt. Eine zusätzliche Heranziehung des allgemeinen § 13 StGB verbietet sich daher.34 Umgekehrt existieren einige Garantenstellungen, die nicht gesetzlich fundiert sind. Auch sie werden jedoch von den Vertretern der Rechtspflichttheorie aner30 Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 9. Ebenso Arthur Kaufmann, JuS 1978, S. 365. 31 Günther, JuS 1978, S. 13: „Das Erfordernis der Strafwürdigkeit ergibt sich für den Strafgesetzgeber aus folgenden Gründen: Die strafrechtliche Reaktion ist das äußerste dem Staate zu Gebote stehende Mittel, das Verhalten seiner Bürger zu beeinflussen. Der Täter erhält durch den gerichtlichen Schuldspruch das „Kainszeichen“ des „Verbrechers“ auf die Stirn gedrückt. Sein Verhalten wird durch Hoheitsakt öffentlich gebrandmarkt und damit als abschreckendes Beispiel hingestellt. Diese gewollte Stigmatisierung führt dazu, daß nicht nur der Täter selbst, sondern auch seine Familienangehörigen in ihrer bisherigen sozialen Umgebung auf Ablehnung stoßen, in Isolation zu geraten drohen und als Leute gelten können, mit denen man besser nichts zu tun hat. [. . .] Dieses mit dem Einsatz des Strafrechts dem Täter zugefügte Übel läßt sich nur rechtfertigen, wenn die Sozialschädlichkeit des Täterverhaltens ein solches Ausmaß angenommen hat, daß die durch die Kriminalisierung entstehenden Nachteile aufgewogen werden. Anlaß und staatliche Reaktion müssen verhältnismäßig sein.“ Näher zum Verhältnismäßigkeitsprinzip im Zusammenhang mit § 13 StGB unten Teil 4 C.III.2.h)ee), S. 161 ff. 32 BGHSt 37, S. 106 [115]. 33 Oben Teil 2 A.IV.1., S. 38. 34 Vgl. bereits zuvor Teil 1 B.III.1., S. 26 f., sowie Teil 1 B.IV.4., S. 30 f.

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kannt. Beispielsweise läßt sich keine normative Begründung für die Garantenstellung aus Gemeinschafts- oder Vertrauensverhältnissen finden. Die einzelnen Teilnehmer einer Gruppe von Tiefseetauchern sind weder vertraglich noch durch Gesetz aneinander gebunden. Dennoch bilden sie eine Gefahrgemeinschaft: Je nach Gefährlichkeit der Unternehmung würde einer alleine an ihr gar nicht teilnehmen. Wenn sich aus diesem Grund mehrere mit der Maßgabe zusammenschließen, daß im Notfall jeder dem anderen Hilfe leistet, wird man eine besondere Verpflichtung des einzelnen gegenüber dem Hilfsbedürftigen zu dessen Rettung nur schwerlich bestreiten können. Eine gesetzliche Grundlage für eine entsprechende Garantenstellung, also eine rechtliche und nicht nur moralische Verpflichtung, suchte man freilich vergebens. Wer der Rechtspflichttheorie folgt, kann die Entstehung dieser Garantenstellung nicht erklären und müßte ihre Existenz konsequenterweise ablehnen. So weit gehen möchte heute indes niemand mehr. 3. Zwischenergebnis Insgesamt eignet sich die formelle Rechtspflichttheorie nach dem mittlerweile erreichten Erkenntnisstand nicht mehr zur Begründung von Garantenstellungen. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit ihr erübrigt sich daher.

II. Die materiellen Garantenlehren Neben dem Versuch, die Garantenstellungen formell aus den Gesetzen heraus zu begründen, existieren diverse materielle Garantenlehren.35 Operiert man mit diesen Theorien, so ergeben sich Garantenstellungen aus einer Vertrauensstellung zwischen Täter und Opfer, aus einer besonderen Beziehung des Täters zur Gefahrenquelle,36 aus sozialethischen Verpflichtungen, aus sozialen Schutzfunktionen oder aus der Herrschaft des Täters über das Opfer bzw. über eine gefährliche Sache – um nur einige Erklärungsansätze zu nennen. Jede dieser Theorien hat – soviel sei vorweggenommen – freilich ihre Schwächen, keine vermag für sich betrachtet ein für die Begründung von Garantenstellungen allgemeingültiges tragendes Prinzip aufzuzeigen: Die eine Auffassung verliert sich im Zirkelschluß, die nächste Theorie legt zwar den Ursprung einzelner Garantenstellungen überzeugend dar, kann aber den Grund für die übrigen nicht erklären, ein anderer Ansatz zeigt nicht die Entstehungsgründe von Garantenstellungen auf, sondern setzt – wie sich bei genauerem Hinsehen ergibt – deren Existenz letztlich schon voraus. 35 36

Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 533 mit Fn. 25 bis 40. Bei den sogenannten Überwachungsgarantenstellungen.

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Diese Kritikpunkte sollen im folgenden anhand der Analyse einiger ausgewählter Lehren untermauert werden. 1. Abhängigkeit und Vertrauen als Anknüpfungspunkte a) Ableitung aus dem Gleichstellungsprinzip Am ehesten berührt noch die neokausale Methode37 Wolffs die früher vertretene formelle Rechtspflichttheorie. Als Wolffs Monographie entstand,38 auf die an dieser Stelle Bezug genommen wird, existierte § 13 StGB noch nicht, lediglich erste Entwürfe zur Einführung der Norm lagen vor.39 Aus diesem Grund konnte ein Unterlassender damals wegen „unechten“ Unterlassens nur bestraft werden, wenn sein Unterlassen der aktiven Herbeiführung des Taterfolges gleichzustellen war.40 Die Strafvoraussetzungen mußten einem Begehungsdelikt entnommen werden können. aa) Bewirken eines Erfolges durch Unterlassen An diesem Erfordernis setzt Wolff an: Bei Unterlassungsdelikten müsse der tatbestandsmäßige Erfolg durch Unterlassen ebenso „bewirkt“ werden wie bei Begehungsdelikten durch positives Tun.41 Bei den zuletzt genannten Delikten bewirkt die konkrete Handlung den Erfolg, führt ihn kausal im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel herbei. Da für die Strafbarkeit des Unterlassens keine mechanische Kausalität zwischen der Nichtvornahme einer Handlung und dem Erfolg gefordert werden könne,42 stellt sich für Wolff die Frage, wodurch der Unterlassende den Taterfolg „bewirken“ solle. Anhand des bekannten und prägnanten Beispiels der Mutter, die ihr Kind verhungern läßt, erläutert Wolff, daß der Unterlassende den Erfolg „bewirkt“, indem er eine Situation für den anderen zum Schlechten wendet.43 Damit der Unterlassende hierzu in der Lage sei, müßten zwei aufeinander bezogene Momente vorliegen:44 Erstens dürfe das Opfer dem Unterlassenden nicht nur selb-

37

Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 93. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965. 39 Vgl. oben Teil 2 B., S. 48 ff. 40 Heute ist dieses Gleichstellungserfordernis durch die Entsprechensklausel ersetzt und dadurch leicht abgemildert worden. Grund dafür war vor allem die fakultative Strafmilderung in § 13 Abs. 2 StGB, die bei einer Gleichstellung von Tun und Unterlassen (erst recht) nicht hätte begründet werden können. Hierzu auch schon oben Teil 3 F., S. 78 ff. mit Fn. 85. 41 Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 33 ff. 42 Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 34. 43 Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 37. 38

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ständig gegenüberstehen, sondern müsse von diesem „ursprünglich in bestimmter Hinsicht auch abhängig“ sein. Dabei müsse das, was das Opfer durch seine Abhängigkeit benötige, „zu seinem normalen bestimmungsgemäßen Leben“ gehören und nicht nur eine „besondere Vergünstigung“ sein. Zweitens müsse der Unterlassende „eine echte Wahl zwischen verschiedenen realen [Verhaltens-] Möglichkeiten“ haben. Dadurch daß sich der Unterlassende mindestens zwischen der Vornahme und der Unterlassung einer Rettung des Opfers entscheiden könne, habe das Opfer zunächst die Möglichkeiten, gerettet oder nicht gerettet zu werden. Dieses insofern „offene“ Geschehen gestalte der Täter, wenn er die Rettung unterlasse: Er mache die Rettungsmöglichkeit, auf die das Opfer aufgrund seiner Abhängigkeit angewiesen sei, zunichte und wende die Lage somit für dieses zum Schlechten. Aufgrund seiner Entscheidungsfreiheit sei der Unterlassende der Urheber dieser „negativen Bedingung“. bb) Garantenstellung aufgrund Abhängigkeitsverhältnisses und Vertrauens Aus dem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Opfer und Verpflichtetem könne zugleich die Garantenstellung des Verpflichteten resultieren. Allerdings müsse dazu das Abhängigkeitsverhältnis vom Recht anerkannt sein, da nur dann das Opfer dem Verpflichteten „in die Hand gegeben“ sei.45 Grundsätzlich seien die Rechtssubjekte nämlich selbständig,46 so daß Dritte nicht über die allgemeine Solidarität hinaus verpflichtet seien, ihnen zu Hilfe zu kommen. Dies sei der Preis dafür, daß jeder in seiner Lebensgestaltung frei sei und keine Anweisungen entgegenzunehmen brauche. Etwas anderes gelte nur dann, wenn bei dem einzelnen Mängel der eigenen Gestaltungsmöglichkeit bestünden, z. B. wenn sich jemand der Hilfe eines anderen vertraglich versichert habe und sich in eine Situation begebe, in welcher er auf eben diese Hilfe angewiesen sei.47 Man könne dieses Verhältnis auch „Vertrauensverhältnis“ nennen, da der einzelne darauf baue, „daß die anderen ihre Verpflichtungen wirklich erfüllen, und durch dieses Vertrauen ist er von ihnen abhängig“.48 Eine konkrete gesetzliche Regelung dieser Abhängigkeitsverhältnisse gebe es nicht, weshalb man darauf angewiesen sei, „aus der Rechtsordnung als ganzer solche Verhältnisse zu konkretisieren“.49 44 Die Darstellung findet sich mit den folgenden Zitaten bei Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 37. 45 Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 40 f. 46 Gemeint ist wohl eine Selbständigkeit i. S. einer Eigenverantwortlichkeit. 47 Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 40. 48 Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 40. 49 Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 38, der allerdings darauf hinweist, daß eine solche Leistung im Rahmen seiner Untersuchung nicht umfassend erbracht werden könne.

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cc) Reaktionen in der Literatur Die Abhängigkeit des Opfers vom Unterlassenden bzw. das Vertrauen in das Tätigwerden des Unterlassenden als Grundlage der Garantenhaftung wurde von anderen Autoren aufgegriffen.50 Mezger hat bereits konstatiert, daß die Erfolgsabwendungspflichten aus besonderer Übernahme darauf beruhen, daß „sich der Vertragspartner auf die zugesagte Hilfe verläßt und im Vertrauen darauf andere Sicherung unterläßt.“51 Vogler bezieht sich auf diese Aussage und folgert daraus, daß der Grund der Garantenpflicht in dem Vertrauen zu suchen sei, welches das Verhalten der Vertrauenden bestimme.52 Im Vertrauen auf die Übernahme des Rechtsgüterschutzes bzw. der Überwachung einer Gefahrenquelle handelten andere Personen entweder rechtsgutsgefährdend oder unterließen eigene Schutz- bzw. Überwachungsmaßnahmen.53 Auch Kühne geht davon aus, daß es immer eine Vertrauensposition sei, die im Rahmen einer Garantenpflicht sanktioniert werde.54 Schließlich konstatiert Rudolphi, daß eine Garantenstellung nur insoweit in Betracht komme, als „das Opfer in seiner Unversehrtheit von dem helfenden Eingreifen des Unterlassenden abhängig ist, und zwar, weil es auf dieses rettende Eingreifen in gleicher Weise vertrauen darf wie auf das Ausbleiben gefährlicher Handlungen“.55 b) Schwächen dieses Ansatzes Den Auffassungen Wolffs, Voglers und Kühnes ist gemein, daß sie zu unbestimmt sind, um in zuverlässiger Weise Garantenstellungen begründen zu können. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß bei den Unterlassungsdelikten typischerweise das Opfer von der (unterbleibenden) Handlung des Täters abhängig ist. Auch kann man davon ausgehen, daß der Garant eine Vertrauensposition innehat, die er enttäuscht, wenn er wider Erwarten nicht tätig wird.

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Kritisch hierzu Seelmann, GA 1989, S. 244. Mezger, Strafrecht – Ein Lehrbuch, 2. Auflage 1933, S. 144. 52 Vogler, in: FS-Richard Lange, 1976, S. 281. 53 Vogler, in: FS-Richard Lange, 1976, der in Fn. 83 darauf hinweist, daß das Vertrauen nicht kausal dafür gewesen sein müsse, daß jemand eigene Handlungen zum Schutz des Rechtsguts oder zur Überwachung einer Gefahrenquelle unterlassen habe. Relevant sei nur der soziale Tatbestand, wobei Vogler offenläßt, was genau unter diesem Begriff zu verstehen sei. 54 Kühne, Geschäftstüchtigkeit oder Betrug, 1978, S. 80 f. 55 Rudolphi, NStZ 1984, S. 150. 51

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Jedoch bleiben die Autoren die Antworten auf mehrere Fragen schuldig: Was ist eine „ursprüngliche“ Abhängigkeit? Wann gehört das durch das Abhängigkeitsverhältnis Erwartete zum „normalen bestimmungsgemäßen Leben“? Unter welchen konkreten Voraussetzungen entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis? Wie und wo kann das Abhängigkeitsverhältnis der Rechtsordnung entnommen werden? Was bedeutet Vertrauen? Welche Funktion hat Vertrauen? Was sind die relevanten vertrauensbildenden Kriterien? Wann ist ein Vertrauen berechtigt?56 Wer muß der Vertrauende57 sein – eine Einzelperson oder die Allgemeinheit? Letztlich führen die Ansätze der genannten Autoren zu mehr Problemen, als sie zu lösen imstande sind. Aus diesem Grund sind sie abzulehnen. 2. Garant aufgrund Gefahrverursachung a) Inhalt und Begründung dieser Auffassung Eine vergleichsweise junge Theorie zum Ursprung von Garantenstellungen stammt von Arzt.58 Er sieht Garantenstellungen als „funktionales Äquivalent zur Kausalität beim positiven Tun“59 an. Während beim positiven Tun die Kausalität die „äußere Reichweite“ der Tatbestandsmerkmale bestimme (der Täter müsse eine Bedingung für den Erfolg gesetzt haben), erfülle bei den Unterlassungsdelikten die Garantenstellung diese Funktion.60 56 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 251, konstatiert zu Recht, daß Vertrauen niemals der Grund für eine Garantenstellung, sondern lediglich die Folge einer Garantenstellung sein könne: „Die Feststellung, daß der Unterlasser ein schutzwürdiges Vertrauen seiner Mitbürger enttäusche, setzt schließlich immer voraus, daß die Garantenstellung zuvor insgeheim bejaht wurde (denn sonst ist das Vertrauen nicht schutzwürdig!), und der ganze auf dem Vertrauensmoment basierende Schluß stellt somit nur eine petitio principii dar.“ Anders Blei, in: FS-H. Mayer, 1966, S. 137 ff. 57 Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965, S. 40, spricht zumindest davon, daß „der Betroffene“ vertrauen durfte. 58 Arzt, JA 1980, S. 553 ff., 647 ff., 712 ff. Ihm folgend Schultz, Amtswalterunterlassen, 1984, S. 138 ff., 145 ff., 161. 59 Arzt, JA 1980, S. 553. Insofern weisen seine Ausführungen gewisse Parallelen zu der Auffassung Wolffs auf, oben Teil 4 B.II.1.a), S. 93. 60 Schon Arzts Begründung für diese These überzeugt indes nicht: Er ist der Ansicht, die conditio-sine-qua-non-Formel wirke als erstes Sieb bei der juristischen Subsumtion. Was z. B. für den Erfolgseintritt „Tod“ nicht kausal sei, erfülle auch nicht das Tatbestandsmerkmal „töten“. – „Daß T den O tötet, wenn er ihm mit einer Axt den Schädel spaltet, bedarf keiner Begründung.“ – Diese „Siebfunktion“ erfülle die Kausalität beim Unterlassen hingegen nicht, weil für den Hungertod des Kindes O in München nicht nur die unterlassene Fütterung durch seine Mutter T, sondern auch die unterlassene Fütterung durch den in Rio weilenden V kausal sei. – „Wäre V ein paar Wochen vor dem Tod des O nach München geflogen und hätte er eingegriffen, wäre O noch am Leben.“ – Für den Tod des O nach dem Axthieb war jedoch auch nicht nur das Verhalten des zuschlagenden T kausal, sondern auch der Verkauf der Axt oder

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Wegen der von Arzt angenommenen Nähe zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten müsse die Garantenstellung auf eine ähnliche Basis zurückzuführen sein wie die Kausalität. Seiner Auffassung nach steckt „in allen Garantenstellungen [. . .] eine rudimentäre Gefahrschaffung als Begehungselement“. Das Setzen einer Bedingung für den Erfolg bzw. die Schaffung einer Gefahr stelle die gemeinsame Basis von Kausalität und Garantenstellung dar. Garant könne folglich nur sein, wer eine Gefahr für das Opfer geschaffen habe; diesem Erfordernis sei auch Genüge getan, wenn der Retter grundsätzlich seine Rolle übernommen habe, sie aber im Einzelfall nicht erfülle.61 Zur Verdeutlichung von Arzts These mag einmal mehr das einprägsame Beispiel des Babysitters dienen: In dem Moment, in dem ein Babysitter das zu beaufsichtigende Kind von der Mutter in Empfang genommen hat, hat er seine Rolle als Beschützer bzw. Retter des Kindes übernommen. Beobachtet er anschließend, wie das Kind in einen Brunnen fällt, und rettet er es nicht, erfüllt er seine Rolle in diesem konkreten Fall nicht. Dadurch hat er eine Gefahr geschaffen und ist nach Auffassung Arzts Garant. Ausgehend von dieser Prämisse konstatiert Arzt, daß die verschiedenen Garantenstellungen „bestenfalls schwerpunktmäßig unterscheidbar“ seien.62 Sie könnten in fünf verschiedene Garantengruppen unterteilt werden, die vielfach ineinander übergingen: Gesetz, Vertrag, freiwillige Übernahme, enge Lebensgemeinschaft und Gefahrschaffung.63 Die einzelnen Garantenstellungen innerhalb dieser Gruppen könnten stärker oder schwächer ausgeprägt sein, was insbesondere für die Qualifizierung eines Unterlassenden als Täter oder Teilnehmer relevant werden könne.64 Daneben sei es auch möglich, „mehrere isoliert betrachtet jeweils nicht voll gegebene Garantenstellungen zu addieren und zu einer vollen Garantenstellung zu gelangen“.65 b) Kritische Auseinandersetzung Der Auffassung Arzts kann aus mehreren Gründen nicht gefolgt werden. (um die Formel von der Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele, auf die Spitze zu treiben) die Zeugung des T durch seine Eltern. Die Bejahung äquivalenter Kausalität alleine vermag daher weder den Tatbestand noch einzelne Tatbestandsmerkmale einzugrenzen, weshalb eine weitere Kontrolle im Rahmen der Zurechnungsprüfung anhand von Adäquanzkriterien vorzunehmen ist. 61 Arzt, JA 1980, S. 651. 62 Arzt, JA 1980, S. 648. 63 Arzt, JA 1980, S. 648, der jedoch die Zweiteilung der Garanten in Beschützerund Überwachergaranten daneben nicht ablehnt. Vielmehr geht er davon aus, daß sich diese Einteilungsarten „wechselseitig ergänzen“. 64 Arzt, JA 1980, S. 557. 65 Arzt, JA 1980, S. 649.

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aa) Kriterium der Gefahrschaffung Zwar erscheint es selbstverständlich, daß jemand, der in vorwerfbarer Weise eine Gefahr geschaffen hat, verhindern muß, daß sich diese in einem tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert. Ein solcher Täter ist Garant. Jedoch handelt es sich bei dem Merkmal der Gefahrschaffung lediglich um eine hinreichende, nicht aber um eine notwendige Bedingung. Mit anderen Worten: Jeder, der rechtlich vorwerfbar eine Gefahr geschaffen hat, ist Garant, aber nicht jeder Garant muß, um als solcher qualifiziert zu werden, eine Gefahr geschaffen haben. Letztlich gesteht Arzt dies selbst ein, wenn er, um die Anwendbarkeit seiner These auf die typischen Fallkonstellationen beim Unterlassen zu ermöglichen, konstatiert, daß eine Gefahr bereits dann begründet werde, wenn der Täter die Verantwortung für die Rettung des Opfers grundsätzlich übernommen habe, im konkreten Fall aber die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen unterlasse bzw. nur unzureichende Rettungsmittel ergreife. Tatsächlich begründet der Unterlassende in einem solchen Fall jedoch keine Gefahrensituation, sondern nutzt eine vorgefundene Gefahrenlage zu Lasten des Opfers aus – was im übrigen auch auf den am Tatort zufällig vorbeispazierenden quivis ex populo zutrifft. Daß sich der Unterlassende bei Vorfinden einer solchen Situation ggf. wegen unechten Unterlassens und nicht „nur“ wegen echten, jenseits von § 13 StGB normierten Unterlassens strafbar macht, behauptet Arzt nur. Eine tragfähige Begründung dafür bleibt er jedoch schuldig. bb) Gefahrschaffung als eine Garantengruppe unter anderen Zudem verwundert es, daß Arzt bei seiner Einteilung der „Garantenstellungsquellen“ in fünf Gruppen als eine mögliche Gruppe die „Gefahrschaffung“ nennt. Entweder wird doch die Gefahrschaffung als eine alle Garantenstellungen einende Voraussetzung aufgefaßt (dann kann sie keine eigenständige Gruppe unter anderen bilden) oder aber als Grundlage für eine einzelne Garantenstellung(sgruppe), z. B. die Garantenstellung aus Ingerenz. Arzt widerspricht sich daher selbst, wenn er einerseits behauptet, nur derjenige könne Garant sein, der eine Gefahr für ein Rechtsgut geschaffen habe, wenn er aber andererseits zugleich die Gefahrschaffung als (nur) eine von fünf Garantengruppen benennt. cc) Unterlassen nur eines Garanten bei gleichzeitiger Existenz mehrerer Selbst wenn man einmal die bereits genannten Kritikpunkte außer Acht ließe, versagt das Gefahrschaffungselement als Begründung einer Garantenstellung aus Übernahme, wenn mehrere Personen die Verantwortung für den Schutz des Opfers (alternativ oder kumulativ) zugesagt haben.66 Worin besteht bei einer

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solchen Konstellation die Gefahrschaffung, wenn lediglich eine Person ihr Hilfeleistungsversprechen doch nicht erfüllt? Soll der Unterlassende dann nur Garant sein, wenn auch die anderen Verpflichteten keine Hilfe leisten, soll die Garantenstellung also ex post bestimmt werden können? Oder besteht die Gefahrschaffung darin, daß er dem Opfer eine potentielle Rettungsmöglichkeit nimmt, während andere realistische Rettungschancen fortbestehen? Eine befriedigende Antwort, die auch dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG Rechnung trägt, wird man auf diese Fragen wohl nicht finden können. dd) Rechtssicherheit Schließlich befremdet es (vorsichtig ausgedrückt), wenn Arzt – weil er mit seinem Gefahrschaffungskriterium nicht stets zu dem gewünschten oder bereits von der Rechtsprechung anerkannten Ergebnis kommt – mehrere nur teilweise erfüllte Garantenvoraussetzungen, die alle miteinander in engem Zusammenhang stehen sollen, zu einer vollständigen Garantenstellung addieren möchte.67 Rechtssicherheit kann bei einem solchen Vorgehen nicht mehr gewährleistet werden. Wieviel Prozent von welchen Voraussetzungen welcher Garantenstellungen müßten insgesamt erfüllt sein, damit sie gemeinsam eine „hundertprozentige“ Garantenstellung ergeben? Wer hätte über diese Frage anhand welcher Kriterien zu entscheiden? 3. Soziologisch fundierte Garantenlehren a) Die „soziale Rolle“ als entscheidendes Kriterium Bärwinkel68 setzte zur Begründung von Garantenstellungen im außerjuristischen Bereich an, genauer bei der Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft. aa) Grundvoraussetzungen des Zusammenlebens in einer Gesellschaft Eine Gesellschaft sei dadurch gekennzeichnet, daß die in ihr lebenden Menschen durch bestimmte Verhaltensweisen miteinander kommunizierten, die für jedermann aus sich heraus verständlich seien:69 durch die Art der Kleidung, 66

So schon Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 534. Arzt, JA 1980, S. 649. 68 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 91 ff., insbes. S. 104 ff. Vor ihm bereits, wenn auch wesentlich knapper: Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 96 ff. 69 Dies betont auch Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 95 f. 67

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durch das gegenseitige Grüßen, durch das Verhalten eines Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber, durch die Errichtung bestimmter (öffentlicher) Einrichtungen etc. So unterschiedlich die Menschen im einzelnen auch seien, so sehr glichen sich ihre Verhaltensweisen in bestimmten Situationen in einer bestimmten Umgebung. Diese Sitten und Gebräuche, diese „objektivierten Sinnbezüge“70 finde der einzelne vor und benutze sie, schon weil sie das Zusammenleben deutlich vereinfachten. bb) Arbeitsteilung Eine weitere „Rationalisierung“ des Lebens finde dadurch statt, daß innerhalb einer Gesellschaft die Aufgaben auf viele Schultern verteilt würden und daß jeder anteilig seine für das Funktionieren einer Gemeinschaft erforderlichen Arbeiten erledige. Der einzelne übernehme durch seine Bildung, seinen Beruf, seine gesellschaftliche und familiäre Situation eine soziale Rolle, aus der ihm Rechte, aber auch Pflichten erwüchsen. Diese Rolle bestehe jeweils innerhalb einer Gruppe, also innerhalb eines „Miteinander[s] einer Mehrzahl aufeinander bezogener und voneinander abhängiger Menschen (Kollektivierung) in einer sinnbestimmten Einheit (Objektivierung).“71 cc) Normierung des Alltagslebens und Rollenverteilung Damit dieses Leben im Kollektiv funktionieren könne, verlange die Gesellschaft vom einzelnen, daß er sich an Regeln, an Normen halte.72 Je mehr Rollen es gebe und je vielfältiger sie würden, desto größer sei einerseits die Entlastungsfunktion für die Gesellschaft. Andererseits sei aber auch der einzelne in zunehmendem Maße darauf angewiesen, daß die anderen ihre Rollen einhielten.73 Der einzelne übernehme somit im Rahmen seiner Rolle Verantwortung für seine Mitmenschen. Aus diesem Grunde könnten den jeweiligen Rollen grundsätzlich Garantenpflichten erwachsen. Allerdings könne eine Unterlassung im Rechtssinne nur vorliegen, wenn gerade die soziale Rolle des Unterlassenden eine Handlung zugunsten des gefährdeten Rechtsguts gebiete. Mit anderen Worten: Es könne nur 70 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 105. 71 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 107. 72 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 106. Ebenso Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 95 ff. 73 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 109.

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derjenige „wegen der Nichtabwendung eines Erfolges bestraft werden, zu dessen Rolle eine Abwendung gehörte.“74 dd) Strafrechtliche Relevanz der einzelnen „Rollen“ Nachdem jeder Mensch jedoch nicht nur eine Rolle innerhalb einer Gruppe übernommen habe, sondern vielmehr innerhalb mehrerer Gruppen (z. B. Familie, berufliches Umfeld, Sportverein) mehrere Rollen, könne nicht jede Rolle und jedes Verhalten strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Anderenfalls würden dem einzelnen zu viele Pflichten überbürdet, die zu erfüllen er gar nicht imstande wäre und für deren Unterlassen er demnach auch nicht bestraft werden dürfte. Für das Strafrecht könnten vielmehr nur solche Rollen relevant seien, „deren Verwirklichung für das gedeihliche Zusammenleben (das Sozialleben) notwendig“ seien,75 die also einen Forderungs- und nicht nur einen Aufforderungscharakter hätten.76 Zudem sei stets das eigentliche Ziel der Gesetze im Blick zu behalten, nämlich die Aufrechterhaltung des Gemeinwohls.77 Folglich komme es für das Strafrecht nur auf die Rolle an, die der einzelne in der Gemeinschaft und damit für das Gemeinwohl spiele, nicht auf diejenige, die er innerhalb einer einzelnen Gruppe einnehme. Abschließend könne man die Garantenstellung nach der Auffassung Bärwinkels definieren als eine sozialethische Schutzpflicht, die durch eine strukturell für das Gemeinwohl notwendige Rolle spezialisiert ist.78

74 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 111, ähnlich noch einmal auf S. 129. 75 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 111 f., 126. (Hervorhebung nur hier.) 76 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 112 f. (Hervorhebung nur hier.) 77 Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 96 ff. 78 Mit ähnlichen Worten faßt Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1968, S. 114, seine Thesen zusammen. Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 99, formuliert seine Anforderungen an eine strafrechtlich relevante soziale Rolle wie folgt: „Der Unterlassende muß, soll seine Untätigkeit einem Handeln gleichwertig sein, im sozialen Leben eine Schutzfunktion ausüben, kraft derer er in der Weise zur Abwendung der einem bestimmten Rechtsgut drohenden Gefahren berufen ist, daß ihm die maßgebliche Entscheidung über den Eintritt der drohenden Rechtsgutsverletzung obliegt und er daher als Garant für den Nichteintritt dieser Rechtsgutsverletzung erscheint; m. a. W. der Unterlassende muß die „Zentralgestalt“ des zu der Rechtsgutsverletzung hindrängenden Geschehens sein.“

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b) Die „Systemtheorie“ Der Versuch Philipps, die Entstehung von Garantenstellungen zu erklären, ist ebenfalls vorstrafrechtlich auf der Grenze zwischen Rechtsphilosophie und (Rechts-)Soziologie zu verorten. aa) Die Entstehung einzelner „Systeme“ Philipps Auffassung zufolge „bewegt sich der Mensch in einem Spielraum, der durch Naturgesetze und Verbote begrenzt wird.“79 Diesem Spielraum vermöge der Mensch selbst (zusätzliche) Grenzen zu setzen und durch seine Handlungen bestimmte Vorgänge bzw. Geschehensabläufe aus dem System auszuschließen, die seiner Herrschaft unterworfen seien. Auf diese Weise schaffe der Mensch sich künstliche Welten, die Philipps als „soziale und technische Systeme“ bezeichnet.80 Nachdem sich jeder Mensch in solchen Systemen befinde, bestimme sich die Pflichtgemäßheit eines Verhaltens nach dem Status des einzelnen in einem konkreten System sowie nach dem Verhältnis dieses Systems zur sozialen Außenwelt. Diese Faktoren entschieden – und allein das ist an dieser Stelle interessant – folglich auch darüber, ob dem Unterlassenden ein tatbestandlicher Erfolg zuzurechnen sei.81 bb) Erfolgszurechnung bei „echten“ Unterlassungsdelikten Dabei unterscheidet auch Philipps zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten. Die echten Unterlassungsdelikte ereigneten sich gleichsam außerhalb eines Systems und seien dadurch gekennzeichnet, daß es von einem doppelten Zufall abhänge, ob sich jemand strafbar mache. Um welche Zufälle es sich dabei handeln müsse, erläutert er am Beispiel der unterlassenen Hilfeleistung, § 323c StGB:82 Erstens müsse der Unterlassende von dem Unglücksfall Kenntnis erlangen, zweitens müsse er in der Lage sein, Hilfe zu leisten. Nur wenn beide Voraussetzungen vorlägen und der Betreffende trotzdem nicht handele, könne er bestraft werden. cc) Erfolgszurechnung bei „unechten“ Unterlassungsdelikten Bei den unechten Unterlassungsdelikten würden diese Zufälle ausgeschaltet bzw. vermindert: Wenn in einem vorhandenen System eine Gefahr für ein Rechtsgut bestehe, also eine Bedingung eingetreten sei, die eine Rettungshand79 80 81 82

Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 132. Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 132. Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 137. Bei Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 158, noch § 330c.

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lung erforderlich mache, dann werde diese Handlungsbedingung für denjenigen, der sich als Teil des Systems begreife, zum Signal, das ihn zu dem gebotenen Handeln aufrufe. Ein solches Signal könne auch ausdrücklich gegeben werden, etwa durch Warn- oder Hinweiszeichen in Arbeitsprozessen oder (am deutlichsten) durch Vereinbarungen bzw. durch Verabredungen eines bestimmten Verhaltens.83 Ein Systemangehöriger habe sich so zu verhalten, daß er von diesen Handlungsbedingungen stets Kenntnis erlange und dadurch stets imstande sei, die geforderte Handlung vorzunehmen:84 Innerhalb seines Systems (wobei man Philipps Ausführungen zufolge nicht dem einen System angehört, sondern vielen verschiedenen, die sich auch partiell überschneiden können) sei der einzelne Garant. All dies setze jedoch voraus, daß der Unterlassende „seine Stellung im System vor dem Eintritt der kritischen Situation bezogen“ habe.85 Nur dann dürften Dritte innerhalb des Systems darauf vertrauen, daß er Rettungsmaßnahmen einleite. Trete der Garant erst bei Vorliegen der Krise in seine Stellung ein, sei „er lediglich insoweit verantwortlich, als sein Dazwischentreten andere Rettungsmöglichkeiten vereitelt“ habe.86 Eine Vertrauensgrundlage sei vorher nicht geschaffen worden, so daß man streng zu prüfen habe, ob der Dritte im Vertrauen auf eine Rettungsmaßnahme des Unterlassenden auf andere Kompensationsmöglichkeiten verzichtet habe.87 Sei dies der Fall gewesen, habe der Verpflichtete die Gefahr für den Verletzten relativ erhöht, weshalb er für den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges verantwortlich zu machen sei. c) Garantenstellung aufgrund gegenseitiger Erwartungshaltungen im sozialen Alltagsleben In eine ähnliche Richtung weisen die Ausführungen von Otto und seinem Schüler Brammsen zum Thema Garantenstellung. Sie haben eine ethnomethodologische Garantenlehre entwickelt, d.h. eine, sie sich an den Strukturen des sozialen Alltagslebens orientiert.88

83 Vgl. zu diesem wie zu dem vorangegangenen Absatz Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 162. 84 Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 158. 85 Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 174. (Hervorhebung im Original.) 86 Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 175. 87 Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 178. 88 Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 536 f.; Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 114 ff.

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aa) Die Rollen- bzw. Systemtheorie als Ausgangspunkt Auch diese Theorie geht zunächst einmal von den Ergebnissen der rollenbzw. systemtheoretischen Untersuchungen aus:89 In einer komplexen Welt seien die Menschen darauf angewiesen, daß jeder sich auf bestimmte Tätigkeiten bzw. Verhaltensweisen spezialisiere. Durch diese Spezialisierung übernehme der einzelne eine Rolle in der Gesellschaft. Eine Rolle „bewirkt [. . .] Sicherheit und Verläßlichkeit in der Alltagswelt, schafft Konformität und entlastet dadurch von Komplexität“.90 bb) Das Entstehen gegenseitiger Verhaltenserwartungen Aus diesen Rollen resultierten Verhaltenserwartungen91 der Mitmenschen, die allgemein in bestimmten Situationen an die „Rolleninhaber“ gerichtet seien.92 Verhaltenserwartungen seien sinnhaft-funktional aufeinander bezogen, ergänzten und beeinflußten sich gegenseitig93 und bildeten zahllose Verhaltenssysteme, die ihre jeweilige Funktion möglichst reibungslos erfüllen müßten und deren Anfor-

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Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 536. Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 536; Wiswede, Rollentheorie, 1977, S. 100 ff. 91 Den Terminus „berechtigtes Erwarten“ kannte schon Binding, Normen und ihre Übertretung, Band 2: Schuld und Vorsatz, Hälfte 1: Zurechnungsfähigkeit, Schuld, 2. Auflage 1914, S. 582. Auch Arzt, JA 1980, S. 650, verwendet den Begriff der „Erwartung“, beschränkt jedoch dessen Relevanz auf eine bestimmte Garantengruppe: „Schutzpflichten aus Gesetz begründen eine Garantenstellung nur, wenn nach dem Vorverhalten die Erwartung begründet ist, daß der Verpflichtete seinen Pflichten nachkommen wird.“ In der Rechtsprechung findet sich dieser Begriff nicht regelmäßig, aber doch an einigen Stellen, z. B. angedeutet bei RGSt 12, S. 395; 27, S. 1 [3]; KG VRS 12, S. 372 [380]; OLG Karlsruhe GA 1971, S. 281 [283]: „[. . .] wenn die Beteiligten sich nach der Verkehrssitte auf das positive Handeln dieser Person verlassen. [. . .] strafrechtliche Verantwortlichkeit nur dann besteht, wenn die Allgemeinheit wegen eines bestimmten Autoritäts- oder Vertrauensverhältnisses darauf vertrauen darf, daß der Aufsichtspflichtige Gefahren für Dritte, die von der zu überwachenden Person ausgehen, beherrscht und schädliche Auswirkungen verhindert.“ OLG Nürnberg MDR 1964, S. 693 f. Von „Vertrauen“, aus dem Rechtspflichten resultieren, sprechen ebenfalls RGSt 61, S. 228 [230], allerdings im Zusammenhang mit dem Untreuetatbestand; 66, S. 56 [58], wobei aus dem Vertrauen ein Vertragsverhältnis entstanden sein soll; 70, S. 45; BGHSt 27, S. 10 [13]; 30, S. 177 [181 f.] – um nur einige zu nennen. Vertrauen als Grundlage für eine Garantenstellung aus Übernahme fordert laut Jasch, NStZ 2005, S. 12, heute sogar die herrschende Ansicht. Bereits früher Blei, in: FS-H. Mayer, 1966, S. 137 ff. 92 Man erwartet beispielsweise von einem Arbeitgeber, daß er für seine Arbeitnehmer einen sicheren Arbeitsplatz schafft und kontrolliert, von einem Arzt, daß er seine Patienten bestmöglich medizinisch versorgt, und von einem Schrankenwärter, daß er die Bahnschranken herunterläßt, wenn sich ein Zug nähert. 93 In einer arbeitsteiligen Gesellschaft ist z. B. der Bäcker darauf angewiesen, vom Schuster Schuhe in guter Qualität zu erhalten, der Schuster seinerseits benötigt den Bäcker, um schmackhaftes, gesundes Brot zu erhalten. 90

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derungen je nach Situation und Stellung des Erwartungsadressaten zum gefährdeten Rechtsgut variabel ausgestaltet sein könnten.94 Aufgrund seiner gesellschaftlichen Rolle und der Vielzahl (sozialer) Normen, die das Miteinander der Menschen in einer Gesellschaft regeln,95 wisse der einzelne (bzw. müsse er wissen), welches Verhalten von ihm in seiner jeweiligen Position erwartet werde. Das gesamtgesellschaftliche Gefüge knüpfe an diese Tatsache an. Deshalb könne (und rechtlich: müsse) der einzelne mit seinem Verhalten diesen Erwartungen gerecht werden.96 Nur wenn der Pflichtige vor der Vornahme seiner Handlung die an ihn gerichteten Erwartungen seinerseits erwartet habe, könne er diese Erwartungen bewußt mißachten und sie nicht befolgen97 – nur dann mache er sich strafbar. Die Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen, auch des Unterlassens, beruhe letztlich also auf der Enttäuschung gegenseitiger Verhaltenserwartungen.98 cc) Zusätzliche Voraussetzungen der Strafbarkeit durch Unterlassen Jedoch führten weder eine Rolleninhaberschaft,99 noch eine Integration in ein bestimmtes gesellschaftliches System100 oder Verhaltenserwartungen per se zu einer Garantenstellung gegenüber den Mitmenschen.101 Vielmehr seien für eine strafrechtliche Unterlassungshaftung lediglich solche aus einer Rolle folgenden Verhaltenserwartungen zu berücksichtigen, „deren Nichtbefolgung über einen längeren Zeitraum hinweg in der Rechtsgesellschaft 94 So nehmen die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten einer Mutter (deren Rolle die einer Mutter bleibt) bei der Aufsicht über ihre Kinder in dem Maße ab, in dem die Kinder älter und verständiger werden, sich also selbst zu helfen vermögen. 95 Vgl. Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 117. 96 Dagegen Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 31: Auch mit dieser Einschränkung der gegenseitigen Erwartungshaltungen sei dieser Ansatz noch „zu unbestimmt“. 97 Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 537, die insofern ebenso wie Philipps vorherige Kenntnis der Garantenpflicht begründenden Umstände verlangen, s. o. Teil 4 B.II.3.b), S. 102 f. Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 122. 98 Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 537, sprechen von „wechselseitigen Erwartungserwartungen“. 99 Diese ist freilich für die Verwirklichung eines unechten Unterlassungsdelikts conditio sine qua non, da es sich nach der Auffassung Brammsens, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 103 ff., bei einem solchen Delikt um ein Sonderpflichtdelikt handelt. 100 Diese sei Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 117, zufolge nicht mehr als ein „erster Anhaltspunkt [. . .] für eine eventuelle Garantenstellung“. 101 Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 63, 118.

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als sozialschädlich angesehen wird und denen eine im sozialen Raum stabilisierende Funktion zukommt“.102 Zudem müsse die durch die Nichtbefolgung enttäuschte Erwartungshaltung von einer solchen Festigkeit, von einem solchen Gewicht sein, daß ihre Verletzung einen ebenso schweren Schaden für das Vertrauen der Allgemeinheit bedeutete wie die Gefährdung bzw. Verletzung einzelner Rechtsgüter durch positives Tun.103 Schließlich müsse das gegenseitige Erwartungsverhältnis die „Erhaltung elementarer Rechtsgüter oder wesentlicher Strukturen des gesamtgesellschaftlichen Sozialgefüges zum Inhalt“ haben.104 dd) Konsequenzen für das Entstehen einer Garantenstellung Entscheidend ist laut Otto und Brammsen demnach, daß der Unterlassende eine zwingende, gewichtige, an seinen besonderen sozialen Einflußbereich gerichtete und seine soziale Position mitberücksichtigende Handlungserwartung nicht befolgt, obwohl er weiß bzw. hätte wissen müssen, daß andere Personen sich auf sein erfolgsvermeidendes Tun verlassen und ihr eigenes Verhalten danach ausrichten.105 Diese Theorie hat den Vorteil, daß sie erklären kann, weshalb es nicht nur eine konkrete, inhaltlich unveränderte Anzahl von Garantenstellungen gibt. Garantenstellungen sind nämlich kein Fixum,106 sondern verändern sich, entstehen neu und entfallen teilweise auch. Diese Prozesse beruhen auf der Gewinnung bestimmter Erkenntnisse wie z. B. der grundsätzlich bestehenden Eigenverantwortlichkeit eines erwachsenen Menschen für sein Handeln,107 auf dem techni102 Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 536 (Hervorhebung nur hier). Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 118. 103 Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 537. 104 Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 537. (Hervorhebung nur hier.) 105 Dort, wo diese Erwartungen den Protagonisten und der Gesellschaft nicht aktuell bewußt waren, sei es zu den Konfliktfällen gekommen, die von der Rechtsprechung und der strafrechtlichen Literatur diskutiert und – wo möglich – entschieden werden mußten, vgl. Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 537. 106 Hiervon ging erkennbar bereits der Gesetzgeber in seinem Entwurf E 1962 aus (BT-Drucks. IV/650, S. 124), als er erklärte, weshalb eine Aufzählung sämtlicher Garantenstellungen nicht in Frage kommt: „[. . .] Zudem könnte hierdurch eine unerwünschte Festlegung der Rechtsentwicklung eintreten, da in dieser Hinsicht noch zahlreiche Zweifelsfragen bestehen, deren Klärung durch die weitere Entwicklung der Rechtslehre und Rechtsprechung zu erhoffen ist. [. . .]“ 107 Gimbernat Ordeig, in: FS-Roxin, 2001, S. 651 ff.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/ Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, § 13 Rn. 32. Dazu daß die Eigenverantwortlichkeit eines Menschen nicht stets als Argument gegen die Garantenstellung eines anderen Menschen herangezogen werden kann Schall, in: FS-Rudolphi, 2004, S. 271 ff. Beulke/Swoboda, NStZ 2005, S. 71, zufolge begrenzt die Eigenverantwortlichkeit des Verteidigers, der seinen Mandanten in der Haftanstalt besucht, die Überwachergarantenstellung des Anstaltsleiters, ohne sie freilich gänzlich aufzuheben.

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schen Fortschritt bzw. auf zusätzlich geschaffenen sozialen Positionen, die eine neue Garantenstellung hervorbringen.108 Die Erklärungsmethode stößt jedoch an ihre Grenzen, wenn und soweit eine spezifische Verhaltenserwartung keinen direkten Niederschlag in einer bestimmten sozialen Rolle gefunden hat. Auch dann könne zwar mit den gegenseitigen Erwartungsverhältnissen operiert werden. Allerdings müsse in so einem Fall das in dieser Situation übliche und typische Alltagsverhalten analysiert werden.109 Die Rechtsprechung habe dies zum Teil bereits getan.110 d) Ablehnung der soziologischen Ansätze Der Grundidee, daß jeder (nur) innerhalb seiner Position in der Gesellschaft für den Eintritt oder das Ausbleiben eines strafrechtlichen Erfolges verantwortlich gemacht werden kann, ist einiges abzugewinnen.111 Der Versuch, Garantenstellungen über die im sozialen Alltag relevanten Sachverhalte wissenschaftlich zu erfassen, ist nicht abwegig. Die Idee, bestimmte Unterlassungen wie positives Tun zu bestrafen, war ursprünglich schließlich auch eher sozial-moralisch motiviert denn dogmatisch. Eine Mutter, die ihr Kind verhungern ließ, war bereits im 19. Jahrhundert zu bestrafen, weil sie sich in der „sozialen Rolle der Mutter“ befand und weil sie in dieser Rolle gegen die ihr von der Gesellschaft auferlegte Pflicht verstieß, für ihr Kind zu sorgen, insbesondere es zu ernähren. Hieran haben die soziologischen Ansätze anknüpfen können. aa) Schwächen der „sozialen Rolle“ Dem Ansatz Bärwinkels muß dennoch entgegengehalten werden, daß das sogenannte Leitziel „Gemeinwohl“ sowie der Begriff der „sozialen Rolle“ zu unpräzise sind, um überzeugende, justitiable Voraussetzungen für die Entstehung einer Garantenstellung darstellen zu können.112 Unter welchen Voraussetzungen haben sich „objektivierte Verhaltensweisen“ so verdichtet, daß sich der Han-

108 Näher dazu Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 27 f., 39 ff. 109 Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 124 ff. 110 Entsprechende Ansätze finden sich tatsächlich z. B. in RGSt 30, S. 222 [223 f.]; 36, S. 184 [184 f.]; BGH NJW 1973, S. 1706 [1707]. 111 Kretschmer, Jura 2006, S. 900 ff., kombiniert die drei soziologischen Theorien miteinander sowie mit der noch darzustellenden Herrschaftstheorie [unten Teil 4 B.II.4.b), S. 112 ff.]. 112 Ebenso Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 56.

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delnde in einer bestimmten „sozialen Rolle“ befindet?113 Welche Pflichten sollen im einzelnen aus einer bestimmten sozialen Rolle folgen?114 Welches Verhalten wird von dem Rolleninhaber in einer konkreten Lebenssituation gefordert? Wann verstärkt sich diese Forderung zu einer Garantenstellung, wie lange kann auch der Rolleninhaber sich lediglich wie jeder Dritte wegen (echten) Unterlassens strafbar machen? Wo sind die Grenzen für die einzelnen Garantenstellungen zu ziehen – wo beginnt eine Garantenstellung, wo endet sie?115 bb) Fehlende Praktikabilität der „Systemtheorie“ Philipps gelingt es, in seiner Monographie die Funktion und (zumindest in groben Zügen) die Entstehungsweise eines „Systems“ zu erklären. Bereits die Grenzen eines solchen Systems, die durch Gebote, Verbote, Naturgesetze und menschliches Handeln gezogen werden sollen,116 vermag er jedoch nicht in objektiv überprüfbarer Weise aufzuzeigen. Noch weniger beantwortet er die in diesem Kontext vorab zu klärende Frage, wodurch eigentlich solche Systeme entstehen.117 Schließlich wird auch nicht deutlich, inwiefern aus der Mitgliedschaft in einem System eine Garantenstellung resultieren soll. Vielmehr konstatiert Philipps ohne weiteres, daß der Garant im System eine Herrschaft innehat und daß andere auf seine Handlungen vertrauen. Er schränkt diese Behauptung insofern selbst ein, als bei zunehmender Fülle an Pflichten in den diversen Sy113 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 247, stellt nicht in Abrede, daß jeder Mensch bestimmte „Rollen“ einnehme. Allerdings seien strafrechtlich relevante Rollen lediglich die Folge der aus der Herrschaftsbeziehung erwachsenden Garantenstellung, nicht deren Voraussetzung. Jeder Garant nehme eine Rolle i. S. eines sozialethischen Verhaltensmusters ein, aber nicht jeder Rolleninhaber sei zugleich Garant. 114 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 134 f., kritisiert an der Auffassung Bärwinkels weiter, daß die Sozialstrukturen nicht von Anfang an für die Rechtsfindung verbindlich seien, sondern vielmehr erst dann, wenn der Gesetzgeber sie erkennbar in Bezug genommen habe. Das Gesetz müsse entweder die sozialen Strukturen an irgendeiner Stelle „rechtlich institutionalisiert“ haben oder ausnahmsweise müsse sich nachweisen lassen, daß die „Natur der Sache“ ihre Berücksichtigung erfordere. Hier muß sich Schünemann seinerseits entgegenhalten lassen, daß das Kriterium der „Natur der Sache“ nicht justitiabel ist [s. hierzu näher unten Teil 4 B.II.4.b)bb), S. 122 ff.]. Schünemann selbst definiert sein Verständnis von „Natur der Sache“ nicht näher, was in Anbetracht der vielseitigen Auslegungsmöglichkeiten nicht gerade hilfreich ist. Vgl. auch die in diese Richtung zielende Kritik bei Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 71. Dieser konstatiert zudem auf S. 57, daß man auch aus einer rechtlichen Institutionalisierung einer bestimmten sozialen Rolle bzw. Struktur noch nicht ohne weiteres auf eine Garantenstellung schließen könne. 115 Ähnliche Kritik an der Auffassung Bärwinkels und Rudolphis üben auch Otto/ Brammsen, Jura 1985, S. 535. 116 Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 132. 117 Ebenso Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 536; Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 58.

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stemen die einzelnen Handlungspflichten abnehmen sollen. Anders ausgedrückt: Je mehr Systemen der Garant angehöre bzw. je mehr Pflichten ihm auferlegt würden, desto weniger Gewicht komme seiner Garantenstellung in dem einzelnen System zu, desto schwächer sei auch seine Handlungspflicht.118 Dieses Ergebnis ist nicht nachzuvollziehen, soll doch Philipps zufolge bereits die Zugehörigkeit zu dem System als solche den Unterlassenden zum Garanten machen.119 Wenn die vollwertige Garantenstellung durch die Zugehörigkeit zu einem System entsteht, kann sie nicht durch die Zugehörigkeit zu weiteren Systemen oder durch vermehrte Pflichten des Garanten innerhalb eines Systems abgeschwächt werden. Vielmehr müßten durch neue Systeme auch neue Garantenstellungen entstehen, auf welche die Anzahl der den einzelnen treffenden Pflichten keinen Einfluß haben dürfte. cc) Nachteile der Theorie der gegenseitigen Erwartungshaltungen Die Auffassung Ottos und Brammsens vermag im Ergebnis ebenfalls nicht recht zu überzeugen. Zum einen stellt sich hier die Frage nach der Bestimmtheit „gegenseitiger Erwartungserwartungen“. Wie, d.h. nach welchen Kriterien soll ein Gericht entscheiden, ab wann ein Verhalten so typisch für eine Rolle ist, daß es von den Mitmenschen in bestimmten Situationen erwartet wird? In eindeutigen Fällen, wie dem der vielzitierten Mutter, die sich weigert, ihren Säugling zu ernähren, würde niemand bestreiten, daß die Gesellschaft von der Mutter erwartet, daß diese ihr Kind versorgt. In schwierigeren Fällen ist dieser Ansatz indes nicht praktikabel, wie an einem Beispiel verdeutlicht werden soll: Man stelle sich vor, eine 12jährige möchte an einem Strandabschnitt zum Wellenreiten gehen, an dem regelmäßig gefährliche Unterströmungen anzutreffen sind und an dem häufig hohe, unregelmäßige Wellen wie aus dem Nichts auftauchen. Ihr Vater, selbst passionierter Wellenreiter, erlaubt ihr dies. Auf Drängen und Bitten der Tochter hin vereinbaren die beiden, daß der Vater auch dann nicht helfend vom Ufer aus eingreifen darf, wenn die Tochter die Kontrolle über das Surfbrett verliert. Die Ehre eines Wellenreiters gebietet es nach Auffassung beider, daß er entweder aus eigener Kraft zurück an den Strand gelangt oder gar nicht. Der Vater respektiert daher diese für ihn nachvollziehbare Entscheidung seiner Tochter.

118 Philipps, Der Handlungsspielraum, 1974, S. 166 ff., insbes. S. 169: „Der Verpflichtete kann unter solchen Voraussetzungen von vornherein nicht für den völligen Ausschluß negativer Erfolge garantieren, sondern nur ihre Wahrscheinlichkeit vermindern.“ 119 Otto/Brammsen, Jura 1985, S. 535: „Deshalb kann die von Philipps entworfene Lehre nicht die einer „Systemmitgliedschaft“ adjuzierte garantenpflichtbegründende Wirkung beweisen, sondern setzt sie voraus.“

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Kann man unter diesen Umständen im Falle eines Surfunfalls der Tochter mit Otto und Brammsen noch gegenseitige Erwartungen hinsichtlich ihrer Rettung durch den Vater begründen? Man wird wohl davon ausgehen müssen, daß die Gesellschaft trotz der Abrede auch weiterhin erwartet, daß der Vater seine in Not geratene Tochter rettet. Es kann von der Rechtsordnung nicht gewollt sein, daß sich ein Vater durch eine schlichte Abrede von seiner Garantenstellung befreien kann. Einer 12jährigen kann noch nicht so viel Eigenverantwortung zugesprochen werden, daß sie über ihre eigene Gefährdung bis hin zu ihrem Tod selbst entscheiden und ihren Vater von dessen Verantwortung befreien können soll. Wie viele pubertierende 12jährige könnten sich anderenfalls selbst töten, ohne daß die Eltern eine besondere Hilfeleistungspflicht träfe?! Wie aber stünde es mit den Erwartungen des Vaters? Wüßte dieser im Fallbeispiel mit Sicherheit, daß die Gesellschaft trotz der Abrede eine Rettung von ihm erwartet, bestehen also in der Terminologie Ottos und Brammsens gegenseitige Erwartungserwartungen? Für den Vater, der als Wellenreiter selbst von der Richtigkeit der Entscheidung seiner Tochter überzeugt ist, besteht dieses gegenseitige Erwartungsverhältnis wohl nicht fort. Kann dies schon seine Garantenstellung entfallen lassen? Verlangen die Gesetze von ihm kein Eingreifen mehr jenseits der allgemeinen Hilfeleistungspflicht? Oder müßte man in Analogie zu § 17 S. 1 StGB davon ausgehen, daß der Vater einem vermeidbaren Irrtum unterliegt, der die Garantenstellung fortbestehen läßt? Wäre dies wiederum nicht eine unzulässige Analogie zu Lasten des Täters? Wie auch immer man die Fragen formuliert, in welche Richtung man auch immer denken mag – eine sichere und zuverlässige Antwort erhält man nicht. Ob der Vater in dieser Konstellation Garant ist oder nicht, ist mit der Theorie der gegenseitigen Erwartungserwartungen nicht verbindlich zu klären. So gut die Ansätze Ottos und Brammsens also sein mögen, so gut sie zu erklären vermögen, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, Menschen hätten gegenüber bestimmten Mitmenschen in konkreten Situationen besondere Hilfs- und Schutzpflichten, so sehr können sie im Einzelfall versagen. Gerichtlich sind sie nur schwer nachprüfbar. Jedenfalls zur alleinigen Begründung der einzelnen Garantenstellungen taugen sie daher nicht.120 4. Die Funktionenlehre und die aus ihr entwickelte Herrschaftstheorie a) Ursprung und Ausprägungen der Funktionenlehre Die sogenannte Funktionenlehre wurde von Armin Kaufmann entwickelt.121 Dieser differenzierte zwischen Obhuts- bzw. Beschützergaranten auf der einen 120 121

Zu ihrer Eigenschaft als „Begründungshilfe“ unten Teil 4 C.III.3., S. 198 ff. Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 282 ff.

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sowie Überwachungs- bzw. Sicherungsgaranten auf der anderen Seite. Grundlage dieser Garantenstellungen waren einmal mehr die sozialen Funktionen, die der einzelne innerhalb der Gesellschaft erfüllt:122 Der Beschützergarant müsse bestimmte hilfsbedürftige Rechtsgüter beschützen, der Überwachungsgarant müsse hingegen eine Gefahrenquelle überwachen und die konkrete Gefährdung oder gar Verletzung anderer Rechtsgüter verhindern.123 Die Funktionenlehre hat im strafrechtlichen Schrifttum124 große Zustimmung erfahren und ist inzwischen von anderen Autoren weiterentwickelt worden. So hat beispielsweise Jakobs die Unterscheidungskriterien präzisiert: Er spricht von (Garanten-)Pflichten kraft institutioneller Zuständigkeit (das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, die Ehe, staatliche Gewaltverhältnisse) sowie von Pflichten kraft Organisationszuständigkeit (Verkehrssicherungspflichten, Ingerenz), bei denen es um die Verantwortungsbereiche für Gefahren geht.125 Andere Autoren nehmen dieselbe Zweiteilung wie die Funktionenlehre vor, warten dann jedoch innerhalb dieser Zweiteilung mit eigenen Begründungsansätzen auf.126 Zur Beantwortung der hier gestellten Frage nach den Entstehungsvoraussetzungen von Garantenstellungen können freilich weder die Funktionenlehre noch ihre Ausprägungen etwas beitragen. Sie teilen lediglich die bereits zuvor anhand anderer Kriterien gefundenen Garantenstellungen in zwei Gruppen ein.127 Daher ist eine nähere Auseinandersetzung mit ihnen hier entbehrlich – so hilfreich die mit ihrer Hilfe gewonnenen Erkenntnisse in anderer Hinsicht auch sein mögen.

122 Diese Voraussetzung für die Trennung in zwei Garantengruppen erinnert stark an die soziologisch fundierten Garantenlehren, oben Teil 4 B.II.3., S. 99 ff. 123 So beispielsweise Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 101 ff. für die Überwachergaranten, Rn. 156 ff. für die Beschützergaranten; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 13 Rn. 9 ff. 124 Zur Akzeptanz in der Rechtsprechung vgl. beispielsweise BGH NJW 2003, S. 522 [525, 527]; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2001, S. 112 [114]; OLG Saarbrücken, NStZ 1992, S. 387 [388]; OLG Düsseldorf NVwZ-RR 1990, S. 11 [13]; OLG Frankfurt NStZ 1987, S. 508 [509]; GenStA Hamm NStZ 1984, S. 219 [220]. 125 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage 1991, 28. Abschnitt Rn. 14 ff., 29. Abschnitt Rn. 101 ff. Der Begriff erinnert sehr an die Garantenstellung aufgrund Staatsorganisation (BGHSt 48, S. 77 [92]) oder an die Geschäftsherrenhaftung. Zu beidem Schlösser, GA 2007, S. 161 ff. [insbesondere S. 168 ff.]. 126 Vgl. Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 13 Rn. 38 ff., 42 ff., 54 ff.: „Abwehrbereitschaft entziehendes Vorverhalten und gefahrschaffendes und gefahrerhöhendes Vorverhalten“ auf der einen und „Verantwortlichkeit aus sozialer Zuordnung“ auf der anderen Seite. 127 So auch Ingelfinger, NStZ 2004, S. 410.

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b) Die „Herrschaft über den Erfolgsgrund“ als Grundlage der Garantenstellungen aa) Dogmatische Herleitung Ebenfalls auf der Basis der Funktionenlehre entwickelte Schünemann die Theorie der Herrschaft über den Erfolgsgrund als Entstehungsvoraussetzung einer Garantenhaftung.128 (1) Der vorgefundene Status quo Schünemanns Monographie wurde zu einer Zeit fertiggestellt, als die Aufnahme des § 13 in das StGB bereits beschlossen, die Regelung aber noch nicht in Kraft getreten war. Seine Aussagen aus dem Jahr 1971 sind mit der Einführung der Norm freilich nicht obsolet geworden, vielmehr wurden sie teilweise durch den Gesetzgeber sogar bestätigt. Schünemann kritisiert zu Recht, daß alle Theorien, die er zum Thema Garantenstellung vorgefunden habe, zu sehr auf Intuitionen basierten und sich zumeist nahe an der Grenze zur subjektiven Beliebigkeit befänden. Andererseits warnte er davor, zugunsten einer objektiven Vorgehensweise voreilig die Voraussetzungen einer Garantenstellung zu normieren. Eine solche Norm müßte hinreichend abstrakt sein, um alle denkbaren Garantenstellungen zu umfassen. Dabei bestünde die Gefahr, daß mit leeren Begriffen operiert würde, die auszulegen wiederum Schwierigkeiten bereite. Auf diese Weise vermöge man die Frage nach den Grundlagen einer Garantenstellung ebenfalls nicht zu beantworten.129 Schünemanns Skepsis war und ist bis heute berechtigt: Dem Gesetzgeber ist es in § 13 StGB nicht gelungen, die Voraussetzungen der Garantenstellungen eindeutig zu normieren; vielmehr wird nach wie vor über die Arten der Garantenstellungen, deren Voraussetzungen und Grenzen diskutiert. (2) Die Entwicklungsstufen der Herrschaftstheorie (a) Begehungsgleichheit Ausgangspunkt von Schünemanns Überlegungen130 war die Tatsache, daß bereits zu der Zeit, als keine gesetzliche Regelung zu den (allgemeinen) unechten 128 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 1 ff., 229 ff.; ders., ZStW 96 [1984], S. 293 ff. Dieser Theorie schließt sich Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 19 ff., an. 129 Vgl. zu den bisherigen Ausführungen und zu den folgenden Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 229 ff. sowie die Zusammenfassung auf S. 237.

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Unterlassungsdelikten existierte, bestimmte Unterlassungshandlungen (beispielsweise Totschlag durch Unterlassen) bestraft wurden. Dies war unter Wahrung des nulla-poena-Grundsatzes nur möglich, wenn und soweit man davon ausging, daß der Gesetzgeber in den Begehungstatbeständen neben dem positiven Tun stillschweigend auch die Verwirklichung des jeweiligen Delikts durch Unterlassen unter Strafe gestellt hatte.131 § 212 StGB pönalisierte nach dieser Auffassung z. B. gleichermaßen Tötung durch aktives Erstechen wie durch passives Verblutenlassen. Folglich konnte die Körperbewegung (also in dem soeben aufgeführten Beispiel das Erstechen) nicht den alleinigen Grund für die Bestrafung aus § 212 StGB darstellen. Eine Körperbewegung ist zwar – um im Bilde zu bleiben – für die Verwirklichung des § 212 StGB durch Erstechen erforderlich, fehlt aber gerade bei einem Totschlag durch unterlassenes Verbinden des Opfers (oder ähnliche unterlassene Maßnahmen zum Stillen einer Blutung). Schünemann zufolge muß es neben der Körperbewegung daher ein weiteres Kriterium geben, das die Bestrafung einer Handlung und einer Unterlassung aus derselben Norm rechtfertigt. Dabei müsse es sich um eine allgemeingültige materiale Voraussetzung handeln, die es ermögliche, das Unterlassen als begehungsgleich132 zu qualifizieren und daher aus einem Begehungstatbestand heraus zu sanktionieren. Sei diese materiale Voraussetzung erfüllt, sei der Täter verpflichtet, die begehungsgleiche Unterlassung zu vermeiden. Mit anderen Worten: Er müsse aktiv handeln, um den tatbestandsmäßigen Erfolg zu verhindern – er sei Garant. Als Anknüpfungspunkt für die Begehungsgleichheit komme mangels konkreter gesetzlicher Regelungen nur die „Natur der Sache“133 in Betracht, die mit Hilfe eines Wertungsgesichtspunktes ermittelt werden könne.134 130 Diese beziehen sich nur auf die Erfolgsdelikte (so Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 234 ff.), wobei die gefundenen Ergebnisse auf schlichte Tätigkeitsdelikte übertragbar sind. 131 An die Begehungsdelikte hatte zuvor schon Wolff angeknüpft [oben Teil 4 B.II.1.a), S. 93 ff.]. 132 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 232. Inzwischen wird, wie unter Teil 2 C., S. 54 ff., und Teil 3 F., S. 78 ff., bereits gesehen, keine Begehungsgleichheit des Unterlassens mehr gefordert. Vielmehr muß das Unterlassen der Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entsprechen. Da es sich hierbei um eine geringere Anforderung als die völlige Gleichstellung handelt, kann es allenfalls sein, daß die Ansichten Schünemanns im Ergebnis zu zu strengen Anforderungen an die Entstehung einer Garantenstellung führen. Gelegentlich wird auch heute noch von „begehungsgleich“ gesprochen, vgl. z. B. Kretschmer, Jura 2006, S. 898. 133 Vgl. zu diesem Begriff z. B. Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 1982, insbes. S. 44 ff. m.w. N. 134 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 231 ff.

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(b) Erfolgszurechnung als Strafgrund qua Natur der Sache Der Gesetzgeber habe nämlich anhand von Wertungskriterien entschieden, welche besonderen Eigenarten eine Handlung aufweisen müsse, um bei dem jeweiligen Deliktstyp eine Bestrafung zu ermöglichen. Der Grund für die Bestrafung von Erfolgsdelikten beispielsweise liege nach der Natur der Sache in der Zurechnung des Erfolges an die Person.135 Eine strafrechtliche Erfolgszurechnung setzt nach allgemeiner Auffassung136 voraus, daß jemand durch sein Verhalten eine Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandsmäßigen Erfolg realisiert. Diese Definition des Begriffes „Zurechnung“ enthält jedoch noch nicht die Erklärung, warum überhaupt einer konkreten Person der Eintritt eines Erfolges zugerechnet werden kann, warum eine Person als Täter im Hinblick auf eine bestimmte Straftat qualifiziert werden kann und nicht nur als Teilnehmer oder außenstehende Randfigur des Geschehens anzusehen ist. (c) Das Tatherrschaftskriterium Bereits Roxin hatte zu einem früheren Zeitpunkt bei der Frage, wie sich die Täterschaft von der Teilnahme abgrenzen lasse, festgestellt, daß nicht jeder, der durch eine Körperbewegung einen tatbestandsmäßigen Erfolg verursache, als Täter zu qualifizieren sei. Körperbewegung und Kausalität reichten für sich genommen nicht aus, um zwischen Tätern, Anstiftern, Gehilfen und am konkreten Geschehen nicht beteiligten Dritten differenzieren zu können.137 Daß Roxins Aussage zutreffend ist, läßt sich an einem prägnanten Beispiel verdeutlichen: Man stelle sich vor, daß ein Sohn seinem Vater zum Geburtstag ein Ticket für einen Rundflug über eine Stadt schenkt. Der Vater hätte sich das Ticket selbst nicht gekauft. Der Sohn hatte insgeheim gehofft, die bereits recht alte Maschine werde bei dem Rundflug abstürzen und sein Vater werde ums Leben kommen. Stürzt das Flugzeug tatsächlich ab und wird der Vater dadurch 135 Auf konkrete Gefährdungsdelikte läßt sich diese Aussage ohne weiteres übertragen: Bei diesen ist dem Täter die Schaffung der konkreten Gefahr zuzurechnen. Abstrakte Gefährdungsdelikte oder allgemeiner schlichte Tätigkeitsdelikte bewirken hingegen keinen Erfolg, der zugerechnet werden müßte. Tatherrschaft ist indes auch bei diesen Delikten erforderlich. Da sie nach Auffassung Schünemanns Voraussetzung für die Zurechnung ist, kann bei den Tätigkeitsdelikten für die Begehungsgleichheit auf dieselben Kriterien zurückgegriffen werden wie für die Erfolgsdelikte. 136 Vgl. nur Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, Vor §§ 13 ff. Rn. 163; Lenckner, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 92, jeweils m.w. N. Ebenso Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 179. 137 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Auflage 2006, S. 28 f.

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getötet, wird niemand ernsthaft auf die Idee kommen, den Sohn wegen Totschlags oder gar Mordes zu bestrafen. Der Sohn hat zwar Körperbewegungen vorgenommen (Kauf des Flugtickets, Übergabe an den Vater), die auch ursächlich für den Tod des Vaters waren: Ohne den Kauf sowie die Übergabe des Tikkets durch den Sohn wäre der Vater nicht geflogen, folglich nicht abgestürzt und auch nicht ums Leben gekommen. Als Täter von § 212 StGB oder § 211 StGB kann der Sohn dennoch nicht angesehen werden, da er den Absturz des Flugzeuges weder beeinflußt hat noch beeinflussen konnte. Er beherrschte „die Tat“ nicht, konnte sie nicht nach seinem Willen hemmen oder ablaufen lassen.138 Weder hat er in eigener Person die tatbestandliche (Tötungs-)Handlung verwirklicht und somit Handlungsherrschaft gehabt, noch besaß er die Willensherrschaft über einen anderen oder hat im Ausführungsstadium einen funktionell bedeutsamen Tatbeitrag geleistet.139 Es fehlte ihm die Tatherrschaft, welche Voraussetzung für die Täterschaft ist. (d) Übertragung des Tatherrschaftskriteriums auf Unterlassungsdelikte Dieses Herrschaftskriterium macht Schünemann, wenn auch in abgewandelter Form, für das Unterlassen fruchtbar.140 Der Grund für die Bestrafung aus einem Begehungsdelikt liege in der „Beziehung zwischen dem personalen Steuerungszentrum und der den Erfolg verursachenden Körperbewegung“.141 Nur wenn der Täter bewußt, gewollt und gesteuert eine bestimmte Körperbewegung vornehme, besitze er die Tatherrschaft, nur dann sei ihm der durch diese Bewegung verursachte Erfolg zuzurechnen.142 Die Unterlassung müsse, damit der Unterlassende aus demselben Tatbestand bestraft werden könne wie der Begehungstäter, ein dieser Beziehung zwischen 138 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 7. Auflage 1989, S. 247 f., definieren die Tatherrschaft wie folgt: „Dieses Merkmal liegt in der finalen Steuerung des tatbestandsmäßigen Geschehens durch den Täter, in dem vom Vorsatz umfaßten In-den-Händen-Halten des tatbestandsmäßigen Geschehensablaufes [. . .].“ 139 Zu diesen drei möglichen Grundlagen einer Tatherrschaft Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Auflage 2006, S. 127 ff., 171 ff., 275 ff., 306, der sich der Definition Maurachs nicht anschließt (Roxin, ebda., S. 310 ff.). 140 Gegen die Anwendbarkeit des Tatherrschaftskriteriums jedenfalls zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme beim Unterlassen Hoffmann-Holland, ZStW 118 [2006], S. 624. 141 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 235. 142 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 235 f., verdeutlicht die Richtigkeit seiner These anhand des Beispiels eines Epilepsiekranken, dessen Zuckungen zwar Körperbewegungen darstellten, die auch kausal einen Erfolg verursachen könnten. Dieser Erfolg sei jedoch dem Kranken nach einhelliger Meinung nicht zuzurechnen, da er nicht Ausdruck der personalen Herrschaft der Person über deren Körper sei. Nur die psychophysisch intakte Person beherrsche ihre Körperbewegungen in zurechenbarer Weise.

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personalem Steuerungszentrum und Körperbewegung vergleichbares Verhältnis aufweisen. Sobald ein solches Verhältnis nachweisbar sei, könne auch dem Unterlassenden der tatbestandsmäßige Erfolg zugerechnet werden.143 Das Unterlassen wäre damit begehungsgleich. Um dieses vergleichbare Verhältnis auffinden zu können, müsse man sich eines analogistischen Verfahrens bedienen.144 Eine solche Vorgehensweise verstoße innerhalb der Grenzen des Merkmals „Begehungsgleichheit“145 nicht gegen den Bestimmtheitsgrundsatz oder gegen das Analogieverbot, sondern sei im Gegenteil eine Eigenschaft juristischer Denkweise.146 Man müsse sich also fragen, ob es – in Analogie zum aktiven Tun – eine Beziehung zwischen dem personalen Steuerungszentrum und der den Erfolg verursachenden Unterlassung gebe, welche die Bestrafung des Täters rechtfertige. Dabei müsse man bedenken, daß nur die gezielte Unterlassung dem Täter zugerechnet werde, nur ihretwegen werde er bestraft. Eine gezielte Unterlassung setze jedoch ebenso wie eine gezielte Körperbewegung voraus, daß der Täter die Herrschaft über seinen Körper innehabe. Der „sachlogische Grund“147 der Erfolgszurechnung liege damit letzten Endes bei Begehungs- wie bei Unterlassungsdelikten in der „absoluten Herrschaft der Person über ihren Körper“.148 Alle strafrechtlich relevanten, also vermeidbaren Handlungen149 hätten ihren Ursprung in der Herrschaft des personalen Zentrums.150 Dieses Herrschaftskriterium sei folglich das übergeordnete Zurech143 s. auch hierzu Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 238. Dafür, daß es sich bei der rechtlichen Gleichstellung von Tun und Unterlassen um ein Zurechnungsproblem handelt, auch Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Auflage 2006, S. 462. 144 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 19, der die Auffassung Schünemanns für richtig befindet, bezeichnet diese Vorgehensweise als „Ähnlichkeitsschluß“, der aus den Begehungsdelikten gezogen und auf die Unterlassungsdelikte übertragen werde. 145 Inzwischen müßte man nach dem Wortlaut des § 13 StGB hierfür wohl am Einstehenserfordernis oder an der Entsprechensklausel ansetzen. 146 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 229; Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 1982, S. 15 ff. 147 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 235. 148 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 235. 149 Unvermeidbare Körperbewegungen, die beispielsweise durch vis absoluta herbeigeführt werden, sind strafrechtlich irrelevant – sie sind schon keine Handlungen i. S. d. Strafrechts. Die durch sie erzielten Erfolge werden nicht sanktioniert. Vgl. hierzu Lenckner, in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 38. 150 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 236. Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 98, hat (wenn auch nur nebenbei) ähnlich

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nungsprinzip. Es könne als tertium comparationis gelten, welches die Gleichstellung von Tun und Unterlassen rechtfertige. Um es neutral für Begehungen wie für Unterlassungen zu formulieren, sei dieses Zurechnungsprinzip als „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ zu bezeichnen.151 (3) Anwendung in der Praxis Schünemann fügt das gefundene Ergebnis in die bereits bekannte Aufteilung verschiedener Garantenstellungen in Überwacher- und Beschützergaranten ein. Diese Garantengruppen seien gekennzeichnet durch die Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache (Überwachergaranten) bzw. durch die Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers (Beschützergaranten): „Der Erfolg kann einem Unterlasser daher zugerechnet werden, wenn er entweder seine wesentliche Ursache oder die Anfälligkeit des Opfers aktuell, d.h. gegenwärtig beherrscht.“152

Für beide Formen sei neben der existentiell vorgegebenen Herrschaft eines Menschen über seinen Körper ein Herrschaftswille erforderlich.153 Der Täter müsse die Herrschaft bewußt und tatsächlich ergreifen, die bloße Möglichkeit des Ergreifens mache ihn nicht zum Garanten;154 weiter müsse er die Herrschaft im Zeitpunkt der Unterlassung innehaben, ebenso wie der aktiv Han-

argumentiert: „[. . .] daß dem Täter der durch sein Tun verursachte Erfolg gerade um deswillen objektiv zugerechnet wird, weil er seine letzte Ursache in den in ihm selbst wirkenden Kräften und Trieben findet oder m. a. W., weil der Täter es verabsäumt hat, der von seiner eigenen Person ausgehenden Gefahr für bestimmte Rechtsgüter wirksam entgegenzutreten.“ 151 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 236. Mit dieser These widerspricht er auch nicht Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Auflage 2006, S. 462 ff., der die Anwendung der Tatherrschaftslehre auf Unterlassungsdelikte ablehnt. Schünemann macht sich den Begriff der Herrschaft nämlich nicht im Sinne der Tatherrschaft zunutze, um den Unterlassungstäter vom Unterlassungsteilnehmer abzugrenzen. Vielmehr legt er ihn zugrunde, um die Voraussetzungen einer Garantenstellung zu erklären. Daß jemand gerade wegen einer Verletzung seiner „Erfolgsabwendungspflicht“, also seiner Garantenstellung Täter eines Unterlassungsdelikts ist, stellt aber auch Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Auflage 2006, S. 462, nicht in Frage. Unter welchen Voraussetzungen jemand zum Garanten wird, erklärt er seinerseits freilich nicht. 152 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 241. 153 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 359. 154 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 242 f. Damit soll wohl eine Garantenstellung des „quivis ex populo“ ausgeschlossen werden, der beispielsweise zufällig an einem Verletzungsopfer vorbeikommt und keine Hilfe leistet. Er kann nur gem. § 323c StGB bestraft werden, nicht jedoch wegen § 13 StGB i.V. m. einem Begehungsdelikt des Besonderen Teils.

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delnde die Tatherrschaft im Moment der Tatbestandsverwirklichung benötige, um als Täter qualifiziert zu werden.155 Überwachergarantenstellungen entstünden durch eigenen Zugriff oder durch Übertragung der Herrschaft. Beispiele hierfür seien die Herrschaft über gefährliche Sachen und Verrichtungen sowie die Aufsichtsgewalt über unmündige Personen. Die Aufsichtsgewalt könne in die faktische Herrschaft über Strafunmündige und in die rechtliche Befehlsgewalt über Strafunmündige unterteilt werden. Damit werde den unterschiedlichen Strukturen Rechnung getragen, die jeweils Erlangung, Umfang und Verlust der Herrschaftsgewalt vorgäben.156 Die Reichweite der Überwachergarantenstellungen insgesamt bestimme sich anhand der Tatsache, daß es sich lediglich um „Sicherungspflichten“, nicht aber um Rettungspflichten handele.157 Das bedeutet für die Rechtsanwendung: Ein Hauseigentümer muß nach dieser Auffassung z. B. als Überwachergarant verhindern, daß von seinem Hausdach Ziegel herabstürzen können, die einen Passanten verletzen. Hat ein herabgestürzter Ziegel indes bereits einen Passanten verletzt, ist der Hauseigentümer über die allgemeine Hilfeleistungspflicht des § 323c StGB hinaus nicht für die Ergreifung von Rettungsmaßnahmen verantwortlich. Beschützergarantenstellungen resultierten aus einer Herrschaft über die konstitutionelle oder partielle Hilflosigkeit des Opfers, welche auf vorgegebener Herrschaft bzw. auf tatsächlicher personaler Schutzherrschaft kraft eigenen Zugriffs oder fremden Vertrauensakts beruhen könne.158 Da Schünemann lediglich auf die Herrschaft über den Erfolgsgrund unmittelbar vor dem Eintritt des Erfolges abstellt, kann er keine Garantenstellungen anerkennen, die aus natürlicher Verbundenheit oder aus Ingerenz resultieren. Wie sich die beiden Schünemann’schen Garantenstellungen sonst noch auf die Rechtsanwendung auswirken, soll im folgenden kurz skizziert werden. (a) Die Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache (aa) Definition Die „Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache“ ist bereits aus anderen wissenschaftlichen Arbeiten159 sowie aus der Gerichtspraxis160 bekannt, wo sie 155 Schünemann, S. 253. 156 Schünemann, S. 359. 157 Schünemann, S. 359. 158 Schünemann, S. 243 f. 159 Vgl. oben die

Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, Nachweise zur Funktionenlehre in den Fn. 121 bis 126, S. 110 f.

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unter der Bezeichnung „Überwachergarantenstellung“ oder „Hütergarant“ anzutreffen ist. Der Begriff soll offenbar umschreiben, daß der Unterlassende, der Inhaber dieser Herrschaft ist, den Erfolg besonders effektiv abwehren kann und dies daher auch muß. Wegen der ihm zur Verfügung stehenden, besonders erfolgversprechenden Handlungsmöglichkeiten trifft den Unterlassenden – so kann man zumindest aus Schünemanns Ausführungen schließen – die besondere Verantwortung im Hinblick auf die Überwachung einer Gefahrenquelle. Die Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache soll entweder durch eigenen Zugriff oder durch Übertragung seitens des Opfers oder desjenigen entstehen, der für die Unversehrtheit des Rechtsguts einzustehen hat. (bb) Beispiele für eine solche Herrschaft Wenn ein Grundstückseigentümer im Garten hinter dem von ihm selbst bewohnten Haus einen Brunnenschacht ausheben läßt, muß er Schünemanns Theorie zufolge diesen so absichern, daß niemand versehentlich in diesen Brunnen hineinfallen kann. Zum einen ist dem Eigentümer eine solche Sicherungsmaßnahme am ehesten möglich – er bewohnt das Grundstück, hat Zugang zu demselben, kann dort rechtlich (unter Einhaltung baurechtlicher Vorschriften bzw. anderer die Grundstücksnutzung einschränkender Gesetze) und tatsächlich frei agieren. Zum anderen werden Schutzvorkehrungen durch ihn besonders sinnvoll und effektiv getroffen werden, weil sie nicht zuletzt in seinem eigenen Interesse sind. Vor allem aber trägt er als Eigentümer durch eigenen Zugriff eine außerordentliche Verantwortung: Eigentum berechtigt nicht nur, es verpflichtet auch in gewissem Umfang:161 Der Eigentümer kann es nicht im rechtsfreien Raum gebrauchen, sondern ist an die Rechtsordnung mit ihren Pflichten

160 s. nur BGH NJW 2003, S. 522 [525, 527]; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2001, S. 112 [114]; OLG Saarbrücken, NStZ 1992, S. 387 [388]; OLG Düsseldorf NVwZRR 1990, S. 11 [13]; OLG Frankfurt NStZ 1987, S. 508 [509]; GenStA Hamm NStZ 1984, S. 219 [220]. Wodurch eine Überwachergarantenstellung entsteht oder warum sie im konkreten Fall nicht besteht, wird – wenn überhaupt – in der Regel nur sehr oberflächlich erläutert. 161 Dies schreibt bereits das Grundgesetz in Art. 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 vor, Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 197. Zur Sozialbindung des Eigentums durch Inhalts- und Schrankenbestimmungen vgl. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 14 Rn. 218 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand 48. Lfg. November 2006, Art. 14 Rn. 305 ff. Ein Beispiel für eine Inhalts- bzw. Schrankenbestimmung enthält § 904 BGB: Der Eigentümer einer Sache, von der keinerlei Gefahr ausgeht, muß eine Einwirkung auf dieselbe durch einen Dritten dulden, wenn und soweit bei dem Dritten die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstandes vorliegen. In § 904 BGB ist folglich der sogenannte Aufopferungsgedanke normiert (Bassenge, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 66. Auflage 2007, § 904 Rn. 1).

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und Schranken gebunden. Der Eigentümer besitzt daher die Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache. Es ist in solchen Fällen allerdings denkbar, daß der Eigentümer über keinerlei handwerkliche Fähigkeiten verfügt und daher technisch nicht zur Absicherung des Brunnenschachtes in der Lage ist. Aus diesem Grund beauftragt er einen Bauunternehmer mit der fachgerechten Einfriedung des Brunnens. Der ausgesuchte Unternehmer war bisher als zuverlässig bekannt, befindet sich aber in Geldschwierigkeiten. Er errichtet daher eine Mauer, die – für den Fachmann erkennbar – keinen ausreichenden Unfallschutz bietet: Sie ist viel zu niedrig und von so schlechter baulicher Qualität, daß sie bei größerem Druck einzustürzen droht. Der Grundstückseigentümer, der hiervon nichts weiß, geht davon aus, daß er seinen Sicherungspflichten ordnungsgemäß nachgekommen ist. Tatsächlich trifft ihn bei einem Unfall auch keine erhöhte Verantwortung mehr, da er alles ihm zur Verhinderung eines Unglücks Mögliche getan hat. Nach Schünemanns Theorie hat nun der Bauunternehmer die Herrschaft über den wesentlichen Erfolgsgrund inne. Sie ist ihm durch den Auftrag des Eigentümers im gegenseitigen Einvernehmen übertragen worden. Der Bauunternehmer kann als derjenige, der die Sicherungsvorrichtung erbaut hat, am ehesten die damit verbundenen Risiken abschätzen und diese am effektivsten verringern. Des weiteren trifft ihn für die schlampige Durchführung des von dem Eigentümer erhaltenen Auftrages die alleinige Verantwortung. Er hat dafür einzustehen, daß niemand an bzw. in dem Brunnenschacht zu Schaden kommt. (b) Die Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers (aa) Begriffsinhalt Die „Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers“ wiederum kennzeichnet nach Schünemann ein persönliches oder faktisches Näheverhältnis, das rechtlich oder vertraglich fixiert sein kann und das zu einer überdurchschnittlichen Verantwortung des Unterlassenden gegenüber dem gefährdeten Rechtsgut führt (bisher bekannt als Beschützergarantenstellung). Aufgrund vertraglicher Verpflichtungen, die auch tatsächlich übernommen wurden,162 wegen emotionaler 162 Dafür, daß es im wesentlichen auf die tatsächliche Übernahme ankommt, LG Osnabrück NStZ 1996, S. 437 [440 f.]: „Obhutspflichten in bezug auf bestimmte Rechtsgüter können sich u. a. daraus ergeben, daß der Schutz für diese Rechtsgüter übernommen wird. Diese „freiwillige“ Schutzübernahme entweder gegenüber dem Träger des gefährdeten Rechtsguts selbst oder gegenüber einem Dritten zugunsten des Gefährdeten erzeugt Garantenpflichten zur Abwehr drohender Gefahren für das betroffene Rechtsgut nicht auf Grund gesetzlicher oder vertraglicher Vorgaben, sondern auf Grund eines Realaktes, nämlich dann und deshalb, wenn und weil es der Verpflichtete tatsächlich übernimmt, für den Schutz des gefährdeten Rechtsguts zu sorgen. Unerheblich ist insoweit, aus welchen Gründen jemand in die Garantenposition „tatsächliche

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Verbundenheit oder gesetzlicher Vorgaben entsteht eine Sonderbeziehung zwischen dem partiell oder konstitutionell hilflosen Opfer und dem Täter. Diese Sonderbeziehung macht den Unterlassenden zum Garanten. Ihn trifft eine deutlich höhere Pflicht zum rettenden Handeln als die außerhalb dieser Nähebeziehung stehenden Dritten. (bb) Exempel aus Theorie und Praxis An dieser Stelle kann zum wiederholten Male das Beispiel der Mutter herangezogen werden, die ihren Säugling verhungern bzw. verdursten läßt. Ein Säugling ist bereits qua Konstitution hilflos – er kann sich nicht verständlich artikulieren, kann nicht laufen und kann nicht ohne fremde Hilfe essen oder trinken. Er ist auf seine Mutter oder auf andere ihn betreuende Personen angewiesen. Die Mutter trifft aufgrund einer besonderen persönlichen Beziehung zu dem Kind eine überdurchschnittliche Verantwortung. Sie darf das Kind nicht ohne Grund einfach seinem Schicksal überlassen und beispielsweise seine Ernährung einstellen. Vielmehr muß sie ihrer Herrschaft über die konstitutionelle Anfälligkeit des Kindes gerecht werden. Das bedeutet freilich nicht, daß eine Mutter, die ihr Kind behält, sich 24 Stunden am Tag um dieses kümmern muß. Selbstverständlich kann sie sich ihrer Verantwortung auch vorübergehend entledigen – wenn und soweit sie dafür sorgt, daß eine andere Person ihre Aufgaben übernimmt. Typischerweise geschieht dies durch Beauftragung eines Babysitters oder dadurch, daß Großeltern oder Freunde um Hilfe gebeten werden. Übergibt die Mutter ihr Kind einem vertrauenswürdigen Menschen, der reif genug ist, eine solche Verantwortung zu übernehmen, überträgt sie für die Zeit ihrer (körperlichen oder geistigen) Abwesenheit die Herrschaft über die Anfälligkeit des Kindes auf diesen Menschen. Diesen trifft – zivilrechtlich – eine vertragliche Verpflichtung (Dienstvertrag beim Babysitter,163 §§ 611 ff. BGB, Auftrag bei Großeltern oder Freunden,164 §§ 662 ff. BGB), für das Wohl des Kindes zu sorgen. Durch die tatsächliche Schutzübernahme“ einrückt. Ob die tatsächliche Schutzübernahme in Ausübung gesetzlicher und/oder vertraglicher, privater oder beruflicher Pflichten und Tätigkeiten erfolgt, ist danach für den eigentlichen Entstehungsgrund der Garantenposition, eben für die Tatsächlichkeit der Schutzübernahme belanglos.“ 163 Gem. § 611 BGB handelt es sich hierbei um einen Vertrag, bei dem derjenige, welcher Dienste zusagt, zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Teil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet ist. Der Babysitter erbringt seine Leistungen in aller Regel gegen Gewährung einer Vergütung, so daß ein typischer Fall eines Dienstvertrages vorliegt. 164 § 662 BGB besagt, daß sich der Beauftragte durch die Annahme eines Auftrages verpflichtet, ein ihm von dem Auftraggeber übertragenes Geschäft für diesen unentgeltlich zu besorgen. Für gewöhnlich übernehmen die Großeltern oder auch Freunde die Aufsicht über ein kleines Kind ohne Gegenleistung. Somit handelt es sich bei derartigen vertraglichen Verpflichtungen um einen Auftrag.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Übernahme der Pflichten entsteht eine Sonderbeziehung zwischen Beauftragtem und Kind, die jenem eine besondere strafrechtliche Verantwortung auferlegt. Er muß nun auf das Kind ebenso achten wie üblicherweise dessen Mutter, da er die Herrschaft über die Anfälligkeit des Kindes innehat. Eine solche Sonderbeziehung mit der entsprechenden Verantwortung ist indes auch ohne ausdrückliche Beauftragung denkbar: Während ihr einjähriger Sohn einen Mittagsschlaf macht, begibt sich die Mutter mit dem Fahrrad kurz zu dem in der Nähe gelegenen Supermarkt. Unterwegs wird sie von einem Auto erfaßt und so schwer verletzt, daß sie tagelang im Koma liegt. Andere Verwandte hat der kleine Junge nicht, so daß sich Nachbarn seiner annehmen. Sie haben durch einen tatsächlichen Akt die Verantwortung für das Kind übernommen und auf diese Weise eine strafrechtlich relevante Sonderbeziehung zu diesem hergestellt. Sie haben die Herrschaft über seine Anfälligkeit übernommen. Gegenüber der Mutter handelt es sich um eine zivilrechtliche Geschäftsführung ohne Auftrag, §§ 677 ff. BGB. In der Praxis findet sich eine Reihe von Gerichtsentscheidungen oder Stellungnahmen von Staatsanwaltschaften, in denen zu Lasten des Täters eine Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers (dort in der Regel als „Beschützergarant“ oder „Obhutsgarant“ bezeichnet) und damit eine strafrechtliche Verantwortlichkeit beim Unterlassen von Rettungsmaßnahmen angenommen oder abgelehnt wird.165 Es führt indes zu weit, sich an dieser Stelle mit den einzelnen Fällen auseinanderzusetzen, insbesondere weil für den weiteren Verlauf der Arbeit hieraus kein Gewinn zu erwarten wäre. bb) Kritische Würdigung (1) Vorzüge der Auffassung Der Vergleich zwischen Begehungs- und Unterlassungsdelikten bzw. die Suche nach strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Deliktsarten erscheint noch heute nicht nur sinnvoll, sondern im Hinblick auf den Wortlaut des § 13 Abs. 1 StGB auch dogmatisch richtig: Der Täter ist wegen einer unterlassenen Handlung „nach diesem Gesetz“ (also nach einem Begehungstatbestand des Besonderen Teils) „nur dann strafbar, wenn [. . .].“ Zudem muß das „Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspr[echen].“ 165 Vgl. beispielsweise BGHSt 43, S. 82 [85]; BGH NStZ 2004, S. 201 [204]; BGH NStZ 2004, S. 94 [95]; BGH NStZ 2003, S. 141 [143]; OLG Stuttgart NJW 1998, S. 3131 [insbes. 3134 ff.]; GenStA Celle NJW 1998, S. 2394 [2396]; LG Osnabrück NStZ 1996, S. 437; AG Lübeck NVwZ-RR 1990, S. 15 [16]; OLG Frankfurt NStZ 1987, S. 508 [510]. In den meisten Fällen begründen die Gerichte oder Staatsanwaltschaften indes nicht, warum der Betreffende im konkreten Fall (kein) Beschützergarant ist.

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Das unechte Unterlassungsdelikt stützt sich also auf den Tatbestand eines Begehungsdelikts und soll – mit Ausnahme der Milderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 StGB – dieselben Rechtsfolgen auslösen wie dieses. Es muß daher auch Gemeinsamkeiten mit einem Begehungsdelikt aufweisen.166 Da die Strafbarkeit des Begehungstäters an dessen Tatherrschaft anknüpft, liegt es nahe, ein ähnliches Kriterium auch als Grundlage der strafbegründenden Garantenstellung heranzuziehen. Die Herrschaftstheorie birgt auf den ersten Blick gegenüber allen vorangegangenen Versuchen, die Entstehung einer Garantenstellung zu erklären, den Vorteil, daß sie objektive Entscheidungen ermöglicht.167 Die Frage, ob jemand die Herrschaft über seinen Körper und damit über das Tatgeschehen innehat, kann frei von subjektiven Wertungen beantwortet werden. Zwar kann man auf derartige Wertungen bei der anschließenden Frage, ob diese Herrschaft auch den „Grund des Erfolges“ darstellt, nicht ganz verzichten. Jedoch bleibt auch hier für Willkür und Beliebigkeit wenig Raum: Relevant für den konkreten Erfolg bzw. adäquater Grund für dessen Eintritt kann nämlich nur ein „aktuell wesentliches Merkmal“168 sein, d.h. eines, das für den konkreten Kausalverlauf eine unentbehrliche Voraussetzung darstellt. Insgesamt scheint Schünemann mit seinem Forschungsergebnis grundsätzlich überprüfbare Voraussetzungen einer Unterlassungsstrafbarkeit gefunden zu haben: Die Garantenstellung ist letztlich eine Konsequenz aus dem vorstrafrechtlichen Verhältnis zwischen personalem Steuerungszentrum und eigenem Körper.169 Wer die Herrschaft über den Grund des Erfolges besitzt, ist Garant und muß den Erfolgseintritt verhindern. (2) Schwächen des Ansatzes Bei näherem Hinsehen vermag die Vorgehensweise Schünemanns freilich nicht vollständig zu überzeugen.

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A. A. Sanchez, in: FS-Roxin, 2001, S. 642 m.w. N. Hierzu und zu den folgenden Aussagen dieses Absatzes vgl. auch die Begründung Schünemanns für seine These, in: Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 241 ff. 168 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 241. 169 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 242. 167

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(a) Abgrenzung der Herrschaftsbegriffe von der bloßen Handlungsmöglichkeit In gewissem Maße wird eine „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ nämlich bereits für die Beantwortung der Frage gefordert, ob überhaupt ein „Unterlassen“ i. S. d. § 13 StGB vorliegt.170 (aa) Inhaltliche Verschiedenheit der Herrschaftsbegriffe Es ist dem Wesen eines Rechtssystems schon wegen dessen Vielschichtigkeit immanent, daß demselben Begriff innerhalb des Systems unterschiedliche Bedeutungen zukommen können. Je nach Regelungszusammenhang, in dem der Begriff verwendet wird, kann dieser eine eigene Auslegung erfahren. Das gilt selbst dann, wenn der konkrete Begriff ein Tatbestandsmerkmal einer Norm darstellt – was bei dem im Zusammenhang mit § 13 StGB verwendeten Herrschaftsbegriff gerade nicht der Fall ist. Ein Beispiel für mögliche verschiedene Definitionen eines Begriffes stellt der Nachbarschaftsbegriff im öffentlichen Recht dar. „Nachbar“ im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes ist jeder, der von den Immissionen auch nur potentiell betroffen ist, also ihre Auswirkungen verspüren kann, d.h. jeder Grundstücksbesitzer, Grundstücksbenutzer und Grundstückseigentümer, selbst wenn das Grundstück im Ausland liegt.171 Im Immissionsschutzrecht gilt der Grundsatz: „Je größer die Reichweite der störenden Wirkung, desto größer der Kreis der Nachbarn.“172 „Nachbar“ im Sinne der Bayerischen Bauordnung173 hingegen sind nur die Eigentümer der „Grundstücke, die durch das Vorhaben in ihren öffentlich-rechtlich geschützten Belangen berührt werden können“.174 In der Regel handelt es sich dabei um angrenzende Grundstücke. Zwingend ist dies – jedenfalls im bayerischen Bauordnungsrecht – freilich nicht. So muß es für die Qualifizierung als Nachbar beispielsweise nicht schaden, wenn die betreffenden Grund-

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Hierzu bereits oben Teil 3 A.I., S. 57 ff. Ule, in: Ule/Laubinger, Bundes-Immissionsschutzgesetz, Kommentar, §§ 1–21, 140. Lfg. Juli 2005, § 3 Rn. 5. 172 Dirnberger, in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung Kommentar, Band I, 85. Ergänzungslieferung November 2006, Art. 71 Rn. 68; ebenso Ule, in: Ule/Laubinger, Bundes-Immissionsschutzgesetz, Kommentar, §§ 1–21, 140. Lfg. Juli 2005, § 3 Rn. 5. 173 Der Nachbarbegriff der Bayerischen Bauordnung ist im Gegensatz zu den Bauordnungen anderer Bundesländer sogar noch ziemlich weit, Dirnberger, in: Simon/ Busse, Bayerische Bauordnung Kommentar, Band I, 85. Ergänzungslieferung November 2006, Art. 71 Rn. 60. 174 Dirnberger, in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung Kommentar, Band I, 85. Ergänzungslieferung November 2006, Art. 71 Rn. 60. 171

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stücke durch eine schmale Straße, einen Weg oder einen kleinen Bach voneinander getrennt sind.175 Insgesamt ist der baurechtliche Nachbarbegriff indes deutlich enger als der des Immissionsschutzrechts. Der Grund hierfür ist wieder in den verschiedenen Schutzzwecken der Gesetze zu sehen. Beide Gesetze wollen Dritte vor Gefahren schützen: Das Bauordnungsrecht schützt vor Gefahren, die von baulichen Anlagen176 ausgehen, das Bundesimmissionsschutzrecht vor schädlichen Immissionen und Emissionen. Es bedarf keiner näheren Erläuterung, daß der Kreis der potentiell Gefährdeten bei einer baulichen Anlage deutlich kleiner ist als er bei Immissionen oder Emissionen sein kann. Dieser Tatsache muß die Auslegung des Nachbarbegriffs gerecht werden. Für verschiedene rechtliche Inhalte ein und desselben Begriffes ließen sich noch weitere Beispiele anführen. Bereits das genannte dürfte indes hinreichend verdeutlicht haben, daß auch der Begriff der „Herrschaft“ in unserem Rechtssystem bzw. – noch enger – innerhalb des Strafrechts nicht stets in derselben Weise zu verstehen ist: Wenn schon dasselbe gesetzliche Tatbestandsmerkmal verschiedene Bedeutungen haben kann, muß dies erst recht für einen Begriff gelten, der lediglich zur Definition eines gesetzlichen Terminus verwendet wird. (bb) Herrschaft als bloße Handlungsmöglichkeit Es existiert nämlich auch ein Herrschaftsbegriff, der für die Bejahung eines strafrechtlich relevanten Unterlassens eine Rolle spielt. Dieser betrifft die Handlungsmöglichkeit bzw. die Handlungsfähigkeit des Unterlassenden. Das Unterlassen i. S. d. § 13 StGB kann – wie bereits gesehen177 – nur bejaht werden, wenn eine Handlung unterlassen wird, deren Vornahme rechtlich geboten, also zur Erfolgsverhinderung sinnvoll und dem Täter möglich gewesen wäre. Die vom Täter nicht vorgenommene Handlung ist nur dann sinnvoll und wird von ihm verlangt, wenn und soweit das Opfer sich nicht selbst zu helfen vermag. Sie ist dem Täter nur dann möglich, wenn er insoweit den weiteren Geschehensablauf beeinflussen bzw. beherrschen kann. Mit anderen Worten: Wenn sich das Opfer selbst helfen kann, ist eine Rettungshandlung nicht nötig, wenn Dritte die Herrschaft über das Geschehen besitzen und gleichsam zwischen dem Unterlassenden und dem Opfer stehen, ist ersterem die Rettungshandlung nicht (erfolgversprechend) möglich. In beiden Fällen liegt schon kein „Unterlassen“ i. S. d. § 13 StGB vor.178 175 Dirnberger, in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung Kommentar, Band I, 85. Ergänzungslieferung November 2006, Art. 71 Rn. 65, 66. 176 Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 BayBO. 177 Oben Teil 3 A.I., S. 57 ff. 178 In dieselbe Richtung gehen die Ausführungen Seelmanns, GA 1989, S. 244.

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Wiederum anders: Nur wenn der Unterlassende physisch und geistig in der Lage ist, die für die Rettung des Opfers erforderliche Handlung vorzunehmen, wenn er also den weiteren Geschehensablauf tatsächlich beeinflussen und somit beherrschen kann, ist die Nichtvornahme einer solchen Handlung strafrechtlich relevant.179 Dem Unterlassenden ist eine rettende Handlung beispielsweise nicht möglich, wenn ihm dazu die körperlichen oder intellektuellen Fähigkeiten fehlen: Wenn zwei „Freeclimber“ in einer Steilwand unterhalb des Gipfels eines hohen Berges hängen und einer von beiden abzustürzen droht, weil er sich nicht mehr halten kann, ist dem anderen die Rettungshandlung unmöglich, sofern er gerade noch physisch in der Lage ist, sein eigenes Körpergewicht zu halten. Das Strafrecht macht ihm in diesem Fall schon das Unterlassen als solches nicht zum Vorwurf. Unmögliches kann von niemandem verlangt werden. Eine weitere Konstellation, in der kein strafrechtlich relevantes Unterlassen vorliegt, ergibt sich, wenn der Unterlassende durch einen Dritten von der Rettung abgehalten wird: Ein Vater, der des Schwimmens nicht mächtig ist, beobachtet, wie sein Sohn in den Wellen der Nordsee zu ertrinken droht. Die Zeit, Hilfe zu holen, bleibt nicht mehr, zumal der Strand zu diesem Zeitpunkt nahezu menschenleer ist und der Vater kein Mobiltelefon bei sich trägt. Der Sohn hat jedoch am Strand sein Schlauchboot zurückgelassen, welches der Vater zur Rettung seines Sohnes besteigt. In jenem Moment zerschneidet ein Klassenkamerad des Sohnes, der diesem das schöne Spielzeug neidet, die Bootswand mit einer Glasscherbe. Mangels anderer Rettungsmittel ertrinkt der Sohn innerhalb weniger Augenblicke. Der Vater konnte auf diesen Geschehensablauf keinen Einfluß mehr nehmen, er beherrschte diesen nicht. Folglich ist die Nichtvornahme einer (weiteren) Rettungshandlung durch den Vater in Ermangelung einer Handlungsmöglichkeit strafrechtlich irrelevant. Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn jemand zufällig an einem Unfallgeschehen vorbeikommt und z. B. einen schwer verletzten Fahrradfahrer auf der Straße liegen sieht. Der fremde Passant hatte gerade seinen Erste-Hilfe-Kurs aufgefrischt und trägt überdies ein Mobiltelefon in seiner Jackentasche. Trotzdem unternimmt er nichts aus Sorge, einen dringenden Termin mit einem Geschäftspartner zu versäumen. Ihm wäre ein Handeln sehr wohl möglich. Dem Verletzten wäre bereits mit dem Herbeirufen eines Krankenwagens geholfen, noch besser wäre es, der Passant würde sich zudem noch selbst um den Verletzten kümmern. Da er nichts von beidem getan hat, hat er eine ihm mögliche Rettungshandlung nicht vorgenommen, die für das bedrohte Rechtsgut wichtig gewesen wäre. Dieses Unterlassen wird daher bei Vorliegen der übrigen Strafbarkeitsvoraussetzungen strafrechtlich verfolgt werden. 179

Ausführlich zum strafrechtlichen Unterlassensbegriff oben Teil 3 A.I., S. 57 ff.

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(cc) Auswirkungen dieses dritten Herrschaftsbegriffs auf die Theorie Schünemanns Interpretiert man das Kriterium der „Herrschaft“ in diesem Sinne, kann nicht befriedigend erklärt werden, weshalb nicht auch zufällig vorbeikommende Dritte eine Garantenstellung haben sollen.180 Auch sie sind, passieren sie ein Opfer, das sich selbst nicht mehr retten kann, Herren des Geschehens. Was ihre Herrschaft, also ihre faktische Handlungsmöglichkeit, von der Herrschaft eines Garanten unterscheidet, erklärt Schünemann nicht. Zwar würde er gegen diesen Vorwurf vermutlich vorbringen, daß zufällig am Ort des Geschehens erscheinende Passanten keine Aufsichts- oder Obhutspflichten gegenüber dem gefährdeten Rechtsgut haben. Er kann jedoch nicht abstrakt oder für jeden Einzelfall erklären, warum dies so ist.181 Dies wird insbesondere bei den Beschützergaranten deutlich: Selbst wenn man konstatiert, daß der zufällig an demselben Ort wie der Verletzte anwesende quivis ex populo zwar eine Rettungsmöglichkeit hat, diese aber nicht ergreift und somit mangels tatsächlicher Übernahme der Herrschaft über die Anfälligkeit des Opfers nicht Garant ist, stellt sich die Anschlußfrage, welche Handlungen er vornehmen müßte, damit man unterstellen kann, er habe die Herrschaft ergriffen. Genügt es, daß er das Opfer fragt, wie es ihm geht? Muß er Rettungshandlungen einleiten? Muß er Dritte benachrichtigt haben? Oder wird er erst Garant, wenn er durch sein Verhalten bei einem Dritten den Anschein erweckt hat, dem Opfer würde bereits geholfen, so daß dieser Dritte eigene Rettungsmaßnahmen unterläßt? Die Antworten auf diese Fragen bleibt Schünemann schuldig. Er erklärt nicht, wann bzw. unter welchen Umständen sich die bloße Handlungsmöglichkeit zu einer Handlungspflicht und damit zu einer Garantenstellung verdichtet.

180 Ähnlich Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 73 ff.: „Auch bei den Garantieverhältnissen beruht die besondere Beziehung des Täters zum geschützten Rechtsgut u. a. auf einem besonderen sozialen Einflußbereich! Garantenpflichten sind Sonderpflichten i. S. d. Sonderpflichtdelikte! Die „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ kann nicht alleiniger Zurechnungsgrund sein, da sie nicht gleichzeitig Zurechnungsgrund und Entstehungsmerkmal der Sonder- bzw. Garantenpflicht sein kann!“ 181 Seine eigene Erklärung, warum jemand die Pflicht hat, für gefahrlose Zustände im eigenen Herrschaftsbereich zu sorgen, lautet (Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 249): „[. . .] weil eine an der Natur der Sache orientierte Betrachtung ergibt, daß die Nichthinderung eines Erfolges durch denjenigen, der über den Grund des Erfolges die Herrschaft ausübt, seiner Herbeiführung durch eine Körperbewegung gleichsteht.“ Mit anderen Worten und auch kürzer könnte man sagen, weil die Natur der Sache dies gebietet. Inwiefern die „Natur der Sache“ ein objektiv überprüfbares Kriterium sein soll, das Schünemann selbst für die Garantenstellung und ihre Begründung fordert (vgl. unten Fn. 195, S. 132), erklärt er nicht.

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(b) Zirkelschluß und fehlende dogmatische Begründung Letztlich grenzt die Begründung der Garantenstellungen ausschließlich mit Hilfe der „Herrschaft über den Grund des Erfolges“ an einen Zirkelschluß: Schünemann zufolge hat der Täter für ein Ausbleiben des Erfolges strafrechtlich einzustehen, wenn er die Aufsicht über das Opfer ausübt oder wenn er dieses unter seiner Obhut hat bzw. wenn eine das Opfer bedrohende Gefahrenquelle seiner Kontrolle unterliegt und wenn der Täter wegen dieser Verantwortungspositionen dafür einstehen muß, daß kein strafrechtlicher Erfolg an den Rechtsgütern des Opfers eintritt. Anders ausgedrückt: Nach dieser Auffassung ist der Unterlassende Garant, weil er dafür einstehen muß, daß das Opfer keine Rechtsgüter einbüßt. Das „Einstehenmüssen“ ist jedoch bereits die gesetzliche Umschreibung der Garantenstellung. Folglich ist, wenn man einmal zugespitzt formulieren möchte, laut Schünemanns Theorie der Unterlassende Garant, wenn und weil er Garant ist. Dieser Zirkelschluß würde vermieden durch die Begründung, weshalb der Inhaber von Obhuts-, Kontroll- oder Aufsichtspflichten Garant ist bzw. unter welchen Voraussetzungen jemand Obhuts-, Beschützer- oder Aufsichtsgarantenstellungen übernimmt.182 Schünemann bemüht sich zwar um eine Begründung. Jedoch operiert er hierzu mit dem Begriff der „Natur der Sache“, ohne genau zu erklären, was er darunter versteht:183 Daß das Zurechnungskriterium Ausdruck der Wertentscheidung des Gesetzgebers sei, wird behauptet, nicht aber anhand von Gesetzesmaterialien o. ä. nachgewiesen. Der Terminus „Natur der Sache“ wird nicht definiert, sondern vorausgesetzt. Da er in der Literatur schon vielfältige Verwendung gefunden hat,184 weiß der Rechtsanwender folglich nicht, mit welcher Definition er im Zusammenhang mit den Garantenstellungen genau arbeiten soll. Der Begriff ist viel zu unbestimmt und allgemein.185

182 Ebenso Ingelfinger, NStZ 2004, S. 410. Ähnlich Bringewat, FPR 2007, S. 14, der freilich für diese Begründung auf „einen der überkommenen Rechtspflicht- bzw. Rechtsquellenlehre entlehnten und vorsichtig weiterentwickelten Kanon kategorialer Entstehungsgründe für Garantenpflichten“ zurückgreift (im konkreten Fall auf die Vorschriften des SGB VIII, um eine Garantenstellung von Fachkräften des Jugendamtes zu begründen). Seebode, in: FS-Spendel, 1992, S. 333. 183 s. oben Teil 4 B.II.4.b)aa)(2)(a), S. 112 f. Daneben Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 231, 238, 241, 242, 244, 249, 284, 317, 330, 345, 354, 357. 184 Vgl. die Nachweise bei Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 70 ff., insbes. Fn. 62 ff. 185 Ebenso Albrecht, Begründung von Garantenstellungen in familiären und familienähnlichen Beziehungen, 1998, S. 55.

C. Eigener Begründungsansatz

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(3) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, daß der Unterlassungstäter zwar die Herrschaft „über den Grund des Erfolges“ haben muß, um Garant zu sein. Wie sich diese Herrschaft von einer allgemeinen Handlungsherrschaft unterscheidet und unter welchen Voraussetzungen eine Herrschaft angenommen werden kann, aus der die Einstehenspflicht des § 13 StGB resultiert, bleibt indes noch zu klären.

C. Eigener Begründungsansatz I. Ausgangspunkt der Überlegungen Letztlich ist für die Begründung von Garantenstellungen somit von der in ihren Grundüberlegungen zutreffenden Herrschaftstheorie auszugehen. Sie fügt sich in die bekannte und bewährte Dogmatik ein, mittels derer die Frage nach der (Allein-, Mit- oder mittelbaren) Täterschaft bei Begehungsdelikten objektiv beantwortet wird:186 Wenn der Handelnde die Handlungsherrschaft, die Willensherrschaft über einen anderen oder die funktionelle Tatherrschaft besitzt, ist er Täter.187 Nach Schünemanns Herrschaftstheorie ist der Unterlassende Täter, wenn es ihm möglich ist, einen tatbestandsmäßigen Erfolg durch bewußtes eigenes Handeln abzuwehren, und er hierzu aufgrund einer Herrschaft über die (partielle oder vollständige) Hilflosigkeit des Opfers bzw. aufgrund einer Herrschaft über gefährliche Gegenstände oder Menschen verpflichtet ist. Dem ist zuzugeben, daß die abstrakte, also von der konkreten Handlungsmöglichkeit losgelöste Frage nach einer Garantenstellung tatsächlich wenig zielführend ist. Eine „abstrakte Garantenstellung“ kann es nicht geben. Selbst die Mutter eines Kindes ist nicht immer per se Garantin in dem Sinne, daß sie in der konkreten Gefahrensituation ihr Kind retten bzw. es beschützen oder es von der Schädigung der Rechtsgüter anderer abhalten muß. Vielmehr sind Situationen denkbar, in denen sie die Verantwortung abgegeben hat (z. B. an eine Tagesmutter, die das Kind betreut, während die Mutter im Haus bzw. außer Haus arbeitet). Die Frage nach einer Garantenstellung kann folglich immer nur für die konkrete Situation im Hinblick auf bestimmte Menschen beantwortet werden. Dabei scheitert die Schünemann’sche Theorie freilich besonders in Zweifelsfällen wegen ihrer soeben erwähnten Schwächen.188 Diese Schwachstellen gilt 186 Grundlegend und umfassend zu diesem Thema: Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 8. Auflage 2006. 187 Vgl. schon oben Teil 4 B.II.4.b)aa)(2)(c), S. 114 f. 188 Teil 4 B.II.4.b)bb)(2), S. 123 ff.

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es daher zu beseitigen. Dies könnte durch eine Gesetzesänderung geschehen, im Zuge derer die Anforderungen an eine Garantenstellung konkretisiert werden. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, den existenten § 13 StGB nicht nur mit Hilfe der Herrschaftstheorie, sondern unter Berücksichtigung weiterer, dogmatisch anerkannter Kriterien auszulegen.

II. Problemlösung de lege ferenda De lege ferenda ließen sich die derzeit bei § 13 StGB bestehenden Auslegungsschwierigkeiten durch die Aufnahme der Entstehungsgründe von Garantenstellungen in das Strafgesetzbuch beseitigen. Die bisher unternommenen und gescheiterten Versuche189 dürfen den Gesetzgeber von einer solchen Option nicht abhalten. Sie sind schließlich kein unumstößlicher Beleg dafür, daß eine gesetzliche Regelung der Garantenstellungen insgesamt unmöglich ist bzw. lediglich mit unbefriedigenden Ergebnissen eingeführt werden kann.190 Bei einer solchen Novellierung der Norm könnten die Anknüpfungspunkte für Garantenstellungen der bisherigen Rechtsprechung sowie der strafrechtlichen Literatur entnommen werden. Die Garantenstellungen könnten im Rahmen eines § 13 Abs. 1 S. 2 StGB dargestellt werden, der sich an den bisherigen § 13 Abs. 1 StGB anschließt. Ein derart umgestalteter § 13 Abs. 1 StGB könnte in etwa folgenden Wortlaut haben: 1

Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. 2Für das Ausbleiben des Erfolges rechtlich einzustehen hat derjenige, der aufgrund der Hilflosigkeit des zu schützenden Rechtsguts oder aufgrund seiner Aufsichtspflicht über gefahrschaffende Gegenstände oder Menschen die Herrschaft über den Grund des Erfolges hat und der zugleich speziell zur Erfolgsabwendung verpflichtet ist, insbesondere weil er 1. mit dem Inhaber des zu schützenden Rechtsguts in gerader Linie bis zum dritten Grad oder in der Seitenlinie bis zum zweiten Grad verwandt oder in gerader Linie bis zum ersten Grad verschwägert ist, 2. mit dem Inhaber des zu schützenden Rechtsguts dauerhaft oder vorübergehend eine Gemeinschaft zu dem Zweck gebildet hat, sich gegenseitig zu schützen und in Notsituationen Hilfe zu leisten, 3. freiwillig und tatsächlich eine Schutzfunktion gegenüber dem zu schützenden Rechtsgut übernommen hat,

189 190

Teil 2, S. 32 ff. Ebenso Seebode, in: FS-Spendel, 1992, S. 339.

C. Eigener Begründungsansatz

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4. eine tatsächliche oder rechtliche Befehls- oder Herrschaftsgewalt über den Inhaber des zu schützenden Rechtsguts besitzt, aufgrund derer der Rechtsgutsinhaber entweder nicht völlig frei oder gar nicht selbst agieren kann, 5. aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gegebenheiten Verkehrssicherungspflichten im Hinblick auf eine von ihm beherrschte Gefahrenquelle hat, deren Erfüllung den Erfolgseintritt verhindern würde, oder 6. die Gefahr für das Rechtsgut in rechtswidriger Weise selbst hervorgerufen hat.

Die fakultative Strafmilderung in § 13 Abs. 2 StGB bliebe erhalten. Selbstverständlich müßte auch diese Norm mit ihren einzelnen Ziffern bei ihrer jeweiligen Anwendung ausgelegt werden. Trotz eines noch so dringenden Konkretisierungswunsches muß das Gesetz schließlich hinreichend abstrakt bleiben, um die diversen denkbaren Fallgestaltungen erfassen zu können. Mit der Formulierung „insbesondere weil“ blieben eine sich verändernde Auslegung und Subsumtion entsprechend den gesellschaftlichen Entwicklungen möglich.191 Es ist abzusehen, daß einer solchen Formulierung entgegengehalten würde, daß sie nicht bestimmt genug sei und folglich wegen ihrer strafbegründenden Wirkung gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoße. Einem solchen Einwand kann indes leicht begegnet werden: Wenn das Bundesverfassungsgericht schon im Hinblick auf den heute gültigen § 13 StGB einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG verneint,192 müßte es bei einer präziseren Gesetzesformulierung, wie sie hier vorgeschlagen ist, erst recht zu demselben Ergebnis kommen. Eine Verbesserung des Status quo wäre durch die Aufnahme beispielhafter Fallgruppen nämlich allemal erreicht. Im übrigen findet sich auch an anderer Stelle im allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs eine Norm, die zwar keine strafbegründende, aber immerhin eine straferhaltende Wirkung hat: § 35 Abs. 1 S. 2 HS 1 StGB. Der Täter ist nach dieser Norm zu bestrafen, obwohl er alle Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands erfüllt, wenn ihm nach den Umständen zuzumuten ist, die Gefahr hinzunehmen. Wann die Zumutbarkeit zu bejahen ist, wird anhand zweier nicht abschließender Beispiele erklärt. 191 Man denke beispielsweise an den früher verbotenen Beischlaf zwischen Verlobten (RGSt 71, S. 13 ff.), über den heute kaum noch jemand ein rechtliches Wort verlieren würde. Eine Differenzierung zwischen verheirateten und unverheirateten Paaren findet in dieser Hinsicht nicht mehr statt. Doch auch auf anderer Ebene nähern sich Verlobte den Verheirateten rechtlich an: Wenn heutzutage zwei Menschen in einer hinreichend verfestigten „Partnerschaft ohne Trauschein“ leben, können sie ggf. sogar füreinander als Garanten einzustehen haben, vgl. BGH NJW 1960, S. 1821. Dies ist allein dem gesellschaftlichen Wandel geschuldet. Der gültige § 13 StGB kann auf solche Änderungsprozesse reagieren – eine Neufassung der Norm sollte hierzu auch in der Lage sein. 192 Vgl. hierzu die obigen Ausführungen Teil 2 C., S. 54 ff.

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§ 35 Abs. 1 S. 2 HS 1 StGB verstößt ebenso wenig gegen das Grundgesetz193 wie die hier vorgeschlagene Änderung des § 13 StGB dagegen verstieße. In beiden Fällen kann der Täter anhand der normierten Beispiele erkennen, unter welchen Umständen er sich strafbar macht, und er kann sein Verhalten danach ausrichten.

III. Anforderungen an eine Garantenstellung de lege lata Eine Gesetzesänderung stellt freilich nur einen in der Zukunft gangbaren Weg dar. Die gegenwärtig bei der Auslegung des § 13 StGB bestehenden Probleme löst sie nicht. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen vielmehr die im Hinblick auf die Entstehungsvoraussetzungen einer Garantenstellung aufgeworfenen Fragen194 beantwortet werden. Das Ergebnis muß sowohl justitiabel als auch interessengerecht und praxistauglich sein.195 Mit ihm sollten sich alle Unterlassungsfälle inklusive der bisher als Zweifelsfälle stets unterschiedlich bewerteten Sachverhalte gleichermaßen lösen lassen. Angesichts der Schwierigkeiten, welche die Suche nach einem solchen Ergebnis beinhaltet,196 versteht es sich von selbst, daß dieses nicht mit Hilfe weniger Sätze herbeigeführt und begründet werden kann. Vielmehr müssen die einzelnen Fragen schrittweise geprüft, beantwortet und einer Lösung zugeführt werden. Es gilt daher nach dem bisher Gesagten insbesondere zu klären, wodurch sich die Herrschaft i. S. einer bloßen Handlungsmöglichkeit zu einer Garantenstellung verdichtet, wann also der Inhaber der Handlungsherrschaft zugleich die Herrschaft über die wesentliche Erfolgsursache oder über die Anfälligkeit des

193 Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 35 Rn. 30, bezweifelt freilich, daß bei der derzeit zu beobachtenden Tendenz, den Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 S. 2 StGB auszuweiten, den Regelbeispielen noch die ihnen vom Gesetzgeber zugedachte Richtlinienfunktion zukommt. 194 Teil 4 B.II.4.b)bb)(2), S. 123 ff. 195 Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 217, formuliert diese Forderung wie folgt: „Auch ohne eine nähere Analyse dieses Grundsatzes [scil. Art. 103 Abs. 2 GG] darf doch soviel gesagt werden, daß seinen Anforderungen allenfalls dann genügt werden kann, wenn die Auffindung einer Methode gelingt, die die Ergebnisse dem Dezisionismus subjektiver Beliebigkeit entrückt und eine rational überprüfbare Begründung der unechten Unterlassungsdelikte zu liefern vermag.“ 196 Diese Schwierigkeit zeigt sich schon an der Fülle der Theorien und guten Ansätze, die es alle bislang nicht geschafft haben, eine in jeder Hinsicht zufriedenstellende Lösung herbeizuführen. S. dazu nur oben Teil 4 B., S. 87 ff., insbesondere auch die Nachweise in Fn. 6.

C. Eigener Begründungsansatz

133

Opfers besitzt. Es geht um die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Unterlassende nicht nur erfolgsvermeidend handeln kann, sondern im Rahmen des § 13 StGB auch erfolgsvermeidend handeln muß. 1. Die „zwei Grundpfeiler“ einer Garantenstellung Zur Lösung dieses Problems ist die Herrschaft jedes Unterlassenden in zwei Richtungen zu überprüfen: Ist es erstens im Hinblick auf höherrangiges Recht und zweitens hinsichtlich der Erwartungen der Gesellschaft an das Strafrecht gerechtfertigt, den Unterlassenden wie einen Begehungstäter zu bestrafen? Diese zwei Richtungen bzw. Kriterien ergeben sich aus den folgenden Überlegungen: Der Rückgriff auf höherrangiges Recht, beispielsweise die Verfassung, zur Interpretation einer einfachgesetzlichen Norm ist eine anerkannte Auslegungsmethode,197 mittels derer unter Berücksichtigung der dem Gesetz zugrundeliegenden Strafzwecke sichergestellt werden kann, daß ein strafrechtlicher Eingriff gerechtfertigt ist.198 Zwar stellt die Verfassung die äußerste Grenze zulässiger Freiheitsbeschränkungen durch den Staat dar. Nutzt der Gesetzgeber die ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen voll aus, wird die einzelne Strafnorm so

197 Einfachrechtliche Gesetze müssen verfassungs- bzw. europarechtskonform ausgelegt werden. Hierzu etwa Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, Vorbem § 1 Rn. 30; Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, Einl. Rn. 17; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 326 ff. Die verfassungskonforme Auslegung ist nicht etwa wegen Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Vielmehr besagt diese Vorschrift lediglich, daß allein das Bundesverfassungsgericht ein formelles Gesetz wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz für nichtig erklären darf. Eine „bloße“ verfassungskonforme Auslegung einfachrechtlicher Gesetze ist auch den Fachgerichten erlaubt, vgl. BVerfGE 2, S. 124 [130 ff.]: „Feststellungsmonopol“ des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Feststellung der Nichtigkeit, kein „Auslegungsmonopol“; BVerfGE 17, S. 210; 48, S. 45: „Verwerfungsmonopol“ des Bundesverfassungsgerichts; BVerfGE 78, S. 24. Mehr noch: Wenn und soweit eine verfassungskonforme Auslegung möglich ist, ist eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht unzulässig. 198 Auch hierbei handelt es sich um ein gängiges Auslegungsinstrument, nämlich die teleologische Auslegung. Zu deren Relevanz bei der Gesetzesauslegung Bleckmann, JuS 2002, S. 944 m.w. N.: „Die teleologische Methode fragt, welche Auslegung der Norm dem Ziel des Gesetzes am besten entspricht: Es muss sich dabei um ein Mittel handeln, welches für die Zielerreichung geeignet und erforderlich ist. Diese Methode deckt sich damit teilweise mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Es kann sich dabei um das Ziel des ganzen Gesetzes, eines Kapitels oder einer einzelnen Norm handeln. In dieser Reihenfolge wird das Ziel zunehmend konkreter, bis es sich mit dem Inhalt der Norm fast deckt.“ Die teleologische Auslegung erfolgt hier primär im Hinblick auf die verschiedenen Strafzwecke. Im übrigen wurden die Fragen nach dem Sinn und Zweck der Norm bereits durch ihre Entstehungsgeschichte beantwortet. Diese Ausführungen müssen hier nicht noch einmal wiederholt werden.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

weit wie verfassungsrechtlich möglich formuliert und ausgelegt. In der Regel wird dies für den Normadressaten nicht günstig sein. Im Falle des § 13 StGB deckt sich aber die (gerade noch) zulässige Auslegung mit der gesetzgeberisch gewollten. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm: Die Große Strafrechtskommission konnte sich lange auf keine Formulierung der Vorschrift einigen.199 Der Grund dafür war, daß zwar alle Kommissionsmitglieder das unechte Unterlassen gesetzlich normieren wollten, daß aber eine abschließende Umschreibung der Garantenstellungen nicht für möglich gehalten und daher auch nicht gewünscht wurde.200 Vielmehr wollten einige die Norm möglichst offen formulieren, um auch neue Garantenstellungen unter die Vorschrift subsumieren zu können.201 Andere forderten zumindest die Einbeziehung von Beispielen für einzelne Garantenstellungen.202 Den Kommissionsmit199

Näher hierzu Teil 2 B., S. 48 ff. Wegen dieser Erkenntnis wurde von einigen wenigen Kommissionsmitgliedern eine Regelung insgesamt abgelehnt, vgl. Bockelmann, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, Wortlautprotokoll der 117. Sitzung, S. 85 ff., insbes. S. 85: „Es scheint mir aber besser, gar keine Vorschrift zu bringen als eine falsche.“ 201 Der im E 1969 gewählte Wortlaut belegt, daß der Tatbestand offen formuliert werden sollte und daß sämtliche denkbaren Garantenstellungen erfaßt werden sollten, BT-Drucks. V/4095, S. 8: „Allerdings erwies sich bei den Beratungen im Ausschuß – wie bereits früher in der Großen Strafrechtskommission –, daß es unmöglich ist, auch die einzelnen Entstehungsgründe der Handlungspflicht in einer sachgemäßen und erschöpfenden Weise gesetzlich festzulegen. [. . .] Abgesehen von der Schwierigkeit, einen für die praktische Anwendung geeigneten Katalog der Entstehungsgründe aufzustellen, beweist die Tatsache, daß in der Rechtslehre noch sehr über die Einzelheiten dieser Entstehungsgründe gestritten wird, daß die Zeit für eine sachgemäße gesetzliche Regelung jedenfalls dieser Problematik noch nicht reif ist.“ Ebenso bereits früher der E 1962, BT-Drucks. IV/650, S. 124: „Der Entwurf ist davon abgekommen, im einzelnen die Fälle aufzuzählen, in denen eine Garantenstellung besteht. Sie im einzelnen abschließend zu nennen, was in der für eine Gesetzesfassung gebotenen Kürze ohnehin kaum erreichbar wäre, brächte wenig Gewinn. Zudem könnte hierdurch eine unerwünschte Festlegung der Rechtsentwicklung eintreten, da in dieser Hinsicht noch zahlreiche Zweifelsfragen bestehen, deren Klärung durch die weitere Entwicklung der Rechtslehre und Rechtsprechung zu erhoffen ist.“ 202 So etwa bereits Gallas als Mitglied der Großen Strafrechtskommission für den E 1959. Er forderte die Einbeziehung eines Beispiels, bei dem die Annahme einer Garantenstellung gerade nicht selbstverständlich sei, nämlich die Garantenstellung desjenigen, der die Gefahr selbst verursacht hat, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, Anhang A Nr. 24, S. 478 ff.; ebda., Wortlautprotokoll der 116. Sitzung, S. 82. Die unterschiedlichen Präferenzen kommen auch in den verschiedenen Entwürfen zum Ausdruck. Einen Regelungsvorschlag mit Beispielen enthält § 13 E 1958. Diese Beispiele wurden in zweiter Lesung bei der Erstellung des E 1959 herausgenommen, oben Teil 2 B.I.2., Teil 2 B.I.3., S. 50 f. Sie wurden auch in den E 1962 nicht wieder aufgenommen, Teil 2 B.II., S. 51 ff. Der AE 1966 hingegen enthielt in seinem § 12 eine sehr detaillierte Regelung des unechten Unterlassens, die sogar abschließende Beispiele enthielt, näher zuvor Teil 2 B.III., S. 53 f. 200

C. Eigener Begründungsansatz

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gliedern, die einen Katalog von abschließenden oder verdeutlichenden Beispielen für Garantenstellungen aufnehmen wollten, kam es in erster Linie darauf an, Grenzen für die Garantenstellungen zu statuieren,203 damit nicht jedwede Rechts- bzw. Handlungspflicht eine Garantenstellung begründen konnte.204 Letztlich sah der Gesetzgeber von der Einbeziehung solcher Exemplifikationen jedoch ab.205 Er konnte dies auch ohne weiteres tun, da eine Grenze existiert (und schon bei Erlaß des Gesetzes existierte), welche die unkontrollierte Ausdehnung von Garantenstellungen zu verhindern vermag: die Verfassung mit ihren Grundrechten und anderweitigen staatlichen Schutzpflichten. Auf diese Weise wurde eine Norm kreiert, die einerseits bedrohten Rechtsgütern größtmöglichen Schutz bietet und andererseits die Unterlassungstäter vor einer Ausuferung der Strafbarkeit bewahrt. Die Erwartungen der Gesellschaft stellen als zweiter Pfeiler (wie bereits mehrfach in dieser Arbeit gezeigt wurde206) zum einen den ursprünglichen Grund für die Bestrafung unechten Unterlassens dar und sind zum anderen noch heute dafür verantwortlich, daß sich die Anforderungen an das „Einstehenmüssen“ fortwährend verändern. Zudem hat auch das Bundesverfassungsgericht nicht zuletzt im Hinblick auf die gesicherte „Garanten-Rechtsprechung“ 203 Vgl. statt vieler Schwalm, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, Wortlautprotokoll der 116. Sitzung, S. 77, der die Vorschläge des Bundesjustizministeriums erläuterte: „Mit der Mehrheit der Kommissionsmitglieder bei der ersten Lesung und der Mehrheit der inzwischen eingegangenen Stellungnahmen sind die Sachbearbeiter darüber einig, daß die Vorschrift über Begehung durch Unterlassen sich auch über die Entstehungsgründe der Garantenpflicht aussprechen, also einen zweiten Absatz erhalten sollte und daß hier jedenfalls wie schon nach der ersten Lesung die Gefahrenschaffung (Ingerenz) – auf die sich allerdings Herr Gallas beschränken will – und die Garantieübernahme – wie die Mehrheit aller Stellungnahmen vorschlägt – aufgeführt werden sollten. In Jahrzehnten haben Rechtsprechung und Rechtslehre diese Gründe herausgearbeitet. Daß dabei das Problem der Grenze strafrechtlicher Verantwortlichkeit nicht allgemeingültig in einer Weise gelöst worden ist, die für alle vorkommenden Einzelfälle Zweifel ausschließt, ist keine Besonderheit dieser Merkmale. Ich brauche z. B. nur an die Problematik der Zueignung bei der Unterschlagung, der Vermögensverfügung bei Betrug und Erpressung, der Vermögensbetreuungspflicht bei der Untreue und der Pflichtwidrigkeit der Handlung eines Ermessensbeamten bei der schweren Bestechung zu denken, um anzudeuten, welche große Rolle auch sonst das Problem der Grenze im Strafrecht spielt. Es liegt in den genannten Fällen nicht einfacher als bei der Gefahrenschaffung und der Garantieübernahme. [. . .] Vielmehr gewinnt die Vorschrift über Begehen durch Unterlassen gerade durch die Aufführung dieser beiden Entstehungsgründe an Anschaulichkeit und Rechtsstaatlichkeit. Die Sachbearbeiter möchten daher auf alle Fälle diese Gründe im Gesetz erwähnt haben.“ 204 Eb. Schmidt, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 12. Band, Zweite Lesung des Entwurfs, Allgemeiner Teil, 1959, Wortlautprotokoll der 117. Sitzung, S. 88 f. 205 E 1969, auf dem der heutige § 13 StGB beruht, vgl. Teil 2 C., S. 54 ff. 206 Z. B. oben Teil 3 A.I.1.b)aa), S. 58; Teil 3 A.I.1.b)bb), S. 60; Teil 3 A.II.3., S. 65; Teil 4 B.II.3.c), S. 103.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

der Strafgerichte, die auf dem Rechtsgefühl der Bevölkerung basiert und die ihrerseits wiederum Erwartungen in der Gesellschaft begründet, den § 13 StGB für mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar erklärt. Da in der Vergangenheit – wie die bisherigen Ausführungen ben –207 andere gängige Auslegungsmethoden (beispielsweise grammatische oder systematische208 Auslegung) im Rahmen nicht weitergeholfen haben, muß auf diese beiden Kriterien werden.

verdeutlicht hadie historische, des § 13 StGB zurückgegriffen

Wenn sie gemeinsam ergeben, daß sich die Handlungsmöglichkeit des Unterlassenden zu einer überdurchschnittlichen Handlungspflicht verdichtet hat, einer Pflicht zur (durch den Unterlassungstäter besonders effektiv realisierbaren) Verhinderung des tatbestandsmäßigen Erfolges also, ist der Unterlassende Garant. Diese beiden Kriterien begründen kumulativ die Garantenstellung und können folglich als die „Grundpfeiler“ derselben bezeichnet werden.209 Sie bilden gemeinsam quasi das Fundament des „Bauwerks“ Garantenstellung. Dabei kommt den Grundrechten, also dem ersten Pfeiler das praktisch größere Gewicht jedenfalls in den Fällen zu, in denen noch keine Rechtsprechung existiert und in denen die gesellschaftlichen Erwartungen empirisch schwer meßbar sind. 2. Erster Pfeiler: Das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte Das Strafgesetzbuch und die Vorschriften des Nebenstrafrechts existieren nicht in einem ansonsten rechtsfreien Raum. Sie werden flankiert und ergänzt von Normen niedrigeren,210 gleichen211 und höheren212 Ranges.

207

Teil 4 B., S. 87 ff. Grundlegend zu den induktiven Ansätzen Böhm, Die Rechtspflicht zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1957, S. 53 ff., 90 ff. 209 Grundpfeiler zeichnen sich dadurch aus, daß mehrere von ihnen zusammengenommen das Fundament eines Gebäudes bilden. Die Grundpfeiler „höherrangiges Recht“ und „gesellschaftliche Erwartungen“ stellen – bildlich gesprochen – gemeinsam das Fundament des „Bauwerkes“ Garantenstellung dar. 210 Dabei handelt es sich um materielle Rechtsvorschriften wie Rechtsverordnungen und Satzungen. 211 Gleichrangig sind andere formelle Gesetze wie beispielsweise das Bürgerliche Gesetzbuch, das Handelsgesetzbuch, das Aktiengesetz, das GmbH-Gesetz oder die Abgabenordnung. 212 Von besonderer Wichtigkeit sind dabei das Grundgesetz, der EU-Vertrag, der EG-Vertrag und die anderen europäischen Rechtsvorschriften, die sich auf das deutsche Recht auswirken. 208

C. Eigener Begründungsansatz

137

a) Keine Auslegung des StGB mit Hilfe nur materieller Gesetze Die Vorschriften, die im Rang unter dem Strafgesetzbuch stehen und nicht vom parlamentarischen Gesetzgeber erlassen worden sind, können zur Auslegung einer strafrechtlichen Norm nicht herangezogen werden. Niederrangige Gesetze müssen inhaltlich mit höherrangigen übereinstimmen und sich an diesen messen lassen – nicht umgekehrt. Es gilt der Vorrang des formellen Gesetzes.213 b) Begrenzte Interpretationshilfe durch gleichrangige Gesetze Gleichrangige Gesetze stehen grundsätzlich „gleichberechtigt“ nebeneinander, so daß nicht einem Gesetz ein Anwendungs- oder Geltungsvorrang vor dem anderen zukommt.214 Hieraus folgt zugleich, daß der Inhalt einer strafrechtlichen Norm nicht unter Zuhilfenahme einer zivilrechtlichen Norm215 ermittelt werden kann.216 Zwar ist es möglich, daß beispielsweise eine im BGB enthaltene Regelung älter ist als die strafrechtliche und daß der Gesetzgeber bei Erlaß der strafrechtlichen Vorschrift im Gesetz oder in der Gesetzesbegründung explizit oder konkludent auf die zivilrechtliche Regelung Bezug genommen hat. In diesem Fall wäre z. B. eine im BGB enthaltene Definition auch auf den gleichlautenden strafrechtlichen Begriff anzuwenden.217 Jedoch kann nicht jeder unbestimmte Rechtsbegriff (oder gar eine ganze Vorschrift) des Strafgesetzbuches ohne weiteres unter Heranziehung gleichrangiger Gesetze, die naturgemäß einen völlig

213

Sachs, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Auflage 2007, Art. 20 Rn. 102. Es gilt der Grundsatz „lex superior derogat legi inferiori“ – eine entsprechende Kollisionsregel für gleichrangige formelle Gesetze fehlt, vgl. die Ausführungen von Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 2, 5. Auflage 2005, Art. 20 Abs. 3 Rn. 264. 215 Zivilrechtliche Normen stellen Alternativen zu Strafgesetzen dar, nicht deren Voraussetzungen, Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 142 ff., 165. 216 Anders bisher jedenfalls die Vertreter der formellen Theorie, oben Teil 4 B.I., S. 87 ff., sowie diejenigen, die unter Rückgriff auf die §§ 1626 ff. BGB ohne weitere Begründung eine Garantenstellung der Eltern annahmen, beispielsweise Joecks, Studienkommentar Strafgesetzbuch, 7. Auflage 2007, § 13 Rn. 23: „Schutzpflichten können sich aus Regelungen etwa des Bürgerlichen Gesetzbuches ergeben (z. B. §§ 1353, 1626, 1626a, 1631, 1793, 1800 BGB).“ 217 Die in § 90 BGB enthaltene Definition einer Sache etwa ist im Hinblick auf die Körperlichkeit eines Gegenstandes für das Strafgesetzbuch nutzbar. Auch Tiere, die nach § 90a BGB explizit keine Sachen sind, sind im Strafrecht keine Sachen, werden jedoch als solche behandelt, so daß sich insoweit eine bewußte Abweichung vom BGB ergibt: Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 242 Rn. 3. 214

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

anderen Regelungszweck218 besitzen, ausgelegt werden. Vielmehr bedarf es in jedem Einzelfall einer genauen Überprüfung. So führt etwa nicht jede Verletzung einer zivilrechtlichen Pflicht zugleich zu einer Strafbarkeit des pflichtwidrig Handelnden.219 Dies kann am besten220 anhand der zivilrechtlichen Sekundärleistungsansprüche veranschaulicht werden.221 Die Verletzung einer primären Leistungspflicht hat in der Regel nicht zur Folge, daß sich jemand strafbar macht: Wer nicht oder schlecht leistet, wird nacherfüllungs- oder schadensersatzpflichtig bzw. muß den Rücktritt des Vertragspartners befürchten. Eine Straftat ist in diesem Verhalten nicht erkennbar – es sei denn, der Vertragspartner wurde über die Qualität der Leistung vorsätzlich von Anfang an getäuscht. Das Strafrecht stellt die „ultima ratio“ unter den einfachrechtlichen Gesetzen dar.222 Es soll nicht bei jedem gesetzwidrigen Verhalten zum Einsatz kommen, sondern nur bei ganz gravierendem Fehlverhalten, das aus Gründen der General- oder Spezialprävention223 nicht anders als durch Strafen erfolgreich geahndet bzw. für die Zukunft verhindert werden kann.224 Es wäre folglich widersinnig, die Voraussetzungen der ultima ratio den Gesetzen zu entnehmen, die bei 218

Zum Erfordernis der „Identität der Schutzzwecke“ Roxin, NStZ 1991, S. 364 f. Vgl. die Beispiele bei Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 2 Rn. 98. Ebenso Otto, in: FS-Hirsch, 1999, S. 293, unter Hinweis auf die „Lederspray-Entscheidung“ des Bundesgerichtshofs, BGHSt 37, S. 106 [115]. Dazu, daß öffentlich-rechtliche Pflichten ebenfalls nicht per se Garantenstellungen begründen Roxin, NStZ 1991, S. 363 f. Zu diesem Thema schon oben Fn. 27, S. 90. 220 Weitere Ausführungen und Beispiele zu diesem Problem bereits zuvor Teil 2 A.IV.1., S. 38 ff. 221 §§ 280 ff. BGB (ggf. in Verbindung mit speziellen Regelungen aus den einzelnen Vertragsarten, z. B. §§ 437, 439, 440, 441 BGB). 222 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 3 unter Hinweis auf BVerfGE 39, S. 1 [47]; Arthur Kaufmann, JuS 1978, S. 365; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 2 Rn. 97 ff.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 1 Rn. 14: „Überall da, wo mit Mitteln des bürgerlichen und/oder des öffentlichen Rechts, insbesondere also etwa durch ordnungspolizeiliche oder sozialfürsorgliche Maßnahmen ein ausreichender Rechtsgüterschutz gewährleistet werden kann, sind daher strafrechtliche Sanktionen mit ihren weitreichenden, oft existenzvernichtenden Folgen aus den Staatszwecken heraus in keiner Weise mehr zu rechtfertigen.“ 223 Zu den Strafzwecken näher unten Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b), S. 163 ff. 224 Bereits dieser Überlegung liegt das unten Teil 4 C.III.2.h)dd), S. 153 ff., und Teil 4 C.III.2.h)ee), S. 161 ff., erörterte Verhältnismäßigkeitsprinzip zugrunde. Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 1 Rn. 1: „Berechtigt ist der Gesetzgeber zum Erlaß einer Strafrechtsnorm nur dann, wenn sie zur Wahrung und Sicherung der Lebensbedingungen unserer auf der Freiheit und Verantwortung der Person basierenden Gesellschaft notwendig ist.“ 219

C. Eigener Begründungsansatz

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jeder Pflichtverletzung zum Einsatz kommen. Ein solches Vorgehen wäre vergleichbar mit dem unzulässigen Schluß von einer allgemeinen auf eine spezielle Norm.225 c) Normkonkretisierung durch verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte Den ersten Pfeiler des Fundaments für das „Bauwerk Garantenstellung“ bilden daher (nur) die im Rang über dem Strafgesetzbuch stehenden Gesetze, allen voran das Grundgesetz. Zwar nimmt auch der Einfluß gemeinschaftsrechtlicher Regelungen auf das deutsche Recht stetig zu. Jedoch spielt das Europarecht im Hinblick auf die Auslegung des § 13 StGB schon deshalb keine Rolle, weil dem europäischen Gesetzgeber (jedenfalls derzeit noch) die Kompetenz zum Erlaß von Strafrechtsnormen fehlt.226 Eine einfachgesetzliche Norm muß sich so auslegen lassen, daß gegen die höherrangigen Vorschriften des Grundgesetzes nicht verstoßen wird und daß dessen Grundsätze gewahrt bleiben.227 Dadurch wird der rechtliche Rahmen228 für das Strafgesetzbuch und die Nebenstrafgesetze vorgegeben.229 225 Vgl. für den Nachweis, daß der Schluß vom Besonderen auf das Allgemeine zulässig ist, Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1995, S. 202 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 384 ff. Ein Beispiel dafür, daß umgekehrt der Schluß vom allgemeinen auf das besondere Gesetz nicht statthaft ist, kann – um im Bereich des öffentlichen Rechts zu bleiben, dem auch das Strafrecht angehört – dem Polizeirecht entnommen werden. Auch hier darf nicht von der Aufgabeneröffnung der Polizei (allgemeine Norm) auf deren Eingriffsbefugnis (besondere Norm) geschlossen werden. Vielmehr bedarf es für die polizeiliche Eingriffsbefugnis einer speziellgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, vgl. Berner/ Köhler, Polizeiaufgabengesetz Handkommentar, 18. Auflage 2006, Vorbemerkung zu den Art. 11–29 Rn. 2; Heckmann, in: Becker/Heckmann/Kempen/Manssen, Öffentliches Recht in Bayern, 3. Auflage 2006, S. 252 (Rn. 63). Im bayerischen Polizeirecht ergibt sich die Aufgabe aus Art. 2 Abs. 1 PAG, die diversen Eingriffsbefugnisse sind hingegen in den Art. 11 ff. PAG normiert. 226 Mittlerweile können sich außerstrafrechtliche Regelungen sowie die Harmonisierungsbestrebungen der Europäischen Union im Hinblick auf die Strafrechtsordnungen der verschiedenen Mitgliedsstaaten auch auf das deutsche Strafrecht auswirken: Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 211. Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 57, 77 ff. Ein solcher Einfluß auch auf die Auslegung des „rechtlich Einstehenmüssens“ in § 13 StGB ließ sich bisher indes nicht feststellen. 227 Vorrang des Grundgesetzes und des Gemeinschaftsrechts: Hassemer/Kargl, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 1 Rn. 110 f.; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 1 Rn. 78 ff., 81 ff. 228 Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 1 Rn. 1: „Aus dieser verfassungsrechtlichen Zielsetzung staatlichen Strafrechts [scil. Gefahrenabwehr] ergeben sich sowohl die Grenzen als auch die Pflichten staatlicher Strafgesetzgebung.“

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Wahrung der Grundrechte des Normadressaten (bei § 13 StGB also des Garanten) zu richten. d) Prüfungseinleitende Überlegungen Hierbei ist zu berücksichtigen, daß nicht erst der Vollzug von Strafen230 einen starken Eingriff in die grundgesetzlich garantierten Freiheiten und Rechte der durch sie Betroffenen bedeutet. Bereits durch das Strafe androhende Gesetz sowie durch die Verurteilung zu einer Strafe unter Anwendung dieses Gesetzes wird der Rechtskreis des Normadressaten maßgeblich beeinträchtigt.231 Eser beschreibt das Dilemma, in dem sich der Strafgesetzgeber und die Strafgerichte befinden, treffend wie folgt: „Einerseits obliegt dem Strafrecht die Aufgabe, die von der Rechtsgemeinschaft als schutzwürdig anerkannten „Rechtsgüter“ durch Androhung und Verhängung von Sanktionen vor Beeinträchtigung zu schützen. [. . .] Andererseits hat diese mit Zwangsmitteln durchsetzbare Schutzaufgabe zur Folge, dass bereits durch Aufstellung der strafrechtlichen Schutztatbestände die Entfaltungsfreiheit des Einzelnen eingegrenzt wird [. . .].“232

Mit ähnlichen Worten hat Sachs das Problem dargestellt: „Die Strafgerichtsbarkeit steht in einem ambivalenten Verhältnis zu den Grundrechten. Einerseits schützt sie Grundrechte Dritter, indem sie Rechtsbrecher in die Schranken weist. Andererseits greifen staatliche Gerichte auf Grund ihres Monopols, Kriminalstrafen zu verhängen, und ihrer Zuständigkeit für gerichtliche Anordnungen im Rahmen des Ermittlungs- und Strafverfahrens in die Grundrechte der Beschuldigten bzw. Angeklagten ein. Die Verfassung muß daher nicht nur Freiheitsgewährleistungen durch die Strafgewalt, sondern auch gegenüber der staatlichen Strafgewalt erhalten.“233

Die strafrechtlichen Normen, welche die Bestrafung ermöglichen, müssen daher vor allem im Lichte der Grundrechte ausgelegt und angewendet234 werden, 229 So beschränkt z. B. die Kunstfreiheit die Beleidigungstatbestände (§§ 185 ff., 193 StGB). Dieses Beispiel erwähnt auch Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, Einl. Rn. 17. Allgemein zur grundgesetzkonformen Auslegung von Strafgesetzen bzw. zur Berücksichtigung der Grundrechte bei der Anwendung von Strafnormen Kudlich, JZ 2003, S. 127 ff. 230 Zur Eingriffsqualität von Strafen Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, Vorbem § 1 Rn. 27. 231 Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 95 (Rn. 17). 232 Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, Vorbem § 1 Rn. 27. 233 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 1200. 234 Ebenso Kudlich, JZ 2003, S. 127, 129 f.: „Während eine Vorschrift als solche nur verfassungsgemäß sein kann oder eben nicht, können verschiedene Lesarten der Vorschrift aus grundgesetzlicher Sicht wünschenswerter oder bedenklicher sein. [. . .]

C. Eigener Begründungsansatz

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sie dürfen diese nicht verletzen.235 Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers sowie des Rechtsanwenders, einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der jeweiligen Grundrechtsträger und des Staates zu finden. Dies gilt nicht zuletzt für die Auslegung § 13 StGB, genauer für das Merkmal des „rechtlich Einstehenmüssens“, also für die Voraussetzungen einer Garantenstellung. Jedes strafrechtliche Gebot oder Verbot greift jedenfalls in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG ein,236 da dem Adressaten bestimmte Verhaltensvorgaben gemacht werden,237 er von seiner Handlungsfreiheit also nicht mehr umfassend Gebrauch machen kann. Art. 2 Abs. 1 GG stellt insofern eine Art Auffanggrundrecht dar, das diejenigen Freiheits- und Abwehrrechte schützt, die nicht bereits von spezielleren Grundrechten erfaßt werden.238 Freilich ist es auch denkbar, daß durch § 13 StGB bzw. durch dessen Anwendung in solche spezielleren Grundrechte eingegriffen wird. Aus Gründen der Vereinfachung soll im folgenden jedoch in erster Linie auf einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG abgestellt werden. Damit ein Eingriff in ein spezielleres Grundrecht bejaht werden kann, bedarf es nämlich teilweise bestimmter strenger Anforderungen an die staatliche Handlung, wie z. B. einer Berufsbezogen-

Vielmehr kann die Ausstrahlungswirkung der Verfassung auch – bei genauerer Einordnung dann als Akt der systematischen Auslegung – als Argument bei der Entscheidung für die eine oder andere Lesart diesseits des Verdikts der Verfassungswidrigkeit herangezogen werden.“ 235 Dabei wird in der Regel (so auch hier) schwerpunktmäßig auf die Verletzung der Tätergrundrechte abgestellt. Strafnormen können daneben jedoch übermäßigen Schutz für das Opfer bieten, gleichsam diesem einen überproportionalen Schutz oktroyieren und es so in seinen Grundrechten ungerechtfertigt einschränken. Hierzu Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, Einl. Rn. 21, der freilich ohne weitere Erläuterung zwischen dem Übermaßverbot (Opfergrundrechte betreffend) und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (Tätergrundrechte betreffend) differenziert. 236 Art. 2 Abs. 1 GG schützt die allgemeine Handlungsfreiheit und ist sehr weit gefaßt, Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 2 Abs. 1 Rn. 8 ff. Ders. geht bei der Kommentierung von Art. 1 Abs. 3 in Rn. 324, jedoch davon aus, daß „alle herkömmlichen unter Strafe stehenden und offensichtlich sozialschädlichen Handlungen aus dem Grundrechtstatbestand der allgemeinen Handlungsfreiheit heraus[zu]nehmen“ seien. 237 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, Einl. Rn. 22. 238 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 2 Abs. 1 Rn. 13: „Der Grundrechtstatbestand der allgemeinen Handlungsfreiheit, wie ihn das Bundesverfassungsgericht versteht, erfaßt alles menschliche Handeln, „Betätigungen jedweder Art und Güte“. Dies bedeutet eine Vervollständigung des durch die anderen Grundrechte geschützten status negativus. Hiervon sind zwei Ausnahmen zu machen: Nach dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali wird Art. 2 Abs. 1 GG insoweit verdrängt, als der Grundrechtsschutz durch spezielle Grundrechte gewährleistet wird. [. . .].“

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

heit einer staatlichen Maßnahme bei Art. 12 GG.239 Eine genaue Überprüfung dieser besonderen Voraussetzungen in jedem Einzelfall würde vom eigentlichen Thema der Arbeit ablenken und soll daher unterbleiben. Eine Beschränkung der Freiheitsrechte des einzelnen – unabhängig davon, um welche es sich handelt – verstößt freilich noch nicht per se gegen die Verfassung. Deren Anforderungen wird solange genügt, wie der Eingriff in die Grundrechte gerechtfertigt ist.240 Eine Rechtfertigung des Staates könnte sich dabei aus den Schranken unter Berücksichtigung der Schranken-Schranken ergeben. Eine solche Schranke können auch kollidierendes Verfassungsrecht bzw. konkreter: kollidierende Grundrechte darstellen, aus denen eine Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen (rechtstreuen) Bürgern folgt.241 Der Staat ist durch die Grundrechte angehalten, den einzelnen vor Übergriffen Dritter auf seine Rechtsgüter zu bewahren.242 Ob er dieser Aufgabe nachgekommen ist und deshalb in zulässiger Weise in die Grundrechte des Dritten eingegriffen hat, muß jeweils in der zu beurteilenden Situation festgestellt werden. Dafür muß eine konkrete Grundrechtsprüfung vorgenommen werden: Zunächst ist der Schutzbereich des Grundrechts zu ermitteln, in einem zweiten Schritt ist die Qualität der staatlichen Maßnahme als Eingriff zu überprüfen, anschließend ist nach einer Rechtfertigungsmöglichkeit für diesen Eingriff zu suchen und zuletzt ist zu fragen, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen einer solchen Rechtfertigungsmöglichkeit (Schranken-Schranken) gewahrt wurden. Für § 13 StGB bedeutet dies: Nur wenn der Unterlassende unter Androhung von Strafen zur Vornahme von Rettungs- oder Schutzmaßnahmen auch von Verfassungs wegen besonders verpflichtet werden darf, wenn es also gerechtfertigt ist, ihn unter Verkürzung seiner Grundrechte aus der Masse der Unterlassenden herauszuheben,243 kann er auch Garant sein.244 Unter diesem Gesichtspunkt 239 Zur berufsregelnden Tendenz einer staatlichen Maßnahme Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 823 f. 240 Vgl. hierzu Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 1996, Vorb. Rn. 80 ff., 84 ff. 241 Diese Schutzpflicht leitet sich auch aus der einige Grundrechte kennzeichnenden Eigenschaft als Leistungsrechte (status positivus) ab, Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 184, 193 ff. 242 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 101 ff. 243 Eine ähnliche Formulierung findet sich in BT-Drucks. IV/650, S. 124: „In der Garantenstellung liegt ein besonderes Pflichtenverhältnis begründet, das den Garanten aus der Masse der übrigen Rechtsgenossen heraushebt und gerade ihm den Schutz des betreffenden Rechtsgutes vor dem drohenden tatbestandsmäßigen Erfolg auferlegt. Dem Garanten ist die Unversehrtheit des Schutzwertes anvertraut.“ 244 Skeptisch hinsichtlich der Übertragung der aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz resultierenden Grenzen auf alle strafrechtlichen Garantenpflichten Schall, NStZRR 2002, S. 34.

C. Eigener Begründungsansatz

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sind die einzelnen Grundrechte zu untersuchen, wenn festgestellt werden soll, ob jemand eine Garantenstellung innehat oder nicht. e) Schutzbereich des jeweils durch § 13 StGB tangierten Grundrechts Grundrechte können nur dann als Maßstab für die Frage, ob jemand im Einzelfall als Garant zu qualifizieren ist, herangezogen werden, wenn für den Unterlassenden gerade im Hinblick auf seine Unterlassung der Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet ist. Mit anderen Worten: Sein Unterlassen muß grundrechtlich geschützt sein, es muß also (mindestens) ein bestimmtes Grundrecht für den zu beurteilenden Sachverhalt thematisch einschlägig sein.245 aa) Begriff und Bedeutung des Schutzbereichs Der Begriff des „Schutzbereichs“246 bezeichnet nichts anderes als den Grundrechtstatbestand,247 also den rechtlichen Gehalt des Gesetzes. Inhalt und Grenzen des Schutzbereichs werden durch die Auslegung und durch die Definition der grundrechtlichen „Tatbestandsmerkmale“ ermittelt. Nur wenn der Schutzumfang des jeweiligen Grundrechts bestimmt ist, können aus dem Grundrecht konkrete Rechtsfolgen gezogen werden. Die Festlegung des Schutzbereichs ist deshalb essentiell248 und muß stets zu Beginn einer Grundrechtsprüfung erfolgen. Dabei ist zwischen dem persönlichen und dem sachlichen Schutzbereich zu unterscheiden. bb) Persönlicher Schutzbereich Der persönliche Schutzbereich umfaßt die in der Grundrechtsnorm enthaltenen Voraussetzungen der Grundrechtsträgerschaft (auch: „Grundrechtsberechtigung“).249 Dem persönlichen Schutzbereich ist folglich zu entnehmen, wer sich auf das Grundrecht berufen kann. Das Grundgesetz differenziert in diesem Punkt zwischen Menschen- und Bürgerrechten.250 245 Generell zu diesem Erfordernis Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 119 ff. 246 Umfassend zu diesem Begriff Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 3 ff. 247 Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 105, 117 ff., der sich gegen den Begriff des Schutzbereiches wendet („Raummetaphorik“ passe nicht in die Grundrechtsdogmatik). Ähnlich Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 10: Grundrechtstatbestand als „dogmatisch-zweckmäßiger Begriff“. 248 Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 96 (Rn. 23 f.). 249 Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 93 (Rn. 12).

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Als Menschenrechte werden diejenigen Grundrechte bezeichnet, die allen Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zustehen (etwa Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 GG). Sie werden auch anschaulich als „Jedermann-Rechte“ bezeichnet.251 Bürgerrechte hingegen stehen nur den Staatsangehörigen, also den Deutschen i. S. d. Art. 116 Abs. 1 GG zu (z. B. Art. 8 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG).252 Neben den natürlichen Personen können sich juristische Personen auf einige Grundrechte berufen. Unter welchen Umständen dies der Fall ist, regelt Art. 19 Abs. 3 GG. Da sich juristische Personen als solche nicht strafbar machen können, spielt diese Norm für die hier zu klärenden Fragen indes keine Rolle. Eine weitere Beschäftigung mit ihr erübrigt sich daher. cc) Sachlicher Schutzbereich Der sachliche Schutzbereich bestimmt den Gegenstand der Grundrechtsgarantie, anders ausgedrückt: den Schutzgegenstand.253 Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte.254 Das in dem jeweiligen Grundrechtsartikel enthaltene Recht wird folglich vor staatlichen Eingriffen geschützt. Die Arten der geschützten Rechte sind vielfältig: Es kann sich um die Freiheit handeln, sich hinsichtlich eines bestimmten Sachverhaltes nach den eigenen Vorstellungen verhalten zu dürfen. Einen solchen Schutz gewährt beispielsweise Art. 8 Abs. 1 GG, der es u. a. erlaubt, Versammlungen zu veranstalten oder an diesen teilzunehmen. Weiterhin sind die (unverzichtbaren) Elemente der natürlichen Persönlichkeit des einzelnen geschützt (zu denken ist hier an die körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Jedoch werden nicht nur Rechte bewahrt, die dem Grundrechtsträger von Beginn seiner Grundrechtsfähigkeit an zustehen, sondern auch Rechtspositionen, die ihm erst durch Regelungen der Rechtsordnung zugewiesen werden (etwa das Recht auf Eigentum, Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG).255 Schließlich kann der Grundrechtsträger durch sein Grundrecht auch be250 Eine Darstellung des Problems, ab wann der Grundrechtsschutz beginnt und wann er endet, findet sich bei Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 111 ff. 251 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 71. 252 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 73. Zu der Frage, ob EU-Bürgern ebenfalls die Deutschen-Grundrechte zustehen oder ob ihnen in europarechtskonformer Auslegung des Grundgesetzes die Deutschenrechte inhaltlich identisch über Art. 2 Abs. 1 GG gewährt werden, ders., Vorb. Rn. 115 f. 253 Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 93 (Rn. 12). 254 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 84. 255 Zu alledem Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 94 (Rn. 14).

C. Eigener Begründungsansatz

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rechtigt sein, von der ihm gewährten Freiheit oder dem ihm zukommenden Abwehrrecht gerade keinen Gebrauch zu machen.256 So beinhaltet Art. 8 Abs. 1 GG auch das Recht, sich einer Versammlung nicht anzuschließen bzw. die Übernahme der Organisation einer Versammlung abzulehnen. dd) Grundrechtsadressat Grundrechtsverpflichteter ist bei sämtlichen Grundrechten in erster Linie der Staat als deren Adressat.257 Der Begriff des „Staates“ umfaßt dabei alle drei Staatsgewalten, also Legislative, Exekutive und Judikative, wie Art. 1 Abs. 3 GG bestimmt. Die Frage, ob auch Private Grundrechtsverpflichtete gegenüber anderen Privaten sein können,258 ist für die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Garantenstellung nach den hier vertretenen Thesen im Einzelfall unerheblich.259 Ihr wird daher an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen. f) Eingriff durch § 13 StGB in diesen Schutzbereich Wenn die Eröffnung des Schutzbereiches bejaht worden ist und dieser durch die in Rede stehende Maßnahme des Staates berührt wird – im konkreten Fall also durch die präventive oder repressive Wirkung des § 13 StGB –, muß die Eingriffsqualität dieser Maßnahme überprüft werden. Nicht jedes staatliche Handeln, das ein Grundrecht tangiert, ist bereits deswegen als Eingriff zu qualifizieren. Es könnte sich schließlich ebensogut um eine bloße Grundrechtsausgestaltung oder -konkretisierung handeln.260

256

Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 264. 257 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 118. 258 Hierzu Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 96 ff., 118. 259 Anders wäre dies, wenn man z. B. mit der formellen Rechtspflichttheorie (oben Teil 4 B.I., S. 87 ff.) annähme, daß eine Garantenstellung aus Rechtsnormen folgt, etwa aus den Grundrechten. Dann wäre es für die Frage nach einer Garantenstellung erheblich, ob im Einzelfall auch der Private – und sei es mittelbar über das Strafrecht – Grundrechtsadressat und somit zur Wahrung der Grundrechte seiner Mitmenschen verpflichtet ist. 260 Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 101 (Rn. 4): Beispielsweise stelle die Änderung der Rechtsformen der von Art. 9 Abs. 1 GG geschützten Vereinigungen keinen Eingriff dar, sondern eine Grundrechtsausgestaltung. Es existiere kein Recht auf Erhaltung des Status quo der Rechtsform der Vereinigung, das von Art. 9 GG geschützt sei.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

aa) Der „klassische“ Grundrechtseingriff Unter dem sogenannten „klassischen“ Grundrechtseingriff261 versteht man eine finale (zielgerichtete) und unmittelbar wirkende, rechtsförmige Maßnahme in Gestalt eines Einzelakts oder einer Norm,262 die auf den Betroffenen durch Befehl und Zwang und somit imperativ einwirkt.263 Mit der Beschränkung auf rechtsförmige264 Maßnahmen sollte ehemals staatlichem Handeln, das nicht darauf gerichtet ist, Rechtswirkungen auszulösen,265 die Eingriffsqualität abgesprochen werden. bb) Der weiter gefaßte Eingriffsbegriff Inzwischen ist jedoch nicht mehr nur der „klassische“ Eingriffsbegriff für die Grundrechtsdogmatik relevant. Vielmehr können auch sonstige Beeinträchtigungen266 von Grundrechten unter bestimmten Voraussetzungen267 als faktische bzw. mittelbare Grundrechtseingriffe268 zu berücksichtigen sein. Um welche Voraussetzungen es sich hierbei handelt, muß an dieser Stelle nicht näher erörtert werden,269 da § 13 StGB als finales und unmittelbar wirkendes rechtliches Gebot auf den Normadressaten und dessen Grundrechte – soweit einschlägig – durch Befehl und Zwang einwirkt und damit einen „klassischen Grundrechtseingriff“ darstellt.

261 Zu dessen Voraussetzungen und Entstehung ausführlich Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 82 ff. m.w. N.; ders., Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2002, S. 101 ff. 262 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 265. 263 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 124; Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 130; Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 101 ff. (Rn. 6 ff.). 264 Alternativ liest man das Adjektiv „rechtsförmlich“, z. B. bei Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 130. 265 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 126 f. 266 Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 134, bevorzugt den Begriff der „Einwirkungen“. Beispiele finden sich bei Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 265. 267 Hierzu Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 104 ff. (Rn. 15 ff.). 268 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 125 ff. 269 Umfassend Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 128 ff.

C. Eigener Begründungsansatz

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cc) Abgrenzung des Grundrechtseingriffs von der Grundrechtsausgestaltung Nicht immer, wenn dem Gesetzesadressaten Pflichten auferlegt werden, wird hierdurch in seine Grundrechte eingegriffen. Vielmehr ist es ebenso denkbar, daß durch die Verpflichtung des Adressaten dessen Grundrecht im Einzelfall nur konkretisiert wird. Korrespondierend zu dem elterlichen Erziehungsrecht erlegt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG beispielsweise den Eltern besondere Pflichten zu Erziehung und Pflege ihrer Kinder auf, die über diejenigen anderer Bürger (weit) hinausgehen.270 Der Staat hat gem. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG über die Ausübung des elterlichen Erziehungsrechts, also auch über die Erfüllung dieser besonderen Pflichten zu wachen. Bei der verfassungsrechtlichen Auferlegung dieser Pflicht handelt es sich nicht um einen Grundrechtseingriff, sondern lediglich um eine Grundrechtsbzw. Grundpflichtenkonkretisierung –271 jedenfalls solange die Eltern zur „Pflege und Erziehung“ ihrer Kinder berechtigt und verpflichtet sind. Mit zunehmendem Alter und fortschreitender Selbständigkeit der Kinder nimmt jedoch die Verantwortung der Eltern für sie ab. Ab wann sich die einfachgesetzliche Verpflichtung der Eltern zum Schutz und zur Überwachung ihrer Kinder über § 13 StGB (und damit ihre Einordnung als Garanten gegenüber den Rechtsgütern ihrer Kinder) möglicherweise als Grundrechtsverletzung der Eltern darstellt, ist eine Frage des Einzelfalles. Die Garantenstellung von Eltern gegenüber ihren Kindern ist also keineswegs sicher und kann im konkreten Fall nicht einfach konstatiert werden. Sie bedarf ebenso einer Überprüfung wie sämtliche anderen denkbaren Garantenstellungen.272 g) Grundrechtsschranken Ein Grundrechtseingriff verkürzt zwar in jedem Fall die Rechte des Grundrechtsträgers. Per se verfassungswidrig ist er freilich nicht. Die Verfassungswidrigkeit eines Eingriffes kann vielmehr nur dann bejaht werden, wenn dieser 270 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 258. Sehr deutlich BVerfGE 24, S. 119 [143 f.]: Eltern seien grundsätzlich frei in der Ausgestaltung von Pflege und Erziehung ihres Kindes. Der Grundrechtsschutz des Art. 6 Abs. 2 GG ende jedoch bei der Vernachlässigung des Kindes. Die Verfassung mache dies durch die Verknüpfung von Recht und Pflicht zur Erziehung und Pflege deutlich. Diese Pflichtbindung unterscheide das Elterngrundrecht von allen anderen Grundrechten. Rechte und Pflichten seien hier unlöslich miteinander verbunden; die Pflicht stelle keine Schranke des Rechtes dar, sondern sei „wesensbestimmender Bestandteil des „Elternrechts“, das insoweit treffender als „Elternverantwortung“ bezeichnet werden kann.“ 271 Ähnlich in anderem Zusammenhang BVerfGE 24, S. 119 [143 f.]. 272 Unten Teil 4 C.III.2.h)ee), S. 161 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.273 Für eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung muß sich der Eingriff innerhalb der Grundrechtsschranken274 unter Berücksichtigung der sogenannten Schranken-Schranken275 bewegen. Solche Grundrechtsschranken können unterschiedlich ausgestaltet sein, je nachdem ob es sich um ein Grundrecht mit Gesetzesvorbehalt handelt (ein solcher findet sich beispielsweise in Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 8 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 S. 1, Art. 11 Abs. 2 GG), der nicht unbedingt ausdrücklich formuliert sein muß276 (vgl. nur Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG), oder um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht (etwa Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG). aa) Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt Gesetzesvorbehalte277 in Grundrechten gestatten dem grundrechtsgebundenen Gesetzgeber, in die Schutzgegenstände von Abwehrrechten einzugreifen, indem er sie selbst beschränkt oder indem er die anderen Organe der Staatsgewalt zu einer solchen Grundrechtseinschränkung ermächtigt. So heißt es etwa in Art. 8 Abs. 2 GG: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht [scil. das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln] durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden.“ 273

Hierzu bereits oben Teil 4 C.III.2.d), S. 140 ff. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 134: Sie sind „Ausdruck der Koordinierungs- und Kompatibilisierungsbedürftigkeit der Grundrechte.“ 275 Dazu Teil 4 C.III.2.h), S. 150 ff. 276 Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 161 ff., unterscheidet daher zwischen „Eingriffsvorbehalten“ (Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 13 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 7 GG), „Schrankenvorbehalten“ (Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2, Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) und „Regelungsvorbehalten“ (Art. 6, Art. 12 Abs. 1 GG). Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 136, differenziert zwischen „einfachem Gesetzesvorbehalt“, der Einschränkungen durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes ohne nähere Qualifizierung gestattet, und „qualifiziertem Gesetzesvorbehalt“, bei welchem Eingriffe nur unter bestimmten Voraussetzungen, nur zu bestimmten Zwecken oder nur mit bestimmten Mitteln zulässig sind. Auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 267 ff., hebt hervor, daß sich die einzelnen Gesetzesvorbehalte nicht immer gleichen: So gebe es Gesetzesvorbehalte, „die selbst materielle Schranken für das betreffende Grundrecht benennen“ (z. B. Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG), Gesetzesvorbehalte, die eine „formale Kompetenz für den Gesetzgeber auswerfen, die betreffenden Grundrechte zu beschränken“ (etwa Art. 2 Abs. 2 S. 3, Art. 8 Abs. 2 GG), Vorbehalte für die „allgemeinen Gesetze“ (Art. 5 Abs. 2, 9 Abs. 2 GG) sowie nicht ausdrücklich als solche benannte Gesetzesvorbehalte (Art. 8 Abs. 1 GG bzgl. Versammlungen in geschlossenen Räumen, Art. 9 Abs. 3 GG). 277 Detailliert hierzu Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 369 ff. 274

C. Eigener Begründungsansatz

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Gesetze, die im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Gesetzesvorbehalts erlassen werden, greifen daher grundsätzlich gerechtfertigt in den Schutzbereich eines Grundrechtes ein. Sie müssen sich allerdings noch an den Schranken-Schranken messen lassen. Dasselbe gilt für Akte der vollziehenden Gewalt, wenn und soweit diese ihr Handeln auf ein Gesetz im Sinne des Gesetzesvorbehaltes stützt. bb) Vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte Dies erlaubt freilich nicht den e-contrario-Schluß, daß eine Begrenzung vorbehaltloser Grundrechte verboten bzw. unmöglich ist. Vielmehr kann man bei ihnen konstatieren, daß sie zwar vorbehaltlos, nicht aber schrankenlos gewährleistet werden.278 Eine Begrenzung ihres Schutzbereichs durch staatliche Eingriffe ist allerdings nur279 durch kollidierendes Verfassungsrecht280 (Grundrechte anderer,281 sonstige mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter, wie z. B. eine funktionstüchtige Rechtspflege282), d.h. durch „verfassungsimmanente Schranken“283 möglich.284 Es ist dann Aufgabe des Staates, diese Grundrechtskollisionen aufzulösen – bestenfalls auf eine Weise, bei der beide Grundrechte möglichst umfänglich gewahrt werden (sogenannte praktische Konkordanz).285 Zur Erfüllung dieser Aufgabe bedient sich der Staat nicht zuletzt des Strafrechts,286 das Sachs zufolge ein sehr wirksames Mittel darstellt: 278 Vgl. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 139. 279 Ein anderer denkbarer – im Ergebnis aber abzulehnender – Weg ist die sogenannte „Schrankenleihe“, Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 Rn. 275. 280 Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 124 ff. (Rn. 32 ff.). 281 BVerfGE 30, S. 173 [193]; 41, S. 29 [50]; 52, S. 223 [245 ff.]; 67, S. 213 [228]. 282 BVerfGE 33, S. 23 [32]. 283 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 139 ff. 284 Zu den verschiedenen Möglichkeiten Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 122 ff. (Rn. 25 ff.). 285 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 321 ff. 286 In bestimmten Konstellationen muß er sich zur Erfüllung seines Schutzauftrags sogar des Strafrechts bedienen, um nicht gegen das „Untermaßverbot“ zu verstoßen, vgl. hierzu das zweite Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, BVerfGE 88, S. 203. Dort heißt es im sechsten Leitsatz: „Der Staat muß zur Erfüllung seiner Schutzpflichten ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, daß ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird (Untermaßverbot). Dazu bedarf es eines Schutzkonzepts, das Elemente des präventiven wie des repressiven Schutzes miteinander verbindet.“ Weiter besagt der achte Leitsatz: „Das Untermaßverbot läßt es nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts und die

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

„Als besonderes öffentlich-rechtliches Instrument zur Kollisionsauflösung ist das Strafrecht anzusehen. Hinter seinem Rechtsgüterschutz stehen vielfach grundrechtliche Güter, wie Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Eigentum, Privatsphäre; Angriffe gegen sie sind nicht nur rechtswidrig, sondern sie werden auch pönalisiert. Insofern ist das Strafrecht ein überaus wichtiges Instrument der Rechtsordnung, um Grundrechtskollisionen generalpräventiv zu verhindern. [. . .] Gewiß ist die Strafgewalt ein Grundrechtseingriffsmittel [. . .]; aber sie ist eben auch ein unentbehrliches Grundrechtsschutzinstrument und in dieser Eigenschaft kollisionsverhindernd insofern, als strafrechtliche Drohungen eine exzessive Grundrechtsausübung in die Schranken weisen.“287

In diesem Sinne soll auch § 13 StGB verhindern, daß jedermann in jeder Lebenssituation tun und (unter-)lassen kann, was ihm gerade in den Sinn kommt. Die exzessive Grundrechtsausübung besonders Verpflichteter wird von § 13 StGB dort beschränkt, wo ein Rechtsgut, dem gegenüber sie besondere Verantwortung tragen, gefährdet bzw. bedroht ist. h) Schranken-Schranken Einem Grundrecht dürfen nicht beliebig enge Schranken gezogen werden – anderenfalls drohten die Grundrechte leerzulaufen. Eben dies war die Folge der Weimarer Reichsverfassung, bei der Grundrechte (nur) nach Maßgabe der Gesetze galten.288 Der einfache Gesetzgeber konnte ohne weiteres Grundrechte beschränken bzw. ihnen ihren rechtlichen Gehalt nehmen. Aus dieser historischen Erfahrung haben die Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland Konsequenzen gezogen: Sie ermöglichten es im Grundgesetz zwar ebenfalls, die Grundrechte und deren Ausübung zu beschränken,289 setzten dieser Möglichkeit jedoch gleichzeitig deutliche Grenzen.290 Nur davon ausgehende Schutzwirkung für das menschliche Leben frei zu verzichten.“ Freilich konstatieren Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 297b, in diesem Zusammenhang: „Außer bei den emotional aufgeladenen Problemen des Schutzes des werdenden Lebens hat das BVerfG, sei es die Mehr-, sei es die Minderheit, nie auf eine Verletzung des Untermaßverbots abgestellt.“ 287 Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 638 f. 288 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 694. Deutlich früher bereits hierzu Jellinek, DRZ 1946/47, S. 4 ff.; Krüger, DVBl. 1950, S. 626. 289 Dies ist auch erforderlich, da die Freiheitsausübung des einen Grundrechtsträgers schnell in die Freiheit eines anderen Grundrechtsträgers eingreifen kann. An dieser Stelle muß der Staat einschreiten und einen für beide Seiten möglichst schonenden Ausgleich schaffen. 290 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 144: „Dem grundrechtsbeschränkenden Zugriff des Staates sind seinerseits Grenzen gesetzt, in denen sich die formelle wie materielle Schutzfunktion der Grundrechte [. . .] entfaltet.“ – Eine ausführliche Darstellung der Geschichte und des Systems der

C. Eigener Begründungsansatz

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wenn auch diese Grenzen, die sogenannten Schranken-Schranken,291 eingehalten werden, ist der staatliche Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts gerechtfertigt. Das Grundgesetz kennt u. a. vier solcher Schranken-Schranken: das Verbot des Einzelfallgesetzes, das Zitiergebot, die Wesensgehaltsgarantie und insbesondere das Übermaßverbot. aa) Das Verbot des Einzelfallgesetzes Das Verbot des Einzelfallgesetzes, Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG,292 stellt eine Eingriffskautele dar, die den Handlungsspielraum des Gesetzgebers293 in recht geringem Maße einschränkt. Das Verbot besagt lediglich, daß das in ein Grundrecht eingreifende Gesetz allgemein zu sein hat und nicht nur für den Einzelfall gelten darf. Es handelt sich bei dieser Schranken-Schranke um eine Ausprägung des Gleichheitssatzes,294 da sie diejenigen Gesetze verbietet, die lediglich einen bestimmten Personenkreis bzw. eine bestimmte Person privilegieren oder diskriminieren. Eine Norm stellt daher nur dann ein Einzelfallgesetz i. S. d. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG dar, wenn sie ausschließlich auf eine vorab bereits abschließend bestimmte Zahl von Fällen angewendet werden kann.295 Dabei kann der Tatbestand auch abstrakt-generell formuliert sein, solange den Umständen zu entnehmen ist, daß das Gesetz individuell angelegt ist.296 Sobald jedoch – und sei es Schranken-Schranken im allgemeinen sowie der einzelnen Schranken-Schranken findet sich bei Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 692 ff. 291 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 274, definieren den Begriff etwas verkürzt als „Beschränkungen, die für den Gesetzgeber gelten, wenn er dem Grundrechtsgebrauch Schranken zieht.“ Denn nicht nur dem Handeln des Gesetzgebers wird durch die Schranken-Schranken Grenzen gezogen, sondern auch der Verwaltung und der Rechtsprechung. 292 Zu den seltenen Anwendungsfällen durch das Bundesverfassungsgericht und der bisherigen Folgenlosigkeit der Norm Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 715 ff., 721 ff., 726 f. 293 Das Verbot betrifft – schon ausweislich seines Wortlauts – ausschließlich die Legislative, die abstrakt-allgemeine Regelungen erlassen soll. Die Judikative und die Exekutive hingegen sind gerade für Einzelfallregelungen zuständig und dürfen in dieser Funktion selbstverständlich Maßnahmen ergreifen, von denen nur eine Person ggf. auch nur in einem einzigen Fall betroffen wird. Ebenso Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 140 (Rn. 9). 294 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 736 f. 295 Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 141 (Rn. 10); Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 735. 296 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 743.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

in ferner Zukunft – potentiell weitere Fälle von dem Gesetz betroffen werden können, handelt es sich nicht mehr um ein Einzelfallgesetz.297 § 13 StGB gebietet diversen Normadressaten, in einer Vielzahl von Situationen erfolgsverhindernd tätig zu werden, und verstößt somit nicht gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes. bb) Das Zitiergebot Das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG stellt an ein grundrechtseinschränkendes Gesetz rein formelle Anforderungen: Es muß das eingeschränkte Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. Diese Schranken-Schranke soll sicherstellen, daß es nicht unbemerkt zu Grundrechtseinschränkungen kommt. Der Gesetzgeber soll sich bewußt machen, in welche Grundrechte er eingreift,298 bevor er das entsprechende Gesetz erläßt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung die Bedeutung dieser Schranken-Schranke jedoch bereits mehrfach erheblich gemindert: Das Zitiergebot soll demnach nicht gelten für vorkonstitutionelle Gesetze, für nachkonstitutionelle Gesetze, die „lediglich bereits geltende Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen wiederholen“,299 für vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, für die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, 5 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG sowie für Grundrechtsbeeinträchtigungen, die keinen klassischen Grundrechtseingriff darstellen.300 Diese teleologische Reduktion des Zitiergebots führt dazu, daß § 13 StGB nicht gegen diese Schranken-Schranke verstößt. Zwar finden sich weder in der Norm selbst noch an einer anderen Stelle im Strafgesetzbuch Zitate der durch § 13 StGB eingeschränkten Grundrechte. Jedoch handelt es sich bei § 13 StGB inhaltlich um eine bereits vor Inkrafttreten des Grundgesetzes existente, also vorkonstitutionelle Grundrechtseinschränkung,301 die zudem in der überwiegen297

Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 185. Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 141 (Rn. 12); Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 747: „Warnund Besinnungsfunktion“. 299 Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 191. 300 Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 191 ff.; Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 142 (Rn. 13); Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 749 ff. Jeweils mit weiteren Nachweisen, insbesondere zu den entsprechenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 301 Vor Inkrafttreten des Grundgesetzes war die Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens zwar nicht ausdrücklich im Gesetz normiert, jedoch wurde von den Gerichten in dieser Frage einmütig verfahren. Es mußten damals wie heute dieselben Voraussetzungen vorliegen, um jemanden wie einen Unterlassungstäter zu bestrafen: Grundlage waren und sind die Begehungsdelikte, die freilich nur durch Unterlassen verwirklicht 298

C. Eigener Begründungsansatz

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den Zahl der Fälle Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG betrifft. cc) Die Wesensgehaltsgarantie Der Inhalt der dritten Schranken-Schranke, der in Art. 19 Abs. 2 GG normierten Wesensgehaltsgarantie,302 ist bis heute nicht befriedigend geklärt.303 So ist es etwa zweifelhaft, ob durch die Vorschrift der Wesensgehalt des Grundrechts, das dem einzelnen Grundrechtsträger zusteht, erhalten werden soll oder ob der unantastbare Kern des Grundrechts für die Verfassungsordnung insgesamt geschützt werden soll.304 Den damit zusammenhängenden Fragen und Problemen muß an dieser Stelle freilich nicht weiter nachgegangen werden, da § 13 StGB mit seinem Verhaltensgebot weder die Grundrechte des einzelnen in deren Wesensgehalt antastet noch einem Grundrecht per se den unberührbaren Kern nimmt. dd) Das Übermaßverbot: Generelle Anforderungen an Strafgesetze Das Übermaßverbot305 stellt – gerade im Hinblick auf das Strafrecht306 – die wichtigste Schranken-Schranke dar, auf die das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen auch schon früh Bezug genommen hat.307 Sie leitet sich werden konnten und können, wenn den Unterlassenden eine besondere Rechtspflicht traf bzw. trifft. Vgl. hierzu die obige Darstellung der geschichtlichen Entwicklung Teil 2, S. 32 ff., sowie Teil 4 B., S. 87 ff. 302 Eine ausführliche Darstellung dieser Schranken-Schranke ist bei Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 838 ff., zu finden. 303 Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 10. Auflage 2007, Rn. 198 ff. 304 Sachs, Verfassungsrecht II, 2. Auflage 2003, S. 145 ff. (Rn. 25 ff.); Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 868. 305 Daneben existiert der Begriff des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, so z. B. bei Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 279. Umfassend zu dieser Schranken-Schranke Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 762 ff., der den Begriff des Übermaßverbots bevorzugt (Rn. 763). 306 Zur Relevanz des Verhältnismäßigkeitsprinzips für das Strafrecht Appel, Verfassung und Strafe, 1998, insbes. S. 569 ff., 574 ff.; Paulduro, Die Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen, insbesondere der Normen des Strafgesetzbuches im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1992, S. 108 ff. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 151: Seine „Ziele darf das Strafrecht nur verfolgen innerhalb der Grenzen, welche die Verfassung und die Tradition des rechtsstaatlichen Kriminalrechts der strafrechtlichen Intervention ziehen; die Stärkung sozialethischer Handlungswerte durch Strafrecht jenseits des Grundsatzes vom Tatstrafrecht oder die Einübung in Normanerkennung jenseits des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wären genauso wenig akzeptabel wie beim Ziel des Rechtsgüterschutzes.“

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

in erster Linie aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG308 verankerten Rechtsstaatsprinzip ab.309 Diese Schranken-Schranke verlangt von der Legislative die intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit der zu erlassenden Norm und mit den durch sie eingeschränkten Grundrechten.310 Die Exekutive wird zu einer Überprüfung ihrer geplanten (belastenden) Maßnahmen gegenüber dem einzelnen am Maßstab des Übermaßverbots gezwungen. Schließlich muß auch die Judikative kontrollieren, ob die von ihr angestrebten Entscheidungen das Verhältnismäßigkeitsprinzip wahren. Sämtliche staatlichen Eingriffe müssen ein angemessenes Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks darstellen. Für das Strafrecht bedeutet dies, daß die Strafnorm als solche,311 ihre konkrete Anwendung ebenso wie die im Einzelfall vom Gericht verhängte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung312 dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit genügen müssen. Das Gesetz und das gerichtliche Urteil haben jeweils das „angemessene Mittel zur Verbrechensbekämpfung“313 zu sein. 307 Der „Grundsatz von Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Mittel“ wird vom Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal erwähnt in BVerfGE 3, S. 383 [399], und ist inzwischen, jedenfalls seit dem sogenannten Apothekenurteil, BVerfGE 7, S. 377 [405, 407 f.], allgemein anerkannt. 308 Dieser Norm wird auch der das Strafrecht dominierende Schuldgrundsatz entnommen. 309 Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 398; Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1984, S. 861, wo er Bezug nimmt auf BVerfGE 19, S. 342 [348 f.]; 23, S. 127 [133]; 35, S. 382 [400]; 38, S. 348 [368]; 39, S. 156 [165]; 43, S. 101 [106]; 51, S. 324 [346]; 52, S. 1 [29]; 53, S. 135 [143 f.]; 54, S. 301 [313]; 55, S. 249 [258]; 56, S. 298 [315]; 57, S. 9 [28]; 57, S. 250 [270]; 58, S. 283 [290]; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 762, unter Hinweis auf BVerfGE 23, S. 127 [133], S. 784, S. 861. Ders. weist in: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 769, darauf hin, daß auch in Art. 3b Abs. 3 EWG-Vertrag (heute Art. 5 Abs. 3 EG), das Übermaßverbot ausdrücklich geregelt ist. Gelegentlich wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip dagegen statt aus dem Rechtsstaatsprinzip aus „dem Wesen der Grundrechte selbst“, aus Art. 1 GG, aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleitet oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz bzw. gewohnheitsrechtliches Prinzip verstanden, vgl. die Nachweise bei Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 179 mit Fn. 792, 793, 796, 797, 798, sowie bei Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1968, S. 350 ff. Dafür, daß auch der Richter Rechtsfortbildung nur gesetzes- und verfassungsimmanent betreiben darf: Stern, in: Stern, Das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage 1984, S. 801. 310 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 787. 311 Genauer: Sowohl Verhaltensnorm selbst als auch die Strafbewehrung müssen verhältnismäßig sein, vgl. Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 173 ff. 312 §§ 61 ff. StGB. 313 Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 1 Rn. 12.

C. Eigener Begründungsansatz

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Dabei darf das Verhältnismäßigkeitsprinzip freilich nicht als „undifferenzierte Billigkeitsklausel“ mißverstanden werden.314 Um die Wahrung seiner Anforderungen überprüfen zu können, ist vielmehr die jeweilige staatliche Maßnahme in Bezug zu der im Einzelfall betroffenen Rechtsposition zu setzen.315 Es findet eine konkrete Abwägung statt. Für diese Abwägung müssen der Wert des mit der Maßnahme geschützten Gemeinwohlinteresses bzw. des zu wahrenden (übergeordneten) Individualinteresses auf der einen Seite mit dem (mehr oder weniger intensiven) Freiheitsverlust bei dem Maßnahmeadressaten auf der anderen Seite verglichen werden.316 Dieser Vergleich muß um so sorgfältiger erfolgen, desto mehr „der staatliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt“.317 Mehr noch: Je stärker der Maßnahmeadressat in seiner Grundrechtsausübung beschränkt wird, desto gewichtiger müssen die öffentlichen oder privaten Interessen sein, denen die Maßnahme dienen soll und die in die Abwägung eingestellt werden.318 Schließlich ist speziell bei Strafnormen zu überprüfen, ob der Gesetzgeber für unterschiedlich schwere Verstöße verschieden empfindliche Strafen zur Verfügung stellt.319 Wird auf diese Weise der Judikative eine verhältnismäßige Reaktion im Einzelfall ermöglicht, wird das Bundesverfassungsgericht die gesetzliche Regelung nicht für unverhältnismäßig befinden und folglich auch insofern nicht wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz für nichtig erklären. Bei den Prüfungsschritten und im Ergebnis unterscheiden sich die Anforderungen, die das Grundgesetz an strafrechtliche Normen stellt, nicht von den Anforderungen, welche die Verfassung an sämtliche anderen hoheitlichen Eingriffsmaßnahmen stellt: Das Gesetz und seine Anwendung im Einzelfall müssen geeignet sein, den legitimen Zweck zu erreichen, zu dem es erlassen wurde bzw. aus dem es angewendet wird. Zudem müssen das Gesetz und seine Anwendung in ihren rechtlichen Auswirkungen für die Erreichung dieses Zwecks erforderlich sowie verhältnismäßig im engeren Sinne sein.320

314

Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 398. Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 410. 316 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 789 f. 317 BVerfGE 17, S. 306 [313 f.]; 20, S. 150 [159]. 318 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 790. 319 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 2 Rn. 101. 320 Zu dem Begriff der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne unten Teil 4 C.III.2.h)dd)(4), S. 158 ff. 315

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

(1) Legitimer Zweck Zunächst einmal muß die Norm321 einen legitimen Zweck verfolgen. Mit der Norm darf also nur ein von der Rechtsordnung gebilligtes Telos angestrebt werden. Dieses ist zugleich ein gewichtiger Faktor bei der später vorzunehmenden Güterabwägung. Das Gesetzesziel zeigt nämlich bereits, welche Rechtsgüter geschützt werden sollen.322 Daher muß es schon vor Erlaß der Norm genau bestimmt sein. Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber muß von Anfang an sicher wissen, was er mit seinem Eingriffsgesetz erreichen will. Diese Anforderung dient dem Schutz des Gesetzesadressaten, in der Regel also dem Bürger, der von überflüssigen oder unüberlegt bzw. vorschnell erlassenen Gesetzen verschont bleiben soll.323 Der Zweck ist legitim, wenn und soweit das Grundgesetz ihn nicht „explizit oder implizit verbietet“.324 Bei Strafgesetzen ist bei der Frage nach dem Telos eines Gesetzes besonderes Augenmerk auf die allgemein anerkannten und im Einzelfall verfolgten Strafzwecke zu richten, die Teil des jeweiligen Gesetzeszwecks sind.325 (2) Geeignetheit Weiterhin muß das Gesetz zur Erreichung dieses zuvor konkret bestimmten Zwecks geeignet sein.326 In dieser Anforderung ist keine besonders hohe Hürde zu sehen. Vielmehr kommt der Gesetzgeber ihr bereits dann nach, wenn das erlassene Gesetz zur Zielerreichung nicht „objektiv untauglich“, nicht „objektiv ungeeignet“ bzw. nicht „schlechthin ungeeignet“ ist.327 Der Gesetzgeber besitzt 321 Im folgenden wird zur besseren Übersichtlichkeit des Textes zunächst einmal nur noch von der Norm gesprochen. Gemeint ist freilich daneben auch weiterhin die konkrete Anwendung der Norm. 322 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 181, unter Hinweis auf BVerfGE 15, S. 167 [192]; 110, S. 33 [55], bezeichnet es daher auch als den „maßgeblichen Bezugspunkt“. 323 BVerfGE 17, S. 306 [312]: „Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt [. . .], daß der einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt.“ 324 Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 120. 325 Ebenso Kudlich, JZ 2003, S. 130. Zu den einzelnen Strafzwecken unten Teil 4 C.III.2.h)ee)(1), S. 162 ff. 326 Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 399; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 182, der auf BVerfGE 30, S. 292 [316]; 33, S. 171 [187]; 67, S. 157 [173]; 96, S. 10 [23]; 100, S. 313 [373]; 103, S. 293 [307], Bezug nimmt; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 279, 283 f.; Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage 1984, S. 866; ders., in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 775 ff. 327 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 191; BVerfGE 30, S. 250 [263 f.]; 39, S. 210 [230]; 47, S. 109 [117]; 65, S. 116 [126]; 103, S. 293 [307].

C. Eigener Begründungsansatz

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bei der Einschätzung dieser Frage zum Zeitpunkt der Abfassung der Norm einen großen Beurteilungsspielraum.328 (3) Erforderlichkeit Geeignet können freilich auch Gesetze sein, die in übertriebener Weise in die Rechte der durch sie Betroffenen eingreifen, solange sie nur das angestrebte Ziel zu erreichen in der Lage sind. Anders ausgedrückt: Nur weil sie Grundrechte übertrieben einschränken und weniger erfolgversprechend sind als andere zur Verfügung stehende (ebenso oder gar weniger eingriffsintensive) Maßnahmen, sind Gesetze noch lange nicht „schlechthin ungeeignet“, das angestrebte Ziel zu erreichen. Allerdings würden derartige staatliche Handlungen stärker in das Grundrecht des einzelnen eingreifen als es für die Erreichung des Zweckes nötig ist. Daher verlangt das Grundgesetz, daß die jeweilige Norm auch erforderlich ist, d.h. das mildeste unter allen gleich wirksamen Mitteln zur Erreichung des Zwecks darstellt.329 Der Überprüfung des Erforderlichkeitskriteriums kommt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung schon deshalb eine große Bedeutung zu, weil hier anhand rein objektiver Kriterien330 eine erste kritische Beurteilung des gewählten Mittels vorgenommen wird. Auf dieser Prüfungsebene wird danach gefragt, ob es nicht möglicherweise ein weniger eingriffsintensives Mittel gibt, mit dem der angestrebte Zweck ebenso gut erreicht werden könnte. Eine Antwort auf diese Frage erhält man, wenn man die Eigenart und die Intensität des Eingriffs, die Zahl der Betroffenen, belastende oder begünstigende Einwirkungen auf Dritte sowie eventuelle Nebenwirkungen für den Betroffenen oder für Dritte berücksichtigt.331 Kommt der Gesetzgeber auf diesem Wege zu dem Ergebnis, daß das

328 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage 2004, Vorb. Rn. 147. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 191, m.w. N. zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Fn. 853. 329 Hierzu Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 399; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 183. BVerfGE 17, S. 269 [279 f.]; 19, S. 342 [351 ff.]; 53, S. 135 [145 ff.]; 67, S. 157 [176 ff.]; 81, S. 156 [192 ff.]; 90, S. 145 [172 f., 182 f.]; 91, S. 207 [222 f.]; 92, S. 277 [326]. S. zur Erforderlichkeit auch Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 279, 285 ff.; Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage 1984, S. 866; ders., in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 775, 779 ff. 330 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 293 f. 331 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 183.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Mittel nicht erforderlich ist, darf er das Gesetz nicht erlassen. Zur nächsten Prüfungsstufe käme man in diesem Falle nicht. Jedoch besitzt der Gesetzgeber auch bei der Frage nach der Erforderlichkeit eines Gesetzes die Einschätzungsprärogative.332 Entscheidend ist dabei seine objektive Beurteilung ex ante. Am Merkmal der Erforderlichkeit fehlt es daher nur, wenn ein alternativ denkbarer, milderer Eingriff in jeder Hinsicht a priori den fraglichen Zweck eindeutig „sachlich gleichwertig erreicht.“333 In diesem Fall ist das dennoch erlassene, nicht erforderliche Gesetz verfassungswidrig, da der Staat in die Rechte seiner Bürger nur in dem Maße eingreifen darf, wie dies zum Schutz der übergeordneten Rechtsgüter unerläßlich ist. Dies gilt nicht zuletzt auch für das Strafrecht als ultima ratio der einfachen Gesetze.334 Wenn sich der Gesetzgeber vor dem Erlaß des Gesetzes hinreichend Gedanken über dessen Erforderlichkeit und Auswirkungen gemacht hat und er daher bei einer Gesamtbetrachtung objektiv davon ausgehen durfte (und ausgegangen ist), daß das Gesetz erforderlich ist, wird es ex post nur in Ausnahmefällen wegen fehlender Erforderlichkeit aufgehoben werden. (4) Angemessenheit Schließlich muß die Eingriffsnorm noch verhältnismäßig im engeren Sinne sein.335 Das bedeutet, daß das belastende staatliche Handeln in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und zu der Bedeutung des eingeschränkten Grundrechts stehen muß.336 Stern definiert unter Zugrundelegung entsprechender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts den von ihm bevorzugten Begriff der Proportionalität wie folgt: „Auf die Grundrechtsebene verlagert, formuliert man meist, daß das durch einen Eingriff in individuelle Freiheitspositionen herbeigeführte Opfer nicht außer Verhältnis zu dem für die Allgemeinheit erstrebten Nutzen stehen darf. Die mit der 332

Appel, Verfassung und Staat, 1998, S. 177 f., 182 f. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 192; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 279, 289 ff.; BVerfGE 30, S. 292 [319]; 81, S. 70 [91]; 105, S. 17 [36]. 334 Ebenso Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 1 Rn. 14. 335 Dieses Prüfungskriterium findet man auch unter den Stichworten Angemessenheit, Zumutbarkeit und Proportionalität. Den zuletzt genannten Begriff bevorzugt Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 782. Zu den verschiedenen Begriffen und ihrer Herkunft: Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 184. 336 BVerfGE 67, S. 157 [173, 178]; 92, S. 277 [327]. Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 399, 405 ff. 333

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Maßnahme verbundenen Vorteile müssen also die mit ihr verbundenen Nachteile überwiegen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird daraus die Kurzformel: Eine Maßnahme dürfe den Betroffenen „nicht übermäßig belasten“, für ihn „nicht unzumutbar“ sein.“337

Die Verhältnismäßigkeitsprüfung zielt somit auf eine Güterabwägung.338 Die Grenze der Zumutbarkeit muß für den einzelnen bei einer „Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe“339 gewahrt bleiben. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß eine Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme nicht abstrakt, sondern nur für den jeweiligen Einzelfall getroffen werden kann. So ist selbst eine staatliche Maßnahme wie beispielsweise die Umsetzung eines Gesetzes, die das Leben eines oder mehrerer Menschen gefährden kann, nicht per se unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig. Der Schutz des Lebens genießt zwar eine sehr gewichtige Stellung unter allen Rechtsgütern – aus diesem Grund ist sein Schutz bereits im zweiten Artikel des Grundgesetzes angeordnet.340 Es beansprucht jedoch nicht „absoluten Höchstrang“,341 wie beispielsweise das Schleyer-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigt. In diesem Urteil hat das Gericht die Abwägungsentscheidung der Bundesregierung und vierer Landesregierungen, wegen der Besonderheit des zugrunde liegenden Sachverhalts den Lebensschutz Hanns-Martin Schleyers gegen die Handlungsfähigkeit des Staates zurücktreten zu lassen, für mit der Verfassung vereinbar erklärt.342 337 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 782 f., der zum Beleg auf BVerfGE 9, S. 338 [345]; 13, S. 97 [113]; 13, S. 230 [235]; 15, S. 226 [234]; 16, S. 286 [297]; 18, S. 353 [362]; 21, S. 150 [155]; 21, S. 173 [183]; 22, S. 1 [20]; 22, S. 380 [385]; 25, S. 112 [118]; 26, S. 215 [226]; 27, S. 88 [100]; 49, S. 24 [58]; 55, S. 159 [165]; 67, S. 157 [178]; 68, S. 193 [219]; 69, S. 1 [35]; 77, S. 84 [111]; 81, S. 70 [92 ]; 81, S. 156 [192 f.]; 83, S. 1 [19 f.], verweist. 338 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 294, zufolge dient die Angemessenheitsprüfung nur einer „Stimmigkeitskontrolle“, falls das Ergebnis der Überprüfung von Geeignetheit und Erforderlichkeit unsinnig erscheint. Sie dürfe wegen der ihr eigenen Subjektivität nicht überbewertet werden. 339 BVerfGE 83, S. 1 [19]; ähnlich beispielsweise BVerfGE 67, S. 157 [178]; 76, S. 1 [51]; 79, S. 256 [270]; 81, S. 70 [92]; 90, S. 145 [173]; 101, S. 331 [350]; 102, S. 197 [220]. 340 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 831. 341 So auch BVerfGE 88, S. 203 [253 f.], zum Schwangerschaftsabbruch: „Der Schutz des Lebens ist nicht in dem Sinne absolut geboten, daß dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse; das zeigt schon Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG.“ 342 BVerfGE 46, S. 160 [164 f.]. Dem Urteil lag ein Antrag auf einstweilige Anordnung Hanns-Martin Schleyers, des ehemaligen Präsidenten der Bundesvereinigung der

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Auf der anderen Seite kann einem scheinbar weniger schützenswerten Rechtsgut bei der Abwägung im Einzelfall größeres Gewicht zukommen, wenn zum Beispiel „noch ein zweiter verfassungsmäßig anerkannter Wert zu seinen Gunsten in die Waagschale fällt“.343 Im Strafrecht ist eine Norm dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn „Tatbestand und Rechtsfolge durch den Gesetzgeber sachgerecht aufeinander abgestimmt“ sind.344 Dabei muß den Besonderheiten des jeweiligen Falls Rechnung getragen werden können. Die Strafandrohung muß sich als angemessenes Mittel erweisen. „Dies besagt vor allem, daß Strafdrohungen, deren unmittelbare oder mittelbare rechtsbeeinträchtigende Wirkungen nicht durch den erzielten Rechtsgüterschutz aufgewogen werden, nicht mehr berechtigt sind.“345 Auch auf die durch den Rechtsgüterschutz erzielten Nebenwirkungen ist abzustellen.346 Weiterhin muß es die Strafnorm dem einzelnen ermöglichen, „sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, daß eine Strafbarkeit vermieden werden

Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), zugrunde. Dieser war von Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) entführt worden. Die Entführer hatten die Freilassung von elf inhaftierten Terroristen und die Gestattung deren Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland gefordert, widrigenfalls sie Hanns-Martin Schleyer hinrichten würden. Der Antragsteller beantragte, vertreten durch seinen Sohn, Hanns Eberhard Schleyer, die Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht, daß die Antragsgegner (die damalige deutsche Bundesregierung und die vier Regierungen der Länder, in denen die freizulassenden Terroristen inhaftiert waren) gehalten seien, den Forderungen der Entführer stattzugeben. Sie seien hierzu aufgrund ihrer grundgesetzlich oktroyierten Aufgabe, das Leben des Entführungsopfers vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu bewahren, verpflichtet. Das Leben sei das höchste Rechtsgut und keiner Abwägung zugänglich. Die Antragsgegner hatten diesen Argumenten entgegengehalten, daß sie den Forderungen nicht stattgeben könnten, weil sie sich anderenfalls erpreßbar machten und nicht mehr in der Lage wären, die Gesamtheit der Bürger vor den (freizulassenden wie auch anderen) gefährlichen Terroristen zu schützen. Dadurch würde die Grundlage der Rechtsstaatlichkeit getroffen. Daß in anderen Entführungsfällen teilweise den Forderungen von Entführern nachgegeben worden sei, könne nicht die Entscheidungsfreiheit der Antragsgegner in allen Fällen beseitigen. Vielmehr müsse den staatlichen Organen ein Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum verbleiben. Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag mit Argumenten ab, die sich zum Großteil mit denen der Antragsgegner deckten. 343 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 830 m.w. N. 344 BVerfGE 25, S. 269 [286]; 80, S. 244 [255]; 86, S. 288 [313]; 105, S. 135 [154]; 110, S. 1 [13]. 345 Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, Vor § 1 Rn. 15. 346 Gemeint sind damit z. B. Einschränkungen der Freiheit des Normadressaten, die nach Erreichung des Zweckes noch fortwirken. Alternativ denkbar wären rechtliche oder tatsächliche Auswirkungen auf Dritte, die nicht Normadressaten sind, die von der staatlichen Maßnahme aber ebenfalls tangiert werden.

C. Eigener Begründungsansatz

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kann“.347 Gegebenenfalls erfordert es das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Einzelfall, daß eine ganze Norm bzw. eines oder mehrere ihrer Tatbestandsmerkmale teleologisch reduziert werden.348 Am Ende des Abwägungsvorganges muß eine mittels nachprüfbarer Kriterien herbeigeführte, eindeutige Entscheidung für das Überwiegen des geschützten oder des beeinträchtigten Rechtsguts stehen. ee) Anforderungen des Übermaßverbotes an § 13 StGB Wie bereits dargestellt, können Strafnormen in diverse Grundrechte des Adressaten eingreifen.349 Auch diese durch § 13 StGB (insbesondere durch das Tatbestandsmerkmal „rechtlich einzustehen hat“) denkbaren Grundrechtseingriffe müssen jeweils am Rechtsstaatsprinzip und dem aus diesem resultierenden Übermaßverbot überprüft werden. Diese Kontrolle des staatlichen Eingriffes, dabei vor allem die Abwägung der widerstreitenden Interessen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne, muß zwar ebenfalls einzelfallbezogen erfolgen.350 Es können für diese Prüfung jedoch gewisse Leitlinien aufgezeigt werden.351 Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit der Norm zwar bereits bejaht:352 In den Gründen dieser Entscheidung ist § 13 StGB im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG für verfassungskonform erklärt worden. Jedoch hat das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Verhältnismäßigkeit nicht Stellung nehmen müssen – und daher auch nicht Stellung genommen. Die Frage, ob § 13 StGB auch dem Übermaßverbot genügt, ist folglich noch nicht verfas347

BVerfGE 95, S. 96 [131]; 109, S. 133 [171]. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Band II, 2. Auflage 2006, Art. 20 Rn. 194, unter Hinweis auf BVerfGK 3, S. 348 [352 ff.]; Kudlich, JZ 2003, S. 129 ff. 349 Zu den verschiedenen Bestandteilen einer Strafrechtsnorm, aus denen Eingriffe folgen können Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 111 ff. Hierzu auch BVerfGE 92, S. 277 [326]. Das Bundesverfassungsgericht konstatiert in dieser Entscheidung, daß staatliches Strafen auf mehreren Ebenen dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterworfen ist: Zum einen auf der Normebene die Strafbewehrung als solche, zum zweiten auf der Ebene des Straferkenntnisses die Zumessung der Strafe nach dem Maß der Schuld und schließlich bei der Frage der Strafbedürftigkeit. 350 Hierzu bereits oben Teil 4 C.III.2.h)dd)(4), S. 158 ff. Im Ergebnis ebenso Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 188 ff., der sich dabei allgemein, also nicht nur bezogen auf § 13 StGB, mit der Verhältnismäßigkeit der (konkreten) Strafandrohung befaßt. 351 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 818. So auch Kudlich, JZ 2003, S. 130. Zu diesen Leitlinien für § 13 StGB unten Teil 4 C.III.2.h)ee)(4), S. 182 ff. 352 BVerfGE 96, S. 68 [97 ff.]. Näher oben Teil 2 C., S. 54 ff. 348

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

sungsgerichtlich geklärt worden. Im übrigen ist diese Frage zusätzlich für jede staatliche Anwendung des § 13 StGB neu zu stellen353 und zu beantworten. Diese Beantwortung muß – unabhängig von der Konstellation des Einzelfalles354 – in den bereits bekannten Prüfungsschritten erfolgen. Wenn diese ergeben, daß im Einzelfall gegen das Übermaßverbot verstoßen wird – wenn also die Qualifizierung eines Unterlassenden als Garant und damit dessen begehungstätergleiche Bestrafung355 unverhältnismäßig ist –, würde(n) durch die Anwendung des § 13 StGB auf den Unterlassenden dessen Grundrecht(e) verletzt. Da das Grundgesetz ebendieses Ergebnis verbietet, kann der Unterlassende in einem solchen Fall nicht gem. § 13 StGB i.V. m. einer Norm des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs als (begehungsgleicher356) Unterlassungstäter bestraft werden. (1) Die (legitimen) Zwecke des § 13 StGB Auch bei § 13 StGB ist zunächst der Zweck des Eingriffs zu ermitteln. Dabei lassen sich mehrere Normziele ermitteln. (a) Die Entstehungsgeschichte des § 13 StGB Der erste Zweck ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 13 StGB: Wie diese zeigt,357 wurden bereits vor Einfügung des § 13 StGB in das Strafgesetzbuch bestimmte Unterlassungshandlungen für ebenso strafwürdig befunden wie aktives Tun. Zum wiederholten Male358 sei hierzu beispielhaft auf die Mutter verwiesen, die ihren Säugling sterben läßt, indem sie dessen Ernährung einstellt. Die Strafwürdigkeit ihres Verhaltens stand auch ohne die explizite gesetzliche Regelung außer Frage.

353

Ebenso Kudlich, JZ 2003, S. 127, 130. Im Einzelfall ist dann letztlich zu prüfen, ob der Richter die Norm unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anwendet. 355 So schon Nagler, GerS 111 [1938], S. 61: „Dieses Gebot ergeht also niemals allgemein, sondern immer nur spezialisiert; es ist stets an der Garantierung ausgerichtet [. . .]. Der Garant nimmt im Rechtsleben infolge seiner Verpflichtung zu positiven Schutzhandlungen eine b e s o n d e r e R e c h t s s t e l l u n g ein. [. . .] Er kann mithin das Verbot sowohl durch eine positive Ausführungshandlung (gleich allen anderen Volksgenossen) wie durch Passivität (die nur für ihn in Betracht kommt) übertreten: das Begehungsverbrechen ist führ ihn in beiden Ausführungsformen möglich.“ (Hervorhebung im Original.) 356 Zu diesem Begriff bereits oben Fn. 132, S. 113. 357 Ausführlich hierzu Teil 2, S. 32 ff. 358 Hierzu bereits oben Teil 3 A.I.1.b)aa), S. 58 f.; Teil 3 A.II.4.a), S. 66; Teil 4 B.II.1.a)aa), S. 93 f.; Teil 4 B.II.3.d), S. 107 ff.; Teil 4 B.II.4.b)aa)(3)(b)(bb), S. 121 f. 354

C. Eigener Begründungsansatz

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Die allgemeinen Voraussetzungen, unter denen Unterlassen wie positives Tun verfolgt und ggf. bestraft werden sollte und konnte, waren jedoch mangels Kodifikation zu vage. Man war sich zwar einig, daß nicht jedes Unterlassen den Betreffenden zum Straftäter machen sollte. Um in dem erwähnten Beispiel zu bleiben: Nicht jeder, der die Ernährung eines Kindes unterließ, sollte wie jemand bestraft werden, der ein Kind mit einem Kissen erstickt. Wo bzw. anhand welcher Kriterien die Grenze zwischen begehungstätergleichem und straflosem (bzw. nur wegen unterlassener Hilfeleistung oder anderer echter Unterlassungsdelikte strafbarem) Verhalten gezogen werden sollte, war indes nicht hinreichend geklärt. § 13 StGB wurde daher eingeführt, um die Voraussetzungen zu normieren, unter denen ein Unterlassender wie ein Begehungstäter zu bestrafen ist – nämlich dann, wenn er für das Ausbleiben des Erfolges „rechtlich einzustehen hat“. Der Zweck des Gesetzes besteht also jedenfalls darin, denjenigen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, der einer besonderen Handlungspflicht zuwider eine Rettungshandlung unterläßt. Dies dient zugleich dem Schutz des durch das Unterlassen bedrohten Rechtsguts. In dem Maße, in dem der Täter seine Grundrechte voll ausschöpft und Rettungs- bzw. Schutzmaßnahmen unterläßt, werden z. B. betroffene Grundrechte des bedrohten Rechtsgutsträgers verkürzt. Dieser Verkürzung will der Staat mit § 13 StGB Einhalt gebieten, ohne dem Normadressaten die Nutzung seiner Grundrechte unmöglich zu machen.359 Dies gilt freilich auch dann, wenn zugunsten des bedrohten Rechtsguts keine Grundrechte streiten, sondern der Staat durch § 13 StGB i.V. m. einem Begehungsdelikt anderen Schutzpflichten nachkommt, die ihm durch die Verfassung auferlegt werden, wie etwa die Aufrechterhaltung der Sicherheit und der verfassungsgemäßen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.360 (b) Strafzwecke Weitere Zwecke lassen sich anhand der gängigen Straftheorien ermitteln. Semantisch wird „Strafe“ in der Regel verstanden als eine Reaktion auf ein Verhalten, das von der Rechtsordnung nicht gebilligt wird.361 Erfolgt die Bestrafung außerhalb des privaten Bereichs, nämlich durch den Staat, dem das Ge359 Von den Grundrechten beider Betroffenen soll möglichst viel erhalten bleiben, sogenannte praktische Konkordanz (Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 321). 360 Diese werden beispielsweise durch § 88 StGB geschützt, der auch durch Unterlassen begehbar ist, vgl. Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 53. Auflage 2006, § 88 Rn. 1, 4. 361 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 103: Sprachlich gese-

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waltmonopol eignet, wird durch die Strafe zugleich die Tat öffentlich mißbilligt.362 Die Definition von „Strafe“ allein vermag indes noch nicht zu erklären, warum (ein bestimmtes Verhalten) bestraft wird, was der Zweck einer Strafandrohung, einer Strafauferlegung und eines Strafvollzugs ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Schwangerschaftsabbruch den Schutzzweck von Verhaltensgeboten allgemein definiert: „Rechtliche Verhaltensgebote sollen Schutz in zwei Richtungen bewirken. Zum einen sollen sie präventive und repressive Schutzwirkungen im einzelnen Fall entfalten, wenn die Verletzung des geschützten Rechtsguts droht oder bereits stattgefunden hat. Zum anderen sollen sie im Volke lebendige Wertvorstellungen und Anschauungen über Recht und Unrecht stärken und unterstützen und ihrerseits Rechtsbewußtsein bilden (vgl. BVerfGE 45, 187 [254, 256]), damit auf der Grundlage einer solchen normativen Orientierung des Verhaltens eine Rechtsgutsverletzung schon von vornherein nicht in Betracht gezogen wird.“363

Diese Ausführungen gelten auch für das Verhaltensgebot des § 13 StGB und beinhalten letztlich eine Mischung aus den diversen Straftheorien, die im folgenden kurz dargestellt werden sollen. (aa) Die absoluten Theorien Lange Zeit herrschten die „absoluten Theorien“ zur Umschreibung der Strafzwecke vor. Ihr Name leitet sich von dem lateinischen Begriff „absolutus“ ab, der „losgelöst“ bedeutet. Dies beschreibt bereits grob den Inhalt dieser Theorien: Ihnen zufolge dienen Strafen ausschließlich der Vergeltung – sie sind rein repressiv und losgelöst von jeglichen gesellschaftlichen Wirkungen.364 Es gilt nur das Prinzip „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ – der Staat reagiert auf eine Straftat, indem er seinerseits dem Straftäter ein Übel zufügt und so die Rechtsordnung wiederherstellt.365 Die absoluten Theorien lassen sich zurückverfolgen bis in das 5. Jahrhundert v. Chr. Aus dieser Zeit ist ein Bericht über ein Gespräch zwischen Anaxagoras hen ist Strafe die „Belastung einer Person in Reaktion auf ein mißbilligtes Verhalten dieser Person, also Retribution.“ 362 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 22. 363 BVerfGE 88, S. 203 [253]. 364 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 29; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 2; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 12a. 365 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 29; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 12a.

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und Perikles überliefert, in welchem über Strafe als Mittel der Vergeltung gesprochen wird.366 Später haben sich Kant367 und Hegel368 diesen Theorien angeschlossen. Im Idealismus galt der Staat als „Wahrer der irdischen Gerechtigkeit“ und als „Inbegriff der sittlichen Idee“, der für den selbstbestimmten Menschen den Raum für die Entfaltung dessen individueller Freiheit schaffen und schützen mußte.369 Dies geschah ggf. mittels Bestrafung Dritter, die in diesen Freiheitsbereich eingriffen. Von Anfang an ließen sich die absoluten Theorien in die Sühnetheorie (der Täter versöhnt sich mit der Rechtsordnung) und die Vergeltungstheorie (auf Unrecht muß eine diesem in Dauer, Härte und Art entsprechende Strafe folgen, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen) unterteilen.370 Gegen die Sühnetheorie spricht freilich, daß „Sühne“ zu einem gewissen Maß Freiwilligkeit voraussetzt. Eine „freiwillige Strafe“ stellt jedoch eine contradictio in adiecto dar:371 Ein Straftäter läßt sich nicht freiwillig bestrafen. Aus diesem Grund vermochte die Sühnetheorie auch nicht zu überzeugen. Eine wesentlich größere Bedeutung kam und kommt noch heute der Vergeltungstheorie zu. Der Vorteil der Vergeltungstheorie liegt einmal darin, daß eine vergeltende Strafe dem Wiedergutmachungsbedürfnis der Gesellschaft entspricht und diese von eigenen „Rache“- oder Vergeltungsmaßnahmen abhält.372 Zum zweiten liefert diese Theorie einen Maßstab für die Höhe der Strafe.373 Wenn es nämlich wirklich nur um Vergeltung geht, dann darf die Strafe nicht in stärkerem Maße in die Rechte der Täters eingreifen als dieser in die Rechte seines Opfers eingegriffen hat. Zur Verdeutlichung: Wenn der Täter Kirschen aus Nachbars Garten gestohlen hat, darf der Staat ihn alleine für diese Tat nicht monatelang der Freiheit berauben. 366 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 48 m.w. N. 367 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 2, m.w. N. in Fn. 6. 368 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 2, m.w. N. in Fn. 7. 369 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 49. 370 Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 12a. 371 Zum Inhalt des Begriffs „Strafe“ bereits oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b), S. 163 f. 372 Ähnlich Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 55. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 7: „sozialpsychologische Eindruckskraft“. 373 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 54; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 7; BGHSt 24, S. 132 [134]: „Von ihrer Bestimmung als gerechter Schuldausgleich darf sich die Strafe weder nach oben noch nach unten inhaltlich lösen [. . .].“

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Trotz ihrer Vorteile ist die Vergeltungstheorie in ihrer Rigidität heute nicht mehr vertretbar. Inzwischen hat die Wissenschaft erkannt, daß Aufgabe des Staates der (subsidiäre) Rechtsgüterschutz ist.374 Folglich darf der Staat bei der Bestrafung nicht mehr nur auf den Täter und auf die Vergeltung dessen Unrechts sehen. Er muß auch das zu schützende Rechtsgut und die Auswirkungen, die staatliche Strafen auf die Gesellschaft haben, im Blick behalten. Daher kann er sich keiner Strafen (mehr) bedienen, die losgelöst von sämtlichen sozial-gesellschaftlichen Zwecken sind.375 (bb) Die relativen Theorien Das Spiegelbild zu den absoluten Theorien stellen die relativen Theorien dar.376 Sie leiten sich von dem lateinischen Verb „referre“ – „sich beziehen auf“ – ab. Diese Theorien lassen sich ebenfalls auf die Antike zurückführen, genauer auf Seneca, der sich bei seinen Ausführungen auf Aussagen Platons stützte.377 Nach den relativen Theorien soll Strafe allein präventiv wirken und künftige Straftaten verhindern.378 Dabei ist zu differenzieren zwischen der (positiven oder negativen) Generalprävention und der (positiven oder negativen) Spezialprävention. Die Generalprävention soll verhindern, daß sich Straftaten in der Gesellschaft ungesühnt durchsetzen können. Die „moralische Abneigung der Bürger gegen Kriminalität soll begründet und erhalten werden“.379 Auch die 374 Jeweils m.w. N. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 108 ff.; Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 54; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 8; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 6 ff. 375 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 54. 376 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 105: Strafe sei nur im Hinblick auf ihre soziale Notwendigkeit zu rechtfertigen; dieser Vorgabe würden allein die relativen Strafzwecktheorien gerecht. 377 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 11, m.w. N. in Fn. 12. 378 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 30, 56; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 12a. 379 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 25. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 105: Strafe habe ihre „Funktion im Rahmen der gesellschaftlichen Verständigung über Kriminalität und Verbrechen“. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 21: Strafe diene der „Beeinflussung der Allgemeinheit, die durch die Strafdrohungen und den Strafvollzug über die gesetzlichen Verbote belehrt und von ihrer Übertretung abgehalten werden soll.“

C. Eigener Begründungsansatz

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Spezialprävention wirkt vorbeugend, allerdings dergestalt, daß der einzelne Täter an der weiteren Begehung von Straftaten gehindert werden soll.380 Er soll durch die Strafe erzogen und resozialisiert werden.381 Im einzelnen haben die verschiedenen Theorien Inhalte, die sich nicht gegenseitig widersprechen, sondern sich vielmehr gegenseitig ergänzen können: – Der positiven Generalprävention zufolge dient Strafe der Stärkung des Rechtsbewußtseins und des Vertrauens der Allgemeinheit in die Rechtsordnung.382 Der Bürger kann der Rechtsordnung nur dann vertrauen,383 wenn er sieht, daß deren Normen (ggf. zwangsweise) durchgesetzt werden.384 Nur unter diesen Umständen wird er sich im übrigen auch selbst an Gesetzesvorschriften halten. Sähe er, daß ihm ohnehin keinerlei Sanktionen drohen, würde die „Bereitschaft zur Normbefolgung“ erheblich nachlassen.385 Daß auf Strafen zur Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Rechtsordnung nicht verzichtet werden kann, wurde bereits 1969 in einem Experiment in den USA nachgewiesen, aus dem später die sogenannte Broken-WindowsTheory abgeleitet wurde.386 Dieser Theorie zufolge ziehe ein zerbrochenes Fenster, das nicht repariert werde, innerhalb kürzester Zeit die Zerstörung der restlichen Fenster des Gebäudes nach sich. Dies gelte für gehobene Nachbarschaftsgegenden ebenso wie für heruntergekommene. 380 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 26. 381 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 274. 382 BGHSt 24, S. 40 [44 ff.]; 24, S. 64 [66 ff.], zur Notwendigkeit der Vollziehung einer Freiheitsstrafe, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktion der Rechtspflege aufrechtzuerhalten. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 26; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 12a. 383 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 290: Strafen bewirkten „die öffentliche Behauptung und Sicherung von Normen“ und somit sowohl eine „wirksame[n] Konfliktvermeidung“ als auch eine „formalisierte[n] Konfliktverarbeitung“. 384 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 68. 385 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 68. Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 290: Andererseits dürften die Strafen weder zu permissiv noch zu repressiv sein, um im Sinne der positiven Generalprävention eine wirksame Verbrechenskontrolle zu erreichen. 386 Ausführlich hierzu Wilson/Kelling, Polizei und Nachbarschaftssicherheit: Zerbrochene Fenster, Kriminologisches Journal 1996, S. 121–137, m.w. N. zu Philip Zimbardo, einem Psychologen aus Standford, der 1969 das Experiment durchgeführt hatte.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Dieses Phänomen sei nicht etwa dadurch zu erklären, daß sich die Zerstörer von Fensterscheiben in einer Gegend versammeln, während solche Menschen in anderen Gegenden nicht ansässig seien. Vielmehr sei ein nicht wieder instand gesetztes Fenster für die Bevölkerung ein Zeichen dafür, daß an diesem Ort keiner an der Zerstörung eines Fensters Anstoß nehme. So könnten beliebig viele Fenster zerstört werden, ohne daß die Vandalen damit rechnen müßten, für den entstandenen Schaden aufzukommen oder strafrechtlich belangt zu werden. Um diese Kettenreaktion zu vermeiden, müsse ein zerbrochenes Fenster möglichst schnell repariert werden.387 Übertragen auf das Strafrecht bedeute dies, daß selbst Bagatelldelikte verfolgt und bestraft werden müßten,388 um Kriminalität in ihren Anfängen entgegenzuwirken. Ein signifikanter Vorteil389 dieser positiven Generalprävention besteht darin, daß sie erklären kann, warum auch bei fehlender Wiederholungsgefahr bei einem bestimmten Täter auf Strafe nicht völlig verzichtet werden kann.390 Zudem müssen Straftatbestände, also strafrechtliche Gebote und Verbote nach dieser Theorie so bestimmt sein, daß der Bürger genau weiß, wie er sich ver387 Zu alledem Wilson/Kelling, Polizei und Nachbarschaftssicherheit: Zerbrochene Fenster, Kriminologisches Journal 1996, S. 124. 388 Bei Wilson/Kelling, Polizei und Nachbarschaftssicherheit: Zerbrochene Fenster, Kriminologisches Journal 1996, S. 124, heißt es deutlich drastischer: Bereits Bagatellvergehen und Kleinkriminalität müßten besonders vehement verfolgt und abgestraft werden. Kriminalität im großen Stil müsse von unten her ausgetrocknet und damit ihr der Nährboden entzogen werden. Wer beispielsweise schon beim Graffitisprühen schmerzhaft bestraft werde, der werde sich auch nicht zum Serienmörder entwickeln. Diese „Reparaturarbeiten“ könnten oftmals überzogen erscheinen; jedoch heilige der Zweck diese Mittel. Auf S. 131 heißt es: „Einen einzelnen Betrunkenen oder einen einzelnen Landstreicher zu verhaften, der keiner erkennbaren Person geschadet hat, scheint ungerecht zu sein, und ist es auch in gewisser Weise. Aber nichts gegen eine Anzahl von Betrunkenen oder hundert Landstreicher zu unternehmen, kann eine ganze Gemeinde zerstören.“ 389 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 288, halten die positive Generalprävention für die „reifste der zeitgenössischen Strafzielbestimmungen“. Das Strafrecht wirke als soziale Kontrolle, sei dabei aber sehr formalisiert (Rn. 289). In Rn. 290 heißt es weiter: „Funktion jeglicher Sozialkontrolle [. . .] ist es, die für die jeweilige Sozietät fundamentalen Normen zu behaupten und zu sichern und so ein vergesellschaftetes Leben überhaupt erst möglich zu machen [. . .]. Die Strafrechtspflege hat [. . .] keine andere Aufgabe als diese [. . .].“ Die Leistung des Strafrechts sei daher die Formalisierung unter Beachtung von Wertprinzipien wie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Gerechtfertigt sei eine Strafe nämlich nicht bereits, wenn mit ihrer Hilfe die Resozialisierung des Täters und die Abschreckung potentieller Täter erreicht werde, sondern erst dann, wenn sie diese Ziele im Wege formalisierter Kontrolle erreiche (Rn. 296). 390 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 69; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 29.

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halten muß. Anders ausgedrückt: Wer der Theorie der positiven Generalprävention folgen will, muß Gesetze erlassen, die dem Grundsatz des „nulla poena sine lege certa“ Genüge tun.391 Nachteilig an dieser Theorie ist hingegen, daß sie weder dem Gesetzgeber noch dem Rechtsanwender einen Maßstab für die Höhe der Strafe an die Hand gibt.392 Es besteht die Gefahr, daß nach dieser Theorie der Strafrahmen einer Norm zu weit ist oder aber die im Einzelfall verhängte Strafe zu streng. Schließlich kann davon ausgegangen werden, daß das Vertrauen der Bürger in die Rechtsordnung um so größer wird, desto härter der Staat bei Rechtsverstößen durchgreift – desto wehrhafter sich der Staat zeigt. Stünde dieses Ziel im Fokus der Legislative und der Judikative, könnten die Strafen zu hoch ausfallen. – Nach der negativen Generalprävention dient Strafe der Abschreckung anderer potentieller Täter.393 Diese Theorie ist zurückzuführen auf von Feuerbach, der bereits 1801 konstatierte: „Alle Uebertretungen haben einen psychologischen Entstehungsgrund, in der Sinnlichkeit, in wiefern das Begehrungsvermögen des Menschen durch die Lust an der Handlung zur Begehung derselben angetrieben wird. Dieser sinnliche Antrieb muss, wenn die That unterbleiben soll, durch einen entgegengesetzten sinnlichen Antrieb aufgehoben werden. Solch ein entgegengesetzter sinnlicher Antrieb ist Unlust (Schmerz, Uebel), als Folge der begangenen That. Der Wille der Bürger wird daher durch psychologischen Zwang zur Unterlassung von Rechtsverletzungen bestimmt, wenn jeder weiss, dass auf seine That ein Uebel folgen werde, welches grösser ist als die Unlust, die aus dem nicht befriedigten Antrieb zu That entspringt.“394

von Feuerbach zufolge diene die Bestrafung eines Täters bzw. allgemein die Androhung von Strafen dazu, (andere) Bürger von der Begehung von Straftaten abzuhalten.395 Diese Theorie läßt indes den Zweck der Bestrafung gegenüber dem eigentlichen Täter außer acht.

391

Ebenso Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 29. Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 69. 393 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 274; Horn, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil (§§ 1 bis 79b), Stand 65. Lfg. April 2006, § 46 Rn. 11; Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 64; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 12a. 394 von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, 1801, S. 15 f. 395 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 25. 392

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Sie setzt sich auch nicht mit der Frage auseinander, ob das geltende Strafrecht tatsächlich die Voraussetzungen mitbringt, um jemanden von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. Eine solche Abschreckung setzt nämlich voraus, daß der potentielle Täter von der Strafandrohung und deren Vollziehung weiß bzw. die Strafnormen aus der Laiensphäre richtig wertet.396 Im übrigen lassen sich nicht alle Menschen durch drohende Strafen von Delikten abhalten,397 insbesondere dann nicht, wenn die Begehung des Delikts das Resultat einer seelischen oder geistigen Krankheit ist. So wird sich ein pathologischer Sexualstraftäter, der sich regelmäßig an Minderjährigen vergeht, hiervon nicht allein durch angedrohte Strafen abbringen lassen.398 Er folgt einem Trieb, der nicht rational gesteuert ist, dem also keine Abwägung von persönlichem Gewinn und Risiko zugrunde liegt. Eher mag diese Theorie in Bereichen der Wirtschaftskriminalität oder des Nebenstrafrechts greifen,399 wo davon ausgegangen werden kann, daß die entscheidenden Personen ihr Handeln rational steuern. Doch auch hier kann es vorkommen, daß sich jemand von einer Strafandrohung oder dem Beispiel einer Strafvollziehung nicht von einer Straftat abhalten läßt – gerade weil er rational denkt und das Risiko, tatsächlich ertappt und bestraft zu werden, (möglicherweise zutreffend) als gering einstuft.400 Schließlich birgt die negative ebenso wie die positive Generalprävention das Risiko, daß – mangels eines diesen Theorien zu entnehmenden Maßstabs für die Höhe der Strafe – Strafen zum „staatlichen Terror“ werden, da die Abschreckungswirkung mit der Höhe und der Härte einer Strafe zunimmt.401 Dies würde im Zweifel das Maß der Schuld des Täters überschreiten und wäre daher verfassungswidrig.402

396 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 283. 397 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 283. 398 Ebenso Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 67. 399 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 283. Horn, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil (§§ 1 bis 79b), Stand 65. Lfg. April 2006, § 46 Rn. 11. 400 Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 283; Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 67. 401 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 32, der befürchtet, daß hier leicht „um höherer Ziele willen gegen die Menschenwürde verstoßen“ werden könne.

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– Aus der Perspektive einer positiven Spezialprävention soll Strafe für eine Besserung des Täters sorgen.403 Der Täter soll mittels Strafe erzogen werden404 – er soll integriert, nicht stigmatisiert werden.405 Der Staat will dem Täter mittels Resozialisierung helfen.406 Diese Theorie wurde inzwischen vom Gesetzgeber sowie von der Rechtsprechung aufgegriffen. § 46 StGB etwa fordert, bei der Strafzumessung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind. § 2 StVollzG bezeichnet es als das Ziel des Vollzugs, daß der Gefangene fähig wird, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Das Bundesverfassungsgericht hat konstatiert, daß der verurteilte Straftäter die Chance erhalten müsse, „sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge.“407 Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kommt der Verpflichtung von Staat und Gesellschaft, dem Straftäter bei der Resozialisierung Hilfe zu leisten, sogar Verfassungsrang zu.408 Das Recht auf Resozialisierung ist Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Straftäters. Auch der Bundesgerichtshof hat sich explizit zugunsten der positiven Spezialprävention geäußert: Strafe müsse sich auch als „notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts“ erweisen.409 Dabei

402 Horn, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil (§§ 1 bis 79b), Stand 65. Lfg. April 2006, § 46 Rn. 12. 403 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 64: „Einübung von Rechtstreue“; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 12a. 404 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 57. 405 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 15. Ähnlich drückt es Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 31, aus: Strafe werde nicht zur Demütigung des Verurteilten verhängt, sondern stelle einen möglichst schonenden Eingriff dar, der den Täter durch maßvollen Ausgleich seiner Schuld mit der Gemeinschaft wieder versöhnen solle. Strafe solle soweit wie möglich und nötig resozialisierend wirken. 406 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 32. 407 BVerfGE 35, S. 202 [235 f.]. 408 Ebenso BVerfGE 45, S. 187 [238 f.]; 98, S. 169 [200 f.]. 409 BGHSt 24, S. 40 [42].

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seien „Art und Umfang der Strafe so zu bestimmen, daß ihr Resozialisierungszweck erfüllt werden kann.“410 Die Schwächen der positiven Spezialprävention sind indes ebenfalls ersichtlich. Sie kann nämlich nicht erklären, warum eine Straftat noch geahndet werden soll, die (innerhalb der geltenden Verjährungsvorschriften) Jahre zurückliegt und deren Täter seitdem strafrechtlich nicht mehr auffällig geworden ist.411 Er bedarf wohl kaum einer Resozialisierung durch den Staat. Es stellt sich außerdem die Frage, wie weit der Staat bei seinen Resozialisierungsmaßnahmen erzieherisch auf einen erwachsenen Strafgefangenen einwirken darf. Art. 1 Abs. 1 GG verbietet deren Zwangserziehung jedenfalls dann, wenn hierdurch der unantastbare Persönlichkeitskern eines Erwachsenen verletzt wird.412 Überdies fehlt auch hier wie bei den Generalpräventionen ein Maß für die Höhe der Strafe.413 – Schließlich soll die negative Spezialprävention die Gesellschaft vor dem Täter beschützen, indem dieser „eingeschlossen“ wird, also indem der Staat mit physischem Zwang auf ihn einwirkt.414 Diese Theorie orientiert sich an der Aufgabe des Staates, die Rechtsgüter zu schützen, an der die (absolute) Vergeltungstheorie letztlich scheitern mußte.415 Ihr zufolge soll Strafe den „Schutz der individuellen Freiheit und einer ihr dienenden Gesellschaftsordnung“ bewirken.416 Sie muß daher den Straftaten des einzelnen vorbeugen. 410 BGH StV 2003, S. 222, der darüber hinaus im Hinblick auf einen besonders jungen Angeklagten klarstellt: „Bei einer Verhängung einer sehr hohen Freiheitsstrafe gegen einen jungen Angeklagten, der eine lange Freiheitsstrafe während einer Zeit verbüßen muß, in der häufig noch entscheidende Weichenstellungen im Hinblick auf das zukünftige Leben getroffen werden können, besteht die Gefahr, daß wegen des Fehlens jeglicher Perspektive für ein eigenverantwortliches Leben die anzustrebende Wiedereingliederung in die Gesellschaft nicht erreicht wird.“ Je jünger der Angeklagte sei, desto intensiver müsse bei der Strafzumessung auch in den Urteilsgründen im Einzelfall genau abgewogen werden, ob die Verhängung einer langen Freiheitsstrafe mit dem Resozialisierungsgedanken vereinbar sei. 411 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 61; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 19. 412 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 17. 413 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 61; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 16. 414 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 57; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 12a. 415 Hierzu bereits oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b)(aa), S. 164 ff. 416 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 37.

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Diese Theorie hat den Vorteil, daß sie der Schutzfunktion des Staates gerecht wird, ohne den einzelnen Täter aus dem Blick zu verlieren. Sie stößt allerdings dann an ihre Grenzen, wenn es sich bei der Straftat um einen „einmaligen Ausrutscher“ des Täters handelt, den dieser womöglich sehr bedauert. Man denke hier an einen jungen Studenten der Rechtswissenschaft, der bei einer Feier ein Glas Wein zuviel getrunken hat, sich über seine Alkoholisierung keine Gedanken macht, sich an das Steuer seines Wagens setzt und – wegen seines alkoholisierten Zustandes unaufmerksam – einen Menschen überfährt und tötet. Der Schock, den er dabei erleidet, sorgt – so sei der Fall – dafür, daß sich der Student nie wieder nach dem Genuß von Alkohol ans Steuer setzen wird. Dieser Täter muß nicht bestraft werden, um die Gesellschaft vor ihm zu schützen, da von ihm keine Gefahr (mehr) ausgeht. Zugleich widerspricht es dem Rechtsgefühl, ihn straflos davonkommen zu lassen. Auch ist nicht erklärlich, wie eine (heutzutage deutlich häufiger als eine Freiheitsstrafe verhängte) Geldstrafe die Allgemeinheit vor dem Täter schützen soll, zumal die Abschreckungswirkung einer Geldstrafe bei dem einzelnen Täter nicht prognostizierbar ist: Ein sehr vermögender Täter mag sich wegen einer drohenden Geldstrafe ebenso wenig grämen wie ein ohnehin insolventer Täter. Einige Täter werden sich folglich durch eine Geldstrafe nicht von ihren kriminellen Handlungen abschrecken lassen, während dieses Instrument bei anderen sehr wohl verfangen mag. Ein gleichermaßen effektiver Schutz der Gesellschaft, wie er durch eine Freiheitsstrafe (jedenfalls während deren Vollzugs) erreicht wird, kann durch eine Geldstrafe daher nicht erzielt werden. Im übrigen kann die negative Spezialprävention für sich genommen nicht erklären, wie stark ein Täter bestraft werden muß, wie hoch seine Strafe im Einzelfall sein darf. (cc) Die Vereinigungstheorie Wegen der dargelegten Schwächen der einzelnen Theorien – die absoluten Theorien wollen keine Sicherung der Gesellschaft bewirken, die relativen sehen keine Begrenzung für das Strafmaß vor – werden sie heute überwiegend nicht mehr isoliert vertreten, sondern in der sogenannten „Vereinigungstheorie“ dergestalt zusammengeführt, daß die eine Theorie den Nachteil der anderen Theorie aufzuwiegen vermag.417 417 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 31: Die Vereinigungstheorien versuchten zwischen den absoluten und den relativen Theorien zu vermitteln; dabei seien alle Strafzwecke in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Ebda. Rn. 33: „Das

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Der Vereinigungstheorie ist auch der Gesetzgeber des Strafgesetzbuchs gefolgt. Dies ergibt sich bereits aus einer Zusammenschau der §§ 46 Abs. 1 S. 1, 46 Abs. 1 S. 2, 47 Abs. 1, 56 Abs. 3, 57 Abs. 1 Nr. 2 und 59 Abs. 1 Nr. 3 StGB.418 § 46 Abs. 1 S. 1 StGB besagt, daß die Schuld des Täters die Grundlage für die Zumessung der Strafe darstellt. In dieser Norm sind Ansätze der Vergeltungstheorie erkennbar. § 46 Abs. 1 S. 2 StGB nennt, wie bereits dargelegt, Kriterien der positiven Spezialprävention.419 § 47 Abs. 1 StGB beschäftigt sich mit der „kurzen Freiheitsstrafe“, die nur dann verhängt werden darf, wenn dies [zur Einwirkung auf den Täter oder] „zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich“ ist. Auch § 56 Abs. 3 StGB verbietet die Strafaussetzung zur Bewährung bei Freiheitsstrafen über sechs Monaten, wenn die „Verteidigung der Rechtsordnung“ die Vollstreckung der Strafe gebietet. Die „Verteidigung der Rechtsordnung“ ist ebenfalls ein Kriterium bei der Beantwortung der Frage, ob eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen werden kann, § 59 Abs. 1 Nr. 3 StGB. An diesen drei Stellen sind demnach Strafzwecke i. S. d. positiven Generalprävention in das Gesetz eingeflossen. § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB ermöglicht schließlich die Aussetzung des Strafrests nur, wenn „dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“. Hier wird die Schutzfunktion des Staates vom Gesetz explizit angesprochen und damit die negative Spezialprävention. Die Theorien schließen sich somit nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander:420 Straftaten können nicht nur durch die Einwirkung auf den Täter, ganze System ist getragen von dem deutlichen Willen zu einem ausgewogenen Verhältnis von Schuldausgleich, Generalprävention und Spezialprävention.“ 418 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 33, verweist zum weiteren Beleg auf die Abschaffung der Ehrenstrafen (abgesehen von Nebenfolgen, die man teilweise noch hierunter subsumieren könnte) sowie darauf, daß an die Stelle von Freiheitsstrafen in weitem Umfang Geldstrafen getreten seien und daß dabei sogar eine Verwarnung mit Strafvorbehalt möglich sei. 419 Oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b)(bb), S. 166 ff., bei den Ausführungen zur positiven Spezialprävention (S. 171 f.). 420 Für die relativen Theorien bereits oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b)(bb), S. 166 ff. Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 27: Vergeltung und Vorbeugung seien keine „unversöhnlichen Gegensätze. Strafe erfolgt nicht zum Schuldausgleich um seiner selbst willen, sondern zum Schutze der Gesellschaft vor künftigen Straftaten, aber doch so, daß sie den Vorbeugungserfolg auf gerechte Weise, d.h. durch ein angemessenes Verhältnis zu Unrecht und Schuld zu erreichen sucht.“ Der Sinn der Strafe liege danach in der „Vorbeugung durch gerechte Vergeltung“.

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sondern auch durch die Einwirkung auf die Allgemeinheit verhindert werden.421 Zumindest als Nebenzweck neben dem Rechtsgüterschutz spielt der Vergeltungsgedanke eine Rolle.422 Schließlich soll die Bevölkerung befriedet werden und gar nicht erst in die Versuchung geraten, sich in Selbstjustiz zu üben.423 Dabei gelten alle Zwecke, also die Vergeltung, die Einwirkung auf die Allgemeinheit und die Beeinflussung des Täters als gleichrangige Strafzwecke.424 Die Rechtsprechung hat sich dieser Auffassung angeschlossen und sie inzwischen in mehreren Urteilen bestätigt.425 Ein nicht zu unterschätzender Vorteil dieser Vereinigungstheorie liegt darin, daß selbst dann, wenn im Einzelfall einer der Strafzwecke nicht erreicht werden kann, die Strafe immer noch durch die anderen Zwecke gerechtfertigt ist.426 Eine Begrenzung der Strafe erfolgt durch die Berücksichtigung des Vergeltungszwecks427 sowie durch das Schuldprinzip.428 421 Kritisch Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 70 f.: Die Addition von Strafzwecken verwische diese. Es bestünde die Gefahr, daß man je nach Einzelfall zwischen dem einen und dem anderen Strafzweck hin- und herschwanke. Dieses Ergebnis vermeide die präventive Vereinigungstheorie, weil sie von der Erkenntnis geleitet werde, „daß Strafnormen lediglich auf den Schutz der individuellen Freiheit und einer ihr dienenden Gesellschaftsordnung abzielen dürfen“. Es gehe bei diesen Theorien lediglich um die Verhinderung von Straftaten, also letztlich um dasselbe Ziel. Ähnlich Hassemer/Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, Vor § 1 Rn. 287: Die Vereinigungstheorien seien gekennzeichnet durch das „Problem der politischen und theoretischen Unverbindlichkeit“. 422 Jescheck, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar Strafgesetzbuch, Erster Band, 11. Auflage 2003, Einl. Rn. 24: „Strafe dient vergeltenden und vorbeugenden Zwecken“. 423 A. A. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 44 ff., demzufolge Vergeltung gar kein Bestandteil staatlichen Strafens mehr sein kann – weder im Rahmen einer Vereinigungstheorie noch mit Hinweis auf das „Wesen“ der Strafe noch aus dem Tadel-Charakter einer Strafe (dies wäre eine zu weite Schlußfolgerung). Rechtliche Einrichtungen hätten kein von ihrem Zweck losgelöstes „Wesen“. Das repressive Element, das Strafen eigne, sei lediglich erforderlich, um den generalpräventiven Zweck zu erreichen. Diese Auffassung ignoriert indes das (jedenfalls in Teilen der Bevölkerung vorherrschende) Bedürfnis nach Vergeltung. Im übrigen wird man nicht bestreiten können, daß Strafe auch dazu dient, das Opfer und seine mitfühlenden Mitmenschen von eigenen Racheaktionen abzuhalten. 424 Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 70, unter Bezugnahme auf BVerfGE 45, S. 187 [253 f.]: „Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht werden als Aspekte einer angemessenen Strafsanktion bezeichnet.“ 425 BVerfGE 21, S. 391 [404]; 28, S. 264 [278]; 32, S. 98 [109]; 45, S. 187 [227 ff.]; 64, S. 261 [271]; BGHSt 20, S. 264 [266 f.]; 24, S. 40 [42 f.]. 426 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 38 f.: Beispielsweise weil der Täter an seiner Resozialisierung nicht mitwirken wolle oder weil keine Wiederholungsgefahr bestehe. 427 s. bereits oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b)(aa), S. 164 ff.

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Sollten die Theorien einander im Ergebnis doch einmal widersprechen, indem sie z. B. zu unterschiedlichen Strafhöhen kommen, ist es eine Frage der Abwägung, welcher Theorie aus welchem Grund der Vorzug zu gewähren ist.429 Diese Frage bedarf an dieser Stelle – mangels Relevanz für die verfassungsmäßige Auslegung des § 13 StGB und insbesondere des „rechtlich Einstehenmüssens“ – keiner Klärung. (dd) Strafzwecke des § 13 StGB Überträgt man die Inhalte der Vereinigungstheorie auf § 13 StGB, so ergeben sich daraus die folgenden Zwecke: – Einmal will § 13 StGB den Täter dafür büßen lassen, daß er entgegen seiner rechtlichen Verpflichtung eine Rettung des zu schützenden Rechtsguts unterlassen hat. Die Norm dient dadurch der Vergeltung einer Unterlassungshandlung. – Des weiteren soll das Vertrauen der Bürger in die Rechtsordnung, speziell in die Strafrechtsordnung geschützt und gesteigert werden. Die Bürger müssen sehen, daß unter Umständen mit Strafe bedroht und auch belegt wird, wer beispielsweise seinen Geschäftspartner nicht über einen für die Erhaltung dessen Vermögens wesentlichen und aus der Sphäre des Täters herrührenden Irrtum aufklärt, obwohl er den Irrtum erkannt hat. Desgleichen sollen die Bürger sehen, daß es sich nicht lohnt, ihre Geschäftspartner – und sei es auch durch Unterlassen – zu täuschen, indem sie einen bei diesem entstandenen Irrtum fortbestehen lassen. Hier werden die generalpräventiven Zwecke des § 13 StGB deutlich. – Schließlich enthält § 13 StGB positive spezialpräventive Elemente: Die Norm will den Unterlassungstäter erziehen, ihn zu verantwortungsbewußtem Handeln aufrufen und ihn auf diese Weise wieder in die Gesellschaft eingliedern. Sie macht ihn auf die Pflichten aufmerksam, die er gegenüber bestimm428

Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 51 ff. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 3 Rn. 38 f.: Letztlich gebühre der Spezialprävention der Vorrang, die in der Regel zu einer niedrigeren Strafe führen werde. Die Resozialisierung sei im übrigen ein im Grundgesetz verankertes Gebot, das nicht mißachtet werden dürfe, wenn und soweit seine Einhaltung möglich sei. Außerdem vereitele der Vorrang der (härteren) Generalprävention im Zweifel den Erfolg der Spezialprävention, während bei einem Vorrang der Spezialprävention der Erfolg der Generalprävention sich allenfalls verringere. Dies gelte indes nur, solange die verhängten Sanktionen in der Bevölkerung auch noch ernstgenommen würden. A. A. Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, Einl. Rn. 71 ff., der der Generalprävention den Vorrang einräumen will, da diese auch ohne Mitwirkung des Täters erzielt werden könne. Die Generalprävention stelle daher den „Ausgangspunkt“ dar; spezialpräventive und Vergeltungszwecke fänden lediglich als weitere Gesichtspunkte Berücksichtigung. 429

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ten Menschen oder aufgrund bestimmter Situationen gegenüber allen Menschen hat, damit er sie in Zukunft erfüllt. Jedenfalls in manchen Fällen wirkt § 13 StGB auch in negativer Weise spezialpräventiv: Dann nämlich, wenn sich der Täter nicht für seine Umwelt interessiert und für den Erhalt deren Rechtsgüter nicht eintreten will. Er läßt es stets zu, daß sich Gefahren realisieren, und übernimmt keinerlei Verantwortung. Wenn es trotzdem Rechtsgüter gibt, die auf seinen Schutz angewiesen sind, muß er zu deren Wohl „eingeschlossen“ werden, damit andere erkennen, daß die schutzbedürftigen Rechtsgüter schutzlos gestellt sind, und damit sie den Schutz dieser Rechtsgüter übernehmen können. Alternativ muß der notorische Unterlassungstäter durch Geldstrafen zum Handeln bewegt werden.430 (2) Die Geeignetheit des § 13 StGB zur Erreichung dieser Zwecke Zur Erreichung dieser Ziele ist § 13 StGB geeignet. Er benennt konkret, wenn auch in auslegungsbedürftiger Weise,431 die Voraussetzungen, unter denen das Unterlassen ebenso zu bestrafen ist wie die aktive Begehung. Dem Normadressaten, also demjenigen, den die Rechtspflicht zum Handeln trifft, wird auferlegt, aktiv helfend einzugreifen und den tatbestandsmäßigen Erfolg von den bedrohten Rechtsgütern abzuwenden. Diese Pflicht ist für den Normadressaten auch so klar erkennbar, daß er sein Verhalten darauf einstellen kann.432 Auf diese Weise schützt die Norm selbst (wenn auch naturgemäß nur mittelbar) die in Rede stehenden (potentiell bzw. konkret gefährdeten) Rechtsgüter.433

430 Die Wichtigkeit der Schutzpflichten, die die Rechtsgutsträger füreinander übernehmen, erkannte bereits Nagler, GerS 111 [1938], S. 60: „Je verschlungener das Gemeinschaftsleben wird und je mächtigere Kräfte die Technik entfesselt, um so mehr Abwehrstellen müssen im großen sozialen Schutzsystem geschaffen werden, um den reibungslosen Ablauf zu ermöglichen. Sie sind notwendige Bestandteile des sozialen Mechanismus. Sie gewährleisten das Ausbleiben widerrechtlicher Erfolge. Die meisten menschlichen Unternehmungen wären unmöglich, wenn nicht durch Schutzinstanzen nach menschlicher Voraussicht die Gewißheit geboten würde, daß es zu unerwünschten Störungen der völkischen Friedensordnung nicht kommt.“ 431 Auslegungsbedürftig sind indes viele Tatbestandsmerkmale, ohne daß die jeweilige Norm dadurch verfassungswidrig würde, Paulduro, Die Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen, insbesondere der Normen des Strafgesetzbuches im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1992, S. 424. 432 BVerfGE 17, S. 306 [314]: Dies kann angenommen werden, wenn „der Gesetzgeber wenigstens seinen Grundgedanken, das Ziel seines gesetzgeberischen Wollens, vollkommen deutlich macht [. . .].“ Dies hat der Gesetzgeber durch die Formulierung „wer rechtlich dafür einzustehen hat“ bei § 13 StGB auch getan. 433 Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 175, bezeichnet den Rechtsgüterschutz als den maßgebenden Bezugspunkt für die Prüfung der Geeignetheit.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Leistet der Normadressat dem Handlungsgebot nicht Folge, unterläßt er also die vorzunehmende Maßnahme, kann und wird er gleichsam wie ein Begehungstäter strafrechtlich belangt werden.434 Der Gesellschaft wird hingegen verdeutlicht, daß man bestimmten rechtlichen Pflichten nachzukommen hat, will man eine staatliche Bestrafung vermeiden. Angesichts der drohenden begehungstätergleichen Bestrafung, die unabhängig von der verhängten Strafe im Einzelfall stets eine gewisse Stigmatisierung des Täters bedeutet,435 wird die Allgemeinheit auch von der Begehung ähnlicher (Unterlassungs-)Delikte abgeschreckt. Somit ist die Norm a priori zur Erreichung dieses Zweckes „nicht schlechthin ungeeignet“. (3) Die Erforderlichkeit des § 13 StGB Weiterhin erweist sich die Norm bei genauerer Betrachtung auch als erforderlich. (a) Normierung des Rettungsgebots außerhalb des StGB als milderes Mittel Zwar hätte es ein milderes Mittel dargestellt, das Rettungsgebot, das in § 13 StGB enthalten ist, außerhalb des Strafgesetzbuches, also ohne eine Strafandrohung z. B. im OWiG, zu normieren436 oder mit ihm gar nur an die (freiwillige) Hilfsbereitschaft der Bürger zu appellieren.437 Dies wäre indes nicht gleich wirksam gewesen. Hier können wieder die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch herangezogen werden:

434 Dies beweist bereits die Vielzahl der seit Einführung des § 13 StGB zu diesem ergangenen gerichtlichen Entscheidungen, beispielsweise BGHSt 37, S. 106; BGH NStZ 1981, S. 218; 1984, S. 164; 1984, S. 452; 1985, S. 26; BGH NJW 1987, S. 2940; 2000, S. 2754; OLG Karlsruhe GA 1980, S. 429; OLG Frankfurt GA 1987, S. 549; OLG Saarbrücken NJW 1991, S. 3045; OLG Köln JR 1991, S. 523. 435 Es macht hinsichtlich der Außenwirkung einen deutlichen Unterschied, ob jemand wegen unterlassener Hilfeleistung, § 323c StGB, oder wegen Totschlags durch Unterlassen, §§ 212, 13 StGB, bestraft wird. Der zuerst genannte strafrechtliche Vorwurf hört sich für den Laien zwangsläufig – und das zu Recht, betrachtet man das zugrundeliegende Fehlverhalten und das Strafmaß – harmloser an, als der zweite, bei dem man zunächst das Wort „Totschlag“ vernimmt. 436 Auf diese Regelungsmöglichkeit weist allgemein auch Günther, JuS 1978, S. 12, hin. 437 Ähnliche Vorschläge für Alternativregelungen zum Strafrecht finden sich bei Paulduro, Die Verfassungsgemäßheit von Strafrechtsnormen, insbesondere der Normen des Strafgesetzbuches im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1992, S. 181 ff.; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 137 ff.

C. Eigener Begründungsansatz

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„Verhaltensanforderungen zum Schutz des [. . .] Lebens stellt der Staat, indem er durch Gesetz Gebote und Verbote ausspricht, Handlungs- und Unterlassungspflichten festlegt. [. . .] Solche Verhaltensgebote können sich nicht darauf beschränken, Anforderungen an die Freiwilligkeit zu sein, sondern sind als Rechtsgebote auszugestalten. Sie müssen, gemäß der Eigenart des Rechts als einer auf tatsächliche Geltung abzielenden und verwiesenen normativen Ordnung, verbindlich und mit Rechtsfolgen versehen sein. Dabei ist die Strafandrohung nicht die einzig denkbare Sanktion, sie kann allerdings den Rechtsunterworfenen in besonders nachhaltiger Weise zur Achtung und Befolgung der rechtlichen Gebote veranlassen.“438

(b) Festlegung einer Strafobergrenze in § 13 StGB Weiter hätte § 13 StGB noch milder abgefaßt werden können, indem der Gesetzgeber dort eine Strafobergrenze festgesetzt hätte, die (signifikant) unter derjenigen des § 211 StGB439 liegt, oder indem er eine obligatorische Strafmilderung440 für Unterlassungen in das Gesetz aufgenommen hätte. Derartige Regelungen hätten freilich nicht denselben Effekt erzielt: Sie würden dem Einzelfall, in dem sich ein Unterlassen von einem aktiven Tun im Hinblick auf die Schwere der Schuld und auf den Grad der Vorwerfbarkeit nicht wesentlich unterscheidet, nicht gerecht: Man stelle sich vor, daß ein Mann seine geistig und körperlich schwer behinderte Ehefrau im Keller einsperrt und sie dort langsam und qualvoll verdursten läßt. Dieses Unterlassen unterscheidet sich weder nach der Schwere der Tat noch nach der Intensität der Schuld von einem positiven Tun – wenn es überhaupt einen Unterschied gibt, muß man wohl konstatieren, daß diese Art der Tötung von einer grausameren Gesinnung zeugt als z. B. ein einziger tödlicher Schuß. Daneben wäre sehr fraglich, ob eine Strafobergrenze oder eine obligatorische Strafmilderung dem Befriedungsinteresse des Staates genügen und in der Bevölkerung auf Verständnis stoßen würde. Auch kann davon ausgegangen werden, daß eine maximal zu erwartende Strafe von fünf oder zehn Jahren einen Mörder weniger von seiner Tat abschrecken würde als eine lebenslange Haftstrafe.441 Um einmal von dem (zwar prägnanten, aber bereits oft gebrauchten) Beispiel der Tötungsdelikte abzuwei438

BVerfGE 88, S. 203 [252 f.]. Diese Norm enthält mit der lebenslangen Freiheitsstrafe das Höchstmaß der im StGB angedrohten Strafen. 440 Zur Diskussion über die Vorzüge einer fakultativen oder obligatorischen Strafmilderung und zur durchgesetzten fakultativen Strafmilderung oben Teil 1 B.III.2., S. 27 f.; Teil 2 B.I.2., S. 50; Teil 2 C., S. 54 ff.; Teil 3 A.II., S. 61; Teil 3 A.II.2. b)bb), S. 65. Vgl. zudem Metzen, Die Problematik und Funktion der fakultativen Strafmilderung für die Begehung durch Unterlassen (§ 13 Abs. 2 StGB 1975), 1977. 441 Hierzu ausführlicher oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b)(bb), S. 166 ff., bei der Darstellung der negativen Generalprävention (S. 169 f.). 439

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

chen: Wenn die Täuschung durch Unterlassen beim Betrug (§ 263 Abs. 1 StGB) lediglich mit Geldstrafe geahndet werden könnte oder der Strafrahmen bei dem besonders schweren Fall des Betruges (§ 263 Abs. 3 StGB) merklich herabgesetzt würde, würde dem durch die Täuschung verursachten Schaden in vielen Fällen durch das Strafrecht nicht ausreichend Rechnung getragen.442 Überdies würde sich der Anreiz, aufgrund des geringeren Risikos einmal einen Betrugsversuch zu unternehmen, möglicherweise noch vergrößern.443 (c) Relevanz der fakultativen Strafmilderung des § 13 Abs. 2 StGB für die Erforderlichkeit Auf der anderen Seite kann es durchaus Fälle geben, in denen ein Unterlassen weniger schwer wiegt als das erfolgsgleiche Handeln.444 Dies kann an dem Beispiel eines sehr guten Schwimmers illustriert werden, der sein Kind in einem Fluß ertrinken sieht. Er wäre körperlich in der Lage, den Wassermassen zu trotzen und ohne eigene Gefährdung sein Kind zu retten. Ohne Rettungsmaßnahmen durch ihn wird das Kind sterben, zumal andere Passanten nicht zugegen sind. Der Schwimmer erfaßt die Situation hinsichtlich seiner eigenen (faktisch nicht vorhandenen) Risiken und der Chancen des Kindes auch richtig. Dennoch ergreift ihn eine rational nicht zu begründende Angst um sein eigenes Leben, die ihn davon abhält, den Sprung ins Wasser zu wagen. Da er primär mit seiner eigenen Angst beschäftigt ist, unterläßt er auch andere potentielle Rettungsmaßnahmen, wie beispielsweise einen Anruf bei der Wasserwacht oder anderen öffentlichen Rettungsdiensten. Dieser Unterlassungstäter handelt in erster Linie aus Furcht. Ihn ebenso heftig zu bestrafen wie jemanden, der sein Kind aktiv unter Wasser drückt, damit es stirbt, wäre nicht gerechtfertigt. Diesem Argument für die Erforderlichkeit des § 13 StGB (inklusive dessen fakultativer Strafmilderung in Abs. 2) könnte zwar entgegengehalten werden, daß gerechte Ergebnisse auch innerhalb des jeweiligen Strafrahmens erzielt werden könnten. Dabei würde jedoch übersehen, daß der Strafrahmen des im konkreten Fall einschlägigen Delikts über § 49 Abs. 1 StGB, auf den § 13 Abs. 2 StGB verweist, erheblich herabgesetzt wird. Bei Strafen mit einem erhöhten Mindestmaß (z. B. dem bereits erwähnten § 263 Abs. 3 StGB) wird dieses über § 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB ebenfalls deutlich abgesenkt. Gerade diese zuletzt genannte Folge wäre selbst bei einer noch so großzügigen Wertung des Tatgeschehens zugunsten des Täters durch ein Gericht im Einzelfall nicht zu 442

Zum Strafzweck der Vergeltung oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b)(aa), S. 164 ff. Allgemein zur positiven Generalprävention Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b)(bb), S. 166 ff. 444 So auch BGHSt 36, S. 227 [228 f.], im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Anwendbarkeit des § 13 Abs. 2 StGB auf Untreue durch Unterlassen, unter Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers. 443

C. Eigener Begründungsansatz

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erreichen: Es verstieße gegen den Wortlaut des Gesetzes, den Täter mit einer Strafe zu belegen, deren Höhe unter dem gesetzlichen Mindestmaß liegt. (d) Generelle rechtliche Gleichstellung von Tun und Unterlassen keine im Rahmen der Erforderlichkeit zu berücksichtigende Regelungsalternative Zum Schutz der bedrohten Rechtsgüter und zur Sicherstellung seiner Verfolgungs- und Befriedungspflichten hätte der Gesetzgeber das Unterlassen ohne die Forderung zusätzlicher Voraussetzungen dem Tun strafrechtlich gleichstellen können. Eine schuldangemessene „Feinsteuerung“ hätte bei der Verhängung der Strafen im Einzelfall erfolgen können. Jeder, der vorsätzlich aktiv tötete, machte sich dann (mindestens) wegen Totschlags i. S. d. § 212 StGB strafbar und jeder, der die Rettung eines sich in Todesgefahr befindenden Mitmenschen unterließe, wäre aus derselben Norm zu bestrafen. § 13 StGB hätte dazu lediglich in etwa folgenden Wortlaut erhalten müssen: Wer es in zurechenbarer Weise unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz zu bestrafen.

Auch ein solches Gesetz wäre zur Erreichung des Gesetzeszwecks geeignet gewesen. Es hätte sogar ein noch wirksameres Mittel dargestellt, das freilich nicht ebenso mild gewesen wäre wie die getroffene Regelung. Ob der Staat noch effektiver eingreifen dürfte, ist jedoch keine Frage der Erforderlichkeit, die als Eingriffskautele Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist, sondern hängt von den Schutzpflichten des Staates im Einzelfall ab (Untermaßverbot).445 Das Untermaßverbot, das insbesondere im zweiten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch zum Tragen kam,446 besagt, daß der Staat ein bestimmtes Mindestmaß an Schutz gewähren muß. Das Übermaßverbot hingegen, also die Verhältnismäßigkeitsprüfung, legt eine Höchstgrenze für denjenigen staatlichen Schutz fest, durch den zugleich in die grundrechtlich garantierten Rechtsgüter Dritter eingegriffen wird. Abgesehen von engen Ausnahmefällen kommt dem Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner Schutzpflicht im Hinblick auf das Untermaßverbot ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Das Bundesverfassungsgericht konstatierte:

445 Hierzu schon oben Fn. 286, S. 149. Näher Sachs, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, 4. Auflage 2007, vor Art. 1 Rn. 35 ff. 446 BVerfGE 88, S. 203 [254 ff.; 270 ff.]. Auch später hat das Bundesverfassungsgericht diese Anforderung an staatliches Handeln noch öfter erwähnt, beispielsweise in BVerfGE 96, S. 409 [412 f.]; 98, S. 265 [355 f.]; 109, S. 190 [247].

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

„Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im einzelnen.“447

Bei Erlaß des § 13 StGB hatte sich der Gesetzgeber entschieden, in Anlehnung an die ständige Rechtsprechung nicht jedes Unterlassen ebenso zu bestrafen wie aktives Tun, sondern nur das Unterlassen derjenigen Personen, die für das Ausbleiben des Erfolges besonders (aufgrund einer entsprechenden rechtlichen Verpflichtung) einzustehen haben.448 Der Gesetzgeber wollte mit der Norm stärker an besonders Verpflichtete appellieren als er dies beispielsweise im Hinblick auf die allgemeine Hilfeleistungspflicht des § 323c StGB, die für jedermann gilt, getan hat. Unechte Unterlassungsdelikte waren und sind daher bis heute durch ihre Eigenschaft als Sonderdelikte gekennzeichnet.449 Der Unterlassende kann nach diesem Sonderdelikt auch nur bestraft werden, wenn er für das Ausbleiben des Erfolges rechtlich einzustehen hat. Ob dieses „Einstehenmüssen“ zu bejahen ist, zeigt die Auslegung des Gesetzes im konkreten Fall: Der Gesetzgeber selbst hat das Erfordernis der Abwägung ins Gesetz geschrieben. Indem er keine konkreten Garantenstellungen aufgezählt hat und auch nicht auf bestimmte Rechtspflichten verwiesen hat, aus denen sich eine Garantenstellung ergeben soll, hat er es dem Rechtsanwender überlassen, diese Abwägung vorzunehmen; damit hat er Raum für Einzelfallentscheidungen gelassen. Die Tatsache, daß sich der Gesetzgeber für das mildere und weniger effektive Mittel entschieden hat, berührt nach alledem nicht die Frage nach der Erforderlichkeit des Gesetzes und vermag sie daher auch nicht zu verneinen. Wegen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers kann zudem davon ausgegangen werden, daß das Untermaßverbot beachtet worden ist. (e) Ergebnis Insgesamt ist die Norm daher das mildeste unter allen gleich wirksamen Mitteln, d.h. dasjenige, das am wenigsten spürbar in die Rechte des besonders verpflichteten Unterlassenden eingreift und zugleich ebenso erfolgreichen Rechtsgüterschutz gewährleistet wie weniger milde Mittel. (4) Die Angemessenheit des § 13 StGB Schließlich muß die Norm auch ein angemessenes Mittel sein, die angestrebten Zwecke zu erreichen, d.h. die Norm mit ihren Anforderungen an die Eigen447

BVerfGE 88, S. 203 [204]. Oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(a), S. 162 f. 449 Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 13 Rn. 19. 448

C. Eigener Begründungsansatz

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schaften eines begehungstätergleichen Unterlassungstäters muß verhältnismäßig im engeren Sinne sein. (a) Unangemessenheit einer Bestrafung aller Unterlassungstäter aus § 13 StGB Es wäre unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, jeden, der eine Schutz- oder Rettungshandlung unterläßt, aus § 13 StGB und damit ebenso wie einen Begehungstäter zu bestrafen.450 (aa) Gründe für eine solche Unangemessenheit Eine solch umfassende Strafbarkeitsregelung führte nämlich dazu, daß sich niemand mehr frei und sorglos nach eigenem Belieben bewegen könnte. Um sicherzustellen, daß er sich nicht wegen irgendeines Unterlassungsdelikts strafbar macht, müßte jeder Bürger seine Umwelt stets genauestens beobachten und beim leisesten Anzeichen einer Rechtsgüterbedrohung helfend eingreifen. Dies würde eine Angst vor der staatlichen Obrigkeit und damit vor Strafen schüren, die dem Gesetzgeber nicht erwünscht sein kann. Der Staat würde zu einer Art Überwachungsstaat, der sich zur Durchsetzung seiner Regeln umfassend seiner Bürger bediente: Jeder Bürger müßte aktiv sicherstellen, daß die Rechtsgüter seiner Mitbürger unversehrt blieben. Erfüllte er diese Pflicht nicht, würde er bestraft. Dieses Ergebnis würde dadurch begünstigt, daß es für die Bejahung der meisten Vorsatzdelikte genügt, daß der Täter mit Eventualvorsatz – dolus eventualis – handelt.451 Würde das Strafgesetzbuch alle Bürger, die eine Rettungs- oder Schutzhandlung unterlassen, obwohl sie die Gefährdung eines Rechtsguts (lediglich) für möglich halten, nach einem Vorsatzdelikt i. V. m. § 13 StGB bestrafen,452 müßte jedermann in jeder Situation für jedes beliebige bedrohte Rechtsgut aktive Schutz- bzw. Rettungsmaßnahmen ergreifen. Anderenfalls würde er bei Realisierung der Gefahr wie ein Begehungstäter bestraft. Wer es beispielsweise für möglich hielte, daß ein anderer von einem Dritten getäuscht worden ist, machte sich bei Vorliegen der übrigen Strafbarkeitsvoraussetzungen gem. §§ 263, 13 450 Ganz abgesehen von dem Umstand, daß bestimmte Unterlassungsdelikte ohnehin speziell im Gesetz normiert sind, so daß § 13 StGB auf sie nicht anwendbar ist: Teil 1 B.III., S. 26 ff. 451 Daneben muß er selbstverständlich auch den objektiven Tatbestand erfüllen sowie rechtswidrig und schuldhaft handeln. 452 Die Anzahl der verwirklichten Fahrlässigkeitsdelikte stiege unter diesen Voraussetzungen freilich noch deutlich stärker an.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

StGB (Betrug durch Unterlassen) strafbar, wenn er den Irrtum des anderen nicht aufklärte.453 Dies würde selbst dann gelten, wenn der Unterlassende mit dem Getäuschten bisher nichts zu tun gehabt hätte. Ebenso müßte jeder, der glaubte, ein anderer wäre verletzt und könnte sich nicht selbst helfen, diesem Hilfe gewähren, um sich nicht (durch Aufrechterhalten eines pathologischen Zustandes) gem. §§ 223, 13 StGB wegen Körperverletzung durch Unterlassen strafbar zu machen. Der Bürger könnte sein Leben nicht mehr in erster Linie in seinem Interesse unter Berücksichtigung der Rechte und Interessen anderer führen. Er müßte vielmehr zuvörderst darum bemüht sein, die Rechtsgüter seiner Mitmenschen zu schützen. Nur was ihm daneben an Freiraum verbliebe, könnte er für sich nutzen. Dadurch würde die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG stärker betroffen als es dem einzelnen zugemutet werden kann. Eine solch restriktive Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG vertrüge sich nämlich weder mit dessen Stellung im Grundgesetz noch mit der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung454 oder dem Freiheitsverständnis und dem Menschenbild der Verfassung. Es widerspräche zudem in eklatanter Weise dem Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit (jedenfalls) erwachsener Menschen.455 Reinhard Müller hat dies trefflich formuliert: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das einer bevormundeten und gegängelten Person, sondern das eines für sich selbst verantwortlichen Menschen, der freilich in der Not von der öffentlichen Hand gestützt wird.“456

Diese Aussage gilt sowohl für den Unterlassenden als auch umgekehrt für denjenigen, dessen Rechtsgüter bedroht werden. Dieser ist in erster Linie selbst für die Erhaltung seiner Rechtsgüter verantwortlich und darf sich nur dann auf die Hilfe (bestimmter) anderer Menschen verlassen, wenn er sich aus irgendwelchen Gründen erkennbar nicht selbst helfen kann.

453 Täuschung durch Unterlassen kann ein Täter begehen, der den bestehenden Irrtum eines anderen nicht aufklärt und ihn dadurch aufrecht erhält: Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 263 Rn. 37. 454 Vgl. nur die „Elfes-Entscheidung“, BVerfGE 6, S. 32, oder die Entscheidung „Reiten im Walde“, BVerfGE 80, S. 137, denen zufolge Art. 2 Abs. 1 GG einen umfassenden Freiheitsschutz gewährleistet. 455 Die Privatautonomie und die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen bilden auf jeden Fall die äußerste Grenze der Garantenstellungen, vgl. BayObLG NStZ-RR 1998, S. 328 [329 f.]. Zur Relevanz dieses Prinzips im Strafrecht Gimbernat Ordeig, in: FSRoxin, 2001, S. 651 ff.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, § 13 Rn. 32. A. A. Schall, in: FS-Rudolphi, 2004, S. 271 ff. 456 Müller, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 67 vom 20. März 2007, S. 1.

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(bb) § 323c StGB kein Argument für die Angemessenheit Daß eine zu intensive Gängelung und Bevormundung erwachsener Menschen durch das Strafgesetzbuch verfassungsrechtlich toleriert wird, wird auch nicht durch § 323c StGB indiziert, der vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht beanstandet worden ist. Diese Norm appelliert zwar an die Solidarität aller Bürger mit ihren Mitmenschen bzw. verpflichtet sie zur Solidarität. Jedoch führt sie nicht zu der eben beschriebenen Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit. § 323c StGB und damit die allgemeine Solidarpflicht greift nur in „Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not“ für ein beliebiges Rechtsgut ein. Die Norm nimmt den einzelnen also nur in einer Extremsituation in die Pflicht: Entweder muß durch ein plötzlich eintretendes Ereignis eine erhebliche Gefahr für Individualrechtsgüter von bedeutendem Wert457 bestehen oder es muß sich um eine Situation handeln, in der die Allgemeinheit bedroht und gefährdet ist.458 Das Handeln, zu dem der Bürger gerade in den zuletzt genannten Fällen verpflichtet ist, kann durchaus auch in seinem eigenen Interesse sein und darf daher ohne weiteres von ihm verlangt werden. Im übrigen droht § 323c StGB bei Nichtbefolgung des Handlungsgebotes lediglich mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Die Risiken bei einem Verstoß gegen die Norm sind also überschaubar, die „Gängelung“ des einzelnen durch den Gesetzgeber hält sich in zumutbaren Grenzen. Der Unterschied zwischen der Handlungsverpflichtung des § 323c StGB und derjenigen eines für jedermann gegenüber jedermann geltenden § 13 StGB ist folglich gravierend. (b) Vorgehensweise bei der Prüfung der Angemessenheit einer konkreten Anwendung des § 13 StGB Abstrakt kann über die Verhältnismäßigkeit des § 13 StGB kaum ein sicheres Urteil gefällt werden.459 Zum einen ist – wie bereits gesehen –460 eine abstrakte Verhältnismäßigkeitsprüfung ohnehin nicht möglich. Zum anderen enthält § 13 457 Mit gut nachvollziehbarer Begründung Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/ Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2, Besonderer Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, § 323c Rn. 5. A. A. Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 323c Rn. 2a. 458 Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 323c Rn. 8. 459 Ansätze für eine Konkretisierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne finden sich bei Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 161 ff. 460 Oben Teil 4 C.III.2.h)dd)(4), S. 158 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Abs. 2 StGB eine fakultative Strafmilderung, die dem Rechtsanwender einen gewissen Handlungsspielraum einräumt, damit er im Einzelfall ein angemessenes Ergebnis zu erzielen vermag. Folglich geht es bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung des § 13 StGB um die Frage, ob die Norm in der konkreten Fallkonstellation zu Recht und richtig angewendet wird. Um diese Frage beantworten zu können, muß im jeweiligen Einzelfall zwischen den Zielen der Norm bzw. dem durch sie geschützten Rechtsgut und dem durch die Norm beeinträchtigten Rechtsgut abgewogen werden.461 Der Eingriffsschaden und der durch den Eingriff verhütete Schaden sind zueinander ins Verhältnis zu setzen. Diese Abwägung muß eine angemessene Relation zwischen Mittel und Zweck ergeben,462 damit das Grundrecht des Unterlassenden durch den staatlichen Eingriff (zuerst Anordnung eines bestimmten Verhaltens, anschließend Sanktion bei Nichtbefolgung der Anordnung) nicht verletzt wird. Das hierbei in die Abwägung einzustellende Mittel ist der Grundrechtseingriff, die Zwecke wurden oben bereits dargestellt.463 Losgelöst von einem konkreten Tatgeschehen können jedoch Leitlinien464 für die Einzelfallabwägung ermittelt werden. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist schrittweise vorzunehmen.465 Auf einer ersten Prüfungsstufe sind die zur Abwägung stehenden Güter zu ermitteln und abstrakt zu bewerten. In einem zweiten Schritt ist die „Intensität des konkreten Betroffenseins durch die fragliche Maßnahme zu ermitteln.“466 (aa) Ermittlung und abstrakte Bewertung der durch § 13 StGB betroffenen Rechtsgüter Welche Rechte genau von § 13 StGB geschützt werden und in welche durch die Norm bzw. durch deren Anwendung eingegriffen wird, muß in jedem ein461 Ähnlich Günther, JuS 1978, S. 10: „Die Erweiterung des Freiheitsbereichs eines bestimmten Personenkreises bewirkt also häufig eine entsprechende Freiheitsbeschränkung eines anderen Teils der Gesellschaft. Das Strafrecht schränkt demgemäß nicht nur Freiheiten ein, sondern gewährt, garantiert und ermöglicht letztlich seiner Schutzfunktion entsprechend auch Freiheiten. [. . .] Maßgebend erscheint vielmehr, wessen Freiheit man stärker gewichtet, die des sich nur möglicherweise sozialschädlich Verhaltenden oder die des nur möglicherweise Geschädigten. Diese Frage läßt sich nur von Fall zu Fall durch Abwägung der verschiedenen kollidierenden Interessen lösen.“ 462 Stern, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, S. 782. 463 Sub Teil 4 C.III.2.h)ee)(1), S. 162 ff. 464 Dazu schon Teil 4 C.III.2.h)ee), S. 161 f. 465 Dies schlägt auch Kudlich, JZ 2003, S. 132, vor, der im Detail freilich ein wenig anders aufbaut. 466 Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 406.

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zelnen Fall gesondert festgestellt werden. Wie bereits gesehen,467 können beispielsweise die zu schützenden Rechtsgüter Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 GG) oder Eigentum (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) dem Rechtsgut „allgemeine Handlungsfreiheit“468 (Art. 2 Abs. 1 GG) des Normadressaten gegenüberstehen. Neben den Grundrechten kommen namentlich als zu schützende Rechtsgüter noch die Interessen des Staates bzw. der Bevölkerung am Rechtsfrieden, an der Sicherheit des Landes oder am Schutz der Gesellschaft in Betracht. In diesem Zusammenhang spielt auch die Funktionsfähigkeit des Staates eine gewichtige Rolle, der schließlich fähig bleiben muß, die verschiedenen Rechtsgüter durch hoheitliche Maßnahmen zu schützen. Schließlich sind auch die Strafzwecke469 im Blick zu behalten. Bei der abstrakten Bestimmung des Gewichts der einzelnen Rechtsgüter ist beispielsweise auf deren Rang in der Verfassung abzustellen.470 Bei der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie bei dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) etwa handelt es sich um höchstwertige personale Rechtsgüter.471 Auch den Freiheitsrechten kommt eine große verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Weiterhin ist auf die Bedeutung des Rechtsguts für das Funktionieren einer Gemeinschaft bzw. des Soziallebens abzustellen. (bb) Der eigentliche Abwägungsvorgang Bei der eigentlichen Abwägung dürfen die Rechtsgüter einander freilich nicht „abstrakt“ gegenübergestellt werden, sondern mit dem ihnen im konkreten Fall zukommenden Gewicht. Bei der jeweiligen Gewichtung ist es entscheidend, wie stark der Normadressat durch die in Rede stehende Maßnahme betroffen wird, namentlich ob er durch ein Urteil, in welchem er rechtlich einem Begehungstäter gleichgestellt wird, (erheblich) stigmatisiert wird, und ob seine Grundrechte durch den staatlichen Eingriff in ihrem Kern betroffen oder ob sie lediglich am Rande tangiert werden. Umgekehrt gilt es bei dem zu schützenden Rechtsgutsträger zu ermitteln, ob und wie intensiv er durch die den Eingriff auslösende Handlung in der 467

Oben Teil 4 C.III.2.c), S. 139 f., und Teil 4 C.III.2.d), S. 140 ff. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die allgemeine Handlungsfreiheit – wie spätestens seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts E 80, S. 137 [152 ff.], zu „Reiten im Walde“ bekannt ist – auch triviale Betätigungen schützt, wie z. B. Spazierengehen. 469 Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b), S. 163 ff. 470 Diese Gewichtung darf freilich nicht so verstanden werden, als gäbe es eine starre Rangordnung zwischen den einzelnen Grundrechten, vgl. BVerfGE 81, S. 278 [289]; Bethge, Verfassungsrecht, 2. Auflage 2004, S. 129. 471 Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 22. Auflage 2006, Rn. 406. 468

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Ausübung besonders gewichtiger Grundrechte beeinträchtigt wird. Dabei ist sowohl auf Seiten der durch die staatliche Maßnahme beeinträchtigten als auch auf Seiten der durch sie geschützten Rechtsgüter darauf zu achten, ob der jeweilige Grundrechtsinhaber ohne den staatlichen Schutz bzw. durch den staatlichen Eingriff ein bestimmtes Rechtsgut (unwiederbringlich) verliert, über das er möglicherweise nur einmal verfügt. Schließlich ist auch die Schuld des Täters bzw. die Schwere der Unterlassungshandlung in Rechnung zu stellen. Hierbei ist vor allem zu berücksichtigen, ob sich der Täter seiner Rechte selbst bis zu einem gewissen Grad begeben hat. In diesem Fall könnte sich der Täter nicht mehr auf den umfassenden staatlichen Schutz seiner Grundrechte berufen. Vielmehr müßten seine Rechte hinter die Rechte, die mit dem staatlichen Eingriff geschützt werden sollen, zurücktreten. (cc) Zwei Varianten eines Fallbeispiels zur Erläuterung Man stelle sich beispielsweise eine Frau vor, die auf dem Land an einer kaum befahrenen Straße wohnt und von ihrem Fenster aus auf ebendieser Straße blutüberströmt einen ihr völlig fremden, ca. zwölfjährigen Jungen liegen sieht. In der Ferne sieht sie noch drei kräftige Männer mit Baseballschlägern weglaufen. Die Extremitäten des Jungen stehen in merkwürdig gekrümmter Position von seinem Körper ab, er blutet aus zwei sehr großen Wunden im Gesicht und am Hinterkopf. Die Frau nimmt an, daß der Junge ohne baldige Hilfe sterben werde. Dennoch unternimmt die Frau nichts, um keine Unannehmlichkeiten zu bekommen. Sie hält sich bei „solchen Sachen“ lieber raus. Das nächste Auto passiert den Tatort erst eine halbe Stunde später; der Fahrer ruft noch den Notarzt, dem Jungen kann jedoch nicht mehr geholfen werden – er verstirbt. Rettungsmaßnahmen, die eine halbe Stunde früher eingeleitet worden wären, hätten das Leben des Jungen gerettet. In der Variante dieses Falles handelt es sich bei der am Fenster stehenden Frau nicht um eine völlig Fremde, sondern um die Mutter des Jungen. (dd) Abwägung der im Beispiel kollidierenden Grundrechte Die Rechtsgüter, die in beiden Fällen gegeneinander abgewogen werden müssen, sind jeweils dieselben: Auf Seiten der Frauen steht beide Male die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, die es grundsätzlich jedem ermöglicht, sich nach den eigenen Vorstellungen zu verhalten, also auch bestimmte Handlungen zu unterlassen. Bei den Grundrechten des Jungen, die hier betroffen sind, handelt es sich um seine Rechte auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.

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Sowohl den Grundrechten der Frauen als auch denen des Jungen kommt abstrakt betrachtet großes Gewicht zu.472 (ee) Rechtsfolge der Abwägung im Fallbeispiel Allerdings ist in Rechnung zu stellen, daß das Handlungsgebot des § 13 StGB von den Frauen in diesem Fall lediglich einen Anruf bei einem Notarzt verlangt. Der Eingriff in ihre Handlungsfreiheit ist also eher gering, tangiert das Grundrecht nur am Rande. Der Rechtsverlust auf Seiten des Jungen hingegen ist immens: Wird der Anruf nicht rechtzeitig vorgenommen, muß er sterben, verliert er also sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit unwiederbringlich. Seine Grundrechte werden in ihrem elementaren Kern berührt. Die Abwägung der entgegenstehenden Rechtsgüter ergibt daher in beiden Fällen auf den ersten Blick ein eindeutiges Überwiegen der Rechtsgüter des Jungen. Beide Frauen sind aufgrund dieses Abwägungsergebnisses zur Vornahme von Rettungshandlungen, d.h. zumindest zum Herbeirufen des Notarztes verpflichtet. Die einzige Frage, die sich stellt, lautet, ob beide aus § 13 StGB zum Tätigwerden verpflichtet werden oder ob sich das Handlungsgebot aus einer anderen Norm, genauer: aus § 323c StGB ergibt.473 Die Antwort hierauf hat für die unterlassende Frau gravierende Auswirkungen: Einmal wird sie als begehungstätergleiche Unterlassungstäterin gem. §§ 212, 13 StGB bestraft, einmal wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB. In dem ersten Fall droht ihr dabei eine Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren, in dem anderen Fall eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Unter welchen Umständen ist es also verhältnismäßig (im engeren Sinne) und damit keine verfassungswidrige Grundrechtsverletzung, die Frauen aus dem strengeren unechten Unterlassungsdelikt zu bestrafen, das zwar den Strafzwekken am besten gerecht wird und dem bedrohten Rechtsgut den sichersten Schutz gewährt, das jedoch zugleich stärker in die Rechte der Frauen eingreift? Die Verhältnismäßigkeit kann nur dann zu bejahen sein, wenn die Frau zur Vornahme einer Rettungshandlung nicht nur wie jedermann verpflichtet, sondern 472

Vgl. oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(4)(b)(aa), S. 186 f. Bei den Fallkonstellationen, bei denen für die Bejahung der Strafbarkeit nicht auf echte oder besondere unechte Unterlassungsdelikte – zur Terminologie oben Teil 1 B.IV.4., S. 30 f. – ausgewichen werden kann (z. B. beim Betrug durch Unterlassen, §§ 263, 13 StGB, der nur als unechtes Unterlassungsdelikt verwirklicht werden kann), mag ebenfalls ein Überwiegen der zu schützenden Rechtsgüter anzunehmen sein. Ob aus diesem Grund im jeweiligen Einzelfall der Unterlassende über § 13 StGB zur Vornahme einer Rettungshandlung gezwungen werden kann, ist im folgenden Schritt dennoch gesondert zu prüfen – freilich ohne den Umweg über § 323c StGB bzw. entsprechende Unterlassungsdelikte. 473

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

aufgrund der Güterabwägung besonders verpflichtet ist. Ihre Rechte dürfen nicht einfach „nur“ hinter die Rechte des hilfsbedürftigen Rechtsguts zurücktreten. Sie müssen letztlich – bildlich gesprochen – noch weiter hinter diese zurücktreten als die Rechte aller anderen Bürger. (ff) Notwendigkeit eines zusätzlichen Abwägungskriteriums für eine verhältnismäßige Bestrafung aus § 13 StGB Es muß folglich ein objektives und überprüfbares Abwägungskriterium gefunden werden, dessen Vorliegen diese besondere Verpflichtung474 des Unterlassenden begründet und das die Bestrafung des Unterlassenden über § 13 StGB als angemessen und verfassungsrechtlich gerechtfertigt erscheinen läßt. Dabei muß auch gewährleistet sein, daß der einzelne vor seiner Tat erkennen kann, daß sein (geplantes) Unterlassen wertmäßig einem Tun entspricht, d.h. er muß die ihn treffende besondere Rechtspflicht zum Handeln wenigstens aus Laiensicht erkennen können. Das erforderliche Abwägungskriterium findet man in der Systematik des Strafgesetzbuches, genauer in einem der zuvor genannten Kriterien für die Gewichtung der einzelnen in die Abwägung einzustellenden Rechtsgüter:475 In der Frage nämlich, ob sich der Normadressat seiner Rechte (teilweise) selbst begeben hat. Das Strafgesetzbuch setzt für die Bestrafung eines Täters grundsätzlich voraus, daß diesem der tatbestandsmäßige Erfolg zuzurechnen ist, weil er auf das verletzte Rechtsgut eingewirkt hat.476 Die einzige Ausnahme von diesem System stellt § 323c StGB dar,477 bei dem jemand zum Handeln angehalten und 474 So bereits Nagler, GerS 111 [1938], S. 59: „Die deutsche Gesetzgebung macht mithin die Gleichstellung der Passivität mit der positiven Tätigkeit von einem b e s o n d e r e n P f l i c h t e n v e r h ä l t n i s abhängig, vermöge dessen der Täter zur Abwendung des tatbestandlichen Erfolges durch Parierung der entgegengesetzt wirkenden Kräfte berufen oder bestellt worden ist.“ 475 Oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(4)(b)(aa), S. 186 f. 476 In eine ähnliche Richtung zielen die Ausführungen Seelmanns, GA 1989, S. 252, der sich dabei auf Hegel bezieht: „Eine Handlungspflicht [. . .] könne daraus immer nur abgeleitet werden, wenn man sich durch vorheriges Handeln (etwa einen Vertragsschluß) die Verantwortung für ein späteres Unterlassen selbst auferlegt habe.“ S. 253: „Die Gefahr für andere muß – im Fall der Sicherungspflichten – geschaffen worden oder eine Verantwortlichkeit für sie muß übernommen worden sein. Im Fall der Obhutspflichten muß die Abwehrbereitschaft entzogen worden sein oder es muß die Verantwortlichkeit für das Entziehen der Abwehrbereitschaft übernommen worden sein.“ 477 Bei allen anderen, auch echten oder besonderen unechten Unterlassungsdelikten hat sich der Unterlassende zuvor selbst in eine gewisse Beziehung zu dem gefährdeten Rechtsgut gesetzt. Dies kann beispielsweise an § 138 StGB verdeutlicht werden: Diese Norm setzt voraus, daß der Täter von einer der Katalogstraftaten glaubhaft erfahren hat und es trotz fortbestehender Abwendungsmöglichkeit unterlassen hat, recht-

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bei Nichtbefolgung dieses Gebots bestraft wird, obwohl er gar nichts getan, in keiner Weise auf das verletzte Rechtsgut eingewirkt hat, zu keinem Zeitpunk in das Geschehen involviert war oder/und in keiner Beziehung zu dem Opfer stand.478 Diese Norm ist im übrigen selbst dann erfüllt, wenn der schädliche Erfolg gar nicht eintritt.479 Die Anwendung des § 13 StGB hingegen setzt voraus, daß der Unterlassende „etwas getan hat“,480 daß er eine „Handlung“481 vorgenommen hat, die seine Rechte bei der Abwägung deutlich hinter die des bedrohten Rechtsguts zurücktreten läßt.482 Anderenfalls könnte man ihn nicht einem Begehungstäter entsprechend bestrafen, der schließlich immer irgend etwas getan haben muß, was im Zusammenhang mit dem Erfolgseintritt steht. Das Bundesverfassungsgericht hat allgemein entschieden: „Im Bereich des staatlichen Strafens folgt aus dem Schuldprinzip, das seine Grundlage in Art. 1 Abs. 1 GG findet, und aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zeitig Anzeige zu erstatten. Dadurch, daß er von dem Tatplan erfahren und diesen für ernsthaft befunden hat, ist der Täter in das Geschehen involviert. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man bei § 170 StGB, der die Verletzung von Unterhaltspflichten unter Strafe stellt. Hier treffen den Täter durch sein Verhalten (Eingehen einer Ehe, Zeugung von Kindern o. ä.) oder durch seine familiäre Beziehung zu dem Bedürftigen gesetzliche Unterhaltspflichten. Wenn er diesen durch bloße Nichtzahlung nicht nachkommt, macht er sich strafbar. 478 Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 323c Rn. 2. 479 Cramer/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2007, § 323c Rn. 1. 480 Vergleichbar auch schon RGSt 51, S. 12: „Auch das Unterlassen wird zum Handeln im Sinne des Strafgesetzbuchs, wenn durch eine vorhergehende Tätigkeit der Unterlassenden ein Handeln geboten war; in solchem Falle ist das Unterlassen die Ursache des Geschehenen.“ Ähnlich argumentiert Blei, in: FS-H. Mayer, 1966, S. 137 ff., der freilich fordert, daß durch diese Vorhandlung eine Vertrauensgrundlage geschaffen worden ist. 481 Der Begriff ist in diesem Zusammenhang denkbar weit zu verstehen. Angedeutet ist die Notwendigkeit einer solchen Handlung bei Rudolphi, NStZ 1984, S. 151 f., der sich freilich in diesem Aufsatz nur mit der Garantenstellung aus häuslicher Gemeinschaft befaßt: „Erforderlich ist stets, daß der Übernehmende durch sein Hilfeversprechen oder die tatsächliche Übernahme einer Schutzfunktion eine andere Person dazu veranlaßt hat, sich im Vertrauen auf dieses Hilfsversprechen oder die Präsenz der Hilfsperson entweder erhöhten Gefahren auszusetzen, denen sie allein nicht gewachsen ist, oder anderweitige Möglichkeiten der Sicherung zu unterlassen und daher schutzlos ist, wenn die Hilfsperson nicht gefahrenabwehrend tätig wird.“ 482 In eine ähnliche Richtung geht Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 13 Rn. 55: „Tatsächlich lassen sich auch die Pflichten innerhalb familiärer oder sonstiger enger persönlicher Verbundenheit oft schon auf den Grundsatz des Abwehrbereitschaft entziehenden Vorverhaltens zurückführen [. . .]: Wer dauerhafte Beziehungen zu bestimmten Personen aufnimmt, begibt sich unter bestimmten Voraussetzungen wohlwissend in eine ein- oder gegenseitige Verantwortlichkeit aus Begründung berechtigten Vertrauens.“

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daß die Schwere einer Straftat und das Verschulden des Täters zu der Strafe in einem gerechten Verhältnis stehen müssen. Eine Strafandrohung darf nach Art und Maß dem unter Strafe stehenden Verhalten nicht schlechthin unangemessen sein.“483

Jemand, der „nichts“ getan hat, hat keine zurechenbare Schuld auf sich geladen. Er mag „keine Hilfe geleistet“ oder es unterlassen haben, einen bestehenden Irrtum aufzuklären – nicht mehr und nicht weniger. Eine solche Person als „Mörder“, „Totschläger“ oder als „Betrüger“ zu stigmatisieren, stünde hierzu in keinem „gerechten Verhältnis“. Daher muß der Unterlassende des § 13 StGB eine Handlung vorgenommen haben, aus der seine besondere rechtliche Verpflichtung gegenüber dem zu schützenden und bedrohten Rechtsgut resultiert,484 die seine eigenen Rechte im Verhältnis zu denen des schutzbedürftigen Rechtsguts in besonderem Maße zurücktreten läßt. Eine solche rechtliche Verpflichtung kann beispielsweise entstehen, wenn der Unterlassende selbst durch pflichtwidriges Verhalten ein anderes Rechtsgut in eine Gefahr gebracht hat, die über das allgemeine Lebensrisiko hinausgeht.485 483

BVerfG NJW 1994, S. 1579 [1597]. Ansätze für eine solche Interpretation finden sich bereits in dem Gesetzentwurf für die Normierung des unechten Unterlassens in § 12 AE 66: „Wer es unterläßt, den zum Tatbestand gehörenden Erfolg abzuwenden, obwohl er 1. aufgrund einer gesetzlichen oder freiwillig übernommenen Rechtspflicht gegenüber der Allgemeinheit oder dem Geschädigten dafür zu sorgen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, oder 2. eine nahe Gefahr für den Eintritt des Erfolges geschaffen hat, ist nach dem betreffenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn das Unrecht seines Verhaltens nach den Umständen der Tat dem Unrecht der Begehung durch Tun entspricht.“ (Hervorhebungen nur hier.) 485 Bisher bekannt als Garantenstellung aus Ingerenz, vgl. z. B. Dencker, in: FSStree und Wessels, 1993, S. 162 ff., 165 ff.; 168 ff.; Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 113 ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 725 ff. Einen guten Überblick über die Rechtsprechung zur Ingerenz bietet Schulte, Garantenstellung und Solidarpflicht, 2001, S. 134 ff. Zum Erfordernis der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens bei der Ingerenz Otto, in: FS-Hirsch, 1999, S. 303 ff.; Sowada, Jura 2003, S. 236 ff. Ähnlich und m.w. N. Gimbernat Ordeig, ZStW 111 [1999], S. 310 f. Meier, NJW 1992, S. 3196 f., äußert sich gerade im Hinblick auf die laut diesem Urteil ex post zu beurteilende Pflichtwidrigkeit kritisch zu dem „Lederspray-Urteil“ des Bundesgerichtshofs (BGHSt 37, S. 106). Ebenfalls skeptisch Brammsen, GA 1993, S. 101 ff., 107 ff.; Kuhlen, NStZ 1990, S. 568; Samson, StV 1991, S. 184. A. A. Hilgendorf, NStZ 1993, S. 15 f. Mit der Garantenstellung in dem der „Lederspray-Entscheidung“ zugrundeliegenden Sachverhalt setzen sich auch Beulke/Bachmann, JuS 1992, S. 739 f., und Bode, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 522 ff., auseinander. Gegen das Kriterium der Pflichtwidrigkeit des Vorverhaltens argumentiert Otto, in: FS-Gössel, 2002, S. 101 ff., 107 ff., der statt dessen auf die Verantwortung des Täters für das Vorverhalten abstellen möchte. Der Bundesgerichtshof hat in dem Urteil BGH NStZ 2003, S. 312, und in dem Beschluß BGH NStZ 2004, S. 89 (m. kritischer Anm. Schneider), sogar eine Garantenstellung aus Ingerenz angenommen, wenn und weil der Unterlassende sich zuvor aktiv am versuchten Tötungsdelikt beteiligt hat (vorsätzlich-pflichtwidriges Vorverhalten). Zustimmend Freund, NStZ 2004, S. 124; Norouzi, JuS 2005, S. 915; Theile, JuS 484

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Führte ein solches Verhalten unmittelbar zu einem tatbestandsmäßigen Erfolg, müßte der Handelnde fraglos strafrechtlich für diesen einstehen. Schafft der Täter hingegen durch sein Verhalten ohne rechtlichen Grund486 für das andere Rechtsgut „lediglich“ die Gefahr, daß der strafrechtliche Erfolg später (und sei es durch äußere Umstände oder das Dazwischentreten Dritter) eintreten kann, wird er ebenfalls zur Rechenschaft gezogen: Er muß den Eintritt des noch möglichen, auf sein Verhalten zurückgehenden Erfolges verhindern, widrigenfalls er sich gem. § 13 StGB i.V. m. einem Begehungsdeliktstatbestand strafbar macht. Mit anderen Worten: Sein pflichtwidriges Verhalten läßt die grundrechtlichen Interessen des Unterlassenden gegenüber dem bedrohten Rechtsgut in den Hintergrund treten. Bei der Abwägung überwiegen die Interessen des gefährdeten Rechtsgutsträgers in dem Maße, daß es gerechtfertigt ist, den Unterlassenden über § 13 StGB zu einer rettenden Handlung anzuhalten. Ob ihm dies im konkreten Fall zuzumuten ist, z. B. weil er für die Rettung eines geringwertigen Rechtsguts ein eigenes höherwertiges Rechtsgut gefährden muß, ist eine Frage, die an anderer Stelle der Unterlassensprüfung, nämlich bei der Zumutbarkeit beantwortet werden muß.487 Die besondere rechtliche Verpflichtung endet, wenn die Gefahr beseitigt wurde oder wenn der Rechtsgutsträger des zu schützenden Rechtsguts (wieder) in der Lage ist, sich selbst zu helfen. Der „Unterlassende“ ist dann nicht mehr Garant. Daß er sich freilich wegen Versuchs eines Delikts durch Unterlassen strafbar gemacht haben kann, soll hier lediglich angesprochen, jedoch nicht weiter vertieft werden.488 2006, S. 112; Walter, NStZ 2005, S. 241 f.; Wilhelm, NStZ 2005, S. 178 f. A. A. (außer durch das positive Tun sei eine leichtere Straftat verwirklicht worden) Kissin, Die Rechtspflicht zum Handeln bei den Unterlassungsdelikten, 1933, S. 118. Kritisch zur vom Bundesgerichtshof (StV 1982, S. 218) ebenfalls angenommenen Ingerenzhaftung eines Mittäters für die nach dem gemeinsamen Delikt begangene selbständige Verdeckungsstraftat des anderen Mittäters Stree, in: FS-Klug, 1983, S. 395 ff. 486 Ein solcher Grund könnte eine Notwehr- oder eine Notstandslage sein, aus der heraus der „Täter“ handelt. 487 Näher hierzu Teil 3 A.I.1.b)aa), S. 58 f. mit Fn. 5. 488 Zur Demonstration mag das folgende Beispiel dienen: Der Täter schlägt sein Opfer mit einem Fausthieb nieder. Das Opfer fällt bedingt durch diesen Schlag auf die Gleise eines Nahverkehrszuges und wird dort vom Täter bewußtlos liegengelassen. Der Täter weiß wohl, daß zwei Stunden später, um 5.00 Uhr, der erste Pendlerzug über diese Gleise fahren und das Opfer möglicherweise überrollen wird. Dennoch läßt der Täter das Opfer liegen, da ihm dessen Tod ohnehin recht gelegen käme. Um 6.30 Uhr erwacht das Opfer mit schweren Kopf- und Gliederschmerzen, kann sich aber selbst in das nächstgelegene Krankenhaus begeben. Der Zug war wegen einer technischen Störung zur vorgesehenen Zeit nicht an der Stelle vorbeigekommen, an der das Opfer gelegen hatte. Er passierte den Ort erst gegen 7.30 Uhr, als das Opfer sich bereits im Krankenhaus befand. Hier endete die Garantenstellung des Täters um 6.30 Uhr, es ist auch kein tatbestandlicher Erfolg eingetreten. Dennoch hat er – das Pro-

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Das Dazwischentreten eines Dritten, der eine neue Kausalkette in Gang setzt, läßt die Garantenstellung des Unterlassenden hingegen nicht entfallen. Dieser bleibt allerdings nur in dem Umfang zur Vornahme von Rettungs- oder Schutzhandlungen verpflichtet, in dem er die Gefahr auch selbst verursacht hat. Die zweite Möglichkeit, wie eine solche rechtliche Verpflichtung durch „Einwirken“ auf das zu schützende Rechtsgut entstehen kann, liegt im Verzicht des Unterlassenden auf bestimmte eigene Rechte. Dieser Verzicht erfolgt, indem sich der Unterlassende gegenüber einem anderen Rechtsgutsträger zu einem bestimmten (Schutz-)Verhalten verpflichtet.489 Diese Verpflichtungserklärung, die ausdrücklich oder konkludent abgegeben werden kann, führt bei dem anderen Rechtsgutsträger dazu, daß er eigene Schutz- bzw. Rettungsmaßnahmen für das Rechtsgut unterläßt, zu dessen Gunsten die Verpflichtungserklärung abgegeben worden ist. Der Rechtsgutsträger verläßt sich auf denjenigen, der sich zum Schutz eines oder mehrerer seiner Rechtsgüter verpflichtet hat – und darf sich objektiv auf ihn verlassen.490 Dieses Vertrauen muß nicht aktuell im Bewußtsein des zu Schützenden vorhanden sein; gerade besonders Hilfsbedürftige wie Säuglinge, Kleinkinder oder geistig schwer behinderte Menschen können sich gar nicht bewußt auf andere verlassen und diesen ihre Rechtsgüter anvertrauen. Jedoch muß es für den Versprechenden erkennbar sein, daß er zur Hilfe verpflichtet ist und daß andere auf seine Hilfe angewiesen sind. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, gibt der grundsätzlich491 für sich und seine Rechtsgüter selbst verantwortliche Rechtsgutsträger die Verantwortung für das zu schützende Rechtsgut ab, weil und soweit der Versprechende diese Verantwortung durch sein Verhalten an sich gezogen hat. blem, wann genau das unmittelbare Ansetzen beim Versuch zu bejahen ist, sei einmal außer acht gelassen – zur Verwirklichung des Tatbestands unmittelbar angesetzt und sich wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht, §§ 212, 13, 22, 23 Abs. 1 StGB. 489 Ähnliche Argumente für oder gegen eine Garantenstellung finden sich auch schon bisher, freilich ohne daß diese weiter begründet wurden. So weisen etwa Fischer/Waßmer, BB 2002, S. 972, 973, zu Recht darauf hin, daß der steuerliche Berater nicht Garant gegenüber dem Fiskus sein kann. Er habe bestimmte Pflichten gegenüber seinem Mandanten übernommen (mit anderen Worten: er hat sich diesem gegenüber eines Teils seiner Rechte begeben und ist insoweit verpflichtet, die Rechtsgüter seines Mandanten zu schützen), nicht aber gegenüber dem Finanzamt. Fischer/Waßmer begründen dies unter Verweis auf berufsrechtliche (§ 57 Abs. 1 StBerG), strafrechtliche (§ 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB) und strafprozessuale (§ 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO) Vorschriften. 490 Zu dem Gesichtspunkt des Vertrauens auch Blei, in: FS-H. Mayer, 1966, S. 137 ff.; Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 13 Rn. 38. 491 Eine Ausnahme vom Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit ergibt sich bei den soeben genannten besonders hilfsbedürftigen Personen.

C. Eigener Begründungsansatz

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In einem solchen Fall ist die Qualifizierung des Versprechenden als Garant, d.h. bei Nichterfüllung der Versprechungen seine Bestrafung als begehungsgleicher492 Unterlassungstäter, auch verhältnismäßig. Er hat selbst seine Interessen hinter die des zu schützenden Rechtsguts gestellt und kann sich daher später nicht wieder auf sie berufen. Bei einer Rechtsgüterabwägung überwiegen die Rechte des schutzbedürftigen Rechtsgutsträgers. Es ist angemessen, die allgemeine Handlungsfreiheit (sowie andere betroffene Grundrechte) des Versprechenden auch strafrechtlich zu begrenzen. Die Garantenstellung endet, wenn (und soweit) der zu schützende Rechtsgutsträger die Verantwortung für sich (wieder) selbst übernommen hat und auch objektiv übernehmen kann. Nur wenn der Unterlassende selbst den tatbestandlichen Erfolg vorbereitet hat oder auf eigene Rechte verzichtet hat, d.h. in zurechenbarer Weise auf das hilfsbedürftige Rechtsgut eingewirkt hat, ist es verhältnismäßig, seine Rechte über § 13 StGB hinter die Rechte des zu schützenden Rechtsgutsträgers zurücktreten zu lassen. Lediglich bei einer entsprechenden Einwirkung ist es angemessen, den Unterlassenden einem Begehungstäter entsprechend zu stigmatisieren. In allen anderen Fällen, in denen bei einer Abwägung die Rechte des schutzbedürftigen Rechtsgutsträgers zwar überwiegen, der Unterlassende auf das hilfsbedürftige Rechtsgut aber nicht eingewirkt hat, kann sich der Unterlassende allenfalls jenseits einer besonderen Verpflichtung wie jedermann aus einem echten oder besonderen unechten Unterlassungsdelikt493 strafbar machen.494 Bei einem bloßen „Nichtstun“ wird das – wie gesehen – lediglich bei § 323c StGB der Fall sein. (gg) Abschließende Lösung des Fallbeispiels Wendet man die aufgefundenen Kriterien auf die Fallbeispiele an, ergibt sich für diese das folgende Ergebnis: In der ersten Variante hat eine völlig fremde Frau lediglich aus dem Fenster gesehen und entschieden, daß sie keine Hilfe leisten möchte. Sie ist in keinerlei Kontakt zu dem verletzten Jungen getreten und hat nicht auf ihn eingewirkt, insbesondere hat sie durch eigenes Handeln keine Todesgefahr für ihn geschaffen und hat sich ihm gegenüber keines ihrer Rechte begeben. Folglich gibt es keinen Anknüpfungspunkt, der es rechtfertigen würde, sie aus §§ 212, 13 StGB als Totschlägerin zu bestrafen. Eine solche Bestrafung wäre unverhältnismäßig.

492 493 494

Zu diesem Begriff Fn. 132, S. 113. Zur Terminologie oben Teil 1 B.IV.4., S. 30 f. Unter der Prämisse, daß dessen Voraussetzungen vorliegen.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Freilich ist die Frau wie jeder, der in einem Unglücksfall wie dem dargestellten keine Hilfe leistet, obwohl ihm dies möglich und zumutbar ist, bei Vorliegen aller übrigen Voraussetzungen gem. § 323c StGB zu bestrafen. In der zweiten Variante handelte es sich bei der Frau am Fenster um die Mutter des Jungen. Auch bei ihr stellt sich die Frage, ob sie sich in irgendeiner Weise ihrer Rechte begeben hat oder ob sie durch ihr Handeln eine Gefahr für den Jungen geschaffen hat, deren Realisierung sie daher verhindern muß. Letzteres kann nach den objektiven Gegebenheiten verneint werden, da die Gefahr für den Jungen allem Anschein nach lediglich durch die drei Männer mit den Baseballschlägern hervorgerufen worden ist. Die Frau hat sich jedoch gegenüber dem Jungen auf andere Weise wenigstens zum Teil ihrer Rechte begeben: Wer ein Kind zeugt, gebiert495 oder adoptiert (hierin liegen die zurechenbaren Handlungen, mit denen auf bestimmte eigene Rechte verzichtet wird) übernimmt die Sorgerechte, die damit verbundenen Pflichten und somit die Verantwortung für das Kind, solange und soweit das Kind nicht weg-, d.h. zur Obhut in fremde Hände gegeben wird. Neben der allgemeinen gesellschaftlichen Erwartung der elterlichen Verantwortungsübernahme496 gibt schon die Verfassung diese rechtliche und tatsächliche Folge vor (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Das Ergebnis ist im übrigen zwingend: Wer sonst, wenn nicht die Eltern, welche die Entstehung und die Geburt des Kindes verursacht und zu verantworten haben, sollte für das Wohl dieses hilflosen Kindes sorgen müssen?497 Der Staat kann nur eingreifen, wenn die Eltern ihre Rolle nicht ausfüllen, er wird subsidiär in die Pflicht genommen, vgl. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Dieser Aufgabe kommt er durch Gesetzeserlasse nach, welche die Eltern zur Einhaltung ihrer Verantwortung anhalten und sie bei Zuwiderhandlungen bestrafen. Des weiteren stellt er Betreuungseinrichtungen für diejenigen Kinder bereit, deren Eltern sich als dauerhaft unfähig oder unwillig erweisen, ihre elterlichen Pflichten zu erfüllen. Je jünger ein Kind ist, desto weniger ist es in der Lage, eigenverantwortlich zu handeln.498 Wer nicht eigenverantwortlich handeln kann, bedarf des Schutzes und der Hilfe anderer.499 Diese „anderen“ sind in erster Linie die Eltern des 495 Dazu, daß ab diesem Zeitpunkt die Garantenstellung der Eltern besteht, Brückner, Das Angehörigenverhältnis der Eltern im Straf- und Strafprozeßrecht, 2000, S. 63. 496 Zu den gesellschaftlichen Erwartungen näher unten Teil 4 C.III.3., S. 198 ff. 497 Ähnlich Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 13 Rn. 59 m.w. N. in Fn. 214. Im Ergebnis auch Kretschmer, Jura 2006, S. 900. 498 Ebenso Brückner, Das Angehörigenverhältnis der Eltern im Straf- und Strafprozeßrecht, 2000, S. 66. 499 Rudolphi, NStZ 1984, S. 153: „Die Garantenstellung der Eltern bildet damit ausschließlich das Korrektiv zu der konstitutionellen Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit der Kinder [scil. vor allem Kleinkinder].“

C. Eigener Begründungsansatz

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Kindes. Der Vater und (was für diesen Fall entscheidend ist) die Mutter eines Kindes begeben sich also insoweit ihrer Rechte, als sie auf das Wohl ihres Kindes achten und Rücksicht nehmen müssen. In dem Umfang, in dem es um das Kindeswohl geht, können sie von ihrer eigenen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und anderen mit dem Kindeswohl kollidierenden Grundrechten nicht mehr (uneingeschränkt) Gebrauch machen. Diese Verpflichtung der Eltern mindert sich in dem Maße, in dem Kinder beginnen, für sich und ihr Verhalten selbst verantwortlich zu sein.500 Die Entscheidung, wann dies wie stark der Fall ist, ist bei jedem Kind von dessen individueller körperlicher und geistiger Entwicklung, von dessen Einsichtsfähigkeit und vom Grad seiner bereits erreichten Selbständigkeit abhängig zu machen.501 Eine starre Altersgrenze verbietet sich hier.502 Dies muß vor allem dann gelten, wenn ein Kind von Geburt an geistig oder körperlich (schwer) behindert ist und bis zu seinem Lebensende fremder Hilfe bedarf. Hier sind und bleiben die Eltern verantwortlich, jedenfalls wenn und soweit sie das Kind selbst versorgen und es nicht in die Obhut und Pflege eines Heimes geben. In diesem Fall lebt die besondere Verpflichtung der Eltern lediglich bei Besuchen wieder auf, wenn sie das Kind aus dem Heim zu sich nach Hause oder auf Ausflüge mitnehmen. Sie bleiben insofern subsidiär verpflichtet. Im hier zu entscheidenden Fall war der Junge zwölf Jahre alt. Er lag blutüberströmt, offensichtlich mit gebrochenen Knochen und schweren Schädelverletzungen hilflos auf der Straße. Eigenverantwortlich handeln konnte er nicht mehr. Im übrigen sind auch keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß die Mutter auf das körperliche Wohl dieses Jungen nicht mehr hätte achten müssen. Sie hat den Jungen geboren und die Verantwortung für ihn übernommen. Damit hat sie sich jedenfalls in dem Umfang, in dem er auf ihre Hilfe angewiesen ist, ihrer Grundrechte begeben, auch ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG. Aufgrund ihres zurechenbaren Vorverhaltens durfte sich der Junge auch auf ihre Hilfe verlassen. 500

So auch Kretschmer, Jura 2006, S. 900. Hier können Parallelen zur rechtfertigenden Einwilligung gezogen werden, bei der gemeinhin ebenfalls auf die geistige und sittliche Reife des Minderjährigen abgestellt wird, vgl. hierzu Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 374 m.w. N.: „Entscheidend ist daher allein, dass er nach seiner Verstandesreife und Urteilsfähigkeit das Wesen, die Tragweite und die Auswirkungen des seine Interessen berührenden Eingriffs voll erfasst. Der Einwilligende muss eine zutreffende Vorstellung vom voraussichtlichen Verlauf und den Folgen des zu erwartenden Eingriffs haben. Bei mangelnder Einsichtsfähigkeit bedarf es der Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters.“ 502 Anders Brückner, Das Angehörigenverhältnis der Eltern im Straf- und Strafprozeßrecht, 2000, S. 66 f.: Mit der Volljährigkeit ende regelmäßig (anders bei körperlichen oder geistigen Behinderungen) die Überwachergarantenstellung, während die Beschützergarantenstellung jedenfalls solange bestehen bleibe, wie das Kind noch zu Hause wohne und in einem Ausbildungsverhältnis stehe. 501

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Folglich hätte sie zumindest umgehend den Notarzt alarmieren müssen – die Möglichkeiten einer Erste-Hilfe-Leistung sollen einmal ganz außer acht bleiben. Da sie zur Hilfe des Jungen jedoch gar nichts unternommen hat, hat sie sich gem. §§ 212, 13 StGB (die übrigen Voraussetzungen der Normen als erfüllt unterstellt) strafbar gemacht. Es ist verhältnismäßig, sie ebenso zu bestrafen wie jemanden, der den Jungen durch positives Tun vorsätzlich getötet hätte. 3. Zweiter Pfeiler: Gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen a) Erfordernis des zweiten Pfeilers Neben dem Grundgesetz dürfen indes auch die Erwartungen der Gesellschaft an Strafgesetze und Strafgerichte bei der Frage nach einer Garantenstellung nicht völlig außer acht gelassen werden.503 Wessels und Beulke formulieren zu Recht: „Die Wurzeln des Strafrechts liegen in den sozialethischen Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft; die bilden die Grundlage für die Entstehung von Rechtsgütern, Rechtsnormen und Straftatbeständen.“504

Diese Aussage wird von Günther noch präzisiert: „Anerkannte, den Inhalt einer Strafnorm betreffende Voraussetzung für die faktische Wirksamkeit eines Strafgesetzes ist, daß das in dem strafrechtlichen Verbot zum Ausdruck kommende Unwerturteil des Strafgesetzgebers mit der allgemeinen Wertüberzeugung der Bürger übereinstimmt. Je mehr es dem Strafgesetzgeber gelingt, das Strafgesetz den gesellschaftlichen Wertvorstellungen anzugleichen, um so selbstverständlicher nehmen die Bürger die statuierten gesetzlichen Verhaltensnormen innerlich an und akzeptieren sie als verbindliche Verhaltensregeln. Der Bürger sollte also weniger durch Angst vor Strafe als durch die innere Anerkennung der Norm zu rechtstreuem Verhalten motiviert werden.“505

Dieser Aspekt muß schon angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.06.1997506 im Blick behalten werden: In diesem Be503 Zu den Erwartungen als Anknüpfungspunkt für strafrechtliche Garantenstellungen, also dem ethnomethodologischen Erklärungsversuch Ottos und Brammsens bereits oben Teil 4 B.II.3.c), S. 103 ff. Im Ansatz auch schon Nagler, GerS 111 [1938], S. 61: „Die Volksgenossen können n u r d u r c h d i e Vo l k s g e m e i n s c h a f t mit der Aufgabe, bestimmte Gefahren abzuwehren, betraut werden.“ Ähnlich Arthur Kaufmann, JuS 1978, S. 366: „Es kann ja der Autorität des Strafgesetzes nur dienlich sein, wenn es auf solche Straftaten beschränkt ist, die von der breiten Mehrheit der Bevölkerung auch wirklich als strafwürdig angesehen und die tatsächlich verfolgt werden.“ Gegen die „Enttäuschung einer Erwartung“ als Grundlage einer Garantenstellung Seelmann, GA 1989, S. 243 f. Jedenfalls einschränkend hierzu Spindler, MMR 2002, S. 499 f. 504 Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 9. 505 Günther, JuS 1978, S. 11. 506 BVerfGE 96, S. 68 [97 f.].

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schluß hatte der 2. Senat die Übereinstimmung des § 13 StGB mit Art. 103 Abs. 2 GG vor allem deshalb bejaht, weil die Norm „eine gefestigte Rechtsprechung übernimmt und damit aus dieser Rechtsprechung gesicherte Bestimmtheit gewinnt“.507 b) Quellen für gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen Gerade die Rechtsprechung spiegelt die enttäuschten Erwartungen der Gesellschaft von ihren Mitgliedern wider. Anders ausgedrückt: Strafrechtlich verurteilt wird derjenige, der sich den Erwartungen der Gesellschaft zuwider verhalten hat. Aus den Strafurteilen sind daher die jeweiligen Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft herauszulesen.508 Freilich können sich Anhaltspunkte für solche Erwartungen auch aus Diskussionen des strafrechtlichen Schrifttums sowie aus den geäußerten Ansichten überwiegender Bevölkerungsteile ergeben. Auf die Meinung des Volkes stellte der Bundesgerichtshof beispielsweise in mehreren Entscheidungen im Hinblick auf die guten Sitten ab. Dabei veränderte er jedoch mehrmals seine Anforderungen hinsichtlich dieses Merkmals. Mit Urteil vom 29.01.1953 konstatierte das Gericht im Zusammenhang mit § 226a StGB (heute § 228 StGB): Die Verweisung des StGB „[. . .] auf das Sittengesetz ist vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus nicht ohne grundsätzliche Bedenken. Sie kann weitgehende Unsicherheit darüber zur Folge haben, welche Tatbestände mit Strafe bedroht sein sollen. Eine derart unbestimmte Vorschrift muß, um in einem Rechtsstaat erträglich zu sein, zugunsten des Angeklagten eng ausgelegt werden. Als Verstoß gegen die guten Sitten kann deshalb in diesem s t r a f r e c h t l i c h e n Sinne nur das angesehen werden, was nach dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden zweifellos kriminell s t r a f w ü r d i g e s Unrecht ist.“509

507 Zu den gesellschaftlichen Erwartungen und dem Zusammenhang mit der bisherigen Rechtsprechung zu den unechten Unterlassungsdelikten auch Kretschmer, Jura 2006, S. 900 ff. Jakobs, ZStW 107 [1995], S. 859 ff., geht davon aus, daß jede Norm eine institutionalisierte soziale Erwartung darstellt. Mit seinen Thesen befaßt sich Sacher, ZStW 118 [2006], S. 576 ff., insbesondere mit der Norm als Ergebnis der gesellschaftlichen Verständigung. 508 Dies wird besonders deutlich an der Entscheidung RGSt 66, S. 71 [73]: „Denn die Beantwortung der Frage, ob eine allgemein anerkannte Pflicht dem weiteren Kreis der s i t t l i c h e n Wertung oder dem hierin eingeschlossenen engeren Gebiet der r e c h t l i c h e n Anforderung angehöre, hängt nicht nur davon ab, welche Ausgestaltung in den Einzelheiten das eingreifende Gesetz gewählt, also beim Strafgesetz, welche einzelnen Begehungsarten es bestimmt hat, sondern vornehmlich davon, auf welcher aus dem Willen der Gemeinschaft heraus entwickelten Vorstellung vom Recht seine Vorschriften aufgebaut sind.“ 509 BGHSt 4, S. 24 [32]. (Kursive Hervorhebungen nur hier.)

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Ähnlich streng liest sich das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 12.02.1952: Unter den guten Sitten verstehe man die „allen Kulturvölkern gemeinsame[n] Rechtsüberzeugungen“.510 Am 18.11.1952 urteilte das Gericht mit Blick auf das Merkmal der guten Sitten: „Auf das Durchschnittsempfinden der Gesamtheit kommt es jedoch an. [. . .] die im Volk a l l g e m e i n bestehenden Begriffe von Scham, Sitte und Anstand [. . .]“.511 Auch in seinem Urteil vom 02.09.1958 verlangte das Gericht, daß ein Verhalten mit dem „durchschnittliche[n] Scham- und Sittlichkeitsgefühl der A l l g e m e i n h e i t “512 übereinstimme, damit die guten Sitten gewahrt würden. Ganz anders der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluß vom 17.02.1954. Er hält die Ansichten in der Bevölkerung nicht für maßgeblich – entscheidend sei lediglich das objektive Sittengesetz: „Normen des Sittengesetzes [. . .] gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte und der das menschliche Zusammenleben regierenden Sollenssätze; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln.“513

Wieder anders und eher der erstgenannten Entscheidung folgend urteilte der Bundesgerichtshof am 22.07.1969: Strafbar könnten nach dem Inhalt dieser Entscheidung nur Verstöße sein, „[. . .] die eindeutig den Grundbestand gemeinsamer Anschauungen der Gesellschaft [. . .] antasten und dadurch zu Störungen oder Belästigungen des Gemeinschaftslebens führen. Die Anschauungen darüber, was in diesem Sinne gemeinschaftsschädlich wirkt und wo demnach die Toleranzgrenze [. . .] zu ziehen ist, sind zeitbedingt und damit dem Wandel unterworfen.“514

Diese Rechtsprechungsbeispiele verdeutlichen bereits hinreichend, daß die Erwartungen und die Wertvorstellungen der Gesellschaft im Strafrecht durchaus eine wichtige Rolle spielen, jedoch schwer greifbar und wegen der laufenden gesellschaftlichen Veränderungen kaum meßbar sind. Die Diskussionen, die in der Bevölkerung geführt werden, sind empirisch allenfalls durch umfangreiche soziologische Forschungen und Umfragen zu belegen. Selbst deren Ergebnis muß allerdings nicht zwangsläufig für die hier interessierenden Zwecke verwendbar sein, zumal sich das gesellschaftliche Begriffsverständnis und die damit einhergehenden Erwartungen an die Gerichte (zwischen den verschiedenen 510 511 512 513 514

BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt BGHSt

2, S. 173 [177]. (Hervorhebungen nur hier.) 3, S. 295 [296]. 12, S. 42 [46]. 6, S. 46 [52]. Ähnlich jüngst BGHSt 2005, S. 166 [169 ff.]. 23, S. 40 [42]. (Hervorhebungen nur hier.)

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Rechts- und Gerichtszweigen wird in der Laienperspektive häufig nicht differenziert) nicht immer mit den strafrechtlichen Begriffen und deren Rechtsfolgen decken.515 Sie bilden daher keinen zuverlässigen und überprüfbaren Maßstab, mit dem die Qualifizierung eines Unterlassenden als Garant begründet werden könnte. Von juristischen Fachdiskussionen wiederum weiß der juristische Laie nichts; die rechtliche Auffassung von Juristen muß im übrigen nicht mit der Auffassung der „breiten Masse“ übereinstimmen. Juristische Fachmeinungen können daher nicht als pars pro toto für „die“ gesellschaftlichen Vorgaben und Erwartungen angesehen werden. Daher verbleibt es für meß- und belegbare gesellschaftliche Vorgaben und Erwartungen bei den bisher zum Thema „unechte Unterlassungen“ ergangenen Strafurteilen. c) Funktion und Nutzen des zweiten Pfeilers bei der Auffindung von Garantenstellungen Nach den bisherigen Ausführungen zu „Erwartungshaltungen“ in dieser Arbeit, insbesondere zu den Gründen für die Ablehnung der soziologischen Theorien,516 versteht es sich von selbst, daß strafrechtliche Urteile alleine keine Garantenstellungen begründen können. Sie ermöglichen jedoch eine Überprüfung und Absicherung der mit den Grundrechten, insbesondere mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip aufgefundenen Garantenstellungen – jedenfalls soweit parallele Urteile zu dem konkret zu entscheidenden Einzelfall vorliegen, sich die Rechtsprechung in diesem Punkt einig ist und die in Rede stehenden Urteile nicht zu alt sind. Soweit Entscheidungen zu einer bestimmten Fallkonstellation fehlen, divergierende Urteile vorliegen oder die Urteile zwar einheitlich, aber so alt sind, daß eine Veränderung der gesellschaftlichen Ansichten jedenfalls nicht auszuschließen ist, muß sich der Rechtsanwender auf die erste Säule stützen, sich mit ihr begnügen. Dann nämlich liegt ein Fall vor, der vom Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien vorhergesehen und explizit in Kauf genommen worden ist: Eine Veränderung der gesellschaftlichen Wertvorstellungen517 oder völlig neue Fallkonstellationen, mit denen sich die Gerichte bis dato nicht zu beschäftigen hatten.518 Auch solche Fälle müssen selbstverständlich entschieden werden. 515

Mit ebendiesem Problem setzt sich RGSt 36, S. 184 [184 f.], auseinander. Oben Teil 4 B.II.3.d), S. 107 ff., insbes. Teil 4 B.II.3.d)cc), S. 109 f. 517 Zu den geänderten Wertvorstellungen und tatsächlichen Gegebenheiten hinsichtlich der Zusammensetzung, Funktion etc. einer Familie LG Kiel NStZ 2004, S. 157 [158 f.]. 516

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Ob sie mit den gesellschaftlichen Erwartungen übereinstimmen, kann dann zwar nicht anhand eindeutiger Urteile überprüft werden. Es ist jedoch davon auszugehen, daß eine Auslegung des Gesetzes, die mit der Verfassung übereinstimmt, auch den Wertvorstellungen und Erwartungen der Gesellschaft entspricht und sich mit deren Vorgaben deckt. Immerhin sind die Vorgaben des Grundgesetzes demokratisch legitimiert. In sämtlichen Wahlen seit Erlaß des Grundgesetzes fand sich immer eine breite Mehrheit für die das Grundgesetz tragenden bzw. dieses befürwortenden Parteien. Die Vorschriften des Grundgesetzes sind somit letzten Endes Vorgaben des Volkes und damit der Gesellschaft – verfassungsrechtlich manifestierte Wertvorstellungen also. Wenn sie in die Entscheidung eines Strafgerichts einfließen, können sie den gesellschaftlichen Erwartungen nicht widersprechen. Zwar ist es theoretisch denkbar, daß sich die Gesellschaft heute ein – jedenfalls teilweise – inhaltlich anderes Grundgesetz geben würde. Es bleibt dem Volk durch seine gewählten parlamentarischen Vertreter indes unbenommen, das Grundgesetz (abgesehen von den in der „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG genannten Artikeln) zu ändern. Solange dies nicht geschieht, muß davon ausgegangen werden, daß das Grundgesetz mit den Erwartungen der Gesellschaft auch heute noch übereinstimmt. Bei zukünftigen Fallgestaltungen kann daher auch bei der Frage nach den gesellschaftlichen Erwartungen auf die Vorschriften des Grundgesetzes zurückgegriffen werden.519 518 BT-Drucks. IV/650, S. 124 (Entwurfsbegründung E 1962): „Der Entwurf ist davon abgekommen, im einzelnen die Fälle aufzuzählen, in denen eine Garantenstellung besteht. Sie im einzelnen abschließend zu nennen, was in der für eine Gesetzesfassung gebotenen Kürze ohnehin kaum erreichbar wäre, brächte wenig Gewinn. Zudem könnte hierdurch eine unerwünschte Festlegung der Rechtsentwicklung eintreten, da in dieser Hinsicht noch zahlreiche Zweifelsfälle bestehen, deren Klärung durch die weitere Entwicklung der Rechtslehre und Rechtsprechung zu erhoffen ist.“ Ähnlich heißt es in BT-Drucks. V/4095, S. 8: „Allerdings erwies es sich bei den Beratungen im Ausschuß – wie bereits früher in der Großen Strafrechtskommission –, daß es unmöglich ist, auch die einzelnen Entstehungsgründe der Handlungspflicht in einer sachgemäßen und erschöpfenden Weise gesetzlich festzulegen. [. . .] Abgesehen von der Schwierigkeit, einen für die praktische Anwendung geeigneten Katalog der Entstehungsgründe aufzustellen, beweist die Tatsache, daß in der Rechtslehre noch sehr über die Einzelheiten dieser Entstehungsgründe gestritten wird, daß die Zeit für eine sachgemäße gesetzliche Regelung jedenfalls dieser Problematik noch nicht reif ist.“ 519 Inwieweit bei solch neuen Entscheidungen, die keine „gefestigte Rechtsprechung“ übernehmen und die der Norm damit keine „gesicherte Bestimmtheit“ i. S. von BVerfGE 90, S. 68 [97 f.], verleihen, den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an § 13 StGB noch genügt wird, stellt ein Problem dar, auf das an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. Jedoch ist bereits hier zu konstatieren, daß eine strafrechtliche Norm, die die verfassungsrechtlich manifestierten Erwartungen der Gesellschaft widerspiegelt, einen mit Art. 103 Abs. 2 GG verfolgten Zweck erreicht: Der einzelne weiß nämlich, welche Unterlassungen die Gesellschaft für ebenso strafwürdig erachtet wie positives Tun, und kann sie daher vermeiden, wenn er nicht zum begehungsgleichen Täter werden will. All dies ändert nichts daran, daß eine klarstellende Gesetzesänderung bei § 13 StGB auch weiterhin wünschenswert ist.

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d) Anwendungsgebiete des zweiten Pfeilers Im Ergebnis bedeutet dies für die Gerichte, die § 13 StGB anwenden, daß sie für die Überprüfung der mittels der Verfassung bejahten Garantenstellungen die gefestigte gerichtliche Rechtsprechung zu § 13 StGB ergänzend heranziehen müssen. Wenn und soweit es an eindeutigen Urteilen zu einer bestimmten Fallkonstellation und somit an einer gefestigten Rechtsprechung fehlt, muß das Gericht hingegen eine neue grundlegende Entscheidung treffen und kann sich hierbei (lediglich) auf die Werte und Vorgaben der Verfassung stützen. Diese Vorgehensweise ermöglicht es einem Gericht auch, ein ihm als rechtlich überholt erscheinendes Urteil durch eine neue Entscheidung zu widerlegen. Das Bundesverfassungsgericht hat in der zitierten Entscheidung520 nämlich nicht erkennen lassen, daß eine geänderte Auslegung für die Zukunft ausgeschlossen ist. Mit einer solchen Forderung hätte es sich zum einen gegen den erklärten Willen des Gesetzgebers gewendet, zum anderen widerspräche eine solche Forderung der Realität: Die Lebensbedingungen der Menschen verändern sich und damit auch ihre Ansprüche an den Staat, an die Gesetze und an ihre Mitmenschen. Hierauf muß nicht in jedem Fall der Gesetzgeber reagieren; eine vertretbare Lösung läßt sich ggf. auch durch eine angepaßte Gesetzesauslegung erreichen. e) Rechtsprechungsbeispiele für gesellschaftliche Erwartungen Daß sich in strafrechtlichen Urteilen gesellschaftliche Erwartungen manifestieren, soll mit zwei kurzen Beispielen belegt werden. In beiden Fällen handelt es sich um Entscheidungen, in denen Ärzte als Garanten und damit als (potentielle) Unterlassungstäter i. S. d. § 13 StGB qualifiziert wurden.521 aa) Bereitschaftsärzte als Garanten gegenüber Kranken In einem Urteil vom 1. März 1955, also deutlich vor der Einführung des § 13 StGB, hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß Bereitschaftsärzte Garanten gegenüber denjenigen Kranken sind, die sie während des Bereitschaftsdienstes um Hilfe bitten.522

520

Oben Teil 4 C.III.3.a), S. 198 f. Zu Inhalt und Richtung der Garantenstellung des Arztes im Zusammenhang mit der Sterbehilfe Kusch, NJW 2006, S. 261 f.; Otto, NJW 2006, S. 2218 f., 2222. 522 BGHSt 7, S. 211. 521

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(1) Sachverhalt In der Nacht, in welcher der angeklagte Arzt Bereitschaftsdienst hatte, kam der Ehemann des Opfers gegen 1.30 Uhr zu dem Angeklagten in die Praxis. Er bat den Angeklagten, mit zu seiner Frau nach Hause zu kommen. Sie leide unter starken Schmerzen in der rechten Leibseite, unter Brechreiz, Durchfall und einer Untertemperatur von 34,1. Die Untersuchungen der Frau durch ihre behandelnde Ärztin sowie die Anfertigung eines Blutbildes hätten in den vorangegangenen Tagen keine Ergebnisse gebracht, die auf eine bestimmte Krankheit schließen ließen. Der Angeklagte ging nach diesen Erzählungen von einem einfachen Magen- und Darmkatarrh der Frau aus und riet dem Ehemann, ihr Beruhigungsmittel zu geben sowie Umschläge zu machen. Wenn es der Frau schlechter gehe, solle er noch einmal vorbeikommen. Einen sofortigen Hausbesuch lehnte der Angeklagte indes ab. Um 5.15 Uhr suchte der Ehemann einen zweiten Arzt auf, der unter Hinweis auf den Bereitschaftsdienst des Angeklagten ebenfalls nicht zu dem Ehepaar nach Hause kam. Die Frau verblutete gegen 9.15 Uhr innerlich an einer geplatzten Eileiterschwangerschaft. (2) Argumentation des Bundesgerichtshofs Der Bundesgerichtshof konstatierte in diesem Sachzusammenhang, daß unabhängig von der Frage nach einer allgemeinen Hilfeleistungspflicht von Ärzten in Notfällen, jedenfalls „der Bereitschaftsarzt eine strafrechtlich geschützte Rechtspflicht nicht nur gegenüber der kassenärztlichen Einrichtung, sondern gegenüber der Bevölkerung hat, in dringenden Erkrankungsfällen einzugreifen.“523 Dies ergebe sich „aus dem Wesen des Bereitschaftsdienstes und dem überragenden Interesse der Bevölkerung, nicht zuletzt der Ärzteschaft selbst, an seiner geordneten Durchführung. Wer als Bereitschaftsarzt den Schutz der Bevölkerung gegenüber gesundheitlichen Gefahren übernimmt, muß schon deshalb für pflichtwidriges Unterlassen ebenso einstehen wie für tätiges Handeln, weil die Pflichten anderer Ärzte gegenüber ihren Patienten für die Dauer des Bereitschaftsdienstes mindestens erheblich eingeschränkt werden.“524 Die Behandlung der Frau habe der Angeklagte durch die Beratung des Mannes zwar übernommen. Aufgrund der Umstände des konkreten Falles und der (den geschilderten Symptomen zufolge) offensichtlichen Schwere der Krankheit wäre der Angeklagte indes auch verpflichtet gewesen, den erbetenen Hausbesuch zu machen. Zwar habe selbstverständlich auch der Bereitschaftsarzt das Recht, bestimmte Bitten um einen Hausbesuch abzulehnen. „Dem Recht des Bereitschaftsarztes, erbetene Besuche als überflüssig abzulehnen, sind aber 523 524

BGHSt 7, S. 211 [212]. BGHSt 7, S. 211 [212].

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durch die Natur der Sache verhältnismäßig enge Grenzen gesetzt. Sie ergeben sich daraus, daß zuverlässige Ferndiagnosen nur selten möglich sind.“525 Im konkreten Fall komme hinzu, daß der Arzt noch nicht einmal mit der Patientin selbst gesprochen habe, sondern nur mit deren Ehemann. Nach den gesamten Umständen wäre er folglich rechtlich besonders verpflichtet gewesen, die Frau zu Hause zu besuchen. Da er dieser Pflicht nicht nachgekommen sei, habe er sich wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen strafbar gemacht. (3) Erwartungen in der Gesellschaft Diese Entscheidung deckt sich mit den Erwartungen und Wertvorstellungen der Gesellschaft. Ein Arzt ist kraft seiner beruflichen Stellung eine besondere Vertrauensperson. Das Vertrauen der Bevölkerung in ihre Ärzte hat nicht zuletzt seinen Niederschlag in § 55 Abs. 1 Nr. 3 StPO gefunden. Die Norm gibt den Ärzten ein Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich der Informationen, die sie in ihrer Eigenschaft als Ärzte von ihren Patienten erhalten. Aber auch in rein medizinischer Hinsicht vertrauen die Bürger ihren Ärzten. Die Bürger sind auf die Ärzte angewiesen, weil sie medizinische Probleme meist nicht selbst lösen können. Daher begeben sie sich zu einem Arzt und lassen sich dort behandeln. Daß sich dabei eine bestimmte (vergleichsweise geringe) Anzahl an Fehldiagnosen nicht verhindern läßt, müssen die Patienten in Kauf nehmen. Das grundsätzliche Vertrauen der Bevölkerung in die Ärzteschaft beseitigen diese Kunstfehler hingegen nicht.526 Nun könnte man auf den Gedanken verfallen, einem neuen Arzt (wie z. B. einen Bereitschaftsarzt), den man zuvor nie gesehen hat und der den Patienten möglicherweise nur einmal zu Gesicht bekommt, vertraue der Bürger weniger – mit der Konsequenz, daß die Gesellschaft von ihm eine Rettung nicht in demselben Maße erwartet wie von Ärzten, die der einzelne Patient schon länger kennt. Jedoch wird man wohl davon ausgehen müssen, daß sich gerade in Notsituationen der einzelne auf den jeweils behandelnden Arzt verläßt, weil und soweit er auf diesen vertrauen muß und auf dessen Hilfe angewiesen ist. Dies dürfte insbesondere für Notärzte und für Ärzte im Bereitschaftsdienst gelten.527 Bereitschaftsdienst leistende Ärzte sind die Vertretung des Hausarz-

525

BGHSt 7, S. 211 [213]. Auch wenn es sicherlich einzelne Bürger gibt, die aufgrund eigener schlechter Erfahrungen ihr Vertrauen in die Ärzte verloren haben. Sie spiegeln indes nicht die Erwartungen der gesamten Gesellschaft wider. 527 Altenhain, NStZ 2001, S. 189 ff., geht in seiner Anmerkung zu dem Urteil BGH NJW 2000, S. 2754, sogar so weit zu konstatieren, daß ein Arzt in einem Krankenhaus für jeden Patienten in seiner Abteilung eine Garantenstellung innehabe, selbst wenn er die Behandlung des Patienten nicht selbst übernommen habe. Dies ergebe 526

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tes.528 Sie verpflichten sich freiwillig zur Behandlung der während ihrer Bereitschaftszeit um Hilfe bittenden Patienten. Damit dieses Notfallsystem funktioniert und nicht ein Arzt umsonst eine Art Nachtwache hält, während seine Kollegen aus dem Schlaf geklingelt werden, um ihre angestammten Patienten zu behandeln, verweisen Ärzte während der Dauer des Bereitschaftsdienstes ihre Patienten i. d. R. an den Bereitschaftsarzt. Daher erwartet die Gesellschaft von diesem Arzt auch unbedingte Hilfeleistung, soweit ihm diese möglich und zumutbar ist, insbesondere soweit er nicht bereits einen anderen Patienten versorgen muß. Daß sich ein Bereitschaftsarzt, der diese Hilfeleistung unterläßt, bei der Realisierung der für den Patienten bestehenden Gefahr ebenso strafbar macht wie jemand, der dem Patienten den schädlichen Erfolg durch aktives Verhalten zufügt, dürfte in der Gesellschaft nicht angezweifelt werden. bb) Garantenstellung des behandelnden Arztes Anhand einer weiteren Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Garantenstellung von Ärzten kann noch einmal verdeutlicht werden, daß der Rechtsprechung die Wertvorstellungen der Gesellschaft zugrunde liegen. In dieser Entscheidung529 hat der Bundesgerichtshof festgestellt, daß jeder Arzt, der die Behandlung eines Patienten tatsächlich übernommen hat, für diesen und dessen Wohl rechtlich besonders einzustehen hat und folglich Garant für dessen Gesundheit bzw. Fortleben ist.530 Dies sei selbst dann der Fall, wenn der fragliche Arzt eine jüngere Kollegin, die sich mangels Erfahrung bei dem älteren Arzt vergewissern möchte, bei der Diagnose und Behandlungsentscheidung dergestalt unterstützt, daß er die Beratung des Patienten faktisch selbst in die Hand nimmt und auch in Kontakt mit der diesen bisher behandelnden Klinik tritt. Der Patient verläßt sich nun auf ihn. In einer solchen Konstellation erwartet die Gesellschaft, daß der Arzt den Patienten umfassend und mit den richtigen Methoden untersucht sowie eine möglichst präzise Diagnose stellt. Wer, wenn nicht der im Einzelfall behandelnde Arzt, sollte sonst diese Leistungen erbringen, auf die der Patient (ggf. mit seinem Leben) angewiesen ist?

sich aus der Aufnahme des Patienten zusammen mit der internen Verantwortungsverteilung. 528 Hierzu und zu den weiteren Ausführungen über die Eigenschaften des Ärztlichen Notdienstes http://www.biologie.de/biowiki/Ärztlicher_Notdienst. 529 BGH NJW 1979, S. 1258. 530 BGH NJW 1979, S. 1258.

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Genau diese Erwartungen hatte der Arzt in dem vom Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall indes nicht erfüllt. Er gab der ursprünglich zuständigen jungen Kollegin zwar Ratschläge hinsichtlich der weiteren Untersuchungen und riet ihr, den Patienten nach vier Wochen wieder vorstellig werden zu lassen. Er selbst untersuchte den Patienten indes nicht, obwohl er sich nach den ersten Untersuchungsergebnissen der Diagnose seiner Kollegin und den Kollegen der anderen Klinik, die eine tödliche Krankheit enthielt, mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit anschloß. Trotz seiner verbliebenen Zweifel, um welche Krankheit es sich genau handeln könnte, überließ er den Patienten wieder seiner jungen unerfahrenen Kollegin. Hierdurch konnte er sich indes nicht von der Garantenstellung befreien. Im Gegenteil: Gerade weil die Diagnose so unsicher, das Risiko für den Patienten (der wenige Wochen nach diesem Krankenhausbesuch verstarb) so hoch und die junge Kollegin so unerfahren war, hätte die Gesellschaft von ihm erwartet, daß er den Patienten eingehend untersucht und entsprechend der dann gestellten Diagnose behandelt. Nach den Wertvorstellungen der Gesellschaft, die sich in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs manifestiert haben, trifft den Arzt daher eine besondere rechtliche Verpflichtung zum Tätigwerden zugunsten des Patienten.531

IV. Anwendungsbeispiele für den eigenen Begründungsansatz Der aufgefundene Weg zur Begründung von Garantenstellungen bzw. zur Bejahung von begehungsgleichem532 Unterlassen bedarf nun noch einer Anwendung auf praktische Fälle. Diese Exemplifizierung dient zugleich dem Nachweis der Praxistauglichkeit der vorgeschlagenen Vorgehensweise. Dabei sollen nicht sämtliche bisherigen „Gruppen“ von Garantenstellungen untersucht werden, sondern lediglich drei Fallkonstellationen überprüft werden, bei denen bisher das „rechtliche Einstehenmüssen“ bejaht oder verneint worden ist. 1. Die Garantenstellung von Ehegatten füreinander Hierzu soll als erstes anhand zweier Fälle der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit Ehegatten im Verhältnis zueinander als Garanten i. S. d. § 13 StGB anzusehen sind.

531 In dieser Entscheidung wurde die Verurteilung des Arztes durch die Vorinstanz vom Bundesgerichtshof freilich trotzdem wieder aufgehoben, da es an einer Ursächlichkeit zwischen der Unterlassung des Arztes und dem Tod des Patienten fehlte. 532 Zu diesem Begriff schon oben Fn. 132, S. 113.

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a) Ausgangsfall Das Ehepaar M lebt seit dreißig Jahren in harmonischer Ehe zusammen. Sie bewohnen gemeinsam ein kleines Haus, das am Rande eines spärlich bewohnten Ortes gelegen ist. Eines Tages erleidet der Ehemann einen schweren Schlaganfall und ist ab diesem Zeitpunkt nahezu vollständig gelähmt. Die Ärzte belehren Herrn und Frau M darüber, daß der nächste Schlaganfall für Herrn M höchstwahrscheinlich tödliche Folgen haben werde, sofern nicht innerhalb weniger Minuten ärztliche Hilfe zugegen sei. Aufgrund der Abgeschiedenheit des Hauses könne Herr M in einer solchen Situation folglich nur gerettet werden, wenn seine Frau im Hause sei und rechtzeitig von dem Schlaganfall Kenntnis erhielte. Daher legen die Ärzte dem Ehepaar nahe, Herrn M in ein Pflegeheim einweisen zu lassen. Dies lehnt das Ehepaar jedoch ab. Vier Monate nach dem ersten erleidet Herr M einen zweiten schweren Schlaganfall, was seine neben ihm sitzende Frau aufgrund der ihr inzwischen bekannten Symptome sofort bemerkt. Herr M hat durch den Schlaganfall das Bewußtsein verloren. Frau M kann das Leiden und den körperlichen Verfall ihres Mannes nicht mehr mit ansehen. Sie möchte, daß er in Würde sterben kann. Daher unternimmt Frau M nichts, sondern bleibt untätig neben ihrem Mann sitzen und betet für dessen Erlösung. Wie von den Ärzten prognostiziert, verstirbt Herr M innerhalb kurzer Zeit. Wäre umgehend ein Arzt benachrichtigt worden, hätte Herr M mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch diesen Schlaganfall überlebt. aa) Lösung mit Hilfe der ersten Säule Aufgrund des dargestellten Sachverhaltes kann davon ausgegangen werden, daß grundsätzlich alle Voraussetzungen für einen Totschlag durch Unterlassen, §§ 212, 13 StGB, vorliegen.533 Der einzige Punkt, der hier interessant ist, ist die Frage, ob Frau M für das Ausbleiben des Todes ihres Ehemannes rechtlich einzustehen hatte. Erlegt man ihr eine derartige Pflicht auf, zwingt man sie zugleich dazu, Rettungshandlungen vorzunehmen, im konkreten Fall also, einen Arzt herbeizuholen. Gerade dies möchte Frau M aber nicht tun, so daß eine entsprechende Verpflichtung sie in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzen könnte.

533 Ob möglicherweise die Voraussetzungen eines (sonstigen) minder schweren Falles i. S. d. § 213 StGB vorliegen (zu dessen Anforderungen Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 213 Rn. 13) kann hier dahinstehen.

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(1) Schutzbereichseröffnung Der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG umfaßt die allgemeine Handlungsfreiheit im weitesten Sinne und dabei auch das bloße Nichtstun bzw. das Nebenjemandem-sitzen-bleiben und das Beten für dessen Erlösung.534 (2) Eingriff Durch die staatliche, genauer: gesetzliche Verpflichtung, dieses Verhalten zu beenden und statt dessen aktiv Hilfe zu holen, wird in die allgemeine Handlungsfreiheit der Frau M eingegriffen. Aufgrund dieser Verpflichtung kann Frau M von ihrer grundrechtlichen Freiheit nämlich nicht mehr in vollem Umfang Gebrauch machen. (3) Grundrechtsschranken Bei Art. 2 Abs. 1 GG handelt es sich um ein Grundrecht, das neben der Gewährleistung eines Freiheitsrechts zugleich die Grenzen desselben enthält. Diese Grenzen sind in der Trias aus materiellen535 Schranken zu sehen, die dem Grundrechtsinhaber verbietet, bei der Ausübung seiner Rechte die Rechte anderer zu verletzen, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen das Sittengesetz zu verstoßen. Hier würde durch das uneingeschränkte Gebrauchmachen von der Handlungsfreiheit der Frau M das Recht des Herrn M auf Leben, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, tangiert bzw. verletzt. Zum Schutz dieses Rechts darf der Staat Frau M daher grundsätzlich zur Vornahme bestimmter Handlungen verpflichten. (4) Schranken-Schranken Hinsichtlich des Umfanges dieser Verpflichtung sind jedoch dem Staat seinerseits wieder Grenzen gesetzt.536 Von den oben537 aufgeführten SchrankenSchranken soll an dieser Stelle nur das Übermaßverbot interessieren.

534 Zur Weite des Schutzbereiches des Art. 2 Abs. 1 GG vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 2 Abs. 1 Rn. 3 f., 8 ff. 535 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Band 1, 5. Auflage 2005, Art. 2 Abs. 1 Rn. 21. 536 Allgemein zu den Schranken-Schranken Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 22. Auflage 2006, Rn. 274 ff. 537 Sub Teil 4 C.III.2.h), S. 150 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

(a) Zweck der Verpflichtung von Frau M Neben den zuvor dargestellten allgemeinen Zwecken des § 13 StGB538 dienen die Vorschrift sowie deren Anwendung in diesem konkreten Fall dem Lebensschutz des Herrn M. (b) Geeignetheit der Verpflichtung Die Verpflichtung der Frau M, einen Arzt zu rufen, ist zur Erreichung der allgemeinen Zwecke539 sowie des besonderen Zweckes in diesem Fall auch geeignet, da ihr schnelles Handeln und das dadurch bewirkte baldige Erscheinen des Arztes den Tod des Herrn M verhindert, sein Leben also bewahrt hätten. (c) Erforderlichkeit Diese Verpflichtung ist zudem das mildeste unter allen gleich wirksamen Mitteln. Zum einen ist sie das einzig erfolgversprechende Mittel, nachdem anderweitige Hilfe für Herrn M nicht zur Verfügung steht. Zum anderen wird von Frau M nicht mehr verlangt als ein Griff zum Telefon und ein kurzer Anruf. Ein milderes Mittel ist schon per se nicht vorstellbar. (d) Angemessenheit (aa) Erste Gewichtung der einander gegenüberstehenden Rechtsgüter Schließlich muß bei einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der Eingriffszwecke, insbesondere des Lebens des Herrn M, auf der einen Seite und des Rechts der allgemeinen Handlungsfreiheit der Frau M auf der anderen Seite, das Interesse der Frau M zurücktreten. Bei einer ersten Gewichtung dieser Rechte überwiegt das Recht des Herrn M auf Leben das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit der Frau M. Dieses Ergebnis ist schon deshalb zwingend, weil ohne die gesetzlich erwartete Handlung der Frau M – wie im Fall geschehen – Herr M sein Leben endgültig und unwiederbringlich verliert. Sie hingegen wird in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit nur ganz am Rande tangiert, indem sie zu einer Handlung angehalten wird, die sie wenig Mühe und Zeit kostet.

538 539

Teil 4 C.III.2.h)ee)(1)(b)(dd), S. 176 f. Hierzu bereits oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(2), S. 177 f.

C. Eigener Begründungsansatz

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(bb) Das zusätzliche Kriterium für die Anwendbarkeit des § 13 StGB Frau M ist daher jedenfalls zum Herbeirufen eines Arztes (straf-)rechtlich verpflichtet. Diese Pflicht könnte sowohl aus § 323c StGB als auch aus § 13 StGB resultieren. Letzteres ist jedoch nur dann der Fall, wenn ihre Rechte in besonderem Maße hinter diejenigen des Herrn M zurücktreten, sie also zur Vornahme der Rettungshandlung besonders, d.h. stärker als das Gros ihrer Mitmenschen verpflichtet ist. Dies ist hier der Fall, da sich Frau M gegenüber ihrem Ehemann eines Teils ihrer Rechte begeben hat. Wenn Ehegatten in einer Lebensgemeinschaft zusammenleben, müssen sie füreinander einstehen. Das ist das Wesen einer Lebensgemeinschaft:540 In dem Moment, in dem zwei Menschen eine Lebensgemeinschaft begründen, zeigen sie dem anderen und der Außenwelt ganz bewußt, daß sie das Leben gemeinsam meistern wollen und einander hierbei unterstützen.541 Dabei darf freilich das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit nicht aufgegeben werden.542 Vielmehr müssen die Ehegatten einander nur solange und soweit Beistand leisten, wie der Partner auf die Hilfe angewiesen und dies für den anderen erkennbar ist. Zu den entsprechenden Hilfeleistungen verpflichten sich beide. Dadurch verzichten sie in dem Umfang, in dem sie dem anderen beistehen müssen, auf die uneingeschränkte Ausübung ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit. Wie groß dieser Umfang ist, richtet sich nach der jeweiligen persönlichen Ausgestaltung der Ehe durch die Eheleute.543

540 So auch Ingelfinger, NStZ 2004, S. 411: Die Partner verbindet die gegenseitige Erwartung, von dem jeweils anderen in Notfällen Hilfe zu erhalten. 541 Die Begründung einer Lebensgemeinschaft ist nicht an das rechtliche Konstrukt der Ehe geknüpft. Wenn zwei Partner die Ehe i. S. d. §§ 1353 ff. BGB (oder eine eingetragene Lebenspartnerschaft gem. §§ 1 ff. LPartG) miteinander eingehen und davor oder danach eine Lebensgemeinschaft gegründet haben, manifestieren sie diesen Wunsch eines füreinander Einstehens lediglich. Ähnlich Kretschmer, Jura 2006, S. 901 f.; Rudolphi, NStZ 1984, S. 151. Andererseits enden die gegenseitigen Garantenstellungen, sobald die Lebensgemeinschaft aufgelöst wurde. Einer (rechtskräftigen) Scheidung bedarf es bei Ehegatten hierzu nicht, Freund, NJW 2003, S. 3385. Ebenso Ingelfinger, NStZ 2004, S. 412 f., der freilich verlangt, daß die Beendigung der Lebensgemeinschaft für beide Ehegatten sowie nach außen hin erkennbar ist. Ausführlich zu Garantenstellungen innerhalb einer eheähnlichen Gemeinschaft Konrad, Probleme der eheähnlichen Gemeinschaft im Strafrecht, 1986, S. 74 ff. Konrad zufolge können innerhalb einer eheähnlichen Gemeinschaft Garantenstellungen freilich nur aus Vertrag oder Ingerenz entstehen, vgl. insbesondere die Zusammenfassung auf S. 111 f. 542 Vgl. hierzu beispielsweise Gimbernat Ordeig, in: FS-Roxin, 2001, S. 651 ff.; Kretschmer, Jura 2006, S. 900, 902 f.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, § 13 Rn. 32; im Zusammenhang mit der Geschäftsherrenhaftung Schall, in: FS-Rudolphi, 2004, S. 271 ff. 543 Ebenso Freund, NJW 2003, S. 3385.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

(5) Ergebnis Danach hätte Frau M als Garantin ihres Mannes dessen Tod verhindern müssen. Sie ist gem. §§ 212, 13 StGB zu bestrafen. bb) Überprüfung anhand der zweiten Säule Dieses Ergebnis deckt sich auch mit den Erwartungen der Gesellschaft, die sich in diversen Urteilen des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs widerspiegeln.544 Wenn und solange ein tatsächliches Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis, also eine Lebensgemeinschaft besteht,545 haben Ehegatten wechselseitig – unter Wahrung der Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit des anderen – dafür einzustehen, daß an den Rechtsgütern des jeweils anderen kein schädlicher Erfolg eintritt. b) Abwandlung des Falles Das Ehepaar M lebt seit fast dreißig Jahren in harmonischer Ehe zusammen. Es ist finanziell schlecht gestellt und bewohnt eine kleine Sozialwohnung. Über irgendwelche relevanten Vermögensgegenstände verfügt es nicht. Zu ihrem 30. Hochzeitstag möchte Herr M seiner Frau gerne ein besonderes Geschenk machen – eine Reise in die USA. Da er nicht über die finanziellen Mittel verfügt, möchte er bei einem Schmuckbasar, der jeden Samstag in einer besser situierten Wohngegend stattfindet, seine Armbanduhr verkaufen. Bei dieser handelt es sich um ein täuschend echt aussehendes Imitat einer goldenen Rolex-Uhr, das jedoch maximal 50 Euro wert ist. Er weiß, daß bei den Besuchern dieses Basars das Geld recht locker sitzt und die Schmuckstücke nur selten auf ihre Echtheit hin untersucht werden. Daher rechnet er sich gute Chancen für die Umsetzung seines Plans aus. Seiner Frau erzählt er lediglich, daß er auf dem Basar seine Uhr verkaufen möchte, weshalb sie davon ausgeht, daß er 50 Euro für eine Sonderausgabe benötigt. Er bittet sie, ihn zu begleiten, um den Eindruck seiner Seriosität zu steigern. Am darauffolgenden Samstag begeben sich beide zu dem Basar. Herr M findet auch tatsächlich einen Kaufinteressenten, an den er seine Uhr für 8.000 Euro veräußert. Frau M steht während des Verkaufsgesprächs neben ihrem Mann und beteiligt sich zwar nicht an den Verhandlungen, erkennt aber nach wenigen Augenblicken, was ihr Mann vorhat. Dennoch schweigt sie, weil sie die Idee für gut befindet, und klärt den Käufer nicht über dessen Irrtum auf. 544 RGSt 64, S. 273 [276 ff.]; 71, S. 187 [189]; BGHSt 2, S. 150 [153 f.]; BGH StV 2003, S. 611. 545 BGHSt 2, S. 150 [153 f.]; BGH StV 2003, S. 611.

C. Eigener Begründungsansatz

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aa) Unterschied zum ersten Fall hinsichtlich der Lösung In der Abwandlung des Falles könnte sich Frau M wegen Beihilfe durch Unterlassen zum Betrug546 ihres Mannes strafbar gemacht haben, §§ 263, 13, 27 StGB.547 Dies setzte jedoch voraus, daß sie gegenüber dem Käufer der Uhr eine Garantenstellung innehat.548 Hierin liegt der wesentliche Unterschied zum Ausgangsfall: In diesem war die Ehefrau Beschützergarantin ihres Ehemanns; sie sollte ihn und seine Rechtsgüter vor Schaden bewahren. In der Fallvariante geht es nicht mehr um den Schutz des Mannes, sondern um den der Rechtsgüter eines völlig Fremden. Ihm gegenüber kann Frau M an sich keine Garantenstellung innehaben, da sie sich keines ihrer Rechte begeben hat und im Vorfeld des Verkaufsgesprächs für das Vermögen des Käufers auch nicht pflichtwidrig eine Gefahr geschaffen hat. Es wäre jedoch denkbar, daß sie mit Herstellung der (ehelichen) Lebensgemeinschaft nicht nur verpflichtet ist, ihren Mann zu unterstützen, sondern auch, ihn von der Begehung von Straftaten bzw. allgemeiner: von (schweren) Fehlern abzuhalten. In diesem Fall hätte sie schon zum Schutz ihres Mannes den Käufer entweder darüber aufklären müssen, daß die Uhr ein Imitat und lediglich 50 Euro wert ist oder sie hätte auf ihren Mann einwirken und ihn von dem Vollzug des Geschäfts abhalten müssen. Solche Verpflichtungen stellten einen Eingriff in die Rechte der Frau M dar, der jedoch aus denselben wie den im Ausgangsfall genannten Gründen549 gerechtfertigt sein könnte. Zweifelhaft ist lediglich, ob sich in der Fallvariante derartige Verpflichtungen innerhalb der Schranken-Schranken bewegen würden. Untersucht werden soll hier erneut nur das Übermaßverbot.

546 Zum täterschaftlichen Betrug durch Unterlassen Bockelmann, in: FS-Eb. Schmidt, 2. Auflage 1971, S. 437 ff.; Maaß, Betrug verübt durch Schweigen, 1982. 547 In Betracht käme auch eine sogenannte psychische Beihilfe durch aktives Tun (Begleiten des Mannes, Ausharren an seiner Seite, während er die Gespräche führt), deren Existenz umstritten ist, vgl. Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, § 27 Rn. 9 ff. Hierauf soll an dieser Stelle indes nicht näher eingegangen werden, da es für den weiteren Verlauf der Arbeit nicht von Interesse ist. 548 Alle anderen Voraussetzungen der Strafbarkeit liegen vor. Insbesondere hat das Unterlassen der Frau M die für eine Beilhilfe (sogar von der strengsten Auffassung verlangte) erforderliche „Qualität“ (Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 27 Rn. 7 ff.; Joecks, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2003, § 27 Rn. 86), da ihr Dazwischentreten den Eintritt des Erfolges mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte: Hätte sie den Käufer über die Eigenschaften der Uhr und damit deren wahren Wert aufgeklärt, hätte er die Uhr jedenfalls nicht zu dem überhöhten Preis erworben und damit keinen Schaden erlitten. 549 Zuvor Teil 4 C.IV.1.a)aa)(3), Teil 4 C.IV.1.a)aa)(4), S. 209 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

(1) Zweck des Eingriffs Neben den allgemeinen Zwecken des § 13 StGB550 und seiner Anwendung dient eine Handlungsverpflichtung der Frau M den Rechtsgütern der Allgemeinheit, im konkreten Fall dem Vermögen des Uhrenkäufers. (2) Geeignetheit der Verpflichtungen Sowohl eine Aufklärung des Käufers als auch ein warnendes Gespräch mit ihrem Mann (unterstellt, Frau M hätte ihren Mann entsprechend beeinflussen können) wären geeignet, den tatbestandlichen Erfolg zu verhindern und damit das Vermögen des Käufers zu schützen. Daneben würden selbstverständlich auch die anderen Zwecke des § 13 StGB erreicht. (3) Erforderlichkeit Ein milderes Mittel, das ebenso wirksam wäre wie die vorgeschlagenen Handlungsverpflichtungen, ist nicht ersichtlich. Keinem der anderen Basarbesucher ist bekannt, daß es sich bei der Uhr nicht um eine echte Rolex handelt. Zwar könnte man von Frau M auch verlangen, die Polizei zu verständigen – dies wäre jedoch (für sie) nicht das mildere Mittel gewesen. Andere Handlungsmöglichkeiten, die das Vermögen des Käufers schützen könnten, bestehen nicht. (4) Angemessenheit (a) Erste Gewichtung der Rechtsgüter Bei einer ersten Gewichtung der Rechtsgüter (Eigentum und Vermögen auf Seiten des Käufers, allgemeine Handlungsfreiheit auf Seiten der Frau M) ist schon fraglich, ob das Recht des Käufers eindeutig dasjenige der Frau M überwiegt. Frau M würde immerhin zu einer Handlung verpflichtet, mit der sie ihren Mann denunzierte. Zwar könnte sie mit dieser Handlung auch die Vollendung einer Straftat durch ihren Mann verhindern; jedoch hätte er sich in dem Stadium des Verkaufsgesprächs bereits wegen versuchten Betruges strafbar gemacht. Dieser würde durch ein Eingreifen der Frau M mit Sicherheit aufgedeckt, während ein vollendeter Betrug des Mannes möglicherweise niemals aufgeklärt und verfolgt würde. Der Käufer hingegen erleidet durch das Schweigen der Frau M einen finanziellen Schaden in Höhe von 7.950 Euro.

550

Hierzu wieder oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1), S. 162 ff.

C. Eigener Begründungsansatz

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(b) Keine Anwendbarkeit von § 13 StGB Eine Handlungspflicht der Frau M, gegen die sie verstoßen hätte, könnte allenfalls zu einer Strafbarkeit nach §§ 263, 13, 27 StGB führen, da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 323c StGB in der Fallvariante nicht erfüllt sind. Frau M müßte also rechtlich zur Aufklärung des Irrtums des Käufers besonders verpflichtet gewesen sein, d.h. nach dem zuvor Gesagten, sie müßte sich gegenüber ihrem Ehemann auch insofern eines Teils ihrer Rechte begeben haben, daß sie ihn von Straftaten abhalten muß. (aa) Keine Garantenstellung von Ehegatten zum Schutz Dritter Dies ist unter Berücksichtigung der bereits beim Ausgangsfall dargestellten Grundsätze gerade nicht der Fall. Zwar begeben sich zwei Menschen eines Teils ihrer Rechte, wenn und soweit sie eine Lebensgemeinschaft eingehen. Sie geben dabei jedoch nicht ihre Eigenverantwortlichkeit auf. Es entsteht lediglich eine gegenseitige Unterstützungs- und Hilfeleistungspflicht in den Fällen, in denen der Partner auf diese angewiesen ist. Nicht aber entsteht eine Art Vormundschaft für den anderen,551 die letztlich der Allgemeinheit und nicht dem Partner dient. Diese rechtliche Folge wird von einer Lebensgemeinschaft nicht bezweckt. Die Partner sollen sich nicht gegenseitig rechtlich und moralisch erziehen, sondern einander beistehen. (bb) Keine besondere Rechtspflicht zum Schutz des anderen Ehegatten vor sich selbst Eine Garantenstellung der Frau M kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Beistandspflicht in Betracht, da Herr M durchaus in der Lage ist, sich selbst zu „helfen“.552 Er bedarf der Hilfe seiner Frau nicht. Schließlich müßte er lediglich die Verkaufsverhandlungen abbrechen, um sogar vollständig einer möglichen Bestrafung zu entgehen. Eine solche Handlung wäre nämlich im Stadium der Verkaufsgespräche als Rücktritt, § 24 Abs. 2 S. 1 StGB, zu werten.553 551 Ebenso Konrad, Probleme der eheähnlichen Gemeinschaft im Strafrecht, 1986, S. 90. Vorsichtig zustimmend Schulte, Garantenstellung und Solidarpflicht, 2001, S. 69 f. 552 Hier spielt erneut das Kriterium der Eigenverantwortlichkeit eine Rolle, vgl. Kölbel, JuS 2006, S. 312: Derjenige, der sein Verhalten freiverantwortlich und gewollt gestalte, habe dafür selbst und allein einzustehen. Das Strafrecht verlange keinen Eingriff in die fremde Handlungsorganisation. 553 Ein bloßes „Nichtweiterhandeln“ würde hier für den Rücktritt genügen, da Frau M den Verkauf nicht alleine abwickeln würde und der Erfolg nur eintreten kann, wenn Herr M die Verhandlungen zu einem Abschluß, nämlich dem Verkauf, bringt. Hierzu

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

Eine besondere Pflicht der Frau M, ihren Mann von der Begehung von Straftaten abzuhalten, käme zu seinem Schutz lediglich dann in Betracht, wenn er geistig derart zurückgeblieben oder erkrankt wäre, daß er die Tragweite seines Handelns selbst nicht mehr übersehen kann. Ebenfalls garantenstellungsbegründend könnte eine krankhafte psychische Veranlagung zur Begehung von Straftaten sein. Beides müßte nicht nur objektiv vorliegen, sondern Frau M auch bekannt sein bzw. sie müßte aufgrund der während ihres Zusammenlebens mit ihrem Mann gemachten Erfahrungen auf solche Krankheiten schließen können. All dies ist in der geschilderten Fallvariante zu verneinen. (cc) Zwischenergebnis Folglich hat Frau M in der Abwandlung keine Garantenstellung und kann sich daher nicht wegen Beihilfe durch Unterlassen zum Betrug ihres Mannes strafbar gemacht haben. bb) Rechtsprechung zu dieser Fallkonstellation An den gerichtlichen Entscheidungen zu dieser Frage ist ein Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen und der tatsächlichen Verhältnisse ablesbar. (1) Frühere Urteile So hat das Reichsgericht mit Urteil vom 19.10.1937 die Garantenstellung eines Ehemannes gegenüber seiner Frau und damit eine Handlungspflicht des Ehemannes zugunsten der Allgemeinheit in einem Fall bejaht, in dem der Mann seine Frau mit mehreren Männern geschlechtlich verkehren ließ, ohne dagegen einzuschreiten.554 Er habe auf diese Weise durch Unterlassen den Tatbestand der Kuppelei verwirklicht. Mit der Beistandspflicht, die ein Ehemann gegenüber seiner Frau habe, hat das Reichsgericht in seinem Urteil vom 16.09.1940 die Garantenstellung des Ehemanns bejaht.555 Dieser hätte seine Frau von der Begehung eines Meineides abhalten und somit vor der Begehung einer Straftat bewahren müssen. Der Bundesgerichtshof hatte in seiner Entscheidung vom 15.10.1954 die Garantenstellung eines Ehemanns gegenüber dessen Ehefrau mit dem Argument

allgemein Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 24 Rn. 89. 554 RGSt 72, S. 19 f. 555 RGSt 74, S. 283 [285].

C. Eigener Begründungsansatz

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verneint, daß bei den beiden die eheliche Lebensgemeinschaft nicht mehr bestand: „Zwar kann unter Umständen aus der ehelichen Lebensgemeinschaft die Pflicht des Ehegatten folgen, den anderen von der Begehung einer strafbaren Handlung abzuhalten, und die Verletzung dieser Rechtspflicht kann jedenfalls dann ein Mitwirken bei der Straftat des anderen Teils sein, wenn diese Handlung im besonderen Herrschaftsbereich der Ehegatten – d.h. in der ehelichen Wohnung – stattfindet. [. . .] Voraussetzung ist, daß die Ehegatten geordnet und mit der Möglichkeit gegenseitiger Beeinflussung und Fürsorge zusammenleben. Daraus folgt, daß diese Pflicht in der Regel dann nicht besteht, wenn die Eheleute getrennt und in Ehescheidung leben.“556

Auf die Formel des besonderen Herrschaftsbereichs kam der Bundesgerichtshof noch einmal im Rahmen seines Urteils vom 22.01.1953 zurück: „Aus der ehelichen Lebensgemeinschaft folgt die Pflicht jedes Ehegatten, den anderen vor der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten. Die Verletzung dieser Rechtspflicht steht mindestens dann dem positiven Mitwirken bei der strafbaren Handlung des anderen gleich, wenn diese Handlung in dem besonderen Herrschaftsbereich eines jeden Ehegatten, nämlich der ehelichen Wohnung, stattfindet.“557

In der Entscheidung vom 19.12.1950 hat der Bundesgerichtshof zwar ebenfalls die Rechtspflicht einer Ehefrau bejaht, ihren Ehemann von einem Versicherungsbetrug abzuhalten.558 Jedoch stützte das Gericht seine Entscheidung hierbei nicht auf die eheliche Lebensgemeinschaft, sondern auf das Versicherungsverhältnis der beiden, das eine Gefahrengemeinschaft begründe.559 (2) Aktuelle Rechtsprechung An dieser Rechtsprechung halten die Gerichte inzwischen nicht mehr bzw. jedenfalls nicht mehr in dieser Klarheit fest. Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit, gerade auch unter Ehegatten, hat sich insofern weitgehend durchgesetzt.560 Der Bundesgerichtshof hatte dies in dem Urteil des 1. Strafsenats vom 05.05. 1964 noch offen gelassen: 556

BGHSt 6, S. 322 [323 f.]. BGH NJW 1953, S. 591. 558 BGH NJW 1951, S. 204 f. 559 Der Bundesgerichtshof und ein Großteil der Literatur bejahen sogar eine Garantenstellung des Versicherungsnehmers gegenüber der Versicherung aus dem Versicherungsvertrag und aus Treu und Glauben. Hierzu kritisch Wrage, JuS 2003, S. 986. 560 Hierzu auch Kretschmer, Jura 2006, S. 902; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, § 13 Rn. 32, 52. Im Zusammenhang mit der Erfolgszurechnung bei Fahrlässigkeitsdelikten: Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 684. 557

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

„Unter diesen Umständen kann es auf sich beruhen, wie es sich mit der Frage verhält, ob und inwieweit ein Ehegatte kraft der ehelichen Lebensgemeinschaft rechtlich verpflichtet ist, den anderen von Straftaten abzuhalten: ob die Rechtsprechung hierzu besagt [. . .], daß er schlechthin als Teilnehmer an dem Rechtsbruch des anderen in Betracht komme, wenn er ihn nicht verhindert oder wenigstens zu verhindern sucht; oder ob die Rechtsprechung, näher betrachtet, eine solche Rechtsfolge zwar noch dann annimmt, wenn der Ehegatte eine dem andern aus der eigenen Straftat unmittelbar drohende Gefahr pflichtwidrig nicht abwendet, die Folge aber nicht eintreten läßt, wenn die Straftat des anderen Teils sich allein gegen ein fremdes Rechtsgut richtete, für das der Ehegatte eigens keine Garantenstellung [. . .] einnimmt.“561

Zweifel des Bundesgerichtshofs an der bis dato gefestigten Rechtsprechung werden in diesem Urteil jedenfalls deutlich. Eindeutig gegen die frühere Rechtsprechung stellt sich dagegen das OLG Stuttgart in seinem Urteil vom 25.07.1085: „Aus der ehelichen Lebensgemeinschaft allein erwächst noch keine Garantenstellung, dafür zu sorgen, daß der andere Ehegatte keine Straftaten begeht.“562

Jede andere Auslegung führte zu einer nicht hinnehmbaren Ausweitung der strafrechtlichen Vorschriften. Dies sei auch mit dem Zweck der familienrechtlichen Normen, insbesondere mit § 1353 BGB nicht mehr zu vereinbaren. (3) Grund für diese Rechtsprechungsänderung Letztlich können zwei gesellschaftliche Entwicklungen als Grund für die veränderten gerichtlichen Entscheidungen und Argumentationswechsel gelten: Zum einen hat das Prinzip der Eigenverantwortung in der jüngeren Vergangenheit zunehmende Bedeutung erfahren.563 Zum anderen wird seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Eigenständigkeit von Ehegatten untereinander und in ihrer Ehe nicht mehr in Frage gestellt. Während früheren zivilrechtlichen Vorschriften zufolge der Ehemann viele rechtliche Angelegenheiten für seine Frau nicht nur regeln durfte, sondern laut Gesetz regeln mußte,564 sind die Ehegatten heute völlig selbständig. Damit kann aber auch 561

BGHSt 19, S. 295 [297]. OLG Stuttgart NJW 1986, S. 1767. 563 s. bereits oben die Nachweise in Fn. 107, S. 106, Fn. 455, S. 184, und Fn. 456, S. 184. 564 Dies regelten z. B. die folgenden Paragraphen, die in der ersten Fassung des BGB, als dieses am 01.01.1900 in Kraft trat, galten: § 1354 (Entscheidungsrecht des Ehemannes in ehelichen Angelegenheiten), § 1627 (Wahrnehmung der elterlichen Gewalt durch den Vater) oder auch § 1363 (Nutznießung des Vermögens der Ehefrau durch den Ehemann). Dieses patriarchalische System wurde insbesondere durch das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 aufgehoben, auf das weitere Gesetzesänderungen zur Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe folgten. 562

C. Eigener Begründungsansatz

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eine Art strafrechtliche Vormundschaft nicht mehr in Betracht gezogen werden. Jeder Ehegatte ist für sein Verhalten selbst (strafrechtlich) verantwortlich.565 c) Ergebnis Die beiden Fallvarianten haben gezeigt, daß Ehegatten einander Schutz und Beistand leisten müssen, wenn und soweit der jeweils andere sich nicht selbst helfen kann. Da jedoch beide für ihr Tun und Unterlassen selbst verantwortlich bleiben, geht die gegenseitige Verpflichtung nicht so weit, daß Ehegatten einander von der Begehung von Straftaten abhalten müßten. 2. Der Verantwortliche für Räume als Garant für deren Benutzer Aus Rechtsprechung566 und Literatur567 sind zahlreiche Beispiele bekannt, in denen sich die Frage stellte, ob jemand, der einer anderen Person Zutritt zu seinen Räumlichkeiten gewährt, für die Erhaltung der Rechtsgüter dieser Person besonders verpflichtet ist. Im folgenden soll eine Variante dieser Problemfälle mittels des Säulenmodells einer allgemeinen Lösung jenseits irgendwelcher Fallgruppen zugeführt werden. Eine entsprechende Lösung läßt sich auf die dargestellte Weise ohne weiteres auch für die anderen Varianten dieses Problems erarbeiten. a) Beispielsfall Herr W erfährt eines Nachmittags in seinem Tennisclub, daß ein sehr guter Freund von ihm, der wohlhabende Herr F, von dessen Frau verlassen worden 565 Zur „autonomen Selbstbestimmung“ von Ehegatten Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 46 ff. 566 Dazu näher unten Teil 4 C.IV.2.c), S. 224 ff. 567 Statt vieler anderer Freund, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, 2003, § 13 Rn. 144 f.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 115 ff.; Schulte, Garantenstellung und Solidarpflicht, 2001, S. 92 ff., 100 ff. (der die bisherige Rechtsprechung zu diesem Thema auswertet), jeweils m.w. N. Zur Garantenstellung des Internetcafé-Betreibers gegenüber Jugendlichen im Hinblick auf jugendgefährdende Internetinhalte wegen seiner Verantwortlichkeit für die in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden Gefahrenquellen sowie wegen der räumlichen Nähe zu den Internetnutzern Liesching/Knupfer, MMR 2003, S. 565 ff. A. A. wohl Hörnle, NJW 2002, S. 1012. Ihr zufolge können sich Personen, die Jugendlichen die Benutzung ihrer Computer gestatten, nur dann strafbar machen, weil die Jugendlichen bei dieser Benutzung auf jugendgefährdende rechtswidrige Inhalte gestoßen sind, wenn sie für die Jugendlichen Überwachergaranten sind. Eine Sicherungsgarantenstellung scheide aus, da die Besitzer des vernetzten Rechners keine Herrschaft über die auf anderen Servern gespeicherten Daten hätten.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

ist. Herr F sei seitdem sehr niedergeschlagen und benötige dringend Gesellschaft, um auf andere Gedanken zu kommen. Herr W lädt daraufhin Herrn F am nächsten Abend zu einem größeren Essen mit Freunden zu sich nach Hause ein. Unter diesen Freunden befindet sich auch Frau D, der es ebenfalls nicht gut geht, weil sie – was nur Herr W weiß – enorme Wettschulden hat. Im Laufe des Abends prahlt Herr F, den es immer in Hochstimmung versetzt, über sein Vermögen zu sprechen, mit seinen Bankkonten. Er wisse schon gar nicht mehr, was er mit all seinem Geld anfangen solle. Noch mehr Häuser und Autos könne er schließlich nicht kaufen und traditionelle Geldanlagen langweilten ihn. Frau D hört aufmerksam zu und beschließt, Herrn F bei günstiger Gelegenheit das Portemonnaie zu entwenden. Sie hofft auf größere Summen Bargeld, Kreditkarten und möglicherweise auch eine EC-Karte samt notierter Geheimzahl. Als sich die Herren zum Digestif auf die Dachterrasse begeben, gibt Frau D vor, noch die Toilette aufsuchen zu müssen. Tatsächlich hält sie sich im Speisezimmer verborgen, bis die anderen den Raum verlassen haben. Anschließend begibt sie sich zu dem Stuhl, über dessen Lehne noch das Sakko des Herrn F hängt. In diesem befindet sich das Portemonnaie des Herrn F. Als Frau D noch zögert, ob sie dieses wirklich entleeren soll, bemerkt sie, daß Herr W sie von der Terrasse aus beobachtet. Er wendet seinen Blick jedoch sofort wieder von ihr ab. Frau D geht daher zu Recht davon aus, daß Herr W nichts gegen sie unternehmen werde und fühlt sich nun so sicher, daß sie den Inhalt des Portemonnaies an sich nimmt: 5.000 Euro in bar, zwei goldene Kreditkarten und zwei EC-Karten, wobei für eine der beiden Karten ein Zettel mit einer Geheimnummer im Portemonnaie zu finden war. Herr W ist bewußt untätig geblieben, da er um die finanzielle Notlage der Frau D wußte und hoffte, auf diese Weise an einem Abend gleich zwei Freunden aus einer mißlichen Situation geholfen zu haben. Herr F werde seiner Meinung nach den Verlust ohnehin kaum spüren. b) Lösung mit Hilfe der ersten Säule Durch sein Verhalten könnte sich Herr W wegen Beihilfe durch Unterlassen zum Diebstahl der Frau D strafbar gemacht haben, §§ 242, 13, 27 StGB.568 Dafür müßte er zur Verhinderung der Wegnahme gegenüber Herrn F rechtlich besonders verpflichtet gewesen sein. Mit anderen Worten: Er müßte dazu verpflichtet gewesen sein, gegen Frau D einzuschreiten, indem er entweder Herrn 568 Das Problem einer möglichen psychischen Beihilfe durch positives Tun sei hier einmal außer acht gelassen.

C. Eigener Begründungsansatz

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F auf das Geschehen aufmerksam macht oder das Verhalten der Frau D selbst unterbindet. Wenn Herrn W solche Verpflichtungen durch den Staat auferlegt werden, greift der Staat hierdurch in die allgemeine Handlungsfreiheit des Herrn W ein. Dieser Eingriff ist freilich verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da er zum Schutz der Rechte anderer, genauer: zum Schutz des Eigentums des Herrn F (Art. 14 Abs. 1 GG) erfolgte. Einer genaueren Untersuchung bedarf indes auch hier noch die Frage, ob sich ein solcher Eingriff innerhalb der von der Verfassung gesetzten SchrankenSchranken bewegte. Dabei soll der Fokus erneut auf das Übermaßverbot gelegt werden. aa) Zweck der Verpflichtung Neben den allgemeinen Zwecken des § 13 StGB569 würde die entsprechende Verpflichtung des Herrn W das Eigentum und damit die Rechtsgüter des Herrn F schützen. bb) Geeignetheit Hierzu wäre die Verpflichtung geeignet. Griffe Herr W in das Handeln der Frau D ein, könnte diese den Inhalt des Portemonnaies von Herrn F mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr wegnehmen. Es ist lebensnah davon auszugehen, daß sie die Gegenstände gar nicht erst in ihren Gewahrsam gebracht hätte. Entweder hätte sie selbst von ihrem Vorhaben Abstand genommen, oder Herr W und dessen Gäste hätten sie an der Verwirklichung ihres Planes gehindert. cc) Erforderlichkeit Ein Eingreifen durch Warnung des Herrn F oder durch Abhalten der Frau D von deren weiterer Tatausführung stellt zugleich ein sehr wirksames und ausgesprochen mildes Mittel dar. Ein ebenso wirksames Mittel, das zudem weniger stark in die allgemeine Handlungsfreiheit des Herrn W eingreift, ist nicht ersichtlich. Insbesondere könnte das Herbeirufen der Polizei die Wegnahme nicht mehr verhindern, sondern allenfalls dazu beitragen, daß Herr F sein Eigentum zurückerhielte. Folglich wäre die Verpflichtung zum eigenen Einschreiten das mildeste aller gleich wirksamen Mittel. 569

Oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1), S. 162 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

dd) Angemessenheit der Verpflichtung Schließlich muß die Verpflichtung aber auch noch verhältnismäßig im engeren Sinne sein. (1) Erste Gewichtung der einzelnen Rechtsgüter Eine erste Güterabwägung zwischen den Rechten des Herrn W und denjenigen des Herrn F ergibt ein Überwiegen der Rechte des Herrn F. Dieser wird in seinem Eigentumsgrundrecht sehr stark tangiert, indem er sein Eigentum verliert. Herr W hingegen wäre nur gehalten, eine Freundin von einer Straftat abzuhalten, um damit einen anderen Freund bzw. dessen Rechtsgüter zu schützen. Von ihm wird letztlich nur ein klärender Satz erwartet, noch nicht einmal zwangsläufig eine aktive Handlung. Im Rahmen eines allgemeinen, von jedermann begehbaren Delikts wäre Herr W daher zum Handeln verpflichtet. Ein solches echtes oder besonderes unechtes Unterlassungsdelikt, für dessen Anwendung es keines Rückgriffes auf § 13 StGB bedürfte, existiert für die zu beurteilende Fallkonstellation freilich nicht. Anders ausgedrückt: Es gibt im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches keine eigene Norm, die explizit „Diebstahl durch Unterlassen“ oder „Unterlassene Diebstahlsverhinderung“ unter Strafe stellt. (2) Anwendbarkeit des § 13 StGB nach Berücksichtigung des zusätzlichen Abwägungskriteriums Zu klären ist daher, ob die Rechte des Herrn W so weit hinter diejenigen des Herrn F zurücktreten, daß er diesem gegenüber im Rahmen des § 13 StGB zur Vornahme der rettenden Handlung in besonderer Weise verpflichtet ist, und ob ein Ignorieren dieser Verpflichtung dazu führen darf, daß Herr W wie jemand bestraft werden kann, der aktive Beihilfe zu einem Diebstahl geleistet hat. Dazu müßte sich Herr W gegenüber Herrn F (eines Teils) seiner Rechte begeben haben, also auf das uneingeschränkte Gebrauchmachen von seiner allgemeinen Handlungsfreiheit verzichtet haben. (a) Rechtsverzicht durch Aufnahme in die Wohnung Es wäre denkbar, die Aufnahme des Herrn F in die Wohnung des Herrn W als Anknüpfungspunkt für einen solchen partiellen Rechtsverzicht anzusehen. Dadurch, daß Herr W seinen Freund in seine Wohnung gebeten hat, könnte er die Verpflichtung übernommen haben, die Rechtsgüter des Herrn F vor Schädigungen innerhalb der Wohnräume zu schützen.

C. Eigener Begründungsansatz

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(aa) Grundsatz Eine entsprechende rechtliche Wertung des Verhaltens des Herrn W ginge jedoch an der Realität vorbei. Warum sollte man für eine eigenverantwortlich handelnde, gesunde Person dadurch Schutzpflichten übernehmen, daß man sie in die eigene Wohnung aufnimmt?570 Durch die Aufnahme in die Wohnung wird der Gast weder schutzbedürftig noch verliert er seine Selbständigkeit. Er erwartet auch von seinem Gastgeber keine besonderen Schutzmaßnahmen. Vielmehr kann ein solches Geschehen nicht anders zu werten sein, als wenn der Gastgeber seinen Gast in ein Restaurant oder zu einem Picknick einlädt. Allein durch die Stellung als Gastgeber wird er nicht Garant. Etwas anderes ergibt sich auch grundsätzlich nicht aus der Tatsache, daß der Gastgeber die Herrschaft über seine Räumlichkeiten innehat. Er erlangt hierdurch nämlich nicht die Herrschaft über seine Gäste – weder über solche, die in seinen Räumen Straftaten begehen, noch über diejenigen, die in seiner Wohnung Opfer solcher Straftaten werden. (bb) Gefahrenquellen in der Wohnung Eine andere Bewertung wäre gerechtfertigt, wenn von der Wohnung selbst Gefahren ausgingen. Da ein Wohnungsinhaber über die Risiken in seiner Wohnung besser Bescheid weiß als seine Gäste, muß er sie vor diesen Risiken warnen und schützen. Anders formuliert: Wenn ein Wohnungsinhaber Gäste zu sich nach Hause einlädt, obwohl er weiß, daß in seiner Wohnung bestimmte Gefahrenquellen vorhanden sind (z. B. eine fehlende Treppenstufe, extreme Unebenheiten im Boden, über die man leicht stolpern kann, eine nicht ausreichend befestigte Balkonbrüstung), begibt er sich insofern seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG. Er nimmt bewußt bestimmte Risiken für seine Gäste in Kauf. Daher kann er sich hinterher nicht mehr in vollem Umfang auf seine allgemeine Handlungsfreiheit berufen. Vielmehr ist er in besonderem Maße dazu verpflichtet, seine Gäste zu warnen und die Gefahrenquellen so gut wie möglich abzusichern. Tut er dies nicht und erleiden die Rechtsgüter seiner Gäste hierdurch einen Schaden, hat er für diesen einem Begehungstäter entsprechend gem. § 13 StGB i.V. m. dem einschlägigen Begehungsdelikt einzustehen. (cc) (Besondere) Hilfsbedürftigkeit des eingeladenen Rechtsgutsinhabers Eine derartige rechtliche Wertung ist ebenso möglich, wenn es den Gästen des Wohnungsinhabers gerade an Verantwortlichkeit für sich selbst mangelt, 570

Ähnlich Rudolphi, NStZ 1984, S. 153.

224

Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

d.h. wenn und soweit es sich bei den Gästen um hilfs- und schutzbedürftige Menschen (z. B. Kranke, kleinere Kinder, alte Menschen) handelt, die in der Wohnung bestimmten Gefahren ausgesetzt werden können. Wenn ein Wohnungsinhaber beispielsweise bewußt einem geistig verwirrten Menschen in seiner Wohnung Zuflucht bietet, hat er (besonders) dafür einzustehen, daß diesem Menschen nichts geschieht. Durch die und für die Zeit der Aufnahme in den Schutzbereich der eigenen Wohnung übernimmt der Wohnungsinhaber die Verantwortung für den kranken Menschen, der diese nicht für sich selbst tragen kann. Der Wohnungsinhaber kann sich dieser Verantwortung jederzeit wieder dadurch entledigen, daß er den Menschen zurück nach Hause bzw. in dessen Heim oder Klinik bringt. Solange er ihn jedoch bei sich verweilen läßt, muß der Wohnungsinhaber die Rechtsgüter des Kranken vor Verletzungen in der Wohnung schützen. Er kann sich bei Gefahren nicht uneingeschränkt auf seine allgemeine Handlungsfreiheit berufen und den kranken Menschen hierdurch schutzlos stellen. Vielmehr weiß er um die Hilfs- und Schutzbedürftigkeit des Kranken, hat ihn dennoch in seine Wohnung aufgenommen und sich dadurch eines Teils seiner Rechte begeben. Dabei müssen die Gefahren für den schutzbedürftigen Menschen nicht nur von der Wohnung ausgehen. Vielmehr ist der Wohnungsinhaber auch für solche Gefahren verantwortlich, die von anderen Gästen herrühren. Diese hat er ebenfalls in seine Wohnung aufgenommen und damit die Anzahl der potentiellen Risiken für seinen kranken Gast erhöht. Herr F ist indes nicht in diesem Sinne krank. Zwar war er wegen des Auszugs seiner Frau niedergeschlagen. Dabei handelt es sich indes nicht um einen pathologischen Zustand, der die Verantwortlichkeit für den Schutz seiner eigenen Rechtsgüter beseitigt hätte. (b) Zwischenergebnis Da keine der genannten Sonderkonstellationen vorlag, ist Herr W allein durch Aufnahme des Herrn F für die Dauer einer Abendeinladung nicht besonders verpflichtet, dessen Rechtsgüter zu schützen. c) Überprüfung anhand der Rechtsprechung Die Rechtsprechung zu dieser Frage hat sich im Laufe der Jahre verändert. aa) Frühere Rechtsprechung Früher haben die höheren Gerichte Wohnungsinhaber per se als Garanten für die Personen angesehen, welche die Wohnung berechtigterweise betreten haben.

C. Eigener Begründungsansatz

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Der Bundesgerichtshof hatte mit Urteil vom 05.07.1966 entschieden, daß eine Gastwirtin in ihren Gasträumen eine Garantenstellung gegenüber ihren Gästen einnimmt, diese also vor Ausschreitungen und Straftaten anderer Gäste schützen muß.571 Für Wohnungsinhaber und Wohnungen hat dies erstmals der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 06.10.1976 explizit festgestellt:572 „Der Angeklagte hatte den Rentner in seiner Wohnung aufgenommen. Damit mußte er den gegen seinen Gast gerichteten Angriff abwehren. [. . .] Dabei kann dahinstehen, ob sich die Verpflichtung des Wohnungsinhabers schon daraus ergibt, daß ihm die Rechtsordnung auf der anderen Seite besondere Abwehrbefugnisse zum Schutz seiner Wohnung einräumt [. . .]. Denn hier hatte der Angeklagte den Rentner in seiner Wohnung aufgenommen und ihm deren Schutz zur Verfügung gestellt. Damit hatte er eine Vertrauensgrundlage geschaffen, die es rechtfertigt, ihn als Garanten zu betrachten. Wer sich auf Einladung des Wohnungsinhabers in eine fremde Wohnung begibt, darf sich darauf verlassen, daß ihm dieser – in seinem Herrschaftsbereich – bei schwerwiegenden Gefahren zur Seite steht. Das muß jedenfalls dann gelten, wenn dem Gast die Gefahren gerade durch seinen Aufenthalt in der Wohnung drohen, wenn also etwa – wie hier – die Bedrohung nicht von einem außenstehenden Dritten, sondern von einem anderen Gast ausgeht, den der Wohnungsinhaber selbst mit in die Wohnung gebracht hat.“573

Das OLG Stuttgart hat diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluß vom 17.09.1980 noch für richtig befunden,574 konnte sie jedoch wegen der Verschiedenheit der Sachverhalte nicht auf den von ihm zu entscheidenden Fall anwenden. Allerdings läßt das OLG bereits erkennen, daß jemand nicht qua Wohnungsinhaberschaft Garant für einen Gast ist, der sich eine Überdosis Heroin spritzt und hieran verstirbt. Vor Selbstgefährdungen des Gastes müsse der Wohnungsinhaber diesen nicht schützen, sondern nur vor Gefährdungen durch andere Gäste oder durch die Beschaffenheit der Wohnung selbst.

571

BGH NJW 1966, S. 1763. Die Entscheidung RGSt 72, S. 373 [374], beschäftigt sich zwar auch mit der Eigenschaft der die Kindstötung ihrer Tochter nicht hindernden Mutter als „Haushaltsvorstand“. Als solcher sei die Mutter zur Abwehr von Straftaten in ihrer Wohnung verpflichtet. Jedoch ergibt sich die Garantenstellung den Ausführungen des Reichsgerichts zufolge in diesem Fall bereits aus dem Mutter-Tochter-Verhältnis, zumal die Tochter noch minderjährig war und unter der elterlichen Gewalt ihrer Mutter stand: „Dann hatte sie kraft ihres Erziehungsrechts die Pflicht, dem ihr bekannten rechtswidrigen Vorhaben ihrer Tochter, die Entbindung o h n e j e d e n B e i s t a n d stattfinden zu lassen, damit das Kind in oder gleich nach der Geburt seinen Tode finde, nachdrücklich entgegenzutreten [. . .]. Vermöge ihrer Fürsorgepflicht, die ihr gegenüber ihrer Tochter oblag, mußte sie sich mindestens selbst zur Leistung des erforderlichen Beistandes bereithalten.“ 573 BGHSt 27, S. 10 [12 f.]. 574 OLG Stuttgart NJW 1981, S. 182. 572

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

bb) Aktuelle Entscheidungen Von dieser immer noch verhältnismäßig extensiven Bejahung der Garantenstellung von Wohnungsinhabern sind die Gerichte inzwischen indes abgerückt. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte bereits mit Urteil vom 24.02. 1982 entschieden: „Eine Pflicht des Wohnungsinhabers, jede in seinen Räumen befindliche Person gegen Straftaten anderer Personen zu schützen, wird in einem Teil des Schrifttums daraus hergeleitet, daß die Rechtsordnung ihm das Grundrecht der Unverletzlichkeit seiner Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) gewährt, die ein Eingreifen Dritter oder der Polizei erschwert (Art. 13 Abs. 2 GG, §§ 103, 104 StPO). [. . .] Hinzuweisen ist zunächst darauf, daß der Schutz des Hausrechts bei unmittelbar bevorstehenden schweren Straftaten, wie sich aus Artikel 13 Abs. 3 GG ergibt, ohnehin nicht besteht [. . .]. Zu bedenken ist weiter, daß die genannte Auffassung jeden Wohnungsinhaber ohne weiteres in die Rolle des Beschützers in seiner Wohnung befindlicher Menschen und in die einer Aufsichtsperson gegenüber denjenigen von ihnen zwingt, die andere in ihrer körperlichen Unversehrtheit angreifen, ohne daß hierfür eine alle gleichermaßen verpflichtende Rechtsgrundlage ersichtlich wäre und ohne daß der Wohnungsinhaber etwas anderes dazu beigetragen hätte als das Anmieten oder Innehaben seiner Wohnung. Aus dem Verfehlen dieser Rolle, die ihm ohne Rücksicht auf Verschulden oder auch nur Verursachen der entstandenen Gefahr für andere zugewiesen wird, soll ihm sodann eine strafrechtliche Haftung für die in seinen Räumen geschehene Rechtsgutsverletzung auferlegt werden. Diese weitgehende Gleichstellung des bloß untätig bleibenden Wohnungsinhabers mit dem eigentlichen Rechtsverletzer, durch die er zu dessen Komplizen wird, ist mit dem Sinn der Garantenhaftung, die ein „Einstehenmüssen“ für die Unversehrtheit des zu schützenden Rechtsgutes voraussetzt, nicht mehr zu vereinbaren. Sie dehnt den Bereich der mit strafrechtlichen Haftungsfolgen versehenen Handlungspflichten in den Bereich bloß sittlicher Pflichten, wie sie hier sicher gegeben waren, in unzulässiger Weise aus. [. . .] Eine Garantenpflicht des Wohnungsinhabers kann sich allerdings dann ergeben, wenn die Wohnung wegen ihrer besonderen Beschaffenheit oder Lage eine Gefahrenquelle darstellt, die er so zu sichern und zu überwachen hat, daß sie nicht zum Mittel für die leichtere Ausführung von Straftaten gemacht werden kann [. . .].“575

Die in dieser Arbeit aufgezeigten Voraussetzungen für eine verhältnismäßige Verpflichtung aus § 13 StGB finden sich ansatzweise in diesem Urteil wieder. Legt man das Urteil dem obigen Beispielsfall als Leitlinie für eine Lösung zugrunde, wird man zu demselben Ergebnis kommen, das zuvor bereits als Zwischenergebnis gefunden wurde.576 Auf diese Entscheidung hat der Bundesgerichtshof in zwei weiteren Urteilen Bezug genommen und auf dieselbe Weise argumentiert, um jeweils die Garan-

575 576

BGHSt 30, S. 391 [394 ff.]. Oben Teil 4 C.IV.2.b)dd)(2)(b), S. 224.

C. Eigener Begründungsansatz

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tenstellung einer Wohnungsinhaberin abzulehnen.577 Auch das OLG Zweibrükken hat sich die Argumentation des Bundesgerichtshofs zu eigen gemacht.578 Ähnlich hinsichtlich eines Grundstückes als Gefahrenquelle hat das OLG Zweibrücken in einem anderen Fall argumentiert.579 In diesem war dem Angeklagten vorgeworfen worden, den Cannabisanbau seines Nachbarn, mit dem er sich einen Garten teilte, nicht unterbunden zu haben.580 Lediglich aus seiner Stellung als Mitinhaber des Grundstückes resultierten noch keine Rechtspflichten des Angeklagten zur Verhinderung von Straftaten, die auf dem Grundstück von Dritten begangen werden. Nur wenn das Grundstück oder die Wohnung wegen ihrer besonderen Beschaffenheit und Lage eine Gefahrenquelle darstellten, habe der Inhaber sie so zu sichern, daß sie nicht zum Mittel für die leichtere Ausführung von Straftaten gemacht werden könnten. d) Ergebnis Unter Berücksichtigung beider Säulen einer Garantenstellung ist in dem Beispielsfall die besondere rechtliche Verpflichtung und damit eine Strafbarkeit des Herrn W zu verneinen. 3. Die gegenseitige besondere rechtliche Verpflichtung von Geschwistern Bis heute nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob Geschwister i. S. d. § 13 StGB rechtlich füreinander einstehen müssen.581

577

BGH NJW 1993, S. 76; BGH StV 1999, S. 212. OLG Zweibrücken StV 1999, S. 212 f. 579 OLG Zweibrücken StV 1986, S. 483. 580 In dem Beschluß BGH StraFo 2006, S. 468, hat der Bundesgerichtshof ebenso für den Wohnungsinhaber entschieden, der seine Wohnung an einen Dritten untervermietet hat, der wiederum in der Wohnung größere Mengen Rauschgifts lagerte und „Crack“ herstellte. Zwar hatte der Wohnungsinhaber bei einem Besuch der Wohnung in Abwesenheit des Untermieters von dessen illegalen Handlungen in der Wohnung Kenntnis erlangt, dagegen jedoch nichts unternommen. Der Bundesgerichtshof verneinte eine Garantenstellung des Wohnungsinhabers und damit die Strafbarkeit dessen Unterlassens (fehlendes Einschreiten gegen die Rauschgiftlagerung und Rauschgiftherstellung sowie gegen etwaiges Handeltreiben). 581 Für eine solche Garantenstellung spricht sich Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 13 Rn. 18, aus. Die Garantenstellung von Geschwistern verneinen z. B. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 32 Rn. 44 m.w. N.; Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 65. Lfg. April 2006, § 13 Rn. 49. 578

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

a) Fallkonstellation B und S sind zweieiige Zwillinge und fünfzehn Jahre alt. Sie leben gemeinsam mit ihren Eltern in einer Wohnung im Zentrum einer Großstadt. Eines Tages beschließen die Eltern, daß ihre Kinder nun groß genug sind, um auf sich selbst achtzugeben: Zum ersten Mal seit Jahren fahren die Eltern daher für ein Wochenende alleine weg und lassen die Kinder zu Hause zurück. B und S nutzen diese Freiheit, um mit ihren Freunden eine große Party zu feiern. S möchte sich abends vor der Feier noch „schön machen“, nimmt ein Bad und wäscht sich die Haare. Da ihr nicht mehr viel Zeit bleibt, bis ihre Gäste kommen, greift sie noch in der Badewanne sitzend nach dem Fön. Ihr Bruder B beobachtet dies heimlich durch die geöffnete Badezimmertür, schreitet jedoch nicht ein. S schaltet den Fön ein und beginnt, sich die Haare zu trocknen. Weil ihre Hände indes noch nicht vollständig abgetrocknet sind, gleitet ihr der Fön aus den Händen und fällt in das Badewasser. S erleidet einen heftigen Stromschlag, an deren Folgen sie stirbt. Gerichtsmediziner stellen bei der Obduktion fest, daß S mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch hätte reanimiert und gerettet werden können, wenn B sofort einen Notarzt alarmiert hätte. B blieb jedoch untätig. Seine launische und selbstverliebte Schwester war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Er wollte seine Eltern und seine Freunde endlich für sich allein haben und nicht mehr alles teilen müssen. Das leichtsinnige Verhalten seiner Schwester kam ihm daher gerade recht. b) Die Inhalte der ersten Säule als Lösungsansatz B könnte sich wegen Totschlags582 durch Unterlassen gem. §§ 212, 13 StGB strafbar gemacht haben. Dies setzt voraus, daß B gesetzlich zum Handeln, also zum Herbeirufen des Notarztes, verpflichtet war. Eine solche staatlich oktroyierte Verpflichtung griffe in sein Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, ein. Daher wäre die Verpflichtung nur verfassungsgemäß, wenn der Eingriff gerechtfertigt wäre und die verfassungsrechtlichen Schranken-Schranken wahrte. Von der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung kann hier ausgegangen werden, da der Eingriff zugunsten des Grundrechts der S auf Leben, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, erfolgte.583 Zu untersuchen bleibt lediglich, ob der Eingriff auch von den verfassungsrechtlichen Schranken-Schranken gedeckt wäre.

582 Der Frage, ob er sich auch wegen Mordes strafbar gemacht hat, weil er möglicherweise aus niedrigen Beweggründen gehandelt hat, soll an dieser Stelle bewußt nicht nachgegangen werden.

C. Eigener Begründungsansatz

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In diesem Beispielsfall soll wie in den vorangegangenen Fällen als Schranken-Schranke nur das Übermaßverbot interessieren. aa) Zweck einer Handlungsverpflichtung Der Zweck der Verpflichtung des B liegt neben den allgemeinen Zwecken des § 13 StGB584 im Schutz der Rechtsgüter der S, konkret: in dem Schutz ihres Lebens. bb) Geeignetheit der Verpflichtung zur Erreichung dieses Zwecks Als einzige Möglichkeit zur Rettung der S ist eine gesetzliche Handlungsverpflichtung auch geeignet, die genannten Zwecke zu erreichen. cc) Erforderlichkeit Die Verpflichtung stellt – schon weil es sich um die einzige Möglichkeit zur Rettung des Rechtsguts Leben der S handelt – zugleich das mildeste aller gleich wirksamen Mittel dar und ist folglich erforderlich. dd) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Schließlich muß sich die Verpflichtung bei einer Abwägung der einander gegenüberstehenden Rechtsgüter (allgemeine Handlungsfreiheit des B und Recht auf Leben der S) auch als ein angemessenes Mittel zum Rechtsgüterschutz erweisen. (1) Erste Gewichtung der betroffenen Rechtsgüter Bei einer ersten Bewertung überwiegt das Recht auf Leben der S. Zum einen handelt es sich bei dem aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG resultierenden Grundrecht um ein elementares, ein herausragend wichtiges Grundrecht. Zum anderen wird dieses Grundrecht durch das Untätigbleiben des B in seinem Kern betroffen: Die S stirbt, ihr Leben ist unwiederbringlich verloren. Die allgemeine Handlungsfreiheit des B wird hingegen nur im Randbereich tangiert: Er wird zu einer Handlung gezwungen, die in kurzer Zeit und ohne großen Aufwand vorgenommen werden kann. Nach dieser Handlung kann er sich wieder nach eige583 Vgl. hierzu schon die obigen Beispielsfälle [Teil 4 C.IV.1., S. 207 ff.; Teil 4 C.IV.2., S. 219 ff.] und die abstrakten Ausführungen zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung [Teil 4 C.III.2.g), Teil 4 C.III.2.h), S. 147 ff.]. 584 Oben Teil 4 C.III.2.h)ee)(1), S. 162 ff.

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Teil 3: Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens im allgemeinen

nem Belieben verhalten. Sein Recht muß also grundsätzlich hinter dasjenige seiner Schwester zurücktreten. Jedoch führt diese Gewichtung noch nicht automatisch zur Anwendbarkeit des § 13 StGB. Vielmehr zeigt sie nur, daß die Schranken-Schranken beachtet werden, wenn B zu einer bestimmten Handlung verpflichtet wird. Diese Verpflichtung resultiert indes bereits aus § 323c StGB. B ist also jedenfalls – wie jeder fremde Dritte – nach dieser Vorschrift verpflichtet, seiner Schwester bei dem Unglücksfall mit dem Fön Hilfe zu leisten. Für die Anwendbarkeit des § 13 StGB muß ein weiteres Abwägungskriterium zu Lasten von B in die Waagschale gelegt werden können. (2) Vorliegen des zusätzlichen Abwägungskriteriums für § 13 StGB Dieses Kriterium liegt in dem eigenen Verzicht auf die uneingeschränkte Ausübung der allgemeinen Handlungsfreiheit: Wer sich zu einem bestimmten Grad seiner Rechte begibt, kann nicht mehr deren vollständige Wahrung durch den Staat verlangen. (a) Grundsatz Geschwister verzichten indes nicht schon kraft ihres verwandtschaftlichen Verhältnisses auf einen Teil ihrer Rechte. Sie haben auf die Entstehung des jeweils anderen keinen Einfluß. Hierfür sind ausschließlich die Eltern verantwortlich. Mit der Geburt eines Geschwisterkindes begibt sich das andere Kind folglich keines seiner Rechte. Kraft seiner Stellung als Bruder kann B daher nicht gem. § 13 StGB zur Vornahme von Rettungshandlungen verpflichtet werden. Daneben hat er sich im Vorfeld des Unfalls auch nicht pflichtwidrig verhalten und sich dadurch zum Garanten für seine Schwester gemacht. Wer sich im Vorfeld eines Unglücksfalles pflichtwidrig verhält, begibt sich nämlich insofern eines Teils seiner Rechte, als er die durch ihn geschaffene Gefahr wieder beseitigen muß. Soweit hierzu bestimmte Handlungen notwendig sind, muß der Gefahrverursacher diese vornehmen. (b) Ausnahme Neben dem pflichtwidrigen Vorverhalten kann ein Verzicht auf die uneingeschränkte Ausübung der eigenen Rechte darin zu sehen sein, daß z. B. ein Bruder seine kranke und hilfsbedürftige Schwester, die anderenfalls in ein Heim eingewiesen worden wäre, zu sich nimmt.585 Er hat mit dieser Handlung die Verantwortung, Pflege und Sorge für seine Schwester übernommen.

C. Eigener Begründungsansatz

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Ebenfalls i. S. d. § 13 StGB zur Vornahme von Rettungshandlungen verpflichtet wäre ein Bruder, der gemeinsam mit seiner Schwester einen schwierigen Tauchgang in gefährlichen Gewässern unternimmt, wenn die beiden zum gegenseitigen Schutz gemeinsam getaucht sind. In diesem Fall kommt es auf ihre Verwandtschaft noch nicht einmal an. Einer verläßt sich auf den anderen: Der Bruder gewinnt Sicherheit durch die Anwesenheit seiner Schwester, verpflichtet sich aber gleichzeitig, ihr zu helfen, wenn sie in Not gerät. Er kann die Vornahme einer ggf. erforderlich werdenden Rettungshandlung nicht unter Hinweis auf seine allgemeine Handlungsfreiheit ablehnen. Entsprechende Beispiele für den Verzicht auf eigene Rechte durch bestimmte (einzelne) Handlungen ließen sich beliebig weiterführen. Eine derartige Handlung hat der B zugunsten seiner Schwester S jedoch nicht vorgenommen. ee) Zwischenergebnis Mangels eines zu Lasten des B eingreifenden zusätzlichen Abwägungskriteriums, das eine Anwendung des § 13 StGB ermöglichen würde, hat sich B nicht gem. §§ 212, 13 StGB strafbar gemacht. Er ist nur der unterlassenen Hilfeleistung, § 323c StGB, schuldig. c) Hinterfragung dieses Ergebnisses anhand der zweiten Säule aa) Entscheidungen der obersten Gerichte Obergerichtliche Entscheidungen zur rechtlichen Einstandspflicht von Geschwistern untereinander existieren nicht bzw. wurden jedenfalls bisher nicht veröffentlicht. Zwar haben sich die Gerichte allgemein mit der Überlegung beschäftigt, ob aus dem Zusammenleben einer Familie in häuslicher Gemeinschaft Garantenstellungen resultieren.586 Die „Blutsbande“ eines „Familienverbandes“ führten zur „engsten und natürlichsten Gemeinschaft“, aus der „in der Regel“ eine Rechtspflicht zur Abwendung schwerer Gefahren folge.587 Jedoch lassen sich diese jeweils auf den konkret zu entscheidenden Fall bezogenen Aussagen nicht abstrahieren und verallgemeinern, zumal sie keine Grenzen für die Einstandspflicht aufzeigen können: Sollten bei einer Verallgemeinerung dieser Rechtsprechung in der Seitenlinie auch noch Cousins dritten Grades rechtlich füreinander 585 Ähnlich Kretschmer, Jura 2006, S. 903, der – weiter formuliert – ein Zusammenleben der Geschwister fordert, das auf gegenseitiges Vertrauen und Beistand angelegt ist, um eine Garantenstellung zwischen den Geschwistern bejahen zu können. 586 Hierzu beispielsweise RGSt 69, S. 321 [323]. 587 BGHSt 19, S. 167 [169].

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einzustehen haben oder doch nur Cousins ersten Grades oder besser noch: nur Geschwister? Die obergerichtliche Rechtsprechung hilft daher in diesem Fall nicht weiter. bb) Urteile der unteren Instanzen Die einzige gerichtliche Entscheidung, die sich explizit mit der Frage beschäftigt hat, ob Geschwister füreinander Garanten sind, findet sich in einem Beschluß des LG Kiel vom 02.06.2003.588 Die Leitsätze dieses Beschlusses lauten: „1. Weder die Geschwistereigenschaft allein noch der hinzutretende Umstand, dass beide Geschwister zusammen eine Wohnung bewohnen, deren Miete sie sich teilen und in der sie eigene Zimmer haben, begründen unter ihnen eine Garantenstellung für die Unversehrtheit von Leib und Leben des jeweils anderen. 2. Maßgebend ist vielmehr, ob der zur Handlung aufgerufene Geschwisterteil den anderen in seine tatsächliche Obhut genommen hat.“

Zwar hat sich die Entscheidung ausweislich des Sachverhaltes und der Entscheidungsgründe nicht direkt mit § 13 StGB beschäftigt, sondern mit der Aussetzung, § 221 StGB. Das Gericht weist jedoch in dem Beschluß darauf hin, daß § 221 StGB „eine Garantenstellung voraussetzt, für deren Feststellung auf die Grundsätze des unechten Unterlassungsdelikts nach § 13 StGB zurückzugreifen ist“. Die Ausführungen des Gerichts lassen sich folglich unverändert auf § 13 StGB übertragen, da ihnen diese Norm ohnehin dogmatisch zugrundegelegt wurde. Der Hauptgrund für die Entscheidung, eine Garantenstellung unter Geschwistern zu verneinen, lag in der Unsicherheit, von welchem Grade an man ein Verwandtschaftsverhältnis als geeignet betrachten könne, die beteiligten Familienmitglieder zu gegenseitigen Garanten zu machen.589 Ein zuverlässiges, für 588 LG Kiel NStZ 2004, S. 157 ff. Diese Entscheidung hat in der Literatur bisher erstaunlich wenig Beachtung gefunden, obwohl sie die bisherige obergerichtliche Rechtsprechung verändert bzw. zumindest präzisiert. Selbst die aktuelleren Kommentare setzen sich inhaltlich nicht mit ihr auseinander, vgl. z. B. an den entsprechenden Stellen Rudolphi, in: Rudolphi/Horn/Günther/Samson (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 1, Allgemeiner Teil, Stand 40. Lfg. Februar 2005, § 13 Rn. 49; Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 27. Auflage 2006, § 13 Rn. 18; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 54. Auflage 2007, § 13 Rn. 7 ff.; Wohlers, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos-Kommentar Strafgesetzbuch, Band 1, 2. Auflage 2005, § 13 Rn. 55 ff. Eine vermittelnde Auffassung zwischen der bisherigen Rechtsprechung und dem Beschluß des LG Kiel nehmen unter Bezugnahme auf die landgerichtliche Entscheidung Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 36. Auflage 2006, Rn. 718, ein. Uneingeschränkte Zustimmung erfährt der Beschluß des LG Kiel von Nikolaus, JA 2005, S. 607 f., 611, während er von Otto, Jura JK 2004, StGB § 13/39, abgelehnt wird. 589 LG Kiel NStZ 2004, S. 157 [159].

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den (Unterlassungs-)Täter vorhersehbares Kriterium für die Begründung einer Garantenstellung ist wegen dieser Unsicherheit in der „Verwandtschaft“ bzw. der „Familie“ als solcher nicht zu sehen. Vielmehr erscheine es überzeugender, „[. . .] allein auf das Bestehen von tatsächlichen Obhutsverhältnissen, wodurch auch immer sie begründet seien, abzustellen. Dafür spricht bereits der Umstand, dass solche Obhutsverhältnisse von den als Garanten in die Pflicht zu nehmenden Beteiligten regelmäßig bewußt begründet werden und deshalb schon aus sich heraus eine Appellwirkung in Richtung einer Beistandsleistung entfalten. Nur ein Abstellen auf derartige Parameter gewährleistet, dass das Risiko einer Bestrafung für den Normadressaten noch vorhersehbar ist [. . .], während die bloßen Familienbande als solche ihre diesbezügliche Funktion angesichts der sich immer weiter vervielfachenden Bedingungen, unter denen die Angehörigen eines solchen Verbandes zusammenleben oder sich begegnen, eingebüßt haben.“590

Diese Entscheidung kommt daher zu demselben Ergebnis, zu dem auch die Fallösung mittels der ersten Säule gelangt ist. Selbst die Begründung deckt sich jedenfalls in Ansätzen mit dem hier erarbeiteten Lösungsmodell. Ob die Entscheidung eines Gerichts der unteren Instanzen geeignet ist, die Erwartungen „der Gesellschaft“ zuverlässig wiederzugeben, darf bezweifelt werden. Zumindest aber übernimmt sie die Funktion eines gewissen Indikators, anhand dessen allemal eine Plausibilitätskontrolle der mittels der ersten Säule gefundenen Lösung vorgenommen werden kann. d) Abschließende Lösung des Falles Nach alledem hat B für die Rechtsgüter seiner Schwester nicht i. S. d. § 13 StGB rechtlich einzustehen. Er kann daher lediglich aus § 323c StGB bestraft werden. Jedes andere Ergebnis wäre bei der vorliegenden Fallkonstellation verfassungswidrig.

V. Gesamtergebnis 1. Zusammenfassung des eigenen Begründungsansatzes Das Fundament der Garantenstellung besteht nach alledem aus den beiden Grundpfeilern „Grundgesetz“ und „gesellschaftliche Erwartungen“. Sie stellen die Voraussetzungen für eine Garantenstellung dar. Den beiden Grundpfeilern kommt freilich nicht identisches Gewicht zu. Vielmehr haben die bisherigen Ausführungen bei genauer Betrachtung ergeben, daß die verschiedenen Anforderungen an eine Garantenstellung im wesentlichen unter einen Oberbegriff subsumiert werden können. Um in dem prägnanten Bild 590

LG Kiel NStZ 2004, S. 157 [159].

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der beiden Pfeiler zu bleiben, heißt dies: Beide Grundpfeiler werden hauptsächlich aus einer bestimmten, für die Stabilität des Bauwerks entscheidenden Bausubstanz hergestellt, nämlich aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Der zweite Pfeiler, bestehend aus den gesellschaftlichen Erwartungen, dient für die bereits gerichtlich entschiedenen Unterlassungskonstellationen lediglich zur Überprüfung des gefundenen Ergebnisses. Er ist für sich alleine nicht in der Lage, eine Garantenstellung zu begründen. Ob sich ein Unterlassender wegen eines Begehungsdelikts in Verbindung mit § 13 StGB oder wegen § 323c StGB (bzw. eines anderen echten Unterlassungsdelikts) oder gar nicht strafbar macht, ist daher letzten Endes immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Wenn ein aktiv Handelnder einen Erfolg kausal und zurechenbar herbeiführt und dabei sowohl rechtswidrig als auch schuldhaft handelt, macht er sich ohne weiteres strafbar. Der Gesetzgeber hat sich jedoch dafür entschieden, daß nicht jeder bestraft werden soll, der eine Rettungshandlung unterläßt und dadurch einen tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführt, der ihm auch objektiv zuzurechnen ist. Vielmehr muß er entweder ein besonderes Delikt, das diese Unterlassung zur Voraussetzung hat, verwirklichen, oder er muß die Anforderungen des § 13 StGB erfüllen. Danach macht sich nur strafbar, wer rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt.591 Eine rein sittliche oder moralische Pflicht begründet diese besondere Handlungspflicht nicht.592 Die Antwort auf die Frage, wann jemand in diesem Sinne rechtlich einzustehen hat, sowie die Gründe für die Entstehung von Garantenstellungen lassen sich jedenfalls im letzten Prüfungsschritt stets auf das verfassungsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit zurückführen. Ob sich jemand wegen unechten Unterlassens strafbar macht, ist demzufolge eine Frage, die für jeden einzelnen Fall im Rahmen einer Abwägung gesondert entschieden werden muß. Einer jeden Einzelfallentscheidung liegen dabei die aufgezeigten Richtlinien zugrunde, an die sich der Rechtsanwender halten kann und muß – Richtlinien, welche die Voraussetzungen einer Garantenstellung im Gesetz bestimmbar werden lassen. Ihretwegen bzw. genauer: weil sie in § 13 StGB zugrundegelegt werden, verstößt § 13 StGB auch nicht gegen den Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG.593 Da eine 591 Zu dem Erfordernis der rechtlichen Pflicht und der schleichenden Aufweichung dieser Voraussetzung vgl. Busch, in: FS-von Weber, 1963, S. 196 f. 592 Eine solche würde auch heute noch nicht ausreichen: BVerfG NJW 2003, S. 1030; Konrad, Probleme der eheähnlichen Gemeinschaft im Strafrecht, 1986, S. 78 f. Seebode, in: FS-Spendel, 1992, S. 328 ff., attestiert der heutigen Strafrechtspraxis freilich, daß sie primär mit sittlich-moralischen Pflichten operiere. So stellten die Garantenstellungen aus Ingerenz, Lebens-, Familien-, Gefahr- und Wohngemeinschaft nichts anderes dar als Grundlagen einer moralisch begründeten Handlungspflicht. Rechtlich könnten diese Pflichten nicht begründet werden.

C. Eigener Begründungsansatz

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begehungstätergleiche Bestrafung des Unterlassenden nur dann verhältnismäßig ist, wenn dieser sich selbst (eines Teils) seiner Rechte begeben hat, ist es für ihn ohne weiteres individuell vorhersehbar, mit welchem Unterlassen er sich einem Begehungstäter entsprechend strafbar macht. Schließlich besteht nicht die Gefahr, daß statt des Gesetzgebers allein der Richter über die Strafbarkeit des Unterlassens an sich entscheidet.594 Vielmehr hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, daß das Unterlassen strafbar sein soll, wenn der Unterlassende für das Ausbleiben des Erfolges rechtlich einzustehen hat. Der Gesetzgeber hat zwar den Begriff des „Einstehenmüssens“ nicht definiert. Er hat aber mit seiner Gesetzesformulierung in Zusammenschau mit den übrigen Regelungen des StGB zu verstehen gegeben, daß es unverhältnismäßig wäre, jeden, der die ihm mögliche Rettungshandlung unterläßt, schon deswegen wie einen Begehungstäter zu bestrafen. Folglich hat er den Gerichten 593 Es handelt sich letztlich um eine verfassungskonforme Auslegung. Wenn der genaue Inhalt eines Strafgesetzes mit Hilfe solch einer gängigen Auslegungsmethode ermittelt werden kann, verstößt die jeweilige Norm nicht gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Vgl. hierzu auch die ausführlichen Darstellungen dieses Problems bei BVerfGE 45, S. 363 [371]: „Das Gebot der Bestimmtheit des Gesetzes darf nicht übersteigert werden; die Gesetze würden sonst zu starr und kasuistisch und könnten der Vielgestaltigkeit des Lebens, dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden. Diese Gefahr läge nahe, wenn der Gesetzgeber jeden Tatbestand bis ins letzte ausführen müßte [. . .]. Das Strafrecht kann deshalb nicht darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden, die formal nicht allgemeingültig umschrieben werden können und mithin in besonderem Maße einer Deutung durch den Richter bedürfen. Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit bedeutet also nicht, daß der Gesetzgeber gezwungen ist, sämtliche Straftatbestände ausschließlich mit rein deskriptiven, exakt erfaßbaren Tatbestandsmerkmalen zu umschreiben [. . .] Generalklauseln oder unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht sind deshalb nicht von vornherein verfassungsrechtlich zu beanstanden. Gegen die Verwendung derartiger Klauseln oder Rechtsbegriffe bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften desselben Gesetzes, durch Berücksichtigung des Normzusammenhanges oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen läßt, so daß der Einzelne die Möglichkeit hat, den durch die Strafnorm geschützten Wert sowie das Verbot bestimmter Verhaltensweisen zu erkennen und die staatliche Reaktion vorauszusehen.“ Ganz ähnlich BVerfGE 48, S. 48 [56]; 86, S. 288 [311]. BVerfGE 78, S. 374 [389], hingegen beschäftigt sich mit einem Fall, in dem diesen Anforderungen nicht mehr genügt wurde. 594 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung BVerfGE 73, S. 206 [235], verdeutlicht, daß „sichergestellt werden [muß], daß der Gesetzgeber über die Strafbarkeit entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, über die Voraussetzungen einer Bestrafung selbst zu entscheiden. Wenn hiernach Strafvorschriften in der dargelegten Weise bestimmt sein müssen, so schließt dies nicht eine Verwendung von Begriffen aus, die in besonderem Maße der Deutung durch den Richter bedürfen. [. . .] Auch ist wegen der Allgemeinheit und Abstraktheit von Strafnormen unvermeidlich, daß in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. [. . .] In Grenzfällen ist auf diese Weise für ihn wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar.“

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das Erfordernis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgegeben. Die Gerichte entscheiden wie bei jeder anderen Norm über den Einzelfall nach den Kriterien, die der Gesetzgeber ihnen vorgegeben hat – bei § 13 StGB richtigerweise in erster Linie mittels des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. 2. Abschließende Definition der Garantenstellung Garant ist folglich derjenige, der die Handlungsherrschaft besitzt und der durch eine bestimmte Handlung (im weitesten Begriffssinne) gegenüber dem Opfer einer Straftat wenigstens teilweise auf die uneingeschränkte Ausübung seiner Rechte, insbesondere seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG, verzichtet hat. Diese Verzichtshandlung, die in einer unbestimmten Vielzahl von Verhaltensweisen liegen kann und deren Vorliegen daher für jeden Einzelfall gesondert zu prüfen ist, stellt den Anknüpfungspunkt dafür dar, daß der Unterlassende wie ein Begehungstäter bestraft werden kann. Das hierbei aufgefundene Ergebnis wird anschließend – soweit möglich – anhand aktuellerer gerichtlicher Entscheidungen überprüft. Ein mittels der ersten Säule aufgefundenes Ergebnis, das im Widerspruch zu einem früheren Urteil oder Beschluß steht, kann ein Indiz für eine zwischenzeitlich erfolgte Änderung in den gesellschaftlichen Wertanschauungen sein, so daß der zweiten Säule insgesamt weit weniger Aussagekraft zukommt als der ersten. Dieser Schluß ist schon deshalb zwingend, weil der Gesetzgeber – wie gesehen – den § 13 StGB bewußt offen formuliert hat, um die Bejahung einer Garantenstellung auch in Fallkonstellationen zu ermöglichen, über die bis dato kein Gericht zu entscheiden hatte. Die gesamte Prüfung des „rechtlichen Einstehenmüssens“ wird in der Regel umfangreich und detailliert erfolgen müssen. Das bedingt einen gewissen Aufwand im Einzelfall. Dafür ergibt sich am Ende eine Garantenstellung, die aus verfassungsrechtlichen Vorgaben resultiert, die mit dem Telos des § 13 StGB übereinstimmt und die auf Veränderungen in der rechtlichen und gesellschaftlichen Ordnungsstruktur reagieren kann. Die Begründung der Garantenstellung erfolgt interessengerecht und praxistauglich. Den Gerichten werden eindeutige Kriterien für ihre Entscheidungen an die Hand gegeben. Der Inhaber des gefährdeten Rechtsguts wiederum bekommt eine „Garantie der – vom Staat durch die Etablierung einer Garantenpflicht organisierten – Solidarität“,595 die rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt. Im Ergebnis werden so die Schwierigkeiten, die sich aus der Arbeit mit Fallgruppen ergeben, ebenso vermieden wie das aus ihnen resultierende Maß an Rechtsunsicherheit. 595

Beulke, in: FS-Küper, 2007, S. 5 mit Fn. 44.

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Stichwortverzeichnis Abbruch medizinischer Behandlung siehe Behandlungsabbruch absolute Strafzwecktheorien siehe Strafzwecke Abwägung beim Übermaßverbot 155, 159, 161, 234, siehe auch Eingriff in Grundrechte Abwehrrechte 144, 148 actio libera in causa 28 aktives Handeln siehe positives Tun allgemeine Handlungsfreiheit 141, 155, 184, 185, 187, 188, 189, 195, 197, 208 ff., 221 ff., 228 ff. Allgemeiner Teil des Strafgesetzbuchs siehe Strafgesetzbuch Alternativentwurf eines Strafgesetzbuchs siehe Entwurf eines Strafgesetzbuchs Analogie 110, 116 Auffanggrundrecht 141 Aufklärung 34 Aufsichtsgarant siehe Garantenstellung Auslegung 18 f., 29, 34, 43, 48, 55, 74, 80, 124 f., 130 ff., 139, 141, 143, 176, 177, 182, 202, 218 Auslegungsfähigkeit von § 13 StGB 55, 131, 234 Auslegungsmethoden 18, 136 Aussetzung 232 ausufernde Unterlassungsstrafbarkeit siehe Unterlassen Bambergische Halsgerichtsordnung 33 Begehungsdelikt – allgemein 20, 21, 61, 67, 77, 79, 122 – durch Unterlassen 27, 32, 41 begehungsgleiches Unterlassen siehe Unterlassen Behandlungsabbruch 65

Bergsteigergruppe 89 Beschützergarant siehe Garantenstellung Besonderer Teil des Strafgesetzbuchs siehe Strafgesetzbuch Bestimmtheitsgrundsatz siehe Grundsatz Betreuungseinrichtung 196 Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers 157, 158, 181 f. Broken-Windows-Theory 167 f. Bürgerrechte 143 f. Bundesgerichtshof 73, 90, 91, 171, 199 f., 203 ff., 206 f., 216 ff., 225 ff. Bundesverfassungsgericht 54, 82, 131, 135, 152, 153, 155, 159, 161, 164, 171, 178, 181, 184, 185, 191, 198 f., 203 case law 17 Constitutio Criminalis Carolina 33 Eigenständigkeit von Ehegatten 218 Eigenverantwortlichkeit 106, 110, 184, 194, 196 f., 215, 217 ff., 223 Eigenverantwortung siehe Eigenverantwortlichkeit Eingriff in Grundrechte – allgemein 140, 141, 145 ff., 209 – angemessener 154, 155, 158 ff., 182 ff., 210 f., 214 ff., 221 ff., 229 ff. – erforderlicher 155, 157, 178 ff., 210, 214, 221, 229 – faktischer siehe weiter gefaßter – geeigneter 155, 156, 177 f., 210, 214, 221, 229 – gerechtfertigter 142, 147, 149, 228 – klassischer 146, 152 – mildester unter allen gleich wirksamen siehe erforderlicher

Stichwortverzeichnis – – – – –

mittelbarer siehe weiter gefaßter proportionaler siehe angemessener unmittelbarer siehe klassischer verfassungswidriger 147 verhältnismäßiger Eingriff im engeren Sinne siehe angemessener – weiter gefaßter 146 – zu einem legitimen Zweck 155, 156, 162, 176 f., 210, 214, 221, 229 Eingriffskautele siehe SchrankenSchranke Einschätzungsprärogative siehe Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers Einsichtsfähigkeit 197 Einzelfallgesetz siehe Verbot des Einzelfallgesetzes Energieeinsatz 64, 65 f. Entsprechensklausel – allgemein 78 ff., 122 f. – Verfassungsmäßigkeit der 80 f. Entstehungsgeschichte 23, 27, 30, 31, 162 Entwurf E 1962 siehe Entwurf eines Strafgesetzbuchs Entwurf eines Allgemeinen Strafgesetzbuchs 37 Entwurf eines Strafgesetzbuchs – von 1956 49 – von 1959 49 – von 1962 (sog. Regierungsentwurf) 51, 73, 78, 82 – von 1966 (sog. Alternativentwurf) 53 – von 1969 54 Entwurfsbegründung 52, 73 Erfolg – Ausbleiben eines 191 – Bewirken eines Erfolgs durch Unterlassen siehe Unterlassen – gleichwertiger 76 – in seiner konkreten Gestalt 71, 74 – strafrechtlich relevanter 24, 25, 29, 30, 45, 70 f., 73 – tatbestandsmäßiger 76, 193

251

Erfolgsabwendungspflicht siehe Garantenstellung Erfolgsdelikt 25, 70 ff., 79 Erwartung – einer Handlung in der Gesellschaft 59, 61, 104, 133, 136, 198 ff., 212, 233 ff., siehe auch Garantenstellung – enttäuschte 59 – gegenseitige Erwartungshaltung siehe Garantenstellung – Grundlage einer Handlungserwartung 59 – (straf)rechtlich begründete 59, 60, 66 – Unterlassungserwartung 59 Erziehung des Täters durch Strafe siehe Strafe Europarecht siehe Garantenstellung Ewigkeitsklausel 202 Fahrlässigkeitsdelikt 67 fakultative Strafmilderung siehe Strafmilderung Fallgruppe 17 familiäre Pflichten siehe Garantenstellung formelle Rechtspflichttheorie siehe Garantenstellung Freiheitsrechte 142, siehe auch Grundrechte Funktionenlehre 46 Garantengruppen 17, 45, 97, 98, 207 Garantenpflicht – Abgrenzung von der Garantenstellung siehe Garantenstellung – allgemein 81, 85, 86, 136 Garantenstellung – Abgrenzung von der Garantenpflicht 84 ff. – abstrakte 129 – allgemein 26, 41, 51, 78, 82 ff., 177, 193 – als Äquivalent zur Kausalität 96 ff. – als sozialethische Schutzpflicht 101

252

Stichwortverzeichnis

– aufgrund Abhängigkeit des Opfers 93 ff. – aufgrund Ausnutzung einer Gefahrenlage 98 – aufgrund Begebung eigener Rechte siehe aufgrund Verzichts auf eigene Rechte – aufgrund eigenen Zugriffs 118 – aufgrund enger natürlicher Verbundenheit 40, 43, 89, 92 ff., 118 – aufgrund Europarechts 139 – aufgrund faktischer Herrschaft siehe aufgrund Sachherrschaft – aufgrund faktischer Übernahme siehe aufgrund tatsächlicher Übernahme – aufgrund familiärer Pflichten 40, 231 – aufgrund fremden Vertrauensakts 118, 194, 205 – aufgrund Gefahrgemeinschaft 92, 130, 231 – aufgrund Gefahrschaffung 96 ff., 103, 131, siehe auch aufgrund Sachherrschaft – aufgrund gegenseitiger Erwartungen 103 ff., 109 f. – aufgrund Gemeinschaftsverhältnisses siehe aufgrund enger natürlicher Verbundenheit – aufgrund gesellschaftlicher Erwartungen 133, 135 f., 196, 198 ff., 205 ff., 212, 233 ff. – aufgrund Gesetzes 34 – aufgrund von Grundrechten 136 ff., 233 ff., siehe auch aufgrund höherrangigen Rechts – aufgrund häuslicher Gemeinschaft 231 – aufgrund Herrschaft über den Erfolgsgrund 112 ff., 117 ff. – aufgrund höherrangigen Rechts 133 ff., 233 ff. – aufgrund Ingerenz siehe aus vorangegangenem Tun – aufgrund institutioneller Zuständigkeit siehe aufgrund Obhut

– aufgrund Näheverhältnisses siehe aufgrund enger natürlicher Verbundenheit – aufgrund nichtigen Vertrages 39 – aufgrund Obhut 45, 46, 97, 110 f., 117 f., 119, 127, 131 – aufgrund Organisationszuständigkeit siehe aufgrund Gefahrschaffung – aufgrund rechtlicher Befehlsgewalt siehe aufgrund Sachherrschaft – aufgrund Sachherrschaft 45, 46, 92, 111, 117 f., 131 – aufgrund sozialer Funktion 111 – aufgrund sozialer Rolle 99 ff., 107 f. – aufgrund Tatherrschaft 114 ff. – aufgrund tatsächlicher Übernahme 39, 40, 43, 91, 121 f., 130, 204, 233 – aufgrund Übertragung der Herrschaft 118 – aufgrund Verschwägerung 130 – aufgrund Vertrauens innerhalb eines Systems 103 – aufgrund Vertrauensverhältnisses siehe aufgrund enger natürlicher Verbundenheit – aufgrund Verwandtschaft 130, 231 – aufgrund Verzichts auf eigene Rechte 188 ff., 195 ff., 211, 222 f., 230 f., 235 f. – aufgrund vorangegangenen Tuns 38, 41, 42, 88, 118, 192, 230, siehe auch aufgrund Gefahrschaffung – aufgrund wirksamen Vertrages 34, 38, 39 – aufgrund Wohngemeinschaft 89 – Aufsichtsgarant siehe aufgrund Sachherrschaft – aus zivilrechtlichen Vorschriften 38, 40, 41, 88 – Beschützergarant siehe aufgrund Obhut – Definition einer 236 – de lege ferenda 130 ff. – der Großeltern 121 – der Mutter 24, 39, 40, 46, 59, 66, 93, 107, 109, 121, 122 f., 129, 162, 196 f.

Stichwortverzeichnis – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

der Schwester siehe von Geschwistern des Babysitters 97, 121 des Bruders siehe von Geschwistern des Ehegatten 207 ff., 213 ff. des Eigentümers 119 f. des quivis ex populo 126 f., 183 f., 185, 195 des Vaters 24, 33, 86, 109 f., 126, 197 eines behandelnden Arztes 206 f. eines Bereitschaftsarztes 203 ff. einer Bergsteigergruppe füreinander 89 eines Gastgebers siehe eines Verantwortlichen für Räume eines Verantwortlichen für Räume 219 ff. Ende einer 195, 197, 224 Entstehungsgründe einer 50, 52, 78, 82, 83, 92, 111, 130, 132 gegenüber behinderten Kindern 197 gegenüber geistig Verwirrten 224 gegenüber Kranken 224, 230 gemäß bestimmter Grundfälle 43, 44 Grenzen einer 41, 107, 135, 195, 197, 224, 231 Grundpfeiler einer 133 ff., 233 ff. Hütergarantenstellung siehe aufgrund Obhut Irrtum über Voraussetzungen einer 86 Katalog der Voraussetzungen einer 78, 82, 83, 134 f. nach einer Notwehrsituation 42 nach Verhinderung von Rettungsmaßnahmen 103 Normierung der einzelnen 54, 130 ff., 134 rechtlich verbindliche Kriterien für eine 41, 109, 134 Säulen einer siehe Grundpfeiler einer subsidiäre 197 Theorien zur Begründung einer – erweiterte Rechtspflichttheorien 89 – ethnomethodologische Garantenlehre siehe gegenseitige Erwartungen

– – – – –

253

formelle Rechtspflichttheorie 87 ff. Funktionenlehre 110 ff. Herrschaftstheorie 112 ff., 129 materielle Garantenlehren 92 ff. Säulenmodell siehe Grundpfeiler einer – soziologische Ansätze 99 ff. – Systemtheorie 102 f., 108 f. – Überwachungsgarant siehe aufgrund Sachherrschaft – Veränderung von Garantenstellungen 106, 203, 236 – von Geschwistern 227 ff. – von Kindern gegenüber ihren Eltern 114 – Voraussetzungen einer siehe Entstehungsgründe Gefährdungsdelikt – abstraktes 70 f. – konkretes 70 Gefahr – abstrakte 25 – konkrete 25 – Verursachung einer 194 gegenseitige Erwartungen siehe Garantenstellung Gemeinwohl 43 Generalklausel 55 Generalprävention siehe Strafzwecke gerechtfertigtes Verhalten siehe Handlung Gerichtspraxis siehe Rechtsprechung Gesamtentwurf eines Strafgesetzbuchs siehe Entwurf eines Strafgesetzbuchs gesellschaftliche Rolle siehe Rolle in der Gesellschaft Gesetz – dem StGB gleichrangiges 137 ff. – materielles 137 – nachkonstitutionelles 152 – ungeschriebenes 37, 38 – vorkonstitutionelles 152 Gesetzesbegründung 137

254

Stichwortverzeichnis

Gesetzesgeschichte siehe Entstehungsgeschichte Gesetzeszweck siehe Telos Gleichwertigkeitsklausel 52, 83 Große Strafrechtskommission 49, 134 Grundfälle siehe Garantenstellung Grundpfeiler einer Garantenstellung siehe Garantenstellung Grundrecht – Adressat 145 – als Grundlage einer Garantenstellung siehe Garantenstellung – Eingriff in ein siehe Eingriff in Grundrechte – gerechtfertigter Eingriff in ein siehe Eingriff in Grundrechte – Kernbereich eines 187 – Konkretisierung eines 145 – mit Gesetzesvorbehalt 148 f. – nach Maßgabe der Gesetze 150 – Randbereich eines 187 – Rang eines Grundrechts in der Verfassung 187 – Schranken eines siehe Schranken – Schutzbereich eines – allgemein 142, 143 ff., 209 – persönlicher 143 f. – sachlicher 144 f. – Schutzgegenstand siehe Schutzbereich eines – Tatbestand eines siehe Schutzbereich eines – Verpflichteter eines siehe Adressat eines – vorbehaltlos gewährleistetes 148, 149 f., 152 Grundrechtsausgestaltung – Abgrenzung zum Grundrechtseingriff 147 – allgemein 145 Grundrechtseingriff siehe Eingriff in Grundrechte Grundrechtsprüfung 142 Grundrechtsschranken siehe Schranken

Grundrechtstatbestand siehe Grundrecht Grundrechtsverletzung siehe Verletzung von Grundrechten Grundrechtsverpflichteter siehe Grundrecht Grundsatz – Bestimmtheitsgebot siehe Bestimmtheitsgrundsatz – Bestimmtheitsgrundsatz 19, 47, 50, 54, 55, 80, 99, 116, 131, 136, 161, 199, 234 – Gesetzlichkeitsprinzip siehe nulla poena sine lege (certa) – nulla poena sine lege 36, 113 – nulla poena sine lege certa 169 – nullum crimen sine lege 36 – Strafrecht als ultima ratio 43, 90, 138, 158 Güterabwägung siehe Rechtsgut gute Sitten 199 f. Handlung – als Oberbegriff von Tun und Unterlassen 60, 61 – Definition der 60 – gerechtfertigte 41 – pflichtgemäße 77 – pflichtwidrige 39, 42, 77, 192 f. – rational gesteuerte 170 – rechtlich gebotene 24, 58, 85 – rechtswidrige 234 – schuldhafte 234 – unmögliche 59, 85, 126 – zur Erfolgsverhinderung sinnvolle 58, 59, 125 Handlungserwartung siehe Erwartung Handlungsfähigkeit 61, 69 f., 125 Handlungsfreiheit siehe allgemeine Handlungsfreiheit handlungsgleiches Unterlassen siehe Unterlassen Handlungsmöglichkeit – Abgrenzung zum Herrschaftsbegriff siehe Herrschaft

Stichwortverzeichnis – allgemein 119, 124, 125, 132, 136 Handlungspflicht – besondere siehe Sonderpflicht – moralische 234 – Rettungspflicht 118 – Sicherungspflicht 118 – sittliche 234 – strafrechtliche siehe Garantenstellung – zum Abhalten des Ehegatten von Straftaten 213, 216 Handlungssinn siehe sozialer Handlungssinn Herrschaft – Abgrenzung zur Handlungsmöglichkeit 124 ff., 132 ff. – über Anfälligkeit des Opfers – Beispiele für eine 121 f. – Definition der 120 f. – über wesentliche Erfolgsursache – Beispiele für eine 119 f. – Definition der 118 f. Herrschaftswille 117 Hilfeleistungspflicht – allgemeine 20, 21, 27, 42, 47, 59, 77, 86, 91, 102, 110, 118, 163, 182, 185, 189, 190, 195, 196, 204, 211, 215, 230, 231, 233, 234 – besondere siehe Garantenstellung, siehe Sonderpflicht – zwischen Ehegatten 215 hypothetische Kausalität siehe Kausalität Ingerenz siehe Garantenstellung Integration des Täters durch Strafe siehe Strafe Irrtumslehre 86 Jedermann-Delikte 27, 61, 77, 88, 222, 234 Jedermann-Pflichten 183, 185, 189, 196, 230 Jedermann-Rechte siehe Menschenrechte

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Kausalität – allgemein 37, 57, 58, 65, 71 ff., 234 – hypothetische 72 ff. – Quasi-Kausalität 72 ff. Kausalkette 64 Körperbewegung 45, 58, 113, 114 f. kollidierendes Verfassungsrecht siehe Verfassungsrecht Landgericht Kiel 232 f. Ledersprayentscheidung 91 lex specialis 26 Literatur siehe Wissenschaft Menschenrechte 143 f. mildestes aller gleich wirksamen Mittel siehe Eingriff in Grundrechte Mittelalter 33 Modalitätenäquivalenz 79 Nachbar – im Baurecht 124 f. – im Immissionsschutzrecht 124 f. Naturalismus siehe strafrechtlicher Naturalismus naturalistisch-ontologische Abgrenzung siehe Unterlassen Natur der Sache siehe positives Tun, siehe Unterlassen Nebenstrafrecht 48, 139, 170 negative Generalprävention siehe Strafzwecke negative Spezialprävention siehe Strafzwecke Nichthandeln 29, 30, 43, 57, 58, 88, 190 ff. Nichtstun siehe Nichthandeln Nichtvornahme einer Handlung siehe Nichthandeln nulla-poena-Grundsatz siehe Grundsatz Oberlandesgericht Stuttgart 218, 225 Oberlandesgericht Zweibrücken 227

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Stichwortverzeichnis

Obhutsbeziehung 46 objektive Zurechnung siehe Zurechnung Partikularstrafrecht 35 Peinliches Recht 34 persönlicher Schutzbereich siehe Grundrecht Pflicht – gesetzliche 17 – sozialethische 43 – Verletzung einer überragenden 44, 45 Pflichtenkollision 85 pflichtgemäßes Verhalten siehe Handlung pflichtwidriges Verhalten siehe Handlung positive Generalprävention siehe Strafzwecke positive Spezialprävention siehe Strafzwecke positives Tun – Abgrenzung zum Unterlassen siehe Unterlassen – allgemein 23, 26, 27, 62, 68 – Grund für die Strafbarkeit positiven Tuns – allgemeine Überlegungen 45, 93, 113 – Natur der Sache als Anknüpfungspunkt 113 praktische Konkordanz 149 Preußische Neue Kriminalordnung 35 Preußisches Allgemeines Landrecht 34 Quasi-Kausalität siehe Kausalität quivis ex populo 98, 126, siehe auch Garantenstellung Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs siehe Eingriff in Grundrechte Rechtfertigungsgrund 85 rechtliches Einstehenmüssen 18, 50, 77 f., 84, 128, 141, 163, 182, 193,

207, 234, 235, siehe auch Garantenstellung Rechtsgüterschutz 91, 95, 140, 166, 172, 175 Rechtsgut – Abwägung von Rechtsgütern 159, 187, 188, 190, 210 f., 214, 222, 229 ff., 234, siehe auch Eingriff in Grundrechte, siehe auch Garantenstellung – allgemein 85 – durch § 13 StGB betroffenes 186 ff. – durch § 13 StGB geschütztes 186 ff. – Einwirkung auf ein 190 – gefährdetes 42, 57, 85, 111, 177, 192, 215, 223 f. – Gewichtung eines 187, 188, 210, 214, 222, 229 f. – hilfsbedürftiges siehe gefährdetes – schutzbedürftiges siehe gefährdetes – schutzwürdiges 159 f., 192 Rechtslehre siehe Wissenschaft Rechtspflicht 40, 88 Rechtspflichttheorie – allgemein 34, 37 – formelle siehe Garantenstellung Rechtsprechung 36, 37, 78, 82, 90, 107, 118, 122, 175, 199, 203 ff., 206 f., 216 ff., 219, 224 ff., 231 f. Rechtsquellenlehre siehe formelle Rechtspflichttheorie Rechtsstaatsprinzip 154, 161, 236 Rechtswidrigkeit siehe Unterlassen Regierungsentwurf von 1962 siehe Entwurf eines Strafgesetzbuchs Reichsgericht 73, 87, 216 relative Strafzwecktheorien siehe Strafzwecke Renaissance 33 Reserveursachen 75 Resozialisierung 167, 171 f., 176 Rettungspflicht siehe Handlungspflicht Rolle – elterliche 196

Stichwortverzeichnis – für das Sozialleben notwendige 101 – in der Gesellschaft generell 44, 45, 110 – in der Gesellschaft im konkreten Einzelfall 97 – soziale siehe Garantenstellung – stabilisierende Funktion einer 106 – strafrechtliche Relevanz einer 101 – Übernahme durch Spezialisierung 104 – Verantwortung durch Übernahme einer 100 Rücktritt vom Gebotserfüllungsversuch 63 f. sachlicher Schutzbereich siehe Grundrecht Säulenmodell siehe Garantenstellung Schleyer-Urteil 159 Schranken – allgemein 142, 148 – Schrankentrias 209 – verfassungsimmanente 149 Schranken-Schranken 142, 148, 150 ff., 209 ff., 228 ff. Schrifttum siehe Wissenschaft Schuld siehe Unterlassen Schuldprinzip 175 Schwabenspiegel 33 Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit siehe Unterlassen Schwerpunktformel siehe Unterlassen Schwerpunkt strafrechtlichen Verhaltens 62 Selbständigkeit – allgemein 197 – von Ehegatten siehe Eigenständigkeit von Ehegatten Sicherungspflicht siehe Handlungspflicht Sitten siehe gute Sitten Solidarität 94, 185, 236 Sonderausschuß für die Strafrechtsreform 52, 83 Sonderbeziehung siehe Sonderpflicht Sonderdelikt 182

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Sonderpflicht – allgemein 40, 78, 84, 121, 122, 190, 211, 234 – genuin strafrechtliche 89 – metastrafrechtliche 38, 88, 89 – rechtliche 21, 22, 27, 38, 57, 84, 89, 182, 192, 220, 234 – tatsächliche 84 – von der Gesellschaft auferlegte 107 soziale Funktion siehe Garantenstellung sozialer Handlungssinn 62 soziologische Garantenlehren siehe Garantenstellung Spezialprävention siehe Strafzwecke Stigmatisierung des Täters 178, 187, 192 Strafbarkeit des Unterlassens siehe Unterlassen Strafe – als Mittel der Abschreckung 169 f., 173, 178, 179 – als Mittel der Befriedung 179, 187 – als Mittel der Vergeltung 164, 175, 176 – Definition 163 f. – Erziehung durch 171 f. – Integration durch 171 f. – präventiv wirkende 166 – repressiv wirkende 164 – verfassungswidrige 170 – verhältnismäßige 192 Strafgesetzbuch – Allgemeiner Teil 28, 35 – Besonderer Teil 26, 28, 31, 34 – für das Königreich Bayern 35 Strafmilderung – durch modifizierten Strafrahmen 53 – fakultative 27, 28, 50, 61, 62, 65, 123, 131, 180 f., 186 – obligatorische 50, 179 Strafobergrenze 179 strafrechtlicher Naturalismus 37, 38

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Stichwortverzeichnis

Strafrechtswissenschaft siehe Wissenschaft Strafwürdigkeit des Unterlassens siehe Unterlassen Strafzumessung 53, 55, 171 Strafzwecke – allgemein 156, 187, 189 – des § 13 StGB 176 ff. – Theorien zu den Strafzwecken 163 ff. – absolute Theorien 164 ff. – negative Generalprävention 166, 169 f., 176 – negative Spezialprävention 166, 172 f., 174, 177 – positive Generalprävention 166, 167 ff., 170, 174, 176 – positive Spezialprävention 166, 171 f., 174, 176 – relative Theorien 166 ff. – Sühnetheorie 165 – Vereinigungstheorie 173 ff. – Vergeltungstheorie 165 f., 174, 176 subjektive Wertungen siehe Wertungen Subsidiarität des Unterlassens siehe Unterlassen Sühnetheorie siehe Strafzwecke Systematik der unechten Unterlassungsdelikte 18 Systemtheorie siehe Garantenstellung Tätigkeitsdelikt 24, 26 Tatbestandsirrtum 86 Tatherrschaft – als Abgrenzungsmerkmal zur Teilnahme 114 f. – als Grundlage einer Garantenstellung siehe Garantenstellung – als Herrschaft über den eigenen Körper 116, siehe auch Garantenstellung – Definitionsmerkmale 115 teleologische Reduktion 152, 161 Telos – der Unterlassungsdelikte 58 – des § 13 18, 58, 236

– zivilrechtlicher Ansprüche und Normen 90 Theorie – der Strafzwecke siehe Strafzwecke – der zerbrochenen Fenster siehe Broken-Windows-Theory – zur Begründung von Garantenstellungen 18 Übermaßverbot – allgemein 153 ff., 191 – bei § 13 StGB 161 ff., 209 ff., 214 ff., 234 Überwachungsgarant siehe Garantenstellung Überwachungsstaat 183 ultima-ratio-Prinzip siehe Grundsatz ungeschriebener Rechtfertigungsgrund siehe Rechtfertigungsgrund Unterkommission 50 Unterlassen – Abgrenzung zum positiven Tun 61 ff., 179, 180 – allgemein 29, 33, 125 – Begehen durch 22, 27 – begehungsgleiches 37, 45, 93, 112 f., 116, 163, 178 – Begriff 57, 58, 60, 65, 68, 69 – Bewirken eines Erfolges durch 93 – fahrlässiges 86 – Gleichstellung mit positivem Tun 181 – im eigentlichen Sinne 23, 24 – pflichtwidriges 76 – Rechtswidrigkeit des 81 – schuldhaftes 81, 188, 192 – Strafbarkeit des Unterlassens – allgemein 22, 32, 33, 34, 60, 68, 71, 87, 113 – ausufernde 41, 44 – aus Wertungsgründen 62, 113 – bei naturalistisch-ontologischer Betrachtung 65 – Grenzen der 41, 44 – kraft Natur der Sache 113, 128

Stichwortverzeichnis – nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit 66 f., 68, 69 – Normierung der 50, 163 – Normierung im Allgemeinen Teil 47, 48 – Normierung im Besonderen Teil 47, 48 – wegen fehlender Begehungskausalität 63 – Strafwürdigkeit des Unterlassens 33, 48, 87, 162 – Subsidiarität des Unterlassens 62 f., 67 – unbewußtes 60 Unterlassungsdelikt – abstrakte Regelung 33, 34, 48, 112 – Adressat eines 177 – allgemein 20, 34, 122, 183 – besonderes unechtes 31, 48, 222 – echtes 20, 23, 28, 48, 102, 222 – explizit im Besonderen Teil geregeltes 23, 26, 27, 28, 59 – Gemeinsamkeiten mit Begehungsdelikt 122 f. – Katalog der Unterlassungsdelikte 30 – Schwere des 188 – terminologische Abgrenzung echt/unecht – allgemein 22 – formale Kriterien 21, 23 – materielle Anknüpfungspunkte 23 – unechtes 20, 23, 28, 29, 30, 67, 77, 102 f., 182, 189 Unterlassungshandlung siehe Unterlassungsdelikt Untermaßverbot 181 f. Unwert 23 Unwertgehalt siehe Unwert Urteile siehe Rechtsprechung Verantwortung – besondere 119, 120, 122, siehe auch Garantenstellung

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– für sich selbst siehe Eigenverantwortlichkeit Verbot des Einzelfallgesetzes 151 f. Verbotsirrtum 86 f., 110 Vereinigungstheorie siehe Strafzwecke verfassungsgerichtliche Rechtsprechung siehe Bundesverfassungsgericht Verfassungsmäßigkeit – der Entsprechensklausel siehe Entsprechensklausel – des § 13 StGB 131 f. Verfassungsrecht – allgemein 19 – kollidierendes 142, 149 Vergeltungstheorie siehe Strafzwecke verhältnismäßig im engeren Sinne siehe Eingriff in Grundrechte Verhältnismäßigkeitsprinzip siehe Übermaßverbot Verhalten – als Oberbegriff von Tun und Unterlassen 43, 60, 61 – pflichtgemäßes siehe Handlung – pflichtwidriges siehe Handlung – zielgerichtetes 60 Verhaltenserwartungen siehe Garantenstellung Verhaltenssysteme 104 Verletzung von Grundrechten 141 Verpflichtung zum Schutz anderer 194 Versuch 193 Vertrauen – allgemein 39 – der Allgemeinheit in die Rechtsordnung 167, 169, 176 Verzicht auf eigene Rechte siehe Garantenstellung Vorsatz 81, 86 Weimarer Reichsverfassung 150 Weimarer Republik 48 wertausfüllungsbedürftige Begriffe 55 wertmäßiges Entsprechen (Tun/Unterlassen) 23

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Stichwortverzeichnis

Wertungen 123 Wertvorstellungen der Gesellschaft 199 ff., 236 Wesensgehaltsgarantie 153 Wiedereingliederung in die Gesellschaft siehe Resozialisierung Wirtschaftskriminalität 170 Wissenschaft 36, 37, 38, 41, 46, 62, 78, 82, 87 f., 89, 95, 118, 199, 219, 226 Wohngemeinschaft siehe Garantenstellung Wortlautargument 29 zerbrochene Fenster siehe Broken-Windows-Theory Zirkelschluß 67, 92, 128 Zitiergebot 152 f.

Zivilrecht 38, 40, 41, 88, 89, 121, 137 f. zivilrechtliche Pflichten siehe Zivilrecht zivilrechtliche Regelungen siehe Zivilrecht Zumutbarkeit 53, 58, 59, 193 Zurechenbarkeit siehe Zurechnung Zurechnung – allgemein 76 f., 234

37, 45, 57, 58, 72, 73,

– als Strafgrund qua Natur der Sache 114, 116 f., 128 – Definition der objektiven 76, 114 – Zurechnungszusammenhang 76 Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts 32, 54