Das Recht des Kindes auf Achtung [6 ed.] 9783666315084, 9783525315088, 9783647315089

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Das Recht des Kindes auf Achtung [6 ed.]
 9783666315084, 9783525315088, 9783647315089

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Korczak: Das Recht des Kindes auf Achtung

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525315088 — ISBN E-Book: 9783647315089

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JANUSZ KORCZAK

Das Recht des Kindes auf Achtung

Herausgegeben von Elisabeth Heimpel und Hans Roos

665. Auflage

V&R VANDENHOECK & RUPRECHT GÖTTINGEN

© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525315088 — ISBN E-Book: 9783647315089

Aus dem Polnischen von Armin Droß

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-31508-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 1998, 1970, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, T heaterstr. 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT , U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine T eile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

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INHALT

Vorbemerkung.....................................................................

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Das Recht des Kindes auf Achtung (1928/29)

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. . .

Eine Unglückswoche (1911—1 9 1 4 ) .......................................38 Über die Schulzeitung ( 1 9 2 1 ) ..................................................76 Die Regeln des Lebens. Eine Anleitung zur Erziehung für junge Menschen und für Erwachsene (1930) . . .

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Fröhliche Pädagogik. Meine Ferien. Radioplaudereien des Alten Doktors (nach 1 9 3 6 ) .....................................166 Bewerbung (9. 2 .1 9 4 2 ) .......................................................... 231 Erinnerungen ( 1 9 4 2 ) .......................................................... 236 Nachwort der H erausgeber.....................................................346 Register

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VORBEMERKUNG DER HERAUSGEBER Dem pädagogischen Hauptwerk von Janusz Korczak ‫״‬Wie man ein Kind lieben soll" * lassen wir in einem zweiten Band eine Reihe kleinerer Arbeiten des polnischen Pädagogen folgen. Nach dem grundlegenden Aufsatz ‫״‬Das Recht des Kindes auf Achtung" (1928) wird die zeitliche Reihenfolge der einzelnen Arbeiten eingehalten. Der Essay ‫״‬Eine Unglückswoche", der pädagogisch-dichterische Niederschlag eigener Schulerfahrungen, ist in den ersten Jahren der erzieherischen Tätigkeit Korczaks entstanden, also noch vor ‫ ״‬Wie man ein Kind lieben soll". Die in diesem Essay vorkommenden Namen, Personen und Sachfragen sind nicht in das Register aufgenommen worden. Die Anmerkungen der Herausgeber enthalten, wie in dem früher erschienenen Bande, zugleich auch einige Anmerkungen des Übersetzers und einige der polnischen Ausgabe. Wie in dem Bande ‫״‬Wie man ein Kind lieben soll" sind wir Frau Ruth Roos für ihre unermüdliche Hilfe bei der oft sehr schwierigen Übersetzung Dank schuldig. Ihr zur Seite stand Fräulein Nina Koszlowska, der wir ebenfalls zu danken haben. * Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll, Vandenhoeck & Ruprédit, Göttingen, 7. Auflage 1979.

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D A S R E C HT DES K I ND E S AUF A C H T U N G Mangelnde Achtung — mangelndes Vertrauen Von frühester Kindheit an wachsen wir in dem Gefühl auf, daß das Große mehr Bedeutung hat als das Kleine. ‫ ״‬Ich bin groß", freut sich das Kind, wenn man es auf einen Tisch stellt. — ‫ ״‬Ich bin größer als du", stellt es stolz fest, wenn es neben einem Gleichaltrigen steht und seine Größe an ihm mißt. Wie beschämend ist es, wenn man sich auf Zehenspitzen hoch empor reckt und doch nicht weit genug hinauflangen kann; wie fällt das schwer, mit kleinen Schritten hinter den Großen herzulaufen, und aus der kleinen Hand rutscht das Glas so leicht. Ungeschickt und mühsam klettert es auf den Stuhl, in das Fahrzeug oder die Treppen hinauf; es kann den Griff nicht erreichen, nicht aus dem Fenster gucken, kein Kleidchen und kein Bild herabnehmen oder wieder aufhängen — das ist ja alles viel zu hoch. In der Menge wird es verdeckt, übersehen, gestoßen. Es ist schon sehr unbequem klein zu sein. Achtung und Bewunderung erweckt nur das, was groß ist und mehr Platz einnimmt. Klein — das bedeutet alltäglich und wenig interessant. Kleine Leute, kleine Bedürfnisse, kleine Freuden und kleine Traurigkeiten. Das macht Eindruck: eine große Stadt, gewaltige Berge, ein hochgewachsener Baum. Wir sagen: ‫ ״‬Eine große Tat, ein großer Mensch." Ein Kind ist klein, sein Gewicht gering, es ist nicht viel von ihm zu sehen. Wir müssen uns schon zu ihm hinunterneigen. Und was noch schlimmer ist, das Kind ist schwach. Wir können es hochheben, in die Luft werfen, es gegen seinen Willen irgendwohin setzen, wir können es mit Gewalt im Lauf aufhalten — wir können all sein Bemühen vereiteln. * Aus: Wybór pism (Ausgewählte Schriften) Band III, S .395—423.

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Sooft es nicht gehorcht, bleibt mir immer noch meine größere Kraft. Ich sage: ‫״‬Bleib hier, lauf nicht weg, mach Platz, gib her. " Das Kind weiß, daß es all dies tun muß ; wie oft versucht es vergeblich, dem zu entgehen, bis es begreift, sich geschlagen gibt und resigniert. Wann und unter welch außergewöhnlichen Umständen wagt es schon einmal, einen Erwachsenen zu stoßen, zu zerren oder gar auf ihn einzuschlagen? Und wie alltäglich und oft unverschuldet ist doch so ein Klaps, der das Kind trifft, wie oft wird es doch bei der Hand gepackt und fortgezerrt, und wie weh tut manche stürmische Umarmung dem kleinen Körper. Dies Gefühl der Ohnmacht erzieht zum Glauben an die physische Kraft; nicht nur der Erwachsene, sondern jeder, der älter und stärker ist, kann seine Unzufriedenheit auf grobe Weise ausdrücken, seine Forderung mit Gewalt durchsetzen und sich Gehör erzwingen : ungestraft kann er unrecht tun. Durch unser eigenes Beispiel lehren wir, das, was schwächer ist, geringer zu achten. Eine schlechte Schule, eine düstere Prophezeiung. Das Antlitz der Erde hat sich gewandelt. Schon vollbringt die Muskelkraft die physische Arbeit und die Abwehr des Feindes nicht mehr allein, und schon ringt sie dem Lande, dem Meer und den Wäldern die Güter des Lebens, die menschliche Herrschaft und Sicherheit nicht mehr allein ab. Das tut der unterjochte Sklave, die Maschine. Die Muskeln haben ihren alleinigen Anspruch auf Leistung und ihren Wert eingebüßt. Lim so höher werden nunmehr Intellekt und Wissenschaft geachtet. Unheimliche Gewölbe oder die bescheidene Zelle des Denkers ‫ —־‬sie sind zu weiten Hallen und Gebäuden des Forschers geworden. Vielstöckige Bibliotheken werden erbaut, und Bücherborde biegen sich unter der Last der Schriften. In den Tempeln der stolzen Vernunft gehen Menschen aus und ein. Der Mann der Wissenschaft ist schöpferisch und leitend tätig. Rätselhafte Kombinationen von Ziffern und Strichen künden der Menschheit in immer rascherer Folge neue Errungenschäften an und geben Zeugnis von der Macht des Menschen. Das alles müssen Verstand und Gedächtnis begreifen. 8

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Die Jahre mühsamen Lernens werden immer länger; es gibt immer mehr Schulen, Prüfungen, und das gedruckte Wort überflutet uns. Und da ist das Kind, klein und schwach, es hat erst so kurze Zeit gelebt, und es hat noch nichts gelesen, es versteht noch nichts . . . Es ist ein bedrohliches Problem: wie soll man die neugewonnenen Gebiete aufteilen, welche Aufgabe soll der einzelne erfüllen, welcher Lohn gebührt ihm und wie soll man sich auf der von Menschen beherrschten Erde einrichten? Wo sollten Werkstätten errichtet werden, und wieviele, um die arbeitshungrigen Hände und Gehirne zufriedenzustellen, wie soll man die Menschenmassen in Ordnung und Gehorsam halten, wie sich vor dem bösen Willen und dem Wahn einzelner schützen? Wie soll man die Stunden des Lebens gleichmäßig mit Arbeit, Ruhe und Zerstreuung erfüllen und vor Apathie, Überdruß und Langeweile bewahren? Wie kann man die Menschen zu einer disziplinierten Gemeinschaft zusammenschließen und die Verständigung leichter machen; wann soll man sie wieder trennen und neu einteilen. Hier muß man vorantreiben und ermutigen, dort allzu großen Tätigkeitsdrang dämpfen; hier gilt es anzufeuern, dort zu beschwichtigen. Politiker und Gesetzgeber machen schüchterne Versuche, aber sie irren sich immer wieder. Aber auch über das Kind beraten und entscheiden sie; wer wird schon so naiv sein, Kinder nach ihrer Meinung zu fragen oder gar ihre Zustimmung einzuholen; was kann ein Kind denn schon zu sagen haben! Außer Verstand und Wissen hilft Gewitztheit im Kampf ums Dasein und um einflußreiche Stellungen. Der Betriebsame wittert günstige Gelegenheiten und wird über Gebühr belohnt; allen redlichen Berechnungen zuwider hat er überraschend und leicht Erfolg; er blendet und erscheint beneidenswert. Um diese Durchtriebenheit ganz zu durchschauen, muß man nicht nur die Altäre, sondern auch die Schweinekoben des Lebens kennen. Aber das ratlose Kind beschäftigt sich derweil mit seinen Schulbüchern, seinen Bällen und Puppen; es spürt, daß über seinen Kopf hinweg wichtige und einschneidende Entscheidüngen über sein Wohl und Wehe gefällt werden, die es be9

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strafen und belohnen, oder gar zerbrechen — und es hat keinen Einfluß darauf. Eine Blüte verheißt die künftige Frucht, das Küken wird eine Henne, die Eier legt, das Kalb ist dazu bestimmt, später einmal Milch zu geben. Aber zuerst einmal Mühe, Ausgaben und Sorgen: wird es am Leben bleiben, wird es uns nicht enttäuschen? Das Junge erweckt Unruhe, man wird viel Geduld haben müssen; vielleicht wird es einmal eine Stütze für alte Tage und vergilt alle Mühe reichlich. Aber das Leben kennt auch Dürrezeiten, Nachtfröste und Hagelschlag, welche die Ernte vernichten. Wir halten nach günstigen Vorzeichen Ausschau, wir möchten in die Zukunft sehen und sichergehen können; das ungeduldige Warten auf das, was kommt, schmälert den Wert dessen, was ist. Der ‫״‬Marktwert" des Jungen ist gering. Nur vor dem Gesetz und vor Gott gilt die Apfelblüte soviel wie der reife Apfel, die grüne Saat soviel wie das reife Feld. Wir tragen das Kind auf dem Arm, wir beschützen, ernähren und erziehen es. Ohne selbst etwas zu tun, bekommt es alles, was es braucht; was wäre es ohne uns, denen es alles verdankt? Einzig und allein — alles nur uns ! Wir kennen den Weg zum Glück, wir geben Hinweise und Ratschläge. Wir wecken seine guten Eigenschaften und unterdrücken die schlechten. Wir lenken und korrigieren es, wir üben mit ihm. Das Kind tut nichts, wir tun alles. Wir befehlen und verlangen Gehorsam. Wir sind als die moralisch und rechtlich Verantwortlichen, Wissenden und Vorausschauenden die einzigen Richter über alle Taten, Bewegungen, Gedanken und Absichten des Kindes. Wir geben Aufträge, wir wachen über ihre Ausführung, ganz nach unserem Belieben und unserem Verständnis — es sind unsere Kinder, unser Eigentum —Hände weg davon! (Gewiß, ein wenig hat sich das geändert. Wille und Autoritat der Familie sind nicht mehr allein maßgebend. Eine — wenn auch noch vorsichtige — Kontrolle durch die Gesellschaft gibt es schon. Sie ist freilich kaum spürbar.) Ein Bettler verfügt immerhin frei über sein Almosen, ein Kind jedoch hat gar kein Eigentum, es muß über jeden Gegenstand Rechenschaft ablegen, den es zum Gebrauch erhalten hat. io

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Es darf nichts zerreißen, zerbrechen, schmutzig machen, es darf nichts verschenken oder im Überdruß wegwerfen. Es muß annehmen, was man ihm gibt, und damit zufrieden sein. Alles am rechten Platz und zur rechten Zeit und gemäß seiner BeStimmung. (Vielleicht schätzt es darum die wertlosen Kleinigkeiten, die wir verwundert und mitleidig betrachten: wertlosen Kram, sein einziges wirkliches Eigentum: den Reichtum eines Bindfadens, einer Schachtel, einer Handvoll Glasperlen.) Das Kind muß nachgeben, sich durch gutes Benehmen alles verdienen — bitten soll es, oder durch kleine Listen erreichen, was es haben will, aber ja nicht fordern! Es darf keinerlei Anspräche stellen, es hängt nur von unserem guten Willen ab, wenn wir ihm etwas geben. (Hier drängt sich ein peinlicher Vergleich auf: die Freundin eines reichen Mannes.) Das Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern wird durch die Armut des Kindes und durch dessen materielle Abhängigkeit gestört. Wir achten das Kind gering, weil es noch nicht viel weiß, noch nicht scharfsinnig ist, noch keine Vorahnungen hat. Es weiß nichts von den Schwierigkeiten und Verwirrungen im Leben der Erwachsenen, es weiß nicht, warum wir manchmal aufgeregt, mutlos und abgespannt sind, warum unser Friede gestört ist und warum wir schlechte Laune haben: es kennt keine völligen Niederlagen und Bankrotterklärungen. Es ist nicht schwer, das arglose Kind in Sicherheit zu wiegen, es zu täuschen und ihm zu verheimlichen, was es nicht erfahren soll. Das Kind glaubt, daß das Leben einfach und leicht sei. Da sind Vater und Mutter: der Vater verdient, die Mutter kauft ein. Pflichtvergessenheit oder Mittel und Wege der Erwachsenen, um das Ihre und darüber hinaus zu kämpfen, sind dem Kinde fremd. Das Kind selbst ist frei von materiellen Sorgen, von starken Versuchungen und Erschütterungen — daher weiß es auch nichts davon und kann sich darüber keine Meinung bilden. Wir erraten seine Absichten blitzschnell, und mit einem flüchtigen Blick durchschauen wir seine kleinen Listen, so daß wir sie ohne lange Untersuchung aufdecken können. 11

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Aber vielleicht irren wir uns, wenn wir glauben, das Kind wisse und tue nur, was wir wollen? Vielleicht versteckt es sich vor uns und leidet insgeheim? Wir tragen Berge ab, schlagen Wälder und rotten Tiere aus. Immer zahlreicher werden dort menschliche Ansiedlungen, wo früher Wälder und Sumpfland war. Wir siedeln den Menschen immer wieder auf Neuland an. Wir haben uns die Erde untertan gemacht, das Eisen und die Tierwelt dienen uns; wir haben die farbigen Rassen unterjocht und wenigstens in groben Umrissen das Verhältnis der Völker untereinander geordnet und die Massen gezähmt. Eine gerechte Ordnung jedoch liegt noch in weiter Ferne, noch herrsehen Ungerechtigkeit und Mißstände. Kindliche Zweifel und Einwände braucht man nicht ernst zu nehmen. Die offenkundig demokratische Gesinnung des Kindes kennt keine Hierarchie. Das Schicksal eines Tagelöhners in seinem Schweiß, eines hungrigen Altersgenossen, eines gequälten Pferdes und eines geschlachteten Huhnes machen es eine Zeitlang traurig. Hund und Vogel, Schmetterlinge und Blume stehen ihm nahe, in einem Sternchen oder in der Muschel sieht es seinen Bruder. Vom Hochmütigen des Emporkömmlings weit entfernt weiß es nicht, daß der Mensch eine Seele hat. Wir achten das Kind gering, weil es seine Lebenserfahrungen erst noch machen muß. Uns drückt die Mühsal unserer eigenen Schritte, die Belastung durch unsere eigennützigen Regungen, die Engherzigkeit unserer Wahrnehmungen und Empfindungen. Das Kind läuft und springt herum, ohne Notwendigkeit schaut es umher, wundert sich und fragt; es weint leicht, aber es freut sich auch häufig. Ein sonniger Tag im Herbst ist ein richtiges Geschenk, weil die Sonne um diese Jahreszeit selten scheint; im Frühling ist es sowieso grün. So, wie es ist, ist's ihm genug, es braucht nur wenig, um sich zu freuen, wozu sich besonders anstrengen? Eilig und ohne uns viel Mühe zu machen fertigen wir es ab. Wir nehmen die Vielfalt seines Lebens und die Freude, die wir so leicht geben können, nicht ernst. Uns entfliehen wichtige Viertelstunden und Jahre; das Kind hat Zeit, es wird schon fertig, es kann warten. 12

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Das Kind ist kein Soldat, es verteidigt das Vaterland nicht, aber es leidet mit ihm. Um eine politische Meinung braucht man sich bei ihm nicht zu bemühen; es ist ja kein Wähler: es droht nicht, es fordert nicht, es sagt nichts. Schwach, klein, arm, abhängig — ein Staatsbürger wird es erst. Wir behandeln es mit Mitleid, Schroffheit, Grobheit und wenig Achtung. Ein Lümmel, ein Kind nur, erst in Zukunft ein Mensch, jetzt noch nicht. Und das trifft zu.

Aufpassen, keinen Augenblick aus den Augen lassen! Aufpassen, nicht sich selbst überlassen, auf passen, niemals nachlassen. Es kann ja stürzen, sich stoßen, verletzen oder schmutzig machen, etwas verschütten, zerreißen, zerbrechen, verbummeln und verlieren, mit Streichhölzern spielen oder einen Dieb ins Haus lassen. Es kann sich selbst und uns Schaden zufügen und sich, uns und seine Spielgefährten zum Krüppel machen. Aufpassen, keine selbständigen Unternehmungen, und das volle Recht der Kontrolle und Kritik für uns. Das Kind weiß noch nicht, was und wieviel es essen, wieviel und wann es trinken soll, es kennt die Grenzen seiner Kraft noch nicht. Also gilt es, über Essen, Schlafen und Ausruhen zu wachen. Wielange? Von welcher Zeit an? Immer. Mit den Jahren ändert sich das, aber es wird nicht weniger, das Mißtrauen wächst eher noch. Es kann noch nicht unterscheiden, was wichtig und was nichtig ist. Fremd sind ihm Ordnung und systematische Arbeit. In seiner Zerstreutheit ist es vergeßlich, gibt es nicht acht, wird es nachlässig. Es weiß noch nicht, was es bedeutet, in Zukunft Verantwortung zu tragen. Wir müssen belehren, lenken, den rechten Weg weisen, zügeln, zurückhalten, berichtigen, warnen, Vorbeugen, zwingen und bekämpfen. Wir müssen Grimassen, Launen und Widersetzlichkeit bekämpfen. 13

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Wir müssen ein Programm der Vorsicht, der Umsicht, der Furcht und Unruhe, der Vorahnungen und der düsteren Voraussicht dem Kinde auf zwingen. Wir sind ja die Erfahrenen und wissen, wieviel Unheil, wieviel Fallen und Fallstricke, unabwendbare Abenteuer und Katastrophen ringsum lauern. Wir wissen, daß auch die größte Vorsicht keine vollkommene Garantie gibt; aber wir sind um so mißtrauischer: damit wir ein reines Gewissen haben, damit wir uns im Falle eines Unglücks wenigstens nichts vorzuwerfen haben. Das Kind liebt das Risiko der Zügellosigkeit. Seltsamerweise hat es einen Hang zum Bösen. Gern folgt es schlimmen Einflüsterungen und richtet sich nach dem bösesten Beispiel. Es verwildert leicht, aber schwer findet es wieder zur Ordnung zurück. Wir wollen das Beste für es, wir wollen es ihm leicht machen; wir geben ihm all unsere Erfahrung: es braucht nur bereit zu sein, sie anzunehmen. Wir wissen, was Kindern schadet, wir erinnern uns, was uns geschadet hat. Dies soll ihm erspart bleiben. ‫ ״‬Denk daran, du weißt doch, begreif doch/' ‫ ״‬Glaub' mir, du wirst schon sehen." Aber es hört nicht. Sei es absichtlich, sei es boshaft. Man muß darauf achten, daß es gehorcht. Man muß aufpassen, daß es tut, was man ihm gesagt hat. Sich selbst überlassen, strebt es offen nach dem Bösen und betritt einen schlimmen, gefährlichen Weg. Soll man gedankenlose Streiche dulden, alberne Sprünge und unkontrollierte Ausbrüche? Wie wenig kann man doch einem unentwickelten Menschen vertrauen? Er scheint nachgiebig und unschuldig zu sein, in Wirklichkeit aber ist er gerissen und hinterlistig. Er bringt es fertig, sich der Kontrolle zu entziehen, die Wachsamkeit einzuschläfern und ihr zu entgehen. Um eine Ausrede oder eine Ausflucht ist er nie verlegen, er ist ein Heimlichtuer und ein Schwindler durch und durch. Er ist unzuverlässig und erweckt Zweifel. *4

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Mangelnde Achtung und mangelndes Vertrauen, Verdäditigungen und Anklagen. Ein schmerzlicher Schluß: also gleicht er dem Abenteuerer, dem Trinker, dem Aufsässigen, dem Wirrkopf. Wie kann man mit ihm unter einem Dache leben? Abneigung Das alles besagt gar nichts. Wir lieben die Kinder. Trotz allem bedeuten sie Trost, Zuversicht und Hoffnung, Freude und Erholung, das helle Licht des Lebens. Wir schüchtern sie nicht ein, wir bürden ihnen nichts auf und plagen sie nicht. Sie fühlen sich frei und glücklich. Warum jedoch, gleichsam als Last, als Hindernis, diese unbequeme Zugabe? Woher kommt der Unmut über das geliebte Kind? Noch bevor es auf diese ungastliche Welt kam, haben sich im Leben der Familie Unruhe und Einschränkungen bemerkbar gemacht. Die kurzen Monate einer so lange erwarteten und genossenen Freude gehen unwiderruflich dahin. Krankheit und Schmerz, unruhige Nächte und unvorhergesehene Ausgaben stehen am Ende einer langen Zeit voll körperlicher Beschwerden. Ruhe und Ordnung sind gestört. Der Haushalt ist aus dem Gleichgewicht gekommen. Der säuerliche Geruch von Windeln und das durchdringende Geschrei des Neugeborenen verbindet sich mit dem Kettengerassel ehelicher Sklaverei. Es ist lästig, wenn man sich noch nicht verständigen kann und darauf angewiesen ist, zu erraten und zu vermuten. Also warten wir ab, vielleicht sogar geduldig. Wenn es dann endlich spricht und läuft, tappt es tolpatschig herum, nichts ist vor ihm sicher, es guckt in jeden Winkel, überall ist es im Wege und stiftet Unordnung, der kleine Schmutzfink, das herrische Kerlchen. Es richtet Schaden an und widersetzt sich unserem vemünftigen Willen. Nur was ihm Spaß macht, fordert und versteht es. Man darf die Kleinigkeiten nicht unterschätzen: allzu zeitig aus dem Schlaf gerissen zu werden, eine zerknüllte Zeitung,

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Flecken auf dem Kleid und auf der Tapete, ein durchnäßtes Sofa, zerbrochene Brillengläser und die Vase, die ein Andenken war, vergossene Milch und verschüttetes Parfüm und nicht zuletzt das Honorar für den Arzt, — das alles trägt schon dazu bei, den Kindern böse zu sein. Es schläft nicht, wann wir wollen, es ißt nicht so, wie wir es für richtig halten; wir hatten uns eingebildet, es werde fröhlich lachen, aber nun ist es verschüchtert und weint. Und so anfällig ist es: das kleinste Versehen genügt, schon wird es krank und es gibt neue Schwierigkeiten. Während der eine verzeiht, ist der andere um so schneller bereit, zu beschuldigen und zu sticheln; nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater, das Kindermädchen, das Dienstmädchen und die Nachbarin bilden sich ihre Meinung über das Kind; gegen den Willen der Mutter oder heimlich bestrafen sie es. Der kleine Unruhestifter ist oft der Anlaß für schlechte Laune und Auseinandersetzungen zwischen den Erwachsenen; einer ist immer erzürnt oder beleidigt. Für die Nachsicht des einen muß sich das Kind bei dem anderen entschuldigen. Oft ist das, was wie Güte aussieht, nur unvernünftige Nachlässigkeit; oft wird das Kind auch für die Fehler anderer verantwortlieh gemacht. (Jungen und Mädchen haben es nicht gern, wenn man sie Kinder nennt. Diese Bezeichnung stellt sie auf eine Stufe mit den Jüngsten, sie zwingt sie, die Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, sie läßt sie in das gleiche schlechte Ansehen geraten, in dem die Kleinsten stehen, und zudem sind sie wie diese zahlreichen Vorwürfen ausgesetzt.) Wie selten ist ein Kind grad so, wie wir es haben möchten, wie oft geht das Gefühl der Enttäuschung Hand in Hand mit dem Größerwerden. ‫״‬Es müßte doch län g st. . ." Als Anerkennung für alles, was wir ihm gutwillig geben, sollte es unsere Mühe belohnen, verständig sein, sich fügen und verzichten lernen ; vor allem aber sollte es dankbar sein. Mit den Jahren wachsen die Pflichten und Anforderungen; meistens auf andere Weise und nicht in dem Maße, wie wir es für richtig halten. Einen Teil der Zeit, der Forderungen und der Erziehungsgewalt übertragen wir der Schule. Jetzt ist die 16

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Wachsamkeit verdoppelt, die Verantwortlichkeit erhöht, jetzt kommt es zum Zusammenstoß der verschiedenen Zuständigkeiten. Schwächen, die bis jetzt verborgen waren, werden sichtbar. Eltern verzeihen gern, ihre Nachsichtigkeit entspricht offensichtlich einem Gefühl von Schuld, weil sie das Kind ins Leben gerufen haben, sie entspringt aus dem Eindruck, ihrem hilflosen Kind unrecht getan zu haben. Manchmal sucht eine Mutter auch in der angeblichen Krankheit des Kindes eine Waffe gegen fremde Beschuldigungen und eigene Zweifel. Im allgemeinen schenkt man der Meinung einer Mutter keinen Glauben. Sie ist, angeblich, befangen und deswegen nicht zuständig. Wir fragen lieber Erzieher, Sachkenner und Gelehrte nach ihrer Meinung, ob ein Kind wirklich unser Wohlwollen verdient. In einem Privathaus findet ein Erzieher nur selten günstige Bedingungen für ein Zusammenleben mit Kindern. Durch mißtrauisches Kontrollieren gehemmt, ist der Erzieher gezwungen, zwischen fremden Anweisungen und seinem Gutdünken, zwischen den von außen auf ihn eindringenden Forderungen und der eigenen Ruhe und Bequemlichkeit hindurchzusteuern. Indem er die Verantwortung für das ihm anvertraute Kind übernimmt, muß er auch die Folgen zweifelhafter Entscheidüngen der gesetzlichen Vertreter des Kindes und seiner Brotherren auf sich nehmen. Indem er genötigt ist, Schwierigkeiten zu verheimlichen und zu umgehen, kann er leicht heuchlerisch, verbittert und träge werden. Mit den Jahren wird der Abstand zwischen den Forderungen der Erwachsenen und den Wünschen des Kindes immer größer; auch mit unlauteren Methoden der Unterdrückung wird man immer vertrauter. Klagen über die undankbare Arbeit werden laut: wen Gott strafen will, den macht er zum Erzieher. Das regsame, lärmende, des Lebens und seiner Rätsel wißbegierige Kind ermüdet uns, Fragen und Sich-Wundern, Entdecken und Versuche mit oftmals unglücklichem Ausgang quälen uns. Immer seltener erscheinen wir als Berater undTröster, immer häufiger jedoch als die gestrengen Richter. Sofortiges Urteil und unverzügliche Bestrafung haben folgende Wirkung: es

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kommt seltener — dafür aber um so heftiger und erbitterter — zu Ausbrüchen des Überdrusses und der Rebellion. Es gilt also, die Aufsicht zu verschärfen, den Widerstand zu brechen und sich vor Überraschungen zu schützen. Und das kann den Erzieher zu Fall bringen: Er nimmt etwas nicht ernst genug, er hat kein Vertrauen, er ist argwöhnisch, er untersucht, er ertappt, rügt, beschuldigt und bestraft, er fahndet nach geeigneten Methoden, Schlimmes zu verhüten; immer häufiger greift er zu Verboten und rücksichtslosen Zwangsmaßnahmen, und er sieht nicht, wie das Kind sich bemüht, ein Blatt Papier oder eine Stunde seines Lebens sorgfältig zu beschreiben; mit dürren Worten stellt er fest, das Kind sei schlecht. Selten zeigt sich der stille blaue Himmel des Verzeihens — oft dagegen bricht der scharlachrote Sturm des Ärgers und der Entrüstung über es herein. Wieviel mehr Verständnis erfordert dann die Erziehung einer ganzen Kinderschar, wieviel leichter kann man dann in den Fehler verfallen zu beschuldigen und zu grollen. Ein einziges kleines und schwaches Kind kann einen schon müde und ein einziges Vergehen schon ärgerlich machen. Wie lästig, aufdringlich, anspruchsvoll und in seinen spontanen Regungen unberechenbar ist dann erst eine ganze Schar. Wohlgemerkt: ich meine nicht Kinder, sondern eine Kinderschar. Eine Menge, eine Bande, eine Meute — nicht Kinder. Du lebst in der Vorstellung, stark zu sein, aber plötzlich fühlst du dich klein und schwach. Eine Masse, ein Riese, in ihrer Gesamtheit von gewaltigem Gewicht und einer Summe ungeheurer Erfahrungen, einmal in solidarischem Widerstand zu einer Einheit zusammengewachsen, dann wieder in Dutzende von Beinen, Händen und Köpfen zerfallen, von denen jeder andere Gedanken und geheime Wünsche verbirgt. Wie schwer fällt einem neuen Erzieher die Arbeit in einer Klasse oder einem Internat, wo die Kinder in rigoros strenger Zucht gehalten werden und sich frech und abgebrüht nach den Grundsätzen einer Räuberbande organisiert haben. Wie stark und bedrohlich sind sie, wenn sie sich deinem Willen mit geballter Kraft widersetzen, um den Damm zu brechen — keine Kinder, sondern eine Sintflut. 18

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Wieviele Revolutionen finden im Verborgenen statt, die der Erzieher wortlos übersieht, weil er sich schämt, schwächer zu sein als ein Kind. Wenn er jedoch einmal durch Erfahrung klug geworden ist, ist ihm jedes Mittel recht, um sich zu behaupten. Keine Vertraulichkeit, kein noch so harmloser Scherz: keine mürrische Antwort, kein Achselzucken, keine Gebärde des Unwillens, kein verstocktes Schweigen und kein zorniger Blick. Mit der Wurzel ausreißen und rachsüchtig ausbrennen: die mangelnde Achtung und den bösartigen Trotz. Die Anführer kauft er mit Vergünstigungen, er sucht Spitzel aus, es geht ihm nicht um gerechte Strafen, — sie sollen nur hart genug sein, um ein Exempel zu statuieren, um rechtzeitig die ersten Funken des Aufstandes zu ersticken, damit die Meute — der Machthaber — nicht einmal in Gedanken wagt, ihre Forderungen zu diktieren oder übermütig zu werden. Die Schwäche des Kindes kann Zärtlichkeit wecken, die Macht der Masse aber empört und beleidigt. Der Vorwurf, daß Freundlichkeit die Kinder verdirbt und daß sie Güte und Sanftmut mit Disziplinlosigkeit und Unordnung beantworten, besteht zu Unrecht. Aber nennen wir unsere Nachlässigkeit, unsere Unfähigkeit und ratlose Dummheit doch nicht Güte! Unter den Erziehern finden wir außer brutalen Schlauköpfen und Misanthropen Versager, die überall Schiffbruch erlitten haben und unfähig sind, eine verantwortliche Stelle zu übernehmen. Es kommt vor, daß ein Lehrer auf billige Art die Kinder für sich gewinnen, sich schnell und ohne große Mühe in ihr Vertrauen einschleichen möchte. Er will seine Witze mit ihnen machen, wenn er guter Laune ist, nicht aber das Gemeinschaftsleben mühsam organisieren. Bisweilen wird dann seine gnädige Herablassung durch plötzliche Ausbrüche von schlechter Laune gestört. In den Augen der Kinder macht er sich lächerlich. Es kommt vor, daß ein ehrgeiziger Erzieher glaubt, er könne durch gutes Zureden und eindringliche Vorhaltungen einen Menschen mühelos umformen und es genüge, das Kind zu rühren, so daß es verspricht sich zu bessern. Er wirkt aber nur aufreizend und ermüdend. 19

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Es kommt vor, daß die scheinbar Wohlwollenden, die sich mit unaufrichtigen Phrasen anbiedem, um so hinterhältigere Feinde sind und unrecht tun. Sie erwecken Abscheu. Die Antwort auf schnöde Behandlung ist mangelnde Achtung, die Antwort auf vorgetäuschtes Wohlwollen Abneigung und Aufruhr, auf mangelndes Vertrauen Verschwörung. Meine langjährige Tätigkeit hat mir immer augenfälliger bestätigt, daß Kinder Achtung, Vertrauen und Wohlwollen verdienen, daß es angenehm ist, mit ihnen in der heiteren Atmosphäre freundlicher Empfindungen, fröhlichen Lachens, lebendigen Bemühens und Sich-Wundems, reiner, ungetrübter Freuden zu leben und daß diese Arbeit anregend, fruchtbar und schön ist. Eines jedoch hat Zweifel und Unruhe erweckt. Warum versagt manchmal ein Kind, dessen wir ganz sicher zu sein glaubten? Warum kommt es — wenn auch selten — in der Kinderschar zu einem plötzlichen Ausbruch des Ungehorsams? Vielleicht sind Erwachsene nicht besser, sondern nur gesetzter, sicherer, ruhiger. Ich suchte beharrlich, und allmählich fand ich die Antwort: 1. Wenn ein Erzieher nach Charaktereigenschaften und Qualitäten sucht, die ihm besonders wertvoll erscheinen, und wenn er danach strebt, alle ihm anvertrauten Kinder nach diesem einen Vorbild in einer Richtung zu formen und zu beeinflussen, wird er fehlgehen: die einen ordnen sich seinen Prinzipien scheinbar unter, die anderen unterliegen seiner Überzeugungskraft wirklich für eine gewisse Zeit. Wenn sich aber dann das wahre Gesicht des Kindes zeigt, empfindet nicht nur der Erzieher, sondern auch das Kind die Niederlage bitter. Je mehr es sich bemüht hat, sich zu verstellen oder fremden Einwirkungen nachzugeben, desto heftiger ist die Reaktion; ein Kind, das der Erzieher in all seinen Neigungen durchschaut hat, hat nichts mehr zu verlieren. Wie wichtig ist doch die Lehre, die sich daraus ergibt: 2. Die Beurteilungsmaßstäbe eines Erziehers unterscheiden sich grundsätzlich von denen der Kinder: beide kennen den Reichtum des inneren Lebens ; er wartet darauf, daß die Kinder sich entwickeln, sie aber wollen wissen, welchen Gebrauch sie schon heute von diesem Reichtum machen können, ob der Er­ 20

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zieher mit ihnen teilen wird, was er besitzt oder ob er es für sich allein behalten will — dieser erhabene, neidische Egoist und Geizkragen. Er wird wieder kein Märchen erzählen, wieder nicht mit ihnen spielen, wieder nicht mit ihnen malen, ihnen wieder nicht helfen, ihnen wieder nichts zuliebe tun, ‫״‬er tut gnädig" und ‫״‬läßt sich bitten". Wenn er dann einsam ist, will er sich mit einer großen Geste wieder das Wohlwollen seiner Gesellschaft erkaufen, die seine Umkehr freudig begrüßt. Er ist nicht etwa plötzlich umgefallen, im Gegenteil, er hat begriffen und sich verbessert. 3. Sie haben insgesamt versagt, sie fühlen sich beleidigt. Eine Erklärung dafür habe ich in einem Buch über Tierdressur gefunden — und ich verschweige diese Stelle nicht. Ein Löwe ist nicht gefährlich, wenn er wütend, sondern wenn er verspielt ist und herumtollen will; und die große Masse ist stark wie ein Löwe . . . Aber man sollte nicht nur in der Psychologie nach Erklärungen suchen, sondern darüber hinaus auch in der medizinisehen, soziologischen, ethnologischen, historischen, poetischen, kriminologischen Literatur, im Gebetbuch und im Dressurbuch. Ars longa. 4. Schließlich fand ich die einleuchtendste, wenn auch nicht letzte Erklärung. Ein Kind kann sich am Sauerstoff der Luft berauschen wie ein Erwachsener am Wodka. Erregung, Hemmung der Kontrollzentren, Hazard-Spiel, Geistesverwirrung, die Reaktion darauf: Verlegenheit, moralisches Sodbrennen, Unbehagen und Schuldgefühl. Meine Beobachtung ist genau — in klinischer Hinsicht. Auch der Ehrenwerteste kann einen schwachen Kopf haben. Bestraft sie nicht: diese Trunkenheit ohne Wein bei Kindern ist rührend und achtenswert; sie trennt nicht und unterscheidet sie nicht, sondern bringt sie einander näher und verbindet sie. Wir verbergen unsere eigenen Fehler und strafwürdigen Taten. Kindern ist es verboten zu kritisieren, sie dürfen unsere Fehler, Leidenschaften und Lächerlichkeiten nicht bemerken. Wir treten im Gewand der Vollkommenheit auf. Unter Androhung unseres höchsten Zornes verteidigen wir die Geheimnisse des herrschenden Clans, der Kaste der Eingeweihten, die zu 21

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höheren Aufgaben berufen sind. Nur ein Kind darf man ungeniert nackt und bloß an den Pranger stellen. Unser Spiel mit den Kindern ist ein Spiel mit gefälschten Karten; die Schwächen des Kindesalters stechen wir mit den Assen der Erwachsenen. Falschspieler, die wir sind, mischen wir die Karten so, daß alles, was gut und wertvoll ist, gegen ihre schwächsten Stellen steht. Wo bleiben denn unsere Nichtstuer und Leichtfüße, die genußsüchtigen Feinschmecker, die Dummköpfe, die Faulpelze, die Schurken, die Abenteurer, die Gewissenlosen, die Betrüger, die Säufer und Diebe, wo bleiben unsere Gewalttätigkeiten und Verbrechen, die öffentlich bekannten und die, die nie auf gedeckt werden; wieviele Zankereien, Hinterhältigkeiten, Eifersuchtsszenen, üble Nachrede und Erpressungen gibt es bei uns, Worte, die verwunden, Taten, die entehren; wieviele Familientragödien, deren Leidtragende und Opfer die Kinder sind, spielen sich im Verborgenen ab? Und wir wagen es, zu beschuldigen und anzuklagen?! Dabei ist die Gesellschaft der Erwachsenen schon sorgfältig gesiebt und gefiltert. Wieviel ist schon auf Friedhöfen, in Gefängnissen und Irrenhäusern versickert, in der Kanalisation als Bodensatz und Abschaum fortgespült worden. Wir verlangen von den Kindern, ältere und erfahrene Mensehen zu achten, wir verbieten ihnen, sie zu kritisieren; Kinder haben ihre eigenen erfahrenen und ausgewachsenen Anführer, die ihnen näher stehen und sich ihnen mit Überredung und Zwang aufdrängen. Verdorben, ohne Halt und sich selbst überlassen treiben sich diese Flegel herum, betrügen einander, benehmen sich niederträchtig und geben damit ein schlechtes Beispiel. Und dafür werden die Kinder insgesamt verantwortlieh gemacht (denn uns bleibt dieses Unwesen nicht immer verborgen). Diese wenigen rufen einen Sturm der Entrüstung hervor, sie sind Schandflecke auf der Oberfläche des kindlichen Lebens; sie fordern die Erwachsenen zu ihren routinierten Methoden des Vorgehens heraus: zur Kürze, auch wenn sie bedrückt, zur Schärfe, auch wenn sie verletzt, zur Strenge, die Brutalität bedeutet. Wir erlauben den Kindern nicht, sich zu organisieren; wir achten sie gering, wir vertrauen ihnen nicht, wir sind ihnen 22

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nicht wohlgesonnen, wir kümmern uns nicht um sie; ohne die wirkliche Teilnahme von Sachkennern sind wir ihnen nicht gewachsen; der wirkliche Sachkenner aber ist das Kind. Sind wir schon so voreingenommen, daß wir die Zärtlichkeiten, die den Kindern lästig sind, für echte Liebe zum Kinde halten? Begreifen wir denn nicht, daß wir es sind, die Zärtlichkeit beim Kinde suchen, wenn wir es an uns ziehen; uns, wenn wir ratlos sind, in seine Arme flüchten, daß wir in Stunden ohnmächtiger Schmerzen und grenzenloser Verlassenheit bei ihm Schutz und Zuflucht suchen, und ihm die Last unseres Leidens und unserer Sehnsucht aufbürden? Jede Zärtlichkeit, die nicht Flucht zum Kinde und ein Flehen um Hoffnung ist, bedeutet ein frevlerisches Entdeckenwollen und Erwecken sinnlicher Empfindungen. ‫״‬Hab' mich lieb, ich bin traurig. Gib mir einen Kuß, dann schenk ich dir was." Das ist Egoismus, aber keine echte Liebe zum Kinde. Das Recht auf Achtung Es gibt gewissermaßen zwei Leben: das eine angesehen und geachtet, das andere nachsichtig geduldet und von geringerem Wert. Wir sprechen von dem zukünftigen Menschen, dem zukünftigen Arbeiter und dem zukünftigen Staatsbürger. Das liegt noch in weiter Feme, das beginnt wahrhaftig erst später, das wird erst in Zukunft ernst. Wir lassen gnädig zu, daß die Kinder sich an unserer Seite tummeln, bequemer ist es jedoch ohne sie. Nein, sie waren in jedem Fall immer da und werden es auch in Zukunft sein. Sie haben uns nicht unerwartet und nur für kurze Zeit überfallen. Die Kinder — sie sind kein flüchtiges Zusammentreffen mit einem Bekannten, den man in der Eile übersehen und mit einem Lächeln und einem Gruß leicht wieder los werden kann. Die Kinder machen einen hohen Prozentsatz der Bevölkerung, der Menschheit, der Nation, der Einwohnerschaft, der Mitbürger aus. Sie sind ständige Gefährten. Sie waren da, sie sind da, und sie werden immer da sein. Gibt es ein Leben nur so zum Scherz! Nein, das Kindesalter — das sind lange, wichtige Jahre des menschlichen Lebens. Das 23

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grausame, aber in sich konsequente Recht Griechenlands und Roms läßt die Tötung von Kindern zu. Im Mittelalter ziehen Fischer in ihren Netzen die Leichen von ertränkten Neugeborenen an Land. Noch im 17. Jahrhundert werden in Paris ältere Kinder an Bettler verkauft, jüngere verschenkt man vor den Portalen von Notre Dame. Das ist noch gar nicht lange her. Und bis zum heutigen Tage werden sie unterdrückt, wenn sie uns im Wege sind. Die Zahl der unehelichen, verlassenen, vernachlässigten, ausgenutzten, verwahrlosten und mißhandelten Kinder wird immer größer. Das Gesetz schützt sie zwar, aber genügt dieser Schutz noch? Es hat sich vieles verändert; die alten Gesetze bedürfen einer Revision. Wir sind reich geworden. Wir genießen längst nicht mehr lediglich die Früchte der eigenen Arbeit. Wir sind Erben, Aktionäre, Miteigentümer eines ungeheuren Vermögens. Wieviele Städte, öffentliche Gebäude, Fabriken, Bergwerke, Hotels und Theater sind unser Eigentum; wieviele Waren auf den Märkten — von unzähligen Schiffen herbeigebracht — drängen sich dem Verbraucher förmlich auf und wollen — bitteschön verwendet werden. Machen wir Bilanz, berechnen wir, wieviel dem Kinde danach vom Gesamteinkommen zusteht, wieviel ihm als sein rechtmäßiger Anteil nicht aus Gnade und nicht als Almosen zukommt. Prüfen wir redlich, wieviel wir davon dem Volk der Kinder, der Nation der Minderjährigen, der Klasse der Fronenden überlassen. Wie groß ist ihr Erbteil, wie soll es aufgeteilt werden; haben wir sie nicht — wie ein unredlicher Vormund — enterbt und enteignet? Sie fühlen sich bedrängt, eingeengt, armselig, eintönig und streng behandelt. Wir haben den Unterricht für die Allgemeinheit eingeführt, den Zwang zu geistiger Arbeit; die Kinder werden registriert und der Schulpflicht unterworfen. Wir haben dem Kinde die Bürde auferlegt, mit den sich widersprechenden Interessen zweier gleichlaufender Autoritäten fertig zu werden. Die Schule stellt ihre Anforderungen, die Eltern geben nur ungern nach. Die Konflikte zwischen Elternhaus und Schule belasten das Kind. Unter Umständen erklären sich die Eltern 24

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mit einer ungerechten Beschuldigung einverstanden, welche die Schule gegen das Kind erhebt, und weisen so die ihnen von der Schule übertragene Sorgepflicht von sich. Die Mühe des Soldatendienstes ist eine Vorbereitung für den Tag des Einsatzes; dennoch sorgt der Staat auch im Frieden für den gesamten Unterhalt des Soldaten, der Staat gibt ihm Unterkunft und Verpflegung; der Soldat hat Anspruch auf Uniform, Waffe und Besoldung, sie sind kein Almosen. Das Kind dagegen muß bei den Eltern oder bei der Gemeinde betteln, obwohl es der allgemeinen Schulpflicht unterliegt. Die Genfer Gesetzgeber1 haben das Verhältnis von Pflichten und Rechten verwechselt; der Tenor ihrer Deklaration ist Überredung, nicht Forderung: ein Appell an den guten Willen, eine Bitte um Einsicht. Die Schule bestimmt den Rhythmus der Stunden, Tage und Jahre. Die Schulbeamten sind verpflichtet, auf die jeweiligen Probleme der jungen Staatsbürger einzugehen. Das Kind ist verständig, es weiß, was es braucht, es kennt die Schwierigkeiten und Hemmnisse seines Lebens genau. Nicht despotischer Befehl, erzwungene Disziplin und mißtrauische Kontrollen, sondern Einfühlungsvermögen im Gespräch, Vertrauen in die Erfahrung, Zusammenarbeit und Zusammenleben. Das Kind ist nicht dumm; unter Kindern gibt es nicht mehr Dummköpfe als unter den Erwachsenen. Geschmückt mit dem purpurnen Gewand des Alters zwingen wir ihnen doch häufig kritiklos und gedankenlos unausführbare Vorschriften auf. Ein verständiges Kind steht manchmal verwundert einer solchen angriffswütigen, bejahrten spöttischen Dummheit gegenüber. Das Kind hat eine Zukunft, aber ebenso auch eine Vergangenheit; denkwürdige Ereignisse, Erinnerungen, viele Stunden bedeutenden, einsamen Grübelns. Ebenso wie wir erinnert es sich oder vergißt, schätzt oder verachtet, denkt logisch — und irrt, wenn es etwas nicht weiß. Mit Überlegung vertraut es und zweifelt. Das Kind ist wie ein Fremdling, es versteht die Sprache nicht, es kennt den Verlauf der Straßen nicht, kennt die Gesetze 1 Korczak denkt hier gewiß an die «Déclaration de Genève» der «Union internationale de secours aux enfants» vom 23. Februar 1924, welche die Menschenrechte des Kindes formuliert.

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und Bräuche nicht. Manchmal möchte es selbst entdecken ; wenn es schwierig wird, bittet es um Hinweis und Rat. Es braucht jemanden, der es leitet und seine Fragen beantwortet. Wir sollten seine Unwissenheit achten! Ein gewissenloser Betrüger und Schelm nützt die Unwissen‫־‬ heit des Fremden aus, gibt eine unverständliche Antwort und führt absichtlich irre. Ein Grobian brummt mürrisch. Wir zanken uns und hadern mit den Kindern, wir tadeln, mahnen und bestrafen sie, aber wir informieren sie nicht wohlwollend. Wie beweinenswert ärmlich wäre das Wissen des Kindes, wenn es nicht von seinen Altergenossen lernte, nicht horchte und aus den Worten und Gesprächen der Erwachsenen manches entnähme. Wir sollten seine Wißbegierde achten! Wir sollten auch seine Mißerfolge und Tränen achten! Nicht nur ein zerrissener Strumpf, sondern auch ein aufgeschlagenes Knie, nicht nur ein zerbrochenes Glas, sondern auch ein verletzter Finger, ein blauer Fleck, eine Beule, also Schmerz. Ein Klecks im Heft, das ist ein Ereignis, ein Ärgernis, ein Mißerfolg. Wenn der Vater seinen Tee verschüttet, sagt die Mutter: ‫״‬Das macht doch nichts"; aber mit mir schimpft sie deswegen. Weil sie noch nicht gewohnt sind, Schmerz, Unrecht und Ungerechtigkeit zu tragen, leiden sie darunter mehr, weinen öfter; ihre Tränen reizen zuweilen sogar zu spöttischen Bemerkungen, werden nicht ernst genommen, sie sind ein Ärgernis. ‫ ״‬Es winselt, heult, quengelt, plärrt." (Ein Bündel von Ausdrücken, das die Erwachsenen für den Gebrauch Kindern gegenüber erfanden.) Eigensinnige und launische Tränen — das sind Tränen der Ohnmacht und der Empörung, ein verzweifelter Versuch von Protest, ein Ruf nach Hilfe, eine Klage über nachlässige Obhut, ein Zeugnis dafür, daß es unverständig eingeengt und gezwungen wird, ein Zeichen von Unwohlsein, immer aber ein Leid. Wir sollten das Eigentum des Kindes und sein Recht auf eigenes Geld anerkennen. Das Kind nimmt Anteil an den materiellen Sorgen der Familie und leidet darunter, es empfindet 26

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Mängel, es vergleicht die eigene Armut mit dem Reichtum seines Spielgefährten, und die bitteren Groschen, um die es ärmer wird, tun ihm weh. Es will keine Last sein. Was soll es denn tun, wenn es doch eine neue Mütze, ein Buch und Geld fürs Kino braucht; ein neues Heft, wenn das alte vollgeschrieben ist, einen Bleistift, wenn es einen verloren hat oder er ihm weggenommen wurde; es möchte gern einem lieben Menschen etwas zur Erinnerung schenken, sich ein Stück Kuchen kaufen oder einem Schulkameraden etwas borgen. Soviel echter Bedarf, soviele Wünsche und Verlockungen, aber es hat kein Geld. Ist dann die Tatsache, daß bei den Jugendgerichten gerade Diebstähle überwiegen, nicht Zeichen und Aufruf? Es rächt sich bitter, daß der Geldbedarf des Kindes geringgeschätzt wird ‫ ־־־‬Strafen nützen da nichts. Eigentum des Kindes — das ist kein Gerümpel, sondern das sind Dinge, mit denen es betteln kann, und Arbeitsgeräte, Hoffnungen und Erinnerungen. Es sind dies keine eingebildeten, sondern wesentliche, aktuelle Sorgen und Unruhen, es sind die Bitterkeit und die Enttäuschungen der Jugend. Das Kind wächst heran. Es wird kräftiger, sein Atem geht rascher, sein Puls lebhafter — es arbeitet an sich, wird immer größer, wächst tiefer in das Leben hinein. Es wächst bei Tag und bei Nacht, im Schlafen und im Wachen, ob es fröhlich ist oder betrübt, ob es etwas anstellt oder zerknirscht vor dir steht. Es gibt Frühlingszeiten, in denen die Entwicklung sehr schnell voranschreitet, und Herbstzeiten, in denen sie etwas langsamer wird. Einmal wächst das Knochengerüst, und das Herz kommt nicht nach, es tritt ein Mangel auf oder ein Übermaß; es gibt andere chemische Funktionen von schwindenden und neu entstehenden Drüsen, neue Unruhe und Überraschung. Einmal möchte es laufen, so wie es atmet, möchte kämpfen, möchte seine Kräfte einsetzen, und erobern; ein andermal möchte es sich verstecken, möchte träumen und sehnsüchtigen Gedanken nachhängen. Abwechselnd Abhärtung, oder der Wunsch nach Ruhe, Wärme und Bequemlichkeit. Abwechselnd verlangt es etwas heiß und innig, oder es ist lustlos. Ermattung, schmerzhafte Beschwerden, Erkältung, Hitze, Kälte, Müdigkeit, Hunger, Durst, überschüssige Kraft, Mangel, 27

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Unwohlsein, — das sind keine Launen, keine Ausreden für die Schule. Wir sollten Achtung haben vor den Geheimnissen und Schwankungen der schweren Arbeit des Wachsens! Wir sollten auch die gegenwärtige Stunde achten, den heutigen Tag. Wie soll es morgen leben können, wenn wir es heute nicht bewußt, verantwortungsvoll leben lassen? Wir sollten nicht treten, nicht vernachlässigen, nicht das Morgen fesseln, es nicht auslöschen, nicht eilen, nicht hetzen. Wir sollten jeden einzelnen Augenblick achten, denn er stirbt und wiederholt sich nicht, und immer sollten wir ihn ernst nehmen; wird er verletzt, so bleibt eine offene Wunde zurück, wird er getötet, so erschreckt er uns als ein Gespenst böser Erinnerungen. Lassen wir das Kind doch unbeschwert die Freude des frühen Morgens genießen und vertrauen. Das Kind will es eben so. Die Zeit ist ihm nicht zu schade für ein Märchen, für ein Gesprach mit seinem Hund, fürs Ballspielen, fürs genaue Betrachten eines Bildes, fürs Nachzeichnen eines Buchstabens — aber all das mit Freude. Es hat recht. In unserer Naivität fürchten wir den Tod und wissen nicht, daß das Leben ein Reigen vergehender und wieder neu entstehender Augenblicke ist. Ein Jahr — das ist nur der Versuch, die Ewigkeit im Alltag zu begreifen. Ein Augenblick dauert so lange wie ein Lächeln oder ein Seufzer. Eine Mutter möchte ihr Kind erziehen; aber dies wird sie nicht erwarten: daß ständig eine andere Frau einen anderen Menschen verabschiedet und begrüßt. Unbeholfen teilen wir die Jahre in mehr oder weniger reife auf; es gibt gar kein unreifes Heute, keine Hierarchie des Alters, keinen höheren oder tieferen Rang des Schmerzes und der Freude, der Hoffnung und Enttäuschung. Wenn ich mit einem Kind spiele oder spreche ‫ ־־־‬dann haben sich zwei gleichwertig reife Augenblicke in meinem und in seinem Leben verbunden; wenn ich mit einer Kinderschar zusammen bin, dann begrüße oder verabschiede ich immer ein einzelnes einen Augenblick lang mit einem Blick oder einem Lächeln. Wenn ich in Gegenwart eines Kindes ärgerlich bin, dann vergewaltigt und vergiftet nur mein böser, rachsüchtiger Augenblick den reifen und wichtigen Augenblick in seinem Leben. 28

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Verzichten um des Morgens willen? Welche Verlockungen prophezeit er? Wir entwerfen ein Bild in übertrieben dunklen Farben. Die Voraussage erfüllt sich: das Dach stürzt ein, weil das Fundament des Gebäudes vernachlässigt wurde. Das Recht des Kindes zu sein, was es ist Was wird aus ihm, wenn es groß ist? — So fragen wir uns mit Bangen. Wir möchten, daß unsere Kinder besser werden, als wir es sind. Wir träumen von dem vollkommenen Menschen der Zukunft. Wir müssen schon wachsam sein, um uns selbst bei einer Lüge zu ertappen und den in Phrasen gekleideten Egoismus bloßzulegen. Der angeblich opferwillige Verzicht ist in Wahrheit ein gewöhnlicher Schwindel. Wir haben uns untereinander verständigt und geeinigt, haben einander vergeben, und uns von der Pflicht freigesprochen, uns bessern zu müssen. Wir wurden schlecht erzogen. Nun ist es zu spät. Die Fehler und Laster sind bereits tief eingewurzelt. Wir erlauben den Kindern nicht, uns zu kritisieren, noch kontrollieren wir uns selbst. Wir sind freigesprochen; also haben wir den Kampf mit uns selbst aufgegeben und diese Bürde den Kindern auferlegt. Der Erzieher eignete sich bereitwillig das Privileg der Erwachsenen an: nicht sich selbst, sondern die Kinder zu überwachen, nicht seine eigenen Verfehlungen, sondern die der Kinder zu registrieren. Als Schuld wird einem Kind alles angerechnet, was unsere Ruhe, unseren Ehrgeiz und unsere Bequemlichkeit stört, was uns bloßstellt und ärgert, was gegen Gewohnheiten verstößt, Zeit und Überlegung in Anspruch nimmt. Wir sehen in jeder Verfehlung bösen Willen. Das Kind weiß etwas nicht, hat etwas nicht verstanden, nicht begriffen, falsch gehört, sich geirrt, es ist ihm etwas nicht geglückt, es kann nicht — alles wird ihm als Schuld angerechnet. Ein Mißerfolg des Kindes oder ein Unbehagen, jeder schwierige Augenblick — das ist seine Schuld und sein böser Wille. 29

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Ist es nicht flink genug oder allzu hastig, hat es eine Arbeit ungeschickt ausgeführt — das gilt als Nachlässigkeit, Faulheit, Zerstreutheit, Widerwille. Erfüllt es einen demütigenden, unausführbaren Auftrag nicht, so ist es schuldig. Dieser stümperhafte, böswillige Verdacht ‫—־‬das ist auch Schuld. Unsere Befürchtungen, unser Argwohn, sogar das Bemühen des Kindes, sich zu bessern, werden zu seiner Schuld. ‫ ״‬Siehst du, du kannst, wenn du nur willst." Immer haben wir etwas auszusetzen, und unersättlich fordem wir immer mehr. Geben wir taktvoll nach, vermeiden wir unnötige Reibereien, erleichtern wir das Zusammenleben? Sind nicht gerade wir eigensinnig, launisch, angriffslustig und unberechenbar? Ein Kind fällt auf, wenn es stört und Unruhe stiftet; nur diese Momente bemerken und behalten wir. Wir sehen es nicht, wenn es ruhig, ernst und gesammelt ist. Wir achten die heiligen Augenblicke seines Gesprächs mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott gering. Das Kind ist gezwungen, seine Sehnsucht und seine Begeisterung vor spöttischen und groben Bernerkungen zu verbergen, es zeigt seinen Willen zur Verständigung nicht; den Entschluß, sich zu bessern, gesteht es nicht ein. Gehorsam verbirgt es seine prüfenden Blicke, sein Erstaunen, seine Unruhe, seinen Kummer — seinen Zorn und seine Empörung. Wir möchten, daß es hüpft und in die Hände klatscht ; also zeigt es das fröhliche Gesicht eines Bajazzo. Böse Taten und schlimme Kinder sprechen aufdringlich für sich, übertönen das Flüstern des Guten, und es gibt tausendmal mehr Gutes als Böses. Das Gute ist kraftvoll und andauernd. Es stimmt nicht, daß man leichter verderben als bessern kann. Wir üben unsere Aufmerksamkeit und unseren Erfindungsreichtum im heimlichen Beobachten des Bösen, wir suchen es überall, spüren es auf, verfolgen es, wollen es auf frischer Tat ertappen, wir sehen Schlimmes voraus und kommen zu demütigenden Verdächtigungen. (Passen wir denn auf Greise auf, daß sie nicht Fußball spielen? Wie schändlich ist es, bei Kindern hartnäckig nach Onanismus zu fahnden.) Ein Kind hat die Tür zugeschlagen, ein Bett ist schlecht gemacht, ein Mantel ist verlegt, ein Klecks ist im Heft. Wenn wir nicht 30

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schimpfen, so nörgeln wir doch, anstatt uns zu freuen, daß es nur das ist. Wir hören nur Klagen und Streit; aber wieviel Verzeihen, Nachgiebigkeit, Hilfe, Fürsorge, Gefälligkeit, Belehrung, gute Einflüsse, tiefe und schöne, gibt es. Nicht einmal die angriffslustigen oder boshaften Kinder bringen nur Tränen, sondern sie verbreiten auch Lachen. In unserer Trägheit wäre es uns lieb, wenn keines der Kinder uns jemals Mühe machte, und wenn von den zehntausend Sekünden einer Schulstunde (bitte nachzählen) keine einzige schwierig wäre. Warum ist ein Kind für den einen Erzieher gut und für den anderen böse? Wir verlangen eine Uniform der Tugenden und Momente, und das auch noch nach unserem Gutdünken und unseren Vorstellungen. Gibt es in der Geschichte wohl ein Beispiel für eine ähnliche Tyrannei? Das Geschlecht Neros hat sich vermehrt. Neben der Gesundheit gibt es die Krankheit, neben Vorzügen und Werten stehen Mängel und Fehler. Neben einigen fröhlichen und beschwingten Kindern, für die das Leben ein Märchen oder eine schöne Legende ist, die vertrauensvoll und aufgeschlossen sind — gibt es die Vielzahl der anderen, denen die Welt von klein auf düstere Wahrheiten in schmucklosen, harten Worten verkündet. Verdorben durch verächtliche Behandlung in Grobheit und Armut — verdorben durch eine sinnliche, zärtliche GeringSchätzung im Überfluss und Luxus. Verschmutzt, mißtrauisch, Menschen gegenüber verschreckt — aber nicht schlecht. Nicht nur das Daheim, sondern auch die Diele, der Gang, der Hinterhof und die Straße wirken auf das Kind. Es redet so wie seine Umgebung, äußert Ansichten, wiederholt Gebärden, ahmt Beispiele nach. Wir kennen kein sauberes Kind — jedes wird mehr oder weniger schmutzig. Aber wie rasch macht es sich davon frei und wird sauber! Das wird nicht geheilt, das wäscht man ab ; bereitwillig hilft das Kind dabei und freut sich, weil es sich wiedergefunden hat. Sehnsüchtig hat es auf dieses Bad gewartet, es lächelt dir und sich selbst zu. Solche naiven Triumphe aus einer Erzählung über Waisenkinder feiert jeder Erzieher; diese Zufälle lassen unkritische 3*

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Moralisten glauben, das sei einfach. Der Pfuscher ergötzt sich daran, der Ehrgeizige schreibt sich selbst das Verdienst zu, der Grobian ärgert sich, daß es nicht immer so geht; die einen wollen überall ähnliche Ergebnisse erzielen, indem sie ihre Überredungskünste noch steigern, die anderen versuchen es mit Druck. Neben den Kindern, die nur schmutzig sind, finden wir auch verletzte und verwundete; es gibt Schnittwunden, die keine Narben hinterlassen und unter einem sauberen Verband von selbst heilen. Rißwunden brauchen länger, bis sie heilen, und hinterlassen schmerzhafte Narben; sie dürfen nicht berührt werden. Furunkel und Geschwüre erfordern noch mehr Pflege und Geduld. Im Volksmund heißt es: ein genesender Leib; man möchte hinzufügen: eine genesende Seele. Wieviele kleine Verletzungen und Infektionen gibt es in Schule und Internat, wieviele Versuchungen und aufdringliches Geflüster; und wie flüchtig und unschuldig sind die Taten. Fürchten wir uns nicht vor gefährlichen Epidemien, wenn die Atmosphäre eines Internates gesund ist und die Luft voller Ozon und Licht. Wie weise, bedächtig und wunderbar vollzieht sich der Gesundungsprozeß ! Wie viele ehrfurchtsgebietende Geheimnisse sind im Blut, in den Körpersäften und den Geweben verborgen! Wie sich jede gestörte Funktion und jedes verletzte Organ bemüht, wieder ins Gleichgewicht zu kommen und seiner Aufgäbe zu genügen! Wieviele Wunder im Wachstum von Pflanze und Mensch, in seinem Herzen, seinem Gehirn, seinem Atem! Die geringste Erregung oder Anstrengung — schon klopft das Herz stärker, ist der Pulsschlag lebhafter. Die gleiche Kraft und Ausdauer hat die Seele eines Kindes. Es gibt ein moralisches Gleichgewicht und eine Wachsamkeit des Gewissens. Es ist nicht wahr, daß Kinder sich leicht anstecken. Gewiß, die Pädiatrie ist leider sehr spät ins Lehrprogramm auf genommen worden. Ohne Verständnis für die Harmonie des Körpers kann man das Mysterium der Heilung nicht wirklieh schätzen lernen. Mangelndes Unterscheidungsvermögen wirft lebhafte, ehrgeizige, kritische und all die unbequemen, aber gesunden und sauberen Kinder in einen Topf mit den 32

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mürrischen, verdrossenen, mißtrauischen, schmutzigen, verführten und leichtsinnigen Kinder, die bereitwillig schlimmen Beispielen folgen. Ein unerfahrener, achtloser und oberflächlicher Blick erkennt keinen Unterschied zwischen diesen und den seltenen üblen Ausnahmen, die wirklich schwer belastet sind. (Wir Erwachsenen haben es nicht nur nicht verstanden, die Stiefkinder des Schicksals unschädlich zu machen, sondern wir nutzen auch noch die Arbeitskraft dieser Enterbten geschickt aus.) Wenn gesunde Kinder gezwungen sind, mit diesen zusammenzuleben, so leiden sie besonders darunter: sie werden ungerecht behandelt und in Verfehlungen hineingezogen. Und wir — beschuldigen wir nicht leichtsinnig die Allgemeinheit, drängen wir ihr nicht eine Kollektivverantwortung auf? ‫ ״‬So sind sie, und dazu sind sie fähig." Das ist wohl das schlimmste Unrecht. Die Nachkommen von Säufern, von Vergewaltigung und Raserei — ihre Verfehlungen sind nicht das Echo auf Stimmen von außen, sondern sie gehorchen einem Befehl von innen. Ein düsterer Augenblick: das Kind begreift, daß es anders ist, schwieriger, ein Krüppel, daß es verwünscht und beschimpft wird. Der erste Entschluß, den Kampf mit der Macht aufzunehmen, die das Böse diktiert. Was die anderen einfach geschenkt bekommen, was bei ihnen alltäglich oder wertlos ist, die lichten Tage seelischen Gleichgewichts, erhält es nur als Lohn für blutige Anstrengungen. Es sucht Hilfe ; wenn es Vertrauen faßt, schließt es sich auf, bittet, fordert: ‫ ״‬Helft!" Es hat ein Geheimnis aufgespürt, es möchte sich bessern, ein für allemal, sofort, im ersten Sturm der Anstrengung. Wir sollten seinen leichtsinnigen Feuereifer bedächtig zügeln, seinen Entschluß, sich zu bessern, hinauszögem; statt dessen stacheln wir es in ungeschickter Weise an und treiben es zur Eile. Es will sich befreien, wir aber bemühen uns, es zu verstricken; es will sich losmachen, wir aber stellen ihm heuchlerische Fallen. Wenn Kinder offen und aufrichtig sein wollen, so lehren wir sie das Gegenteil. Sie schenken uns einen Tag, einen ganzen, langen Tag ohne Fehl — wir aber stoßen sie um eines einzigen bösen Augenblicks willen zurück. Ist es das wert? 33

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Es hat sich jeden Tag naß gemacht; jetzt kommt es seltener vor; es war schon besser, nun ist es wieder schlimmer geworden. Das macht nichts. Die Pausen zwischen zwei Anfällen eines Epileptikers werden länger. Der Lungenkranke hustet weniger, sein Fieber ist gefallen. Es ist zwar nicht besser, aber auch nicht schlimmer geworden. Das rechnet sich der Arzt als Erfolg seiner Behandlung an. Hier läßt sich nichts ablisten noch erzwingen. Verzweifelt, empört, voller Verachtung für die unterlegene, gemein-gewordene, kriecherische Tugend — stehen diese Kinder vor ihrem Erzieher; eine einzige, vielleicht die letzte Tugend haben sie sich bewahrt: die Abneigung gegen die Heuchelei. Diese wollen wir zu Boden werfen, totschlagen. Wir machen uns eines schweren Verbrechens schuldig; durch Hunger und Torturen brechen wir die Widerstandskraft — aber wir zerstören nicht den Widerstand, sondern die Offenherzigkeit, wir fachen Haß, Hinterlist und Verschlagenheit leichtfertig bis zur Weißglut an. Die Kinder verzichten nicht auf ihr Programm der Rache, sie verschieben es nur und warten auf eine günstige Gelegenheit. Wenn sie an das Gute glauben, so hüten sie die Sehnsucht danach als ihr tiefstes Geheimnis. ‫״‬Warum habt ihr es zugelassen, daß ich geboren wurde, wer hat euch um mein Hundeleben gebeten?" Ich strebe nach der höchsten Stufe des Eingeweiht-Seins, nach der schwierigsten Erhellung. Bei Übertretungen und Verfehlungen genügt geduldige, wohlwollende Nachsicht; Übeltäter brauchen Liebe. Ihre zornige Empörung ist gerecht. Der Groll gegenüber einer Tugend, die nicht schwerfällt, muß nachempfunden und ein Bündnis mit dem einsamen, geächteten Frevel geschlossen werden. Wann, wenn nicht jetzt, kann ein Lächeln ein Geschenk für es sein? In Besserungsanstalten gibt es immer noch die Inquisition, die Tortur mittelalterlicher Strafen, die solidarische Hartnäckigkeit und die Rachsucht, die durch Mißachtung hervorgerufen werden. Seht ihr denn nicht, daß diese schlimmsten Kinder gerade den besten leid tun: was ist denn ihre Schuld?

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Es ist noch nicht lange her, da gab ein beflissener Arzt seinen Kranken gehorsam süßen Sirup und bittere Mixturen; Fieberkranke band er fest, ließ sie zur Ader, verordnete Hungerkuren in den düsteren Vorhöfen des Friedhofs. Den Wohlhabenden gegenüber zu allem bereit — frostig zu den Armen. Bis jemand zu fordern begann — und erhielt, was er forderte. Ein A rzt1 eroberte für die Kinder Platz und Sonnenlicht, so wie es — zu unserer Schande — ein General2 war, der dem Kinde Bewegung, fröhliche Abenteuer, Freude an einer guten Tat und die Entscheidung zu einem rechtschaffenden Leben im Gespräch am Lagerfeuer unter einem flimmernden Sternen‫־‬ himmel gab. Welche Rolle spielt der Erzieher bei uns, wie ist seine Arbeit? Ein Wächter über Wände und Möbel, über die Ruhe auf dem Schulhof und die Sauberkeit der Ohren und Fußböden; ein Viehhirte, der aufpassen muß, daß seine Herde keinen Schaden anrichtet, die Erwachsenen bei der Arbeit und bei der fröhlichen Erholung nicht stört; ein Aufseher über zerrissene Hosen und Schuhe, über schmale Grützeportionen. Ein Wächter über die Privilegien der Erwachsenen und ein mißmutiger Voll‫־‬ Strecker unfachlicher Launen. Ein Kramladen für Befürchtungen und Warnungen, ein Marktstand für moralische Trödlerware, ein Ausschank für denaturiertes Wissen, das befangen macht, verwirrt und einschläfert anstatt aufzurütteln, zu beleben und zu erfreuen. Als Agenten einer billigen Tugendhaftigkeit sollen wir den Kindern Ehrerbietung und demütiges Verhalten beibringen, die Er‫־‬ wachsenen aber rühren und ihre sentimentalen Gefühle er‫־‬ regen. Um ein Hundegeld eine solide Zukunft aufbauen, be‫־‬ trügen und verschweigen, daß Kinder durch ihre große Zahl und ihren Willen eine Macht darstellen und Rechte haben. Der Arzt hat das Kind dem Tod entrissen; Aufgabe des Erziehers ist es, das Kind leben zu lassen und ihm zu dem Recht zu verhelfen, Kind zu sein. 1 Korczak spielt hier auf Dr. Stanisław Markiewicz (1839—1911) an, der 1881 die ersten Sommer-Ferienkolonien für polnische Kinder gründete, die dann 1897 staatlich anerkannt wurden. 2 Gemeint ist hier der britische General Sir Robert Stephenson Smyth Baden-Powell, der nach dem Burenkrieg die Bewegung der ‫״‬boy scouts" ins Leben rief.

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Forscher haben behauptet, der reife Mensch leite sich durch Motive, das Kind durch Triebe, der Erwachsene handle logisch, das Kind impulsiv in trügerischen Vorstellungen; der Erwachsene habe Charakter, ein festgefügtes moralisches Profil, das Kind verstricke sich im Chaos seiner Instinkte und Wünsche. Das Kind wird nicht als ein andersartiger, sondern als ein minderwertiger, schwächerer, ärmerer psychischer Organismus untersucht. Als ob alle Erwachsenen gelehrte Professoren wären. Das ist die Wirrnis der Erwachsenen — hinterwäldlerische Ansichten und Überzeugungen, Herdenpsychologie, die Vorurteile und Gewohnheiten, leichtfertige Taten der Väter und Mütter, dieses ganz und gar unverantwortliche Leben der Erwachsenen. Nachlässigkeit, Trägheit, dumpfer Starrsinn, Gedankenlosigkeit, Unsachlichkeit, Tollheiten und Ausschweifungen bei Trunkenheit. Dagegen Ernst, Überlegung und kindliches Gleichgewicht, Zuverlässigkeit gegenüber Verpflichtungen, Erfahrungen im eigenen Bereich, ein Kapital an gerechten Beurteilungen, taktvolle Zurückhaltung bei Wünschen, zarte Empfindungen und ein untrügliches Gefühl für das Richtige. Ob wohl ein jeder gewinnt, der mit einem Kinde Schach spielt? Laßt uns Achtung fordern für die hellen Augen, die glatten Schläfen, die Anstrengung und die Zuversicht der Jugend. Aus welchen Gründen sollten trübe Augen, eine faltige Stirn, schütteres graues Haar und gebeugte Resignation verehrungswürdiger sein? Aufgang und Untergang der Sonne sind gleichwertig wie Morgengebet und Abendandacht; wie Einatmen und Ausatmen, wie das Zusammenziehen und Entspannen des Herzmuskels. Der Soldat, wenn er in die Schlacht zieht und zurückkehrt, staubbedeckt. Eine neue Generation wächst heran, eine neue Welle erhebt sich. Sie kommt mit Fehlern und Vorzügen; laßt uns die Voraussetzungen schaffen, daß sie bessere Menschen werden können. Wir können den Prozeß mit dem Sarg des kranken Erbes nicht gewinnen, wir können Kornblumen nicht befehlen, Getreide zu werden. Wir sind keine Wundertäter — wir wollen 36

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aber auch keine Scharlatane sein. Entsagen wir also der trügerischen Sehnsucht nach vollkommenen Kindern. Wir fordern: beseitigt den Hunger, das Elend, die Feuchtigkeit und die Stickigkeit, die Enge und die Übervölkerung. Ihr seid es doch, die ihr kränkliche und gebrechliche Kinder in die Welt setzt, ihr seid es doch, die ihr die Voraussetzungen für Rebellion und Seuchen schafft: eure Leichtfertigkeit, euer Unverstand und eure Unfähigkeit zur Ordnung. Nehmt euch in acht: der starke brutale homo rapax bestimmt das moderne Leben; er diktiert die Verhaltensweisen. Seine Zugeständnisse an die Schwachen sind eine Lüge, unehrlich ist die Ehrerbietung für den Greis, die Gleichberechtigung für die Frau und das Wohlwollen für das Kind. Obdachlos irrt das Gefühl umher — ein Aschenbrödel. Kinder jedoch — in ihrem Empfinden sind sie Königskinder, Dichter und Weise. Wir sollten Achtung haben, wenn nicht gar Demut, vor der hellen, lichten, unbefleckten, seligen Kindheit.

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EINE UN GL Ü CK S W O C H E* Aus dem Schulleben Der Kohlenhändler hatte nicht Wort gehalten. Papa ärgerte sich sehr darüber, daß Mama alles bis zum letzten Augenblick aufschob. Mama sagte, Papa solle keine großen Reden halten, wenn er nicht Bescheid wisse, denn die Kohlen seien schon am Donnerstag bestellt worden. Papa erwiderte, daß es in der Stadt — Gott sei Dank ‫—־‬nicht nur einen Kohlenhändler gebe. Mama entgegnete, daß sie das besser wisse als Papa; aber nur dieser eine Kohlenhändler wiege gut aus. Darauf sagte Papa wiederum, daß ihm Mamas kleinliche Sparsamkeit zum Halse heraushänge. Mama war tief beleidigt. Dann solle Papa doch selbst den Haushalt führen; Papa sei ein rücksichtsloser Mensch; schließlich hätte auch sie im Haushalt einiges zu sagen. Papa aber erwiderte: ‫ ״‬Fängt das alte Lied schon wieder an" und ging hinaus. Das geschah am Sonntag, und am Montagmorgen war es in der Wohnung so kalt wie in einer Hundehütte. Stasio war schon zweimal geweckt worden, einmal von Mama und dann von Ludwika. Stasio tat so, als ob er noch schliefe. Unter der Bettdecke war es warm, im Zimmer aber kalt und dunkel, auf der Straße kalt und matschig, und in der Schule . . . ‫״‬Die Gnädige Frau läßt fragen, ob Stasio schon auf gestanden ist . . . Stasio soll aufstehen, denn es ist schon spät . . . Stasio wird noch zu spät zur Schule kommen." Ludwika zieht an der Bettdecke. ‫ ״‬Gleich." ‫״‬Wenn du schon gleich sagst, dann tu's auch. Bitte, steh auf!" ‫״‬Geh du erst hinaus, Ludwika." * Aus: Wybór pism (Ausgewählte Schriften), Bd.II, S. 27—62.

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Ach, wie er diese abscheuliche Köchin haßt, die sich in alles einmischt. ‫ ״‬Gut, dann sage ich es eben der Gnädigen Frau! Von mir aus kannst du ruhig liegenbleiben, Stasio." Stasio kann Ludwika nicht leiden. Er mag sie nicht, weil er aufstehen muß, weil heute Montag ist und weil es in der Woche keinen Feiertag gibt, weil der Lehrer heute das Diktat zurückgibt, in dem Stasio zwei grobe Fehler gemacht hat, von denen er bereits weiß ; und schließlich, weil heute in der ersten Stunde Geographieunterricht ist, in dem er bestimmt drankommt; denn es sind nur noch sechs Schüler, die noch nicht aufgerufen worden sind. ‫״‬Nun, was ist, steht er auf?" — tönt Mamas Stimme aus dem Eßzimmer. Stasio setzt sich im Bett auf und zieht sich unter der Decke lustlos an. ‫ ״‬Aha" — sagt Ludwika mit triumphierendem Lächeln. ‫״‬Wenn Ludwika nicht hinausgeht, ziehe ich mich nicht an." ‫ ״‬Oje, wie empfindlich du bist — man sollte es kaum für möglieh halten." ‫״‬Wenn du nur verrecken tätest" — denkt Stasio voller Zorn.

Ein grauer, trüber, bleierner Montagmorgen. Grau, trüb und träge wie das Dasein dieser Masse von vielen hundert Millionen, die sich in ständiger Suche nach Nahrung und Kleidung dahinschleppt, immer im Kreis herum; von einem Sonntag zum anderen im Kreis herum, träge und gedankenlos im Kreis herum, ohne ein freundliches Lächeln, ohne farbenfreudige Wünsche, ohne kräftigen Atem in der flachen Brust und ohne ein heiteres ‫״‬Juhu", das ein Echo wecken und in den grünen Wald tragen könnte. Der Sonntag brachte Langeweile und Enttäuschung; der Montagmorgen kündigt sechs lange, trübe Tage an, ehe ein neuer Sonntag mit neuer Langeweile und neuer Verdrossenheit kommt. Ach, meine Herren, meine Herren — Millionen von Schulkindern habt ihr in eure Tretmühle eingespannt, und nun dreht sich dieses arme Kindervolk von einem Sonntag 39

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zum andern im Kreis, und es stumpft nach Jahren der Pein und des stummen, ohnmächtigen Protestes immer mehr ab ! So geht denn auch Stasio, den Schulranzen auf dem Rücken und Kummer im Herzen, und bemüht sich, große Schritte zu machen, damit jeder Schritt der Länge einer Trottoirplatte entspricht; und er schlägt mit der Hand gegen die blechernen Ladenschilder, an denen er vorbeikommt. ‫ ״‬Guten Tag." Gleichgültig geben sie sich die Hand. ‫ ״‬Weißt du, ich war gestern im Zirkus." Wiśnicki muß immer angeben. ‫ ״‬Große Sache, sicher in der Nachmittagsvorstellung." Stasio geht ein wenig zur Seite, um in eine Pfütze zu treten. Wisnicki verstummt, denn er ist unangenehm berührt. ‫״‬Eben nicht, in der Abendvorstellung war ich. Und außerdem ist das auch ganz egal." ‫ ״‬Morgen ist das egal, heute aber nicht. Heute sind die VorStellungen für Kinder nachmittags." ‫״‬Eben das stimmt nicht; es ist nur so, daß man heute nachmittag ein Kind umsonst mitnehmen darf ‫ ־־־־‬sonst ist alles dasselbe." ‫״‬Aber die Löwen werden nachmittags nicht vorgeführt." ‫ ״‬Doch, es gab auch eine Vorstellung mit den Löwen." ‫ ״‬Ist der Mann auch in den Käfig hineingegangen?" ‫״‬Ja, das ist er." ‫״‬Kannst du das beschwören?" ‫ ״‬Ich schwör's bei meinem Vater", — und er sieht Stasio fest in die Augen. ‫״‬Jetzt bist du hereingefallen, denn du warst doch am Nachmittag." ‫ ״‬Ich bin überhaupt nicht hereingefallen." ‫ ״‬Und woher weißt du, daß der Mann in den Käfig hineingegangen ist?" ‫ ״‬Ich weiß eben, was ich weiß." Böse und schweigend trotten sie nebeneinanderher. ‫ ״‬Guten Tag." Den Czerwiński kann Stasio auch nicht leiden, weil er ein Streber ist und dumm dazu. 40

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‫״‬Wißt ihr was: in diesem Diktat habe ich keinen einzigen Fehler gemacht." ‫ ״‬Und wie hast du geschrieben , p o s l i e d n i e j e ' ? " 1 fragt Wisnicki. ‫ ״‬Pah, ist doch kein Kunststück!" Das ist gerade einer von den beiden groben Fehlern, die Stasio gemacht hat. Stasio läßt die beiden allein, geht an der Rinnsteinkante entlang, ganz nahe am Rand, streckt die Arme seitwärts aus und hält so das Gleichgewicht. Er schielt zu seinen Klassenkameraden hinüber und denkt erbost: ‫״‬Blödiane." * ‫ ״‬Setz dich. Das reicht!" Jetzt kommt Stasio an die Reihe. Rasch steckt er seine Uhr weg. Noch drei Minuten bis zum Läuten. Es sind nur noch zwei übrig, die diesmal drankommen können; aber von den sieben, die heute auf gerufen wurden, haben gleich vier einen Zweier bekommen2. Der letzte vom Buchstaben ‫ ״‬M" ist drangewesen; mit ‫״‬N" ist keiner da, mit ‫ ״‬O" nur einer, und dann kommt ‫ ״‬P " 3. Mit einer einzigen raschen Überlegung erfaßt Stasio die bedrohliehe Situation. ‫ ״‬Läute schneller, Glocke, läute schneller" — rufen seine Gedanken in einem furchtbaren Entsetzen, wie es nur Kindern und Wahnsinnigen eigen ist. ‫״‬Mein Gott, erbarme Dich!" Der Lehrer schreibt die Note zuerst in sein Notizbuch und dann ins Klassenbuch; er überfliegt die Namensliste, blättert sein Notizbuch um — dort steht Stasio ganz oben auf der Seite. 1 Das Wort ‫״‬posliednieje" stellt die polnische Transkription des russischen Wortes ‫״‬poslednee" ( = die letzte) dar. Das oben angeführte Diktat war — gemäß der russischen Schulordnung im Königreich Polen vor 1914 — ein Diktat in der russischen Unterrichtssprache, also für die polnischen Schulkinder ein fremdsprachliches Diktat; daher kam vor allem auch Stasios Angst vor solchen Diktaten. Korczak schrieb die Erzählung ‫״‬Eine Unglückswoche" 1911—1914; er gab in ihr viele Erlebnisse seiner eigenen Schülerzeit im russischen Gymnasium wieder. г Nach der amtlichen russischen Zeugnisgebung vor dem Ersten Weltkriege war ein Einser die schlechteste, eine Fünfer die beste Note. 3 Stasios Familienname lautet ‫״‬Przemyski". 41

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‫ ״‬Prechner." Stasio seufzte tief auf. ‫ ״‬Barmherziger Gott, ich danke Dir!" Sein Herz — noch klopft es heftig nach dieser Erschütterung — kniet nieder in demütigem Gebet. Am Samstag also wird er alles ausarbeiten, er wird sich so vorbereiten, daß er einen ‫ ״‬Fünfer" bekommen muß — die ganze große Pause hindurch wird er sein Pensum wiederholen. Prechner zupft umständlich an seiner Jacke, schlägt ganz langsam sein Buch zu und räuspert sich. ‫״‬An die Tafel" — der Lehrer wird ungeduldig. Langsam schiebt sich Prechner aus der Bank. Da läutet es. Zuerst kommt ein leiser, gedämpfter Anschlag; jetzt nimmt der Schuldiener die Glocke in die Hand, und dann klingt eine ganze Welle von lauten, kernigen, erlösenden Glockenschlägen. Der Lehrer winkte ab, legte den Federhalter weg, klappte das Klassenbuch zu und ging hinaus. In der Klasse lärmen Dutzende von Stimmen. Stasio tritt zu einer Gruppe, wo Prechner gerade erzählt, daß er das Buch gar nicht in der Hand gehabt habe, daß er kein einziges Wort gewußt hätte. Man merkt, daß er nicht angibt, sondern wirklieh nichts wußte. Das war auch gar nicht verwunderlich: er war schon dreimal drangekommen. Der Lehrer hatte ihn ertappen wollen — das war ganz klar. Die erste Pause dauert nicht lange. In der Religionsstunde bekommt Stasio von seinem Nachbarn das versprochene Buch. Stasio sieht das Inhaltsverzeichnis durch und hält dabei das Buch unter der Bank versteckt. Er liest zögernd und mit schlechtem Gewissen, dann aber immer aufmerksamer das erste Kapitel durch; schließlich legt er das Buch auf die Bank, bedeckt es zur Hälfte mit ‫ ״‬der Religion"; es ist recht interessant. ‫״‬Was liest du da?" — fragt sein Kamerad aus der Bank hinter ihm. Stasio schaut unruhig zum Pfarrer hinüber. ‫ ״‬Das geht dich nichts an; pack dich an deiner eigenen Nase." Die Stunde geht rasch vorüber. 42

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Stasio spürt ein beklemmendes Gefühl im Herzen. Schon haben Kundschafter herausbekommen, daß Szparag4 die Hefte mit den Klassenarbeiten mitgebracht hat, schon ruft der Schüler vom Tagesdienst, sie sollten sich auf ihre Plätze setzen, schon hat der Pedell zweimal mit seinem Schlüssel an die Glasscheibe der Türe geklopft, um die Klasse zur Ruhe zu bringen . . . Das Klopfen mit dem Schlüssel an die Glasscheibe hat er dem Inspektor abgeguckt: er macht ihn überhaupt gerne nach. Die Stunde beginnt. ‫ ״‬Wer fehlt?" Szparag trägt die Noten aus seinem Notizbuch in das Klassenbuch ein. Die Schüler in der ersten Bank recken sich hoch, um aus den Bewegungen des Federhalters zu erraten, was jeder für eine Note im Diktat bekommen hat — sie zeigen es den andern mit den Fingern. ‫״‬Die Schüler vom Tagesdienst!" Beide springen auf, um die Hefte auszuteilen: der eine ist Jude, der andere Katholik; dem Juden gibt Szparag keine Hefte zum Austeilen, denn das ist ja immerhin eine verantwortliche Tätigkeit. ‫״‬Das ist mein Heft, gib es her!" ‫ ״‬Warte, es geht der Reihe nach!" ‫ ״‬Przemyski!" ‫ ״‬Gib her!" Stasio fehlt der Mut, sein Heft genau anzusehen. Seite um Seite blättert er um : zwei, drei, drei, zwei, drei, zwei, drei, drei — was ist denn nun? Er bekommt einen roten Kopf. Sein Herz klopft so heftig wie in der Geographiestunde. Auf der ersten Seite zwei kleine Fehler, einmal unterstrichen, dann ein dritter - ‫ ־‬darunter eine Wellenlinie — und hier einer von den beiden groben Fehlern. Wozu noch hinsehen: es ist ein Zweier. ‫ ״‬Was hast du?" ‫״‬Laß mich in Ruhe!" Stasio schließt die Augen halb, blättert um und deckt die Seite mit dem Löschblatt zu. Langsam zieht er es weg. Kein 4 Sprache.

‫״‬Szparag" (deutsch: Spargel) — Spitzname des Lehrers der russischen

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roter Tintenstrich, nichts, nichts dergleichen, vielleicht sogar zwei Minuspunkte? Und da der fatale Satz. Träumt er oder ist er wach? Nichts zu sehen. Stasio könnte vor Freude aufschreien: da ist der Fehler — da steckt diese Bestie, aber Szparag hat ihn nicht bemerkt. Mit einer beherzten Bewegung deckt Stasio die Note auf: ein Drei-Minus. Hätte Szparag auf gepaßt, wäre es ein Zweier geworden. Und Stasio empfindet sehr gemischte Gefühle: Dankbarkeit für Szparag, weil er den Fehler nicht bemerkt hat, und Zorn darüber, daß er ihm für einen groben und zwei kleine Fehler nur ein Drei-Minus gegeben hat: Es hätte doch auch ein glatter Dreier sein können. ‫ ״‬Siehst du?" Er zeigt das Heft seinem Nachbarn. Der begrüßt die Entdeckung mit freundlichem Lächeln. ‫״‬Und was hast du?" ‫״‬Ein Drei-Plus." Sie verglichen ihre Fehler. ‫״‬Ruhe" -‫ ־־‬mahnt der Lehrer. Und nun beginnt die Verbesserung des Diktats; Dutzende von Regeln, die dutzendmal, nein hundertmal wiederholt worden sind, Stasio starrt auf sein Drei-Minus und denkt an nichts: seine Nerven sind bis auf den Grund erschöpft. Stumpf sitzt er da und freut sich nicht einmal. ‫ ״‬Przemyski!" Stasio steht auf. ‫״‬Warum stehst du auf?" fragt der Lehrer. Stasio schaut seine Klassenkameraden flehentlich an. ‫ ״‬Priewo schodnája stiepien5 — zischt man ihm von allen Seiten zu. ‫ ״‬Priewoschodnaja stiepien", spricht Stasio folgsam nach. Was f/Priewoschodnaja stiepien", fragt der Lehrer und greift nach dem Federhalter. ‫״‬J a ť"6, sagt die Klasse ziemlich laut vor. ‫״‬Jať", wiederholt Stasio. 5 ‫״‬Priewoschodnaja stiepien" ist die polnische Transkription des russischen grammatikalischen Fachausdrucks ‫״‬prevoschodnaja stepen", der dem deutschen ‫״‬Superlativ" entspricht. 6 ‫״‬Jať" bezeichnet ein russisches Schriftzeichen, das die russische Rechtschreibung außerordentlich komplizierte und daher im Zuge der Rechtschreibungsreform nach 1917 abgeschafft wurde.

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‫״‬Du mußt aufpassen", sagt der Lehrer. Ein Schüler aus der ersten Bank spreizt zwei Finger hinter dem Rücken und gibt Stasio damit ein Zeichen. Aber Stasio merkt es auch allein: er steht da und sieht, wie der Lehrer sein Blatt im Klassenbuch heraussucht und langsam und bedächtig einen deutlich erkennbaren Zweier hineinschreibt. Ein Blitz aus heiterem Himmel * Józio wartet schon ungeduldig auf Stasio — er hat ihm sogar selber die Türe aufgemacht; er läßt ihn nicht einmal den Schulranzen abnehmen, sondern ruft gleich: ‫ ״‬Komm, ich zeig dir etwas!" ‫ ״‬Warte, ich ziehe nur meine Galoschen aus." ‫ ״‬Mach schnell! Weißt du was: in dem neuen Geschäft geben sie zu jedem Heft eine große Siegelmarke oder sechs kleine dazu —‫ ־‬frei nach Wahl. Und zu einem Tagebuch bekommt man eine kleine Kette." ‫ ״‬Was für eine Kette?" ‫ ״‬Eine echte." ‫ ״‬Du lügst." Józio ist höchst befriedigt, daß es ihm gelungen ist, seinen älteren Bruder für seine große Entdeckung zu interessieren. ‫ ״‬Da, siehst du; ein Etikett, ein Löschblatt, sechs Siegelmarken und eine Stahlfeder." ‫ ״‬Die Feder taugt nichts." ‫״‬Na und? Sind die Siegelmarken denn nicht schön?" ‫ ״‬Es geht." Nun ist Józio über Stasio enttäuscht: er hatte gemeint, er könne ihn in Entzücken versetzen, ihn begeistern — aber nichts dergleichen . .. Der arme Bub weiß ja nicht, daß Stasio einen Zweier in Russisch bekommen hat. ‫ ״‬Zum Essen! Ludwika, ruf die Kinder!" Zosia stürzt ins Zimmer. Sie ist zu spät gekommen: sie war in der Küche und sie wollte doch sehen, was Stasio sagen würde, wenn er das Löschblatt, die sechs Siegelmarken, das Etikett und die Stahlfeder sehen würde — und das alles als Zugabe zu einem einzigen gewöhnlichen Heft. 45

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Neugierig fragt sie: ‫״‬Was sagst du nun?" ‫ ״‬Stasio, Józio, Zosia, zum Essen! Wie oft soll man euch denn noch rufen?" Mama ist schlechter Laune, Ludwika, dieser Idiotin, ist schon wieder der Schlüssel zum Dachboden abhanden gekommen, obwohl sie ganz genau weiß, daß am Mittwoch gewaschen werden soll. Mama ist das ganz egal: ihretwegen kann sich Ludwika die Wäsche an ihrer eigenen Nase aufhängen, wenn sie schon so gescheit ist. Mama kann sie nicht mehr ausstehen. Zum Herumlaufen reicht ihr Verstand gerade noch, aber zum Arbeiten — sie ist ein richtiges Kalb und obendrein noch ein recht faules. Zum Ersten kann sie sich eine neue Stelle suchen. Und Papa hat sich auch schon wieder verspätet; nachher wird er dann wieder ein schiefes Gesicht machen. Soll er doch ; Mama kümmert das ganz und gar nicht mehr. Zosia hat das alles in der Küche mit angehört. Mamas schlechte Laune hat auch sie angesteckt. ‫ ״‬Stasio, tritt mich doch nicht!" Stasio hatte sie, ohne es zu wollen, mit dem Fuß gestoßen. Jetzt aber tritt er sie mit Absicht. ‫ ״‬Mama, Stasio tritt mich!" ‫״‬Du sollst dich schämen, so ein großer Bub, daß du dich bei Tisch nicht benehmen kannst." Und Stasio geht es durch den Kopf, was Mama wohl gesagt hätte, wenn sie bei ihrer schlechten Laune auch noch von dem Zweier etwas wüßte. Anstatt ‫ ״‬du sollst dich schämen", hätte es dann geheißen: ‫ ״‬Stasio, wenn du sie noch einmal anrührst, gehst du ungegessen vom Tisch!" Und mit was für einer Stimme !

So ein Zweier am Montag ähnelt einer lästigen Fliege oder einem Klecks auf dem Löschblatt. Wie eine Fliege summt er ständig herum, drängt sich bei jedem Gedanken, bei jeder Gelegenheit auf — und wie ein Tintenklecks auf Löschpapier zerfließt er, wird größer und größer und wächst die ganze Woche hindurch. Wenn Stasio der Mama doch gleich hätte sagen können ‫״‬ich habe einen Zweier bekommen", dann wäre er seinen Kummer los. Das wäre viel besser, aber Stasio tut es 46

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trotzdem nicht. Auch am Samstag sagt er nichts, sondern versteckt sein Zeugnisheft, um sich den Sonntag nicht zu verderben. Er wird es den Eltern erst am Montag zeigen. Aber der Sonntag ist auch so verpfuscht. Stasio muß bereits am Sonntag wohlerzogen tun; er wagt es weder, um etwas zu bitten, noch Józio oder Zosia zu schlagen. Denn er weiß, daß er etwas auf dem Kerbholz hat, und wenn seine Eltern mehr auf ihn achteten, dann würden sie von selbst darauf kommen. Er schließt sich in seinem Zimmer ein und tut so, als ob er lerne — er wagt es nicht einmal, das entliehene Buch offen zu lesen. Ein solcher Zweier am Montag nimmt ihm die Lust, den Mut, das Selbstvertrauen und den Willen zur Arbeit. Wozu soll er noch lernen, wenn er sowieso schon einen Zweier bekommen hat und ihn nichts mehr vor dem Zorn der Eltern retten kann. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, noch einen Vierer zu bekommen, so würde der Zweier doch immer den Ausschlag geben. Und Stasio weiß genau, daß es — wenn er schon am Montag einen Zweier bekommen hat — nicht bei dem einen bleiben wird; in einer solchen Woche geht immer alles schief. Daher war Stasio, als der Lehrer ihn am Dienstag an die Tafel rief, sich so gut wie sicher, daß er einen Zweier bekommen würde; er wußte von vornherein, daß er eine Aufgabe mit Divisionen und Multiplikationen von Brüchen bekommen und Fehler machen würde. Gestern hatte ihm der Nachhilfelehrer wieder einmal erklärt, daß vier, multipliziert mit ein halb, zwei ergäbe; wenn man aber vier mit ein halb dividiere, komme acht heraus. Es hatte einen Augenblick gegeben, in dem er seine ganze Aufmerksamkeit anspannte und meinte, daß er das jetzt zu begreifen beginne .. . Aber dann fiel ihm ein, daß man in diesem Falle den ganzen Wirrwarr beiseite lassen und dividieren könne, anstatt zu multiplizieren — und dies auch umgekehrt; und er sagte das dem Nachhilfelehrer . . . Der aber fing zu schimpfen an und sagte, klügere Leute als er hätten die Arithmetik erfunden und Stasio sei ein Faulpelz; anstatt ein bißchen nachzudenken hecke er liebe neue Methoden aus, um überhaupt nicht denken zu müssen. Die Arithmetik sei eine Kleinigkeit 47

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im Vergleich zur Algebra, und wenn Stasio nicht einmal die einfache Multiplikation von Brüchen begreifen könne, dann solle er doch lieber vom Gymnasium Abschied nehmen. Das weiß Stasio selbst. Einmal blieb er während der Pause in der Tür zur fünften Klasse stehen und hörte zu, wie einer einem anderen Geometrie erklärte und Kreise an die Tafel zeichnete. Stasio kehrte in seine Klasse zurück und versuchte, einen Kreis zu zeichnen; aber es kam dabei irgendein krummes Gebilde heraus. Darüber braucht man sich gar nicht zu wundern; wie kann man einen gleichmäßigen Kreis ohne Vorläge zeichnen, so daß er ganz einwandfrei ist, denn anders hat es ja keinen Zweck; und in den Kreis muß man noch ungefähr ein Dutzend verschiedene Linien einzeichnen, und das alles muß genau stimmen. Stasio begriff schon damals, daß er das Gymnasium niemals beenden würde. Schon der Anblick dicker Bücher und vollgestopfter Schulranzen nahm ihm jeden Mut. Und dann die Prüfungen: in der vierten Klasse wird der Stoff von allen vorhergegangenen Schuljahren geprüft: wieviele Gedichte sammeln sich da allein an! Wußte er denn nur noch ein einziges von den Gedichten, die er vor zwei Jahren gelernt hatte? Oder diese Brüche! Gestern gab es einen Augenblick, da glaubte er, sie zu verstehen. Auch jetzt würde er das vielleicht fertigbringen, wenn man ihm Zeit zum Nachdenken ließe. Denn wenn ihm fünf Siebentel eines Betrages von fünfunddreißig Rubel übriggeblieben sind, dann weiß er, daß er vorher mehr gehabt haben mußte. Es verwirrte ihn nur, daß mehr herauskommen sollte und er trotzdem teilen soll. Auch der Nachhilfelehrer hat ihn von vornherein mit diesem ‫ ״‬X" erschreckt. Das ‫ ״‬X" versteht Stasio überhaupt nicht. Nicht einmal dieser Zweier bekümmert ihn. Bis zum Läuten sind es noch drei Viertelstunden, er kann wenigstens unbehelligt dasitzen, niemand wird ihn aufrufen. Ob einer oder zwei Zweier, das ist jetzt einerlei; Mama wird sowieso schimpfen und Papa wird ihm eine Moralpredigt halten: ‫ ״‬Ich muß schwer arbeiten, du aber bist ein schlechter Sohn." Alles miteinander ist ihm gleichgültig. Stankiewicz macht seine Aufgabe, schreibt, radiert, gerät durcheinander, weil er einem Zweier entkommen will. Stasio 48

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sieht ihm gleichgültig zu, wenn auch mit gewissem Interesse, ja sogar mit einer gewissen Zufriedenheit: er hat bereits hinter sich gebracht, was der andere noch vor sich hat. * Fünf Uhr. Musikstunde. Stasio haßt die Musik. Geographie, Bruchrechnungen und Grammatik lernen alle, die Stasio kennt; das braucht man alles für die Versetzung. Aber wegen dieser dummen Musik ist er viel unglücklicher als die anderen. Papa sagt, die Musik lohne kein Kopfzerbrechen, und Mama meint, das Geld für Musik sei zum Fenster hinausgeworfen. Aber trotzdem lassen sie ihn dreimal in der Woche eine ganze Stunde lang mit der Klavierlehrerin herumklimpern und taglieh allein üben. Und wenn er am Abend mit den Schulaufgaben fertig ist, dann heißt es gleich: ‫ ״‬Stasio, du mußt üben!" Manchmal tut die Lehrerin Stasio richtig leid : sie kann nichts dafür, sie kommt, weil sie ins Haus kommen muß ; aber manchmal ärgert er sie absichtlich und beachtet fünfmal hintereinander das Auflösungszeichen vor dem Kreuz nicht. Warum beklagt sie sich eigentlich immer wieder über ihn? Er hat ja schließlich noch fürs Gymnasium zu tun! Und wozu auch die Musik, wenn sie ihm überhaupt nichts nützt? Setz du dich einmal hierher und spiel Klavier, wenn du in dieser Woche zwei Zweier hast, und wenn du morgen eine Klassenarbeit schreiben mußt; das ist so lustig, daß man es gar nicht sagen kann. ‫ ״‬Stasio, paß auf!" ‫ ״‬Ich paß ja auf." ‫ ״‬Stasio, warum quälst du mich eigentlich so?" Die Lehrerin sagt es mit trauriger, sanfter Stimme. Stasio zuckt zusammen. Die Arme. Nur mit Mühe hält Stasio die Tränen zurück. ‫״‬Nun spielst du aber ohne Fehler, nicht wahr, ganz ohne Fehler?" Stasio gibt keine Antwort. Aber er spielte das Stück ohne Fehler. * 49

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‫ ״‬Erst zwei Tage sind vorbei" ‫ ־־־‬denkt Stasio abends im Bett. Erst zwei Tage, und was hat er in dieser Woche schon ausgestanden. Nun kommt immer noch der Mittwoch, der Donnerstag, der Freitag und der Samstag. Was kann ihm da noch alles passieren? Morgen ist eine Klassenarbeit; wenn er die Aufgabe nicht löst, dann ist das schon wieder ein Zweier für die nächste Woche — nach einer Woche mit zwei Zweiem kommt schon wieder eine Woche mit einem Zweier. Mein Gott, wie schwer, wie furchtbar ist das alles ! Stasio schaut auf die Lampe vor dem Heiligenbild und seufzt. Warum hilft ihm denn Gott, der doch allmächtig ist, nicht aus seinem schweren Schicksal heraus? Wenn er, Stasio, Gott wä re .. . Aber es ist Sünde, so etwas zu denken, und am Vorabend einer Klassenarbeit darf man nicht sündigen .. . Wenn man nur wüßte, was morgen geschieht, oder auch nur — in der nächsten Stunde. Dann könnte man leicht der Erste sein. Aber Stasio will gar nicht Primus sein. Der Erste ist eingebildet, und keiner mag ihn. Aber er möchte so gern Dreier haben, um sich nicht immer fürchten zu müssen. Heute hat er fünf Aufgaben mit dem Nachhilfelehrer gemacht; wenn doch nur eine von diesen drankäme. Dann wäre es schon ein Vierer für die nächste Woche — und der heutige Zweier wäre ausgeglichen. Es gibt gefährliche und ungefährliche Zweier. Es geht schließlieh darum, daß man zum Quartal keinen Zweier bekommt. In Russisch hat er schon fünf Dreier und drei Zweier. Szparag wird ihm also noch eine Chance geben, er ist nicht so schlimm, er hat nur manchmal Launen. Mit der Arithmetik steht es schlechter, aber auch hier kann er sich noch verbessern. Wie glücklich sind doch die Schüler, die ihre Klassenarbeiten den Eltern gar nicht zeigen müssen. Von zwei Mitschülern weiß Stasio das. Niemand gibt sich mit ihnen ab, kein Mensch schimpft sie aus. Oder die, die auf dem Lande wohnen und nur an den Feiertagen nach Hause fahren. Rogalski ist sitzengeblieben, aber trotzdem hat er zu Hause ein eigenes Pony — und braucht sich um nichts zu kümmern. Nur ihm, dem Stasio, vergiftet man das Leben. Solch einen Groll empfindet Stasio gegen alle, die ihn quälen. 50

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Warum sind die Eltern gut zu ihm, wenn ihm in der Schule alles glückt? Mama erlaubt ihm dann, zu lesen und sich mit dem kleinen Józio herumzubalgen, und morgens schreit sie nicht so, daß er aufstehen soll, und treibt ihn nicht zum Üben ans Klavier; Papa wiederum nimmt ihn in den Zirkus mit oder fährt Droschke mit ihm. Aber wenn er Pech hat, dann sind alle sofort gegen ihn. Dabei kann er doch genausoviel wie die anderen; außer fünf oder sechs Schülern leben ja alle so wie er. Wenn er bei etwas aufgerufen wird, was er kann, dann bekommt er eine gute Note, oder auch dann, wenn der Lehrer guter Laune ist; oder wenn es ihm gelingt, gut zu spielen, oder wenn sonst irgendein Glücksfall eintritt. Wenn zum Beispiel morgen eine von den Aufgaben drankommt, die er heute mit dem Nachhilfelehrer gemacht hat, dann bekommt er einen Vierer — ist das vielleicht dann sein Verdienst? Nein, das ist dann einfach ein glücklicher Zufall. Stasio wird mit Goldsztern folgendes vereinbaren: wenn der sich ans rechte Ohr faßt, dann muß man multiplizieren; das linke Ohr bedeutet: dividieren. Stasio kann zwar beides so einigermaßen, aber er fürchtet das Risiko; denn er könnte sich im letzten Moment aus Angst oder in der Eile irren. Einmal hat Stasio einen Vierer in Geographie bekommen; er konnte die Lektion bis zu einer bestimmten Stelle, aber kein bißchen weiter. Und als er alles hergesagt hatte, was er wußte, ließ ihn der Lehrer sich setzen und gab ihm einen Vierer; andernfalls aber hätte er für das Gleiche einen Zweier bekommen. So wird es am besten sein: rechtes Ohr — multiplizieren, linkes Ohr — dividieren. Und wenn Goldsztern schnell fertig wird, dann wird er sein Konzept in den Papierkorb werfen und dabei einen Zettel für ihn fallenlassen. Später wird Stasio den Federhalter fallenlassen, sich bücken und den Zettel aufheben. Wenn das auch gefährlich ist. Dieser Mathematiklehrer ist ein sonderbarer Mensch: manchmal paßt er so scharf auf, daß man sich nicht rühren kann; manchmal aber macht er gar nichts, und man kann tun, was man will. Jeder Lehrer kann einem jederzeit nach Belieben einen Zweier geben, nur dem Primus nicht. Es gibt einige in der Klasse, die sind bei den Lehrern so beliebt, daß sie niemals 5*

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einen Zweier bekommen, was auch immer sein mag. Von den Schmeichlern und von denen, deren Eltern Schmiergelder geben, braucht man erst gar nicht zu reden. Pawelkiewicz hat seine Aufgabe auch nicht lösen können, und er war schon zehn Minuten dran, als es geläutet hat. Aber der Lehrer sagte: ‫ ״‬Na, das nächste Mal frag' ich dich noch einmal." Und er hat ihm kein Zeugnis gegeben. Wenn es aber Stasio gewesen wäre . . . Stasio seufzt. ‫ ״‬Mein Gott, du großer und guter Gott, hilf mir, daß ich morgen die Massenarbeit schaffe! Denn ich möchte wenigstens in der nächsten Woche keinen Zweier bekommen. Er gibt die Hefte nach einer Woche zurück, am Mittwoch" ‫ —־‬so erklärt Stasio dem lieben Gott die Schulordnung. Eine wunderbare Ruhe kommt über Stasio. Die Augen fallen ihm zu, seine Gedanken geraten durcheinander, sein Gebet vermischt sich mit seinen letzten besorgten Überlegungen, und Stasio schläft ein, indem er ständig wiederholt: ‫ ״‬Rechtes Ohr — multiplizieren, linkes Ohr — dividieren." * Stasio bleibt vor dem neuen Geschäft stehen. Morgen oder vielleicht heute schon wird er ein neues Tagebuch kaufen und sich die Kettchen anschauen, die man als Zugabe bekommt. Vielleicht kann man anstatt eines Kettchens auch einen Bleistiftspitzer bekommen, oder man kann etwas dazuzahlen und ein Taschenmesser nehmen? Ja, heute wird Stasio ein neues Heft kaufen und alles genau erfahren. Er sieht sich auf der Straße um: die kleinen Buben laufen noch herum, und das bedeutet, daß es noch früh ist. Und plötzlich fällt ihm die Massenarbeit in der ersten Stunde ein. Man muß sich beeilen, verabreden, besprechen, sich mit den Klassenkameraden verständigen, und das dauert länger als zehn Minuten. Wird er es schaffen oder nicht? ‫״‬Wenn ich dem Mädchen in Trauer6* begegne, dann wird alles gut gehen." Das Mädchen in Trauer besucht ein Pensionat; er begegnet ihr fast jeden Tag. Stasio empfindet für sie viel Zuneigung 6&Zum

‫״‬Mädchen in Trauer" vgl. Erinnerungen S.304.

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und Mitgefühl, eine gewisse Hochachtung und ein klein wenig Neid. Sie ist noch so klein, gewiß erst in der Anfangsklasse, und schon in Trauer. Einmal stellte sich Stasio abends im Bett vor, er sei ein bißchen älter, er sei zum Beispiel schon in der fünften Klasse, er habe keine Eltern mehr; das Mädchen in Trauer aber sei eine Waise, und er nehme sich ihrer an. Er hatte einmal etwas Ähnliches in einem Jugendbuch gelesen. Wenn er das einem von seinen Schulkameraden anvertraut hätte, so würde es gleich heißen, er sei in sie verliebt, und man würde sie als ‫ ״‬seine Freundin" bezeichnen. Stasio erzählt nicht einmal seinem Freund etwas davon; denn später könnte er einmal mit ihm Streit bekommen oder es könnte sonst irgend etwas sein — dann würde sein Freund alles ausplaudern und alle würden lachen. Einen wirklichen Freund hat Stasio nicht. ‫ ״‬Wenn ich ihr begegne, dann schaffe ich die Klassenarbeit" — denkt er, und er wünscht sich sehnlich, sie zu treffen; er sdraut umher und geht langsamer, immer langsamer. Und voll schlimmer Vorahnungen betrat er die Schule. Schon auf der Treppe rief ihm ein Klassenkamerad triumphierend zu: ‫ ״‬Komm schnell! Wir wissen, welche Aufgabe drankommt!" In der Klasse war Feiertagsstimmung. ‫״‬Da, schreib sie schnell ab!" Stasio reißt eine Seite aus seinem Heft. ‫ ״‬Mach schnell!" Beim zweiten Läuten ist er mit dem Abschreiben fertig. ‫ ״‬Woher wißt ihr eigentlich, daß gerade diese Aufgabe drankommt?" Die Sache war nämlich die, daß der Lehrer mit der Klasse Aufgaben in den vier Grundrechnungsarten durchgenommen hatte, und zwar der Reihe nach, von dreihundertsiebzig bis vierhundertfünf im Rechenbuch ; nur eine einzige Aufgabe hatte er ausgelassen. Offenbar hatte er sich gerade diese Aufgabe für die heutige Klassenarbeit aufgehoben. Jede Klasse und jeder einzelne Schüler neigen zu der An‫־‬ nähme, daß der Lehrer sich nur mit ihnen beschäftigt. Der Lehrer denkt nur daran, wie er sie hintergehen, betrügen, ertappen und ihnen schaden könnte. Die Schüler bleiben 53

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ihm nichts schuldig. Die Klasse und der Lehrer, das sind zwei feindliche Lager, die sich auf Tod und Leben bekämpfen. Wenn du dein Pensum kannst und drankommen möchtest, dann verstecke dich hinter deinem Vordermann, schau oft auf die Uhr, markiere ein schlechtes Gewissen; wenn du nichts weißt, dann tu so, als ob du antworten wolltest, und du wirst mit Sicherheit nicht aufgerufen. Aber auch das muß man können, damit man nicht hereinfällt. Stasio kann es nicht. .. Der Mathematiklehrer betritt die Klasse. Ein Augenblick stummer Erwartung. Vierzig Herzen beben in Ungewißheit. Der Lehrer notiert die fehlenden Schüler, dann sieht er auf, bemerkt die aufgeschlagenen Hefte und die feierlichen Kindergesichter und sagt so nebenbei: ‫״‬Ach ja, die Klassenarbeit." Er sah sich auf dem Katheder um. Der Schüler vom Tagesdienst erhob sich, um ihm auf den ersten Wink das Aufgabenbuch hinaufzureichen. Aber, oh Graus, der Lehrer zog ein Stück Papier aus der Westentasche, schrieb etwas, notierte, und begann, die Aufgabe aus dem Kopf zu diktieren. Er hatte sie hintergangen. Alles war von langer Hand vorbereitet, bereits viele Tage vor der Klassenarbeit. Er hatte damals diese eine Aufgabe mit Absicht ausgelassen. Keiner zweifelt auch nur einen Augenblick daran, daß es so ist. Stasio schreibt wie im Traum. Er hat vergessen, Goldsztern zu bitten, sich ans Ohr zu greifen, das Mädchen in Trauer ist ihm nicht begegnet, er ist rettungslos verloren . . . Die Aufgabe ist schwer, oder vielleicht auch nicht so sehr, aber die Klasse, in ihren Hoffnungen enttäuscht, streckt demütig die Waffen. Ein Pogrom an Stelle des erwarteten Sieges, eine Niederlage anstatt eines Triumphs. Stasio sieht bekümmerte Gesichter um sich herum. Drei oder vier Unerschrockene — der Rest kaut ratlos auf den Federhaltern, runzelt die Stirn, flüstert ängstlich. ‫ ״‬Ruhe." Stasio wagt nicht einmal, die Aufgabe durchzulesen, er kann seine zerstreuten Gedanken nicht sammeln, die von dem einen beherrscht sind: 54

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‫״‬Er hat uns betrogen." Die Luft in der Klasse wird schwer vom Dampf der feuchten Schuhe. Die Minuten schleichen mit zermürbender Trägheit dahin. ‫ ״‬Noch zwanzig Minuten", sagt der Lehrer. Manche schreiben mit trockener Feder weiter, um nur die Aufmerksamkeit des Lehrers nicht auf sich zu lenken und in der Hoffnung, daß es ihnen im letzten Augenblick doch noch glücken werde, von irgend jemandem abzuschreiben; andere kritzeln vor sich hin, streichen durch und beginnen von neuem, immer eiliger und unkontrollierter; wieder andere kreieren phantastische Kombinationen, werfen mit merkwürdiger Hartnäckigkeit Zahlenreihen aufs Papier, ohne auf offensichtliche Fehler achtzugeben, um nur ja bis zum letzten Punkt zu gelangen. Stasio gehört zu keiner dieser drei Gruppen. Drei Teilaufgaben hat er gemacht, bei der vierten bekam er heraus, daß der Feldherr in der zweiten Schlacht siebzehn fünf Neuntel Soldaten verloren hat; also strich er den letzten Teil durch und wartete. Er schaut auf die bewegungslose Feder seines Nachbarn und auf das düstere Gesicht Goldszterns — und erwartet nun vollkommen resigniert das Glockenzeichen. ‫ ״‬Schluß jetzt! Es reicht!" Einige zögern die Abgabe ihres Heftes noch hinaus. Stasio legt das Löschblatt ein, obwohl die Seite längst trocken ist. Drei haben die Arbeit ganz geschafft, zwei sind bis zur Hälfte gekommen. Stasio beschließt, daheim anzukündigen, daß er die Aufgaben nicht gelöst habe, um von vornherein den Zweier in der nächsten Woche vorzubereiten. * ‫ ״‬Ich muß doch sehr bitten, mein Herr, unser Stasio hat die Arbeit nicht geschafft." Der Nachhilfelehrer macht ein verlegenes Gesicht. Stasio kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Mama dem Nachhilfelehrer Vorwürfe macht. Was kann der denn dafür? ‫״‬Nur drei haben's überhaupt geschafft" — wirft er schüchtern ein. 55

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‫״‬Du hast immer nur die Nichtswisser und Faulpelze im Auge" — bemerkt Mama. — ‫״‬Wenn drei es geschafft haben, könntest du immerhin der vierte sein." ‫ ״‬Wenn es aber doch so schwer war" — beginnt Stasio, aber dann fallen ihm die beiden Zweier ein und er verstummt. ‫ ״‬Gnädige Frau, wir haben gestern solche Aufgaben durchgenommen", wendet der Nachhilfelehrer ein und nagt dabei an seiner Oberlippe. ‫ ״‬Nur gestern, das reicht nicht, jeden Tag muß man Rechenaufgaben mit ihm machen." Und Mama verläßt verärgert das Zimmer. Einen Augenblick lang peinliches Schweigen. ‫״‬Was war das denn für eine Aufgabe?" — fragt der Nachhilfelehrer. Stasio weiß es nicht mehr. Manche Schüler haben sich gleich in der Pause gestritten, wer es richtig gemacht hat und wie es hätte gemacht werden sollen, sie rechneten die Aufgaben an der Tafel durch, schrieben sie auf Zettel auf. Aber was sollte ihnen das nützen, wo doch sowieso alles verloren war? ‫ ״‬Ob sie den alten Indianer gefangen und erschlagen haben, oder ob ihm die Flucht doch noch gelungen ist?" — Bevor der Nachhilfelehrer eintraf, hatte Stasio gelesen. Wenn das Mama wüßte ! ‫ ״‬Wie, du bist eine Stunde lang über der Aufgabe gesessen und erinnerst dich an nichts?" ‫ ״‬Wenn er doch endlich ginge". — denkt Stasio, und ihm fällt ein, daß heute Mittwoch ist und gleich die Deutschlehrerin kommt. ‫ ״‬Gib das Rechenbuch her." ‫ ״‬Morgen haben wir keine Arithmetik", verteidigt sich Stasio. ‫״‬Danach habe ich dich nicht gefragt. Gib das Rechenbuch her." Stasio spürte, wie unversöhnlicher Zorn in ihm aufstieg. ‫״‬Erklären Sie mir doch, wann man multiplizieren und wann man dividieren muß; aber ohne ,Χ'." Nach ein paar Minuten hat er alles begriffen, löst geschwind vier Aufgaben, erinnert sich an die heutige Klassenarbeit und 5b

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überzeugt sich zu seiner eigenen Verwunderung davon, daß die Aufgabe leicht war. ‫״‬Wäre es nicht besser gewesen, gestern aufzupassen?", fragt der Lehrer vorwurfsvoll. Stasio weiß selbst, daß es besser gewesen wäre; aber warum haben es nur drei geschafft? Nach der Stunde holt er sein Aufgabenbuch und trägt die Hausarbeiten für die ganze Woche ein. Donnerstag: Deutsch, Übersetzung § 23. Schönschreiben — in der Klasse. Russisch, Erzählung § 49. Religion § 58. Gesang — in der Klasse. Was könnte er dafür lernen? Heute wollte er nicht mehr lesen, sondern nur noch lernen; aber es gibt ja nichts zu lernen. Und damit zog er seinen Indianer aus der Schublade. In der Deutschstunde war er unerträglich. Die Lehrerin wollte schon gehen, um sich über ihn zu beklagen. Oh Gott, was hätte das wohl wieder gegeben! .. . * Die Schüler der höheren Klassen überlegen, woher man im Gymnasium immer so genau weiß, wann der Schulinspektor, der Hilfskurator oder der Kurator7 in Person zur Visitation kommen. Die Schule nimmt dann ein ungewöhnliches Aussehen an. In den unteren Klassen werden die Schüler vom Tagesdienst mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet. Gott behüte, daß sich ein Schüler vom Tagesdienst darüber beklagt, daß jemand keine Papierschnitzel aufheben will, auf der Wandtafel herumkritzelt oder überhaupt laut ist. 7 Der kaiserlich russische Schulinspektor — diesen Rang hatte beispielsweise der Vater Lenins inne — übte die Schulaufsicht über alle Schulen innerhalb eines Gouvernements aus; im ehemaligen Königreich Polen gab es bis 1915 zehn solcher Gouvernements. Der Kurator war der höchste Beamte eines russischen ‫״‬Unterrichtskreises" (in diesem Falle des Königreichs Polens, das in allen Schulangelegenheiten amtlich als ‫״‬Unterrichtskreis Warschau" bezeichnet wurde). Ihm unterstanden außer den Volks- und Oberschulen auch die Hochschulen.

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Die Pedelle schreiten mit feierlicher Miene die Korridore entlang: eine Art Ausnahmezustand8 — Spannung liegt in der Luft, wie in Erwartung eines Angriffs, einer Belagerung oder eines Standgerichts. Die Kleinen freuen sich stillvergnügt: für sie bedeutet es eine Abwechslung in dem unerträglich langweiligen, eintönigen Leben, so ein Mittelding zwischen Galavorstellung und Umzug. Die beiden feindlichen Lager, Schüler und Lehrer der oberen Klassen, verbünden sich für eine gewisse Zeit zur Bekämpfung eines gemeinsamen, ihnen überlegenen Feindes. Die ganze Schule ist erfüllt von dem einen Gedanken, dem einen Gefühl, das sidi in dem einen Wort zusammenfassen läßt: Staatsgewalt! Selbst diejenigen, die sich gar keiner Schuld bewußt sein müssen, empfinden eine Art Schaudern: wenn aber . . . wenn aber doch Ungnade, was dann? ‫ ״‬Haben auch alle Halstücher? Haben auch alle Gürtel? Fehlt bei niemandem ein Knopf9? Wenn jemand ein schulfremdes Buch bei sich hat, dann soll er es abgeben. Wer kann seine Lektion? Die Geschichtszahlen müssen wiederholt werden!" Rädergepolter auf dem Straßenpflaster. Er kommt — er kommt nicht — er kommt. Nein. Die Köpfe wenden sich dem Fenster zu. ‫ ״‬Aufpassen, nicht hinausschauen" — mahnt der Lehrer mit unglaublich sanfter Stimme. Er ist da. Jetzt ist er eingetroffen. Gewiß öffnet ihm gerade der Pförtner die Tür, der alte Veteran Mikołajewski — angetan mit seiner neuen Livree mit den blitzblanken Knöpfen. Und nun begrüßt ihn sicherlich der Herr Direktor — gibt ihm die Hand. Geräusche. 8 Im polnischen Original wird vom Zustand des ‫״‬verstärkten Schutzes" gesprochen, der im amtlichen russischen Sprachgebrauch zur Bezeichnung der ersten Stufe des Ausnahmezustandes verwendet wurde; die russischen Behörden regierten Kongreßpolen 1905—1914 fast ausschließlich mit Hilfe des Kriegs- oder Ausnahmezustandes. Die im polnischen Original stehende Bezeichnung für den verstärkten ‫״‬Schutz‫( ״‬ochrona) enthält zugleich eine Anspielung auf die Geheime Staatspolizei des Zarenreiches, die ‫״‬Ochrana". 9 Die Schüler der russischen Gymnasien mußten bis 1917 eine spezielle ‫״‬Gymnasiasten-Uniform" tragen.

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Er geht den Korridor entlang. Er betritt die fünfte Klasse. Der Lehrer für Schönschrift hat die Schüler umgesetzt. Warum, das hätte er selbst nur mit einiger Mühe beantWorten können. In die vorderen Bänke hat er die Schüler mit neuen Kitteln und sauberen Kragen plaziert. Er war der allgemeinen Stimmung erlegen: auch in dieser Hinsicht sollte alles vorbildlich sein. Und so fand sich Stasio in der ersten Bank wieder. Er kommt. In der fünften Klasse war er in der Russischstunde, in der achten in Geschichte, in der dritten in Arithmetik, jetzt kommt er in Stasios Klasse während der Schönschreibstunde. ‫ ״‬Schönschreiben ?" Die Antwort bestand in einer tiefen Verbeugung. ‫ ״‬Setzt euch", wandte er sich an die Buben. — ‫״‬Laßt euch nicht stören." — Er reichte dem Lehrer die Hand. ‫ ״‬Jesus, so was von Orden" — dachte Stasio bei sich. ‫ ״‬Eins, zwei — eins, zwei", zählt der Klassenerste, und die Klasse schreibt im Takt. ‫ ״‬Macht ihr während der Pause auch die Fenster auf?" Mit dieser Frage beginnt der Kurator in jeder Klasse die Visitation gemäß dem Grundsatz: mens sana in corpore sano. ‫ ״‬Eins, zwei" zählt der Klassenerste, vielleicht ein wenig zu laut. Man hatte vereinbart, daß jeweils der Klassenerste oder der Klassenzweite das Zählen übernehmen sollte. Der Kurator beugte sich über Stasios Heft. ‫ ״‬Steh auf" — befahl der Lehrer. Stasio erhob sich. ‫ ״‬Du hältst den Federhalter falsch. Beim Schreiben muß man den Federhalter sooo halten. Sie müssen streng darauf achten, daß die Schüler die Federhalter vorschriftsmäßig halten." Das hätte die letzte Bemerkung sein sollen, danach wollte der Würdenträger das Schulgebäude verlassen, um zum EinUhr-Frühstück rechtzeitig daheim zu sein. ‫ ״‬Ich habe ihn gerade deshalb in die erste Bank gesetzt, weil er die Feder falsch hält", sagte der Schönschreiblehrer. Das war lediglich eine demütige Rechtfertigung, der Vertreter der hohen Behörde jedoch faßte es als Unverschämtheit 59

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auf. Diese Antwort konnte man entweder so deuten: ‫ ״‬Ich arbeite gewissenhaft mit der mir anvertrauten Kinderschar" oder auch: ‫ ״‬Ich weiß genau, wie man eine Feder halten muß, auch ohne Ihre Belehrungen." Gehorchen und nicht Denken — diesem Grundsatz war der Lehrer untreu geworden, und so erhielt er die wohlverdiente Strafe. Der Kurator errötete leicht und bemerkte unnachsichtig, wobei er mit dem Finger auf die zweite und dritte Bank deutete: ‫״‬Die da sitzen nicht in der ersten Bank und haben eine abscheuliche Federhaltung." Er blickte auf die Uhr und ging ohne Abschied hinaus. ‫ ״‬Streng, abscheulich" — strogoje, otwratitielno10 — Stasio fühlte, daß sich ein Unwetter über ihm zusammenzog. Rädergepolter zeigte an, daß die personifizierte Staatsgewalt von dannen fuhr. ‫ ״‬Esel!" — schrie ihn der Lehrer an. ‫ ״‬So ein Klotz, und drängt sich auch noch in die erste Bank!" ‫ ״‬Sie haben mich selbst hierher gesetzt", entgegnet Stasio. ‫ ״‬Schweig! In der letzten Bank wirst du in Zukunft während meiner Stunde sitzen. Du wirst schon noch an mich denken. Marsch! Ich schlag euch allen die Pfoten zusammen" — wandte er sich an die ganze Klasse. ‫״‬Hornochsen!" Stasio nahm Heft und Feder und ging zur letzten Bank. Stasio verachtet den Schönschreiblehrer ‫ ־־־־‬und mit ihm die ganze Klasse. Der Lehrer unterrichtet nur bis zur dritten Klasse, sitzenlassen kann er einen also nicht; aber dieses: ‫״‬Du wirst noch an mich denken . . . " Und wenn er's dem Direktor meldet, was dann? Jedenfalls trug er in die entsprechende Rubrik ein: Przemyski — vier dicke Tadel bezüglich: des Faches selbst, der Aufmerksamkeit, des Fleißes und des Betragens. Die Klassenkameraden werfen Stasio mitleidige Blicke zu: was ihm zugestoßen ist, hätte genausogut einen von ihnen treffen können. Armer Przemyski. Während der Pause wird man im Lehrerzimmer über ihn reden, das ganze Gymnasium, alle werden es erfahren und sich an ihm rächen. 10 ‫״‬Strogoje, otwratitielno" — im Original in russischer Sprache (und polnischer Transkription) wiederholte Bezeichnungen für ‫״‬streng, abscheulich".

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‫ ״‬Was für eine furchtbare, furchtbare, furchtbare Woche" — denkt Stasio. ‫ ״‬Gehen wir zusammen, ja?" — schlägt Kowalski vor. ‫ ״‬Mir ist alles egal" — erwidert Stasio. Kowalski fühlt sich durch die schroffe Antwort von Stasio nicht beleidigt. Er weiß, daß Przemyski ihn gut leiden mag und daß er nur böse ist, weil er Ärger hat. ‫ ״‬Gib her, ich schnür dir den Ranzen zu" — sagt er freundlich. Seine Gutmütigkeit entwaffnet Stasio. Gemeinsam gehen sie auf die Straße hinaus. Kowalski wird ihn schon trösten und Stasio wird sich ablenken lassen und vergessen. Was bedeutet schon: Schönschreiben? Malinowski hängte sich an sie. Sie wiesen ihn zurück, aber Malinowski hat kein Ehrgefühl, der drängt sich auf. ‫״‬Hau ab." ‫״‬Willst du mir vielleicht verbieten, die Straße zu benutzen?" Sie gehen langsamer, Malinowski desgleichen. ‫ ״‬Gut, lauf du uns nur nach. Wie ein Schwanz! Ein Hund. Hierher, bei Fuß!" Malinowski weiß, daß sie ihn auf diese Weise loswerden wollen, und beschließt, sie noch mehr zu ärgern. ‫ ״‬Komm auf die andere Seite" — schlägt Kowalski vor. ‫ ״‬Wartet nur, ich hab morgen Tagesdienst, da zahl ich es euch schon heim!" — schreit Malinowski ihnen nach. ‫ ״‬Gut, tu's doch!" Eine kleine Weile gehen sie wortlos nebeneinanderher. Wie soll er's beginnen, ohne den Freund zu verletzen? ‫״‬Hör mal, Przemyski, der kann dir doch nichts anhaben — warum hast du Angst vor ihm?" ‫ ״‬Ich hab gar keine Angst, nur, er wird mich immer wieder aufs Korn nehmen." ‫ ״‬Und ich sage dir, in einer Woche hat er alles vergessen." ‫ ״‬Was heißt vergessen, während ich doch in der letzten Bank sitze." ‫ ״‬Deswegen setzt du dich eben nicht dorthin. Wenn er dir was will, dann erklärst du ihm, du seist kurzsichtig — und Punktum." ‫״‬Er hat mich sicher schon angeschwärzt." 61

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‫״‬Und ich sage dir, er hat's noch nicht getan. Der hat doch selber Angst vor dem Direx." ‫ ״‬Warum hat er mir dann vier Tadel eingeschrieben?" ‫ ״‬Du bittest ihn eben, er soll sie wieder streichen." Stasio antwortet nicht. Denn gerade kommt ihnen das Mäddien in Trauer entgegen. Sie geht immer auf der anderen Straßenseite, und ausgerechnet heute auf dieser. Sie erzählt ihrer Schulfreundin etwas, und beide lachen. Vielleicht ist nur ihre Großmutter gestorben, wie könnte sie sonst lachen? Ob sie Stasio anschaut oder nicht? Sie hat hergeschaut. Dann sagte sie etwas zu der anderen, sicherlich über Stasio, denn beide schauten sich um und fingen wieder an zu lachen. Vielleicht hat sie bemerkt, daß er geweint hat? Obwohl er ja eigentlich nicht geweint, sondern nur Tränen in den Augen gehabt hat, und davon werden die Lider nicht dick. ‫״‬Wie bitte?", fragt Stasio. ‫ ״‬Bitte ihn, daß er den Tadel streicht." ‫״‬Den werd' ich um gar nichts bitten." ‫״‬Was schadet dir's?" ‫ ״‬Ich will eben nicht. Überleg doch mal, was der für ein Schwein ist! Hat mich selbst in die erste Bank gesetzt, vor dem dort behauptet, daß es Absicht war, und mich dann noch angebrüllt. Ausgerechnet den werd ich um etwas bitten." Stasio beruhigt sich allmählich bei diesem Gespräch. ‫ ״‬War der große Stern, den er bei den Orden stecken hatte, auch ein Orden?" erkundigt er sich bei dem Freund. ‫״‬Wahrscheinlich schon." ‫ ״‬Wenn er ins Gymnasium kommt, muß er dann seine Orden tragen?" ‫״‬Ach, bestimmt nicht — nur so, um anzugeben." ‫״‬Vielleicht muß er doch?" ‫״‬Wer hat ihm denn was zu sagen?" Das stimmte, wer hat ihm schon was zu sagen — ihm, vor dem sogar der Direktor Angst hat? ‫״‬Warum ist er allein zu uns gekommen und nicht zusammen mit dem Direktor?" ‫ ״‬Der Direx wollte schon mit, aber er wollte nicht." ‫ ״‬Der Direx hatte selber gerade Unterricht in der fünften Klasse." 62

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‫ ״‬Woher weißt du das?" ‫ ״‬Irgend jemand hat es in der Garderobe gesagt .. . Was meinst du, ist es nicht besser, daß der Direx nicht dabei war?" ‫ ״‬Bestimmt. Sonst hätte der Kurator ihm auch noch was gesteckt." Sie verabschieden sich an der Straßenecke und setzen ihren Weg, jeder für sich, fort. Stasio geht in den neuen Laden, um ein Heft zu kaufen. ‫ ״‬Bitte, zeigen Sie mir die kleinen Ketten, die man als Zugäbe zu einem Tagebuch bekommt." ‫ ״‬Bitteschön, mein Herr. Sind die nicht reizend? Ziehen Sie nur dran soviel Sie wollen; sie reißen nicht, so stark sind sie." Stasio kann es nicht leiden, wenn man ‫ ״‬Sie" zu ihm sagt — es kommt ihm immer vor, als mache man sich über ihn lustig. Er nimmt das Heft und geht. Wozu braucht er schließlich solch eine kleine Kette? Er kann seine Uhr doch nicht an zwei Ketten tragen . . . * Mama trägt das neue Kleid, das die Schneiderin ihr so verpfuscht hat, daß zwei Änderungen notwendig gewesen sind. Die Schneiderin hat sich außerdem ungehörig benommen. Mama wird nie wieder bei ihr arbeiten lassen und sie auch keinem Menschen weiterempfehlen. Mama geht mit Papa in ein Konzert, für das es schon keine Karten mehr gab und für das Papa nur mit Mühe noch zwei von einem Wiederverkäufer bekommen hat. Die Tante verlangte, daß für sie auch noch eine Karte besorgt werde, aber es gab wirklich keine mehr. Die Tante stellt unglaubliche AnSprüche, aber Papa ist schließlich nicht verpflichtet, für alle Welt Konzertkarten zu besorgen. Ludwika soll darauf achten, daß Stasio Klavier übt und daß die Kinder spätestens um zehn Uhr schlafen gehen. Sollte die Musiklehrerin berichten, daß Stasio das neue Stück wieder nicht gekonnt hat, wird Mama ein ernstes Wort mit ihm sprechen müssen. Die Kinder sollen nicht herumtoben und die Fußböden nicht verkratzen; und daß ja die Lampe nicht blakt und Stasio sich nicht mit dem kleinen Józio zankt, und wenn Zosia etwas vom Toilettentisch nimmt, dann wird sie Prügel 63

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bekommen. Niemandem die Tür öffnen, auch nicht bei eingehakter Sicherheitskette, und Ludwika soll sich nicht unterstehen, sich auch nur einen Schritt aus der Wohnung zu bewegen. Hat Stasio seine Aufgaben gemacht? Mama und Papa gehen für den ganzen Abend aus, das ist für die Kinder ein großes Fest. Niemand stört sie beim Spielen, manchmal macht Ludwika auch bei einem Gesellschaftsspiel mit oder sie erzählt Märchen. Józio und Zosia lauschen den Märdien voller Erregung und Andacht, Stasio mimt den Gleichgültigen, aber er hört doch auch gern zu. Die Hauptsache ist, sie sind allein und können tun, was sie wollen. Mama hat schon die Handschuhe übergestreift, aber Papa ist immer noch nicht erschienen. Die Kinder sind mit dem Nachtessen fertig. Zosia hat mit der Gabel ein Stück Brotrinde aufgespießt und kehrt damit die Butterreste und die Kotelettkrümel auf ihrem Teller zusammen. ‫ ״‬Schau, ich habe eine Bürste aus dem Brot gemacht/' ‫״‬Esel" — denkt Stasio. Józio hat aus der Gabel und einem Stück Brot ebenfalls eine Bürste hergestellt. ‫״‬Du Affe", sagt Zosia. Mama und Kinder werden ungeduldig. ‫״‬Wenn sie doch endlich fortgingen" — denkt Stasio. Schlüsselklappem. Papa ist gekommen. ‫״‬Ja niemandem die Tür öffnen. Und daß die Lampe nicht blakt. Ludwika, geh ja nicht aus. Seid brav." Endlich sind die Kinder allein. Sie wissen selbst nicht warum, aber heute freuen sie sich nicht so wie sonst. Nur Stasio weiß warum, aber er sagt es nicht. Die Szene heute mit dem Schönschreiblehrer und die beiden Zweier. Die nichtgelöste Aufgabe zählt Stasio nicht mehr, denn er hat der Mama ja schon gestanden, daß er sie nicht gelöst hat. Józio malt ein Bild aus dem ‫ ״‬Guten Freund" ab, Stasio liest die Diebstahlberichte im Kurier, das ist recht und gut für einen gewöhnlichen Abend, aber nicht — wenn die Mama nicht da ist. Zosia möchte gern mit den anderen zusammen spielen. ‫״‬Wißt ihr schon, daß man am hellichten Tage Sterne sehen kann, wenn man in einen Brunnen steigt?" 64

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‫ ״‬Freilich" — bemerkt Józio ironisch. ‫ ״‬Gar nicht ,freilich', das Kindermädchen hat's nämlich gesagt." ‫ ״‬Dein Kindermädchen weiß soviel wie es ißt." ‫״‬Wenn du nur soviel wüßtest wie mein Kindermädchen!" ‫״‬Die Weiber wissen alle miteinander nichts", sagt Józio, von Stasios trübseliger Stimmung angesteckt. ‫״‬Aber Mama ist doch auch ein Weib, dann weiß Mama also auch nichts? Gut . . . g u t . . . " Eine rechte Unterhaltung will nicht zustande kommen. Aber Zosia läßt sich's nicht verdrießen. ‫״‬Wenn man in einen Blitz schaut, wird man blind." ‫״‬Hat dir das auch dein Kindermädchen verkündet?" — fragt Stasio, der inzwischen die Kurzberichte im Kurier gelesen hat. ‫״‬Nein, das hab' ich von allein gewußt." Ludwika kommt ins Zimmer. ‫ ״‬Stasio, die gnädige Frau hat gesagt, Stasio solle üben . . . Stasio soll den Kurier weglegen, es steht sowieso nichts Gescheites für Stasio drin." ‫״‬Wenn Ludwika nicht lesen kann, dann kann sie auch nicht wissen, ob es gescheit oder dumm ist." ‫ ״‬Ich kann nicht lesen, weil mir's niemand beigebracht hat" — sagt Ludwika. Stasio tut es leid, daß er so mit ihr gesprochen hat. Einmal, als die Mama auch nicht da war, hat Ludwika ihnen erzählt, wie ihre Stiefmutter sie geschlagen hat und sie später mit einem alten Mann verheiraten wollte, und wie sie dann von zu Hause fortgelaufen ist, und Stasio hatte im Stillen versprochen, gut zu ihr zu sein; er hat ihr sogar ein paar Buchstaben beigebracht. Aber warum muß sie auch immer anfangen? Auch jetzt wollte er eigentlich sagen, sie solle sich hinsetzen, dann würde er ihr von dem Verbrechen in Wola vorlesen und danach würde auch Ludwika von einem Verbrechen erzählen — und damit hätte der Abend angenehm beginnen können. Aber die beiden Zweier, der Kurator. ‫ ״‬Stasio soll den Kurier hergeben." ‫״‬Ludwika soll ihn loslassen, oder ich zerreiß ihn." ‫ ״‬Stasio soll lieber loslassen. Auch gut, ich werde mich nicht mit Stasio herumschlagen." 65

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Ludwika hat einen Hintergedanken dabei: wie schön, wenn jedes der Kinder etwas anstellt, dann könnte sie die drei zum Schweigen verpflichten und selbst für ein halbes Stündchen ins Wasdihaus entwischen, wo es abends oft so lustig zugeht. ‫ ״‬Daß mir Zosia ja nichts anrührt." ‫ ״‬Jetzt gerade!" ‫״‬Und ich sage, du rührst nichts an." Zosia geht kühn ins dunkle Elternschlafzimmer und holt ein Flakon mit Kölnisch Wasser heraus. ‫״‬Na, das wird die gnädige Frau aber erfahren." ‫ ״‬Soll sie doch." Józio ist ein Goldkind. Jetzt ist Ludwika ganz beruhigt. Keines der Kinder wird auch nur ein Sterbenswörtchen sagen. Sie kann ungestört für eine Stunde fortgehen. Stasio hat die Zeitung weggelegt, er stützt sich auf und schaut Józio an: ‫ ״‬Muttersöhnchen" — denkt er eifersüchtig — ‫ ״‬Den Bruder soll man liebhaben. Ob ich ihn liebhabe?" ‫״‬Vielleicht spielen wir ein bißchen?" entschließt sich endlich Zosia. Józio sieht Stasio fragend an. Stasio nimmt einen Band Słowacki aus dem Bücherschrank, denn Sienkiewicz hat Mama schon vor Zeiten eingeschlossen. Stasio kann Gedichte nicht leiden. ‫ ״‬Der Vater der Pestkran‫־־‬ ken", vielleicht ist das interessant. Zosia sdiaut auf die Uhr. Eine halbe Stunde ist schon vorbei — und nichts geschieht. ‫ ״‬Ich sag's Mama, daß du das Buch genommen hast." ‫״‬Dann sag ich der Mama, daß du ihr Parfüm angerührt hast." Józio legt sich aufs Kanapee. Stasio liest, er liest mit wachsendem Interesse. Und plötzlich geht ihm ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf: dieser ‫״‬Vater der Pestkranken" ist ihm ähnlich. Der Vater der Pestkranken und Stasio, beide sind von zahlreichen Schicksalsschlägen heimgesucht, deren Ende nicht abzusehen ist. Noch ist die fatale Woche nicht vorüber, zwei Tage hat sie noch. Wer weiß, was noch kommt? Vielleicht wird er rausgeworfen oder sonst etwas? Dem einen sterben die Kinder und der andere bekommt einen Zweier nach dem anderen. Und 66

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warum das alles, warum? Was hatte dieser Vater denn Böses getan, daß ihm die Kinder so starben? Der Arme! Stasio kommen die Tränen. Józio hockt auf seinem Stuhl und starrt ins Lampenlicht. Zosia starrt Stasio wütend an: seinetwegen ist der ganze Abend verdorben, dem ist heut eine Laus über die Leber gelaufen, dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten . . . Von den Erwachsenen ist niemand da, und in der Wohnung ist es ganz still. Warum ist heute bloß alles so traurig, obwohl die Mama nicht da ist? Jetzt geschieht nicht mehr allein Stasio, sondern auch Józio und Zosia Unrecht. Jetzt träumt die Geschichte einen düsteren Traum: ein böser Geist, eine dunkle Macht hat sich auf der Schwelle des Klassenzimmers niedergelassen, böse, weil sie das Lachen der Kinder nicht ertragen kann, böse, weil sie, wenn sie fröhliches, sorgloses Kinderlachen hört, blutunterlaufene Augen bekommt, den Kopf träge zur Tür wendet, knurrt und das Lachen verjagt. Ihr Armen, Ratlosen, wo ist ein Gebet für euer blasses Glück, von wo kommt Hilfe? Eure verwunderten Augen blicken traurig. Vielleicht geschieht ein Wunder — ein Ritter erscheint, mit hundert Köpfen und mit hundert mal hundert Händen, schwarz von Schrunden und voller Schwielen und Narben von schwerer Arbeit, und er erkauft für alle und auch für euch ein besseres Morgen? Einen düsteren Traum träumt die Geschichte.

‫ ״‬Wart' nur, dir werd' ich es besorgen, wegen gestern!" — droht Malinowski. Malinowski hat heute Tagesdienst. Stasio muß an den Streit von gestern denken und v/ird unruhig. Malinowski ist an und für sich schon ein Schwein und Kriecher, aber jetzt e r s t . . . Nach dem zweiten Läuten pfiff jemand. ‫ ״‬Przemyski, wrarum hast du gepfiffen?" — brüllt Malinowski aus voller Kehle: er weiß genau, daß gerade der Pedell auf dem Korridor vorbeigeht. ‫ ״‬Du lügst, ich habe nicht gepfiffen" — verteidigt sich Stasio, obschon er weiß, daß der Pedell jemandem vom Tagesdienst 67

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eher Glauben schenken wird als ihm. Stasio fühlt sich in der Klemme und ohnmächtiger Zorn steigt in ihm auf. In der Klasse pfiff jemand zum zweitenmal. ‫ ״‬Schon wieder Przemyski ?" — brüllt Malinowski und notiert Stasios Namen auf einem Zettel. Aber der Pedell hat nichts gehört, Stasio ist gerettet. Er wird es diesem Schweinehund schon beweisen, daß er sich nicht vor ihm fürchtet. ‫ ״‬Da, schreib auf" —· und jetzt pfiff er wirklich. Auf der Schwelle erschien der Inspektor. ‫״‬Wer hat hier gepfiffen?" ‫ ״‬Przemyski" — und er gibt dem Inspektor den Zettel. ‫ ״‬Zwei Stunden nachsitzen, nach dem Unterricht." Der Inspektor nimmt Malinowski den Zettel ab und geht zur fünften Klasse, wo er Unterricht hat. ‫ ״‬Warum mußtest du auch mit ihm Streit anfangen." ‫ ״‬Pack dich an deiner eigenen Nase!" ‫״‬Dieser Przemyski hat aber auch Pech." Stasio hat eine Stunde Zeit zum Nachdenken. Der Inspektor wird ihn erst während der großen Pause ins Strafbuch ein‫־־‬ tragen. Soll er nun Abbitte leisten oder nicht? ‫ ״‬Geh, bitte ihn doch", reden die Klassenkameraden ihm zu, — ‫ ״‬sag ihm, daß die ganze Klasse es bezeugen kann." ‫ ״‬Wenn ich mal Tagesdienst habe", meint einer, ‫ ״‬dann kriegt dieser Malinowski es mit mir zu tun." ‫ ״‬Schwein, Kriecher, Hornochse." Stasio wartet vor der Tür zur fünften Klasse, der Inspektor geht nie gleich nach dem Läuten hinaus, sondern immer erst nach fünf Minuten. Neben Stasio stehen all' seine Parteigänger in Bereitschaft, seine Zeugen; etwas abseits — der Rest der Klasse. ‫״‬Was ist das wieder für ein Auflauf?" fragt der Inspektor beim Herauskommen. ‫״‬Na, geh' schon!" Die Kameraden schubsen ihn. ‫ ״‬Bitte, Herr Inspektor . . . " beginnt Stasio. Alles will er ihm sagen, von Anfang an, gar alles, wie bei einer Beichte, alles, wie es seit Montag gekommen ist. Er wird ihm verzeihen, er muß ihm verzeihen, er muß ihm verzeihen ! ‫ ״‬Auseinander!" 68

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Der Inspektor hat Malinowskis Zettel in der Hand. ‫ ״‬Bitte, Herr Inspektor . .. ich . . ." Der Inspektor hört nicht zu, er geht weiter. Auf der Treppe werden sie von der Menge getrennt. Wild entschlossen kämpft Stasio sich durch. Er will ihm alles sagen, ganz von Anfang an, gar alles, wie es seit Montag gekommen ist. Er wird ihm verzeihen, ganz gewiß wird er ihm verzeihen und ihn nicht ins Strafbuch eintragen. Auf der Schwelle zum Lehrerzimmer tritt er ihm in den Weg. ‫ ״‬Bitte, Herr Inspektor . . ." ‫ ״‬Ich weiß, ich weiß . . ." ‫ ״‬Bitte, Herr Inspektor . . ." ‫״‬Du willst es nicht wieder tun, ja?" ‫ ״‬Ganz bestimmt nicht." ‫ ״‬Wenn du's nie wieder tun willst, dann isťs ja gut, aber heute wirst du deine zwei Stunden absitzen. \ 7erstanden?" Und er verschwand. ‫ ״‬Na was ist?" ‫ ״‬Geht zum Teufel!" Stasio kehrt in die Klasse zurück und bricht in Tränen aus. ‫ ״‬Przemyski, mach, daß du aus der Klasse kommst" — schreit Malinowski ihn schon von weitem an. Stasio gibt keine Antwort. Malinowski wagt nicht, seinen Befehl zu wiederholen. Der Klassenlehrer kommt herein: sind alle hinausgegangen, sind die Fenster offen? ‫ ״‬Was tust du denn hier? Ah, Przemyski. Schlimm, schlimm: gestern vier Tadel, heute Arrest." Für diese wenigen gleichgültigen Worte ist Stasio ihm so dankbar wie für die größte Wohltat; er ist ihm nicht mehr böse wegen des Zweiers vom Montag. Er hat ihm erlaubt, in der Klasse zu bleiben, er hat nicht geschimpft, ihn nicht hinausgejagt. Der Deutschlehrer schüttelte betrübt den Kopf, als er Stasios Arbeit zensierte, schnalzte mit der Zunge, schaute in Stasios verweinte Augen und gab ihm einen Vierer — Vier-Plus. Verdient hätte Stasio nur einen Dreier, und das vielleicht sogar mit einem Minus. 69

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‫״‬Du hast einen Vierer bekommen/' ‫ ״‬Gut." Nichts kann Stasio mehr trösten, es ist ja doch alles verloren. Die Schule leert sich. Totenstill, wüst und leer, schrecklich. So viele Bänke, die Landkarten an den Wänden und — Stasio, ganz allein. Und da draußen, auf der Straße, da ist alles beim alten, als ob nichts geschehen sei. Die Menschen laufen herum, als ob nichts sei. Die Straßenbahn fährt, ein Bub verkauft den Kurier, ein Kindermädchen mit zwei Kleinen spaziert einher, ein Herr mit hochgeschlagenem Mantelkragen, zwei Studenten, eine Dame mit einem Kind. Wie sie doch alle glücklich sind! Nur er — mutterseelenallein auf der ganzen weiten Welt! Der Inspektor ist jetzt gewiß zum Essen gegangen und denkt nicht mehr an ihn. Was geht ihn Stasio schließlich an, wer kann schon Interesse an Stasio haben? Nur ein einziges Wort: ‫ ״‬Ich verzeih dir" oder: ‫״‬Das muß aber das letzte Mal gewesen sein" — warum hat er es nicht gesagt? Warum hat er sich auch mit Malinowski angelegt? Gewiß, Malinowski hatte bei Gott geschworen, daß er's ihm heim‫־־‬ zahlen werde ; aber ein Schwur in höchster Wut, der zählt doch nicht, das ist doch bestimmt nur eine kleine Sünde? Ludwika ist gewiß sehr fromm, und doch, wie oft schwört sie, sie werde es der Mama sagen, aber dann tut sie's doch nicht. Ach, wie das Leben ihm zuwider ist, wie furchtbar gern er sterben möchte. Nicht krank sein, sich nicht quälen, sondern ganz einfach plötzlich sterben. Stasio stützt die Ellbogen auf, starrt bewegungslos in einen Winkel des Klassenzimmers und denkt nach, wie er denn sterben möchte. Da gerät, zum Beispiel, das kleine Mädchen in Trauer unter ein Pferdegespann. Stasio wirft sich dazwischen, um sie zu retten. Er packt ein Pferd am Zaum, es bäumt sich auf, aber Stasio läßt den Zügel nicht los. Da bricht das Pferd zur Seite aus und schleudert Stasio mit dem Kopf gegen einen Laternenpfähl und trifft ihn dann noch mit dem Huf. Die Leiche wird ins Gymnasium getragen. Alle Zeitungen berichten davon, man nennt ihn einen jungen Helden. Das ganze Gymnasium kommt zum Begräbnis: der Direktor, der Inspektor und alle 70

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Schüler, Mama und Papa und — sie, der er das Leben gerettet hat. Aber dann tut es Stasio doch leid um sein junges Leben. Nein, das Pferd soll ihn nicht erschlagen, sondern nur schwer verwamden. Stasio wird sehr lange krank sein, fast bis Weihnachten. Zwei Tage vor dem Fest wird er wieder zur Schule kommen, blaß, mit verbundenem Kopf, damit er noch geprüft werden und sich verbessern kann. Und im zweiten Quartal wird er dann keinen einzigen Zweier mehr haben, weil man ihm keine schweren Fragen stellen wird. Malinowski wird zu ihm kommen, um sich zu entschuldigen und Stasio wird ihm verzeihen. Weihnachten, Feiertage, Weihnachtsbaum. Wie fern das alles liegt. Vier Wochen noch. Wann wird das alles ein Ende haben? Was wird Mama nur sagen, wenn sie von den Eintragungen im Straf buch erfährt? ‫״‬Du kommst zu einem Schuster in die Lehre. Dich kann man ja nicht als Mensch behandeln. Wenn du dir noch einmal ein Buch zum Lesen holst, klopf ich dir gewaltig auf die Finger. Lernen sollst du!" — zischen würde das alles wie Peitschenschlage. Nach ein paar Tagen wird er dann um Verzeihung bitten; kühl und abweisend wird man ihm antworten: ‫ ״‬Gut, gut, wir werden ja sehen." Und die schlechte Klassen-Arbeit, und wenn er in der nachsten Woche wieder Pech haben sollte, dann sind noch zwei Zweier fällig. Nein, ihn kann wirklich nur noch der Tod retten und sonst gar nichts . . . Stasio kam hungrig heim, von dem sinnlosen inneren Kampf und der zweistündigen fieberhaften Gedankenarbeit in der Einsamkeit erschöpft. ‫ ״‬Das wird ja immer besser, Freundchen: gestern die mißratene Klassenarbeit und heute Arrest." ‫ ״‬Die Arbeit war nicht gestern, sondern schon vorgestern." Stasio will einfach, daß die Mama ihn schlägt: soll sie ihn doch schlagen, sollen sie ihn doch alle mißhandeln bis zum äußersten. Also widerspricht er ganz bewußt.

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‫״‬Die Arbeit war also vorgestern, ja, und der Arrest — war der etwa auch schon vorgestern?" ‫ ״‬Der hat mich zu Unrecht eingesperrt." ‫ ״‬Ich weiß schon, du hast für alle Zeiten und für alles hundert Ausreden parat." ‫״‬Das sind keine Ausreden, Mama; wenn du doch gar nicht weißt, wie alles war, dann sag doch so was nicht." Stasio legte seinen Löffel beiseite, warf sich auf sein Bett, blieb da liegen und vergoß bittere Tränen, bis der Nachhilfe‫־‬ lehrer kam. Aber das waren keine krampfhaften Tränen aus verletztem Stolz, ohnmächtigem Zorn oder aus Empörung, die Tränen, mit denen er das Mitgefühl des Klassenlehrers erweckt hatte, so daß der ihn während der Pause nicht aus der Klasse wies, das waren jetzt die Tränen des Unterlegenen aus dem Gefühl eines großen Unrechts, es war das bitterliche Schluchzen eines Menschen aus Enttäuschung über die, die ihm am nächsten standen, die letzte Hoffnung, die ihm noch geblieben war. Und die Mutter verstand das, und diesmal ließ sie ihr Herz sprechen : ‫״‬Vielleicht war es wirklich ungerecht? Stasio lügt eigentlich nie. Der Doktor hat gesagt, Stasio sei blutarm. Das Mittagessen hat er gar nicht angerührt, und sein Frühstücksbrot hat er auch wieder mitgebracht. Er wird noch krank, und dann wird alles noch schlimmer. Stasio ist doch auch noch nie sitzengeblieben." Nach der Nachhilfe-Stunde futterte Stasio sein Mittagessen, die Stunde mit der Deutschlehrerin fiel aus, und am Abend bekam er eine lange gefüllte Schokoladenstange mit ins Bett. * Arme Mama, wie gut sie doch war! Stasio hatte ungezogene Antworten gegeben, und sie hat doch erlaubt, daß die Deutschstunde ausfiel und ihm auch noch gefüllte Schokolade geschenkt. Arme Mama, sie ist auch nicht glücklich, weil sie nichts vom Leben hat: den ganzen Tag über sitzt sie daheim wie eingesperrt, Papa sieht gar nichts ein und nimmt gar keine Rücksicht, und wenn Mama einen schönen Kleiderstoff kauft, dann verpfuscht ihr die Schneiderin alles. 72

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Aber ist der Papa denn glücklich? Auch nicht: er quält sich, arbeitet, heutzutage ist es schwer, die paar Groschen zu verdienen, und wenn er ins Theater gehen oder sonst etwas unternehmen will, dann macht Mama ihm eine Szene und verdirbt ihm die Laune. Und er, Stasio, er verbittert ihnen das Leben und wird sie noch ins Grab bringen, anstatt sich Mühe zu geben und gut zu lernen. Ja, ja. Stasio ist an allem schuld, weil er ein Faulpelz ist und einfach nicht lernen will. Morgen ist Samstag, morgen kommt er ganz bestimmt in Geographie an die Reihe, er hätte schon am Montag aufgerufen werden sollen, aber weiß er auch was? Natürlich könnte er es auch noch während der großen Pause lernen; denn es ist nur wenig und der Stoff ist leicht; oder ist es doch besser, es heute schon zu lernen und morgen nur zu wiederholen? Da ist er nun zwei Stunden lang im Arrest gewesen; da hätte er lernen können, die wichtigsten Städte in Asien zu zeigen, denn danach wird gefragt, warum hat er das eigentlich nicht getan, wo doch die Landkarten an der Wand hingen? Er hat den Arrest und seine Tränen zu allem andern benutzt, nur nicht zum Lernen. Aber jetzt ist Schluß: Stasio wird sich an die Arbeit machen. ‫ ״‬So wahr ich Gott aufrichtig liebe, jetzt wird gelernt!" — beschließt Stasio. Das wird er geloben, dann muß er wirklich lernen, denn sonst beginge er eine schwere Sünde. Er kniet also in seinem Bett nieder und wiederholt feierlich sein Gelübde: ‫ ״‬So wahr ich Dich liebe, oh unser Herr und Vater, so wahr ich Dich liebe, Allerheiligste Dreifaltigkeit, von morgen an werde ich lernen und nur sonntags lesen . . . und wenn ich nur ganz wenig Hausaufgaben habe" — fügt er vorsichtig hinzu — ‫״‬und ich werde alles wiederholen, was ich nicht gut kann, was man aber können muß." Stasio ist nicht ganz geheuer zumute, weil er so mit einem Schlag alle Brücken hinter sich verbrannt hat, aber um so fester glaubt er an die Kraft seines Gelübdes. Jeden Tag sechs Seiten Geographie, drei Lektionen Deutsch mit Vokabeln, und die so, daß er bei jeder weiß, ob es ‫ ״‬der, 73

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die" oder ‫ ״‬das" heißen muß, dazu jeweils die Grammatik und noch zehn Rechenaufgaben. Dreihundert Aufgaben in einem einzigen Monat! Stasio fühlt sich steinreich, nur einen Monat lang muß er durchhalten. Und er wird es schaffen, jetzt muß er einfach, denn er hat ein Gelübde abgelegt. Wenn es doch schon morgen wäre oder wenn man jetzt bei Nacht auf stehen und die ersten zehn oder besser gleich zwanzig Aufgaben machen könnte — für zwei Tage im voraus. So schläft Stasio herrlich, wohlgemut und vollkommen ruhig ein. Und am nächsten Morgen springt er munter aus dem Bett, geht zehn Minuten früher als sonst aus dem Haus, die ersten drei Stunden vergehen ihm leicht wie im Fluge, und unbekümmert spielt er in der Pause Fangen. Sogar in der Geographiestunde hat er kein bißchen Angst. Heute wird er mit dem Nachhilfelehrer zehn Aufgaben machen, die ersten Deutschkapitel sind leidit, das ‫ ״‬Hauptwort" kann er fast auswendig, für Montag hat er nur wenig Hausaufgaben auf, das kann er alles in zwei Stunden schaffen, und dann ist der Abend frei. Dasselbe auch morgen und übermorgen. Sogar das Tagebuch hat seinen Schrecken verloren. Er wird feierlich versprechen, sich zu bessern, er wird sagen, daß er es gelobt hat, dann muß die Mama ihm glauben. Bis zum Läuten bleiben noch fünf Minuten. Stasio räumt seine Bücher zusammen, macht den Schulranzen zu und hat ihn sogar schon ein Stückchen unter der Bank hervorgezogen. ‫ ״‬Przemyski!" Stasio kann es nicht glauben. Wie das? Ab Montag wollte er ein neues Leben in der Schule anfangen, voller Erfolge und Triumphe, ein neues Leben, das dem früheren in nichts mehr glich und schon . . . schon in fünf Minuten wird diese alte, verwünschte Woche zu Ende sein, das Buch war sogar schon eingepackt — und urplötzlich . . . ‫ ״‬Przemyski !" Stasio weiß nicht mehr, wie die Hauptstadt von Tibet heißt. Höchstwahrscheinlich wird der Lehrer ihm die Hauptstädte der chinesischen Provinzen aufzählen lassen. Stasio ist betäubt, erstarrt. 74

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‫ ״‬Die Hauptstadt von Persien‫ ״‬, fragt der Lehrer und schaut auf die Uhr. Über Persien weiß Stasio Bescheid, aber danach wird der Lehrer ihn nach China fragen, und er hat vergessen, wie die Stadt heißt, wo der Dalai Lama lebt. ‫ ״‬Ich warte ‫—־ ״‬sagt der Lehrer. Stasio wartet ebenfalls. Eine merkwürdige Gedankenträg‫־‬ heit hat ihn befallen. Vielleicht läutet es! Warum hat er ihn nur auf gerufen ľ ‫״‬Teheran‫ — ״‬sagt die erste Bank vor. Der gesunde Menschenverstand rät ihm, irgend etwas zu sagen. Der Lehrer hat sein Notizbuch bereits eingesteckt, also wird er gar keine Zensur mehr eintragen. ‫ ״‬Teheran!‫ — ״‬schreit die ganze Klasse. ‫״‬Nun?‫ ״‬fragt der Lehrer und gibt sich den Anschein, als hätte er diese Steigerung nicht wahrgenommen. Stasio hüllt sich in Schweigen. ‫ ״‬Wie heißt die Hauptstadt von Persien?‫״‬ ‫ ״‬Teheran‫ — ״‬brüllt die Klasse jetzt lauthals. Stasio zuckt gleichgültig die Achseln. Der Lehrer greift gelangweilt zur Feder. In der Umgangssprache würde man sagen, Stasio habe sich benommen wie ein — Dickkopf.

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ÜBER DI E S C H U L Z E I T U N G * 1. In sehr vielen Schulen haben die Jugendlichen angelangen, Zeitungen herauszugeben. Sie haben ihnen die verschiedensten Namen gegeben und ihr Vorhaben auf völlig verschiedene Weise in Angriff genommen. Das Ende jedoch war, leider, immer das gleiche: nach ein paar Nummern stellte die betreffende Zeitschrift ihr Erscheinen ein. Ich sah ihren Eifer zu Beginn der Arbeit und ihre Resignation nach dem gescheiterten Versuch. Es tat mir leid um die verlorene Mühe und ihren Eifer. Aber auch diese gescheiterten Versuche haben meiner Meinung nach ihre Spuren hinterlassen: sie haben Erfahrungen vermittelt, denn irgend etwas mußten sie ja bewirken. Und doch wäre es besser gewesen, wenn die Schulzeitung sich hätte halten können. Ich bin fest überzeugt, daß Zeitschriften für Kinder und Jugendliche notwendig sind, aber es sollten Blätter sein, an denen sie selbst mitarbeiten und Themen aufgreifen können, die für sie wichtig und interessant sind — nicht nur WochenZeitungen mit Märchen und Gedichten. Was aber Kinder und Jugendliche für wichtig halten, das müssen sie ganz allein in ihren Schulzeitungen zum Ausdruck bringen. Deshalb will ich in dieser Broschüre ein paar Ratschläge geben und einige Warnungen aussprechen, die denjenigen, die in Zukunft SchulZeitungen herausgeben möchten, vielleicht von Nutzen sind. 2. Eine Klasse. Vierzig Schüler oder Schülerinnen. Der erste schwerwiegende Fehler der jungen Redakteure ist, wie mir scheint, daß sie nicht alle Kameraden einbeziehen, sondern nur eine bestimmte, nicht sehr zahlreiche Gruppe. Sie sagen: ‫ ״‬Wir sind zu dritt, wir werden für die übrigen siebenunddreißig eine Zeitschrift herausgeben." Sie rechnen damit, daß sich im Laufe der Zeit noch einige andere für die Arbeit interessieren und daß es damit genug sei. Wen wählen sie sich für ihren Zirkel * Aus: Wybór pism (Ausgewählte Schriften) Bd.IV, S. 193—212.

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aus? Solche, die begabt sind und eine gewandte Feder führen, und all diejenigen, die von Anfang an auf alles eingehen, goldene Berge versprechen und auf Anhieb zahlreiche Einfälle haben. Wenn man zu dritt beginnt, dann müssen von diesem Dreigespann erst einmal einer oder zwei ausscheiden, bevor ein neuer hinzukommen kann. Von den Dreien kann einer krank werden, verreisen, beleidigt sein, der Sache überdrüssig werden oder sich als nicht geeignet erweisen. Es ist ein großer Fehler, die Arbeit mit denen aufzunehmen, die am fähigsten sind und sich ohne weiteres dazu bereit erklären. Denn diese haben oft die geringste Ausdauer oder auch den größten Ehrgeiz und sind daher die unsichersten Kandidaten. Keine Zeitschrift der Welt stützt ihre Existenz nur auf hervorragende Mitarbeiter, sondern auf gewissenhafte, pünktliche und sorgfältige. Der begabte Schwätzer, der launische Primus, der eingebildete ‫ ״‬Poet" — als freie Mitarbeiter sollten sie stets willkommen sein ; aber das Redaktionskomitee muß sich vor allem aus Menschen zusammensetzen, die nicht zu oft krank werden, die keine Schulstunden versäumen, die nicht zu spät kommen, die ihr Wort halten und die nicht zu viel an sich denken. 3. Dem Redaktionskomitee sollte mehr oder weniger die halbe Klasse angehören. Die Arbeit sollte so verteilt werden, daß niemand sich wegen Zeitmangel entschuldigen kann. Jeder sollte jeweils nur soviel Arbeit haben, daß er ohne Schwierigkeit einen anderen vertreten kann, der gerade nicht ganz einverstanden ist, oder aus einem anderen Grunde die übernommene Verpflichtung nicht erfüllen kann. Es gibt nichts Schlimmeres als die Abhängigkeit von einem einzelnen. Es liegt nun einmal in der Natur des Menschen: daß er, sobald er sich seiner Unersetzlichkeit bewußt geworden ist, sich auch manches zu erlauben beginnt, und daß er weit eher zu Zugeständnissen bereit ist, sobald ihm klar geworden ist, daß man auch ohne ihn auskommen kann. Eine große Anzahl von Mitarbeitern birgt auch Gefahren in sich. Denn unter ihnen könnte es zu Absprachen kommen; ein Beleidigter wird sich vielleicht nicht nur zurückziehen, sondem intrigieren, andere aufstacheln und versuchen, sonstigen Schaden anzurichten. Man sollte auch bedenken, daß man nie 77

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sagen darf: ‫״‬Wenn du nicht willst, dann eben nicht; du tust ja sowieso nicht viel, wir werden durchaus ohne dich fertig." Jeder Feind ist gefährlich. Eine Schulzeitung muß zehn gute Freunde haben, zwanzig Menschen, die ihr Wohlwollen, und unter den übrigen zehn Gleichgültigen kann sie sich dann zwei übelwollende oder gekränkte leisten. Zwei, aber nicht mehr; zwei auch nicht gleich zu Beginn, sondern erst dann, wenn die Existenz der Zeitsdirift schon gesichert ist. 4. Folgende Redewendung wird von den Jugendlichen oft gebraucht: ‫״‬Der läßt sich aber bitten, vor dem muß man erst einen Kniefall tun", und weiter: ‫ ״‬Ich komme auch ohne fremde Hilfe aus, was spielt das für eine Rolle." Vor einer solchen Haltung muß ich warnen, so ehrenhaft sie im Privatleben sein mag — in der Gemeinschaftsarbeit ist sie unreif und töricht. Wenn du nidit befehlen kannst, dann mußt du eben bitten und dich verbeugen, dann bist du vom Wohlwollen anderer abhängig, und es spielt eine Rolle für dich. Es ist nicht ausschließlieh deine Sache, sondern audi die der Gemeinschaft; du liegst allen in den Ohren, als hättest du wer weiß was Wichtiges vor, und dann hältst du nicht Wort, führst alle an der Nase herum, und dich selbst am meisten. Die Schuld am Mißlingen schiebst du anderen zu, und dabei bist du selbst schuld, weil du durch deine grobe Art, durch heftige Worte, durch Rücksichtslosigkeit und mangelndes Taktgefühl die Menschen abgestoßen hast. Die Menschen sind nun einmal verschieden; es ist schwer, sie zu ändern, deshalb gebietet die Vernunft, jeden so zu nehmen wie er ist, und ihn nicht abzuweisen, oder lange bei der Auswahl zu zögern — um dann zum Schluß allein dazustehen mit seiner Verdrießlichkeit und seinem Beleidigtsein. Man spricht von der: Arbeit des Organisierens und nicht vom: Spiel des Organisierens. Wenn jemand eine Zeitung organisiert, dann sollte ihm bewußt sein, daß Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten ihn erwarten, daß Augenblicke des Mißerfolges kommen werden, daß er mit unfreundlichen Menschen Zusammentreffen wird und daß er nicht nur für sein eigenes, sondern auch für ihr Tun verantwortlich ist. Das ist nun einmal so. Wer sich vergnügen will, der soll ins Theater gehen und nicht eine Arbeit anfangen, die Mühe und Gewissen78

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haftigkeit erfordert und die nichts verspricht außer der inneren Genugtuung, etwas Nützliches zu leisten. 5. Welchen Gewinn kann eine Schulzeitung bringen? Einen ungeheuren! Sie lehrt die gewissenhafte Erfüllung freiwillig übernommener Pflichten, die sinnvolle Zusammenfügung der gemeinsamen Bemühungen der einzelnen Menschen, die Unbefangenheit der Meinungsäußerung, das echte Streitgespräch, sie lehrt, mit Argumenten und nicht mit Zänkereien sich durchzusetzen. Sie macht Tatsachen bekannt, und wo ohne Zeitung Klatsch und Verleumdung ihr Unwesen treiben, macht sie dem Schüchternen Mut, wäscht allzu Selbstbewußten den Kopf ‫—־‬ formt und bildet die Meinungen und ist das Gewissen der Kindergemeinschaft. Du hast ein Anliegen — schreib an die Zeitung; du bist verärgert — greif zur Feder; du wirfst mir Unwahrhaftigkeit oder Unverständnis vor — bitte, eine offene Auseinandersetzung vor Zeugen, das ist ein Dokument, das du später nicht mehr abstreiten kannst. Die Zeitung bringt die Schüler einer Klasse oder der ganzen Schule einander näher und verbindet sie; ihr ist es zu verdanken, daß Schüler einander kennenlernen, die zuvor überhaupt nichts voneinander wußten; sie läßt die Nachdenklichen zur Geltung kommen, die sich in aller Stille mit der Feder wohl auszudrücken wissen, im lauten Streitgespräch jedoch überschrien werden. 6. Wie soll die Arbeit eingeteilt werden? Etwa so: die Zeitun g muß verschiedene Sparten enthalten, für aktuelles Material und für laufende Kurznachrichten. Jeder Mitarbeiter oder Angehörige des Redaktionskomitees besitzt ein kleines Tagebuch, in das er jeweils Nachrichten aus seinem speziellen Gebiet einträgt. So mag der eine notieren, wer den Unterricht versäumt hat oder wer zu spät gekommen ist. Ein anderer hält die Namenstage und die Geburtstage der Mitschüler fest. Ein dritter sammelt Nachrichten über Klassenarbeiten, ein vierter — Nachrichten von den kleinen, ein fünfter — von der großen Pause. Der eine notiert Neuigkeiten aus der Mathematik, der andere aus der Polnisch-Stunde usw. Einer kann den Buch teil übernehmen: wer in dieser Woche welche Bücher gelesen hat, wer im Theater gewesen ist. Einer kann Informationen über die Lehrer sammeln, ein anderer über die Ordnung in der 79

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Klasse, und wieder ein anderer kann den Teil ‫״‬Zank und Streit" übernehmen. Auch das käme in Frage: wer Bücher, Heit und Schreibzeug mitzubringen vergißt. Und zum Schluß bliebe noch: Verschiedenes. Wenn ich hier ungefähr zwanzig Rubriken genannt habe, dann bedeutet das nicht, daß es genauso viele sein müssen, daß es nicht auch mehr oder weniger sein könnten. Ich habe nur an einem Beispiel zeigen wollen, daß die Arbeit so unterteilt werden kann, daß selbst jemand, der nicht gern viel schreibt, eine Rubrik übernehmen kann. Gewiß werden neue Rubriken entstehen, andere verschwinden. Vielleicht wird jemand dem Redaktionssekretär sein Notizbuch wochenlang mit der Bemerkung vorlegen: ‫ ״‬Es ist nichts Interessantes vorgefallen." Es wird sich dann schon zeigen, wenn jemand nicht alle Nachrichten, die einen gewissen Informationswert haben können, gewissenhaft festhält, oder wenn jemand andererseits allzu ausführlich über Dinge berichtet, die die Allgemeinheit weniger betreffen. Auf der ersten Seite des Tagebuches könnte man folgende Verpflichtung schriftlich niederlegen: ‫ ״‬Ich verpflichte mich, im ersten Probemonat dieses Tagebuch jeden Samstag dem Redaktionssekretär vorzulegen, auch für den Fall, daß während der betreffenden Woche keine Eintragungen erfolgt sind." Unterschrift, Datum. Nach dem ersten Probemonat könnte die Verpflichtung vielleicht schon für einen Zeitraum von drei Monaten gelten. Man könnte noch die Bemerkung hinzufügen: ‫ ״‬Ich verpflichte mich hiermit, im Krankheitsfall das Tagebuch einem anderen zu übergeben." 7. Bei den Sitzungen des Redaktionskomitees sollte besprochen werden, auf welche Weise die laufenden Nachrichten abwechslungsreicher gebracht und die einzelnen Sparten verbessert werden können. Bei diesen Sitzungen sollte vor allem eines vermieden werden: unfruchtbare Kritik. Unfruchtbar ist jede Kritik, die nur feststellt, was schlecht ist, aber nie Vorschlage macht, wie aus dem Schlechten etwas anderes, Besseres gemacht werden könnte. Es gibt keine Zeitschrift, die so gut wäre, daß sie nicht noch besser werden könnte. Aber das Sprichwort sagt: ‫ ״‬Der Spatz in der Hand ist besser als die 80

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Taube auf dem Dach/' Die Menschen haben ihre Wohnungen zuerst mit Kienspänen beleuchtet, dann mit Kerzen, später mit Petroleum, Gas und Elektrizität. Aber sie haben nie etwas verworfen, ehe sie nicht etwas Besseres erfunden hatten. — Auch die Schule hat ihre Fehler, und viele Menschen denken ständig darüber nach, wie man sie besser machen könnte; aber was wäre, wenn man alle Schulen schließen wollte, nur weil sie nicht vollkommen sind? Auch die Lehrer sind nicht ideal, aber ehe wir keine besseren finden, müssen wir sie nehmen, wie sie sind. Einem nicht gerade gewissenhaften Mitarbeiter ist leicht gesagt: ‫״‬Wenn du das so machen willst, dann laß es lieber ganz bleiben" ‫־‬-‫ ־‬das ist zwar einfach, aber nicht sehr klug. Die Feststellung: ‫ ״‬Diese Rubrik ist uninteressant" — ist leicht getroffen; aber man muß zugleich etwas Besseres vorschlagen können, so daß keine Lücke entsteht. Selbst wenn eine ganze Nummer einmal schlecht ausgefallen ist, so kann die nächste schon besser sein; es kann aber genausogut erst in drei Monaten besser werden. Über Kritik darf man sich nicht ärgern, denn erstens: was dem einen nicht gefällt, kann einem anderen wohl gefallen, und zweitens: Kritik entmutigt vernünftige Menschen nie, im Gegenteil — sie spornt sie zu größeren Anstrengungen an. Bei den Sitzungen darf man sich nicht vom Zorn hinreißen lassen. Da mag sich jemand unerträglich boshaft äußern; vielleicht liegt das in seiner Natur, und er kann nichts dafür, daß er so, wie er ist, geboren wurde; vielleicht bedauert er selbst hinterher, daß er sich so ausgedrückt hat. Und vielleicht hat er auch andere, verborgene Gründe, weshalb er nicht will, daß die Zeitung erscheint, weshalb es ihm unbequem ist und er die Arbeit stören will. Nicht jedem ist es angenehm, offen über alles zu sprechen: mancher schnüffelt lieber im Verborgenen herum. Deshalb wäre es unklug, so jemandem die Oberhand zu lassen. —‫־‬ Concordia res parvae crescunt, discordia maximae dilabuntur (in Eintracht wachsen die kleinen Dinge, in Zwietracht gehen auch die größten zugrunde) — sagt ein altes lateinisches Sprichwort. Denken, überlegen, den einen Gedanken durch einen anderen untermauern, einen Weg suchen und nicht über die Tatsache 81

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in Streit geraten, daß der Mensch — wie auch seine Arbeit — Mängel und Fehler hat. 8. Außer dem sogenannten laufenden Material muß eine Zeitung Vorräte haben. Der Wert eines Blattes hängt von der Reichhaltigkeit der Redaktionsmappe ab. Und gerade hier macht die Jugend Fehler. Ein erfahrener Redakteur hält immer einen Teil der Artikel in Reserve, er veröffentlicht nie in einer einzigen Nummer zugleich alles, was er für das Beste hält. Darin gleicht er der Hausfrau, die dafür sorgt, daß immer Vorrate vorhanden sind, daß es zwar täglich etwas Gutes gibt, daß aber auch etwas übrigbleibt, wenn unerwartet Gäste kommen sollten, und daß auch dann etwas im Hause ist, wenn es keine Gelegenheit mehr zum Einkäufen gibt. Und die Jugend gibt sich alle Mühe, um die ersten Hefte ihrer Zeitschrift interessant und reichhaltig zu gestalten. Aber ich möchte bemerken, daß sie sich gewöhnlich mit der Herausgabe der ersten Nummer allzusehr beeilt. Ich habe vorhin gesagt: ‫ ״‬Streitet nicht"; jetzt sage ich: ‫״‬Beeilt euch nicht." So ist es, keine Eile. Wenn beschlossen worden ist, daß die aktuellen Nachrichten die Hälfte der Nummer ausmachen sollen, dann kann die andere Hälfte beizeiten vorbereitet werden. Ich bin der Meinung, daß man vier Ausgaben im voraus zusammenstellen kann — (ohne die aktuellen Nachrichten) —, ehe die erste Nummer erscheint. Ich weiß, viele werden ungeduldig werden oder sich vielleicht sogar über euch lustig machen; manch einer wird sagen: ‫ ״‬Ihr redet und redet, aber die Zeitung ist immer noch nicht erschienen." Ein französisches Sprichwort sagt: ‫ ״‬Wer zuletzt lacht, lacht am besten." Laßt sie jetzt ruhig ihre Witze machen und lachen, wir wollen das Unsre gewissenhaft und gründlich tun. Vielleicht verliert der eine oder der andere die Lust — das macht nichts; ‫ ״‬Strohfeuer" erlischt ohnehin rasch. Aber die Einsichtigen lernen — das Warten. Ich weiß aus Erfahrung, daß die ungeduldigsten Mitarbeiter sofort annehmen, man schätze sie gering, wenn das, was sie geschrieben haben, nicht gleich in der nächsten Ausgäbe erscheint. Das stimmt gar nicht. Eine Zeitung muß auf die Vielfalt ihres Inhalts achten — sie muß abwechselnd kürzere und längere, ernste und heitere, anspruchsvollere und leichtere Artikel bringen. Nehmen wir einmal an, daß in der Schule 82

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eine Theatervorstellung oder ein Ausflug stattgefunden hat. Gleich vier Schüler haben davon berichtet. Was ist nun besser: alle vier Artikel auf einmal in einer Nummer oder aber sie einzeln zu veröffentlichen? Wenn jemand sagt: ‫ ״‬Solange ihr das nicht in der Zeitung bringt, schreibe ich nichts Neues für euch" — dann muß man ihm klarmachen, daß er damit im Unrecht ist. Wer hat nicht schon in Neujahrsprospekten die Vorankündigungen von Romanen und Aufsätzen gelesen, die oft erst viele Monate später gedruckt werden? Das sind Dinge, die die Erwachsenen begreifen, die die Jugend aber erst noch lernen muß. Man kann sogar bekanntmachen, daß die erste Nummer erst erscheinen wird, wenn alle, die bereits einen Artikel geliefert haben, einen weiteren Artikel — auf Vorrat — für die Redaktionsmappe verfaßt haben. Es läßt sich sogar ein noch strengeres Reglement einführen: jedermann muß sich verpflichten, ständig zwei Artikel parat zu haben. Eine Zeitung ist wie ein Bukett aus den verschiedensten Blüten zusammengebunden. Um wie vieles schöner kann ein Bukett doch werden, wenn wir aus einem großen Vorrat wählen können. 9. Es ist die Frage, ob der Redakteur einer Zeitschrift selbst schreiben soll. Nicht unbedingt. Es ist gut, wenn er zu schreiben versteht, für den Fall, daß irgend etwas dringend ist und er niemand anderen rechtzeitig dafür gewinnen konnte. Aber es ist schlecht, wenn ein Redakteur eine Arbeit aus der Überzeugung heraus ablehnt, daß sein — des Redakteurs —‫ ־‬Artikel besser sei. Selbst ein schlechter Artikel hat seinen Wert, denn er kann irgend jemanden anregen. Wenn ich Redakteur einer Schulzeitung wäre, und wenn in meiner Klasse ein Schüler wäre, den man für wenig begabt hält — ich würde mich an ihn wenden. Und wenn sich dann jemand erlaubte, darüber zu spotten und zu sticheln, würde ich ihm in der nächsten Aus‫־‬ gäbe zu verstehen geben, daß er dazu kein Recht hat, und außerdem falsch und unverständig gehandelt hat. Vielleicht würde ich auch noch schärfer reagieren, ohne ihn jedoch beim Namen zu nennen. Überhaupt sollte man in der Zeitung sehr vorsichtig mit Namen umgehen, wenn etwas Nachteiliges berichtet wird. Zudem darf ein solcher Artikel nie anonym 83

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bleiben; er muß gezeichnet sein. Manchmal versieht die Redaktion einen derartigen Beitrag von sich aus mit der Bemerkung, daß sie diesen Artikel im Namen der Pressefreiheit zwar veröffentlichte, mit ihm aber nicht einverstanden sei, weil sie ihn für ungerechtfertigt halte. Ein Redakteur muß ungewöhnlich ruhig, taktvoll und sorgfaltig sein — im Sinne jenes obersten Grundsatzes: vermeide alles, was dem Blatt Feinde schaffen oder es beeinträchtigen kann, versäume jedoch keine Gelegenheit, ihm Freunde zu gewinnen. Eine Zeitung, die Schulfragen behandelt, muß von Zeit zu Zeit auch die Lehrer erwähnen, und sie ist berechtigt, in Fragen der Schulordnung ihre Stimme zu erheben. Ich würde nicht raten, sofort damit zu beginnen, und ich hielte auch eine gar zu ergebene Haltung gegenüber der Schulgewalt für falsch. Aber in dem Bestreben, von allen geachtet zu werden, sollte das Blatt auch einmal zugunsten der Lehrer eine gerechte Stimme erheben. Dann wird es sich auch Kritik erlauben und auf Unterstützung durch die Lehrer rechnen können. Takt und Unparteilichkeit — das ist es, worüber ein Redakteur wachen muß. Die zweite, nicht weniger wichtige Aufgabe des Redakteurs ist ‫ —־‬jeden Gedanken, jeden Einfall, jedes Projekt rasch aufzugreifen, um den Inhalt des Blattes abwechslungsreich gestaken zu können. Dem Leser gefällt es, wenn er bestimmte Rubriken in jeder Ausgabe wiederfindet, aber es freut ihn ebenso, wenn er von Zeit zu Zeit auf etwas Neues stößt, auf eine Überraschung, auf etwas, das es bisher noch nicht gegeben hat. Wenn die Zeitschrift im allgemeinen nicht illustriert ist, kann man eine Festtags- oder Jubiläumsnummer mit Zeichnungen herausbringen. Man kann ein Preisrätsel veröffentlichen oder ein Scherzgedicht oder den Plan für einen Ausflug, für eine Theatervorstellung oder eine andere Unterhaltung. So halten es auch die großen Tageszeitungen. — Eine Pariser Tageszeitung hat einmal im Fenster ihrer Redaktion eine Flasche mit Erbsen ausgestellt: ‫ ״‬Wer errät, wieviel Erbsen in der Flasche sind, wird einen Preis gewinnen." Die Flasche war öffentlich gefüllt und versiegelt worden, und am vorbestimmten Tage 84

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wurden die Erbsen öffentlich ausgezählt. Zwei Leser hatten, so wurde berichtet, die richtige Zahl erraten: ein Droschken‫־‬ kutscher und ein Parlamentsabgeordneter. io. Wettbewerbe sind für die Redaktionsmappe eine große Bereicherung. Die Redaktion stellt die Themen oder schreibt einen Preis aus: für ein Gedicht, für einen Artikel über politische oder wirtschaftliche Fragen, für eine Humoreske. Dann wird abgestimmt: jeder Leser sagt, was ihm am besten gefallen hat, und derjenige, der die meisten Stimmen erhält, gewinnt den Preis. Ich kann einige Themen vorschlagen, aber ich möchte betonen, daß sie nur als Beispiel dienen sollen, nicht aber als Vorbild. Also: 1. Mein Abenteuer in der Straßenbahn; 2. Wie ich mich einmal verirrt habe (im Wald oder in der Stadt); 3. Mein interessanter Traum; 4. Was würde ich tun, wenn ich eine Million M ark1 gewänne; 5. Wem begegne ich oft auf dem Schulweg; 6. Was mich am meisten ärgert; 7. Die fünf schönsten männlichen und weiblichen Vornamen; 8. Was würde ich tun, wenn ich dürfte, was ich wollte; 9. Vorschlag für ein Schulkonzert; 10. Die ideale Schule. Das vierte, sechste und siebte Thema fallen unter den Be‫־‬ griff ‫ ״‬Umfrage". In Amerika sind solche Umfragen sehr verbreitet. Auf manche Fragen gehen dort Tausende von Antworten ein. Es ist in der Tat interessant, welche Namen den Menschen am besten gefallen, welche Fehler und Vorzüge sie für die wichtigsten halten, was die Menschen am meisten ärgert, was sie unter Glück verstehen und welcher der volkstümlichen Autoren die meisten Anhänger hat. Vor dem Kriege hat eine Zeitung die Umfrage veröffentlicht, welcher polnische Roman am beliebtesten sei; es stellte sich heraus, daß es ‫ ״‬Mit Feuer und Schwert"2 von Sienkiewicz war. 1 Korczak schrieb die Broschüre ‫״‬Über die Schulzeitung1921 ‫״‬, also zu einer Zeit, in der die von den deutschen Besatzungsbehörden im Ersten Weltkrieg eingeführte Mark-Währung noch gültig war. 2 Einer der berühmtesten historischen Romane von Henryk Sienkiewicz, der den Aufstand der Dnjepr-Kosaken unter ihrem Hetman Bogdan Chmielnicki gegen die Polnische Republik (1648—1651) schildert. Die historischen Romane von Sienkiewicz — und namentlich die Trilogie, zu der die Erzählung ‫״‬Mit Feuer und Schwert" gehört — sind bis heute die Lieblingslektüre der polnischen Leserschaft geblieben.

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Manchmal ergeben derartige Umfragen sehr bemerkenswerte, manchmal aber auch komische Resultate. So fragte ich zum Beispiel einmal in einer Schule, was jeder gern sein möchte. Der eine wollte Doktor sein, ein anderer Lehrer, wieder ein anderer Ingenieur, aber Józio schrieb, er wollte Zauberer sein. Alle lachten. Niemand wußte, wer das geschrieben hatte, denn die Antwortkarten waren anonym. Ich fragte also nach, von wem die Antwort stamme: wenn er wolle, solle er sich melden. Józio stand auf: ‫ ״‬Ich habe das geschrieben/' Zum Scherz? — durchaus nicht; die Frage war — nicht: was jemand wird oder werden kann, sondern: was jemand sein möchte. Józio wurde der Preis durch Abstimmung zugesprochen, und ihm verdankten wir ein sehr interessantes Thema für die nächste Umfrage: Was würde ich tun, wenn ich Zauberer wäre? Auf die Frage: ‫ ״‬Was ärgert mich am meisten?" antwortete einmal ein Bub: ‫ ״‬Am meisten ärgert mich, wenn ich die W ahr‫־‬ heit sage und man mir nicht glaubt; ich suche zum Beispiel meine Mütze, die ich verloren habe. Da kommt jemand und fragt mich, wo die Krucza-Straße sei ; ich antworte ihm, daß ich keine Zeit habe, weil ich gerade meine Mütze suche. Und er darauf: ,Das sagst du nur so, weil du die Krucza‫־‬Straße nicht weißt/ Oder jemand bittet mich, ihm etwas zu borgen: einen Radiergummi oder irgend etwas anderes, ich sage, daß ich das nicht habe, aber er glaubt nicht: ,Du hast es, du willst es mir nur nicht geben.' Totschlägen könnte ich ihn dafür! Glaubt ihr mir, daß ich seitdem weit seltener behaupte, daß ich jemandem etwas nicht glaube; es sei denn, ich bin sicher, daß er lügt!" Auf die Frage, wen sie am wenigsten mögen, antworteten sie: den, der kein Ehrgefühl hat; man sagt zu ihm, er solle gehen, aber er hängt sich noch mehr an einen. Das alles ist ungemein interessant. 11. Ich komme noch einmal auf die Preise zurück. Wie sollen sie aussehen? Die Redaktion einer Schulzeitung ist gewiß nicht reich, also dürfen die Preise nicht viel Geld kosten. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß eine Andenken-Postkarte ein sehr beliebter Preis ist. Man wählt also eine Karte mit einem passenden Bild aus, überklebt die Adressenseite mit weißem Papier und schreibt ungefähr folgenden Text darauf: 86

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‫״‬Durch Beschluß des Preisgerichts vom . . . wurde (Name und Vorname) eine Andenken-Postkarte zuerkannt. (Datum) (Unterschriften) oder: ‫ ״‬Durch Beschluß des Redaktionskomitees (Name des Blattes) wurde (dem und dem) eine Andenken-Postkarte zuerkannt." Man kann auch dazuschreiben, wofür eine Karte zuerkannt wurde. Also: ‫ ״‬Für die Teilnahme am Wettbewerb" — ‫ ״‬Zum Andenken an einjährige (halbjährige) Mitarbeit" — ‫ ״‬Zum Jubiläums tag des zehnten (zwanzigsten) Artikels". Als Anreiz kann man gleich im Prospekt des Blattes ankündigen, daß für zwanzig — fünfundzwanzig Artikel eine Jubiläumspostkarte zum Andenken überreicht werden wird. Bei der Zuerkennung der Karten muß man Maß halten. Denn wenn wir allzu großzügig verfahren, verlieren die Karten ihren Wert, und ebensogut kann es geschehen, daß jeder für die geringste Kleinigkeit einen Preis beansprucht und ohne Karte keinen Finger rühren will. Es muß also deutlich gemacht werden, daß eine Karte kein Preis, sondern ein Andenken ist. Wer die Zeitung nicht leiden kann, wer sie nicht schätzt — wozu braucht der ein Andenken? Wer ein Andenken haben möchte, dem wird eine Postkarte allein genügen. Man muß auch vorsichtig sein, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, daß der Redakteur und ein kleiner Kreis seiner engsten Freunde vor allem für sich selbst sorge. Darum ist es besser, von vornherein zu sagen, daß der Redakteur nach einem Jahr, ein Mitglied des Redaktionskomitees und ein ständiger Mitarbeiter für je zehn oder zwanzig Ausgaben eine solche Postkarte bekommen. Alles sollte im voraus so berechnet sein, daß jeder nicht öfter als zwei- oder dreimal im Jahr eine Postkarte erhält, wenn er die übernommenen Pflichten gewissenhaft erfüllt und eifrig am Erfolg des Blattes mitarbeitet. Ich füge noch hinzu, daß eine Karte auch als Reklame dienen kann; also sollte man darauf achten, daß möglichst viele Mensehen sie bekommen. Wo also Zweifel darüber herrscht, wem die Karte zugesprochen werden soll, da sollte derjenige den Vorrang haben, der noch nie eine bekommen hat. Man kann es auch so handhaben, daß alle Vierteljahr unter all jenen, die noch kein Andenken besitzen, eine Auslosung stattfindet. 87

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Diese Angelegenheit erfordert auch viel Takt und Über· legung. 12. Die Schulzeitung erscheint in einem Exemplar. Der Redaktionssekretär stellt die Reinschrift her. Bevor ich etwas über den Sekretär sage, muß ich auf eine wichtige Sache hinweisen. Also: es gibt Menschen, denen das Schreiben leichtfällt. Es macht ihnen Freude und sie wollen es auch gern. Die einen schreiben frei nach ihrer Phantasie, die anderen schreiben ab. Aber es gibt auch solche, die überhaupt nidit gern schreiben. Schließlich gibt es ja auch Menschen, die gern spielen, oder gern zeichnen, oder auswendiglernen, oder Aufgaben lösen, oder nähen, oder singen, oder in der Hauswirtschaft helfen, oder kleine Kinder betreuen, oder Bücher lesen, oder Blumen pflegen. Und es ist ein großes Glück, daß nicht alle dasselbe gern tun, und es ist ein großes Unglück, daß die Schule von heute noch nicht alle Fähigkeiten und Neigungen des Menschen berücksichtigen kann. Was kann man da tun? Die Menschen denken pach, aber sie haben noch nichts ausgedacht. Und bis jetzt werden in der Schule die geachtet, die mühelos und gern aus ihrer Phantasie heraus zu schreiben verstehen. Und es hat den Anschein, als ob jeder, der nicht schreiben kann oder mag, ein Dummkopf sei. Unmäßig stolz sind alle, die viel und formgerecht schreiben können. Das ist ein großer Fehler: das erbittert und verletzt jene oft klugen und nützlichen Menschen, die kein Glück im Umgang mit der Feder haben, so wie andere keine glückliche Hand für die Musik, die Gymnastik, das Schachspiel oder das Deklamieren. Denn, ich wiederhole, es ist gut, daß nicht alle Menschen die gleichen Augen und Haare, die gleichen Gedanken und Gefühle haben. Wie oft entsteht eine Freundschaft zwischen einem Fröhlichen und einem Traurigen, einem Braunen und einem Blonden, einem Arzt und einem Lehrer! Es stimmt, daß jeder Mensch einen Brief schreiben, ein Abenteuer oder ein Ereignis schildern kann, und wem! er nicht gern schreibt, so tut die Schule gut daran, ihn dazu zu zwingen. Denn jedermann muß und soll auch das tun, was er nicht mag, und ebenso das, was er nicht sehr gut kann — wenn es notwendig oder nützlich ist. 88

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Das alles habe ich geschildert, damit sich niemand darüber wundert, daß ich denjenigen, der gut, interessant und witzig schreibt, nicht für wertvoller halte als jene, die schön schreiben. 13. Im Mittelalter, als man die Buchdruckerkunst noch nicht kannte, erfreuten sich die Abschreiber keiner geringeren Achtung als die Gelehrten und die Dichter. Schrift und Druck verhalten sich zueinander wie ein Porträt zur Photographie, wie eine Stickerei zur Arbeit einer Nähmaschine, wie der Gesang zum Grammophon. Eine schöne Handschrift — das ist auch ein Talent, und wie ich meine, ein Talent, das nicht oft zu finden ist. Wenn sich also eine Schulzeitung nicht auf ungewöhnlich begabte Mitarbeiter stützen kann, so sollte man nicht allzu bekümmert sein, wenn der Sekretär kein ausgesprochen kalligraphisches Talent besitzt. Wieder gilt dasselbe: wer die schönste Handschrift hat, der sollte sich bereiterklären, die Jubiläums-, die Feiertags- oder die illustrierte Ausgabe abzuschreiben. Aber für gewöhnlich sollte man zum Sekretär oder zu dessen Stellvertreter die gewissenhaftesten, redlichsten und akkuratesten in der Klasse wählen. Denn der Sekretär wird auch die entsprechende Arbeit zu leisten haben. Wer einmal gesehen hat, wie sorgsam man mit einer Rotationsmaschine umgehen muß, die eine Zeitung druckt, der wird erst einsehen, welche Achtung dem Sekretär einer Schulzeitung eigentlich gebührt. Er ist keine Maschine, der es gleichgültig ist, was sie druckt; er schreibt Woche für Woche die Zeitung ab, alles, auch die Kommata, auch das, was nur wenig oder überhaupt nicht interessiert und was die Leser nur so überfliegen, um es hinter sich zu bringen; er wäre der Maschine ähnlich, wenn diese eine Seele hätte. Seine Arbeit wird oft übersehen; aber sie ist nicht nur eine Arbeit der Hand, die schreibt, sondern auch des Auges, das prüft, der Gedanken, die stets wachsam darauf achten müssen, daß jede Zeile so endet, wie es sein soll, und daß sich kein Fehler einschleicht; einmal müssen die Buchstaben enger zusammenstehen, um den Text richtig unterzubringen, ein andermal müssen sie größer sein — als Überschrift; und wie steht es um die Worttrennung und die Sorge um das Ende der Seite? 89

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Ihr sollt schon auf das ästhetische Aussehen des Blattes achten, aber Ihr müßt dem Sekretär auch Zeit lassen, daß er Erfahrungen sammeln kann; Ihr dürft nicht verlangen, es dürfe überhaupt keine Fehler geben, keine übersehene Seite, keine Durchstreichungen oder Auslassungen. Das kann nicht nur Vorkommen, das muß sogar so sein, besonders am Anfang. Zeigt ihm Dankbarkeit und Verständnis — und denkt daran, ihm nicht allzuviel Arbeit aufzubürden. Der Sekretär ist be‫־‬ rechtigt, einen unleserlichen, unsauberen und mit Streichungen versehenen Artikel zurückzuweisen; der Autor ist verpflichtet, an den Sekretär zu denken. 14. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, so mußten die meisten Schulzeitungen ihr Erscheinen einstellen, weil niemand die Beiträge abschreiben wollte. Daran sollte man denken. Der Sekretär muß einen Stellvertreter, eine Hilfe haben. Längere Artikel für im voraus zusammengestellte Nummern können die Autoren selbst abschreiben; vielleicht lernen sie dann, sich kürzer zu fassen. Der Sekretär sollte seine Zeit genau einteilen und bestimmen, welchen Umfang die Zeitung haben soll: jede Woche ein ganzes Heft oder je ein Heft für zwei Ausgaben. Das ist wichtig. Die wenig Erfahrenen, aber Eifrigen übernehmen oft Pflichten, die sie nicht erfüllen können. Man muß mit der Uhr in der Hand berechnen, wieviel Zeit das Abschreiben einer Seite beansprucht, wieviel Stunden das Abschreiben einer ganzen Nummer erfordert, und wieviel Zeit man täglich der Zeitung opfern kann. Es gab Fälle, in denen jede Ausgabe von jemand anderem abgeschrieben wurde. Das hat seine guten Seiten, aber am Anfang ist es gefährlich. Wenn man diese Methode wählt — gut, aber es muß ein verantwortlicher Sekretär da sein. In jedem Fall aber müssen Redaktion und Verwaltung einer Zeitung voneinander getrennt sein. Der Redakteur wird keine Zeit für alles finden, er wird das eine oder das andere vernachlässigen. Und denkt daran, daß der Untergang einer Zeitung immer damit beginnt, daß die Hefte nicht mehr rechtzeitig erscheinen, daß sich das Blatt verspätet, zuerst um einen Tag, dann um ein paar Tage, dann um eine Woche — schließlich bleibt es ganz 90

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aus. Eine Zeitschrift kann wie ein Mensch plötzlich sterben oder nach langer Krankheit. Mir ist ein Beispiel bekanntgeworden, daß Eltern, als sie bemerkten, daß ihr Sohn als begeisterter Redaktionssekretär seine Schulpflichten vernachlässigte, ihm verboten haben, die Zeitung abzuschreiben. Auch so etwas muß man einkalkulieren. Aus eben diesem Grunde betone ich, daß man das Erscheinen der ersten Nummer nicht übereilen soll — selbst wenn sie bereits fertig sein sollte —, bevor nicht alles bis ins einzelne besprochen worden ist. 15. Das ist noch nicht das Ende. Das Blatt muß über Geldmittel verfügen. Man braucht Tagebücher für die ständigen Mitarbeiter, (wenigstens fünf) Hefte für die Reinschrift der Zeitung, unbedingt Stahlfedern für den Sekretär und vielleicht auch ein paar Andenken-Postkarten. Ich schlage vor, die notwendigen Mittel durch freiwillige Spenden aufzubringen. Von vornherein muß ein Haushaltsplan gemacht werden, Quittungen für empfangene Anzahlungen müssen ausgestellt werden— und ebenso sollte von vornherein kein Zweifel darüber bestehen, daß das ganze Unternehmen auch mißlingen kann. Ein jeder sollte wissen, daß er etwas riskiert: das läßt sich nicht ändern, und man darf niemandem deswegen Vorwürfe machen. Die Erwachsenen wissen, daß alle Berechnungen falsch sein können, und daß in jedem neuen Vorhaben eine gewisse Gefahr verborgen liegt; nur unerfahrene Menschen sind erbittert, wenn sie verlieren. Wenn nur nicht Leichtsinn, böser Wille oder Unredlichkeit bei denjenigen im Spiele sind, die den öffentlichen Groschen verwalten. Gleich zu Beginn muß ein Kassenwart gewählt werden und eine Kommission aus drei Personen, die zu Einkäufen berechtigt ist, damit es darüber keine Streitigkeiten gibt. Es empfiehlt sich, eine ganz bestimmte Sorte von Andenken-Karten auszusuchen (zum Beispiel Blumenbilder), damit es später keine Klagen gibt, weil der eine eine schönere und der andere eine schlechtere Karte bekommen hat. Aber auch bei aller Umsicht wird es immer Unzufriedene und Intriganten geben. Man sollte ihnen aber nicht leichtsinnig eine Waffe zum Kampf gegen uns in die Hand geben. 91

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Wenn sie gegen uns auftreten, so wird offenbar, daß sie entweder Streit suchen oder wegen ihres unerträglichen Charakters überhaupt immer und mit allem unzufrieden sind. Das Argument, das ich solchen Menschen gegenüber ständig anwende, ist folgendes: ‫ ״‬Das gefällt dir nicht, du hast Recht. Mir gefällt es auch nicht, denn es könnte besser sein. Ich weiß nicht, wie man es besser machen könnte; aber wenn du einen Vorschlag hättest, wäre ich dir von Herzen dankbar." 16. Die Mithilfe Erwachsener bei der Redaktion der Zeitung möchte ich gesondert erwähnen. Eine solche Hilfe ist erwünscht, aber sie ist nicht unbedingt notwendig. Am besten wäre es, einen Lehrer zu bitten, er möge jede Nummer —‫ ־‬bereits in Reinschrift — durchlesen und am Ende unter dem Titel: ‫ ״‬Errata" die grammatikalischen und stilistischen Fehler verbessern. Die Zeitung würde so die Frische und die Originalität bewahren, die dem Stil der Jugend eigen ist. Denn es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß sich die Jugend in Zukunft ihre eigene Sprache schafft, wie sie das einfache Volk, die Welt der Wissenschaft und der Kunst bereits besitzen. Die Sprache der Jugend kann sogar farbiger, frischer, schöner sein als der Zeitungsjargon der Erwachsenen. Der Wortschatz der Jugend hat seine eigenen schönen Redewendungen und Ausdrücke. Ich nenne nur ein Beispiel: ‫ ״‬Büffel." Aber noch unzählige BeZeichnungen ließen sich anführen! Die Nachahmung des Stils der Erwachsenen, wie man sie in Schulaufsätzen findet, wirkt oft störend und lächerlich. Die Schülerpresse kann sich davon freimachen. Die Lehrerin kann Leitartikel beisteuern. Sie kann auch ab und zu ein Wettbewerbsthema als Klassenarbeit schreiben lassen. Das könnte zur Bereicherung der Redaktionsmappe beitragen. Das Thema muß selbstverständlich vom Redaktionskomitee gestellt werden. Man muß sehr auf der Hut sein, daß man nicht ganz und gar in Abhängigkeit von den Erwachsenen gerät; sie haben unter Umständen den großen Fehler, daß sie eine Zusammenarbeit mit der Jugend auf der Grundlage der gegenseitigen Verständigung nicht begreifen und unbewußt sogar dann Gehorsam verlangen, wenn sie nach außen hin die absolute Freiheit verkünden. Wenn ich das behaupte, dann denke ich an die 92

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Erwachsenen im allgemeinen, nicht aber an die seltenen Ausnahmen. 17. Wem sollten die bereits gelesenen Zeitungen gehören? Auch das muß vorher besprochen werden. Sie können der Schule, gleichsam als Archivbestand, übereignet werden, aus dem künftige Generationen schöpfen werden; die Zeitungen können unter den Abonnenten verlost werden. Zwei Fragen müssen noch besprochen werden: das Ausleihen der Zeitung nach Hause und das Abschreiben bestimmter Abschnitte zur eigenen Erinnerung. Und was soll mit dem Vermögen der Zeitung geschehen, falls sie ihr Erscheinen einstellen sollte: Soll es der Schule zufallen, innerhalb der gesamten Klasse oder des Redaktionskomitees ausgelost oder durch Abstimmung demjenigen zugesprochen werden, der sich um die Zeitung am meisten verdient gemacht hat? 18. Ich schlage zwei Sitzungen vor. Die Tagesordnung der ersten könnte etwa so aussehen: (1) Auskunft über den Zweck der Versammlung (Gründung einer Schulzeitung). (2) Wahl eines Vorsitzenden. Der Vorsitzende notiert die Namen derer, die etwas sagen wollen, und erteilt ihnen der Reihe nach das Wort. (N.B. Wenn jemand zum Vorsitzenden gewählt wird, so wäre es töricht von ihm, den Bescheidenen zu spielen und den Vorsitz nicht anzunehmen). (3) Verlesung der hier vorgelegten Broschüre. (4) Diskussion über die Frage, ob und wie oft eine Zeitung herausgegeben werden soll, ob Lehrer zur Mithilfe zugelassen werden sollen und wer von ihnen dafür in Frage kommt. (5) Ein Verzeichnis all derer, die bei der Arbeit helfen wollen. Die zweite Sitzung. An ihr dürfen nur die teilnehmen, die sich eingeschrieben haben. Die Tagesordnung: (1) Wahl eines Vorsitzenden und eines Sekretärs. (Der Sekretär sollte einen kurzen Bericht über die Sitzungen für die erste Nummer der Zeitung verfassen.) 93

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(2) Einteilung der Arbeit: a) Besprechung und Einteilung der einzelnen Rubriken für die aktuellen Nachrichten, b) Festlegung der Themen und der Einsendetermine der für die ersten vier Ausgaben bestimmten Arbeiten, c) Wahl des Redakteurs und zweier Sekretäre für die Zeitung. (3) Finanzfragen: a) Festsetzung eines einmaligen Beitrages für das Gründungskapital, b) Festsetzung eines Monatsbeitrages, c) Wahl eines Schatzmeisters. 19. Nach zwei Sitzungen sollte ein Prospekt des Blattes erscheinen. Darin sollte bekanntgemacht werden, in welcher Weise die Zeitung herausgegeben wird, welche Mittel vorhanden sind und wer daran beteiligt ist. Der Prospekt sollte mit einem Aufruf an alle enden, die dem Blatt vielleicht aus mangelndem Vertrauen zu den eigenen Kräften oder aus angeborener Schüchternheit noch femstehen. Sie werden eindringlich gebeten, an der dritten Sitzung — wenn auch verspätet — teilzunehmen. Die Tagesordnung der dritten Sitzung: (1) Verlesung des Protokolls der beiden ersten Sitzungen. (2) Bericht des Kassenwartes über die Einnahmen und Ausgaben. (3) Bericht des Redakteurs über den Inhalt der Redaktionsmappe. (4) Neuaufnahmen ins Redaktionskomitee, endgültige Arbeitseinteilung und Unterzeichnung der eingegangenen Verpflichtungen für den ersten Probemonat. Fünfter Punkt ‫—־‬das könnte ein gemeinsamer Spaziergang in den Łazienki-Park oder in der Allee3 sein. Ich möchte davon abraten, einen bestimmten Termin für das Erscheinen der ersten Nummer festzulegen. Falls noch 3 Gemeint ist hier die zu den Schlössern des Łazienki-Parks führende Allee des einstigen ‫״‬Königswegs", vor allem die ‫״‬Aleje Ujazdowskie".

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etwas fehlen sollte, so ist es besser, das Erscheinen der ersten Nummer ein wenig zu verschieben, auch wenn infolgedessen die aktuellen Nachrichten veraltet sein sollten. Dasselbe gilt auch, wenn es bei der Sitzung zu einer Meinungsverschiedenheit oder einer Spaltung kommt, oder wenn sich herausstellt, daß es viele Gegner und Uninteressierte gibt. Es ist besser, noch eine Sitzung abzuhalten, auch wenn sich jemand finden sollte, der sagt: ‫ ״‬Ach was, wir kommen nur ständig zusammen, und es geschieht nichts." 20. Manch einer wird sich vielleicht wundem, wenn ich nun am Schluß dieser Broschüre diesen letzten Rat gebe: Ihr könnt, wenn ihr das alles gelesen habt, ruhig sagen: ‫ ״‬Wir hören erst gar nicht darauf, was der da erzählt. Der alte Griesgram denkt, Kinder und Jugendliche hätten keine Ausdauer und könnten überhaupt nichts zustande bringen. Wir wollen es so machen, wie wir es für richtig halten: fangen wir schnell und mit Schwung an. Was haben wir denn zu befürchten? Es muß gelingen. Den Mutigen hilft Gott — audaces Deus juvat! Eine Bitte des Verfassers: Ich bitte die jungen Menschen, die eine Schulzeitung herausgeben, sehr darum, ihre Bernerkungen zu dieser Broschüre an die Adresse dieses Verlages, unter dem Namen des Autors, einzusenden.

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D IE REGELN DES LEBENS Eine Anleitung zur Erziehung für junge Menschen und für Erwachsene Einleitung Ich fürchtete, daß man sich über mich ärgern würde. Ich hatte Angst, daß man behaupten würde: ‫״‬Er verdreht den Kindern den Kopf/‫׳‬ Oder: ‫ ״‬Die Kinder haben Zeit, über all' das nachzudenken, wenn sie älter sind." Oder: ‫ ״‬Kinder wollen sowieso nicht immer gehorchen, aber jetzt werden sie die Erwachsenen erst recht kritisieren." ‫ ״‬Sie werden zu der Ansicht gelangen, alles besser zu wissen, sie werden eingebildet. . . " Ich hatte schon lange, sehr lange die Absicht, ein derartiges Buch zu schreiben, aber ich habe den Versuch immer wieder hinausgeschoben. Denn es ist ein Versuch. Ein Versuch kann mißlingen. Selbst wenn er gelingt, werden Fehler unvermeidlich sein. Denn jeder, der etwas Neues unternimmt, begeht auch Irrtümer. Ich will behutsam Vorgehen. Ich will mich bemühen, das Buch möglichst interessant zu gestalten, obwohl es weder eine Reisebeschreibung noch ein historischer Roman noch eine Naturschilderung ist. Ich habe lange überlegt und nicht gewußt, wie ich das Buch nennen sollte. Bis eines Tages ein Bub bemerkte: ‫״‬Wir haben viel Kummer, weil wir die Regeln des Lebens nicht kennen. Manchmal erklären die Erwachsenen einem etwas * Aus: Wybór pism (Ausgewählte Schriften), Bd.IV, S .5—102.

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in aller Ruhe, aber oft sind sie unwillig. Es ist so unerfreulich, wenn sie unwillig sind." Und verstehen ist schwer. Und fragen darf man nicht. Und manche widersprüchlichen Gedanken kommen einem in den Sinn. Genauso hatte der Bub sich ausgedrückt: ‫ ״‬Manche widersprüchlichen Gedanken kommen einem in den Sinn." Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb mir auf: ‫״‬Die Regeln des Lebens." Ich schaute mir's näher an: Der Bub hat recht — das ist es. Und ich entwarf einen Plan. Über das Leben daheim will ich schreiben, über die Eltern, die Brüder und Schwestern, über Freuden und Leiden daheim. Dann über die Straße. Dann über die Schule. Danach über die Buben, die darüber nachdenken, was sie daheim, auf der Straße und in der Schule sehen. Denn nicht jeder spielt nur, manche sehen und hören, was andere sagen, und denken darüber nach. Dies ist weder ein Roman noch ein Schulbuch — dies ist ein wissenschaftliches Buch. Es gibt Menschen, die lieber Bücher von Abenteuern lesen, von Zauberern und unheimlichen Dingen, traurige oder lustige — je nachdem. Und es gibt Menschen, die behaupten, daß gerade wissenschaftliche Bücher am interessantesten seien. Schulbücher braucht der Mensch zum Lernen, einen Roman liest man rasch durch, bei der Lektüre eines wissenschaftlichen Buches denkt der Leser selbst viel nach. Er liest ein bißchen, dies oder jenes fällt ihm wieder ein, und manchmal hält er verwundert inne und überlegt, ob es in Wirklichkeit nun so sei oder nicht. Es kommt ja vor, daß ein und derselbe Gegenstand ganz unterschiedlich dargestellt wird. Junge Menschen haben ihre eigenen Fragen, ihre eigenen Sorgen, Tränen und Freuden, ihre eigenen jugendlichen Meinungen und ihre eigene junge Poesie. 97

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Oft verbergen sie dies alles vor den Erwachsenen aus Scham, aus Mangel an Vertrauen und aus Furcht, sich lächerlich zu machen. Sie hören gerne zu, wenn die Erwachsenen sich unterhalten — und sie sind äußerst wißbegierig. Sie wollen sie kennenlernen ‫ ־־־‬die Regeln des Lebens. Die Nächsten Der erste Ausdruck des kleinen Kindes lautet: ‫״‬Mama." Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob mir das jemand erzählt hat oder ob ich es in einem Buch gelesen habe, daß der älteste Ausdruck, den der Mensch in seiner frühesten Zeit gefunden habe — eben auch: ‫״‬Mama" gewesen sei, und deswegen dieser erste menschliche Laut in allen Sprachen ähnlich klinge. Im Griechischen — meter, im Lateinischen — mater, im Französischen ‫—־‬mère und im Deutschen —‫ ־‬Mutter. Moja mama — ma mère — meine Mutter — mea mater — eme1 meter. Schon das ganz kleine Kind kennt seine Mutter. Es kann noch nicht sprechen und nicht laufen, aber es streckt seine Hände nach der Mutter aus. Es erkennt sie sogar im Garten, wenn sie sich ihm nähert — und lacht ihr von weitem zu. Selbst bei Nacht erkennt es die Mutter an der Stimme, an ihrem Atem. Selbst blindgeborene Kinder oder solche, die ihr Augenlicht später verloren haben, sagen : — Mama — Mamuschka — Mütterchen, — wenn sie mit der Hand ihr Gesicht berühren. Einmal erzählte ein kleiner Bub: ‫ ״‬Früher habe ich mir auch Gedanken gemacht, aber jetzt mache ich mir viel schwerere. Als ich noch klein war, habe ich einfache Gedanken gehabt." Wie schauen sie aus, die einfachen Gedanken über die Mutter? Daß die Mama gut, lustig oder verdrießlich, daß sie traurig, gesund oder krank ist. 1 Im polnischen Originaltext — vermutlich versehentlich — ‫״‬mia meter‫״‬. 9δ

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Daß die Mama etwas erlaubt, etwas schenkt oder verbietet, daß sie etwas möchte oder auch nicht möchte. Erst später begegnet man dann auch anderen Müttern, nicht nur der eigenen. Es gibt also junge, lustige und lächelnde Mütter, aber auch bekümmerte, müde und abgearbeitete, und es gibt sehr gebildete und solche, die es nicht so sind, reiche und arme, Mütter, die einen Hut oder Mütter, die nur ein Kopftuch tragen. Es ist schlimm, wenn die Mama gegangen ist und lange fortbleibt. Manche Mütter gehen jeden Tag zur Arbeit oder verreisen für lange Zeit. Es ist schwer, sich darauf zu besinnen, daß es sogar Waisen gibt. Und noch ein bißchen später wird man erfahren oder in der Zeitung lesen, daß eine Mutter ihr Kind auf der Straße ausgesetzt hat. Das Kind hat keinerlei Erinnerung, es hat kein Bild von der Mutter und auch kein anderes Andenken an sie. Die eigene Mutter, die ihrem Kinde doch ganz nah sein sollte, viel näher noch als der Vater. — Papa — Väterchen. Und wiederum: Einfache Gedanken, daß der Vater arbeitet, verdient und der Mutter Geld gibt. Aber das ist nicht immer so: der Vater ist krank oder arbeitslos. Manchmal arbeitet der Vater daheim, manchmal irgendwo in der Stadt, oder er muß oft in eine andere Stadt fahren, oder er ist überhaupt weit fort und schreibt nur Briefe. Einfach sind die Gedanken dann, wenn die Eltern gesund sind, wenn daheim kein Mangel am Notwendigsten herrscht, wenn alle Lebewesen einträchtig beieinander leben und wenn es keine Sorgen gibt. Ich, der ich dieses Buch schreibe, kenne sehr viele Familien, und in jedem Hause schaut es ein klein wenig anders aus. Meine erwachsenen Gedanken sind gar nicht einfach und sehr verschlungen. Du, mein Freund, der du es liest, kannst zählen, wieviele Häuser von Freunden und Bekannten du kennst, ich kann's nicht mehr : viele sind es — sehr viele. Ich kenne einen Buben, der bei seiner Großmutter wohnt, und ein Mädchen, das eine Tante bei sich auf genommen hat. 99

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Sehr viele Kinder aber wohnen bei fremden Menschen: in Krankenhäusern, Internaten, Kinderheimen und in Pensionaten. Die Eltern leben auf dem Lande, wo es keine Schulen gibt, also schicken sie ihre Kinder in die Stadt. Oder die Eltern wohnen in der Stadt, aber der Arzt hat angeordnet, das kranke Kind zur Erholung aufs Land zu schicken. In der Schule lernt man Kameraden kennen, man spricht mit ihnen — und erfährt immer wieder etwas Neues. Man liest Romane und erkennt, wie unterschiedlich es auf der Welt zugeht, wie gut es die einen haben und wie schlecht die anderen. Ein jeder möchte, daß daheim alle ruhig und zufrieden sind, und daß es keine Sorgen gibt. Aber man muß sich damit abfinden, daß nicht alles und daß es nicht immer schön sein kann. Der eine Tag ist heiter, der andere trüb, dieses gelingt und jenes nicht. Einmal gibťs Sonnenschein, ein andermal Regen. ‫ ״‬Wahrlich, so ist eben das Leben" — hatte der Bub gesagt. Ob es besser ist, einziges Kind zu sein oder Geschwister zu haben? Ob es besser ist, der Jüngere zu sein oder der Ältere? Er war einziges Kind, aber dann kam ein kleiner Bruder zur Welt. Ob er sich darüber freut? Man kann gar nicht aufzählen, wieviele Möglichkeiten es da gibt. Ein Bruder kann kleiner, einer größer und einer fast erwachsen sein. Einer kann älter, der zweite jünger sein. Zwei ältere Schwestern, zwei kleine. Ein kleiner Bruder, eine große Schwester. Ein großer Bruder, eine kleine Schwester. Was ist besser? Ich kann es nicht beantworten, ich weiß es nicht, niemand weiß es. ‫ ״‬Was möchtest du lieber?" ‫ ״‬Mir ist es lieber so, wie es ist" — sagte ein Mädchen. Es gibt Menschen, die leicht zu erfreuen, glücklich und zufrieden sind. Ihnen gefällt alles. Sie denken gar nicht darüber nach, ob es anders sein sollte. Andere wiederum ärgern sich leicht und oft. Wenn es möglich ist, etwas zu ändern, dann lohnt es sich, darüber nachzudenken; wenn etwas so bleiben muß wie es ist, dann hat Schmollen keinen Wert. Aber in Eintracht kann man lOO

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immer leben, mit Kleinen und mit Großen, mit dem Bruder und mit der Schwester — das kommt nun wirklich auf uns selbst an. Ich habe einen Buben gekannt, der einen kranken Bruder hatte. Das war eine sonderbare Krankheit. Sogar die Eltern glaubten lange Zeit, er sei nur ungehorsam, ungezogen und wolle nicht hören. Er lief umher, aß und schlief wie alle anderen auch, er konnte nur keinen Augenblick lang stillsitzen, er eckte überall an, nahm alles in die Hand und machte es kaputt. Wenn er etwas haben wollte, es aber nicht bekam, warf er sich auf den Fußboden, schlug um sich, spuckte, biß und schrie dermaßen laut, daß einmal sogar ein Polizist hereinkam und fragte, was da los sei; er hatte angenommen, ein Kind würde mißhandelt, und das war auf keinen Fall erlaubt. Endlich fragten die Eltern Ärzte um Rat. ‫ ״‬Gewiß, er ist verzärtelt, launisch, das ist schon wahr, aber auch krank: nervös, er begreift schwer." ‫״‬Was sollen wir denn tun?" ‫ ״‬Sie müssen ihn in eine Anstalt überweisen; denn daheim ist er eine zu große Qual für alle. Sie werden nicht mit ihm fertig. Mit einem solchen Kinde umzugehen, muß man genau verstehen. Immer nur nachgeben, verschlimmert alles noch. Es ist nicht genug damit getan, ihn ja nicht zu reizen." Den Eltern wurde es schwer, den kranken Buben fortzugeben. Ich gab ihnen zu bedenken: ‫ ״‬Sie müssen Rücksicht auf Ihren gesunden Sohn nehmen. Die Gesellschaft des kranken Bruders schadet ihm." Und da rief dieser immerhin auch noch kleine Bub : ‫ ״‬Ich will nicht, daß er meinetwegen von daheim fortkommt. Er soll doch hierbleiben, ich will ihm auch alle meine Spielsachen geben. Dort wird man ihn schlagen, das weiß ich genau." Ich habe das nicht berichtet, weil jedermann so handeln sollte, Güte darf man verlangen, aber keine, die schon AufOpferung ist. Geschwister können einträchtig miteinander leben, aber man darf sich nicht wundem, daß es auch Streit gibt. ιο ί

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Worum? Um einen Ball, um einen Platz am Tisch, ums Tintenfaß; wer sich zuerst waschen, wer die Papierschnitzel aufsammeln soll. Der eine will singen, der andere möchte, daß es ruhig ist. Der eine will spielen, der andere lesen. Es gibt Streitigkeiten, bei denen man sofort erkennen kann, wer im Recht ist, aber auch andere, wo das nicht ganz klar auszumachen ist. Einer muß immer nachgeben — freiwillig oder unfreiwillig. Zuweilen gibt es Zank, Schlägerei und Tränen. Am schlimmsten ist es, wenn der Kleine den Älteren bei den Hausaufgaben stört. Er schubst ihn, quängelt, steigt auf den Tisch, langt nach dem Tintenfaß. Der Ältere möchte rasch fertig werden, denn nicht jeder kann lange stillsitzen und angestrengt nachdenken. Der Kleine stößt ihn beim Schreiben, und in der Schule gibt es Ärger, weil er nicht sauber geschrieben hat. Die Erwachsenen haben nicht immer die Zeit und die Geduld, um genau nachzuforschen, wie es wirklich war. Sie sagen: ‫״‬Gib nach, er ist doch der Kleinere." Oder: ‫ ״‬Gib nach, sie ist doch ein Mädchen." Oder: ‫״‬Dem Älteren muß man nachgeben." Ich habe mich davon überzeugt, daß erzwungenes Nach‫־‬ geben, ob daheim oder auch in der Schule, sehr schlecht ist. Es wirkt nur kurze Zeit. Danach wird es noch schlimmer. Das Gefühl des Unrechts nagt an einem. Ein Bodensatz von Unwillen bleibt zurück, desgleichen Groll. Ich habe mich davon überzeugt, daß man besser daran tut, sich gar nicht einzumischen, als ohne eine genaue Untersuchung der Ursachen ein Urteil abzugeben. Die Erwachsenen glauben manchmal, daß ein Streit wegen einer dummen Kleinigkeit entstanden sei. Wenn das nur so wäre . . . Nein. Geschwister geben einander oft freiwillig nach und sind einander nicht länger böse. Die Erwachsenen jammern oft: ‫ ״‬Sie zanken sich den lieben langen Tag." ‫ ״‬Sie zanken sich andauernd." ‫ ״‬Sie hören gar nicht auf, sich zu zanken." ‫ ״‬Kein Augenblick vergeht ohne Zank." Das ist übertrieben. 102

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Wpim man einmal nachrechnet, dann kommen bei unverträglichen Geschwistern täglich zwei, drei oder auch vier Streitereien vor. Nehmen wir an, daß jeder Streit fünfzehn Minuten dauert, dann dauern sie zusammen eine Stunde. Eine Stunde — das ist viel, aber es ist kein ganzer Tag. Und vielleicht ist eine Stunde Krieg besser als immerwährender Groll und stetig wachsender Widerwille. Ich habe mich davon überzeugt, daß die Geringschätzung der älteren Geschwister gegenüber den jüngeren diesen weh tut und sie ärgert. Aber ebenso aufreizend und ärgerlich wirkt es, wenn der Jüngere dieselben Rechte für sich beansprucht, die den Älteren zustehen. ‫ ״‬Ich will auch" — sagt der Kleine. ‫״‬Wenn das so ist, dann eben keiner von beiden." Da nimmt man dem Älteren etwas weg oder heißt ihn etwas tun aus einem ganz falsch verstandenen Gleichheitsprinzip oder um ein Exempel zu statuieren. Wenn danach ein Streit entsteht, dann geht es nicht um eine Kleinigkeit, sondern um gegenseitigen Widerwillen. Es gibt bessere und schlimmere Tage. Es war schon besser, es war sogar schon gut, aber nun geht es wieder los. Warum? Man muß nachforschen, genau Bescheid wissen, ehe man einen Entschluß faßt, und man muß fragen, denn wie könnte man ohne Wissen beraten oder belehren? Ich habe mich überzeugt, daß es gar nicht so gut ist, gleich zu Hilfe zu eilen. Es ist besser abzuwarten, bis sie sich beruhigt haben. Ich habe mich überzeugt, daß es mehr, zehnmal mehr Gutes gibt als Böses, und das Böse kann man getrost abwarten. Jedes lebendige Wesen, nicht nur der Mensch, zieht dem Kampf den Frieden vor, also darf man nicht anklagen . .. Wenn die Großmutter und der Großvater im selben Hause wohnen, dann kann das für die Kinder besser sein. Denn wenn Mama böse mit einem ist, kann Großmutter einen trösten; Mama schlägt einem etwas ab, vielleicht kann Großmutter einem dazu verhelfen. Sie hat mehr Zeit, also hört sie aufmerksamer zu. Die Erzählungen ganz alter Menschen sind oft interessant. Und überhaupt, wie seltsam ist das alles: die Groß103

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mutter kann sich noch erinnern, wie Mama ein kleines Mädchen oder Papa ein kleiner Bub war. Und noch früher, da war auch Großmutter noch ein Kind. Sie erinnert sich an alte Zeiten. Damals waren die Straßen anders und die Häuser, anders die Lampen und die Uhren, ja sogar die Menschen waren anders. Damals gab es noch keine Erfindungen wie heute und auch nicht solche Bücher, Spielsachen und solchen Zeitvertreib. Die einen sind schon längst gestorben, die anderen waren noch gar nicht auf der Welt. Und schwere Gedanken kommen einem in den Sinn, nicht allein über das, was es alles gibt auf der Welt, sondern auch über das, was war und was einmal sein wird. Seltsam, sehr seltsam . .. Das Haus — die Wohnung Menschen können in der Großstadt, in der Kleinstadt oder auf dem Dorf wohnen. Das Elternhaus kann eine Hütte sein oder ein Gutshof, eine Kammer in einem Holzhaus, ein oder mehrere Zimmer in einem hohen gemauerten Haus oder auch ein Palast. Das Haus kann den Eltern gehören, oder sie können es von einem anderen Besitzer um ein monatliches Entgelt gemietet haben. Wer seine Wohnung nicht bezahlen kann, der muß ausziehen. Davon wissen Kinder nichts, ihre unbeschwerten Gedanken sagen nur: ‫ ״‬Hier ist meine Mama und mein Papa, hier ist mein Bett und mein Spielzeug, hier schlafe und esse ich, und wenn es kalt wird oder regnet, dann suche ich Schutz in diesem Haus." So wie der Vogel in seinem Nest. Erst später lernt das Kind andere Wohnungen kennen; es guckt sich um, tut ein bißchen fremd und hat ein bißchen Angst. Es sieht andere Mütter, andere Tische, Betten und Schränke. Es staunt, überlegt, vergleicht und kennt sich schließlich aus. Ein schon etwas älterer Bub aus einer Kleinstadt sagte einmal: ‫ ״‬Ich habe mir immer vorgestellt, in Warschau wären hohe Berge und Meer, und Schiffe, und überall Denkmäler wie auf 104

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einem Friedhof. Ich weiß wirklich selbst nicht mehr, was ich mir so alles vorgestellt habe/' Oft verwischt sich die Grenze zwischen Wirklichkeit, Traum und Märchen. Ein älteres Mädchen meinte einmal: ‫ ״‬Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Menschen im Winter auf dem Lande leben können. Überall liegt Schnee, es ist bitter kalt, und dann dort festsitzen." Erst wenn der Mensch seine eigene Behausung gut kennen gelernt hat, beginnt er, über Anderes und weiter Entferntes nachzudenken. Ganz so, als wenn er in Gedanken Reisen in unbekannte Länder unternähme. Denn ein kleines Kind hat sehr viel Arbeit, bis es die eigene Behausung begriffen hat. Wer älter ist, erinnert sich nicht mehr, wie er die Zimmer, die Fußböden, die Decken und Wände betrachtet, wieviele unverständliche und verworrene Dinge er da gesehen hat und wievielen Überraschungen und Geheimnissen er damals begegnet ist. Zum Beispiel die merkwürdige Lampe, die immer anders ausschaut, bei Tage, am Abend und in der Nacht. Und dann die Uhr, die tickt und schlägt. Was mag wohl in ihr sein und warum und wozu? Die Mama schaut auf die Uhr und weiß, daß der Papa bald heimkommen wird. Diese Uhr weiß gleichsam, was außerhalb des Hauses geschieht, sie weiß, wann es dunkel wird, sie ruft zum Essen, zum Schlafengehen und zum Aufstehen. Nicht einen Augenblick lang bleibt sie stumm, die leise Stimme an der Wand. Und merkwürdig ist auch der Spiegel. Er ist ganz anders als die Bilder. Mancherlei Dinge kann man in ihm sehen. Wenn die Mama sich vor den Spiegel stellt, dann ist sie auf einmal zweimal da. ‫״‬Und das bin ich!" Das Kind hebt die Hand, es streckt die Zunge heraus, hält eine kleine Katze hin, hebt das Schürzchen hoch — und im Spiegel passiert ganz genau dasselbe. An den Wänden hängen Bilder und Photographien — und sie sagen etwas aus und bedeuten etwas ganz Bestimmtes, aber das kleine Kind mag sie entweder, oder es mag sie nicht, es hat Freude daran oder Angst davor. 105

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Es hat einen Stuhl umgeworfen, es ist erschrocken — und wehgetan hat es sich auch; es ist hingepurzelt, es hat sich am Tisch oder am Schrank angeschlagen. Es ist irgendwo heruntergefallen. Man hat es mit der Tür gestoßen. Es hat sich am Herd verbrannt. Auch der Herd hat hier etwas zu bedeuten, alles hat hier etwas zu bedeuten. Manchmal ist es gemütlich und lustig, manchmal gibt es Ärger. Warum? Da wird behauptet, es habe etwas kaputt gemacht, entzwei gebrochen, etwas schmutzig gemacht. Peinliche Dinge stoßen dem Kleinen zu: eine Pfütze auf den Fußboden, und es weiß selbst nicht, wie das passieren konnte. Schon wieder Kummer. Aber es gibt auch Siege: es hat zum erstenmal die Fensterbank erstiegen, zur Türklinke hinauf gelangt, die Schublade rausgezogen, den Besen ergattert und gefegt oder mit einem kleinen Lappen Staub gewischt. Der ältere Bruder, der schon zur Schule geht, hat das alles längst vergessen. Schade: wenn er sich an seine eigenen Schwierigkeiten erinnern könnte, würde er über den Kleinen nicht so streng urteilen. Ich will nur ein Beispiel dafür anführen, daß der Ältere auch noch nicht alles begreift: Warum wollen die Erwachsenen einem nicht erlauben, auf dem Sofa herumzuhopsen — sie behaupten, davon ginge es kaputt, aber das ist doch gar nicht wahr; es ist so schön, darauf herumzuhüpfen, und die Sprungfedern werfen einen so schön hoch. Daß es sehr teure Dinge gibt, die man nur einmal kauft und die dann sehr lang halten müssen, das haben alle beide noch nicht begriffen. Das Sofa geht zwar nicht auf der Stelle entzwei, aber wenn dauernd darauf herumgesprungen wird, dann reißen nach einem oder zwei Jahren die Gurte der Sprungfedern, und dann muß man entweder den Polsterer dafür bezahlen, daß er den Schaden wieder ausbessert oder sogar einen neuen Bezug kaufen. Manchmal erlauben die Eltern dem Kleinen die Hopserei, denn es ist unerquicklich, überhaupt alles zu verbieten, und der kleine Bub ist ja noch leicht, da kann er keinen großen Schaden anrichten. Mit dem Großen aber schimpfen sie deswegen, weil sie kein Geld haben, um das Sofa ausbessern zu lassen. Sie werden böse, wenn man mit einem Messer den Tisch verkratzt, den Lichtschalter überdreht, mit Streichhölzer zündelt 106

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oder im Zimmer Ball spielt. Man muß gestehen, daß sie damit recht haben. Ich kann mich noch entsinnen, wie ich selbst einmal mit einem Ball eine Vase, ein Andenken, heruntergeworfen habe. Lange Zeit war alles gut gegangen — vielleicht sogar ein Jahr lang. Ich hatte versprochen, nur auf dem Fußboden zu spielen, und Mama hatte es erlaubt. Bis es dann passierte — ob ich nun den Ball zu stark hatte aufprallen lassen oder nicht mehr an mein Versprechen gedacht hatte. Die Vase erzitterte, schwankte und fiel. Wenn Buben in mein Zimmer kommen, dann bringe ich jedesmal die Lampe und den Wecker in Sicherheit. Ich möchte nicht, daß sie den Kummer haben, und ich den Verlust. Und ich rate jedem, es genauso zu machen: Es ist besser, die Tinte rechtzeitig fortzuräumen, als sich später darüber zu ärgern, daß sie umgekippt ist. Den Erwachsenen ist Kinderbesuch nicht übermäßig angenehm, sie erkundigen sich genau, ob diese Schulfreunde auch ruhig und wohlerzogen sind. Wenn etwas passiert, dann sind sie ärgerlich, daß ihr Sohn derartige Gassenjungen eingeladen hat. Aber es ist auch nicht übermäßig angenehm abzusagen, wenn ein Schulfreund ankündigt: ‫ ״‬Ich komm heut zu dir." Für einen schüchternen Buben ist es schon peinlich, ein Glas Tee zu verschütten; aber es ist schon so, daß gerade dann etwas schief geht, wenn man sich besondere Mühe gibt. Deswegen machen schüchterne Buben gar nicht gern Besuche. Sie langweilen sich sogar lieber, weil sie die Regeln nicht kennen, nach denen Schulfreunde besucht oder aufgenommen werden, der Gast nicht beleidigt und man selbst nicht in eine unangenehme Lage geraten wird. Schade. Denn es ist nicht gut, daß ausgerechnet die ordentlichen Buben so viele Hemmungen haben, während die unverschämten sich um gar nichts kümmern und in einem fremden Hause grad all das tun, was ihnen im eigenen verboten ist. Ein Bub hatte einmal ein paar Schulfreunde eingeladen. Natürlich war seine Mutter damit einverstanden. Aber dann erschien auch einer, der gar nicht eingeladen war, einer, der sich auch beim Spielen in der Schule immer ganz wild gebärdete; 107

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‫ ״‬Wahnsinnskerl·' nannten sie ihn. Was konnte man machen? Er war doch auch ein Gast. Das Fest verlief sehr angenehm; aber dieser eine mußte unbedingt zeigen, was er alles konnte, dabei zertrümmerte er den großen Spiegel, worauf Mama sie allesamt davonjagte. ‫ ״‬Warum hast du den nur eingeladen?" ‫ ״‬Aber er ist doch uneingeladen gekommen." ‫ ״‬Das hättest du ihm klarmachen müssen." Das hatte er nicht gewußt: er kannte die Regel nicht, die besagt, daß man nicht jeden höflich behandeln muß. Ich kenne einen Fall, wo ein Gast der Mutter eine goldene Uhr wegnahm, die auf einem Tischchen lag. Es ist leichter, wenn die Wohnung groß ist. Die Erwachsenen und die Kinder stören einander dann weniger. Je mehr Mensehen und je bedrückender die Enge, um so mehr Ärger, Schaden und Verbote. Wer ist daran schuld? Niemand. Ich habe in einem Buch gelesen, daß Sorgen leichter zu ertragen sind, wenn man ihre Ursache kennt. Junge Menschen tragen deshalb schwerer an ihren Sorgen, weil sie die Gründe dafür nicht kennen. Dort, wo es ein Kinderzimmer gibt, hört man viel seltener: ‫״‬Tobt nicht herum, macht keinen Krach." Das ist jedoch nicht immer der Fall, weil reiche Leute oft viel weniger Geduld haben und vielmehr auf ihre eigene Ruhe und Bequemlichkeit bedacht sind. Es ist schwierig festzustellen, was besser ist. Einmal besuchte ein Bub, der mit seiner Familie zusammen ein kleines Zimmerchen bewohnte, einen reichen Schulfreund und meinte nachher: ‫ ״‬Schön ist es dort, er hat sein eigenes Zimmer. Und Teppiche gibt es da und Bilder, und er hat eine Menge Spielsachen. Aber ich möchte dort nicht wohnen. Bei uns daheim ist es freundlicher — nicht so bedrückend." Manchmal wünscht sich der Mensch, es anders zu haben, als es ist. Als ob er neidisch sei, weil ein anderer es besser hat. Aber nur ganz selten will jemand wirklich selbst ein anderer sein, eine andere Mutter haben und woanders wohnen. Fast niemand möchte, daß alles ganz anders sei. Nur ein wenig verändern oder verbessern möchte er's. Zudem sind die Menschen sehr 108

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verschieden: der eine gewöhnt sich leichter an etwas, ein anderer nicht so leicht. In einer kleinen Wohnung können Eintracht, Herzlichkeit und Fröhlichkeit daheim sein, in einer großen Strenge, Abneigung und Langeweile herrschen. Einsam kann ein Kind hier wie dort sein. Es ist auch schwierig festzustellen, ob es besser ist, in einer Großstadt zu wohnen oder in einer Kleinstadt. In den kleinen Städten haben die Kinder vor dem Feuer Angst, in den großen vor den Autos und den Dieben. In einer großen Stadt gibt es mehr Abwechslung, Bücher und Kinos, in einer kleinen weite Ausflüge, einen schönen Frühling und Herbst, mehr Blumen und mehr Vögel. Wieviel Freude kann es bereiten, Pflanzen zu ziehen, wie schön kann es sein, Samen in Blumentöpfe zu streuen, zu beobachten, wie er keimt, kleine Stützhölzer zu schnitzen, Schößlinge umzupflanzen, sie zu begießen, in den Regen hinauszustellen und vom Staub zu befreien. Oder ein Kanarienvogel im Käfig, ein zierlicher Fisch im Aquarium oder, wenn es dazu nicht reicht, im Marmeladenglas. Und Tauben, Kaninchen, Hunde und Federvieh gibt es in der Kleinstadt. ‫ ״‬Ich hab' es lieber so, wie es ist", hatte der Bub gesagt. Die eine Familie lebt auf dem Land. Der Urgroßvater hat schon dort gelebt und der Großvater auch. Andere ziehen vom Dorf in die Stadt, oder von einer Straße in eine andere um. Die Erwachsenen behaupten, Kinder zögen gerne um. Früher habe ich das auch geglaubt. Aber es stimmt nicht. Ein Umzug kann schon lustig sein. Jedermann freut sich, wenn er im Sommer aufs Land zieht. Denn das bedeutet Ferien und Sommer, und es ist nicht für immer. Es ist angenehm, in ein schöneres Haus umziehen, in ein Haus mit einem Balkon und vielen Fenstern, dem auch der Garten näher liegt. Die Eltern sind zufrieden, und alle Welt sagt, daß man es dort bequemer haben werde. Aber selbst dann ist es einem leid um das Haus, das man kennt, um die Menschen, denen man so oft begegnet ist. Und dann sieht alles irgendwie so leer aus, wenn die Sachen hinausgeschafft worden sind. 109

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Ein Umzug ist immer traurig, wenn ein Todesfall oder die Verarmung der Eltern der Grund dafür sind. Oft weckt ein Umzug auch Unruhe: wie wird das sein in einer fremden Stadt, wie wird es einem ergehen im fernen Land? Ob ich das Altvertraute jemals wiedersehe? Nicht immer kann ein junger Mensch so rasch vergessen und sich so rasch umgewöhnen. Manchmal sind die Erwachsenen von all dem Neuen am neuen Wohnort derart in Anspruch genommen, daß sie gar keine Zeit finden, daran zu denken, wie es vordem war. Aber das Kind —hat Heimweh.

Die Erwachsenen im Haus Außer dem Vater und der Mutter gibt es im Haus oft noch ein Dienstmädchen, eine Köchin, dazu manchmal noch ein Kindermädchen oder eine Kinderfrau, eine Hauslehrerin oder einen Erzieher. Es ist gar nicht leicht, das alles sofort zu begreifen und zu lernen, mit all dem zurechtzukommen. Ein Kind muß sehr viele Menschen kennenlernen, um damit keine Schwierigkeiten mehr zu haben. Wenn man ehrlich ist, muß man gestehen, daß Eltern zeitweilig vieles durchgehen lassen und kaum schimpfen, sich dann aber wieder allzu oft vernehmen lassen: ‫ ״‬Das darfst du nicht, das ist verboten, faß das nicht an, laß das, nicht so, jetzt nicht/' Oder: ‫ ״‬Geh, nimm, spiel, iß, schlaf." Dem einen fällt es leicht zu gehorchen, dem anderen schwer. Ein stilles Kind nimmt es eher hin, ein lebhaftes lehnt sich auf. Es sagt: ‫״‬Die plagen mich, die sind mir zu langweilig, die lassen mich nicht in Ruhe, die kommen mir dauernd in die Quere, mischen sich in alles ein." Und die Erwachsenen: ‫״‬Er gehorcht nicht, er ist ungezogen, dieser Gassenjunge." Gerade dann kommen sie einem (wie der Bub es ausgedrückt hat): ‫״‬Die widersprüchlichen Gedanken." no

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Das bedeutet, daß er widersprechen will. Bei den Erwachsenen heißt es also: ‫ ״‬Eigensinnig, lauter dumme Streiche im Kopf, störrisch, ein Unheilstifter." Aber der Mutter, und mehr noch dem Vater muß man sich fügen. Im allgemeinen ist der Vater strenger, aber nicht immer. Mag es sein, wie es will, jedermann weiß, daß die Mutter und der Vater das Recht haben, etwas zu befehlen oder zu verbieten. Es ist fast unmöglich, der Mutter oder dem Vater lange böse zu sein. Man kann auch nicht sagen, daß man sie nicht lieb hat. Deswegen gibt sich auch fast jeder Mühe, gesteht seine Schuld ein, wenn es nötig ist, und bittet um Verzeihung. Unter Umständen entschuldigt er sich sogar, wenn er nicht restlos von seinem Unrecht überzeugt ist. Manchmal ist die Großmutter allzu nachgiebig, man kann sich ihr leichter widersetzen. Aber dann tut sie einem doch leid. Und es kann auch gefährlich werden, wenn sie nämlich die Geduld verliert und sich bei der Mutter oder beim Vater beschwert. Wenn man mit dem erwachsenen Bruder oder der Schwester Streit anfängt, zieht man meist den Kürzeren . . . Und dann schaltet sich auch noch das Dienstmädchen mit einer Beschwerde ein. Muß man denn wirklich immerzu allen gehorchen, und hat jedermann das Recht, sich immer und in alles einzumischen? Ich habe Dienstmädchen gekannt, die sagten: ‫ ״‬Ich diene lieber in einem Haus, wo Kinder sind — es ist lustiger." Aber öfter hört man doch: ‫״‬Um keinen Preis gehe ich irgendwohin, wo Kinder sind." Und man muß zugeben, daß ein Dienstmädchen im ersten Fall mehr Arbeit hat; wer muß denn aufräumen, bohnern und die überschwemmten und rissigen Fußböden putzen? Die Köchin muß sich sputen, um das Mittagessen rechtzeitig auf den Tisch zu bringen, oder es ist Waschtag; und ausgerechnet dann treiben sich die Kinder auch noch in der Küche herum ; sie scheucht sie also hinaus. Ein lebhafter Bub beginnt oft Krieg mit den Dienstboten oder dem Erzieher, wenn es ihm im Haus zu eng wird, wenn er gar nicht mehr weiß, was er anstellen soll. Oft fängt's mit einer 111

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Kleinigkeit an: er sagt irgend etwas im Zorn, oder das Dienstmädchen wirft ihm ein häßliches Wort an den Kopf — und so weiter und so weiter. Die Eltern beklagen sich: ‫״‬Du bist frech zu den Dienstboten, alles tust du dem Mäddien zum Trotz. Niemand will länger bei uns bleiben." Die Eltern verlieren die Geduld und geraten einmal über ihren Sohn in Zorn und dann wieder über das Dienstmädchen. Manchmal wissen sie nicht so recht, wie alles gekommen ist. Aber dann ist der Verdruß noch größer. Einmal kam ein Mädchen ganz enttäuscht heim : ‫״‬Eine Schulfreundin hatte mich eingeladen. Ich habe angeläutet, Guten Tag gesagt und gefragt, ob sie daheim sei. Das Dienstmädchen hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen und hinter der Tür dann noch über irgend etwas geschimpft." Oft geht es auch anders zu, versteht sich. Man verträgt sich nicht nur, sondern ist richtig miteinander befreundet. Da werden Märchen erzählt und gemeinsame Spaziergänge unternommen, es gibt kleine Geschenke und manchen fröhlichen Schmaus. Das Zusammenleben ist lustig und herzlich. Mir sind Fälle bekannt, wo die Kinder das Dienstmädchen Lesen gelehrt und für sie Briefe an die Verwandten auf dem Dorf oder an den Bräutigam beim Militär geschrieben haben. In einem Fall war der Vater sehr nervös, und wenn er seinen Sohn bestrafen wollte, hat das Dienstmädchen den Buben sogar verteidigt: ‫״‬Was will der Herr denn von ihm? Ich lasse nicht zu, daß er geschlagen wird." Lieber wollte sie den Zorn des Vaters auf sich laden. Es geschieht mancherlei. Aber in diesen ‫ ״‬Regeln des Lebens" muß ich mehr von dem berichten, was schlecht ist, damit jeder darüber nachdenkt, wie es besser werden kann. Deshalb erwähne ich nur nebenbei, daß meistens Eintracht herrscht, wenn eine Lehrerin oder ein Kindermädchen im Hause ist. Gewiß muß es auch da manchmal zu Auseinandersetzungen kommen. Denn man darf nie vergessen, daß es leichter ist, Mutter zu sein als Erzieherin. 112

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Wenn die Mutter etwas erlaubt hat, und es passiert ein Un‫־‬ glück, dann wird man ihr nicht böse sein. Wenn die Mutter etwas Unerfreuliches erlebt hat, dann wissen die Kinder, warum sie traurig ist, aber der Erzieherin trauen sie zu, daß sie sich nur geärgert hat. Wenn die Mutter etwas anordnet, gehorchen sie in den meisten Fällen. Es gibt also gleichsam nur die übliche Verstimmung zwischen Menschen, die dauernd zusammen leben. Aber im Grunde mögen sie einander und tragen einander nichts nach. Es kommt aber auch vor, daß Kinder bösartig sind und einen quälen. Ich kenne einen Fall, da gab ein Bub vor, das Kindermädchen habe ihn geschlagen, aber das war gelogen. Oder er tat ihr etwas zum Possen und drohte, er werde sidi bei der Mama über sie beklagen. Aber mir sind auch andere Fälle bekannt, wo Kinder wirklich leiden, sich aber schämen oder Angst haben, es den Eltern zu sagen. In einer Zeitung habe ich einmal die Geschichte eines sehr reichen Grafen gelesen, der im Ausland lebte. Seine Frau war ihm gestorben, und daher war er vor lauter Kummer ständig auf Reisen. Seine beiden Söhne aber hatte er unter der Obhut eines Erziehers in seinem Palais zurückgelassen. Der Erzieher mißhandelte die Buben und drohte ihnen; im Winter goß er kaltes Wasser über sie und sperrte sie nächtelang ohne Kleider in eine Kammer ein. Erst als der eine Sohn an diesen Mißhandlungen gestorben war, schrieb der andere heimlich dem Vater. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, und der Erzieher wanderte ins Gefängnis ; aber da war es schon zu spät. Eine der Regeln des Lebens lautet: ‫״‬Niemals etwas vor den Eltern verheimlichen/‫ ׳‬Manchmal schaut es für ein Kind so aus, als stehe es allein, ohne Schutz und Schild, aber es hätte sich leicht Hilfe finden lassen, wenn die Eltern unterrichtet gewesen wären. Ein Kind sucht manchmal die Schuld bei sich. Das ist nicht schlimm: Eltern können verzeihen und helfen. Selbst wenn es keine Eltern mehr hat, kann es sich mit seinem Kummer an eine Tante, einen Onkel, an die Großmutter, ja sogar, wenn überhaupt sonst niemand da ist, an die Polizei wenden. 113

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Vielleicht ist es aufdringlich, über all das für diejenigen zu schreiben, denen es gut geht, weil sie von liebenswerten Mensehen umgeben sind. Immerhin ! Sie sollen es ruhig auch wissen, dann werden sie ihre eigenen kleinen Sorgen nicht mehr so wichtig nehmen . . . Es gibt die verschiedensten Menschen: unter den erwachsenen wie unter den jungen und den kleinen. Und auch unter den Tanten und Onkeln, und unter den erwachsenen Gästen ebenso. Es gibt liebe und garstige Tanten. Überhaupt lassen sich die Erwachsenen, genau wie die Gleichaltrigen, in zwei Gruppen einteilen: die eine, die man gern hat, und die andere, die man nicht mag. Der eine grüßt nur flüchtig und wendet sich dann der Mutter zu; unter Umständen tut es einem sogar weh, daß man so gar nicht beachtet wird. Ein anderer macht irgendeinen mißglückten Scherz oder stellt eine Frage, die zu beantworten man nicht immer Lust hat. ‫ ״‬Ob du das wohl magst, ob du das wohl tun möchtest, ob du das wohl willst?" Manchmal bringt solch ein Gast auch ein Geschenk mit. Die Erwachsenen sind der Meinung, alle Kinder seien naschhaft und auf Geschenke versessen. Das ist nicht wahr. Wenn sie jemanden nicht leiden können, dann nützen auch seine Mitbringsel nichts. Schlimmer ist es, wenn sie sich einmischen und ihre RandBemerkungen machen. Am schlimmsten aber sind die Liebkosungen und Küsse. Ein Händedruck, so fest, daß es wehtut. Ein ganz feuchter Kuß. Oder man wird auf den Schoß genommen. Mit welchem Recht? Voller Ungewißheit näherst du dich den erwachsenen Gästen — man kann nie wissen, was da auf einen zukommt. Eine allgemeine Regel des Lebens lautet, man solle allen Erwachsenen gegenüber höflich sein und jeden Gast freundlich behandeln. Aber sie sollten auch ihrerseits höflich sein und einem nichts derartig Unangenehmes angedeihen lassen. Einmal nahm der Bekannte eines Vaters dessen Buben schwungvoll auf den Arm und sagte: ‫ ״‬So, jetzt werf ich dich ins Wasser." (Sie gingen gerade über eine Brücke.) 114

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Es ging alles so schnell, daß der Bub aufschrie und zu weinen anfing. Sie lachten ihn aus und demütigten ihn. ‫ ״‬So groß und so dumm. Du Angsthase!" Und anstatt zur Einsicht zu kommen, sich zu entschuldigen und nicht mehr davon zu sprechen, hänselte ihn dieser Herr vielmehr noch jedesmal, wenn er ihm begegnete: ‫ ״‬Sei gegrüßt, du Seemann! Sei gegrüßt, du Held!" So ein Ekel ! Es gibt auch Gäste, die direkt Freude daran haben, Kinder zu reizen. Andere wiederum geben sich Mühe, ihnen zu gefallen. Und oft weiß man überhaupt nicht, worüber sie lachen. Einmal war in einem Salon eine zahlreiche Gesellschaft versammelt, und ein Bub sollte Pralinen anbieten. Gewiß, es macht Spaß, etwas anzubieten, aber etwas, das einem selbst gehört, und jemandem, den man gern hat. Nun, der Bub kam nicht darum herum: man hatte es ihm befohlen. Aber er rutschte aus und wäre beinahe gestürzt. Er war furchtbar erschrocken. Er hätte ja die Pralinen hinfallen lassen können. Alle fingen an zu lachen und machten sich über ihn lustig. Es gibt Gäste, die man mit ganz besonderer Aufmerksamkeit behandeln muß. Irgendein Freund des Vaters, jemand, der von weit her gekommen ist, oder jemand, der für lange Zeit verreist. In diesem Fall muß man sich noch mehr Mühe geben, das kann sogar schlimmer sein als eine Prüfung. Da wird einem beigebracht, Gedichte aufzusagen oder den Gästen etwas vorzusingen. Mein Gott, wie peinlich das manchmal sein kann. Bisweilen kommt ein fremder Gast und bringt ein Kind mit. Dann heißt es : ‫ ״‬Geht und spielt schön zusammen." Das geht nicht immer so auf Befehl. Die Erwachsenen wissen immer genau, wie man sich jeweils mit dem andern unterhält, wem gegenüber man Zurückhaltung üben muß und wem gegenüber man ganz ungezwungen sein kann. Sie verstehen es, ein Gespräch zu beginnen, auch wenn sie gerade nicht dazu aufgelegt sind. (Und gerade der Anfang fällt immer besonders schwer.) Erwachsene sind auch nicht so verlegen wie Kinder. Sie werden nicht beaufsichtigt, und niemand ist gleich böse auf sie, wenn sie einmal etwas nicht so ausdrücken oder tun, wie es

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sich gehört. Sie können sich überdies aussuchen, mit wem sie Bekanntschaft schließen wollen. Dagegen hat es den Anschein, als hätte jedermann das Recht, mit einem Jüngeren ein Gespräch anzufangen, auch wenn er ihn kaum oder gar nicht kennt. Dieser Meinung war ich früher auch, aber ein kleiner Bub hat mich bekehrt; ich bin ihm dankbar dafür. Damals war ich Militärarzt. Unsere Abteilung lag in einer kleinen Stadt. Der besagte kleine Bub spielte vor dem Haus. Ich sagte im Vorübergehen: ‫ ״‬Guten Tag!" ‫״‬Warum grüßt du nicht wieder?", fragte seine Mutter ärgerlieh. ‫ ״‬Ich kenne ihn doch gar nicht", erwiderte der Bub. Seitdem bin ich vorsichtig. Lieber Leser! Ich weiß, daß dir viel Unangenehmes widerfährt, daß die Erwachsenen dir keine Aufmerksamkeit schenken und daß sie dich kränken. Ich weiß, daß du unsicher bist und es empfindest — wenn du dich auch nicht traust, es laut auszusprechen — daß es unter den Erwachsenen auch aggressive, unhöfliche und schlecht erzogene Menschen gibt. Du mußt aber zugeben, daß es ebenso verständnisvolle, liebenswerte und bescheidene unter ihnen gibt. Und für die Unhöflichkeit der einen darf man die anderen nicht verantwortlich machen. Wenn du aber mit allen in Frieden lebst, dann möchte ich dich bitten, deinen Altersgenossen einmal deutlich zu machen und sie zu überzeugen, daß sie höflich und freundlich zu den Dienstboten und allen andern, die für sie sorgen, sein sollen. Ich kenne viele junge Mädchen, die arbeiten müssen, weil sie arm sind. Ich weiß, daß sie lieber in einem Büro oder in einem Geschäft arbeiten, daß sie lieber nähen — eines verkauft Zigaretten in einem Kiosk — und nicht mit Kindern zu tun haben möchten. Sie behaupten, Kinder seien böse. Ich weiß, daß das nicht stimmt. Und noch mehr betrübt mich, daß gute Dienstmädchen und Kindergärtnerinnen2 so etwas sagen. ‫״‬Ich weiß mir nicht zu helfen" — sagen sie. 2 Der hier für ‫״‬Kindergärtnerin" verwendete Ausdruck lautet im polnischen Original: ‫״‬freblanka". Diese Bezeichnung ist von dem Familiennamen des deutschen Pädagogen Friedrich Fröbel (1782—1852) abgeleitet.

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Und es hat den Anschein, als könnten nur grobe, boshafte und schlechte Menschen mit Kindern fertig werden. Viele schwere, schwerwiegende, erwachsene Gedanken gehen einem dann durdi den Kopf.

Die Schule Über die Schule werden viele Bücher gedruckt, aber nur für die Erwachsenen ; für die Schüler schreibt man überhaupt nichts über die Schule. Das ist äußerst merkwürdig. Ein Schüler verbringt doch so viele Stunden in der Schule, er denkt so oft an sie und findet gerade dort so viel Freude und Kummer. Ich unterhalte mich oft mit Schülern aus den unteren Klassen über die Schulen ; die einen schätzen und loben sie, die anderen beklagen sich, aber keiner von ihnen kennt die wirkliche Geschichte der Schule: sie sind davon überzeugt, daß alles schon immer so war und auch so bleiben wird. Ich weiß : ein kleines Kind glaubt auch, daß die Mama schon immer eine Mama und die Großmutter schon immer eine Großmutter gewesen ist, daß die Wohnung schon immer so ausgeschaut und die Uhr an der Wand schon immer so getickt hat. Es meint, daß auch die Stadt, die Straße und die Geschäfte schon immer so waren wie heute. Für einen Schüler mag es daher so aussehen, als ob die Bänke und die Wandtafel, der Schwamm und die Kreide überall die gleichen seien, als ob die Lehrer überall gleich aussähen und ebenso die Schulbücher, die Hefte, die Federn und die Tinte. Freilich, die Eltern erzählen wohl, daß es einmal anders war, aber man hört so vieles, und kann nicht immer sicher sein, ob es Wahrheit oder Märchen ist. Einmal bemerkte ein Bub nach einem Ausflug ins Königsschloß : ,Jetzt kann ich erst wirklich glauben, daß es einmal Könige gegeben hat." Aus diesem Grunde sollte es in jeder großen Stadt ein Schulmuseum geben, und in diesem Museum müßten Klassenzimmer ausgestellt werden, wie sie vor fünfhundert oder vor hundert 117

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Jahren waren, alte Schulbänke, alte Wandkarten, Schulbücher von damals, Uniformen, Spielzeug und sogar eine Rute, wie sie zu dieser Zeit noch oft verwendet wurde. Während des japanischen Krieges war ich in China; ich habe chinesische Schulen besichtigt und einem Lehrer ein Lineal abgekauft, mit dem die Schüler geschlagen wurden. Auf der einen Seite befand sich eine rote Aufschrift des Inhalts, daß derjenige, der gut lernt, ein kluges und nützliches Glied der Gesellschaft sein wird; die Kehrseite trug die Aufschrift in schwarzer Farbe. Dieses Lineal aus der chinesischen Schule habe ich oft gezeigt, und alle haben es interessiert betrachtet. Wenn unsere Schüler wüßten, wie es früher in den Schulen ausgesehen hat, oder wie diese anderswo aussehen, dann würden sie sich, wie mir scheint, weniger beklagen und die eigene Schule höher schätzen lernen; und sie würden sich leichter damit abfinden, daß es manchmal etwas geben muß, was einem nicht behagt, was langweilig oder quälend ist. Wenn man ganz offen mit einem Schüler spricht, dann gibt es immer Klagen über ein schwieriges Fach, einen aufdringlichen Klassenkameraden, einen strengen Lehrer; Klagen, daß es zuviele Schulaufgaben, mancherlei andere Sorgen, aber zuwenig Abwechslung gibt. Wenn man aber fragt, ob er lieber daheim bleiben wolle, erwidert er: ‫״‬Lieber Schule." Er freut sich, wenn der Lehrer einmal nicht gekommen ist, und die Schüler deswegen früher heimgeschickt werden. Feiertage schätzt er auch sehr; aber er will Schüler sein. Einmal sollte ich einen Buben davon überzeugen, daß es für ihn besser sei, daheim zu lernen: ‫ ״‬Schau mal, du bist nicht so kräftig, das frühe Auf stehen fällt dir schwer ‫—־‬so kannst du länger im Bett bleiben. Andernfalls wirst du dich erkälten oder Husten bekommen, denn zur Schule muß man auch bei Regen und bei Frost gehen. In der Schule mußt du fünf Stunden lang stillsitzen, daheim kannst du zwischendurch auch einmal spielen oder in den Garten gehen. Wenn dir einmal der Kopf weh tut, dann brauchst du deine Aufgaben nicht zu machen und niemand wird dir deswegen böse sein. Das Lernen fällt dir schwer. Schulkameraden würden dich hänseln und dir zu schaffen machen." 118

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Der Bub hört zu — hört aufmerksam zu und sagt endlich: ‫״‬Das macht mir nichts aus, ich möchte doch lieber zur Schule gehen." Warum das? Warum ist die Schule willkommen und förderlich? Daheim denken alle an dies und jenes und sind mit mancherlei Dingen beschäftigt, daheim sind die Zimmer und die Möbel für alle da; die Schule jedoch denkt ausschließlich an die Schü1er; jedes Klassenzimmer, jede Bank und jeder Winkel ist allein für den Schüler da. Und während der ganzen Zeit, die der Lehrer in der Schule verbringt, ist er nur für seine Schüler da. Nie hört man hier das widrige: ‫ ״‬Ich hab keine Zeit. Das weiß ich nicht. Laß mich in Ruhe. Stör mich nicht. Du bist noch zu klein." Zudem gibt die Schule jedem Tag seine Ordnung; man weiß, was kommt, wohin man gehen muß und was man tun muß. Man hat einen festen Plan: jede Stunde gilt für eine ganz bestimmte Sache. Es wird nie langweilig, man muß sich vielmehr noch sputen. Es ist wahr, daß man manchmal keine Lust hat, aus dem warmen Bett zu steigen, oder nur ungern auf die Straße hinausgeht, wenn es regnet. Aber die Uhr mahnt zur Eile, und man hat gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken, was schön ist, was man lieber möchte, oder was man empfindet. Der eine kleidet sich flink an und tut überhaupt alles gern rasch; ein anderer zieht einen Strumpf an und ruht sich aus, er schnürt einen Schuh und gerät ins Grübeln. Der eine würde am liebsten den halben Tag lang im Schlafanzug herumlaufen, der andere auf der Stelle aus dem Bett springen — ja, und was dann? Er packt seine Bücher zusammen, oft weiß er nicht einmal, wie das Wetter ist. Wenn es regnet, geht er schneller; und in der Schule ist es trocken und warm. Es tut wohl, wieder trockene Füße zu bekommen, den nassen Mantel und die Mütze auszuziehen, und dann sind auch schon die Kameraden da. Bereits unterwegs kann man ihnen begegnen. Die Straße ist auch irgendwie vertrauter, denn es sind nicht mehr Erwachsene als Schulbuben zu sehen, und auch erstere scheinen gleichsam Bekannte zu sein. 119

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Wie und mit wem kann man schon Bekanntschaft schließen ohne die Schule? Manchmal erscheint eine Cousine oder ein Nachbar, aber das geschieht nicht oft, vielleicht ist auch der Altersunterschied groß, oder der andere ist nicht sehr nett. In der Schule kann man sich einen richtigen Freund suchen. Die einen brauchen viel Zeit für ihre Wahl, andere kennen die Klasse insgesamt weniger gut, sie kommen vielmehr einem einzelnen entgegen, vielleicht dem Banknachbarn, jemandem, der in ihrer Nähe wohnt, den man öfter trifft. Manche wechseln dauernd ihre Freunde, andere wiederum bleiben einander sehr lange treu. Manche möchten nur einen einzigen Freund haben, andere kommen mit allen gut aus und haben weder besondere Sympathien noch Antipathien. Mädchen schwärmen im allgemeinen gern für Schülerinnen aus höheren Klassen. Wenn man zur Schule kommt, kann man nie wissen, was ein Mitschüler vor dem Glockenschlag einem noch zu berichten weiß, und wer es diesmal sein wird. Seit dem Vortage hat jeder etwas anderes gesehen oder gehört. Und vielleicht ist ein solches Gespräch um so interessanter, als es jeden Augenblick von der Schulglocke unterbrochen werden kann. Die Gedanken fließen irgendwie schneller und leichter; denn ein jeder möchte noch zum Ende kommen, bevor der Lehrer erscheint. Manchmal schafft man es nicht, dann muß man's in der Pause fertig erzählen. Inzwischen kann man während der Stunde darüber nachdenken, worüber gesprochen wurde. Der Lehrer kommt. Im Grunde weiß man schon, was in der ersten Stunde an der Reihe ist, aber man ist nie vor Überraschungen sicher, man weiß nie ganz genau, was gerade heute passieren wird. Ein an und für sich langweiliges Fach kann auch einmal ganz interessant sein. Wird der Lehrer einen an die Tafel rufen, wird er guter oder schlechter Laune sein; wird er loben oder tadeln, wird er auf die Allgemeinheit oder nur auf einen einzelnen — und, wenn ja, auf wen — böse sein? Wer wird an die Reihe kommen; ob der wohl gelernt hat oder nicht? An den Antworten eines guten Schülers kann man seine Freude haben, aber manchmal ist es noch interessanter, wenn ein Faulpelz oder ein richtiger Tunichtgut aufgerufen wird; vielleicht sagt der 120

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etwas Komisches. Auf der Stelle wird es munter in der Klasse: alles lacht. Einmal ist man aufmerksam, dann wieder nicht so sehr. Aber niemand stört einen beim Nachdenken, und so werden Erinnerungen wach, eine Frage taucht auf, eine neue Idee schießt einem durch den Kopf. Manchmal ist es sogar angenehm, ganz einfach ruhig dazusitzen und an gar nichts zu denken. Dann läutet es, und so nimmt es seinen Lauf, Stunde um Stunde. Die Schule ist einmal früher zu Ende, ein andermal später. Heute hatte man einen schweren Tag, dafür jetzt weniger Hausaufgaben für den nächsten, oder morgen kommt ein anderes Fach oder ein Lehrer, den man gern mag. Es ist schon wichtig, daß man weiß, was kommt, aber ganz so genau muß es nicht sein: Es kann immer ein wenig anders kommen. Und jedesmal, wenn ein Tag der Arbeit zu Ende geht, rückt der Tag der Erholung näher. Man beginnt schon zu überlegen, was man am Feiertag tun und wohin man einmal gehen soll, daß es nicht langweilig wird. Und die Wochen bis zu den vierzehntägigen Winterferien, den Osterfeiertagen oder den zweimonatigen Sommerferien werden gezählt und die Fächer bedacht, in denen man sich noch verbessern muß. Immer wieder gibt es Wiederholungen und andauernd Neues, das eine tritt zurück, das andere in den Vordergrund. Manches erwartet man mit Bangen, anderes wird mit Freuden begrüßt. Eine unangenehme Überraschung wird durch eine andere, angenehme aufgewogen. Hoffnungen und Siege, Enttäuschungen und Niederlagen. Schule — Haus, Haus — Schule. Einmal eilt man schnurstracks heim zum Mittagessen, ein andermal macht man einen Umweg, begleitet noch einen Schulfreund, entdeckt etwas Interessantes auf der Straße oder geht noch in ein Geschäft, um etwas einzukaufen. Und so schaut es gegen Ende des Schuljahres aus: Nur nodi ein Monat, nur noch drei Wochen. Wird unten auf dem Zeugnis mit roter Tinte ‫״‬Versetzt" stehen, oder vielleicht — ‫ ״‬Sitzengeblieben"? Die vorletzte Klassenarbeit, die letzte Antwort — noch eine Gelegenheit, sich zu verbessern. Noch ist es Zeit, sich anzu­ 121

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strengen. Jeder hat ein Fach, in dem er sich sicher fühlt, und ein anderes, vor dem ihm graust. Und Abwechslungen zum Zeitvertreib? Ausflüge, Kino, Theater, Ausstellungen; und dazu die Bücherei, eine Aufführung, eine Schulfeier. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß all' diejenigen über die Schule klagen, denen es daheim gut geht und denen im Elternhaus mannigfaltige Zerstreuungen geboten werden; oder auch jene, denen die Eltern abverlangen, gut zu lernen, obwohl sie nicht begabt sind und das Lernen ihnen schwerfällt. Es ist nicht immer die Schuld des Vaters, wenn er zu wenig verdient, und ebensowenig immer die des Schülers, wenn er keine guten Zensuren heimbringt. Oft hört man: ‫ ״‬Wenn du nur wolltest/' Er will ja, der Ärmste, aber er kann nicht. ‫״‬Er ist begabt, aber faul." Er mag für das eine Fach begabt sein, für ein anderes ist er es nicht. Der eine kann gute Aufsätze schreiben, aber keine Rechenaufgaben lösen. Der eine ist schüchtern und seine AntWorten kommen immer schlechter an, ein zweiter kann nicht schnell denken, ein dritter hat kein gutes Gedächtnis. Der eine ist zäh und gibt nie auf, ein anderer verliert leicht den Mut. Wenn es heißt, die Schule sei schwer, langweilig, streng und ungerecht, dann mag das daran liegen, daß nichts vollkommen sein kann. So oder so, dies oder das. Freude, Fröhlichkeit und gute Dinge; aber auch Trauer, Zorn und Aufruhr. Es ist schön, wenn man eine Uhr oder ein Fahrrad geschenkt bekommt, aber sie können kaputt gehen, dann wird auch der Kummer nicht ausbleiben. Es ist schön, wenn man einen guten Freund hat, aber dann wird es auch Streit geben oder mancherlei Bangen, wenn er einmal krank ist. Vielleicht haben Schulsorgen auch etwas für sich, und Mißerfolge und Schwierigkeiten regen einen zum Nachdenken an. Ein Dummkopf, der da wünscht, daß alles immer leicht vonstatten gehe. Ein wenig begabter Bub hatte sich einmal folgendes Spiel ausgedacht: ‫ ״‬Wenn ich eine Rechenaufgabe mache, dann sind die Zahlen Soldaten. Ich bin ihr Anführer. Die Lösung — das ist die 122

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Festung, die ich erobern soll. Wenn es fehlschlägt, dann sammle ich die geschlagene Armee, entwerfe wieder einen Schlachtplan — und gehe erneut zum Angriff über/' ‫ ״‬Das Gedicht, das ich auswendig lernen soll, ist ein Flugzeug. Jedes Wort, das ich gelernt habe — das sind hundert Meter Höhe. Wenn ich mir's eingeprägt habe ohne Fehler — dann gleite ich ruhig durch die Luft dahin, drei Kilometer auswendig gelerntes Gedicht. Es ist herrlich, wenn man kein einziges Mal steckenbleibt." ‫״‬Wenn ich schreibe, dann bin ich Chauffeur. Die abgeschriebenen Buchstaben und W örter—das ist der bereits zurückgelegte Reiseweg. Wenn es mir gelingt, eine ganze Zeile schön zu schreiben — dann ist das ein Wald, wenn sie häßlich ausfällt — dann ist es ein Sandweg oder ein Stück Sumpf. Und wenn ich fertig bin und die Tinte getrocknet ist — dann fahre ich mit einem Stückchen darüber hinweg und brumme wie ein Motor. Ich denke mir so mancherlei aus, damit es nicht langweilig wird." Ein jeder hält nach anderen Methoden und Erleichterungen Ausschau. Manchmal eilt ein Freund zu Hilfe, anfangs erscheint es oft schwer oder uninteressant, aber dann hat man es plötzlich begriffen — und schon geht alles gut.

Reich — arm Es gibt sogar Menschen, welche die Ansicht vertreten, daß Kinder vom Geld nichts wissen sollten und auch kein eigenes brauchten. Später, wenn sie größer sind, würden sie das Nötige schon erfahren, und da sie im Moment alles von den Eltern bekommen, würden sie doch nur überflüssiges Zeug kaufen und verwöhnt werden. Für gewöhnlich gibt man den Kindern von Zeit zu Zeit Geld, zur Belohnung oder dann, wenn Vater oder Mutter gerade gute Laune haben. In den seltensten Fällen jedoch setzen die Eltern ein festes wöchentliches Taschengeld aus und sagen: ‫ ״‬Dafür kannst du dir kaufen, was du willst." 123

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Nur einmal gab ein Vater jede Woche fünfzig Groschen und bemerkte dazu: ‫ ״‬Auch wenn du ungehorsam bist oder dir in der Schule eine schlechte Zensur eingehandelt hast, bekommst du deine fünfzig Groschen für deinen eigenen Bedarf. Ich will, daß du lernst, mit dem Geld umzugehen." So ist es : man muß lernen, Geld zu verdienen, aber das Ausgeben will audi gelernt sein. Ich bin Kindern begegnet, die alles, was sie in die Hand bekamen, auf der Stelle ausgeben mußten, egal wofür. Sie borgten sogar von anderen und dachten gar nicht daran, es zurückzugeben. Es kommt durchaus vor, daß die Älteren leichtsinnig, die Jüngeren dagegen umsichtig mit dem Geld umgehen. Seit zehn Jahren verwalte ich die Darlehenskasse, und wenn sich herausstellt, daß die Kinder wissenschaftliche Bücher lesen wollen, führe ich Buch darüber, auf welche Weise die einzelnen Geld ausleihen, es zurückzahlen, wofür sie es ausgeben beziehungsweise sparen, um sich einen Wunsch zu erfüllen, der viel Geld kostet: zum Beispiel Schlittschuhe, eine Uhr, ein Fahrrad oder ein Geschenk für den Vater oder die Mutter. Ich habe einen Buben gekannt, der ein halbes Jahr lang sein Geld für einen Fußball und Sandalen aufgespart hatte; aber dann schenkte er seiner Mutter zwölf Zloty, weil sie krank geworden war. Die Armen haben in der Schule viele Sorgen, denn selbst, wenn sie vom Schulgeld befreit sind, kommt es immer noch teuer genug. Einfach hat es der Schüler, dessen Eltern gleich zu Beginn des Schuljahres alle notwendigen Bücher und Hefte, Turnschuhe und eine Schulmappe für ihn kaufen können — der Eltern hat, die ihm für alle Sammlungen in der Schule gern Geld mitgeben. Denn es tut weh, die Eltern darum zu bitten, wenn sie nichts haben. Der eine reißt ganze Seiten aus seinem Schulheft, wirft ein angeschmutztes Heft einfach weg, und niemand kümmert sich darum ; es ist ihm gleichgültig, wenn er seinen Bleistift verliert. Der andere schreibt mit winzigen Buchstaben, damit das Heft länger reicht. 124

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Manche besitzen ein eigenes Zimmer oder doch wenigstens einen kleinen Tisch mit einer verschließbaren Schublade oder ein Bücherbord. Die können in aller Ruhe ihre Hausaufgaben machen. Aber andere müssen mit klammen Fingern bei schwachem Licht an einem wackeligen Tisch mit einer minderwertigen Stahlfeder und blasser Tinte auf billigem, schlechten Papier schreiben. Nicht jeder bekommt ein Frühstück, bevor er sich auf den Schulweg macht. Vielleicht ist er nicht einmal besonders hungrig, weil er sich schon daran gewöhnt hat, aber er ist irgendwie müde, matt, oder der Kopf tut ihm weh. Manch einer hat alles, nur keine Lust zum Lernen ; ein anderer möchte unbedingt weiter lernen, aber seine Eltern sind der Meinung, nun sei es genug und an der Zeit, zu arbeiten und Geld zu verdienen. Ich habe mir lange Zeit eingebildet, daß jeder Schüler älter sein möchte, als er ist; erst jetzt bin ich davon überzeugt, daß es anders ist. Und wenn sie sich wünschen, schon groß zu sein, dann nur, um Geld zu verdienen und den Eltern helfen zu können, damit die Mutter sich nicht mehr so abrackern muß. Man sagt: ‫״‬Jemand lebt im Elend, leidet Not, jemand ist arm, er hat kein Vermögen, er ist wohlhabend, ein Reicher, ein M agnat/' Es gibt viele Abstufungen des Überflusses und des Mangels. Man kann die Menschen aber auch anders einteilen: in solche, die haben, was sie brauchen, und solche, die mehr ausgeben, als sie verdienen. Ein Vater kann meinetwegen zehn Zloty am Tag verdienen, und die Familie trotzdem in Frieden leben; eine andere Familie jedoch kann unglücklich sein, obwohl sie fünfzig Zloty für die Kinder ausgibt. Eltern können arm und trotzdem fröhlich sein und von heiteren Dingen reden, andere können wohlhabend und zugleich nervös, gereizt, zornig oder von Sorgen geplagt sein. So wie das eine Kind nur fünf Groschen für Bonbons bekommen und selten ins Kino gehen kann, während einem anderen auch ein ganzer Zloty noch zu wenig ist und es überlegt, woher es mehr bekommen könnte. 125

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Vielleicht haben die Erwachsenen deshalb keine rechte Lust, das zu erklären, weil sie der Meinung sind, es sei zu schwierig, und Kinder könnten es sowieso nicht begreifen. Das ist ein Irrtum. Ein Kind will so etwas wissen, und es hat ein Recht darauf; wenn die Eltern sich grämen, dann ist es auch schmerzlich betroffen. In armen Familien wissen die Kinder übrigens genau, warum es einmal ein vollständiges Mittagessen gibt, ein andermal aber nur Brot und knapp gesüßten Tee, sie kennen den Preis von einem Paar Schuhsohlen und einer neuen Mütze. Sie wissen auch, daß es besser ist, wenn der Vater zwar weniger verdient, ihm aber seine Stelle dafür sicher ist. Denn die größten Sorgen gibt es da, wo es wohl einmal gelingt, ein bißchen mehr zu verdienen, dann jedoch lange — nichts und wieder nichts. Arbeitslosigkeit — das ist ein großes Unglück. Es ist schon betrüblich, wenn man seine Lektion gut beherrscht und der Lehrer einen dann nicht aufruft, aber es ist viel schlimmer, wenn man arbeiten kann und will und keine Arbeit bekommt, während ein nicht so guter Arbeiter eine Beschäftigung gefunden hat. Und nun eine ganz wichtige Regel des Lebens: ‫ ״‬Mein lieber guter Bub, trink keinen Schnaps, trink dieses verfluchte Gift nicht !" Ich habe einmal gelesen, daß der Schnaps eine Erfindung des Satans sei. Das mag wohl wahr sein. Der Schnaps raubt einem nicht nur das Geld, oftmals das letzte; der Schnaps raubt auch die Kraft, die Gesundheit und den Verstand und tötet im Menschen den Willen und das Ehrgefühl, er vergiftet die Kinder, er treibt den Menschen von seinem Arbeitsplatz und fügt seiner Seele Schaden zu. Wenn man lange lebt, sieht man viel entsetzliches Unglück: man möchte die Augen davor verschließen, das Herz krampft sich einem zusammen —und man möchte davonlaufen und nicht mehr daran denken. Drei Kriege habe ich erlebt. Ich habe Verwundete gesehen, denen eine Hand zerfetzt war, Verwundete mit auf gerissener Bauchdecke, denen die Därme herausquollen, ich habe Gesichtsund Kopfverletzungen gesehen — bei verwundeten Soldaten, Erwachsenen und Kindern. 126

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Aber ich sage euch: das Schlimmste, was man sehen kann, das ist — ein Säufer, der ein hilfloses Kind schlägt, oder ein Kind, das seinen betrunkenen Vater führt und fleht: ‫״‬Vater, Vater, komm doch heim." Der Schnaps schleicht sich verstohlen heran wie eine Schlange : mit einem Gläschen fängt es an, dann werden es mehr und mehr. Manchmal fängt ein junger Mensch nicht mit Schnaps, sondern mit Zigaretten an. Ich rauche auch Zigaretten. Ich bedaure es, daß ich mich daran gewöhnt habe. Aber es ist eben passiert: ich schäme mich nicht vor den anderen Leuten, denn sie rauchen fast alle ; ich schäme mich vielmehr vor mir selbst, weil ich es mir nicht abgewöhnen kann. Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf. Ein Kind schämt sich seines betrunkenen Vaters, als ob das arme Würmchen schuld daran wäre; es schämt sich, daß es Hunger hat, weil daheim große Not herrscht. Ich weiß nicht, warum das so ist, ich kann es nicht begreifen. Manchmal machen diese Kinder sich noch — allem zum Trotz — lustig über ihre zerrissenen Stiefel oder ihr geflicktes Gewand, aber in ihrem Herzen verbergen sie Traurigkeit und Wehmut. Eine weitere Regel des Lebens : es gibt Buben, die gern wetten. Der geringste Anlaß, und schon heißt es : ‫״‬Wollen wir wetten?!" Mancherlei Ärger und Schwindeleien sind die Folge des Wettens. Jemand verliert und hat dann nichts, um für den Verlust aufzukommen. Ich habe bemerkt, daß ein Bub, der oft wettet, später zu den Karten greift. Wenn er aber dem Kartenspiel verfallen ist, dann kommt es für ihn nicht mehr darauf an, ob er Geld hat oder nicht, ob er eigenes oder fremdes verspielt. Meistens sind es der Schnaps und die Karten, die die Mensehen ins Gefängnis bringen. Oft können Väter nicht mehr arbeiten, weil sie krank sind. Deswegen denken die Menschen auch ständig darüber nach, wie man sich vor Krankheiten schützen kann. Es gibt bereits Impfungen gegen Pocken und zahlreiche Medikamente, und es gibt Krankenkassen. Ich lebe schon lange auf dieser Welt, und ich habe vieles gesehen. Ich habe erlebt, wie Arme durch günstige Umstände 127

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reich wurden, aber noch öfter habe ich erlebt, wie Reiche arm wurden. Eben durch Krankheiten. ‫ ״‬Solange der Vater gesund war, ging es uns g u t . . / ‫ ״ ׳‬Als der Vater krank wurde und nicht mehr arbeiten konnte . . . " Mit diesen Worten beginnen die traurigen Erzählungen der Kinder. Darauf beruht ja der Unterschied zwischen arm und reich, daß das Wohlergehen eines armen Teufels nie gesichert ist. Er besitzt überhaupt keine Rücklagen, und eine einzige Krankheit, ein einziges Mißgeschick stürzt die ganze Familie mit einem Schlag ins Unglück. Ich weiß, daß viele über die Krankenkasse klagen, und ich weiß auch, daß die Krankenkasse ihre Mängel hat. Aber selbst so, wie sie ist, ist sie wichtig und nützlich. Die Krankenkasse — das ist etwas vom Gescheitesten, was die Menschen erdacht haben — wichtiger als Flugzeuge. Der gesunde Mensch zahlt einen Beitrag, um im Krankheitsfall einen Arzt, Medikamente und Hilfe zu bekommen. Die Gesundheit ‫ ־־־‬das ist das höchste Gut im Leben, ein kranker Krösus ist ein armer Teufel; denk also stets daran, welch ein Schatz die Gesundheit für einen Armen ist. Und dann mußte er ohne Krankenkasse krank werden, er hatte kein Anrecht darauf. Also kam er elend um. Aus einer geringfügigen Erkrankung wurde ohne Hilfe gleich eine tödliche Krankheit. Junge Menschen glauben, die Armut, die Ungerechtigkeit und das Unrecht seien leicht aus der Welt zu schaffen. Denn warum kann man nicht einfach mehr Papiergeld drucken, was bedeuten die Steuern, was tut ein Finanzminister, auf welche Weise leiht ein Land einem anderen Geld? Ich würde all das recht gern erklären, aber ich weiß es selbst nicht so genau. Und zudem ist es kein großer Trost, Bescheid zu wissen, denn man kann doch nichts ändern, es hängt nicht von uns ab. Aber es liegt in unserer Hand, daß wir in der Schule einander gern haben, daß wir uns kennenlernen und uns gegenseitig helfen. Aber Arme und Reiche lernen sich selten kennen, und sie schätzen einander auch nicht besonders. Es gibt arme Kinder, die es kaum interessiert, ob jemand mehr Geld oder schönere Kleider hat als sie selbst, aber andere 128

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können ihre reichen Klassenkameraden nicht leiden, und die Reichen mögen die Armen nicht. Die armen Leute sind der Meinung, daß alle reichen Leute eingebildet seien, daß sie kein gutes Herz hätten und nur feine junge Herren und modische Dämchen seien, daß sie sich vornehm dünkten und nur an ihr Vergnügen dächten. Die Reichen hingegen glauben, alle Armen seien neidisch, falsch und schlecht erzogen. Ich weiß wohl, warum das so ist. Denn es ist doch meistens so, daß ein anständiger, aber armer Bub mit einem reichen Wichtigtuer oder Angeber zusammenkommt und ein anständiger Reicher mit einem armen Schmeich1er oder Heuchler. Der reiche Angeber sucht die Gesellschaft armer Kinder, um vor ihnen zu prahlen, und der arme Taugenichts die der Wohlhabenden, um etwas herauszuschlagen. Aber die Anständigen auf beiden Seiten meiden einander. Der Anständige, aber Arme denkt bei sich: ‫ ״‬Wozu soll ich mit dem da sprechen? Der denkt vielleicht, ich möchte, daß er mir was spendiert. Der wird doch glauben, daß er mir eine Gnade erweist/' Sie haben Angst vor ungerechtfertigten Verdächtigungen und boshaften Kameraden, und sie schämen sich, weil sie nicht so schön angezogen sind. Und ein anständiger Reicher denkt bei sich: ‫״‬Vielleicht ist er mir böse, weil ich alles habe. Vielleicht kränkt es ihn, wenn ich ihm einen Gefallen tun will." Ich höre die Leute oft sagen: ‫ ״‬So sind sie alle." Zum Beispiel: ‫״‬Alle Buben sind Gassenjungen und Schmutzfinken." Oder: ‫״‬Alle Mädchen sind Heulsusen und petzen gern." Das stimmt nicht, denn man muß jeden für sich kennenlernen und für sich beurteilen. Und man muß ihn nicht nur obenhin, man muß ihn gründlich kennenlernen. Es ist nicht allein wichtig, was ein Mensch sagt, sondern auch was er denkt und fühlt, und warum er gerade so und nicht anders ist. Nur ein träger Mensch, der nicht nachdenken mag, sagt: ‫ ״‬So sind sie alle." 129

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Ich war reich, als ich noch klein war, später aber arm, also kenne ich das eine wie das andere. Ich weiß, daß man so oder so ein anständiger und guter Mensch sein kann, und ich weiß ebenso, daß man reich und trotzdem sehr unglücklich sein kann. Man muß viel wissen und viel nachdenken, und selbst dann irrt sich der Mensch oft und weiß nicht alles. Gedanken — Gefühle Die Welt ist sehr sonderbar. Sonderbar sind die Bäume, die auf irgendeine wundersame Art leben. Sonderbar sind die kleinen Würmer, die nur so kurze Zeit leben. Sonderbar sind die Fische, die in demselben Wasser existieren, in dem der Mensch ersticken und sterben muß. Sonderbar ist alles, was da herumspringt und flattert: Grashüpfer und Vögel und Schmetterlinge. Und die Tiere: die Katze, der Hund, der Löwe und der Elefant. Und am sonderbarsten ist der Mensch. Es ist, als trüge jeder Mensch die ganze Welt in sich. Wenn ich einen Baum betrachte, dann sind es gleichsam zwei Bäume: der wirkliche — und ein zweiter in meinen Augen, in meinem Kopf, in meiner Vorstellung. Ich bin bereits weitergegangen und habe ihn schon vergessen, aber dann sehe ich ihn aufs Neue, erkenne ihn wieder und erinnere mich an ihn. Dieser Baum war also irgendwo in meinen Gedanken aufgehoben, gleichsam im Verborgenen. Dem Schein nach existiert alles zweimal: einmal an und für sich — und zum andern in meinen Augen, in meinem Kopf, in meinen Gedanken. Und immer gefällt mir entweder etwas oder es gefällt mir nicht. Oder ich stehe an einem Fluß, und ich weiß, daß es ein Fluß ist. Aber in diesem Fluß strömt ständig anderes Wasser dahin: es gibt nicht einen einzigen Augenblick, in dem das Wasser dasselbe wäre, ständig sind es andere Tropfen, aber alle sind sie Tropfen ein und desselben Flusses. Genauso ist es, wenn ich auf der Straße dahingehe, vorbei an Häusern und Menschen. Ein jedes Haus, ein jeder Mensch ist 130

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anders, und es ist alles immer nur für einen einzigen Augenblick lang so. Aus den Augenblicken werden Stunden, aus den Stunden Tage und Nächte, aus den Tagen Wochen. Winter, Sommer, wieder lange Abende und danach aufs Neue Knospen und grüne Blätter. Sonne, nächtliches Dunkel, der Mond, die Sterne, die Wolken, der Regen, weißer Schnee. Alles verwandelt sich, und immer wieder ist es anders. Auch ich selbst: Nur dem Schein nach bin ich immer derselbe, aber ich wachse und werde ständig älter. Ich schaue auf die Uhr: der Zeiger rückt vor, eine Minute ist vergangen. Immer derselbe scheinbar, aber einmal fröhlich, dann wieder traurig, und immer wieder sehe und denke ich an etwas anderes. Ich weiß nicht einmal, was im nächsten Augenblick geschehen wird: ob ich spielen werde, ob mich jemand ärgern wird, und ob ich mich dann mit ihm prügeln werde. Manchmal glaube ich zu wissen, wie ich etwas tun werde, aber dann kommt es doch ganz anders. Einmal erscheint mir etwas so, und dann wieder anders. Und wahrhaftig, es schaut so aus, als kennte ich mich selber nicht. Jemand fragt: ‫״‬Bist du ein anständiger Bub?" Die Antwort lautet: ‫ ״‬Das weiß ich selber nicht. . . Ich glaub schon." Oder: ‫ ״‬Ich geb mir Mühe." Es scheint sonderbar, daß der Mensch nicht weiß, wie er wirklich ist, daß er sogar sich selbst nicht richtig kennt. Ein griechischer Weiser sagte: Gnoti seau ton. Das heißt: ‫״‬Erkenne dich selbst." Demnach fällt es sogar den Erwachsenen schwer, sich selbst zu erkennen, und sogar den Weisen. Die Kinder glauben zwar, die Erwachsenen wüßten alles und könnten jede Frage beantWorten. Aber in Wirklichkeit sind wir doch unwissend, wir wissen wahrhaftig nichts. Wenn ich mit einem Buben spreche oder mit ihm spiele und seinen Namen weiß, behaupte ich gleich: ‫ ״‬Ich kenne ihn." Aber ist das wirklich wahr? Oft glaube ich zu wissen, wie er ist, aber später erkenne ich, daß er in Wirklichkeit ganz anders ist, und daß ich mich geirrt habe. Ich selbst bin ja sogar ein anderer, je nachdem, ob ich frohlieh, traurig oder zornig bin. 131

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Wenn ich fröhlich bin, erscheinen mir alle Menschen gut und liebenswert, ich gebe gerne nach und verzeihe leicht; dann spüre ich gar nicht, wenn mich jemand stößt, oder ich mich selber stoße. Und ich finde, all' die anderen müßten auch frohlieh sein. Im Zorn sieht alles anders aus ; der Mensch staunt später über sich selbst, daß ihm derartig böse Gedanken in den Sinn gekommen sind. Selbst sein Aussehen verändert sich, wenn er in Zorn gerät. Sein Gesicht verzerrt sich, seine Augen bekommen einen anderen Ausdruck, er wird blaß oder läuft rot an. Wenn ich sehe, wie sich zwei Buben prügeln, dann denke ich bei mir: ‫״‬Was für ein Sturm, was für ein Unwetter mag in ihren Gedanken und Gefühlen toben?" Wenn sie dann keuchend voneinander ablassen, horche ich an ihrer Brust: das geplagte Herz klopft so stark und schnell, daß es fast keine Kraft mehr hat und beinahe stillsteht, wieder und wieder, und es will gar nicht zur Ruhe kommen. Der eine ist hitziger und gerät leicht in Zorn, ein anderer nur selten, der eine kann sich wenigstens ein bißchen beherrschen oder zügeln, der andere gerät in eine derartige Raserei, als ob er seinen Gegner erschlagen wollte. Man spricht vom ‫ ״‬Sklaven seiner Gefühle". Und das zu Recht. Wer sich nicht selbst befehlen kann: ‫״‬Hör auf!‫ ״‬, wer keinen starken Willen hat, der ist ein Sklave: jeder, dem es gerade paßt, kann ihn in Zorn versetzen. Ein Weiser hat einmal gesagt, daß es leicht sei, andere zu beherrsehen, daß es aber darauf ankomme, Herr seiner eigenen Gedanken und Gefühle zu sein. Es kommt vor, daß der Zorn rasch verraucht und sich dann in Trauer verwandelt. Ich habe beobachtet, daß jemand, auf den man wütend ist und mit dem man schimpft, böse und empört vor einem steht. Er läßt den Kopf hängen, schaut finster drein und — nichts. Dann rege ich mich nicht weiter auf und sage besänftigend : ‫״‬Na, schau her, nun kränkst du dich selbst und die anderen noch dazu. Tu's doch nie wieder." Dann fängt er an zu weinen, und er schämt sich, daß er weint, und es ist ihm arg. 132

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Ich finde, die Erwachsenen sollten den Kindern nicht gram sein ; denn das schadet mehr als daß es nutzt. Die Erwachsenen glauben oft, ein Kind täte etwas nur aus Trotz, es sei eigensinnig und wolle etwas einfach nicht verstehen oder sagen. Oh, nein: es schämt sich bloß. Wenn sich jemand schämt, dann kann er nicht sprechen, seine Zunge ist wie gelähmt, jede Bewegung wird ihm zur Qual. Der Kopf ist so leer, als ob alle Gedanken sich in nichts aufgelöst hätten. Du sagst nicht, was du eigentlich sagen möchtest, und tust nicht, was du eigentlich tun willst. Manchmal bemühst du dich, tapfer zu sein, aber es wird nur noch schlimmer. Man sieht im Handumdrehen, daß er sich verstellt: er spricht laut und bestimmt und tut ganz ungezwungen — aber der Schein trügt. Oder seine Lippen zucken, er zupft an seinem Anzug herum, und er kann keine Frage beantworten. Er ist wie gelähmt. Äußerst sonderbar ist das Gefühl der Angst. Alles scheint einen zu bedrohen. Als hätte jemand einem ein schwarzes Tuch über die Gedanken geworfen, als würde man gewürgt. Man kann kaum atmen. Freilich, es gibt die verschiedensten Formen der Angst. Bei Tag, in der Schule, ist sie anders als bei Nacht; anders, wenn man vor etwas jäh erschrickt, und wieder anders, wenn man dauernd Angst vor jemandem hat. Einmal weißt du genau, warum du Angst hast, aber manchmal weißt du es nicht. Die Erwachsenen denken bei sich: ‫״‬Ein Gassenjunge, er hat vor gar nichts Angst und schämt sidi nie." Durchaus nicht. Die Ärzte behaupten: ‫״‬Nervöse Menschen haben Angst." Auch das trifft nicht in jedem Fall zu. Am schlimmsten aber ist es, wenn man deswegen ausgelacht wird. Ich habe oft mit Kindern gesprochen, die bei Nacht Angst haben: sie sind sehr unglücklich. Aber die Eltern glauben, das sei nur dummes Zeug. Irgend etwas rumpelt in der Nacht, irgend etwas Weißes erscheint einem, oder man träumt und weiß oft selbst nicht, ist es ein Traum, Einbildung oder Wirklichkeit. Sich über die Angst eines anderen lustig zu machen oder ihn absichtlich zu erschrecken — das ist grausam. *33

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Ich habe oft darüber nachgedacht, was es bedeutet, gut zu sein. Ich glaube, derjenige ist gut, der sehr viel Phantasie hat und verstehen kann, wie es dem anderen zu Mute ist, derjenige, der mitfühlen kann, was der andere empfindet. Wenn jemand einen Frosch oder eine Fliege quält, dann heißt es gleich : ‫ ״‬Was wäre wohl, wenn dir jemand das zufügte?" Zum Beispiel die Großmutter: einmal erscheint sie einem ganz alltäglich, aber manchmal auch so arm, so alt und so gebrechlich, daß man ihr helfen möchte, ihr irgend etwas Liebes tun und sie aufheitern. Ich mache schon seit langem die Beobachtung, daß, wenn ich einem Buben einmal sehr böse bin, dieser alsbald von einer kleinen Schar umringt wird, die ihn zu trösten und ihm alles zu erklären versucht. Ich muß beschämt gestehen, daß mich das sehr geärgert hat. Was sollte das denn heißen? Wenn ich ihn angeschrien habe, dann hatte er's doch offensichtlich auch verdient. Wenn sich die anderen nun um ihn scharten, dann sah es so aus, als ob ich schuldig wäre und nicht er. Jetzt denke ich anders: gerade so ist es gut, und genauso sollte es sein: ein jeder sollte im Unglück Menschen finden, die ihm zugetan sind. Es empört mich, wenn jemand in der Schule damit bestraft wird, daß man ihm verbietet, mit _den anderen zu sprechen. Mitgefühl sollte es für Gute und Böse, für Menschen und Tiere, ja selbst für einen abgeknickten kleinen Baum oder für einen kleinen Stein geben. Ich habe einen Buben gekannt (jetzt ist er schon erwachsen), der die Steine, die auf dem Weg lagen, auflas und in den Wald schleppte : dort würde sie niemand mehr mit Füßen treten. Es gibt starke und brennende, sanfte und wehmütige, beinahe schreiende und stille Gefühle. Was ist Liebe? Liebt man immer nur aus einem bestimmten Grund, liebt man immer bestimmte Menschen und liebt man soviel,wie man sollte? Liebt man immer gleich oder liebt man einmal mehr und einmal weniger? Was ist Dankbarkeit und was ist Achtung? Was ist der Unterschied zwischen: sehr gern haben und lieben? Wie kann man wissen, wen man mehr liebt? 134

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Ich habe bemerkt, daß junge Menschen nicht gern über ihre Gefühle sprechen. Vielleicht fällt es ihnen nur schwer, ihnen Ausdruck zu verleihen. Selbst kleine Kinder mögen das nicht. Aber die Erwachsenen fragen oft: ‫ ״‬Hast du mich lieb? Wen hast du lieber?" Einmal fragte ich einen Buben, woran er erkannt hatte, daß er das eine Mädchen lieber mochte als alle anderen. Er antwortete: ‫״‬Weil ich früher mit ihr genauso gesprochen habe wie mit allen anderen auch, mich dann aber ganz plötzlich vor ihr geniert habe." Manchmal ist einem gar nicht bewußt, daß man jemanden lieb hat; erst, wenn er einmal fort ist, empfindet man Unruhe, Einsamkeit und Leere, und man fühlt sich verwaist. Und man grübelt nach, wann er wohl wiederkommt. Das nennt man Sehnsucht. Sehnsucht kann man nach den Eltern, nach einem Freund oder nach seinem Zuhause haben. Die größte Sehnsucht aber hat der Mensch nach seinem Vaterland. Es gibt so mancherlei verschiedene Gefühle, daß es schwerfällt, sie alle aufzuzählen. Man kann versuchen, sie alle aus einem Wörterbuch herauszusuchen und in ein Heft abzuschreiben. Denn hier kann ich nur kurz ein paar der wesentlichsten Gefühle erwähnen (solche, von denen mir die Kinder von sich aus erzählt haben, und nicht, weil sie dazu aufgefordert wurden). Und ich spreche von ganz alltäglichen, gewöhnlichen Gefühlen. Von drei Gefühlen will ich noch sprechen: vom Gefühl der Enttäuschung, von dem der Erbitterung und dem der Kränkung. ‫ ״‬Ich habe eine Enttäuschung erlebt. Ich hatte geglaubt, es würde gut enden, aber das war ein Irrtum. Es ist anders gekommen, als ich wollte." Die Menschen sprechen von: ‫״‬Einer schmerzlichen, einer bitteren Enttäuschung." Nun ja: manchmal empfindet man so etwas als Schmerz und manchmal nur als unangenehmen, bitteren und herben Geschmack. Oft verbindet sich mit dem Gefühl der Enttäuschung auch noch ein anderes: Erbitterung. Wir sind erbittert, weil wir enttäuscht wurden, weil unser Vertrauen mißbraucht wurde. *35

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Wenn ein Freund ein Geheimnis verrät, wenn er einen belügt und betrügt, dann ist man sehr traurig und erbittert. Endlich möchte ich noch das Gefühl des Gekränktseins nennen. Wenn jemand mich demütigen will, wenn jemand einen Menschen verhöhnt oder beleidigt, den ich liebe und hoch achte — das macht mich traurig, das tut mir weh und das erbittert mich. ‫ ״‬Ein Schlag tut nicht so weh wie manche Worte7', sagte einmal ein Bub. ‫״‬Anstatt mich zu verhöhnen, sollen sie mich lieber schlagen" —meinte ein anderer. Meistens tun die Kinder nur so, als machten sie sich nichts daraus, wenn die Erwachsenen sie demütigen und kränken. Es sei denn, sie hätten schon jegliches Gefühl für Schmach verloren. Gefühle verkümmern nämlich, wenn man sie vemachlässigt. Man sagt — sie stumpfen ab. Die Menschen sind verschieden. Der eine ist oft fröhlich und selten traurig, bei einem anderen ist es genau umgekehrt. Der eine kommt beinahe mit allen Menschen gut aus und niemand ist ihm direkt unsympathisch; ein anderer scheint mit der ganzen Welt zerfallen, da ist es schwer, mit ihm gut auszukommen. Manche freunden sich rasch mit einem neuen Menschen an, andere hingegen sind mißtrauisch und überlegen hin und her, bevor sie äußern : ‫ ״‬Ich mag ihn gern." Der eine hat ein gutes Gedächtnis, der andere vergißt schnell. Es gibt vielerlei Menschen. Früher dachte ich wie alle : daß Kinder leicht aufbrausen und daß es ihnen leicht fällt, einander wieder gut zu sein. Vor einer Stunde haben sie sich noch geprügelt, und schon spielen sie wieder miteinander. Gerade haben sie noch mitein‫־‬ ander gespielt, und schon ist wieder ein Streit ausgebrochen. Gewiß, im Zorn sagt man schon mal: ‫ ״‬Mit dem sprech' ich nie wieder. Nie wieder spiele ich mit dem da." Oder im entgegengesetzten Fall: ‫״‬Er wird immer mein Freund sein." Aber so etwas äußert man nur ausnahmsweise — und bei den Erwachsenen ist es nicht anders. Manchmal wächst über lange Zeit hinweg eine Antipathie, manchmal währt eine Freundschaft viele Jahre. 136

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Die Gesundheit Die Erwachsenen meinen, daß Kinder sich überhaupt nicht um ihre Gesundheit kümmern: wenn man nicht dauernd auf sie aufpaßte, so würden sie alle aus dem Fenster fallen, ertrinken, von Autos überfahren werden, sich die Augen ausschlagen, die Beine brechen, Hirnhautentzündung oder Lungenentzündung bekommen, und ich weiß selber nicht, was für Krankheiten sonst noch. Aber nein. Kinder wollen, ebenso wie die Erwachsenen, gesund und kräftig sein; sie sind sich dessen nur nicht bewußt. Wenn man ihnen das aber erklärt, geben sie auch auf sich acht. Man sollte ihnen nur keinen Schrecken einjagen oder ihnen zu viel verbieten. Denn sie glauben einem nicht mehr, wenn man sie unnötig erschreckt; wenn man sie in ihrer Bewegungsfreiheit allzusehr einengt, dann werden sie ungeduldig und tun mit trotziger Offenheit oder auch heimlich gerade das, was man ihnen verboten hat. Es gibt bedächtige und leichtsinnige Menschen: und dies unter den jüngeren ebenso wie unter den älteren. Das läßt sich nun einmal nicht ändern. Kinder laufen gern herum, und sie möchten gar zu gern ihre Kräfte ausprobieren, auch dagegen ist kein Kraut gewachsen. Man müßte ein Buch schreiben, das ruhig und sachlich darüber Aufschluß gibt. Man sollte zum Beispiel wissen: der eine hat gesunde Zähne, er weiß nicht, was Zahnschmerzen sind, und er hat noch nie mit dem Zahnarzt Bekanntschaft geschlossen ; der andere hat schon manche Nacht hindurch geweint, weil er Zahnschmerzen hatte. Der eine hat Kopfweh oder Bauchweh, der andere aber lacht ihn aus: ‫ ״‬Das Bäuchlein tut ihm weh, das Köpfchen tut ihm weh; mir tut nie etwas weh!" Manch einer verletzt sich, aber es macht ihm gar nichts aus. Ich habe einen lebhaften Buben gekannt, der im Sommer barfuß herumlief und nach seiner Rückkehr vom Land an beiden Beinen siebzehn Wunden, Kratzer und blaue Flecken hatte. ‫ ״‬Was ist da schon dabei? Das heilt doch wieder. Das ist nichts Besonderes." *37

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Bei einem anderen dauerte es jedesmal wochenlang, bis auch nur die kleinste Wunde verheilte. Daher muß der eine mehr auf sich achtgeben, während der andere sich mehr herausnehmen kann. Mit schwächlichen Kindern kenne ich mich besser aus als mit kräftigen; ich sage ihnen aber niemals: ‫״‬Du wirst eine Lungenentzündung bekommen." Ich sage nur: ‫״‬Du kriegst einen Schnupfen." Ich sage auch nicht: ‫״‬Du wirst dir die Hand brechen", sondern: ‫״‬Die Hände werden dir wehtun." Und auch das nur, wenn sie beim Ringkampf allzu grob verfahren. Ein kleiner Schmerz stört einen gesunden Buben nicht einmal. Zum Beispiel nach dem Eisläufen, nach dem Rudern oder nach einem langen Ausflug. Man sollte nicht allzu oft davon sprechen, was alles passieren könnte, man sollte vielmehr daran denken, daß es oft gerade noch gut geht, und daß Vorhersagen nicht immer zutreffen. Einmal aß ein erhitzter Bub sehr hastig Eis. Ich sagte zu ihm: ‫ ״‬Gib acht, du wirst Halsweh bekommen." Tags darauf sah ich mir seinen Hals an: er war gerötet, tat aber nicht weh. Ich gab dem Buben einen Spiegel, damit er sich selbst davon überzeugen konnte. Ein anderer Bub aß harte Eier und eine Menge Pflaumen, und dann trank er noch Wasser. Ich sagte zu ihm: ‫ ״‬Du wirst Bauchweh bekommen." Am Abend erkundigte ich mich: ‫ ״‬Es hat nur ein bißchen wehgetan, aber nicht arg." Einen anderen Buben habe ich wiederholt gewarnt, er solle beim Spielen nicht so wild sein. Er hörte nicht auf mich. Bis er sich schließlich in der Schule bei einer Rauferei wirklich den Arm brach. Nun gleicht nicht jeder Bruch dem anderen. Manchmal wird der Gipsverband schon nach einigen Wochen abgenommen, und dann ist alles wie zuvor. Bei diesem Buben aber hatte der Knochen die Haut durchstoßen, und er lag drei Monate im Krankenhaus; jetzt kann er das Handgelenk überhaupt nicht mehr biegen. Am schlimmsten ist es, wenn ein Gelenk gebrochen ist. Manchmal muß man für seine Unvorsichtigkeit auf der Stelle büßen; dann ist man immerhin sofort um eine Erfahrung reieher. Meistens aber verhält es sich anders : 138

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Da beklagt sich einer im Sommer, daß die Ohren jucken, oder die Finger anschwellen und brennen. ‫״‬Nun ja, du hast eben im Winter Ohren und Hände erfroren/' Nicht immer kommt eine Krankheit sofort zum Vorschein. Wenn jemand sich heute angesteckt hat, kann die Krankheit erst nach einer Woche zum Ausbruch kommen. Dafür gibt es eine besondere Bezeichnung: Im Lateinischen ‫ ״‬Inkubation", im Polnischen ‫״‬Zeit des Ausbrütens der Krankheit". Nicht immer handelt es sich um eine Krankheit; manchmal ist es nur eine Unpäßlichkeit. Jede Übertreibung ist fehl am Platze. Die Erwachsenen sagen: ‫ ״‬Sonnenstich. Lauf nicht ohne Mütze herum. Hirnhautentzündung." Nein: einem Kind wird es nur schwindelig, es hat nur Kopfweh, es ist ihm übel, und es fühlt sich überhaupt unwohl. ‫״‬Es fühlt sich abgespannt. Es ist nicht gesund, es ist unpäßlieh, es fühlt sich nicht wohl in seiner Haut." Das Kind weiß selbst nicht, was ihm fehlt, aber es ist verdrossen, gereizt, unzufrieden. Wieviel Ärger, wieviel Schläge, wieviel Unangenehmes gibt es deswegen daheim und in der Schule ! ‫״‬Bauchweh und ein Schmerz im Rücken? — Du willst dich vor der Schule drücken!" Dieses Sprichwort trifft nicht immer zu. Man sollte kleinere Unpäßlichkeiten nicht unbeachtet lassen. ‫״‬Du bist viel zu zimperlich. Dir wird schon nichts passieren, daran wirst du nicht gleich sterben." Der eine übertreibt es, der andere kümmert sich gar nicht darum. Gewiß, von einem Schnupfen holt man sich nicht den Tod, aber er ist unangenehm. Bemitleidenswert sind die Kinder, die oft Schnupfen haben. Das Atmen fällt ihnen schwer, die Nase tut weh, und sie sind überhaupt irgendwie unausgeglichen. Und dann werden sie auch noch gehänselt. ‫ ״‬Rotznase. Dir läuft die Nase. Schneuz dich doch endlich mal." Manchmal hilft es gar nichts, wenn man die Nase putzt, es tut sogar noch weh. Denn nicht alle Nasen sind einander gleich. 139

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Wenn ein Kind fröhlich sein soll, muß sein Allgemeinbefin‫־‬ den gut sein; Herz, Nase und Kopf müssen gleichermaßen gesund sein; eine gesunde Fröhlichkeit, ohne Schmerz und ohne Sorgen. Sogar einem Greis ist es lästig, sich ständig in acht zu nehmen und auf sich aufzupassen — wieviel mehr erst einem Kind ! Lange konnte ich nicht verstehen, warum manche Buben bei ihren Kameraden unbeliebt — und wirklich auch oft unleidlich sind. Bis einmal ein schöner Frühlingstag kam. Alle liefen auf den Hof hinaus und spielten fröhlich; nur ein einziger Bub saß still, traurig und blaß in meinem Zimmer. Zuerst las er in einem Buch, dann wurde ihm das langweilig und er legte sich aufs Sofa, schließlich schaute er zum Fenster hinaus. Er tat mir leid. Ich sagte zu ihm: ‫ ״‬Geh, spiel doch auch ein bißchen." Er dagegen: ‫ ״‬Ach, ich hab' keine Lust." Er blieb noch eine kleine Weile sitzen und meinte dann: ‫״‬Nun geh ich doch." Gut. Ich beobachtete durchs Fenster, was dann passierte. Er ging auf den Hof hinaus, blieb dort und nahm an dem Spiel teil. Er rannte und rannte, aber ich merkte deutlich, daß es ihm schwerfiel, daß ihm die Luft ausging, daß er kurz darauf ganz erschöpft war. Daraufhin fing er sofort Streit an, und es kam zu einer Schlägerei. Ich dachte, er würde wieder zu mir hereinkommen, aber nein : er genierte sich wohl. Wenn jemand Kopfweh hat, dann kann er auch weniger Geduld aufbringen. Selbst beim Spiel kann er seiner nicht mehr sicher sein: vielleicht fängt der quälende Schmerz gleich wieder an? Ich kannte einen Buben, der oft böse und unzufrieden war. Er hatte häufig Bauchweh. Bis er eines Tages wirklich krank wurde; er hatte Fieber und mußte im Bett bleiben. Dann wurde er ins Krankenhaus eingeliefert und operiert. Man nennt diese Krankheit ‫ ״‬Blinddarmentzündung" oder auch ‫״‬Entzündung 140

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des Wurmfortsatzes". Der Arzt im Krankenhaus sagte, der Bub habe die Krankheit schon lange in sich gehabt. Schließlich kehrte er gesund zurück. Und dann war er so fröhlich wie alle anderen auch. Oft ist jemand ein paar Tage verdrießlich und schlecht gelaunt, bevor er regelrecht krank wird. Wenn er während dieser Zeit im Zorn etwas Böses tut und deswegen etwas Unangenehmes erlebt, dann heißt es später, er sei vor Kummer krank geworden. Ich habe festgestellt, daß schwächliche Kinder oft verspottet werden. Man sagt zu ihnen : ‫ ״‬Waschlappen, Tölpel, Schlappschwanz, Heulpeter, Feigling, Muttersöhnchen. " Man sollte bei der Beurteilung eines Menschen vorsichtig und zurückhaltend sein. Man darf nicht einfach voraussetzen, daß jeder gleich gesund und gleich stark ist. Buben machen sich gar nicht so sehr aus Bosheit, als vielmehr aus Unüberlegtheit über andere lustig. Oft hört man Spottnamen wie diese: ‫ ״‬Krüppel, lahmer Hund, blinder Gaul, Stottermaul." Der eine gewöhnt sich daran und hält sich nur von den anderen fern; dafür liest er viel ‫ ־־־‬aber sein Leben ist traurig, einsam und trüb; ein anderer jedoch empört sich über jede Ungerechtigkeit und wird dann wirklich unangenehm oder bösartig. Auch wenn jemand dick ist, wird er gehänselt und verspottet. Dann heißt es: ‫ ״‬Freßsack, Blunse, Knackwurst." Ungerechtfertigt. Denn dick zu sein ist auch eine Krankheit. ‫״‬Was denn für eine Krankheit: daß er dick ist?" Den Mageren wiederum rufen die Schandmäuler nach: ‫ ״‬Gerippe, Skelett." In medizinischen Büchern steht, daß sehr magere und sehr korpulente Menschen nicht gesund sind; aber so ein Spötter weiß das nicht und beharrt auf seiner Meinung. ‫ ״‬So ein großer Bub und macht noch ins Bett. Du Ferkel, du stinkiges." Wieder plagen sie ihn. ‫ ״‬Er hat eine schwache Blase, schwache Nerven." ‫״‬Ach was, Blase! Nerven!" ‫ ״‬Du bist ein Esel, halt den Mund!" schrie ich ihn an. 141

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Jetzt hatte audi ich falsch gehandelt, denn man darf niemanden beleidigen; aber der Mensch ist nun einmal nicht immer geduldig. Einmal war ich in Eile und sagte etwas zu einem Buben ; aber der verstand mich nicht. Also fragte ich ihn zornig: . ‫״‬Hörst du nicht, was ich sage — bist du taub?" Da fiel mir plötzlich ein, daß er wirklich schlecht hören konnte, weil er Scharlach gehabt hatte und danach eine Ohrenkrankheit. Das war mir sehr peinlich: ich nahm mir fest vor, so etwas niemals wieder zu tun. Ein bekannter Schriftsteller schrieb ein Buch, in dem er sich über einen sommersprossigen Buben lustig machte. Offenbar war er gedankenlos. Leider: sogar ein hochgebildeter Schriftsteiler kann Fehler begehen. Ich selbst habe lange Zeit folgenden Fehler gemacht: Wenn ein Bub schwächlich war oder nicht sehr klug, häßlich oder unleidlich, dann bat ich die anderen Kinder immer wieder: ‫ ״‬Seid lieb zu ihm, habt ein gutes Herz, gebt nach." Bis ich einmal einen dummen, aufdringlichen und unleidlichen Buben bei mir hatte. Er hatte kranke Augen, kranke Ohren und eine kranke Nase. Daheim wurde er oft geschlagen. Es lag mir also sehr daran, ihm zu beweisen, daß hier richtig für ihn gesorgt würde. Die braven Buben taten, worum ich sie gebeten hatte: sie erlaubten ihm stillschweigend, den Ball wegzunehmen, sich außer der Reihe in ein Spiel einzudrängen oder sonst alles Mögliehe anzustellen. Da meinte dieser Dummkopf, er sei jetzt die Hauptperson, und fing an, herumzukommandieren und Unfrieden zu stiften. Bis ich eines Tages sah, wie er einen friedfertigen, gutmütigen und verständigen Buben zu Boden zwang und auf ihn einschlug. Da packte ich ihn, riß ihn los und stieß ihn unsanft in mein Zimmer. ‫״‬Nun ist es aber genug! Du magst Schläge gewöhnt sein, hier aber wird nicht geschlagen, also laß auch du es bleiben! Wenn du beim Spiel nicht fair sein kannst, dann hau ab, verstanden? Wenn der Ball nicht für dich bestimmt ist, dann schnapp ihn auch nicht, verstanden?" 142

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Von da an war Ruhe. Später nahm sich ein gutmütiger Bub seiner an, aber aus freien Stücken. Es hat überhaupt keinen Sinn zuzulassen, daß ein einzelner allen das Leben verbittert, selbst wenn er daran nicht schuld ist. Man sollte von einer Kindergemeinschaft nicht zuviel verlangen. Gesund oder krank, klug oder dumm — jeder muß sich an die für alle geltende Ordnung halten; Ausnahmen darf es nicht geben. Allerdings darf auch niemandem Unrecht geschehen. Ich weiß, daß es Kinder gibt, die an mangelnder Fürsorge leiden; es gibt aber auch solche, denen übermäßige Fürsorge Schaden, Qual und Ärger zufügt. Kinder, die nichts zu essen und zu wenig Schlaf bekommen, tun mir leid; leid tun mir aber auch die anderen, die zum Essen gezwungen werden und im Bett bleiben müssen. Ich kenne ein kleines Mädchen, das sich beim Mittagessen fast erbrechen mußte; der Vater schlug es, weil es nicht essen wollte. Er schlug es aus Liebe. Trotzdem ist so etwas gräßlich und sinnlos. In manchen Ferienkolonien hält man die Kinder im Sommer im Bett fest. Bis zu fünfzehn Stunden täglich. Wenn das auch auf ärztliche Weisung geschieht, so behaupte ich doch, daß es töricht ist. Ich sage das nicht deshalb, weil ich die Gesundheit nicht hochschätze, sondern gerade darum, weil ich genau weiß, was sie wert ist. Liebenswert — nicht liebenswert Ein Mensch von angenehmem Aussehen — der hat es leichter, liebenswert zu sein. Ia, ein gesunder, hübscher, fröhlicher und begabter Mensch hat es leicht, beliebt zu sein. Er begrüßt die Menschen seinerseits mit einem freundlichen Lächeln, und sie geben es ihm zurück. Ein schwächlicher, häßlicher, bärbeißiger und unbegabter Mensch wird oft angegriffen und zum Narren gehalten. Er nähert sich anderen voller Mißtrauen, und voller Widerwillen denkt er an seine vom Glück mehr begünstigten Mitmenschen. Aber nur äußerst selten gibt es jemanden, der allen gefällt. Für den einen ist jemand hübsch, ein anderer meint, er sei nichts Besonderes. 43

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‫ ״‬Reizend ‫ ״‬Ich finde ihn häßlich. Er sieht aus wie eine Puppe." Dem einen gefallen schwarze Augen, dem anderen blaue, der eine mag dunkles Haar, der andere helles. Er hat hübsche Augen, aber eine häßliche Nase, einen hübschen Mund, aber häßliche Zähne. Manchmal heißt es, daß jemand nicht ausgesprochen hübsch, aber besonders anmutig sei. Ich weiß nicht, was das ist. Ein freundliches Lächeln. Ein warmherziger Blick. Anmutig: nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu dick und nicht zu dünn, Anmut der Gestalt. Manchmal gefällt uns jemand, weil er genau so aussieht wie alle anderen, die wir kennen, manchmal aber gerade deshalb, weil er ganz anders ist. Ob es dasselbe ist: hübsch und liebenswert? Oh nein! Es kann Vorkommen, daß jemand von weitem einen Hebenswerten Eindruck auf uns macht, uns aber nach einem kurzen Gespräch schon überhaupt nicht mehr gefällt. Zuweilen bist du einem Menschen mehrmals begegnet, hast aber gar keine Lust verspürt, ihm näher zu kommen, du hast zwar schon ein paarmal mit ihm gesprochen — aber nichts weiter. Und erst viel später erkennst du, daß er ein sehr, sehr liebenswerter Mensch ist. Mit dem einen schließt man sofort Bekanntschaft, mit einem anderen kann es irgendwie schwierig und zunächst sogar unangenehm sein. Man muß sehr viele jüngere und ältere, stille und fröhliche Buben und Mädchen kennengelemt haben, blasse und rotbäckige, hübsche und häßliche, gut und ärmlich gekleidete — bis man zu unterscheiden gelernt hat, ob jemand einem von vornherein liebenswert erscheint oder erst später, ob nur für kurze Zeit oder für immer. Man muß es oft versucht und sich oft geirrt haben, bis man nicht mehr so recht an das glaubt, was die anderen sagen, sondern sich davon überzeugt, was einem selbst gefällt und wen man selbst liebenswert findet. Früher war ich der Meinung, ein fröhlicher Mensch fühle sich zu fröhlichen Menschen hingezogen, ein kleiner — zu den anderen kleinen, ein schwacher — zu schwachen, und ein ordentlicher Mensch suche die Gesellschaft ordentlicher Kameraden. 144

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Gewiß, oft trifft das zu, aber nicht immer. Früher habe ich sogar Vorschläge gemacht, wer mit wem Freundschaft schließen solle, heute mische ich mich nicht mehr gern ein, weil ich es selbst nicht weiß. Wenn zwei Buben Freundschaft miteinander geschlossen haben, dann versuche ich, im voraus zu erraten : ‫ ״‬Sicher bekommen sie in einem Monat oder in einem halben Jahr Streit. " Jetzt gelingt mir's öfter, es richtig zu erraten, aber auch nicht immer. Das ist alles so rätselhaft, so schwer zu durchschauen, soviele Geheimnisse sind hier verborgen. Ich erkundige mich also nur: ‫ ״‬Magst du ihn gern?" Er antwortet: ‫ ״‬Für mich ist er ein liebenswerter Kamerad." Er kennt sogar die Fehler des anderen. ‫״‬Er ist sonst nicht besonders liebenswert, aber ich mag ihn gern; zu mir ist er gut." Bisweilen ist jemand, der sich allen anderen gegenüber gar nicht liebenswert verhält, seinem Freunde gegenüber gut und rücksichtsvoll. Manch einer macht den Erwachsenen viel Kummer, aber gegenüber seinesgleichen ist er warmherzig und aufgeschlossen. Manchmal genügt es, wenn sie nur in einem Punkte einander gleichen — und schon haben sie sich gefunden. Für eine kurze oder auch für eine längere Zeitspanne. Nicht jeder liebt die Veränderung. Ich erinnere mich an viele merkwürdige Freundschaften. Da frage ich zum Beispiel: ‫״‬Warum magst du ihn gern?" ‫ ״‬Niemand kann ihn leiden, das muß doch furchtbar für ihn sein, so ganz allein." Ich frage: ‫״‬Worüber sprecht ihr denn miteinander?" ‫ ״‬Über so mancherlei. Ab und an geb' ich ihm einen Rat, wie er sich ändern könnte." Die Erwachsenen befürchten bisweilen zu Unrecht, ein schlimmer Bub könne einen guten verderben, oder sie stellen, 45

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genauso ungerechtfertigt, die Forderung, der gute solle den schlimmen günstig beeinflussen. Mir scheint, hier dürfen weder Verbote ausgesprochen noch Forderungen gestellt werden. In den meisten Fällen sollte man sich sogar davor hüten, auch nur Fragen zu stellen, weil aufdringliche Fragen nur einschüchtern, Mißtrauen und Abneigung erwecken. Ich will lieber wenig wissen, dafür aber die Wahrheit. Der eine versteht so zu handeln, daß es dem anderen zugute kommt, da wird gemeinsam etwas gebaut oder gekauft, da borgen sie einander Geld, da werden Tauschgeschäfte oder Wetten abgeschlossen, Geschenke gemacht oder empfangen. Der eine besitzt gerade das, was der andere im Moment notwendig braucht, der eine hat mehr, der andere weniger. Man weiß nicht einmal recht, ob es Freundschaft, gegenseitige Fürsorge oder eine Interessengemeinschaft ist. Oft können sie einander gar nicht recht leiden, aber sie sind gezwungen, zusammen zu bleiben, weil jeder für sich allein nur schwer etwas unternehmen kann. ‫ ״‬Ist er liebenswert?" ‫״‬Nun ja, nicht so besonders." ‫ ״‬Aber ihr seid doch dauernd beieinander?" ‫ ״‬Na und?" Wenn ich einmal mit einem Buben spreche, dann mag er gerade ruhig sein und mir vernünftig antworten, aber sein Freund kennt ihn bei guter Laune wie im Zorn, traurig oder zu tollen Streichen aufgelegt, betrübt und verletzt, er kennt ihn wie er gibt und wie er nimmt. Ist es da verwunderlich, daß sie sich gegenseitig besser kennen als ich sie? Allmählich lernt jeder von allein, Vorsicht zu üben; fremde Regeln des Lebens helfen dabei am allerwenigsten. Früher hat es mich geärgert, wenn einer der Freunde immer nur gab und der andere immer nur nahm. Gemeinsam kaufen sie Eis, gemeinsam gehen sie zum Photographen oder ins Kino, aber nur einer bezahlt, einer spendiert alles. Heute mische ich mich auch da nicht mehr ein: manche tun das eben mit Vergnügen, sie wollen sich Zuneigung erkaufen. Nur eine Regel des Lebens will ich in diesem Zusammenhang geben: 146

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‫ ״‬Sei kein Feigling, faß dir ein Herz und sage offen, wenn du etwas nicht willst. Geniere dich nicht, um Hilfe zu bitten, wenn du dir allein nicht zu helfen weißt." Ein falscher Freund kann dir nämlich drohen: ‫ ״‬Ich weiß dies oder das von dir. Ich kenne deine Geheimnisse. Wenn du mit mir Streit anfängst, erzähle ich alles weiter." Oder er kann sich an dir rächen, dir zu schaffen machen, oder mit dir eine Schlägerei anfangen. Nicht nur ein junger Mensch kann auf einen hübschen Mund, auf freundliche Augen und auf schöne Worte hereinfallen. Früher habe ich mich oft gewundert, wenn jemand, den ich liebenswert fand, bei seinen Kameraden gar nicht beliebt war; ich habe diese sogar in dem Verdacht gehabt, sie seien eifersüchtig. Jetzt beobachte ich genauer und sehe ein, daß die Karneraden recht haben: sie wissen es besser. In einer Ferienkolonie hatte ich einmal einen älteren, ernsten und stillen Buben, den die anderen, so glaubte ich wenigstens, sehr gern hatten. Nur eines störte mich an ihm: er tat oft etwas, was er den anderen verboten hatte; es sah so aus, als ob er auf Ordnung achte, es selbst aber nicht nötig habe, sich an die Spielregeln zu halten. Ein paarmal hat er auch gelogen, als er jedoch dabei ertappt wurde, redete er sich heraus, machte Witze und gab endlich im Zorn freche Antworten. Und ab sofort gehorchte die ganze Bubenschar ihm nicht mehr — wie auf einen geheimen Befehl hin — und wurde aufsässig. Da wurde mir erst klar, daß er gleichsam der Anführer einer Bande gewesen war, daß die anderen ihn nicht leiden mochten und ihm nur gehorcht hatten, weil er ihnen drohte und sie heimlieh schlug. Ich war verblüfft. Wie konnten so viele Buben einen einzelnen heimtückischen Grobian fürchten. Aber er stand eben nicht allein, er hatte ein paar Gehilfen, die ihm hinterbrachten, wenn sich jemand empörte; und dann nahm er Rache. Damals wurde ich zum erstenmal, und später noch oft, von der Notwendigkeit einer Selbstverwaltung überzeugt, wo jeder das Recht und den Mut hat zu sagen, wen er wirklich gern mag. Jetzt glaube ich schon zu wissen, wer bei fast allen als der Liebenswerteste gilt. Keineswegs der hübscheste, der lustigste oder der begabteste — sondern vielmehr der, der gerecht, hilfsbereit und taktvoll ist. 4 7

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Es ist schwierig zu erklären, was Takt ist. Wahrscheinlich ist jemand taktvoll, wenn er in der rechten Weise mit Menschen umzugehen versteht. Wenn er — sei es aus Güte oder aus Vernunft — erkennt, was der andere gerade braucht, und wenn er gerne hilft. Ein taktvoller Mensch übt Nachsicht im Umgang mit streitbaren Geistern, ihm geht es nicht darum, immer Recht zu behalten, er spielt sich nicht auf und mokiert sich nicht über andere, er wendet sich nicht mit dummen Witzen an jemand, der Kummer hat, er redet niemandem drein und gibt keine Ratschlage, wenn er nicht darum gebeten wird, er schwätzt nicht zu viel, er gerät selbst nicht in Zorn und ist stets bemüht, andere zu entschuldigen oder in Schutz zu nehmen. Er tritt nicht in Erscheinung, wenn er nicht gebraucht wird, ist aber stets zur Stelle, wenn er für irgend jemanden etwas tun kann. Er drängt seine Hilfe niemandem auf, aber er verweigert sie auch niemandem. Ungebeten ergreift er niemals Partei, aber er tritt mutig für alle ein, die ungerecht behandelt oder benachteiligt werden. Er fürchtet weder Kameraden noch Erzieher; deswegen ist er manchmal Unannehmlichkeiten ausgesetzt, und manche schätzen ihn deswegen nicht besonders. Seit zehn Jahren lasse ich Plebiszite durchführen, das heißt Abstimmungen. Die Stimmabgabe ist geheim. Jeder wirft einen Zettel in einen Kasten. Auf diesem Zettel steht entweder ein Plus (das bedeutet: ich mag ihn gern), ein Minus (das bedeutet: ich mag ihn nicht), oder eine Null (und das heißt: er ist mir gleichgültig). Dann werden die Stimmen ausgezählt. Manchmal habe ich es auch noch anders gemacht: jeder diktierte die fünf Namen derer, die er am meisten schätzt, und weitere fünf Namen von Kameraden, die er überhaupt nicht leiden kann. Noch eine Variante: jedermann teilt für alle Zensuren aus; ein Fünfer bedeutet — ich mag ihn sehr gern, ein Vierer — ich mag ihn gern, ein Dreier ‫—־‬er ist mir gleichgültig, ein Zweier — ich mag ihn gar nicht, ein Einser — ich kann ihn nicht ausstehen. Dank dieser Abstimmungen ist mir so mancherlei klargeworden. Wichtig ist für mich die Gewißheit, daß unter den Kindern kein Neid entsteht. Wenn jemand liebenswert ist, dann freuen sich alle, wenn er Klassenbester wird. Sie sind durchaus bereit, jemanden liebenswert zu finden, weil er schön singen, tanzen 148

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und malen kann, weil er beim Ballspiel oder im Hochsprung gut war, weil er Sieger war. Sie sind dankbar, daß sie mit ihm zusammen sein dürfen. Sie erlauben ihm mehr und lassen ihm mehr durchgehen. Aber nur unter einer Bedingung : er darf sich nicht zuviel einbilden, die Gemeinschaft nicht mißachten, er darf weder ein Kriecher noch ein Großmaul sein. Und er darf die anderen auch nicht allzu sehr herumkommandieren. Wenn sie jemanden liebenswert finden, dann spielt es keine Rolle, ob dieser älter oder jünger ist; sie mögen es aber nicht, wenn ein Kleiner eigensinnig oder wehleidig ist, oder wenn ein Älterer den Erwachsenen spielt. Dann piesacken sie den Kleinen, und den Großen lachen sie aus. Den mit den meisten Minuspunkten finden sie gar nicht liebenswert, ja, sie verabscheuen ihn sogar. Zu den letzteren gehören die Aufdringlichen, die Vorlauten, die Besserwisser. Einem Egoisten, einem Zomickel und sogar einem Streitsüchtigen gegenüber sind manche nachsichtig, andere dagegen können solche überhaupt nicht leiden. Sie verachten und beschimpfen sie: ‫״‬Du Klette, du hast wohl überhaupt kein Ehrgefühl, du Krieeher." Wenn du zu so jemandem sagst: ‫״‬Hör endlich auf — scher dich doch fort", wird er erst recht aufdringlich. Er klammert sich an einen und schwätzt lauter dummes Zeug. Wenn du mit einem anderen sprichst, will er auf der Stelle wissen, worüber ihr euch unterhaltet. Er hat keine Ahnung, worum es geht, er kennt sich überhaupt nicht aus und versteht rein gar nichts davon, aber er muß immerzu dozieren und belehren. Kaum hast du etwas geschrieben, schon verlangt er: ‫ ״‬Zeig her." Du tust etwas, gleich ist er da: ‫ ״‬Gib her, das kann ich schneller, das kann ich besser." Die meisten haben keine Ahnung, wie schwer es ist, einen gelungenen Scherz zu machen. Ein mißlungener Scherz wirkt verletzend und peinlich, und anstatt jemanden zum Lachen zu bringen, bringt er ihn zum Weinen. Ein Scherz zur Unzeit wirkt übel. Hohn und Spott — das ist kein Scherz. Ein Scherz ist gelungen, wenn alle über ihn lachen können und niemand verletzt ist. Sonst heißt es : 149

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‫״‬Narr". Und niemand findet den Witzbold liebenswert. Die Regeln des Lebens daraus muß jeder für sich ableiten. Ich möchte nur noch eine nennen: ‫״‬Jeder Mensch sollte die Freundlichkeit anderer anerkennen und sich bemühen, ihrer würdig zu sein. Man darf nie sagen : Was geht mich das an?" Jeder Mensch sollte wissen, was ein Freund wert ist. Aber man darf nie versuchen, allen zu gefallen oder sich einzuschmeicheln, man darf nicht gekränkt sein, wenn es neben den vielen, die einen gern mögen, auch jemanden gibt, der einen nicht gern mag: es kann doch gar nicht sein, daß einen immer alle lieben. Buben — Mädchen ‫״‬Buben sind Menschen — und Mädchen ebenso. Es gibt also keinen Unterschied zwischen beiden." So sagen die einen. ‫״‬Das ist nicht wahr. Mädchen sind ruhiger, gehorsamer, ordentlicher, fleißiger, zarter." So sagen die anderen. ‫״‬Aber ich mag Buben lieber. Sie sind lustig, langweilen einen nicht, sind nicht gleich beleidigt; sie sind aufrichtiger, haben an allem größeres Interesse und lassen sich leichter überzeugen." ‫ ״‬Mädchen haben ein besseres Herz." ‫״‬Durchaus nicht, ein Bub ist hilfsbereit und tut einem gern etwas zulieb." ‫״‬Das ist nicht wahr." So streiten sie und können sich nicht einig werden. Andere wiederum behaupten: ‫״‬Es dürfte keinen Unterschied geben. Wenn sie gemeinsam lernten, gemeinsam in die Schule gingen, wären sie einander ganz und gar ähnlich." Zum Schluß weiß niemand, wer recht hat. Eines jedoch ist sicher: Recht haben sowohl die, welche einen Unterschied feststellen, als auch die, welche die Ähnlichkeit betonen. 150

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Auch zwischen dem Baum und dem Menschen besteht eine Ähnlichkeit: der Baum entsteht aus einem Samenkorn, er nimmt Nahrung zu sich, wächst, ist durstig, atmet, freut sich über die Sonne, wird alt und stirbt; auch er kann einschlafen und sich ausruhen, auch ihm kann man schaden, eine Krankheit oder eine Verletzung zufügen. Und ein Vogel — liebt er nicht wie ein Mensch? Er trauert, er ist zornig, er hat Sehnsucht; und singt er etwa weniger schön als ein Mensch? Und der Hund — ist er nicht ein treuer Gefährte? Ähnlich sind den Kindern auch die Erwachsenen . . . Aber — unterscheiden sich nicht alle diese auch voneinander? Findest du unter Buben auch nur zwei, die einander in jeder Hinsicht ähnlich sind? Und sind denn alle Mädchen einander gleich? Wenn es aber nun nur Gemeinschaftsschulen gäbe? Es gab ja immer Koedukation, und es gibt sie noch. Trotzdem können Unterschiede zwischen Buben und Mädchen sehr groß oder nur gering sein. Man muß streng unterscheiden zwischen dem, was die Mensehen wünschen und wollen, und dem, was wirklich ist. Also: ist ein Bub besser, oder ein Mädchen? Jeder Mensch hat Vorzüge und Fehler; wer wüßte das nicht? Vorzüge und Fehler haben die Mädchen, aber auch die Buben. Daher sollten sie sich miteinander verständigen, einander achten, Nachsicht üben und einander gern haben. Sehr lange war auch ich der Ansicht, daß Männer und Frauen nur deshalb unterschiedliche Wesenszüge haben, weil sie in alten Zeiten einen unterschiedlichen Rechtsstatus hatten; die jungen Männer zogen in den Krieg oder gingen auf die Jagd, die Mädchen pflegten Kranke, spannen und kochten. Daher sind die Buben kräftiger und schneller als die Mädchen, und sie lieben auch andere Spiele. Daran sind sie seit langem gewöhnt worden. Als ich noch ein Bub war, sagten die Erwachsenen — heute hört man das schon seltener — oft und gern: ‫ ״‬Es schadet nichts, wenn ein Bub Unfug treibt. Soll er ruhig ein Lausbub sein. Bei einem Mädchen ist das anders.‫״‬

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Das klingt so, als ob ein Bub immer draufgängerisch sein müßte, ein Mädchen dagegen furchtsam ; als ob ein Bub lebhaft, ein Mädchen still, ein Bub leichtsinnig, ein Mädchen nachdenklieh sein müßte. Die Mädchen beneideten die Buben, und es gab keine Eintracht. Aber die Zwietracht dauert auch heute noch an. Warum wohl? Ich habe lange beobachtet und nachgedacht, und ich bin zu folgender Einsicht gekommen: Es ärgert die Buben, daß die Mädchen schneller wachsen und früher reifen. Es ist angenehm, größer zu werden. Und da bemerkt der Bub plötzlich, daß ihn das Mädchen überholt. Sie ist im gleichen Alter oder sogar jünger, sieht aber älter aus. ‫״‬Was fällt der ein? Schau an: sie spielt sich auf wie eine junge Dame." Das heißt: sie tut erwachsen. Der Bub leidet entweder still, oder er wird aggressiv und setzt ihr zu. ‫ ״‬Junge Dame", sagt er verächtlich oder auch zornig. Manchmal macht sich das Mädchen deswegen sogar selber Kummer, und es will nicht weiter wachsen; ich kenne Fälle, in denen Mädchen nichts mehr aßen, weil sie um keinen Preis größer werden wollten. Manchmal ist ein Mädchen aber auch aufgebracht, und sie sagt: ‫ ״‬So ein Rotzbub." Und schon gibt es Krieg. Wenn der Bub gewandter und stärker ist, bemüht er sich, dem Mädchen zu zeigen, daß er trotzdem die wichtigere Person ist; wenn er schwächer ist, wird er widerborstig und tut ihr vieles gerade zum Trotz. Wenn er mit einem einzigen Mädchen Streit bekommen hat, fühlt er sich von allen verletzt. Am schlimmsten ist es, wenn Menschen einander etwas zum Possen tun, wenn sie es in der Absicht tun, den anderen zu ärgern. So ist es nun einmal: dem einen fällt etwas schwerer, dem anderen leichter, der eine ist gesund und kräftig, der andere schwächlich, der eine besitzt mehr, der andere weniger — aber es sollte doch wenigstens nicht so sein, daß der eine gerade über 152

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das bekümmert ist, was dem anderen Freude macht, daß der eine über das weint, worüber der andere lacht. Einmal hielt ein Bub einem Mädchen eine Kinderpistole an die Schläfe und drohte ihr, er werde schießen. Das Mädchen fing an zu weinen, er aber lachte nur. ‫ ״‬So eine dumme Gans: die hat A ngst/' Er nimmt ihr den Ball weg und läuft davon. Er weiß, daß er im Unrecht ist, aber er reizt sie auch noch: ‫״‬Was kannst du mir schon anhaben?" Vielleicht bin ich zu streng — aber ich finde, daß gerade das gemein, niederträchtig und schuftig ist: Wehrlose zu quälen. Schwache zu schikanieren. Sich ohne Rücksicht auf die Tränen anderer lustig zu machen. Diese Boshaftigkeit ist für den einzelnen Menschen wie auch für die gesamte Menschheit so ärgerniserregend, so empörend, so ekelhaft — zumal sie keinem Menschen nützt. Erwachsene sind oft der Meinung, so etwas sei bloß eine Dummheit, ein Spaß, ein unschuldiger Schabernack. O nein, diese verdammte Quälerei — das ist vielleicht der größte Fehler der Buben gegenüber den Mädchen. Könnt ihr euch das vors teilen? Ich habe gute, sanftmütige, fröhliche und gerechte Lehrerinnen gekannt, die später böse, streng, nervös und unfreundlich wurden —und das nur deshalb, weil man sie ständig ärgerte. Man hat ihnen gerade darum so übel mitgespielt, damit ihnen der Geduldsfaden reißen sollte. Mädchen schlagen einander seltener: zum einen schickt es sich nicht, und zum andern bringt es die Kleider und die Haare durcheinander ; daher haben sie weniger Übung und kennen die Kampfregeln nicht. Also kneifen und kratzen sie — mit den Fingern oder mit Worten. Spott, Geheimnistuerei, Klatsch, Streitereien. Das reizt die Buben sehr. Es sieht so aus, als seien sie auf‫־‬ richtig und offen, die Mädchen aber hinterhältig. Hier begehen die Erwachsenen einen großen Fehler, wenn sie die Mädchen in Schutz nehmen. Sie glauben, ein Schlag mit der Hand schmerze mehr als ein beleidigendes, spitzes Wort. Hier habe ich mich geirrt: ich habe lange Zeit geglaubt, der‫־‬ jenige habe angefangen, der als erster zuschlug. Durchaus nicht: *53

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schuld ist immer der, welcher zuerst das böse Wort gebraucht hat. ‫״‬Unschuldslämmer, Heuchlerinnen, Mimosen, beleidigte Leberwürste, Heulsusen, Petzerinnen. " Es ist wahr, Mädchen geben sich oft besser, als sie sind. A b e r auch Buben sind e ig e nt li c h u n a u f r i c h t i g , de nn sie g e b e n s i c h s c h l i m m e r als sie si nd. Ich kann nicht begreifen, warum das so ist, aber ein Bub findet sich nicht damit ab, ja er schämt sich geradezu, als ruhig, bedächtig und wohlerzogen zu gelten; lieber hält er sich von seinen Kameraden ganz und gar fern, als daß er zugäbe, gar kein Lausbub zu sein. Buben werden ungerecht beurteilt, aber sie sind selbst daran schuld. Ein Bub möchte genauso gern hübsch sein wie ein Mädchen — er gesteht es nur nicht ein. Ich weiß, daß Buben sich die Haare höchst ungern schneiden lassen; sie behaupten dann, es fröre sie am Kopf, und die Mütze würde ihnen zu groß. Sie möchten gerne schön angezogen, liebenswert und feinfühlig sein — sie möchten dies nur um keinen Preis zugeben. Einem Buben fällt es schwerer, sich sauber zu halten, denn er ist beim Spielen viel umtriebiger. Buben haben mehr blaue Flecken und Beulen, verletzte Finger und zerschundene Knie, sie zerreißen mehr Schuhe und werfen öfter eine Fensterscheibe ein. So ist es, denn sie stellen mehr an, stecken ihre neugierigen Nasen überall hinein und probieren alles Mögliche aus. Aber Dreckspatzen sind sie nicht. Sie tun ihre Arbeit rascher als Mädchen, aber sie haben weniger Geduld; daher sehen ihre Hefte auch nicht so ordentlich aus. Aber sie geben sich nicht weniger Mühe. Sie empfinden ebenso wie die Mädchen Mitleid und Bedauern, und sie erleben genauso ungern wie diese etwas Trauriges — aber sie wollen es nicht zeigen, weil sie fürchten, ausgelacht zu werden. Wenn sie nur wüßten, daß sie sich eigentlich vor Hohn und Spott fürchten — und daß dies auch nichts anderes als Feigheit ist! Schließlich genieren sie sich nicht weniger als Mädchen. Wenn sie häßliche Ausdrücke gebrauchen — so tun sie das mit mehr Stimmenaufwand als sonst; wenn sie etwas Unanständiges tun 154

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— dann aus Mutwillen oder aus Angeberei. Saukerle finden sie genauso abscheulich wie die Mädchen. Wenn Mädchen ‫״‬Unschuldslämmer" sind, dann sind Buben ‫ ״‬Großmäuler" — im Grunde aber verstellen sich beide gleichermaßen. Buben sind nur auf andere Weise aggressiv, sie machen nur mehr Lärm; aber es steckt nicht viel dahinter. Die Erwachsenen sollten sich dessen wohl bewußt sein, daß Buben am meisten gekränkt sind und sich am empfindlichsten rächen, wenn ihr Schamgefühl verletzt wird. ‫ ״‬Ich will nicht, daß sie hinschaut", sagt ein Bub. ‫ ״‬Wenn sie es darf, dann darf ich es auch." Jetzt herrscht eine andere Auffassung. Jetzt ist es schon so weit, daß man sich ungeniert im Sportdreß oder im Badeanzug zeigen kann. Es ist besser geworden als damals, als man noch meinte, ein Mädchen müsse schamhaft sein, ein Bub dagegen nicht. Sport und Pfadfindertum haben dazu viel beigetragen. Ich schreibe dies deshalb, weil Unwahrhaftigkeit viel Schaden anrichtet, und weil es so viel Verlogenheit gab. Buben wissen sich oft nicht zu helfen, und sie sind dann böse und streiten sich mit Mädchen herum wie Hund und Katze. ‫ ״‬Ich kann Mädchen nicht leiden", sagt der Bub. ‫״‬Und ich kann Buben nicht leiden", sagt das Mädchen. Das ist nicht wahr. Manchmal ist es lustiger, mit Buben zu spielen und sich mit ihnen zu unterhalten, manchmal hat man lieber Mädchen dabei. Es gibt Spiele, bei denen Mädchen nur stören, und es gibt gemeinsame Spiele. Vielleicht kann ein Mädchen einmal sogar besser laufen als ein Bub, und warum darf ein Bub eigentlich nicht mit Puppen spielen? ‫ ״‬O, der spielt mit Mädchen!" ‫ ״‬O, die spielt mit Buben!" Wenn ein Bub öfter mit einem Mädchen spricht, heißt es gleich : ‫״‬Der Liebhaber und seine Freundin, das junge Brautpaar." Ich kenne allein vier Fälle, wo ein Bub und ein Mädchen einander schon gern hatten, als sie noch zur Schule gingen, und als sie erwachsen waren, wurden sie Mann und Frau. Ich kenne einen Fall, in dem ein Bub mit Puppen spielte. Die Mädchen nähten Puppenkleider und kleine Bettdecken, und der *55

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Bub bastelte die Betten und die Schränke für die Puppenstube. Niemand lachte darüber, denn es gab ja auch keinen Grund dazu. Meine Regel des Lebens lautet hier so: ‫״‬Aufrichtig sein. Boshaften Angriffen keine Beachtung sehenken. Wenn man etwas gern hat, dies auch offen sagen, ohne sich zu schämen." Und die zweite Regel: ‫ ״‬Es darf keine Rolle spielen, ob jemand klein oder groß ist, ob andere sagen, er sei hübsch oder häßlich, klug oder dumm; es darf nicht einmal eine Rolle spielen, ob jemand ein guter oder schlechter Schüler ist oder etwa ein besserer als ich selbst; oder ob es sich um einen Buben oder ein Mädchen handelt. Für mich ist jemand liebenswert, wenn er anderen gegenüber freundlich ist, niemandem etwas zuleide tut, wenn er —mit einem Wort — gut ist." Bisweilen sagt ein Lehrer: ‫ ״‬Er ist ein guter Schüler, er liest viel, er ist intelligent." Aber wozu ist das gut, wenn er überdies ein Egoist ist, ein Nichtsnutz und dazu noch ein Angeber? Er stiftet damit nur Unfrieden und Neid, ganz wie ein reicher alter Geizhals. Ich weiß nicht, was die Menschen stärker miteinander verbinden kann: ihre Ähnlichkeiten oder gerade ihre Verschiedenheiten? Den einen mag ich gern, weil er mir ähnlich ist, den anderen, weil er anders geartet ist. Im einen Falle schließt der Fröhliche mit dem Fröhlichen Freundschaft, im anderen aber der Fröhliche mit dem Stillen und Traurigen. Manchmal ist ein Kamerad gleichsam der Betreuer seines Kameraden. Ein Älterer kann einen Jüngeren, ein Reicher einen Armen und ein Bub ein Mädchen lieb gewinnen. Ich habe festgestellt, daß nur Dummköpfe den Wunsch hegen, alle Menschen sollten einander gleich sein. Wer ein bißchen verständig ist, dem macht es Freude, daß es Tag und Nacht, Sommer und Winter, jung und alt auf der Welt gibt; er freut sich an Schmetterlingen und Vögeln, an den bunten Farben der Blumen und der menschlichen Augen, und er freut sich, daß es Mädchen und Buben gibt. Wer nicht gern nachdenkt, der fühlt sich durch diese Vielfalt gerade deshalb irritiert, weil sie ihn zum Nachdenken zwingt. 156

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Vergangenheit — Zukunft Voller Wehmut beende ich dieses kleine Buch. Voller Unruhe schließe ich diesen meinen Versuch ab. Ich habe es in Hast und Eile niedergeschrieben, weil ich Angst hatte, den Mut zu verlieren und nie zu einem Ende zu kommen, weil ich die ersten Seiten hätte zerreißen und wegwerfen müssen, wenn ich die Arbeit auch nur für einen einzigen Tag unterbrochen hätte. Ich glaube aber, daß dieses Buch wirklich notwendig ist. Vielleicht nicht für alle, aber doch für jene, die bereit sind nachzudenken. Wenn man die Absicht hat, ein Buch zu schreiben, dann ist man immer davon überzeugt, daß es notwendig sei, und daß die Arbeit leicht und angenehm vonstatten gehe. Es ist doch wichtig, daß ein älterer Mensch das, was er weiß, weitergibt und es den jüngeren leichter zu machen versucht, das Leben und seine Regeln zu verstehen. Und mir sollte es doch nicht schwerfallen, denn ich bin seit vielen Jahren mit jungen Menschen zusammen, ich sehe, was sie tun, ich spreche mit ihnen, ich höre ihre Fragen und Klagen, ich weiß, was sie quält und stört, und ich verstehe ihre Schwierigkeiten. Es muß doch schön und angenehm sein, denn außer Versäumnissen und Vergehen, neben Kummer und Streit erlebe ich so viel Bewundernswertes, soviel guten Willen, soviel gegenseitige Gefälligkeit, Rücksicht, Hilfe, Fürsorge und Freundlichkeit. Voller Begeisterung setze ich mich an den Schreibtisch. Und dann genügt es schon, die Feder in die Hand zu nehmen und anzufangen, und gleich wird alles ganz anders, als man wollte. Irgendwie plump und verworren. Wenn ein Kapitel fertig ist, fällt einem ein, daß noch etwas fehlt, daß man eine wesentliche Frage viel zu kurz und unverständlich, eine weniger wichtige dagegen in aller Breite und Ausführlichkeit dargestellt hat. Und es beginnt das Verbessern und das Abschreiben, aber das hilft auch nicht weiter. Es ist, als ob man selbst den Willen habe, aber ein Fremder am Werke sei: In Träumen und Gedanken sieht alles anders aus als auf dem Papier, in Buchstaben und Begriffe gefaßt. Und man verliert die Lust. *57

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‫״‬Was soils? Wozu soll ich noch schreiben? Gibt es nicht ohnedies genug interessante, schöne und nützliche Bücher? Und ist dies überhaupt wirklich so, wie ich es mir vorstelle? Vielleicht mache ich den anderen das Verstehen nur schwerer, vielleicht verwirre ich sie nur mit meinem Eifer, es ihnen leichter zu machen?" Ein alter Mensch kann sich leicht irren, wenn er über oder für junge Menschen schreibt. Wenn er aber einem Irrtum erlegen ist, dann kann es leicht geschehen, daß er ihr Vertrauen restlos verspielt, anstatt es zu gewinnen. Außerdem ist es doch viel bequemer, ein Buch zu nehmen, sich unter einen Baum zu setzen und zu lesen oder spazieren zu gehen, als am Schreibtisch zu sitzen und selbst zu schreiben. Wozu schreiben: muß es nicht vielleicht sogar so sein, daß jung und alt gesondert leben? Jeder für sich. Und daß die einen wie die anderen ihre eigene Erkenntnis haben? Man muß wohl gestehen: Aufrichtigkeit und Vertrauen gibt es da nicht. Kinder sprechen nur ungern offen aus, was sie wirklich empfinden oder woran sie denken. Sie vertrauen ihre Schwierigkeiten und Zweifel, ihre Hoffnungen und ihre Träume oder Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit ungern jemand anderem an. Der eine will sich nicht äußern, weil er sich unsicher fühlt: ein und dieselbe Sache erscheint ihm einmal so und dann wieder ganz anders. Und dann geniert er sich. Er hat keine Ahnung, daß die Erwachsenen auch vieles gar nicht sicher wissen, daß auch ihre Vorstellungen von den Dingen voneinander abweichen, und daß auch sie unsicher sind oder sich irren können. Ein anderer will sich nicht äußern, weil er Angst hat, daß man ihn auslacht oder sich über etwas mokiert, was ihm heilig oder wichtig ist. Ein Dritter möchte sich zwar gern äußern, weiß aber nicht, wie er's anstellen soll. Und es ist ja auch besonders schwer, über das zu sprechen, was einem am meisten am Herzen liegt. ‫ ״‬Wie rätselhaft das doch ist." ‫״‬Was ist denn so rätselhaft?" Alles. Alles, was man weiß, und alles, was man vergißt. Wie der Mensch einschläft, was er träumt und wie er aufwacht, alles, was einmal war und niemals wiederkehrt und das, was einmal 158

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sein wird. Erinnerungen und Andenken, Träume, Wünsche und Beschlüsse. Die Erwachsenen sind auf dem Holzweg. Nach ihrer Auffassung haben die Kinder nur eine Zukunft und keine Vergangenheit. Nach ihrer Meinung wollen die Kinder nicht an die Zukunft denken, und daher muß man oft mit ihnen über diese Zukunft sprechen. ‫״‬Als ich noch klein war .. .", sagt das Kind. ‫״‬Und jetzt bist du wohl schon groß?" — Sie lachen. Das tut weh. Mir scheint, ein Greis spricht lieber von seiner Kinderzeit als ein ehrgeiziger Bub. Als ob das Kind-Sein eine Schande sei: Vielleicht ist das deshalb so, weil die Erwachsenen das Kind oft an vergangene Mißerfolge, Irrtümer oder Fehler erinnern und dann voller Stolz bemerken : ‫ ״‬Aber jetzt bist du ja schon älter." Und oft wundern sie sich: ‫״‬Wie gut er sich noch daran erinnern kann. Woher er das wohl weiß?" Sie wundem sich, daß er Menschen, Ereignisse und Gespräche im Gedächtnis behalten hat, welche die Erwachsenen längst vergessen haben. Mich wundert das überhaupt nicht. Alles, was man zum erstenmal erblickt, hört oder tut, bleibt einem am besten im Gedächtnis. Der erste Aufenthalt auf dem Land oder in der Stadt, die erste Eisenbahnfahrt oder die erste Kahnpartie, die erste Photographieras erste Mal in den Bergen oder an der See, im Zirkus oder im Theater, der erste Schultag und der erste gute Freund. Wenn es schon lange her ist, daß man etwas zum erstenmal getan hat, und wenn man dasselbe später noch oft wiederholt hat, dann fließt eines ins andere, alles verschwimmt miteinander und von jedem bleibt ein kleines Stück zurück, und so entsteht ein Bild in der Erinnerung. Was bedeutet das: Erinnerung und Vergessen? Wie kann das geschehen, daß man zuweilen etwas ganz Wichtiges vergißt, sich aber an irgend etwas Nichtiges noch gut erinnern kann; daß man etwas, was erst vor kurzem geschehen ist, vergessen hat, sich aber an etwas längst Vergangenes genau erinnert? Die eine Erinnerung *59

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ist ganz scharf, eine andere verschwommen, wie hinter einem Nebelschleier. Und warum fällt einem gerade jetzt das ein? Niemand weiß genau, wann ihm zum erstenmal ein Hund begegnet ist. Er kennt ihn einfach. Er hat große und kleine Hunde gesehen, weiße und schwarze, Setter, Windhunde, Pudel, Möpse, alte Hunde und Welpen, die noch blind waren, Hunde, die auf einem Fleck verharrten, Hunde, die einander jagten und solche, mit denen er gespielt hat. Er hat einen Hund gesehen, der nach einer Fliege schnappte, einen gutartigen und einen bissigen, einen, der sidi gerade leckte und einen, der bellte, zuschnappte und biß. Einen hungrigen, einen kranken, einen erfrorenen Hund und einen mit gebrochener Pfote. Er hat gesehen, wie Hund und Katze sich begegnen, er hat einen Hund an der Kette gesehen und einen, der überfahren worden war. ‫ ״‬Ich weiß Bescheid, jetzt kenn ich mich schon aus, nun kann ich's schon; ich habe keine Angst mehr, das ist alles kein Geheimnis mehr für mich." Erinnerungen — sie sind unsere Erfahrungen. Sie lehren uns, was wir tun und was wir lassen sollen. So stellt ein jeder seine eigenen Beobachtungen und Betrachtungen an, und immer wieder gibt es etwas anderes, etwas Neues. Man behält etwas, dann gerät es in Vergessenheit, bis es aufs Neue in der Erinnerung lebendig wird. Wie oft bin ich hingefallen, wieviele schmerzliche Überraschungen habe ich erlebt, wieviele Demütigungen und Schrecknisse, ehe ich wußte, was eigentlich verletzen und brennen kann, was Messer, Glas, Hammer und Blech bedeuten können. Was ich von meinen Eltern, von meinen Schulfreunden oder aus Büchern erfahren, was ich gesehen habe, was man mir sagte und was ich gelesen habe — das alles ist meine Vergangenheit mit ihren fröhlichen und traurigen Erinnerungen, und sie diktiert mir meine Regeln des Lebens für die Gegenwart, für den heutigen Tag. Und erst danach kommt die Zukunft. Manche Menschen führen ein Tagebuch: Sie schreiben taglieh nieder, was sich ereignet hat. Viele geben es bald wieder auf, denn das Schreiben ist mühsam, und jeder Tag bringt soviel Neues. Andere stellen in einem Heft die Namen der Städte 160

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und Straßen zusammen, die ihnen bekannt sind, die Titel der Bücher, die sie gelesen haben, die Namen von Bekannten und von Freunden. Das ist gleichsam eine Bilanz der Vergangenheit, die Summe der gewonnenen Erfahrung. Ob die Erwachsenen das Rechte tun, wenn sie immer wieder von dem sprechen, was kommen wird, und Schreckensbilder von der Zukunft malen? ‫״‬Es wird schlimm kommen, es nahen böse Zeiten. An den Gedanken mußt du dich gewöhnen, präg es dir ein. In zehn, in zwanzig Jahren. ‫״‬ Es mag sein, daß junge Menschen nicht so recht daran glauben. Denn die Vorstellung, sie könnten einmal so werden wie der Vater, ist doch sehr abwegig. Ihnen schwebt etwas ganz anderes vor. Mein Gott, die Träume der Jugend! Es ist wunderschön, sich im stillen Kämmerlein oder im Bett auszumalen, was einmal sein wird. Von Reisen und Abenteuern zu träumen, sich vorzustellen, man sei ein berühmter Feldherr oder man verteile Geld unter die Armen, man sei ein Gelehrter, ein Dichter, ein Sänger oder ein bescheidener Lehrer, von anderen Menschen verehrt und geliebt. Man kann sich auch vorstellen, daß einem nicht alles gelungen ist, daß man Hindernisse und Schwierigkeiten, ja sogar Kämpfe und Gefahren überwinden mußte. Aber im Traum sind Hindernisse schön; das Märchen, das man sich selbst erzählt, dauert um so länger, und man kann jederzeit den Sieg erringen und alles gut ausgehen lassen. Ich habe einmal die Kinder in einer Schulklasse gefragt, was sie werden möchten. Ein Bub sagte : ‫ ״‬Zauberer/' Alle fingen an zu lachen. Der Bub schämte sich und fügte hinzu : ‫״‬Wahrscheinlich werde ich einmal Richter, wie mein Vater; aber Sie haben ja gefragt, was ich gern werden möchte.‫״‬ Eben dieses Lachen oder auch Spitznamen verleiten zur Unaufrichtigkeit und zum Versteckspiel. Jeder Wunschtraum ist doch gleichsam solch ein Märchen mit einem Zauberer. Und solche Träume sind wichtig und notwendig. Wie soll ein Mensch denn auf Anhieb wissen, worauf er sich vorbereiten soll. Er muß mancherlei bedenken und vergleichen, 161

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bis er aus zehn verschiedenen Träumen einen Plan für sein Leben machen kann. Was unterscheidet einen Traum von einem solchen Plan? Träume sind wie Ferientage, sie sind reine Freude, sie verpflichten zu nichts. Man sagt: ‫ ״‬Er läßt seiner Phantasie freien Lauf, er schwebt in den Wolken, möchte die Sterne vom Himmel holen/' Oh ja: er fliegt mit den Flügeln seiner Phantasie, er wünscht sich Dinge, die er nicht besitzt, nur so zum Spaß, und greift nach den Sternen, voller Sehnsucht und Verlangen. Warum auch nicht? Am Ende wächst daraus ein Plan, voller Ernst, Strenge und Härte. Er stellt Forderungen und verpflichtet. Ein solcher Lebensplan ist gleichsam ein Gelöbnis, ein Eid auf die Fahne des Lebens. Ist er erst einmal entschlossen, geht er ans Werk und strebt beharrlich und beständig seinem Ziele zu. ‫ ״‬In Geographie habe ich einen Fünfer, ich will fremde Sprachen lernen, Karten und Atlanten studieren, mit meiner Heimatstadt und ihrer Umgebung ganz vertraut werden und Darstellungen von Abenteuern, Tieren und Menschen lesen. Ich will Forschungsreisender werden." ‫ ״‬Ich gebe mich gern mit Kindern ab, ich spiele gern mit ihnen. Ich gebe geduldig Antwort auf all ihre Fragen, ich erkläre und zeige ihnen gern alles, ich helfe ihnen und höre mir ihre Klagen an. Ich bin gut zu meiner kleinen Schwester oder zu meinem kleinen Bruder. Ich erzähle ihnen Märchen, ich zeige ihnen Bilder, sie dürfen meine Bücher haben, ich bin ihnen gegenüber geduldig und aufrichtig. Ich will Lehrer werden." ‫ ״‬Ich gebe mir Mühe, meine Fehler und meine Vorzüge zu erkennen. Ein jähzorniger Mensch kann weder ein Vorbild noch ein guter Pilot oder Erzieher sein. Ich will gerecht, verläßlich, besonnen, tapfer, beherrscht und ehrlich sein." ‫ ״‬Ich möchte einen starken Willen haben." Wer aber nur träumen kann und abwartet, daß alles sich von selbst ergibt und ins Geleise kommt — der wird sich vielleicht bitter beklagen, wenn alles anders kommt und schwerer wird. 162

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‫״‬Ich liebe das, was schwer ist. Ich will erobern, den Sieg davontragen. Ich kenne mich. Ich kann schweigen und befehlen. Ich bin ein Mann, und ich habe Geduld; nachsichtig den anderen gegenüber, streng gegen mich selbst. Und heiter: ich bin nicht so leicht beleidigt und nicht schnell mit Selbstanklagen bei der Hand." ‫ ״‬Ich bin so alt, wie ich bin. Ich schäme mich weder meiner Jugend, noch meiner Gedanken und Gefühle. Ich verlange, daß man mich und das Ziel, dem ich diene, achtet."

Drei Nachträge zu diesem Buch Erster Nachtrag: Ich habe jahrelang über dieses Buch nachgedacht: ich habe mir's in meinem Kopf zurechtgelegt. Das war sehr schwer. Es gibt Regeln des Lebens von geringer Bedeutung und solche, die sehr wichtig sind. Schließlich und endlich habe ich beschlossen, mich an die allerwichtigsten Regeln des Lebens gar nicht heranzuwagen. Nun weiß ich nicht einmal, ob ich es gut gemacht habe. Mancherlei Fehler lassen sich wohl finden, aber keine einzige Lüge. Denn ich habe Achtung vor alten wie vor jungen Menschen und auch vor Kindern. Ich will also ganz ehrlich sein. Die Wahrheit kommt immer an die Oberfläche, wie ö l. Zweiter Nachtrag: Ein Dichter ist ein Mensch, der sehr ausgelassen und tieftraurig sein kann, der leicht aufbraust und leidenschaftlich liebt — ein Mensch, der tief empfindet, der Rührung und Mitleid kennt. Und genauso sind auch die Kinder. Ein Philosoph ist ein Mensch, der sehr gründlich nachdenkt und unbedingt wissen will, wie alles wirklich ist. Und wiederum, genauso sind die Kinder auch. Kindern fällt es schwer auszudrücken, was sie empfinden und woran sie denken, weil man das alles in Begriffe fassen muß. Und schreiben ist noch viel schwerer. Aber Kinder sind ihrem Wesen nach Dichter und Philosophen. 163

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Dritter Nachtrag: Das ist eine Geschichte des fünfjährigen Wiktor. Ich habe sie schon zweimal veröffentlich, aber in Büchern für Erwachsene. Es handelt sich dabei um eine schwer verständliche Geschichte, weil Wiktor sich überstürzte und die ganze Zeit über Tränen in den Augen hatte, als er erzählte, wie der Soldat den Hund getötet hat —‫ ־‬den Hund Fox. Und das ist Wiktors Erzählung: ‫ ״‬Äpfel — ich habe Äpfel gesehen — ganz, ganz kleine — Bäume, ganz groß — man konnte darauf liegen und schaukeln — da war ein Hund — und wenn ein Apfel herunterfällt — aber er liegt da und schläft — die Mutter kommt — ich will allein gehen ‫—־‬und da steht ein Stuhl — und der Hund — irgendein Hund — er hat so arg gebissen — er hatte so scharfe Zähne — also, er hat geschlafen, da hat er ihn gebissen — man muß den Hund verprügeln, weil er gebissen hat — dort ist eine Dame — und Zähne hatte er — ich habe seinen Namen vergessen — Fox hat er geheißen — er hat gebissen und dann ist Blut geflossen — er hat einen Knochen gefressen — Fox, verschwinde, fort mit dir — seine Augen sind ganz groß geworden und dann hat er gebissen, er hat einfach den Knochen liegengelassen und gebissen — ich habe diesem Hund einen Apfel hingeworfen —vom Baum abgerissen und weit geworfen — so einen harten Apfel — ganz süß, ich weiß nicht wie — er hat nur daran geschnuppert — und dann ist ein Soldat gekommen — paff auf den kleinen Hund — paff, so ein schöner — schöner — schöner . . ." Und das ist eine Geschichte der neunjährigen Stefcia: ‫״‬Als wir heimkamen, da lag da hinter diesem Zaun, da, wo das Gitter ist, ein kleiner Vogel. Später, als Roma ihn mitnehmen wollte, da habe ich ihn gesehen; ich wollte ihn haben, und ich habe ihn auch von dem Gitter weggenommen. Als wir ihn schon in der Hand hatten, liefen alle Mädchen zusammen und schauten ihn an. Später haben wir ihn hierher gebracht. Er hatte zierliche graue und weiße Federn, sein Schnabel war ganz blutig, und seine kleinen Augen standen noch offen. Wir haben ihn hierher gebracht, und die Mädchen haben ihn begraben. Sie haben auf dem Hof so eine kleine Mulde gemacht, ihn in 164

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Papier eingewickelt und dann mit Erde bedeckt. Vielleicht hat irgendein Bub ihn mit Absicht totgemacht. Sein kleiner Schnabei war so gespalten, und sein Köpfchen hat so gezuckt. Die Rutkowska hat fast geweint. Wenn sie so etwas sieht, dann will sie es gleich in die Hand nehmen und streicheln, und dann sieht sie aus, als ob sie weinen müßte, aber dann hat sie doch nicht richtig geweint, sie hatte nur Tränen in den Augen/' Das ist die Poesie der Kinder.

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FRÖHLICHE PÄDAGOGIK* Meine Ferien1 Radioplaudereien des Alten Doktors Einleitung In meinen ‫ ״‬Regeln des Lebens" habe ich mich unmittelbar an die Kinder gewandt. Als ich einen Vortragszyklus in einer kleinen Broschüre zusammenfaßte, wählte ich den Titel: Das Recht des Kindes auf Achtung. Der Leitgedanke : das Kind ist ein ebenso wertvoller Mensch wie wir. Diese Radioplaudereien sind ein weiterer Versuch: diesmal auf scherzhafte Weise. (Bald kommt ein Dämpfer — Vorsicht mit den Radiowellen.) Witkiewicz2 hat einmal gesagt: ‫ ״‬Im Grunde genommen ist es so: je näher man einen erwachsenen Menschen kennenlernt, desto weniger nimmt man in ihm wahr, desto weniger weiß man, wer er ist." Von Amiel stammt das Wort: ‫״‬Lassen wir das Leben sich doch frei entfalten. Wir müssen Sorgen, Unruhe und Pedanterie von uns werfen; wir müssen jung und kindlich werden, dankbar und vertrauensvoll." Ohne Pedanterie, wohlwollend und voller Vertrauen im Kinde den Menschen erblicken. Es ja nicht geringschätzen. * Aus: Wybór pism (Ausgewählte Schriften) Bd.IV, S. 103—192. 1 Der Untertitel ‫״‬Meine Ferien" ist aus dem polnischen Original übernommen worden, obwohl keineswegs alle Einzelerzählungen der ‫״‬Frohliehen Pädagogik" Ferienthemen behandeln. 2 Stanislaw Witkiewicz, Verfasser der Novellensammlung ‫״‬Aus der Tatra". Das oben angeführte Zitat stammt aus der Novelle ‫״‬Wojtek Gandara". 166

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Das Kind aus dem Kindergarten Schon am zweiten Tag traf ich zum erstenmal den kleinen Burschen aus dem Kindergarten (das ist das lebhafte Kind, das keinen Appetit hat). Die Mutter stellte ihn mir vor. Sie sagte: ‫ ״‬Gib dem Herrn die Hand, sag dem Herrn Doktor guten Tag/' Er musterte mich mißtrauisch (zog eine Grimasse), und wandte sich ab. ‫״‬Na, sei doch artig". Er gibt mir zwei Fingerspitzen der linken Hand. Die Mutter: ‫ ״‬Man gibt die rechte Hand, die ganze Hand — sei brav: der Herr Doktor hat brave Kinder gern." ‫ ״‬Er ist Doktor?" ‫״‬Es ist nicht schön, ,er' zu sagen. Man sagt ,Herr'." Darauf sage ich (ich möchte den unguten Eindruck verwischen): ‫ ״‬Er kennt mich doch nicht; wozu ihn zwingen, wenn er mich nicht begrüßen will?" Denn wenn sich so ein kleiner Kerl bei der ersten Begegnung abwendet, nur zwei Fingerspitzen der linken Hand gibt und sie schnell wieder zurückzieht, so ist das ein untrügliches Zeichen dafür, daß er nicht gestreichelt und schon gar nicht geküßt werden will — keine Fragen stellen —, man soll ihn nicht einmal richtig anschauen (er will es nicht). Vor Jahren sagte einmal eine Mutter: ‫ ״‬Hab keine Angst, du wirst dich schon noch mit dem Herrn befreunden." Er musterte mich damals auch und sagte: ‫״‬Was soll ich mich mit dem befreunden; der ist doch keine Gesellschaft für mich." Es ist schon sehr, sehr lange her — es war in einem Park —, da spielte ein kleiner Bub neben der Bank (ich saß auf der einen Gartenbank, und auf der Nachbarbank saß seine Tante). Der Kleine gefiel mir, er ähnelte seiner Tante, war auch hübsch; ich sage also: ‫״‬Guten Tag, junger Mann." Verwundert tritt er ein paar Schritte zurück, runzelt die Stirn, klemmt seinen Ball fest unter den Arm, guckt mich an und sagt nichts. Seine Tante: ‫״‬Warum antwortest du nicht? Der Herr hat dir guten Tag gesagt — du bist garstig." Er zuckt verächtlich die Achseln: ‫ ״‬Warum soll ich antworten, ich kenne ihn nicht, das ist doch irgendein fremder Mensch." 167

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Das ist sehr lange her. Schon damals zeichnete sich ein jugendlicher Zwiespalt ab, wenn er auch noch nicht allzu tief griff. (Na, auch ich war damals noch anziehender als heute . . .) Die zweite Begegnung mit dem kleinen Bengel spielte sich an einem Blumenbeet ab. Er war allein. Ich betrachte die Stiefmütterchen. Er spricht mich an: ‫״‬Gib mir ein Bonbon/' Ich sage nichts: ich betrachte die gelben Stiefmütterchen. Er: ‫״‬Was machst du hier, hast du eine Uhr Herr Doktor, dann kann ich sie aufziehen." Ich darauf: ‫ ״‬Da wäre ich schön dumm." Er sagt: ‫״‬Blumen darf man hier nicht pflücken." — ‫ ״‬Das weiß ich." Er wieder: ‫״‬Na, dann gib mir ein Bonbon." Ich antworte so nebenbei: ‫ ״‬Selbst wenn ich Bonbons hätte, würde ich sie nicht mit mir herumtragen, sondern sie zu Hause lassen." Er: ‫״‬Na, dann geh und hol sie doch, ich kann ja hier warten." — Ich sage: ‫ ״‬Du hast mich nicht verstanden; das war die Möglichkeitsform; ich habe keine Bonbons, ich habe Schokolade." — Er wundert sich, war aber verständigungsbereit und sagte: ‫ ״‬Schadet nichts, Schokolade kann ich auch essen." — ‫ ״‬Sicherlieh könntest du das, wenn ich sie dir geben würde, aber ich gebe sie dir nicht." — ‫״‬Warum denn?" — ‫״‬Weil sie so gut schmeckt: ich esse sie lieber selbst." — Lange dachte er über meine Antwort nach, und ich betrachtete weiter die gelben Stiefmütterchen. Er ging ein paar Schritte weg und fragte: ‫ ״‬Gibst du mir nun etwas?" — Ich barsch: ‫״‬Nein." — Darauf er: ‫״‬Du bist ein Dummkopf" — Ich: ‫״‬Und du ein Grobian." ‫״‬Du bist selbst ein Grobian." — Das war unser Wortwechsel. Er schlug mit seinem Stock in die Stiefmütterchen hinein und zog ab. Zum drittenmal trafen wir uns in einer schattigen Allee, (es waren meines Wissens Weißbuchen). Neben mir geht der Hund, hinter mir der kleine Kerl. Er holt mich ein und fragt: ‫ ״‬Haben Sie ein Taschenmesser?" — ‫״‬Nein." — ‫ ״‬Aber einen Füllfederhalter?" — ‫ ״‬Nein." —· Schweigen. Links der Hund, rechts er und ich in der Mitte. (Und die schattige Allee). Er schlug mit einem Stock in die Blätter und sagt: ‫ ״‬Was ich anfasse, das mache ich kaputt." — ‫ ״‬Schon möglich." — Schweigen. Der Hund, ich und er. ‫ ״‬Ob ich wohl brav bin?" — ‫ ״‬Ich weiß es nicht, ich kenne dich nicht, du bist ein fremder Mensch." — Er wundert sich: ‫ ״‬Ein Mensch bin ich?" ‫ ״‬Na, du hast doch zwei Beine." — Schweigen. ‫״‬Das Huhn hat 168

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auch zwei Beine/' —‫ ״ ־‬Aber es hat keine Hände, es hat Federn und einen Schnabel." — ‫״‬Nun, ja", — stimmte er zu. Der Hund (der alte, schwarze, mit den weißen Flecken), die Stille des ländlichen Abends und ich. Aber er fing wieder an: ‫״‬Ob ich wohl brav bin?" Ich blieb stehen, betrachtete ihn von Kopf bis Fuß, überlegte eine längere Weile und sagte: ‫ ״‬Ich weiß nicht, ich hab' dich noch nicht richtig kennengelernt." — ‫ ״‬Sie werden mich noch kennenlernen, ich bereite allen Kopfzerbrechen, keiner hat vor mir Ruhe ; wenn man zu mir etwas sagt, redet man wie zu einer Wand, stark wie ein Gaul muß man sein, um mich zu ertragen." — ‫ ״‬Oho." ‫ —־‬,Ja, ich bin lebhaft und eine Strafe Gottes, ich bin lebhaft und ein schwieriges Kind, ich bin eine wahre Plage, und ich bin dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten." — ‫ ״‬Wer hat dir das gesagt?" — ‫״‬Mama, meine Mutter. Denn Mama platzt schon der Kopf, glauben Sie es mir nicht?" ‫ ״ ־־־‬Warum nicht? Das kann schon sein." — ‫ ״‬Ich bring' Mama noch ins Grab, und Papa sagt (mein Vater), ich sei eine tolle Nummer und ein Unikum." — ‫ ״‬Eine tolle Nummer bist du wirklich, wage ich zu behaupten; ein Unikum aber bist du leider nicht." ‫—־‬Er beachtete meine herabsetzende, boshafte Bemerkung nicht und fuhr mit einem Anflug von Trauer fort: ‫ ״‬Aus mir wird nichts; ich werde höchstens ein Straßenjunge und ein Bandit." — ‫ ״‬Wer hat dir denn das gesagt?" — ‫ ״‬Unser Dienstmädchen: meinetwegen sind schon drei Mädchen gegangen; aber meiner Mutter tut es nur um eine leid, weil die so gut gekocht hat: der ist aber die Galle übergelaufen." — ‫ ״‬Deinetwegen?" ‫ ״ ־־־־‬Mhm. Sehen Sie, hier habe ich mich gestern geschnitten; aber bei mir wird alles gleich wieder heil, wie bei einem Hund, und einen Satan holt der Teufel nicht. Darf man das sagen?" — ‫״‬Wer sagt denn das?" — ‫ ״‬Mein Vater, dem ich wie aus dem Gesicht geschnitten bin; nicht wahr, ich höbe hübsche Augen?" -‫ ״ ־־‬Das weiß ich nicht: ich bin kein Augenarzt." — ‫ ״‬Alle Tanten sagen das . .. und ich werde noch mein Leben zerstören." ‫ ״‬Das versteh ich nicht." ‫ ״‬Ich verstehe das auch nicht. Aber ich krieche in jeden Winkel, und aufs Dach steig ich auch: es ist ein Wunder, daß ich noch nicht zu Tode gestürzt bin, das weiß ich alles; und, Herr Doktor, weißt du auch alles?" ‫״‬Nein, ich weiß sehr wenig, wenn ich auch aus mancher Brennerei Schnaps getrunken habe." ‫ ״‬Ich habe auch 169

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schon Schnaps getrunken, aber der brennt; aber man muß sich daran gewöhnen, wie an das bittere Bier; ein Mann muß sich eben daran gewöhnen. Ein Mensch bin ich?" ‫ ״‬Gewiß: du bist ein Mensch, ein unbekanntes Wesen." ‫ ״‬Ich weiß, welches die rechte Hand ist (es ist nicht schön, die linke Hand zu geben). Und ich habe einem Herrn die Hosen mit Honig beschmiert und ihm den Kneifer zerschlagen. Immer hat er gefragt, wen ich mehr liebe, die Mama oder ihn." ‫״‬Und was hast du gesagt?" ‫״‬Daß ich den lieb habe, der zu mir lieb ist." ‫״‬Und er?" ‫ ״‬Gelacht hat er, weil ich dauernd jemand nachäffe, damit sie lachen." ‫ ״‬Äffst du gerne jemand nach, daß man über dich lacht?" ‫״‬Nein, das kann ich nicht ausstehen." Da ruft ihn die Mutter zum Schlafengehen; er aber: ‫ ״‬Fang' mich doch." ‫ ״‬Ich denke nicht dran." Darauf er ohne jede Rücksicht: ‫ ״‬Ich werde herumrennen wie verrückt." Gesagt, getan. Dann warf er sich in den Sand und wälzte sich herum, bis der Hund ihn aufstöberte, nieste und empört weglief. Dann aber (‫״‬Wie siehst du wieder aus, ist das vielleicht eine Art, was werden die Leute denken, das ist ja eine Schande"), als er schon zum Waschen ging ‫ —־‬riß er sich von der Mutter los, kam zurück, gab mir die rechte Hand und sagte: ‫ ״‬Ich hab meine Verrücktheiten nur gespielt, gute Nacht, Herr Doktor." Vielleicht ist er wirklich ein Unikum? Er stieg durch das Fenster in mein Zimmer und zerkrümelte meinen Tabak. (Es ist besser, daß ich jetzt das sonnige Zimmer im ersten Stock mit dem Korbstuhl gemietet habe.) Aber das Finale fand auf einer Lichtung, unter einer Kiefer, auf einem Liegestuhl statt. Ich lese. In der Nähe spielen Kinder. Er kommt zu mir her. ‫ ״‬Was liest Du da?" ‫ ״‬Du siehst doch, ein Buch." ‫ ״‬Märchen?" ‫ ״‬Ein mineralogisches Werk; stör mich nicht." ‫ ״‬Sind da Bilder drin?" ‫״‬Ja, aber die verstehst du nicht." ‫ ״‬Zeig her." Ich zeigte sie. ‫ ״‬Ich habe einen Elefanten gefüttert und habe gar keine Angst gehabt; willst du mit mir boxen?" Ich, mit finsterem Gesicht: ‫ ״‬Geh weg, ich will jetzt nicht mit dir reden." ‫״‬Bist du böse?" ‫״‬Nein, aber ich lese." ‫ ״‬Du willst deine heilige Ruhe haben; das will auch Mama, denn sie hat keinen Augenblick Ruhe." ‫ ״‬Aber ich will zwei Stunden Ruhe haben, nicht nur 170

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einen Augenblick." ‫״‬Dann trag mich doch mal ,Huckepack': Ich habe heute einen schlechten Tag." ‫ ״‬Ich auch." ‫ ״‬Gib mir die Brille." ‫״‬Verschwinde, hörst du?" Er gehorchte, sprang weg und warf einen Kiefernzapfen nach mir. Ich sage also langsam und betont: ‫ ״‬Zweimal sage ich dir, daß du gehen sollst. Zweimal, und d a n n . . . " ‫ ״‬Gibst du mir eine auf die Pfoten?" ‫״‬Du hast Hände, keine Pfoten." ‫ ״‬Gibst du mir einen Klaps?"3 ‫ ״‬Nein, Klaps — das ist ein häßlicher, ausländischer Ausdruck. Zweimal sage ich es dir, und dann kriegst du eins auf die Hand (nicht auf die Pfote). Einmal." ‫ ״‬Einmal?" ,Ja." ‫ ״‬Schlägst du fest, ich haue nämlich mit den Fäusten, und beißen und spucken tu ich auch." ‫ ״‬Ich sage dir jetzt zum erstenmal: mach, daß du fortkommst." Er ging etwas zur Seite. Ich tue so, als ob ich lese ; aber ich passe auf. Wieder warf er einen Zapfen nach mir. Er geht weiter, dreht sich um, bleibt stehen und schaut; wieder wirft er einen Zapfen. Ich sage: ‫ ״‬Geh weg, das ist mein letztes Wort: das zweite und letzte mal, du weißt doch?" Ich bereite mich auf eine Sprung vor; in der linken Hand halte ich das Buch, als ob ich läse. Meine rechte Hand ist in Bereitschaft. Er warf. Ich sprang — und hatte ihn schon. ‫״‬Laß mich los!" ‫״‬Ja, aber nicht jetzt." ‫ ״‬Laß mich oder ich beiße." ‫ ״‬Du bist doch kein Alligator." ‫ ״‬Doch, ich spucke." ‫״‬Davon werde ich nicht sterben. Kranke Kinder haben mich gebissen und nach mir ge‫־‬ spuckt, aber du bist gesund." Ich halte ihn fest, nehme ihn um die Mitte — es gelingt mir, ich lege das Buch auf den Liege‫־‬ Stuhl und habe beide Hände frei. Ich setze mich hin und versuche, ruhig zu atmen. ‫״‬Willst du eins auf die linke oder auf die rechte Hand?" ‫ ״‬Laß mich los!" Die Kinder hörten auf zu spielen (Es gibt eine Klassensolidarität der Kinder angesichts der Gefahr.) Ich habe Lampenfieber: der Schuß muß treffen, muß sachlich sein; was wird, wenn mir die Hand ausrutscht und ich das Ziel verfehle? Und er windet sich und versucht, sich loszureißen. Aber der arme Wicht wollte nur Luft schnap‫־‬ pen für die zweite Runde. Ich nutzte das geschickt aus, und — schon hatte er eins. Er riß sich los, rannte weg, stampfte wütend den Sand und schleuderte mir eine Beleidigung entgegen: ‫ ״‬Ein ekelhafter Rotzer bist du und ein eigensinniger Hund", und mit 3 ‫״‬Klaps": hier steht der deutsche Ausdruck im polnischen Original.

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allem Ungestüm warf er sich auf die anderen Kinder: sogar die Zwölfjährigen rannten davon. Man darf weder schlagen noch in Zorn geraten. Ich lese: ‫ ״‬Nehmen wir an einem Regentag eine Unze schwärzester Erde von einem festgetretenen Weg in der Nähe einer Fabrikstadt. Sie besteht aus Lehm, der mit Ruß, Sand und Wasser vermischt ist. Alle diese Bestandteile befinden sich in einem ohnmächtigen Kampf gegeneinander, und sie richten dabei ihre natürlichen Eigenschaften sowie ihre Kräfte zugrunde . . . Der Sand verdrängt den Lehm, der Lehm stößt das Wasser ab, der Ruß verschmutzt alles. Wenn diese Bestandteile vollkommen in Ruhe gelassen werden, entsteht aus dem Lehm — ein Saphir, aus dem Sand ‫ —־‬ein Opal, aus dem Ruß — ein Diamant; drei wertvolle Steine, welche die Fähigkeiten haben, alle Strahlen der Sonne zu reflektieren, wie wenn sie in einen Schneekristall gefaßt w ären."4 * Die Frau des Hauses nähte mir eigenhändig drei Knöpfe an. Und ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich erhielt die Erlaubnis, diese Geschichte zu erzählen, wenn ich dabei nur nicht erwähnte, wo die Handlung spielte, und wer daran beteiligt war, — und kein Wort über die Erwachsenen, ausschließlich für Kinder bis zu vierzehn Jahren. Alles incognito: der Fluß, der Hund und das nahe Städtchen. Andernfalls wäre ich ein Klatschmaul, ein Verleumder; sie würden widerrufen und mir heimleuchten, aus der Sommerfrische, aus dem Landpensionat, aus dem Gutshof. Anmerkung: Ich bin ein unbedingter, unerbittlicher Gegner körperlicher Strafen. Schläge werden, auch für Erwachsene immer nur ein Narkotikum sein, niemals aber ein Erziehungsmittel. Wer ein Kind schlägt, ist ein Henkersknecht. Niemals ohne Vorwarnung, und nur in Notwehr — einmal! — auf die Hand, und nie im Zorn (und auch das nur, wenn es gar nicht anders geht). 4 Ruskin, Ethik des Staubes [sehr lesenswert].

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Der Ausflug Eine Kahnpartie. Ob die Mütter es wohl erlauben? Sie hatten nichts dagegen. Wann? Heute. Mit einem Kahn? Mit einem Kahn. Gleich nach dem Frühstück, bis in die Stadt, bis zum Mittagessen. Alle Kinder bis zum vierzehnten Lebensjahr und ich ; eine Kahnfahrt in die anonyme Stadt (wenn wir das schaften; denn es ist weit). ‫״‬Wer darf mit?" (Denn das kleine Mädchen will auch mit). ‫״‬Also gut." ‫״‬Aber sie ist noch so klein?" ‫ ״‬Das macht nichts, es ist sogar besser: denn sie ist leicht." ‫״‬Aber der kleine Bub aus dem Kindergarten will auch mit. Darf er nicht?" ‫ ״‬Warum?" ‫ ״‬Nehmen Sie ihn mit?" ‫״‬Wieso soll ich ihn mitnehmen; der Kahn nimmt ihn mit, wenn er will, nicht ich." ‫ ״‬Aber er war doch ungezogen?" ‫ ״‬Wenn er an Land unartig war, so ist er vielleicht gerade auf dem Wasser ein tüchtiger Seemann. Nun, und wenn wir ihn zu Hause lassen, wird er dann etwa artig werden?" ‫ ״‬Aber er hat Sie doch beleidigt?" ‫״‬Das stimmt, ich weiß: er hat mich beschimpft (aber im Affekt, als Unterlegener); soll ich mich an einem Besiegten rächen? Er hat sich gewehrt: das ist sein gutes Recht; er hat mannhaft gekämpft (und er ist stark) ; ihm fehlt es nur noch an Übung. Bei mir waren es nur mein Schwergewicht und die langjährige Routine; es war kein leichter Sieg, ich achte ihn als ritterlichen Gegner, und die Beleidigung habe ich aus meinem Gedächtnis gestrichen. Jedoch eine Bedingung: ‫ ״‬Im Kahn wirst du neben mir sitzen. Einverstanden?" ‫״‬Ja". ‫ ״‬Gib mir deine Hand darauf." Er gab sie mir. Seine Mutter: ‫ ״‬Siehst du, wie gut der Herr Doktor ist; bedanke dich schön und gehorche ihm aufs Wort." Der Kahn gilt auf dem Gutshof als zuverlässig und stabil, der Fischer, der rudert, als erfahren, und ich — als Verfasser von Büchern: 365‫ ״‬Arten, Sprößlinge wochentags und an Sonn‫ ־‬und Feiertagen vor Unglücksfällen zu schützen." Und ich schwimme wie Walasiewicz, wie Kusociński 4*. Also heißt es nur: ‫״‬Bleibt das Wetter auch schön; soll man Jacken mitnehmen und Brote mit Quark, kippt der Kahn auch nicht um, wie steht es mit Mützen als Sonnenschutz — und 4a Zwei in den zwanziger Jahren international erfolgreiche polnische Sportler (Läufer).

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werde ich mit einer solchen Bande auch fertig, werden sie aufs Wort folgen, werden wir pünktlich zum Mittagessen zurück sein, weil man sich sonst beunruhigen würde; und dann niemais, niemals wieder, bis wir alt und grau werden.. . Die Mütter, Tanten und Großmütter hatten Vertrauen zu mir. Hiermit sage ich ihnen meinen Dank. Ab er . . . eine andere neue Reihe von Fragen: ‫ ״‬Sollen der Fußballdreß, das Pfadfindermesser und das Briefmarkenalbum mitgenommen werden, und der Hund, er ist ja auch noch nicht vierzehn Jahre alt." In dem ganzen Chaos und Wirrwarr bin ich der nüchterne und vorausschauende Anführer. Ich beherrsche die Situation (das heißt: wer neben wem sitzen soll, wer in der Bootsspitze und wer am Steuer.) — Kein Wasser trinken, nicht über die Bootwand hinauslehnen. Und bitte für die Kleinsten Ersatz!löschen mitnehmen. Und den Buben flüsterte ich empfehlend zu, sie sollten ‫ ״‬auf Vorrat." Der kleine Bub aus dem Kindergarten sträubte sich, er habe eben erst und brauche nicht schon wieder. Ich fragte ihn: ‫ ״‬Hast du wirklich?" ‫״‬Ja." ‫״‬Zeig mal deine Zunge." Das wollte er nicht, da ging er lieber noch einmal. (Auch die Mädchen zierten sich, sie seien doch schon erwachsen und sie genierten sich; aber dann gingen sie doch —‫ ־‬auf Vorrat.) Embarquement. Ich zähle: ‫ ״‬eins, zwei, sechs, acht." ‫״‬Wenn der Sturm uns auch umtobt. " Eine kleine Meinungsverschiedenheit: sie will nicht neben ihm, und er nicht hinter ihr sitzen. Der Kahn schaukelt leicht. Das kleine Mädchen dicht bei mir, der kleine Bub aus dem Kindergarten mit seinem Stock möchte mir lieber (zaghaft) nicht so nah sein. Die Sirene (ein Pfiff). Wir stoßen ab, gleiten dahin, winken, Stille. Dieses Mädchen (dessen Tante im Ausland war) war bis jetzt nur zweimal beleidigt; jetzt, unterbrach es als erstes die vollkommene Stille: ‫״‬Herr Doktor, er lehnt sich hinaus, er wird noch ins Wasser fallen: bitte, Herr Doktor, er spritzt." Dann geschah etwas höchst Ungehöriges: der kleine Bub aus dem Kindergarten streckte ihr die Zunge heraus. 174

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‫ ״‬Fängst du schon wieder an? W art nur, ich sag's deiner Mutter. Ich hab ja gesagt, daß es so kommen wird. Wir nehmen dich nie mehr mit. Er spritzt." (Der kleine Bub aus dem Kindergarten hatte mit einem ab‫־‬ gebrochenen Zweig leicht gerudert, aber nun peitschte er wirklieh das Wasser mit seinem Stecken.) ‫ ״‬Da, sehen Sie, was er macht? Ooh, er hat mir das ganze Kleidchen .. . Hier will ich nicht länger sitzen." Streng sage ich zu ihm: ‫ ״‬Spritze nicht." Und das kleine Mädchen: ‫״‬Nehmen Sie ihm doch den Stecken weg." Ich darauf eben so streng zu ihr: ‫ ״‬Schreib mir nicht vor, wras ich tun soll: das weiß ich selbst." Aber der kleine Bub aus dem Kindergarten, versteht sich, rudert weiter mit seinem Stecken und fragt: ‫״‬Wie oft sagst du es mir?" ‫״‬Was denn?" ‫ ״‬Na, daß ich nicht spritzen soll?" ‫״‬Ich verstehe dich nicht." Und er, schon ein bißchen ungeduldig: ‫״‬Wie oft, bis du mir einen Klaps gibst, auf die Pfoten, einmal?" ‫ ״‬Ach so; dreimal sag ich es, so mach ich das immer." ‫״‬Dreimal. Das, was du schon gesagt hast mitgerechnet?" ‫ ״‬Ja gewiß." Mit seinem Stecken schlug er leicht aufs Wasser und fragt: ‫ ״‬Zählt das?" ‫ ״‬Nein, so darfst du." Aber das Mädchen — unzufrieden — will den Platz wechseln. Der Kahn kippt leicht zur Seite, meine kleine Nachbarin drückt meine Hand etwas fester. Aber das war der einzige Zwischenfall. Wieder konzentrierte Stille. Ruhe. Bilder, wechselnde Landschäften. Plätschern. Wasser, Lichtfunken, blauer Himmel. Das GründerWiesen und der Sand am Ufer. Stille. Wir gleiten dahin. Ich muß lächeln. ‫ ״‬Ob ich mit der Bande fertig werde?" Womit soll man hier fertig werden? Der Mensch, — ein stilles, gutes, sanftes, liebenswertes, ein wenig naives Geschöpf — nur reizen darf man es nicht; man darf ihm nicht unrecht tun, es nicht aufstacheln oder seiner Freiheit berauben. Sogar sie und er sind jetzt still. Ich denke so vor mich hin: ein merkwürdiger Ausdruck — Fürsorge. Woher mag er kommen, wer hat ihn ausgedacht? Weshalb? Muß man gar backen und rösten, um sich verständigen zu können und Übereinstimmung zu erzielen5? 5 Unübersetzbares polnisches Wortspiel: opieka = Fürsorge, dopiekać = gar backen, ausbacken, przypiekać = rösten. 175

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‫ ״‬Herr Doktor, gibt es Drachen?" ‫ ״‬Ich glaube nicht/' ‫ ״‬Hat es schon einmal welche gegeben?" ‫״‬Die Historiker erwähnen sie nicht; vorsintflutliche Tiere hat es gegeben." ‫״‬Und die Sintflut hat es wirklich gegeben?" ‫ ״‬Es hat vielerlei gegeben." ‫ ״‬Vielleicht gibt es aber doch einen Drachen auf einer unbekannten Insel?" ‫״‬Das bezweifle ich: dazu hat der Mensch die Welt schon zu sehr durchforscht." ‫״‬Wie wird man groß?" ‫״‬Das ist eine lange Geschichte: vielleicht erzähle ich irgendwann am Abend einmal davon." ‫ ״‬Kann ein Frosch Schnupfen bekommen? Wird man blind, wenn man in einen Blitz schaut? Wer ist stärker, ein Haifisch oder ein Krokodil? Gibt es giftige Bäume? Ist es noch weit bis zur Stadt?" Wir landen. Eine Lichtung. Eine Quarksemmel. Ein Völkerball-Spiel. Das kleine Mädchen pflückt Blumen: einen Strauß für die Mutter. (Schade, daß wir keinen Faden haben, zum Glück ist aber ein Stückchen Schnur da.) Vielleicht sollten noch ein paar Blätter dazu? Sie will nicht. ‫״‬Versuch's doch mal." Sie tut es. ‫״‬Ist das hübsch?" ‫ ״‬Ich denke schon." Die anderen haben den kleinen Buben aus dem Kindergarten vom Spiel ausgeschlossen, weil er störte und den Ball beinahe ins Wasser geworfen hätte. Jetzt sitzt er traurig da. Er hat eine Ameise gesehen und beschüttet sie mit Sand. ‫ ״‬Ob ich sie quäle?" ‫ ״‬Sie läuft fort, du siehst es ja. Kleine Kinder quälen oft Ameisen und Schmetterlinge, ja sogar Hühner; sie verstehen das noch nicht, weil sie noch zu klein sind." Stille. Das Wasser fließt dahin. Das Sträußchen für die Mutter — ja mit dem Grün ist es hübscher. Und dort — dort spielen die Kinder ‫ ״‬Völkerball". Der kleine Bub aus dem Kindergarten: ‫״‬Jetzt ist es genug, sie soll leben; geh, kleine Ameise; sagen Sie doch den anderen, daß ich mit ihnen spielen darf." ‫״‬Wie kann ich ihnen das sagen, wenn sie nicht wollen, weil du gestört hast?" ‫״‬Aber Sie können es doch befehlen." ‫ ״‬Befehlen kann ich nicht; denn das ist ihr Spiel und ihr Ball." ‫ ״‬Du bist doch der Doktor." ‫ ״‬Aber sie sind gesund, und das Spiel ist kein Thermometer und keine Grippe, audi kein Aspi­

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rin! Geh doch selbst, vielleicht lassen sie dich jetzt mitspielen." Sie nahmen ihn auf Probe, nur das kleine Mädchen war dagegen, ‫״‬weil er im Kahn die Zunge rausgestreckt und das Kleidchen bespritzt hat". Also setzte es sich zu mir und teilte mir mit, daß es sich langweile, daß es im nächsten Jahr mit seiner Tante nach Montekatani6 fahren werde ; daß es dort alle Bequemlichkeiten gäbe, und daß in jedem Zimmer in Montekatani eine Badewanne und Kultur sei, und überhaupt alles elektrisch; die Tante liebe nur die Riviera und das richtige Meer. ‫״‬Ja sicher, aber auch hier ist es schön. Ich zum Beispiel bedaure es nicht, daß ich hierher gefahren bin, obwohl ich auch lieber in die Berge wollte." ‫ ״‬Nein, ich bedaure es; denn das Wasser im Fluß ist schmutzig, die Mädchen sind nicht aufrichtig und die Buben kindisch und unhöflich; als es einmal Eis gab, taten sie so, als hätten sie noch nie im Leben Eis gesehen. Alles ist so primitiv." Wir seufzten beide: sie und ich. Die anderen aber spielen, und wir unterhalten uns. In die Stadt kamen wir nicht mehr, dazu war es schon zu spät. Eine Spur von Enttäuschung: denn der eine wollte sich eine neue Batterie für die Taschenlampe kaufen und die andere etwas in der Apotheke für die Mutter, dieser wieder — ein Reiseandenken; denn in der Stadt gab es gewiß ‫״‬historische Ruinen", vielleicht sogar eine altertümliche Grotte. Das hätte man doch besichtigen müssen. Denn was ist schon ein Aufsatz nach den Ferien ohne Ruinen und Denkmäler? Man kann sich noch so viel Mühe geben, die Lehrerin will solche Attraktionen, als ob die Kinder daran schuld seien, wenn es keine Ruinen gibt. Ein klein wenig Enttäuschung war zwar dabei, aber sie stimmten doch zu, daß es schön gewesen sei, und beim ersten Mal sei es schon besser, pünktlich zurückzukommen, ‫ ״ —־‬im andern Fall müßte man schon für einen ganzen Tag fahren und Koteletts mitnehmen — in einer Woche oder sogar schon morgen, um das gute Wetter auszunutzen. Stimmts?" 6

Montekatani — richtig: Montecatini.

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‫ ״‬Stimmt, aber nicht mit mir. Morgen ist ausgeschlossen. Ob es in einer Woche geht, weiß ich nicht. Ich bitte euch, eine Verpflichtung, ein vereinbarter Termin — das ist ein verbum. Man darf nichts leichtsinnig versprechen." Sie gaben mir recht. ‫ ״‬Erst in einer Woche? Vielleicht erleben wir das gar nicht mehr. Vielleicht, Krieg und Giftgas . . . " ‫״‬Aber, aber . . . Ehe ich es vergesse: da hat mich doch einer gefragt, ob sich ein Frosch erkälten könne? Und irgendeine, du warst es wohl, hat gesagt: ,Dummkopf!' Einer hat gelacht, und der Fragende hat sich geschämt. Ich habe nicht gleich geantwortet, weil die Frage mich überrascht hat. Nun, ich bin mir nicht sicher, ich müßte erst in Büchern nachschlagen; ich glaube aber, daß ein Frosch sich erkälten kann; so ein Froschkatarrh ist natürlich anders, ob nun mit oder ohne Niesen, das weiß ich nicht; aber der Frosch hat auch Atemwege, und so ist eine Entzündung — so oder so —‫ ־‬durchaus möglich. " Später entwickelte sich noch eine Dikussion darüber, ob es angenehmer sei zu niesen als zu gähnen, ob Husten und Heiserkeit oder aber Schluckauf lästiger seien; ob Zahnschmerzen schlimmer seien als Bauchschmerzen, und was häßlicher sei, Sommersprossen oder Mückenstiche? Im Kahn beschlossen wir, eine wissenschaftliche Gesellschaft zu gründen. — Dort kannst du zum Beispiel fragen, wie der Mensch heranwächst, oder das Gehirn oder ein Dichter. — Wir könnten nach dem Mittagessen oder abends zusammenkommen, sogar ohne Vorsitzenden und ohne Telefon. Wer halt Lust hat. Teilnahme freiwillig. Auch der Bub aus dem Kindergarten — und auch das kleine Mädchen. Wenn es die Mutter erlaubt. ledermann, sei er nun aus der vierten Abteilung oder aus der fünften Klasse, versteht auf seine Weise, wenn er nur zuhören will. Er hat sogar das Recht einzuschlafen. (Ich bin manchmal auch bei wissenschaftlichen Sitzungen eingeschlafen.) Wir waren also wieder da: niemand ist verlorengegangen, auch kein Mäntelchen, keiner ist in einen Strudel geraten, es gab keinen Regen, in vorbildlicher Ordnung, trocken, mit aufgesetzten Hütchen sogar eine halbe Stunde vor dem Mittagessen — sind wir zurückgekehrt. 178

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Diese Kahnpartie war sehr wichtig, dem äußeren Anschein nach ein Nichts, und doch so wichtig. Scheinbar nichts. Aber das kleine Mädchen weiß nun, daß grüne Blätter in einem Sträußchen hübsch aussehen, und der kleine Bub aus dem Kindergarten hat die Ameise nicht im Sand erstickt: wer weiß, vielleicht ist die Ameise auch gerade heimgekehrt und erzählt, welch ein Abenteuer sie zu bestehen gehabt hat; aber sie hat sich gerettet und lebt. Der kleine Bub aus dem Kindergarten fragte mich, ob ich alles wisse. Ich weiß nur ein bißchen, ein ganz klein wenig, ein zehntel Teilchen. Und ich versuche zu erklären: ich kenne fünf Arten — ohne Schlägereien auszukommen; gewiß gibt es mehr, aber ich kenne fünf — erprobte. Merke: wenn ich mit Kindern zusammen bin - ‫ ־‬dann leiste ich ihnen Gesellschaft und sie mir. Wir sprechen miteinander oder auch nicht. (Die, die unbedingt die Hauptrolle spielen ,wollen, stören nur.) Es ist meine und ihre Stunde, wenn wir zusammen sind; unsere gemeinsame gute Lebensstunde — die meine und die ihre. Und eine, die nie wiederkehrt.. . Schlägereien Ich bitte dich, du bist doch nicht jähzornig, nicht streitsüchtig. Du bist aufbrausend, 000h. Um die Wahrheit zu sagen, auch ich . . . Ich auch . . . Ich weiß es noch: in der Schule habe ich einmal voreilig Freundschaft geschlossen (ich war damals so alt wie du heute), habe ganz unüberlegt mit einem Kameraden mich angefreundet, aber dann merkte ich, daß das schlecht war: er war ein Taugenichts, ein Schwindler, irgendein Faulpelz. Ich will ihm die Freundschaft aufkündigen, aber er klebt wie Pech an mir. Was sollte ich tun? Ich sage ihm: ‫ ״‬Es ist so und so, und du bist dies und jenes, also verschwinde." Er lacht und war nicht einmal beleidigt; er greift mich nur ständig an, scheinbar zum Spaß: einmal stellt er mir ein Bein, dann wieder schlägt er mir die Mütze vom Kopf, oder rempelt mich an. Ich hätte auch anders können, aber ‫ —־‬dann stopfte er mir eine Ladung Schnee in den Kragen. Ich sah rot: egal was kommt; und wenn man mich 179

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von der Schule jagt — gut, nach Sibirien schickt —, dann eben Sibirien, der Galgen — dann eben der Galgen . . . Auch er war stark, ebenso der Lehrer. Und ich mit den Fäusten drauflos, auf den Kopf, den Nacken, den Hals. Wer war schuld? Diesmal ich: Arrest, eine schlechte Betragensnote, und daheim, nun — die Eltern mußten kommen. Ja, ich tu mich schwer, bis heute. Warum? Weil ich heftig bin. Weder Frau noch Enkelkind. Meine Kollegen: der eine hat eine gute Stellung, der andere ist pensioniert und besitzt Haus und Garten. Wenn so jemand stirbt, legt ihm die Witwe einen Kranz aufs Grab; aber ich — ich bin allein und schlage mich mit diesem meinem Fehler herum. Eine Strafe habe ich mir ausgedacht, eine Buße. Sooft ich einen Streit vom Zaun breche, muß ich mit der Straßenbahn (der Linie Null oder Pe) dreimal um Warschau herumfahren. Oder ich darf einen halben Tag lang keine Zigarette rauchen. Ich sage nichts: Man kann voreilig auch manches Gescheite tun, dann ist es sogar eine Tugend. Zum Beispiel hastig die Zähne zusammenbeißen und, ver . . . nochmal. . . etwas lernen. Aber man muß auf sich achtgeben, denn es kann Schlägereien geben und Streit; der eine schießt und trinkt; ein anderer gerät in Wut, weil Not herrscht, und wenn er auch kein Dieb ist, so hat er doch unbesonnen, unvorsichtig, ungestüm gehandelt — und sich ins Elend gestürzt. Der eine hat schlechte Karten, er wirft sie hastig weg und spielt nicht weiter; der andere verdoppelt voreilig seinen Einsatz. Mein Freund, man muß sehr auf sich achtgeben. Einmal kommt eine Mutter zu mir: sie hat drei Söhne. Buben so klar wie Kristall: einer geht für den anderen durchs Feuer. Aber . . . Beulen, Haarbüschel, Schöpfe, blaugeschlagene Augen, blaue Flecken, zerbrochene Stühle und Federhalter; schon beklagen sich die Nachbarn, daß die Decke einstürzt. Und ihre Mutter ringt die Hände: ‫ ״‬Hilf uns, Psychologe/' Ich ließ die Buben sich vor mir aufstellen und beginne nachzuforschen. — Sie aber: ‫ ״‬Er fängt immer an, soll ich mich denn geschlagen geben, er ist immer der erste." Ich frage, wieviel Schlägereien es in einer Woche gibt. Sie wissen es nicht, sie zählen sie nicht. Das ist ein Fehler, man muß zählen: nach Punkten. Eine kleine Rauferei: ein Punkt, eine mittlere: zwei Punkte, eine 180

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erbitterte Schlägerei: drei Punkte. Wieviele Punkte braucht ihr, von Sonntag zu Sonntag? Immer auf schreiben und zählen, zählen. Wenn du dir zehn Punkte zubilligst, dann reicht das für fünf mittlere Raufereien. Ja, und? Du willst raufen, jetzt, auf der Stelle, aber du denkst: nein — schade darum, die Woche hat eben erst angefangen, ich spare mir den Punkt auf, für alle Fälle. Du sagst dir: ‫ ״‬Heute nicht, morgen verprügle ich ihn." Du hast riesengroße Lust, loszuschlagen, aber — du schiebst es auf (denn du zählst ja mit und willst dein Konto nicht überziehen). Du hast dich noch kein einziges Mal geschlagen, und du möchtest dich nicht mit einer Hypothek belasten. Es ist schon Mittwoch, und du hast noch immer Anrecht auf fünf Schlägereien. Da — er hat schon wieder angefangen, er hat dich geärgert, dich beleidigt; die Hand juckt dir, wenn du nicht mitzähltest, hättest du auch schon angefangen; denn warum sollst du dir das alles gefallen lassen; aber du denkst: an Wochentagen fällt es leichter, weil Schule ist; dann bist du beschäftigt, also — schlagen wir uns ein für allemal am Sonntag. Oder du hast schon angefangen, dich zu prügeln, hörst aber plötzlich auf, um die Schlägerei noch als mittlere und nicht als erbitterten Kampf rechnen zu können. Oder der Sonntag kommt, und du denkst: ‫״‬Ach, wozu denn?" Du bezähmst dich, mäßigst dich, hältst dich zurück und wirst weniger empfindlich. Und diese nicht wahrgenommenen Schlägereien legst du, verzeih den Vergleich, gleichsam auf die Postsparkasse, du sparst sie dir zusammen, wie ein Rentner — für spätere Zeiten. Du denkst: ‫ ״‬Es ist besser, sich einmal richtig zu schlagen als dreimal nur eben so." Du klimperst mit diesen gesparten Schlägereien wie mit Goldmünzen der Überlegenheit und der Selbstbeherrschung. Das Wasser läuft dir im Munde zusammen, eine solche Lust hast du aufs Raufen (denn du bist heftig), aber nein; was hast du schon davon; und daß er etwas abbekommt, das ist der einzige Gewinn; daß es ihn erwischt; aber dich erwischt es auch — auch dich. Die zweite Art (das Zählen ist die erste), die zweite: der Spiegel. Du schließt dich allein in ein Zimmer ein und gibst eine Vorstellung vor dem Spiegel, ein Phantasie-Theaterstück. Du machst ein böses, ein beleidigtes Gesicht und sagst: ‫ ״‬Hau ab, 181

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sonst gibt es w as/' Und vor dem Spiegel — ein Scheinkampf. Du schaust zu und fuchtelst mit den Armen, mit den Fäusten in der Luft herum, wie eine Windmühle, wie ein Verrückter, du schlägst um dich, windest dich, ganz rot im Gesicht — Augen wie Salatschüsseln, schweißnasse Nase, zeigst die Zähne, wirfst dich herum, machst Sprünge wie ein Esel, schon lassen die Kräfte nach, aber — wohl oder übel — du hast dich darauf eingelassen und mußt jetzt weitermachen. Und nach dem Kampf? Schau in den Spiegel. Nun? Erstaunt, irgendwie dumm, unterlegen, so ziehst und zupftst du deine Kleidung zurecht, machst die Knöpfe zu, schaust dich an, wie unsinnig, komisch, erbittert — aufgeplustert. Nicht von ungefähr sagt das Sprichwort: ‫״‬Der Zorn schadet der Schönheit." Eine vergleichende Beobachtung: Hunde und Hähne. Du läßt nach der Schlägerei den Kopf hängen und er den Schwanz, dir fehlt ein Knopf oder du hast ein Loch im Ärmel, du schüttelst dich, der Hahn auch, kläglich und elend. Die erste Art also : die Schlägereien zählen, die zweite — der Spiegel. Die dritte: Sublimierung. Es schickt sich einfach nicht, du willst dich nicht herumzanken wie die Mädchen. Aber du kannst es machen wie die Buben. Die Mädchen reden viel, und sie werden auch rot dabei, und ihre Nasen glänzen, und die Augen sind wie Salatschüsseln und, ta-ta-ta, ta-ta-ta, und zum Schluß heißt es: ‫ ״‬Es lohnt sich nicht, herumzustreiten, mit wem schon, ich gebe dir gar nicht erst Antwort." Ein Bub kann das ganz anders. Er sagt: ‫״‬Du hast wohl Angst, fang doch an, versuch es nur, du Angsthase." Und du — zischst voller Verachtung: ‫ ״‬Stimmt, ich fürchte, der Zahnarzt könnte dir später Goldkronen einsetzen müssen." Und weiter: wenn er fragt (das ist übrigens eine ganz hinterhältige Frage), wenn er dich also fragt — ‫ ״‬Willst du eine gewischt bekommen?" ‫־‬- dann sage nicht ‫ ״‬Ja". Oder wenn er droht: ‫ ״‬Haha, du kriegst gleich was ab", und du dann sagst: ‫ ״‬Versuch es doch", dann wird er später zu seiner Rechtfertigung behaupten, du hättest es ja gewollt, deswegen habe er es auch versucht. Im allgemeinen wird einem geraten, sich auf die Zunge zu beißen, wenn man zornig ist. Ein unpraktisches Mittel. Denn was soils? Du willst den anderen zermalmen, vom Erdboden 182

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verschwinden lassen, wirst du dich wie ein Tölpel dann in die eigene Zunge beißen? Aber es gibt eine andere Möglichkeit: bevor du das erste Mal zuschlägst, sag diese lateinische Beschwörungsformel auf: concordia res parvae crescunt, discordia maximae dilabuntur7. Man kann es auch auf Polnisch sagen: ‫ ״‬Zgoda buduje, niezgoda ru jn u je/'8 (Die Buben behaupten, auf Lateinisch wirke es besser.) Sie beklagen sich, daß der Spruch zu lang sei und es schwerfiele, ihn zu schaffen. Man könnte also, nur so für sich, dreimal täglich, auf Zucker, nach nach dem Essen, mit geschlossenen Augen, langsam oder auch geschwind, wiederholen: concordia res parvae crescunt. Denn siehst du, die fünfte Art, ein starker Wille ‫—־‬das ist die wichtigste. Du nimmst die Zügel kurz; es will mit dir durchgehen, aber du, Freund — nein ! Unerschütterlich ist dein Wille, ein Spartaner, ein Maulkorb. Kein Kampfhähnchen, kein junger Hund, nicht aufbrausend — sondern vir, vir. Nur nicht auf einmal; sonst übernimmst du dich und wirst unterliegen. Nein, du siehst das Ziel, du zählst die Schlägereien, Schritt für Schritt gehst du der Besserung entgegen. Sieg. Warum das alles? Ein Mensch ohne Willen — das ist ein Bübchen, ein unnützes Federknäuel, ein Hampelmann (der zappelt, wenn man am Schnürchen zieht). Ein Mensch ohne festen Willen — das ist ein Schilfrohr, ein Tölpel, ein Staubkom, ein Pantoffel, eine Schlafmütze, ein Ratloser, ein aufgeblasener Luftballon. Ohne einen starken Willen — was? Ein Strohwisch, ein Wollknäuel, ein Hohlsaum, eine Pfefferminzpastille, ein Biskuit. Haha, ohne Willen — eine Kapuze, ein Fetzen Stoff, eine Heftnaht, eine Rosine, ein Lampendocht, ein Schatten, eine Brummfliege. Ein Mensch ohne festen Willen — das ist eine wohlriechende Seife, ein Fußkissen, eine Karausche in Sahnesoße, ein marinierter Steinpilz, ein Kleister, ein Spanferkel, das einen Buchsbaumzweig im Rüssel hat; ein willenloser Mensch — das ist ein Staubläppchen, ein Schönheitsfleckchen auf der Wange, eine kleine Masche im Seidenstrumpf, Kalbsfüßchen in Gelee. 7 concordia res parvae crescunt, discordia maximae dilabuntur — wörtlieh : durch Eintracht werden kleine Dinge groß, durch Zwietracht zerfallen auch die größten. 8 ‫״‬Friede vermehrt, Unfriede zerstört.‫״‬

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Ich weiß, du bist aufbrausend. Ich nicht — keine Moral‫־‬ predigten, ich möchte mich nicht einmischen. Das sind eure ganz persönlichen und komplizierten Angelegenheiten. Ich weiß: ein Zusammenstoß, Kurzschluß, Dynamit, Explosion, Schlägerei. Ihr kennt eure Angelegenheiten besser. Oft läßt es sich wirklich nicht vermeiden. Aber an einem Tage dreimal raufen, drei Blitzschläge, drei Dynamitexplosionen? Dreimal aufeinander einschlagen? Das ist zuviel. Das ist Mißbrauch. Ich weiß: die Erwachsenen haben es leichter, sie haben Gerichte: das Amtsgericht und das Landgericht, das Ehrengericht und das Handelsgericht, das Seegericht, das Kriegsgericht und das Disziplinargericht; daher kommt es auch nur selten zu einem Duell. Deshalb verbiete ich den Buben das Raufen auch nicht, wenn die Kräfte ausgeglichen sind, oder wenn der stärkere seine Schläge abschwächt und der schwächere keine unerlaubten Griffe anwendet. Verboten ist es aber, die Streitenden gegeneinander aufzuhetzen mit solch niederträchtigen Zurufen wie: ‫ ״‬Du läßt dich unterkriegen? — Feigling! — Fester! — Pack ihn!‫( ״‬Wie zu einem Hund.) Es ist verboten, schadenfroh zu sein und den Verlierer auszulachen. Die Buben rufen: ‫ ״‬Herr Doktor, die schlagen sich.‫ ״‬Ich gehe sofort hin, schaue zu und passe auf, aber ich trenne die Streithähne nicht. Warum auch? Wenn ich den einen bei der Hand fasse, dann nützt das der andere aus und schlägt zu, also noch schlimmer. Und? Unterbreche ich den Kampf nicht fachgerecht, dann beenden ihn die beiden später eben anderswo. Oder sie haben Angst, ich könne sie trennen, bevor sie fertig wären; also mogeln sie in der Eile, und anstatt eines sauberen Kampfes schaue ich einem verunstalteten, verdorbenen Torso, einem Fragment, einem denaturierten Bruchstück einer Schlägerei zu. Am schlimmsten ist ein Neuling bei solch einer Schlägerei: er weiß nichts, er sieht nichts voraus, er kann nichts: gleich schlägt er mit der Faust dem andern auf die Nase. Es gibt Nasen, die ungewöhnlich schnell zu bluten anfangen; ein erfahrener Ringer weiß das und vermeidet — um des lieben Friedens willen — solche Schläge; aber ein Neuling fällt gleich damit hinein. Denn die Erwachsenen schreien sofort: ‫״‬Blut — 184

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Totschlag." Aber es ist bei weitem kein Totschlag, sondern nur die besondere Eigenschaft der oben erwähnten Nase. Ich weiß: man darf niemandem hinterhältig an die Gurgel springen, niemanden in den Leib schlagen, ihm den Kopf nicht gewaltsam herumdrehen, ihm die Finger nicht ausrenken (das gilt für die zweite Kampfphase). Nicht an der Kleidung reißen ! Denn Kleidung, Stühle und Gegenstände überhaupt — das sind nur neutrale Beobachter. Aber ein geschickt geführter Kampf, nach den Regeln, mit Technik, konzentriert, eine Schlägerei per se — ein würdiger, ehrlicher Kampf —, das ist schon etwas. Und gerade deshalb: nur in gegenseitiger Achtung, nicht so oft, nicht zur Alltäglichkeit herabgewürdigt, nicht ausgeartet darf es geschehen. In seltenen Fällen, ausnahmsweise, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden läßt, aber nicht wegen einer Lappalie, nicht irgendwie oder um irgendwas. Daher habe ich mir diese fünf Arten ausgedacht. Ein starker Wille, eine Bremse. Oh ja, der Wille — die Kralle des Löwen, die Feder des Adlers, die Schwinge des Falken — nicht die Faust, sondern der Wille! Merke: Ich bin kein Anhänger von Schlägereien. Aber als Erzieher muß ich sie kennen. Und ich kenne sie. Ich verurteile sie nicht. Ich bin damit einverstanden. Ich möchte eine ganze Stunde darüber sprechen, auch zwei. Ein aktuelles Thema. Denn nur verbieten — nichts weiter? Die kleine Megäre Es ist nicht schlimm, daß du ein bißchen geweint hast; aber jetzt hör auf jemanden, der es gut mit dir meint. Glaub mir: vielleicht habe ich es ein wenig grob gesagt, aber es war die Wahrheit. Die reine Wahrheit. Gewiß, man kann auch die Wahrheit in Watte wickeln und verschnüren. Zum Beispiel sagt ein Bub zum anderen: ‫״‬Du Idiot", er könnte auch sagen: ‫״‬Du bist nicht maßgebend." Oder anstatt ‫ ״‬er hat betrogen, gestohlen, er ist ein Dieb" kann man sagen, er habe Vertrauen mißbraucht. Ich habe es gesagt, es ist geschehen. Ich möchte mich rechtfertigen, ich möchte es dir erklären. Ich verteidige die Buben nicht; ich weiß, daß sie dir zugesetzt haben. 185

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Aber du hast als erste einen von ihnen: ‫ ״‬Rotznase" genannt. Er ist aber auch schon zwölf. Aus welch gutem Grund, warum soll er (der Gleichaltrige) eine Rotznase sein? Die Buben haben so etwas ganz und gar nicht gern. Denn ein Bub ist, ich bitte dich, weder kindisch noch dumm, er hat nur einen anderen, ihm eigenen Verstand. Du sagst also Rotznase zu ihm, und er — aber erst später — zu dir: du seist eingebildet, du seist schon eine Autorität (siehe Montekatani) — und du hättest den Verstand mit Löffeln gefressen, du seist kokett und bildetest dir etwas ein, und Flirt und eine gepuderte Nase, und du wolltest die anderen becircen. Ich habe das gesagt (nicht als Mentor, sondern als Zeuge), und durchaus nicht, um die Buben zu verteidigen; denn ich weiß, daß auch sie einem zusetzen können. Ein Mädchen, ich bitte dich, wächst schneller, es wird früher groß; in zwei oder drei Jahren holt der Bub das Mädchen ein und überholt es; aber einstweilen ist es für ihn unangenehm, wenn sie damit imponieren will, daß sie eine junge Dame sei — und dabei ihr ganzes Gewicht, ihre Haltung und ihr Aussehen spielen läßt — und du bist ihm zu nahegetreten. Da habe ich einen Ausdruck gebraucht — ein kleines Wort. Und du brichst gleich in Tränen aus, bist beleidigt bis ins Grab. Nur wegen dieses einen Wortes? Denk doch mal nach: was hast du gesagt? Und zwar nicht über einen Bub, sondern über ein Mädchen. Du hast gesagt, daß ihr Kleid aus einem Kramladen stammt, daß sie nicht für einen Groschen Geschmack hat und ihre Mutter audi nicht, du hast sie beschimpft: lauwarme Nudel, und angeblich sogar: zoologischer Affe und: sie hätte Augen wie ein Mai-Kalb. Lauwarm—zoologisch—Mai? Und daß sie sich als deine Freundin aufgespielt habe, als du Schokolade hattest, und daß sie eine Angeberin sei und später ein Engel mit krummen Beinen sein werde, daß sie Volleyball mit Pfoten wie aus Holz spiele und poetisch tue, damit die Buben ihr nachliefen, und daß du von einer Klassenkameradin erfahren habest, daß sie abschreibe und nicht begriffe, was in der Zeitung steht, und über Kopfweh klage und Selbstgespräche führe. Aber das stimmt nicht, denn sie hat nur ihr Gedicht für die Aufführung vor sich hingesprochen, ihre Rolle. 186

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Du bist fein und wohlerzogen, die Lehrerin hat dich dazu ausersehen, ein schönes Bukett zu überreichen; und trotzdem hast du gesagt (widersprich mir nicht), daß du nicht mit den Stinktieren spielen möchtest. Also sind auch die Kleinen, die Jüngeren böse auf dich; sie haben dir den Ball gegeben, du hast sie zweimal soweit gebracht. Und du hast behauptet (kein Widerspruch!), ich hätte mich eine halbe Stunde mit dem kleinen Buben aus dem Kindergarten gebalgt, und es sei ein Wunder, daß wir beide noch lebten. (Angeblich hast du sogar ‫״‬Lumpenpack" gesagt.) Aber das ist nicht so wichtig, und es geht mir nicht darum, dich zu beschuldigen, sondern ich will mich rechtfertigen wegen dieses einen kleinen Wortes, damit du mir verzeihst. Denn dort, wo auf beiden Seiten guter Wille ist, dort endet alles gut. Wenn ich zum Beispiel jemanden anschreie (weil ich muß), sage ich gleich darauf: ‫ ״‬Ich bin dir böse bis zum Mittagessen oder bis zum Abendbrot", oder, wenn er etwas ganz Schlimmes angestellt hat, sogar ‫״‬bis zum nächsten Morgen". Und ich spreche nicht mit ihm und er nicht mit mir, er darf es nicht. Also kommt er mit einem Kameraden zu mir und dieser fragt mich: ‫ ״‬Kann er einen Ball bekommen?" Ich aber antworte: ‫ ״‬Sag ihm, daß er einen kleineren Ball nehmen kann, aber er soll nicht Fußball damit spielen." Der Missetäter sagt: ‫ ״‬Gut", aber da ich böse bin, höre ich ihn nicht, und frage also: ‫ ״‬Was hat er gesagt?" ‫ ״—־‬Daß es gut sei." Na, dann gut. Man muß sich irgendwie zu helfen wissen. Ich habe verschiedene Mittel in meinem pädagogischen Arsenal, in meiner, wenn ich es einmal so sagen darf, Erziehungs-Apotheke : vom gutmütigen Brummen und Tadeln über Knurren und Fauchen bis zum äußerst wirksamen Schimpfen. Ich habe diese meine Arznei-Sammlung gründlich ausgearbeitet. Manchmal genügt ein ‫ ״‬Na, weißt du", — und ein trauriges Kopf schütteln — gleich einem Pendel; oder: ‫ ״‬Laß das bleiben", und ich schüttle den Kopf. Oder: ‫ ״‬Was hast du denn davon?"; oder: ‫״‬Es läßt sich nicht ändern, es ist geschehen, aber jetzt weißt du Bescheid." Er ist aber schon rot geworden, oder ihm kommen sogar die Tränen — es kommt also vor, daß du ihn noch trösten mußt. 187

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Aber oftmals muß man nach dem Glas mit den starken, strafenden Ausdrücken und Redewendungen greifen; (denn es gibt kleine Vergehen und erzkriminelle Taten. Man muß schon eine ganze Plejade verschiedenartiger Worte zur Verfügung haben). Weißt du, ich habe bemerkt, daß der ständige Gebrauch der‫־‬ selben Ausdrücke deren Effekt mindert und ihre Wirksamkeit abschwächt. So übt zum Beispiel ‫ ״‬Springinsfeld‫ '׳‬keinerlei magische Wirkung aus, im Gegenteil, es verstimmt nur: denn weder springt er, noch ausgerechnet ins Feld. Ganz anders, wenn ich losschreie: ‫ ״‬Ach du — Motorisierung, du Lux-Torpedo, du Sturmwind, du Perpetuum Mobile." Ich vermeide die Monotonie, erneuere mein Repertoire und beziehe die verschiedensten Gebiete mit ein. Die Ornithologie: ‫ ״‬Ach du Krä‫־‬he." Die Instrumentenkunde : ‫ ״‬Du Pfeife, du Zimbel!" Man kann nie voraussehen, was gerade nützen wird. Ich kannte einen Lausbuben, mit dem ich es auf die eine wie auf die andere Weise versuchte, ‫ —־‬nichts. Ich schimpfe mit HauptWörtern — nichts; bis ich ihn einmal anschreie: ‫״‬Ach, du Ef‫־‬dur." Und danach verhielt er sich den ganzen Tag über mucksmäuschenstill. Auf die einen wirken lange Ausdrücke, auf die anderen kurze. Also: ‫ ״‬Du Desorganisator" oder: ‫ ״‬Du bist ein Snob, ein Spießer, eine Type." Der Effekt ist immer größer, wenn der Buchstabe rrr vorkommt. Das deutsche ‫״‬Donnerrr-wetterrr" hat schon etwas für sich; aber wir kommen durchaus ohne Import aus; die Inlandsproduktion reicht völlig. Ich schätze die Folklore sehr: ‫ ״‬Ach, du Taugenichts, du Tunichtgut, du unfolgsamer." Wenn ich brülle: ‫ ״‬du BauernHimmel", ist das sogleich mit dem Duft von Heu und Harz verbunden. Oder historisch-politische Beschimpfungen (manchmal auch gut): ‫״‬Barbar, Vandale, Catilina, Inquisition, Targowica9, 9 Die Konföderation von Targowica konstituierte sich im Frühjahr 1792, um die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 — die erste kodifizierte Verfassung des nachantiken Europas — zu beseitigen und die ‫״‬Goldene Freiheit" der Adels-Anarchie wiederherzustellen. Diese Konföderation war siegreich, wenn auch nur mit Hilfe einer russischen Armee von 100000 Mann; sie führte aber damit zugleich entgegen ihren Absichten die zweite Teilung herbei, die den vollständigen Untergang der ersten

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Demarche, Anschluß10, Freimaurer, Diktator, Duce, Benito, du H it l. . . (nein — nein), du Napoleon." Zur Verstärkung ist der Gebrauch der Vorsilben ,extra' oder ,erz' immer gut. Also zum Beispiel ‫ ״‬Erzdummkopf, Extratollpatsch". Eine elementare Abneigung empfinde ich gegenüber Eigenschaftsworten wie : widerspenstig und aufsässig. Sie sind irgendwie rauh und ätzend. Ich sage nicht: ‫ ״‬Faulpelz" und ‫״‬Esel", und ‫ ״‬Idiot" nur aunahmsweise. Ich glaube, das ist irgendein Komplex, ein Groll, ein Echo der eigenen Erlebnisse aus meinen Kindertagen. Du Heulpeter — auch nicht; auch das ist eine Kränkung aus meinen eigenen Jugendjahren. Wenn ein Kind weint (nicht etwa schreit oder nur Krach schlägt, sondern in Tränen ausbricht, dann ärgert es sich nicht einfach, sondern es leidet wirklich) — dann gebührt ihm, dem Ratlosen, Mitgefühl und Hilfe. Du hast mir das, was ich zu dir gesagt habe, übelgenommen. Vielleicht sind in deinen Tränen sowohl Zorn als auch verletzter Stolz, widerstreitende Gefühle ; aber es tut mir leid, siehst du, ich möchte dich wieder froh machen und dich davon überzeugen, daß angesichts dieser meiner Fülle von Donnerschlägen und Sturmwinden dieses eine Wort beinahe harmlos war . . . Denn glaub nur nicht, daß das schon das Ende ist. Es gibt Zusammenstöße ganz verschiedener Art. Ein Bub bestand zum Beispiel einmal hartnäckig darauf, eine ganze Gurke zu bekommen. Ich sage nein", er will sie doch, ich sage ‫ ״‬ein Stück", er will sie ganz: ‫ ״‬Was ist das für ein Größenwahn, welch ein Wolkenkratzer, — dich hat die mania grandiosa gepackt." Und spottend: ‫״‬Hätte das jemand je gedacht: eine ganze Gurke . . . " Oder ich will schlafen — aber er möchte gerade Eisenbahn spielen, Räuber und Gendarm, Kiepura11, Krieg, Banditen. polnischen Republik einleitete. Seither gilt der Ausdruck ‫״‬Targowica" im polnischen Sprachgebrauch als gleichbedeutend mit ‫״‬Landesverrat" oder ‫״‬Staatszerstörung". 10 Der Ausdruck ‫״‬Anschluß" (gemeint ist der Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938) steht hier in polnischer Orthographie als ‫״‬anszlus". 11 Jan Kiepura, ein in der Zwischenkriegszeit auch in Deutschland bekannter Sänger, der mit der deutschen Schauspielerin und Sängerin Martha Eggerth verheiratet war.

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Das geht nicht. Ich stelle ihn vor mich hin und sage: ‫ ״‬Oh, du Feuerprobe meiner Geduld, du Prüfstein meiner Ausdauer, du immerwährender Nekrolog meiner goldenen Ruhe und meiner Freiheit." Er schaute mich an und begriff es irgendwie auf seine Art, denn dann meinte er: ‫״‬Na, gut, dann werde ich eben mit Bauklötzen spielen." Und wie war das mit jenem Mädchen? Sie hatte meinen Regenschirm genommen, meinen Hut und Mantel angezogen, und so getan, als sei sie die kleine Shirley12. Ich rufe ihr also zu: ‫ ״‬Was bist du für eine — magister elegantiarum, Adeptin der Choreographie, du Usurpatorin, du photogener Extra-Erzfilmstar." Sie war beleidigt (auch ‫ ״‬tödlich" beleidigt), murmelte etwas vor sich hin, ich glaube, etwa: ‫ ״‬er liebt mich nicht; er ist mir böse". Was hätte ich sagen sollen? Immer nur: artig, unartig, häßlich? Das glaubt sie mir ja doch nicht: sie weiß es genau, die kleine Bestie, daß sie wirklich hübsch i s t . . . Ein Bub hat sein Heft verloren und ich sage: ‫ ״‬Du bist eine tragische Gestalt." Er hat den Wecker aufgezogen, daraufhin ich: ‫ ״‬Du bist eine verdächtige Person." Dann wieder hat er gerauft: ‫ ״‬Du bist ein finsterer Charakter, ein Erzschurke." Oder jemand benimmt sich unanständig — ein Mädchen beklagt sich darüber, daß er derartige Ausdrücke gebraucht. Ich sage also: ‫ ״‬Du bist ein Monstrum der Unzucht. Eine Ausgeburt satanischer Vergehen. Ich vertreibe dich aus meinem Herzen, du Ferkel, bis zum Nachtessen." Und damit basta. Glaubst du vielleicht, das hilft? Nein, meine Liebe, aber es schadet auch nicht. In der ärztlichen Kunst nennt man das: ut aliquid fieri videatur13. — Ein erfahrener Arzt weiß das. Er weiß, daß es gilt, primum, non nocere14. Nicht schaden und geduldig abwarten. Und nie sagen, daß jemand unverbesserlieh sei, und daß aus ihm nichts würde. Im Gegenteil — immer betonen, daß dies nur vorübergehend so sei, daß alles gut werde, und daß es nur zuweilen Schwierigkeiten und Mißverständnisse gäbe, daß sich das alles ausgleiche und in Zukunft besser werde. 12 Gemeint

ist der amerikanische Kinderstar Shirley Temple. 13 ut aliquid fieri videatur (lat.) = damit es den Anschein hat, als ob etwas geschähe. 4 primum, non nocere (lat.) = vor allem keinen Schaden anrichten.

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Denn wenn ein Bub — ich bitte dich — schon zum Beispiel wirklich nur noch aus Verzweiflung mit den Zähnen knirscht, wenn er weder nach rechts noch nach links schaut und weder ,Muh' noch ,Mäh' sagt, dann behaupten die andern, daß er im Quadrat — nein —, daß er in der vierzigsten Potenz ein SuperOber-Hyper-Tollpatsch sei. Ich sage zu ihm: ‫ ״‬Du würdest erst mit fünfzig Jahren ein vernünftiger Bub werden." Oder: ‫ ״‬Erst dein Sohn, dein Enkel oder dein Urenkel werden so sein, wie es sich gehört — erst an deinem Urenkel wird die Menschheit Nutzen und Freude haben." Ich sage nicht: ‫ ״‬Hundertmal muß man es dir sagen." Hundertmal — das ist ungenau und ärgerlich zugleich. Er erwidert sofort: ‫ ״‬Überhaupt nicht hundertmal", und er hat recht damit. Also sage ich vielmehr: ‫ ״‬Ich habe es dir am Montag, am Dienstag, am Mittwoch, am Donnerstag, am Freitag, am Samstag und am Sonntag wiederholt", oder: ‫ ״‬Schon im Januar, Februar, März, April, Mai, Juni habe ich dir das gesagt." Ich behaupte nicht, daß das gar nicht hilft, sondern nur, daß es wenig hilft, zu wenig. Und ich erreiche gleichzeitig zweierlei: ich ermuntere sie zu weiteren Anstrengungen über einen längeren Zeitraum hinweg, und ich bilde sie weiter: er behält etwas, er lernt die Wochentage und die Monate. — ‫ ״‬Ich habe es dir im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter gesagt." — Oder ‫״‬beim Morgengrauen, am frühen Morgen, am Mittag, in der Abenddämmerung". So lehre ich sie und bereichere ihren Wortschatz. Nicht ‫ ״‬hundertmal" — das ist eintönig, dürftig, empörend. Jemand ist trotzig. Du Trotzkopf — nein. Besser: ‫״‬Diversion, Streik — italienischer Streik, Okkupations-Streik — Lockout15, du Negativist, du Votum separatum, du liberum veto/ ' 16 15 ‫״‬Lockout‫ ״‬bedeutet auch im polnischen Sprachgebrauch (‫״‬lokaut‫)״‬ die Aussperrung von Arbeitern durch den Unternehmer. 16 Das Liberum Veto (die ‫״‬freie Stimme‫ )״‬bezeichnete die im polnischen Parlament seit 1652 gewohnheitsrechtlich anerkannte Befugnis eines einzigen Abgeordneten, einen Reichstagsabschied (eine ‫״‬Konstitution‫ )״‬zu verhindern und damit den Reichstag zu sprengen. In den regulären Reichstagen der ersten Polnischen Republik war — wie etwa auch in den Generalstaaten der Vereinigten Niederlande oder in der amerikanischen Föderation der dreizehn alten Staaten bis 1787 — Einstimmigkeit

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Später wird er dann fragen: ‫ ״‬Ach bitte, was heißt ,Vandale', was bedeutet ,tragische Gestalt', was ist ein ,liberum veto'?" Auch mit dir war das so — es ist mir herausgerutscht; auch du wirst einmal vernünftig und tüchtig werden, voller Verständnis für deine Familie sorgen und gewiß in jeder Lage umsichtig und tapfer handeln, und deshalb habe ich jetzt zu dir gesagt, — in der Verkleinerungsform und — das mußt du gerechterweise zugeben —, daß du eine kleine Megäre seist. Auch du wirst wachsen. Noch bist du ja keine große M egäre... Merke: Jede Schulklasse, jeder Hof, jeder Kinderspielplatz hat seine kleine Megäre. Du wirst sie nicht ändern. Du kannst nur dafür sorgen, daß sie keinen Schaden anrichtet. Denke daran: mit ihrem eigenen Kreis zerstritten, möchte sie sich in die Gunst der Erwachsenen einschleichen. Stoße sie nicht ganz zurück, aber bleib sachlich und halte auf Distanz. Vorsicht! Sie haben Krallen, diese kleinen Raubkatzen. Ein Märchen für die Jüngste ‫ ״‬. . . Da stehen sie, Brüderchen und Schwesterchen, die beiden kleinen Waisenkinder, und halten Ausschau; und was sehen sie, ein kleines Haus haben sie erspäht, ein kleines Haus sehen sie. Er fragt: ,Was ist das?', und sie sagt: ,Irgendein kleines Haus.' Er fragt: ,Warum ein kleines?' und sie antwortet: ,Das weiß ich nicht.' Sie weiß ja nicht, wer darin wohnt. Ein kleines Haus, kleine Fenster und kleine Türen, ein kleiner Schornstein auf dem Dach und ein Rauchwölkchen. Und der kleine Bub und das kleine Mädchen stehen davor und schauen es an und halten einander an der Hand. Da kommen plötzlich Zwerge, die tragen Erdbeeren in ihren kleinen Töpfen. Glaubst du vielleicht, das seien ganz gewöhnliche Zwerge? Nein. Diese Zwerge haben kleine Flügel." erforderlich, wenn ein Gesetz Rechtsgültigkeit erlangen sollte. Damit hatten die absolutistischen Nachbarmächte die Möglichkeit, durch Bestechung eines einzigen Abgeordneten fast jeden Reichstag zu zerreißen und damit die Republik im Zustande ständiger Anarchie zu halten — eine Möglichkeit, von der die Preußische Monarchie im 17. und im 18. Jahrhundert weitaus am häufigsten Gebrauch machte. Daher gilt das ‫״‬Liberum Veto" oder das ‫״‬Votum Separatum" im polnischen Sprachgebrauch seit dem 18. Jahrhundert als Symbol bewußter Staatszerrüttung.

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‫ ״‬Weiße.‫״‬ ‫ ״‬Freilich weiße. Ganz bestimmt weiße. Vielleicht hatte aber ein Zwerg auch blaue oder rosa Flügel. . .‫״‬ ‫״‬Nnnein.‫״‬ ‫ ״‬Nun, dann nicht, wenn es dir nicht gefällt; mir ist es gleich. Du kannst eine Farbe aussuchen, welche du willst. Also: die Zwerge tragen kleine grüne Töpfe mit roten Himbeeren darin.‫״‬ ‫ ״‬Mit Erdbeeren.‫״‬ ‫״‬Mit Erdbeeren. Ich habe mich vertan. Und sie haben kleine weiße Flügel.‫״‬ ‫ ״‬Wie kleine Engel.‫״‬ ‫״‬Hmm. Gewiß. Weiße, wie kleine Engel, saubere weiße; und sie haben auch saubere Hände. Sie haben ihre Hände und ihr Gesicht gewaschen. Zwerge waschen sich gern. Möchtest du auch kleine Flügel haben?‫״‬ ‫ ״‬Nein.‫״‬ ‫״‬Warum denn nicht?‫״‬ ‫ ״‬Ich möchte nicht.‫״‬ ‫ ״‬Sie würden dir aber doch nichts tun? Man kann kleine Flügel haben und trotzdem nicht fliegen, wenn man nicht w ill. . .‫״‬ ‫ ״‬Erzähl weiter!‫״‬ ‫ ״‬Gut. Du bist aber sehr altmodisch. Was sollten sie dir schon tun? Schau, auch die Vögel haben Flügel, die Fliegen, die Schmetterlinge und die Bienen.‫״‬ ‫ ״‬Was hast du da für eine Kugel?‫״‬ ‫ ״‬Ein Mikrophon.‫״‬ ‫״‬Ja?‫״‬ ‫ ״‬Ja! Eine Art Telefon . . . Die Zwerge haben saubere kleine Nasen und Ohren. Ein Hund hat zum Beispiel kein Taschen‫־‬ tuch. Er nimmt seine Zunge, leckt und schon ist seine Hunde‫־‬ nase sauber. Die Fliege wäscht sich mit ihren Beinchen und die kleine Katze . . . " ‫״‬Das hab' ich schon einmal gesehen, wie eine Katze sich mit der Pfote wäscht.‫״‬ ‫ ״‬Ich hab mal gesehen: wie ein Spatz im Sand gebadet hat und wie sich einmal eine kleine Katze geputzt hat. ‫ ״ ״‬Das hab ich schon hundertmal gesehen. Und die Katze heißt Morusek.‫״‬ 193

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‫״‬Du darfst nie sagen, wie jemand heißt. Du mußt einfach ,Bum' sagen" ‫ ״‬Ich weiß schon: Morusek Bum. Wozu ist diese Kugel?" ‫ ״‬Nicht anfassen. Das ist ein wissenschaftliches Gerät. Ein ganz, ganz feines und genaues Instrument. Es könnte kaputtgehen." ‫״‬Hast du gehört, wie ich Krach geschlagen habe, morgen?" ‫ ״‬Gestern abend? Natürlich, ich bin ja dein nächster Nachbar. Alles habe ich gestern gehört." ‫ ״‬Gestern." ‫״‬Die Mutter hat dich gewaschen, aber das magst du nicht, denn du badest ja in einem richtigen Fluß, warum dann in der Schüssel?" ,Ja .‫״‬ ‫ ״‬Ich habe einmal einen Buben gekannt . . . " ‫״‬Bum?" ‫״‬Ja. Der mochte das auch nicht. Er sagte, daß er immer Wasser in die Ohren bekommen hat. Seine Mutter war sehr nervös und rubbelte ihn immer feste ab. Das tut weh." ‫ ״‬Tut weh." ‫״‬Dieser Bum behauptete, er brauche gar keine sauberen Ohren, um glücklich zu sein. Er sagte immer, sein Hals wäre gar nicht schmutzig, sondern nur braun von der Sonne. Er war wohl der Meinung, das Wasser müsse nach dem Waschen so schwarz wie Teer sein. Sonst sei's doch nicht der Mühe wert. Sich zu waschen, so sagte er, das sei doch überhaupt längst überholt. Und er sei noch nicht so tief gesunken, daß er sich zweimal am Tag kämme und die Zähne putze." ‫ ״‬Ist die Kugel ein Andenken?" ‫ ״‬Nein, aber sie ist wichtig. Ein Mikrophon." ‫ ״‬Ist das ein Andenken? Meine Mutter hat einmal eine Brosche verloren, die war ein Andenken; da hat sie geweint." ‫ ״‬Ooo. Und ich habe da so etwas Hübsches in einem Buch gelesen." ‫ ״‬In diesem hier?" ‫ ״‬Nein, in einem andern. Von einem Mädchen, dessen Mutter auf dem Klavier gespielt hat. Die Mutter spielt ganz lang, und das Mädchen steht da und hört zu. Es hat sich ans Klavier gelehnt und gelauscht." 194

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‫״‬Und dann?" ‫ ״‬Seine Mutter spielt ein trauriges Lied; dann ist es zu Ende. Und das kleine Mädchen fragt: ,Was waren das für Tränen, die du geweint hast, Mutter? ‫״ ׳‬ ‫ ״‬Ich kann traurige Märchen nicht leiden. Erzähl jetzt weiter." ‫ ״‬Gut. Also die Zwerge spielen lustig miteinander. Sie flattem so fröhlich mit diesen rosa Flügeln . . . " ‫ ״‬Mit den weißen!" ‫ ״‬Mit den weißen. Ich hab mich geirrt. Verzeih." ‫ ״‬Hast du mich lieb?" ‫ ״‬Mehr als man lieben darf, mehr als die Kräfte erlauben." ‫ ״‬Du redest ja Unsinn. Sprich doch ordentlich mit mir." ‫ ״‬Aber das ist doch ordentlich. ,Ob Maria dich liebt, mein Teurer, mein Lieber, — mehr als man darf . . .‫ ׳‬Das ist ein klassisches Zitat (von Malczewski)." 17 ‫ ״‬Das versteh ich nicht." ‫ ״‬Soll ich weitererzählen von den Zwer . . . " ‫ ״‬Bist du kein bißchen böse auf mich?" ‫ ״‬Warum sollte ich?" ‫ ״‬Wegen dem Krach von gestern." ‫ ״‬Nein. Ich war nur traurig, weil du Kummer hattest und deine Mutter sich so laut geärgert hat über . . . " ‫ ״‬Mutter ist aber auf dich böse." ‫ ״‬Warum?" ‫ ״‬Weil du so laut schnarchst, daß man's durch die Wand hört. Mutter hat das Fenster zugemacht und konnte nicht schlafen, und sie hat auch ihr Bett an die andere Wand gerückt. Und Mutter ist ganz um ihren Schlaf gekommen. Aber das habe ich nicht gesehen, weil ich doch geschlafen habe. Und wir verzei-hen, nein, wir verziehen uns in ein anderes Zimmer. Na, erzähl weiter." ‫ ״‬Also die beiden kleinen Waisenkinder stehen da und gucken, und die Zwerge flattern lustig umher mit ihren kleinen grünen Flügeln." (Pause.) ‫״‬Warum sagst du nichts? Weil du an etwas anderes denkst und mir nicht zuhörst." ‫ ״‬Ich hör doch zu." 17 Frei wiedergegebenes Zitat aus ‫״‬Maria‫ ״‬von Antoni Malczewski (1723—1826).

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‫ ״‬Aber, ich habe gesagt, mit kleinen grünen Flügeln, und du hast mich nicht verbessert, es sind doch weiße." ‫ ״‬Ich hab' dich doch verbessert und es immer gesagt, aber es nützt ja nichts. Soll ich dir's denn hundertmal sagen?" ‫ ״‬Hast du Märchen gern?" ‫ ״‬Ziemlich sehr . . . Und weißt du, was ich denke?" ‫ ״‬Auch ziemlich sehr." ‫״‬Und der kleine Bub, hat der auch Krach gemacht?" ‫ ״‬Was für ein kleiner Bub?" ‫ ״‬Der, der sich nicht waschen will, weil es weh tut." ‫״‬Jetzt nicht mehr. Ich habe ihm erklärt, daß es im Ohr Windüngen, Ecken, Winkel und Geheimfächer gibt, deswegen darf man nicht so fest waschen — man muß vorsichtig sein, daß es nicht wehtut. Man muß auch behutsam kämmen und Nase putzen, die kleine Nase, nicht so fest, daß die Seife nicht in den Augen beißt." ,Ja." ‫״‬Und auch die Zähne muß man ganz leicht und vorsichtig putzen. Man kann schon aufgeregt sein — und es braucht trotzdem nicht weh zu tun." ‫ ״‬Wenn ich mir die Zähne nicht putze, werde ich dann ein altes Weib, ein häßliches Weib? Ein zahnluckiges?" ‫ ״‬Das werde ich dir erklären. Bum, dem kleinen Buben aus dem Kindergarten, du weißt schon, dem ist ein Milchzahn ausgefallen, und jetzt wächst ihm ein hübscher neuer nach. Ist der wohl alt und häßlich?" ‫ ״‬Er ist hübsch, aber er will nicht mit mir spielen." ‫ ״‬Ist das arg schlimm für dich?" ‫ ״‬Nein." ‫ ״‬Hast du oft Kummer?" ‫ ״‬Kummer genug. Ich mag keine Haut." ‫ ״‬Auf der Milch?" ‫״‬Auf der Milch nicht, und auch nicht auf dem Kakao. Und gelbe Rüben mag ich auch nicht. Was ist das für ein Buch?" ‫ ״‬Ein gelehrtes." ‫ ״‬Lies vor." ‫ ״‬Gut, was soll ich lesen? das hier?" ‫״‬Ja." 196

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‫ ״‬. . . ,Die Felsmassen sind unaufhörlich in Bewegung, einmal ziehen sie sich zusammen, oder sie weichen irgendeinem Druck aus, was zur Folge hat, daß ihr Rand zerklüftet w ird/ " ‫ ״‬Verstehst du das?" ‫״‬Mnm." ‫ ״‬Aber ich nicht." (Ein tiefer Seufzer.) ‫ ״‬Möchtest du das gern verstehen?" ‫ ״‬Ich singe meiner Puppe etwas vor, damit sie einschläft; und wenn sie eingeschlafen ist, dann singe ich nicht weiter, weil sie doch schon schläft, ich habe schon allerhand Sorgen." ‫ ״‬Warum? Weil sie schläft?" ‫ ״‬Nein . . . Mutter hat auch Kummer." ‫״‬Die Mutter auch?" ‫״‬Ja doch, mit dem Vater. Weil der Vater . . . " ‫ ״‬Vielleicht willst du dich jetzt nicht mehr unterhalten. Du gähnst ja schon. Bist du vielleicht müde, oder willst du lieber mit den andern Kindern spielen?" ‫ ״‬Ich hab einen Kummer, von dem niemand auf der ganzen Welt etwas weiß. Die Mutter nicht und der Vater auch nicht; sogar meiner Puppe habe ich nichts davon erzählt. Aber dir sag ich es." ‫ ״‬Sag lieber nichts, die Wände haben Ohren." ‫״‬Du schwätzst dummes Zeug. Es ist häßlich zu sagen: du schwätzst. Zu Kindern darf man es schon sagen, aber zur Mutter oder zu Ihnen — das ist ungezogen. Aber die anderen sagen immer: ,Geh weg, du Kleine, du darfst nicht mitspielen, du bist noch viel zu klein. Du kannst das nicht, du bist zu klein/ Und eine hat zu mir gesagt: ,Du machst noch in die Hose/ Und es war ihr ganz egal, daß ich mich geschämt habe. Und das vor all den andern. Und ich — ich bin doch schon ein großes Mädchen. Ich möchte lieber eine Puppe sein, denn die wird auch immer nie trocken (ein Seufzer). Und du schnarchst und merkst es nicht, weil du ja schläfst. Ich merke doch auch nichts . . . Was schreibst du da?" ‫ ״‬Ich sag's dir gleich. Wenn ich etwas Wichtiges höre, dann schreibe ich es auf, daß ich es auch behalte." ‫ ״‬Lies vor." 197

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,.,Gut: — ,Ich möchte lieber eine Puppe sein, denn die ist auch immer nie trocken. Und du schnarchst und merkst es nicht, weil du ja schläfst. Ich merke doch auch nichts/ " ‫ ״‬Ja. Ist das so wichtig?" ‫ ״‬Sehr wichtig. Einmal wollte ein Bub in einem Kleidchen herumlaufen. Du hast gestern abend Krach gemacht, weil du dich nicht waschen wolltest, und der Bub wollte sich eben morgens nicht anziehen. Seine Mutter dachte schon, das sei ein Komplex. Er vertraute mir dann sein Geheimnis an: er wollte gern ein Mädchen sein, weil Mädchen doch so gehorsam sind; aber er in seinen Buben-Hosen kann das nicht, deshalb wollte er ein Kleidchen anziehen und darin artig sein. Das habe ich auch auf geschrieben. Und ein Mädchen wollte einmal ein Äffchen im Käfig sein, weil das ruhig spielen kann und dabei sein Kleid nicht schmutzig macht, und weil es im Käfig herum‫־‬ springen kann und seinem Vater (dem Aff en-Vater) der Kopf davon nicht weh tut, und auch nicht platzt." ‫״‬Aber mein Vater . . . " ‫ ״‬Siehst du, du gähnst schon wieder. Du bist ja müde." ‫ ״‬Mit dir sprech' ich gern." ‫״‬Na ja, aber jetzt muß ich auch schon gähnen." ‫ ״‬Dann erzähl das Märchen weiter." ‫ ״‬Du hast recht. Das Märchen von den Zwergen ist leicht und ungefährlich; die Wahrheit über die Zwerge ist wichtig, aber schwierig. Das Märchen von den Zwergen kann man anfangen und dann einfach nicht zu Ende erzählen; das macht nichts; wer aber mit der Wahrheit anfängt, für den ist es schlimm, daß er nicht zum Ende kommt." Merke: Wenn du anfängst, ein Märchen zu erzählen, dann nimm dir nicht vor, es unbedingt zu Ende zu erzählen. Ein Märchen kann die Einleitung zu einem Gespräch sein, oder Gespräch und Märchen können ineinander verflochten werden. Fortsetzung nur nach Wunsch. Und dasselbe Märchen darf man oft wiederholen. Die Erwachsenen und wir — die Kinder Es mag vielleicht, ich bitte euch, keinen Streit zwischen Zahnpasta und Senf, zwischen Lampe und Spiegel, zwischen den Bücher-Regalen und dem Klavier geben; aber (Blut ist 198

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dicker als Wasser) zwischen den Menschen? Im Sommer, wenn es heiß ist, und wenn es soviel freie Zeit gibt? Es ist doch immer so: schönes Wetter, heiterer Himmel — plötzlich kommt ein Sturmwind auf, eine dunkle Wolke, Stille — trrrach, Donner und Blitz. Warum auch nicht? Sollen sich immer nur die Kinder zanken und die Erwachsenen nie? Was wäre das denn für ein Privileg? Es ist nun einmal so: in jeder Saison muß es solch einen Krach geben, daß irgendjemand, empfindlich getroffen und sehr erbittert, vor SaisonSchluß abreist, beleidigt und enttäuscht. So ist es eben, das ist die Ordnung der Dinge. Und wenn ich auch wüßte, warum das so ist, euch könnte ich es nicht erklären; denn ich darf ja nur bis zu vierzehn Jahren gehen (die Erwachsenen gehören nicht zu meinem Ressort). Aber ich weiß es nicht : das Leben — ein Durcheinander — ein Gebräu, ein Galimathias. Als ich so alt war wie ihr, da wollte ich auch alles verstehen. Jetzt? Haha. Das Leben ist wie ein Radioapparat. Gewiß interessant; aber es knackt und pocht, da wird irgendetwas gesprochen, es ist interessant, aber zu schnell oder zu leise, du hast nicht richtig verstanden, nicht alles gehört, du kannst es nur ahnen. Das Leben muß man erraten, so ist das. Und vielleicht ist es besser so. Denn ein Sommer ohne ein einziges Gewitter wäre irgendwie ohne Würze, ohne Saft. So wie die Rückkehr von einer Auslandsreise ohne ‫״‬Unannehmlichkeiten‫ ״‬beim Zoll, wie ein Ausflug mit ermäßigten Fahrkarten ohne Kampf um einen Platz im Abteil, wie ein vegetarisches Ostermahl und wie ein Sportwettkampf ohne Beifall und Zurufe. Es muß Abenteuer geben, damit man im Winter Erinnerungen hat. ‫ ״‬Oh je, wie sind wir naß geworden, das Wasser ist nur so an uns heruntergeronnen.‫ ״‬Oder: ‫״‬Beinahe wäre er ertrunken.‫ — ״‬Oder: ‫ ״‬Um ein Haar hätte es einen Brand gegeben.‫ ״‬Was ist das für ein Wald, in dem sich nie jemand verirrt hat. Was für eine armselige Pension, in der nicht zwei einmal so wütend bis zum Amen geworden sind, daß sie die Mahlzeiten allein auf ihrem Zimmer eingenommen haben, oder der eine überhaupt abgereist ist. Oder eine Ferienwoh199

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nimg — wie langweilig, wenn alles in Eintracht und Harmonie zugeht. Wie kann man nur . . . Gerade deshalb ist meine Erzählung uninteressant, denn sie bringt keine außergewöhnlichen Ereignisse. Es gibt Menschen, die verstehen, wie man etwas interessant machen kann. Der eine war im Krieg. Er weiß nicht einmal, wie es war, als er verwundet wurde. Aber ein anderer berichtet so: ‫ ״‬Ich renne vorwärts, und die Kugeln bss bss — und dann paz — brrr — trach; ich lasse mich also fallen, aber das Gras ist vergast; also greife ich nach der Gasmaske, aber da kommt ein Flugzeug, eine Bombe, Senfgas: wrr ‫ ־־־־‬baz — baz, rechts nur zwei Schritte von mir entfernt, links, nur einen Schritt, eine dritte Bombe, mir vor die Füße (zum Glück ist sie nicht explodiert). Ich springe auf — hopp —, greife mir zwei feindliehe Geschütze und bringe sie her. Nichts weiter: ich bekam nur einen Streifschuß." Ob du mir's glaubst oder nicht, du hörst jedenfalls zu. Oder eine Jagdgeschichte: ‫ ״‬Eine wütende Wildsau, tupp, tupp, dröhnt es, sie bricht Zweige auseinander, ich springe hinter einen Strauch, sie direkt auf mich zu, aus dem Rüssel heißer Atem, Schwefelgestank, aber ich, zielsicher und beherrscht, mitten ins Auge. Da liegt sie nun, schlägt mit dem Schwanz und den Läufen — tot." Wie es auch gewesen sein mag — du hörst jedenfalls zu. Und ich? Ich erinnere mich noch: es war in einer Ferienkolonie. Auch damals wolkenlose Tage, still, heiter, eine Gruppe von Buben, tagsüber die goldene Sonne, abends der Sternenhimmel. Hier der Wald, hier meine Buben, und da drüben die gelben Rüben. Eben. Die gelben Rüben. Eine Beschwerde — die Buben hätten davon gegessen. Also eine Untersuchung. Wer? Wer war der erste, wer noch, wer mit wem, wann, wer wieviele? Eine Schande! Ich habe alles auf geschrieben, sie ausgeschimpft, was sie wohl vom Naturschutz wüßten, — denn es waren auch Zweige abgeknickt — und das seien Kulturen, außerdem sei das Diebstahl. Ich war am Ende und ging zur Abfallgrube: sie war zu nahe an der Küche, also gab es Fliegen, die Sanitätskommission könnte eingreifen; sie muß also zugeschüttet und eine neue — weiter weg — ausgehoben werden. Aber schon 200

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auf dem Weg dorthin bemerke ich, daß ein Bub hinter mir hertrottet, irgendwie bedrückt und verlegen. Ich frage ihn also: ‫״‬Etwas ausgefressen?" Er lächelte unsicher. Ich sage: ‫״‬Der Mensch hat nicht viel Ferien und Freude in seinem Leben, geh also lieber wieder spielen." Aber er geht weiter hinter mir her. Ich sage: ‫ ״‬In die Küche gibt es keinen Zutritt." Er daraufhin: ‫ ״‬Ich möchte Ihnen etwas sagen." ‫ ״‬Jetzt nicht, du kannst mir's morgen sagen." Er will aber gleich. ‫ ״‬Ich hab keine Zeit." Es ist kurz, nur — daß ich auch gelbe Rüben ausgerissen habe." ‫ ״‬Und aufgegessen?" ‫״‬Ja." ‫ ״‬Gelbe Rüben?" ‫ ״‬Gelbe Rüben." (Ich wollte ihn fragen, warum er das nicht gleich zugegeben hatte, aber wozu?) Ich hole also meinen Untersuchungsblock aus der Rocktasche, den Amtsbleistift und frage im amtliehen Tonfall: ‫״‬Wieviele?" Er daraufhin: ‫ ״‬Einmal drei gelbe Rüben . . . " ‫ ״‬Große?" ‫ ״‬Mittelgroße, sooo vielleicht." ‫ ״‬Gut." ‫״‬Das nächstemal — vier und beim drittenmal weiß ich nicht wieviele. Aber ungefähr?" ‫ ״‬Sagen wir, sechs." Ich notierte, addierte und sage: ‫״‬Also elf." ‫ ״‬Sie haben sich geirrt: es waren dreizehn." ‫ ־־־‬Ich zähle nach: ‫ ״‬Drei und vier sind sieben, sieben und sechs — du hast recht: dreizehn gelbe Rüben hast du ausgerissen und auf gegessen." — ‫ ״‬Und zwei Tomaten." ‫״‬Die auch?" ‫״‬Auch." Ihr meint gewiß, damit sei es nun gut gewesen? Nein. Denn als ich meinen Notizblock schon wieder zugeklappt hatte, fügte er noch hinzu: ‫ ״‬Und eine Gurke." Ich seufzte, flüsterte: ‫״‬Hypervitaminose" und schrieb auch noch die Gurke auf. Später stellte sich heraus, daß es noch mehr Gurken und Tomaten gewesen waren, von denen der Besitzer nichts gewußt hatte. Was war da schon zu machen? Alles mußte redlich zum Marktpreis bezahlt werden, um den Bauern nicht zu schädigen: denn der kann ja seine Habe nicht in einem feuerfesten Geldschrank verstecken und muß den Menschen vertrauen können. So ist es halt: es findet sich immer noch eine verheimlichte gelbe Rübe, ein weiteres Geheimnis, — scheinbar weißt du schon alles, aber nein, dann tauchen noch Tomaten und Johannisbeeren und Gurken auf. Der Mensch hat nicht viel Ferien — und doch verdirbt er sie sich irgendwie unnötigerweise selbst. Die Erwachsenen — die treiben auch manchen Unsinn. Denn ein jeder handelt anders, und auch derselbe Mensch handelt 201

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nicht immer gleich. Ich frage den einen: ‫ ״‬Sag mal, mein Junge, was bist du für einer; bist du ordentlich?" ‫ —־‬Und er antwortet: ‫ ״‬Das weiß ich selber nicht." Einmal ja, einmal nein — eben ein Mensch! Oder die Wahrheit? Nicht, daß er lügt, aber er trifft die Wahrheit nicht. Er geht diesen Weg, und die Wahrheit geht einen anderen. Und so verfehlt er sie. Manchmal übersieht er sie in der Eile, oder er erkennt sie, begrüßt sie, gewiß doch, lächelt freundlich und bleibt sogar stehen und fragt nach der Gesundheit, aber dann trennen sich die Wege, und sie ver‫־‬ fehlen einander wiederum, obwohl der Weg gemeinsam mit ihr, der Wahrheit, fortgesetzt werden sollte. Wenn ein wahrheitsliebender Mensch einmal die Unwahrheit sagt, dann nur soviel, als er unbedingt muß und nicht anders kann, und später fühlt er sich traurig und unbehaglich und beschämt. Da war einmal ein Bub, der einzige Sohn einer Witwe. Er war auf dem Schulhof vom Reck gestürzt. Weiter nicht schlimm, ich habe schon ganz andere Beulen gesehen. Aber ich bemerke doch: ‫ ״‬Da hast du es nun, ich habe dich vor solchen Kunst‫־‬ stücken gewarnt; was wird nun deine Mutter sagen?" Später fragte ich ihn: ‫ ״‬War deine Mutter sehr bekümmert, was hast du ihr denn gesagt?" Er hatte ihr erzählt, daß er hingefallen sei und sich dabei gestoßen habe. Also ich sage: ‫ ״‬Du hast ge‫־‬ logen." Er hingegen: ‫ ״‬Nein"; er habe die Wahrheit gesagt; er sei doch hingefallen — ganz gewiß — und habe sich dabei gestoßen. Aber er wurde rot, weil er spürte, daß er nicht ganz bei der Wahrheit geblieben war, und er sagte: ‫ ״‬Wenn Mutter das wüßte, dann hätte sie mir verboten, am Reck zu turnen." Daraufhin ich verwundert: ‫ ״‬Wie kann dir deine Mutter das verbieten; sie ist doch nicht hier und sieht nicht, was du tust?" Er aber meinte: ‫״‬Nein, wenn es die Mutter nicht erlaubte, dann kann ich doch nicht lügen, wenn sie fragt, ob ich am Reck geturnt habe." O ja, er hatte auch gelbe Rüben ausgerissen, dreimal sogar, er schämte sich; ob er sich fürchtete, oder ob sonst etwas war, er konnte es nicht sofort gestehen, aber dann, dann sagte er auch das mit der Gurke; die anderen hatten sich sofort edel und mutig zu den gelben Rüben bekannt, aber kein Sterbenswörtchen von den Tomaten und den Gurken gesagt; denn 202

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danach hatte ich ja nicht gefragt, und sie wollten einander nicht verraten — aus Kameradschaft. Und damit kommen wir auf die Kameradschaft zu sprechen, auf die Schule und die Schulkameraden und auf die verschiedenen Einflüsse: der eine Klassenkamerad hilft und bessert, der andere zerstört und schadet. Es ist scheinbar so leicht: ‫ ״‬Spiel nicht mit Taugenichtsen." Aber wie soll man auf Anhieb erkennen, wer ordentlich ist und wer nicht? Manchmal ist auch ein Stiller schlimmer als ein Lausbub. Oder es ist mit einem Taugenichts recht lustig, und außerdem kann man ihn ja auch bessern. Ein Dompteur kann sogar einen Löwen, einen Tiger bessern und ihm etwas beibringen. Sogar Menschenfresser lassen sich zivilisieren. Und was ist eigentlich das Böse, die Sünde, und was ist nur nicht erlaubt oder unschön? Warum stechen Mücken, und warum schlagen wir sie deswegen tot? Wir essen aber auch Hühnchen; der Mensch ißt überhaupt alles, und er ertränkt kleine Hunde, obgleich ein Hund schön und treu ist. In ihrer Schule war das einmal so: Eine Klassenkameradin hatte die Aufgabe nicht gelernt, sie sollte aber an die Reihe kommen. Sie wickelte sich also ein Tuch um den Hals und tat so, als ob sie Grippe hätte. Die Lehrerin fragt, was ihr fehle, und sie spielt vor, ganz leise sprechend, daß sie Grippe habe. Die Lehrerin: ‫ ״‬Da seht ihr, sie ist krank und trotzdem ist sie zur Schule gekommen, um den Unterricht nicht zu versäumen." Ein Mädchen konnte sich nicht mehr beherrschen und lachte (platzte heraus). Die Lehrerin wurde sehr ärgerlich: herzlos sei das, leichtsinnig und unkameradschaftlich, dieses Beispiel verdiene Hochachtung und Mitgefühl und kein Gelächter. ‫״‬Ja, aber was hätten wir machen sollen?" Und überhaupt ist das schwierig, denn oft müßte man eigentlich, aber man kann nicht. Kann man dem Mädchen denn das Abschreiben bei der Klassenarbeit verwehren, wenn es doch fleißig ist, es ihm aber schwerfällt oder es kein Buch hat, weil der Vater wenig verdient, oder weil es arbeiten und mithelfen muß, oder weil es krank war und gefehlt hat oder Kopfschmerzen hatte? Und wieso sollte man nicht vorsagen, wenn er doch nur 203

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ein kleines Wort vergessen hat oder vor lauter Angst ganz verwirrt ist? Oder jemand hat eine Fensterscheibe zerbrochen oder etwas anderes angestellt und sich nicht dazu bekannt? Dem einen sagt man daheim gar nichts, aber der andere hat strenge Eltern oder bekommt zu Hause sogar Schläge. Dem einen fällt alles leicht, dem anderen schwer, und er weiß sich nicht zu helfen, dem einen gelingt alles, der andere aber fällt immer gleich herein und bekommt Schläge nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere oder gar für alle. Oft weiß man auch gar nicht genau, ob etwas erlaubt ist oder nicht: zum Beispiel am ersten April oder am Rosen‫־‬ montag? Ein lustiger Lehrer erlaubťs, ein strenger verbietet^, und ein nervöser reagiert einmal so und einmal so, bei dem einen läßt er vieles durchgehen, bei einem anderen schlägt er sogleich Krach. Was sind eigentlich diese Nerven? Anscheinend wissen selbst die Ärzte nicht recht darüber Bescheid. Denn wer ist nervös und wer nur einfach jähzornig? Ist es schwer, Arzt zu sein? Wer ist wohl wichtiger, ein Arzt oder ein Ingenieur? Oder ein Pilot? Wenn ein Ingenieur eine Brücke schlecht baut, stürzt sie ein, oder ein Haus, oder ein Flugzeug — gleich gibt es eine Katastrophe. Aber ein Arzt kann auch ein Held sein, wenn er sich bei einem Kranken ansteckt und stirbt. Was ist ein Blinddarm, und warum heißt er so? Warum geht der eine so gern ins Kino und einem anderen tun die Augen oder der Kopf weh? Was ist ein Traum? Gibt es Kartenlegerinnen und prophetische Träume? Was ist ein Mondsüchtiger; sind ein Pazifist und ein Bigamist dasselbe; gibt es Scheintote, und wie kann ein Fakir begraben werden? Warum heißt es einmal, daß man noch klein sei und deswegen dies oder jenes nicht verstünde, und ein andermal — daß man groß genug sei, um das schon zu verstehen?. . . Und wir unterhalten uns, plaudern über dieses und jenes, und sogar dieser Streit der Erwachsenen geht uns nicht gar so viel an ; denn wir haben unsere eigenen wichtigen Fragen ; der eine hat etwas gesehen, der andere etwas gelesen, in einem Buch oder in einer Zeitung, ein dritter hat im Radio, auf der Straße, von einem Kameraden etwas gehört; jeder hat seine 204

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Erlebnisse, Begegnungen und schwierigen Augenblicke; also kommt es zu einem Gedankenaustausch. Unsere Gespräche sind manchmal flüssig, manchmal auch nicht; wir haben weder einen Vorsitzenden noch eine TagesOrdnung; wir wissen nicht einmal, ob unsere Wissenschaftliehe Gesellschaft eine solche ist oder auch nicht. Denn auch der Kleine kommt und hört zu und versteht es irgendwie auf seine Art. Man sollte sie nicht ‫ ״‬die Kleinen" nennen, weil eine derart verächtliche Bezeichnung eine Beleidigung ist. Merke: Entweder das Leben der Erwachsenen — am Rande der Kinderwelt. Oder das Leben der Kinder — am Rande der Erwachsenenwelt. Wann wird jener glückliche Augenblick kommen, da das Leben der Erwachsenen und das der Kinder gleichwertig nebeneinanderstehen werden?

Wie man zur Welt kommt Ja. So ist es. Sie sind zur Welt gekommen, klein, lieb und arm. Es sind Welpen zur Welt gekommen. Gestern noch keine Spur von ihnen, heute sind sie da, sind zur Welt gekommen, die Welpen. Aber die Erwachsenen (merkwürdige Menschen) kümmert das überhaupt nicht. So lieb sind sie, arm, klein, die kleinen Pfoten, sie krabbeln herum, piepsen, die kleinen Schwänze und Ohren, sie schnuppern, suchen, sie sind bekümmert und sehen noch nichts — lächerlich? Durchaus nicht. Und die Mutter (nun ja, ihre Mutter), sie ist ängstlich, liebevoll, besorgt, sie leckt ihre Jungen und sieht unruhig umher. ‫ ״‬Tante, Mutter, Großmama." — ‫ ״‬Gib acht, komm' ihr nicht nah, sie beißt." — ‫״‬Aber nein, sie beißt nicht, sie bittet nur, behutsam zu sein." Eines ist dem kleinen Buben aus der Hand gerutscht (er hatte angenommen, es gehöre ihm), und war ins Gras gefallen; die Alte beschnupperte es besorgt und untersuchte gleich mit ihrer Nase und der Zunge, ob dem Kleinen nichts Böses zugestoßen sei. Mit den kleinen Kaninchen ist es ebenso (das hat er beobachtet). Auch die Henne ist Mutter (auch wenn sie nur eine Henne ist). Und der Kanarienvogel: klein, noch ohne Gefieder. Das hat sie gesehen. Auch die Schwalben. Er hat einmal 205

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zugeschaut, wie ein Habicht eine Taube verfolgte. Furchtbar. Sie saßen starr vor Schreck auf dem Dach. Aber Fleisch darf man den Welpen noch nicht geben, und sie auch noch nicht lehren, etwas zu apportieren oder zu bewachen; man darf das junge Gehirn nicht belasten; ihre Augen nicht öffnen, sie nicht mit Badeseife waschen und ihnen auch noch keine Bändchen um den Hals binden. Erst, wenn sie größer geworden sind, kann man den Intelligenztest (nach Terman-Binetιδ) und Schwimmversuche am Strand machen. Ob ein Hund denkt? Ob die Schnecke das hört: ‫ ״‬Schnecke, Schnecke, zeig deine kleinen Hörner." Und versteht ein Marienkäfer das Lied: ‫ ״‬Marienkäferchen flieg, in den Hirnmel flieg?" Es gibt soviel Wunderbares, und über alles muß man sich wundern. Man darf die Welpen nicht plagen, sie sind doch noch so klein. Es ist doch besser, als Mensch auf die Welt zu kommen (obwohl es da auch manche Sorgen gibt); ein Fohlen hat ein schweres Leben. Und ein Schmetterling auch. Und ein kleiner Fisch. Aber der Mensch ist König! So ist das also: er, der Bub, ist zufrieden, daß er geboren wurde, weil das Leben lustig und angenehm ist. Aber das Mädchen meint, es wäre besser, nicht auf der Welt zu sein. Daraufhin er: es lohne nicht, darüber nachzudenken; es sei nun einmal geschehen, er sei nun einmal da. Aber sie möchte lieber erst in hundert Jahren zur Welt kommen: die Menschen werden dann klüger sein, und es wird besser sein auf der Welt. Wir suchen schöne Namen für kleine Hunde und für Kinder. Sie wird einmal einen Buben und ein Mädchen haben. Er will einen Sohn haben; denn er würde sich komisch Vorkommen und sich schämen, Vater eines Mädchens zu sein: ‫ ״‬Außerdem will sich ein Mädchen immer schön anziehen, und das ist teuer." — ‫ ״‬Das ist nicht wahr: ein Bub zerreißt viel mehr" . . . 18 Terman-Binet-Test: Skala zur Überprüfung des Intelligenzgrades bei Kindern im Alter von drei bis achtzehn Jahren, eingeführt von dem französischen Psychologen und Pädagogen Alfred Binet (1857—1911), 1912 modifiziert durch den amerikanischen Psychologen L. M. Terman (geb. 1877). 206

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Und sie will hundert Kinder haben, weil sie nun die Kleinen mag. ‫״‬Närrin: hundert Kinder!" — ‫ ״‬Gar nicht närrisch. In Indien heiraten die Mädchen sehr früh, und in Kanada sind Fünflinge geboren worden, man kann es also schaffen, wenn man unbedingt will." Muß ein Kind seinen Eltern ähnlich sehen — denn die kleinen Hunde haben ja Flecken?? Weiße oder schwarze? Warum sind manche Menschen schön, und was ist wichtiger, schöne Augen oder ein schöner Mund und schöne Zähne? Warum gibt es abstehende Ohren und Sommersprossen; sollte ein Bub auch schön sein? Der eine hat etwas gesehen, der andere hat etwas gehört, ein dritter etwas gelesen. Jeder hat seine eigenen Er‫־־‬ lebnisse und Erfahrungen, seine schwierigen Augenblicke und merkwürdigen Erlebnisse. Und er hat nachgedacht, jetzt spricht er. Das Gespräch kann gut verlaufen oder auch nicht, es kann abirren oder von Thema zu Thema springen. Naturkunde sollte in den Schulen auf eine andere Weise gelehrt werden. Ein kleiner Hund ist auch eine Unterrichtshilfe. So sollte zum Beispiel in der ersten Klasse jeder einen kleinen Hund oder eine Katze in die Schule bringen (nicht in der Schul‫־‬ mappe). Und in der zweiten Klasse wird ein Kaninchen mit‫־‬ gebracht. In der siebten — führt jeder einen Elefanten herein (nicht tragen). Um die vierte Klasse gibt es eine lebhafte Dis‫־‬ kussion und eine scharfe Polemik. Die Buben sollten mit Ponys zum Naturkundeunterricht kommen, und in den Mädchen‫־‬ schulen — sollten sie Kälber mitbringen. ‫ ״‬Wenn das so ist, dann müssen es in den Buben‫־‬Schulen — Esel sein." Und in allen Schulen (darüber waren wir uns einig) sollte das Reparieren von Fahrrädern und Photoapparaten gelehrt werden. Auch Menschenfresser lieben ihre Kinder und tragen sie auf dem Arm. Einer hatte angenommen, daß Menschenfresser und Riesen dasselbe seien. Es gibt auch zivilisierte Mohren, nur sind sie eben schwarz. Was ist ein Werwolf; und ein Menschen‫־‬ fresscr verschlingt einen Menschen nicht so roh wie eine Fliege, sondern er kocht ihn gar. Pfui! Warum gibt es Diebe, Ban‫־‬ di ten und Vulkane? Wird in den Zeitungen immer nur die Wahrheit geschrieben? Einmal hatte ein Kamerad in der Schule erzählt, ihm sei in der Nacht ein wirklicher Geist erschienen. ‫״‬Du bist ja dumm." — ‫ ״‬Selber Dummkopf." — ‫״‬Du lügst." — 207

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‫ ״‬Nein, du lügst." Aber das trübt weder die Harmonie noch stört es den Verlauf der Diskussion. Denn eigentlich geht es nur um das eine Thema: kleine Hunde sind zur Welt gekommen. Nun sage auch ich etwas: ‫ ״‬Ihr fragt, ob der Doktor alles weiß? Er weiß weder die Hälfte noch den zehnten Teil. Wir machen es genau wie ihr, wir suchen, wir raten, wir vermuten genau wie ihr, einmal gelingt es und ein andermal nicht. Ich will nicht so tun, als wüßte ich etwas und hätte es nur vergessen. Ein Bub hat mir erzählt, sie hätten daheim ein Kindermädchen gehabt. Die behauptete, sie wisse alles und könne alles, wolle es aber nicht sagen, ‫ ״‬denn du verstehst es ja doch nicht7‫־‬. Oder sie konnte es und wußte es, hatte es aber gerade vergessen; denn sie hatte einmal Typhus gehabt. Sie konnte Klavier spielen — aber der Typhus, nun kann sie es nicht mehr. Sie konnte Französisch — aber der Typus, sie kann's nicht mehr. Geschichte, Geographie; sie konnte schöne Märchen erzählen und schwierige Aufgaben lösen. Aber der Typhus — sie hat ihre Haare und ihr Gedächtnis verloren; später sind nur noch die Haare nachgewachsen, das Gedächtnis nicht. Ihr beklagt euch, aber ich gehe lieber mit einem Scherz über eine schwierige Frage hinweg, als daß ich mich herausschwindle und angebe. Oder ich schiebe die Antwort hinaus, um mir das bißchen Wahrheit, das ich weiß, erst in meinem Kopf zurechtzulegen. Warum sind Kinder ihren Eltern ähnlich oder unähnlich? Wenn wir alle Bücher sammeln wollten, Tausende von Büchern von Gelehrten, Schriftstellern, Forschern, Biologen, Ärzten — diese Bücher würden alle Zimmer dieses Landhauses bis zur Decke füllen. Aber eine verständliche, kurze Antwort auf diese Frage wissen wir nicht. Immer nur Untersuchungen, Versuche, Erfahrungen und Nachforschungen. Wartet, mir kommt eine Erinnerung. Nach dem Kriege herrschten Hunger und Kälte, und in diesem Hause lebten hundert Kinder. Was sollte man tun, wie sollte es weitergehen? Auf Kredit wollte man uns nichts mehr geben. Wir mußten bezahlen, aber wir hatten doch kein Geld. Und der Winter hatte gerade erst angefangen . . . Damals schenkte uns 208

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der Bergarbeiterverband — selbst arme, aber gute Menschen — einen ganzen Waggon Kohle. Ein solch plötzlicher Reichtum; denn Kohlen waren teuer . . . Sie mußten noch am selben Tage ausgeladen werden. Ich weiß nicht mehr weshalb, aber auf der Bahn hieß es, es müsse unbedingt noch heute sein. Da machte sich die ganze Schar an die Arbeit. Wagen fahren, die Kohle muß rasch in den leeren Keller. Wir brauchten alles an Schaufeln, Kübeln und Körben, was wir hatten — das war eine Arbeit! Die ältesten fahren mit Schubkarren. — Es wird geschleppt und geschüttet. Wer hätte da an Mittagessen gedacht? Auch die Jüngsten schaffen mit bloßen Händen Kohlenklumpen heran. Die Mädchen machen auch mit, jeder tut, was er kann. Schon hat der Bäcker es vernommen und hat Brot geschickt, nun kauen sie das Brot und der Kohlenstaub knirscht zwischen ihren Zähnen. Erschöpft? Nein. Und wieder kommen zwei vollbepackte Fuhren. ‫ ״‬Ich könnte noch hundert Fuhren abladen" — sagt, schwarz vom Kohlenstaub, der Jüngste mit den krummen Beinchen; erst später bekam er wieder gerade Beine, weil wir ihm Lebertran kaufen konnten: die Kohlen transportierte er in einem Nachttopf. Ich sage: ‫ ״‬Morgen wird euch der Rücken wehtun." — ‫״‬Das macht nichts." In der Küche wird schon Wasser zum Baden heiß gemacht. Wir hatten nur noch wenig Seife, aber im Geschäft bekamen wir, genug, weil man jetzt wußte, daß wir bezahlen würden . . . Abend. Das macht nichts, wir müssen fertigwerden. Die Lampen rußen: die eine auf dem Gang, die andere auf dem Hof war schon erloschen. Die letzte Fuhre. Baden. Tee. Geschwind. Erschöpft schlafen sie ein. Wer auf der rechten Seite einschlief, der wachte auf der rechten Seite auf, wer auf der linken einschlief, der wachte auf der linken auf. Es stimmt nicht, daß Kinder unruhig schlafen; höchstens in einem überheizten Zimmer oder unter einer zu warmen Decke. Oder ein Kind rollt sich zusammen, es wälzt sich herum und sucht nach einem warmen Plätzchen, wenn es ihm unter einer abgewetzten und löchrigen Decke zu kalt ist . . . Nun, sie schliefen sich aus, wie sie sagten, für alle Zeiten. Aber wartet, warum ist mir das eigentlich eingefallen? Wir sprachen doch von dem Kindermädchen, das Typhus hatte und ihr Gedächtnis verlor. 209

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Aha, ich weiß schon: die Kinder waren von der Kohle schwarz, aber nicht schmutzig. Gib einem Verrußten Wasser und ein Stück Seife, und er wird wieder weiß werden wie ein Engel. Es ist ein Unterschied zwischen einem nur beschmutzten und einem schmutzigen Menschen. Manchmal erscheint jemand schmutzig, aber er ist nur beschmutzt. Es lohnt, es mit einem jeden zu versuchen. Nein . . . Ich weiß schon . . . Das war's nicht . . . Wir plaudem einfach miteinander und bringen Bruchstücke, kleine Brocken und Staub dieses unseres Wissens in den Keller, in die gemeinsame Schatzkammer unserer Kenntnisse und unserer Klugheit. Der eine hat mehr Jahre und Monate gelebt, er hatte also Zeit und hat sich besser in der Welt umsehen können. Man sollte sich weder wundern, noch darüber lachen oder ärgerlich werden, wenn jemand etwas nicht weiß oder nicht versteht. Sie wollte ihre Mutter überraschen. Sie hat ihr Schokolade unters Kopfkissen gelegt; sie kannte das noch nicht, denn sie tat es zum erstenmal in ihrem Leben, zum allererstenmal — und die Schokolade zerlief unter dem Kissen; es wurde eine böse Überraschung. Jemand Von euch wollte nicht, daß die Kleinen an unseren Versammlungen teilnehmen. Warum eigentlich? Ich habe irgendwo einmal ‫״‬Die scheinbare Kleinheit des Kindes" gelesen. Es ist doch interessant, wie ein kleines Kind ganz anders und auf seine Weise das schwierige Rätsel des Lebens versteht. Wir sprachen vom Mikroskop, und er fragt: ‫ ״‬Was ist wich‫־‬ tiger, ein Mikroskop oder ein Motorrad?" Du behauptest sofort —‫ ־‬er sei dumm. Warum? Er hatte gerade an ein Motorrad gedacht. Oder er erkundigt sich, ob der Zorn in der Leber sitze. Und du sagst wieder: ‫ ״‬Dummkopf." Eben nicht. Es stört ihn, daß er oft in Zorn gerät, er will es wissen; vielleicht möchte er sich operieren lassen: diesen Zorn herausschneiden lassen wie Gallensteine. Erinnerst du dich: es begann mit der Frage, warum in der Schule nur das Singen, nicht aber das Pfeifen gelehrt wird. Ein Bub kann alle Vögel und Tiere nachahmen. Wir haben ein Rahmenprogramm für den Musikunterricht entworfen: in den unteren Klassen pfeifen, miauen, krähen, bellen, danach erst 210

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Mandoline spielen und auf dem Kamm blasen, und zum Schluß (in der siebten Klasse) Chopin. Und ihr fragt, wie im Ei ein Huhn entsteht und wie der Mensch zur Welt kommt? Dies eine weiß ich ganz gewiß: ein Kind zu haben, das bedeutet eine große Verantwortung ihm gegenüber, und es gehört viel dazu, das Recht zu haben, Vater und Mutter zu sein. Du hast wahr gesprochen: die Erziehung eines Kindes ist schwer. Eine Verpflichtung und eine Verantwortung vor der Nation, vor der Welt, vor Gott und vor dem eigenen Gewissen. Das weiß ich. Aber ich weiß nicht, ich kenne nicht das mit sieben Siegeln verschlossene heilige Geheimnis, niemand weiß, wie der Geist, der freie Steinadler, aus dem All eingefangen, plötzlich zur Welt kommt, voller Sehnsucht, ins Leben gerufen . . . Wie denn? Eure kleinen Hunde. Die kleinen Pfoten und Ohren; sie schnuppern, sie schmiegen sich an die Mutter; die Küken picken Körner auf, sie piepsen, sie können noch nicht sehen, sind besorgt, ungeschickt, ungelenk; und doch — ein großes Geheimnis. Stille. Ein Mädchen sagt leise: Ja. So habe ich auch gedacht. Seid ihr mit meiner Erklärung zufrieden? Ja. Merke: Eine Erzieherin fragte mich einmal, wie man auf heikle Fragen antworten solle. Es gibt weder törichte noch heikle Fragen, wenn die Antwort ehrlich und glaubwürdig ist. Wenn wir sie selbst wissen.

Reportage von einem Sportwettkampf Wollt Ihr? Gut. Ich bin einverstanden. Ich hab's versprochen. Aber beklagt euch später nicht. Es hat keinen Sinn. Gewiß, ich achte den Sport, und ich weiß, daß ihr mich in einen Trainingsanzug stecken und ein bißchen in Bewegung bringen wollt. Aber ihr werdet euch selbst davon überzeugen, daß das nicht geht. Das kann gar nicht gelingen. Was bin ich schon für ein Sportreporter? 211

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Gerade heute, wo ich mit euch über Hellas sprechen wollte ... Auf dem Programm stand Griechenland. Griechenland und Hellas — das ist dasselbe. In jenem alten Hellas gab es zwei Städte: Sparta und Athen. Wie beispielsweise Warschau und Krakau, oder Posen und Wilna, Lemberg und Lodz. Die Athener waren Griechen und die Spartaner auch. Aber sie konnten einander nicht leiden. Denn in Sparta hatten Sport, Muskelkräfte, Eisen, militärische Übungen und Krieg den Vorrang; die Athener waren auch Helden, wenn es darauf ankam, aber sie zogen Bücher, Skulpturen, Theater und die Kunst des Gesangs vor. Deshalb nannte der Athener den Spartaner ungebildet, mürrisch und grob; die Spartaner aber sagten von den Athenern, sie seien verwöhnt, geckenhaft und geschwätzig. Nun überfielen die Messener Sparta: ihr wilder Anführer Aristomenes überfiel Sparta. Und die Spartaner drohen zu verlieren. Schon hat Aristomenes bei der Stadt Sparta sein Lager aufgeschlagen, und die Messener tränken ihre Pferde am Fluß (es war nicht die Weichsel, dieser Fluß hieß Eurotas). Aristomenes stahl sich heimlich bei Nacht in die Stadt und hängte seinen messenischen Schild in einem spartanischen Tempel auf. Welche Schande! Aber die Spartaner waren erschöpft und schliefen; viele junge Männer waren schon in den Schlachten gefallen. Was sollten sie also tun? Vielleicht könnt ihr's erraten? Nun, der Rat der Alten trat zusammen und entsandte eine Abordnung nach Delphi (dort gab es ein griechisches Heiligtum; sie waren damals noch Heiden und hatten verschiedene Götter). In diesem Heiligtum in Delphi lebten keine Wahrsagerinnen, keine Zigeunerinnen, sondern Priesterinnen des Gottes Apollo ; sie wußten Rat in der Not; sie hießen Pythien. Und die oberste Pythia nahm die Geschenke von den spartanischen Gesandten entgegen; sie nahm auf einem Dreifuß Platz — einem Stuhl mit drei Beinen —, sie sitzt da und atmet Weihrauchdüfte ein und weissagt und rät den Spartanern, sie sollten um Hilfe bitten, flehen. Wen denn, könnt ihr das erraten? Ausgerechnet die Athener. Was? Sie, die Spartaner, sie sollten diese Weichlinge um Hilfe anflehen? Nein! Sie waren außer sich. Solch eine Schmach. 212

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Aber was sollten sie tun; was geschieht, wenn Aristomenes und die Messener Sparta erobern? Gefangenschaft oder Tod? Was sollten sie nur tun? Es gab damals weder Telegraphie noch Radio — sie schickten also ein Boot, das irgendwie am Lager der Messener vorbeikam (denn Sparta war belagert — wie ich schon sagte). Ja, und dann kamen sie nach Athen und baten um Hilfe durch Truppen und Schiffe. Nun gut. Sie hatten ihre Boten abgesandt und warteten. Ungeduldig warten sie auf Hilfe, auf die bewaffneten Scharen der Athener. Aber sie warten umsonst. Ahnt ihr, was die Athener taten? Ja. Sie schickten nur einen einzigen Athener, Tyrtaios. Und wer war das? Vielleicht ein furchtbar starker Mann, irgendein großer Sportler oder ein Riese? Nein. Ein ganz gewöhnlicher, staubbedeckter Dichter ganz ohne Waffen. Gebt acht, es kommt noch schlimmer: ein hinkender Dichter. Ein gewöhnliches Hinkebein, ein einziger, schwacher Mann. Und er hält kein Schwert, sondern eine Laute, eine griechische Mandoline in der Hand. Er singt vor ihnen und spricht: ‫ ״‬Sparta, ich grüße dich (poetisch: ich grüße deine Schwelle); ich bin Athener." Wo sind die Truppen? Keine Truppen; er ist allein gekommen. Er spricht: ‫ ״‬Athen hat mich, den Dichter, euch zu Hilfe gesandt, mit Lied und Laute." So ist das also? Verrat! Sie treiben bösen Scherz mit uns. Verrat. Tod dem Tyrtaios. Diesem Hinkebein. Wisset, wenn in Sparta ein schwächliches oder gebrechliches Kind geboren wurde, so wurde es getötet, von einem Felsen herabgestürzt; was wäre solch ein Krüppel wohl für ein Sportler geworden? Nun wohl. Aber Tyrtaios fürchtet sich nicht, unerschrocken steht er da; er sagt nur: ‫״‬Volk von Sparta, ich bin unbewaffnet." Und er spricht weiter: ‫ ״‬Ich bin Athener und daher bereit zu sterben." So poetisch und so stolz. Sollen sie ihn zum Tode verurteilen. Aber er bittet sie, ihm zu erlauben, ein letztes Mal zu singen, mit einem letzten Lied von Hellas, vom Vaterland, von Griechenland Abschied zu nehmen. Ob sie einwilligten? Was glaubt ihr? Ja. Sie wollten ihn töten, aber erst später, denn sie waren begierig zu erfahren, was er sagen, was er singen würde. 213

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Ich lese es euch vor; er spielt auf der Laute und singt, und so beginnt sein Lied: Kennt ihr das Land, an dessen Felsenrand des Meeres dunkler Abgrund glänzt, wo der kastaľsche Quell rein wie Kristall, und dessen Schläfen der Olymp bekränzt, wo euch entzückt der Rosen Duft, das Lied der Nachtigall; kennt ihr das Land, das von der Götter Hand mit wundersamer Harmonie des Wort's begabt, aus ihrer Hand einst Mut und Kraft empfangen hat; kennt ihr das Land, wo jener Mann gelebt, vor dem der Löwenrachen, den er aufriß, bebt, der Mann, der einst der Hydra Haupt mit seinem Schwerte siebenmal geraubt19? So singt er von Herkules. Und weiter singt er, spielt auf der Laute und singt, daß Sparta frei war, daß Sparta immer siegreich war. Aber jetzt beugt es Kopf und Nacken vor Aristomenes, dem Messener. Und so ruft denn Tyrtaios flammend vor Zorn: ‫ ״‬Eilt herbei, ihr Messener! Bindet sie! Schlagt sie in Fesseln, um sie zu verkaufen (denn Gefangene, müßt ihr wissen, wurden als Sklaven verkauft). Und eure Töchter und Frauen sollen in weißen Gewändern tanzen und mit dem Feinde Wein trinken (so war's der Brauch). Und weiter singt der Dichter Tyrtaios, der Athener. Er singt: ‫ ״‬In Sparta ist das Blut der tapferen Väter versiegt." Und er spricht: ‫״‬Die Sonne möge untergehen, daß niemand Zeuge dieser Schande werde." Und zum Schluß sprach er zu ihnen : Zerschlagt eure Schwer‫־‬ ter und versenkt sie in einen Abgrund, daß später niemand erfahre, daß es Eisen gab, daß nur das Herz (das heißt der Mut) euch fehlte. W7as glaubt ihr, was geschah . . .

19 Eingangsstrophe von ‫״‬Tyrteusz", allegorisches Gedicht von Wladysław L. Anczyc (1823—1883), Verleger, Dramaturg und Dichter, Verfasser patriotischer Gedichte. 214

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Oh, du meine Güte! Was habe ich da Kluges getan? Ich habe die Zeit verschwatzt. Wir haben uns verspätet. Geschwind auf den Sportplatz! Habt ihr eine Trillerpfeife? Ihr solltet mir doch auf einen Zettel schreiben, wie das alles heißt. Ihr werdet sehen, daß wir uns blamieren. Und ein Glas Wasser brauche ich; denn als Sportreporter — da werde ich eine trockene Kehle bekommen. Gib den Spickzettel her! Mit Bleistift? Das werde ich nicht entziffern können. Schnell! Was? Die Uhr ist stehengeblieben? Wir sind zu spät dran mit der Sendung? Aus Warschau hat man angerufen? Fangt schon an. Egal, was daraus wird. Stell das Mikrophon an. Und du, gib acht! Nicht hier. Hallo! (Pfiff.) Volleyball. Match. Triumph. Niederlage. Die beiden Parteien. Das Match. Volleyball, meine Herrschaften. Das Spiel läuft. Die Mannschäften, Repräsentation, Elite. Hohes Niveau. Scharfes Tempo. Die Situation. Technische Überlegenheit. Großer Ehrgeiz. Hervorragende Kondition. Sie spielen. Spielen, spielen. Ein Punkt. Seitenwechsel (Pfiff). Sie spielen. Spielen. Spielen. Aufopfernd. Ja. Aufopfernd spielen sie. Ein Erfolg. Ausscheidungskampf. Finale. Die Position. Keine Ahnung? Unbestimmt. Nun ja. Ein sensationeller Wurf. Ausgleich. Ah, dieser Teufel! Das war wirklich gut. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich bring's nicht fertig: Fernsehen brauchte man. Ooh, wieder drei interessante — aber ich weiß nicht, wie man das nennt. Denn der hat diesem, und dieser hat dem, und der, so scheint mir, ist ausgeschieden (Pfiff). Gib mir etwas zu trinken, ich hab einen ganz trockenen Mund. Augenblick, ich will meine Jacke ausziehen. Sie spielen. Spielen. Gut. Reiß dich zusammen! Ooh! Jan, der Engländer — das Phlegma —, lacht sich eins in den Bart. Er beobachtet scharf, einen Bart hat er nicht. Bravo! Sie spielen, spielen. Einer läßt sich aufs Knie fallen und schlägt den Ball ab, spielt ihn einem anderen zu — scharf, hoch, seitlich, hart, sauer, naß. (Ich kann nicht entZiffern, was hier steht.) Und die kleine Megäre zupft an ihrem Kleidchen herum, putzt sich die Hände ab, ordnet voller Würde ihr Haar und 215

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blickt triumphierend umher (Pfiff). Seitenwechsel. ‫( ־־־־‬Das hatte ich ganz vergessen.) Sie spielen weiter. Aufopfernd — scharf — hart. Der dort, wie ein Franzose: er ist entflammt und erloschen. Er lächelt skeptisch. ‫ ״‬Rira bien qui rira le dernier."20 Gut, gut. Sie spielen. Uh, der hat gepfuscht! — Er ist bekümmert, schämt sich (Pfiff). Gib mir was zu trinken, es ist heiß. Ein klassischer Wurf. Ein Schuß. Er wirft, gibt ab. Flügel, Mitte. Zuruf. Ecke. Mitte. Eine Runde. Eine zweite. Keine Aussicht. En avant. Schach! Der kleine Bursche rollt sich zusammen. Out, out. Rrra! Ein fixer Junge! Tempo. Runde, Trasse, Flintenlauf, Visier, Limousine. Picknick, Karneval. Mannschaft. Grütze. Tennisplatz, Fort, Torte, Mops. Kraut und Rüben. Kajak, Chrysanthemen. Tief, hoch, Rekord, Strudel. Sag ihnen, daß sie da verschwinden sollen, sie verstellen mir die Sicht. Und ihr hättet das nicht mit Bleistift hinkritzeln sollen, weil ich es nicht lesen kann und alles raten muß, was ich sagen soll (Pfiff). Sie spielen. Sie spielen. Angriff. Da habe ich nicht aufgepaßt. Tempo. Tor. Tür. Blitzartig. Ich habe nicht gewußt, wie schwer es ist, zuzuschauen und gleichzeitig zu berichten. Und was hat das eigentlich mit einer wissenschaftlichen Gesellschaft zu tun? Und warum mußte gerade ich es sein und nicht einer von euch — Sportreporter? Wirst du vielleicht vom Mikrophon gebissen, gekratzt, geschlagen oder gestoßen? (Pfiff). Und wenn's auch nicht gelingt, dann wird die Sonne trotzdem wTeiter scheinen und die Erde sich drehen, und überhaupt, was bedeutet das schon? Solange die Erde solide an ihrem Platz blieb, hatten die Menschen auch keinen Drehwurm. Jetzt tanzt alles, Tempo — Fox, five, Trott, Flit, Bridge, sie sind völlig verrückt (Pfiff). Ooh, gut gemacht. Aber man muß sich darauf verstehen, es begreifen und Bescheid wissen. Eine Sendung muß vorbereitet und erarbeitet werden. Ich kann's, aber dir kommt es noch 20 Dieses auch im Deutschen gebräuchliche Sprichwort ‫״‬Wer zuletzt lacht, lacht am besten" steht im polnischen Original zwar französisch, aber in polnischer Schreibweise = Rira biç, ki rira le demie".

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nicht zu: denn sie werden auf dich einreden, also sitzt du still und bist fein. Ich kenne solche Menschen: Da gibt es Arbeit, Kampf, Auseinandersetzungen, Ideen — aber er sitzt still und ist fein und freundlich. Hier türmt sich die Arbeit, man muß etwas tun, Zeit ist Geld, gemeinsam darangehen, aber sie sitzt da, fein und freundlidi — und tut nichts (Pfiff). Gib mal den Zettel her. Ich habe angefangen: also muß ich es auch zu Ende bringen. Ich wußte nicht, daß man beim Sport, wie hier beim Volleyball, die Menschen so gut kennenlemen kann : wer egoistisch ist, wer rücksichtslos und wer sich mit den Ellenbogen Platz schafft; dieser hier denkt an die Gemeinschaft und opfert sich auf, jener wittert und wartet auf seine günstige Gelegenheit. Sieh dir das nur an. Ooh! Er hätte den Ball abgeben können, aber nein. Solch ein Messener-Schuft, Aristomenes, uuuch, du Bramaputra, — er wollte, wie mir scheint, es lieber selbst verpfuschen. Seitenwechsel (Pfiff). Sie spielen, spielen. Volleyball. Scharfes Tempo. Hohes Niveau. Situation. Kondition. Großer Ehrgeiz. Technische Überlegenheit. Nein, das hatten wir schon. Ooh, kann der hoch springen. Wirft ab. Ein Stoß. Foul. Lockout, Impas, Pokal, Rapier, Kartell, Export, demi place21. Distanz. Training. Tennisschläger. Regatta. Er steht auf — er stürzt, liegt wie gefällt da — out. Er ist zusammengebrochen. Fünf zu fünf. Korkenzieher. Röhrenleitung. Demi vierge22. Chateaubriand. Sonnenbeschienenes Ackerland, reiche Obst-Plantagen, Bananen-Kultur in Südaustralien . . . Was hat der denn hier für einen Unsinn auf den Zettel geschrieben? . . . Woher soll ich wissen, daß das Notizen aus der Schule sind, eine ausgerissene Heftseite? Das hätte er durchstreichen sollen. (Pfiff.) Sie spielen, spielen . . . Laßt mich in Frieden. Jeder sollte das seine tun . . . Man kann das Radio nicht zum Narren halten. Ein Berichterstatter ist eben ein Berichterstatter. Ich bin es nicht! 21 demi 22 demi

place (frz.) = Halbtagsarbeit. vierge (frz.) == Halbjungfrau. 217

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Über Tyrtaios lese ich euch morgen etwas vor oder später (wenn ihr wollt). Merke: Ich überlasse es dem Leser, den tieferen Sinn dieser Sendung zu erraten. Leider weiß ich nicht, ob sie gelungen ist. Ein Bub jedenfalls hat mich verstanden. Er sagte: ‫ ״‬Sport — das ist der Körper, Tyrtaios — der Dichter, der Geist/' Liebe Gut, einverstanden. Du hast recht. Du liebst ihn nicht, aber du magst ihn gern, sehr gern. All die anderen Buben nicht; denn sie sind aufdringlich und laut, aber diesen einen — ja. Ein lieber Bub. Übrigens weißt du selbst nicht, warum. Und du machst dir Sorgen um ihn. Du hältst diese deine Nicht-Liebe ganz geheim (denn für die richtige Liebe müßte man das Abitur haben und überhaupt älter sein), du verheimlichst, daß du ihn gern magst und wunderst dich, woher ich es weiß? Aber ich habe einmal gesehen, wie du Akazienblätter abgezupft hast und dann ganz traurig warst, weil dabei herauskam: ‫ ״‬er liebt mich nicht". Doch ich versichere dir, daß er dich auch gern mag, er will es nur nicht zeigen, weil die anderen euch dann verspotten und auslachen könnten. Und er ist sehr stolz. Weißt du noch: der Kuchen. Er nahm nur ein Stück und schob dir ganz lässig den Teller hin; aber du hast das zweite Stück nicht genommen, und dann hat ein anderes Mädchen es gegessen; er war wütend, daß du es nicht genommen hast, und in seiner Wut behauptete er dann, die andere habe eine rote Nase, aber das stimmte gar nicht; dir erschien es nur nicht angebracht, es noch zu essen; denn dann hätten all die anderen ja auch erraten, daß er das Stück Apfelkuchen für dich übriggelassen hatte — solch ein Opfer, und du hast es verschmäht. Er zupfte dann auch Akazienblätter ab und fing fröhlich an zu pfeifen; denn bei ihm war herausgekommen: ‫ ״‬sie liebt mich". Mit Buben kenne ich mich schon aus; ein Mädchen bin ich nie gewesen, davon weiß ich also nur, was ich gelesen habe und dieses und jenes aus ihren Erzählungen. Ein Mädchen hat mir einmal gesagt, mir anvertraut, daß es sogar gern in sein Kopfkissen weine. Ein paar Tränen, ein 218

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Gebet —‫ ־‬und schon ist ihm leichter zumute, und es schläft versöhnt und beruhigt ein. Oder es legt sein kummerschweres kleines Haupt zur Ruhe, und auf der einen Hälfte des Kopfkissens — ist Winter (so stellt es sich das vor), und auf der anderen Seite (den Kopf zur Wand), da gibt es Blumen, Schmetterlinge — da ist Frühling. Oder das Bett ist — ein Schiff auf stürmischer See, auf großer Reise ; oder es stellt sich vor, was wohl in fünf Jahren sein wird. Der eine lehnt sich auf; ein zweiter fügt sich drein, und ein dritter denkt darüber nach, was man tun könne, damit es anders werde und besser auf dieser Welt. Ich weiß, du bist sanft und nachsichtig. Aber im allgemeinen beklagen sich die Mädchen sehr über die Buben. Glaub mir, die Buben sind nicht schlechter, sie sind nur anders. Ich habe dieses Problem mathematisch untersucht, denn die Mathematik ist die Königin der Wissenschaften. Da gibt es kein Dafürhalten und keine Rätsel, sondern da herrscht die Zahl, stolz, genau und unerschütterlich. Ich habe also gezählt: wieviele Kleckse und Flecken in den Heften, wieviele Buchstaben in Schönschrift, wie hoch die Schusterrechnungen für Schuhsohlen bei den Mädchen und bei den Buben, wieviele schmutzige, lange Fingernägel bei den einen und den anderen, wieviele verlorene Bälle, wieviele Löcher in den Strümpfen und wieviele zerschlagene Fensterscheiben, blaue Flecken und Pflaster, zerbrochene Stahlfedern und Bleistifte, verlorene Taschentücher und Mützen; wieviele Schlägereien (und Seifenstücke) — und alles getrennt: bei fünfzig Mädchen und bei fünfzig Buben. Ja, die Zahl steht unerschütterlich, das stimmt, aber die Sache selbst ist doch recht kompliziert. Ein Bub wendet ein: ‫ ״‬Sie zählen nur die Schlägereien; aber zählen Sie doch auch Zank, Klatsch, Klagen und Beleidigungen." Und ein Mädchen meint: ‫ ״‬Ich bekomme die Beule an meiner Stirn angerechnet, aber ein Junge hat mich gegen einen Baum gestoßen, und dabei bin ich hingefallen ; Sie haben den Mädchen meinen zerrissenen Ärmel angerechnet, aber wir haben gespielt, und ich hatte sogar zur Bedingung gemacht, daß nicht an den Ärmeln gerissen werden dürfe. Das ist ein Klecks, den er in mein Heft gemacht hat; er hat meinen Radiergummi ausgeborgt und ihn verloren; ja — 219

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ein Pflaster, aber ich habe mich beim Stopfen von JungenStrümpfen mit der Nadel gestochen; an meinem Finger schält sich die Haut, das sollte aber nicht mitgerechnet werden." Die Lehrerin ringt die Hände, weil die Buben faul und dreckig sind und einen ganz verrückt machen; aber dann heißt es wieder: mit ihnen kommt man doch leichter aus. Auch die Mädchen finden, ohne die Buben sei es irgendwie still, ja sogar ein bißchen traurig. Bis schließlich die Königin aller Wissenschäften feststellte, daß Buben viermal so lebhaft sind wie Mädchen. Und viermal so laut. Ja . . . Nicht hundertmal und nicht tausendmal, und nicht zu jeder Zeit und nicht überall wimmelt alles von ihnen. Aber viermal so laut sind sie, und zahlreicher und flinker und lebhafter. Das ist schon so ihr Schicksal, Fatum, Moira, Ananke — ob es dir paßt oder nicht, es ist so. Ein abenteuerliches kleines Volk. Deshalb viermal soviel Schuhsohlen und Flicken und Stopfen; sie haben es viermal so eilig; deswegen verlieren sie soviel, und ihre Buchstaben werden krumm. Denn ein Bub leidet, wenn er stillsitzen, schreiben und seine Aufgaben lernen muß. Und die Ohren sind nicht deshalb schmutzig, weil sie das schön finden (die Ohren sind sowieso unter den Haaren versteckt) — sondern weil ein Bub leidet, weil er einfach keine Zeit hat, sich zu waschen, und er dabei außerdem still stehen muß, denn mit der Wasch-Schüssel kann er nicht herumrennen. Ein Mäddien sitzt von sich aus gern, da ist es kein Kunststück, daß es seine Hefte sorgfältig führt. (Es gibt natürlich auch Ausnahmen und Abweichungen von der Regel.) Die Buben sind nur anders, nicht schlechter; also gibt es Klagen — aber auch Bewunderung, Besorgnis, Freundschaft und Liebe. Du magst ihn also gern, sehr gern; du fürchtest für sein Leben, weil er leichtsinnig ist und Pilot werden will. Aber du möchtest, daß er — von zwei Übeln — lieber Seemann wird; zwar gibt's da audi Orkane und Wasserhosen, aber Wasser ist immerhin ein wenig stabiler — ein wenig fester als Luft, er könnte sich besser retten. Du möchtest also, daß er Schiffskapitän wird; dann kannst du ihn begleiten und unterwegs die Neger bekehren. Aber am schlimmsten ist, daß er seinen Glauben verloren hat, im Zoo — vor dem Affenkäfig. Und sein 220

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Vater und seine Mutter beten auch nicht und glauben weder an den Teufel noch an Geister. Er wollte sogar um eine Tafel Schokolade wetten, daß es keine Hölle gibt. Was wird aus ihm, wenn sein Flugzeug abstürzt oder überhaupt, wenn er stirbt? Mach dir keine Sorgen: er wird nicht sterben. Wenn er damals krank wurde, dann deshalb, weil er ein Kilo Sauerkirschen, vier harte Eier, drei Gurken, einen Apfel und noch irgendetwas anderes gegessen hatte, ich habe vergessen, was das war. Nach zwei Tagen war er wieder gesund, ganz gesund. Ich versichere dir, er hat einen kräftigen Organismus und er ist auch nicht so leichtsinnig, wie du meinst. Gestern (wir sitzen zusammen an einem Tisch) hat er nur fünf Quarkbrote gegessen und nach dem sechsten gegriffen; aber dann v^inkte er ab und sagte: ‫ ״‬Ist schon genug." Dann aß er nur noch drei Stücke Brot, aber das brauchte er — zur dicken Milch. Folglich: er versteht es, die Lehre aus seinen Erfahrungen zu ziehen. Er will nicht wieder krank werden. Ja. Und du täuschst dich, wenn du annimmst, daß man dem ersten besten gleich ein Flugzeug anvertraut. Bauchweh vom Kirschen-Essen, das ist noch keine hinreichende Qualifikation für einen Piloten. Ein Flugzeug — das ist eine sehr teure Maschine: die vertraut man nicht irgendeinem Taugenichts an. Ich weiß, er ist kein Taugenichts. Er ist so mutig, spielt Volleyball und fährt Rad, er hat auch nie geweint, obwohl er viel abgekriegt hat, und eigentlich hat er sich damals sogar deinetwegen geschlagen, als die kleine Xanthippe — Megäre geklatscht und sich geärgert hatte, weil er ihren Brief gelesen hat. Er schwimmt auch sehr gut. Er hat zwar behauptet, er denke nicht daran, ein dummes Mädchen vor dem Ertrinken zu retten, aber das war nur Spaß. Du weißt doch selbst — er hat dabei gelacht. Wie kannst du erwarten, daß ein Bub zugibt, daß er ein weiches Herz hat. Und überhaupt ein Herz — das fehlte noch. Ein Bub, und plötzlich ein Herz; gleich würden alle sagen, er sei ein Weib, verrückt geworden oder sonstwas. Außerdem werden Jahr für Jahr Verbesserungen für Flugzeuge und Fallschirme erfunden, und so wird das Fliegen immer sicherer. Er ist ja auch noch viel zu jung für einen 221

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Piloten. Du kannst ihm zuraten, er solle lieber Seemann werden, aber beharre nicht darauf. Du hast selbst zugegeben, daß es auch auf dem Meer Stürme und Klippen gibt, aber es gibt audi Rettungsboote und Rettungsringe. Aber bis er erst einmal Pilot ist, werden gewiß kleine Flugzeuge an beiden Seiten montiert sein, und wenn es dann zu einer Katastrophe kommen, wenn eine Tragfläche abreißen sollte, dann kann er blitzschnell in dieses Rettungsflugzeug umsteigen und landen. Du kannst ihm auch, aber ganz behutsam, sagen, daß ein Pilot noch besser lernen muß, weil er sonst sitzenbleibt, und daß jemand, der ihm Gutes wünscht, auf ihn wird warten müssen. Du hast recht: niemand weiß, was ihn erwartet. Ich erinnere mich: da war ein Offizier, damals, in der russischen Armee. Der hatte eine Heidenangst; sooft es zu einem Angriff oder zu einer Schlacht kam, wurde er krank und mußte ins Krankenrevier. Und was weiter? Er fuhr auf Urlaub in die Stadt, für zwei Wochen: glückselig, weil er nun außer Gefahr war, ins Theater und zum Schwimmen gehen konnte und ein bequemes Bett in einem Hotel hatte. Aber was geschah? Es war windig — und ein Aushängeschild fiel ihm auf den Kopf. Schlimmer: ein Friseurschild. Noch schlimmer: das Schild eines Damenfriseurs. Damals gab es noch keine Röntgenapparate (während des russisch-japanischen Krieges). Dies und jenes kam hinzu, die Hirnwindungen — irgendetwas geriet durcheinander — und pfff — er war nicht mehr. Nicht von einer Kugel durchbohrt, nein, durch das Aushängeschild eines Damenfriseurs war er umgekommen, gefallen. Du hast recht: ein Pilot muß beten. Aber gräm dich nicht. Ein Bub wie er, der sieht, daß er gut Volleyball spielt und schwimmt, der eine Krähe geschossen hat, ein Fahrrad besitzt, dem der Pferdeknecht erlaubt hat, ein Gespann zu führen, der sechs Quarkbrote ißt und dem es gelungen ist, in die nächste Klasse versetzt zu werden, der redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist; er steht auf du und du mit Problemen, mit deren Lösung sich die Menschheit seit Hunderten und Tausenden von Jahren plagt und quält. Wissen ist herausfordernd, Glaube geduldig und nachsichtig. Er hat sich verirrt. Er wird sich immer wieder irren. Das kommt vor. Du sammelst im Wald Beeren und Pilze und ver222

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irrst dich. Nun, du wendest dich hierin und dorthin, du hast ein bißchen Angst, endlich findest du den Weg wieder oder du begegnest einem Menschen, der ihn dir zeigt. Er hat's eilig, aber er sammelt keine Pilze, sondern Wissen vom Leben, von den Menschen und ihren Problemen, er schaut sich um und sucht. Auch so etwas kommt vor. Ein Ball ist im Gras oder in den Sträuchern verschwunden. Er ist nicht da — er ist fort. Aber er muß doch da sein, er ist nur nicht zu sehen, nicht zu finden, abhanden gekommen. Endlich: oh, da ist er, der Ball! Gräm dich nicht: auch er wird wachsen, reif werden, wiederkehren, alles schaffen und seinen Glauben wiederfinden. Es ist sogar gut, daß er dir das gesagt und nicht verschwiegen hat. Wer seine ungewöhnlichen, widerspruchsvollen Gedanken verbirgt und verleugnet, der kommt nicht weit. Man muß tapfer sein und einander in die Augen sehen können. Du möchtest ihn beeinflussen? Versuch es, sanft und freundlich: ein Gleichaltriger kann viel erreichen. Die Erwachsenen fauchen zu oft, sie belehren zwar auch, aber voller Hochmut und Ungeduld ; es gibt aber Probleme, bei denen keine kühlen, klugen, erfahrenen Worte weiterhelfen, sondern der warmherzige, gute Rat des Altersgenossen vonnöten ist. Je mehr der Mensch sieht und je länger er lebt, desto weniger selbstsicher ist er. Das Leben ist groß und stark, er aber schwach und klein. Aber wenn du dich wieder einmal mit mir unterhalten möchtest, bitteschön, ich stehe gern zu Diensten. Zieh, junger Mann Nein. — Ihr habt mich nicht enttäuscht. Ich möchte euch danken. Ihr habt mich überhaupt nicht gestört. Viele neue Gedanken und Erinnerungen verdanke ich euch, ich habe manches gelernt. Die Mineralogie ist wichtig, aber der Mensch auch. Ebenso die Bücher, vor allem aber die Wahrheit des Lebens. Ihr klagt über die Schule? Ich höre zu. Über euren Lehrer? Gut. Ihr beklagt euch über eure Kameraden? Bitteschön. Die Menschen sind verschieden. Dem einen ist ein guter Kamerad genug, der andere aber will eine ganze lärmende Schar um sich haben. Der eine mag es gern, wenn alles ruhig und still ist, 223

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der andere, wenn es rasch und lärmend zugeht. Der eine ist fröhlich, der andere besinnlich. Dieser ist schüchtern, jener selbstsicher. Der ist verträglich, jener zänkisch. Pardon: jeder hat seine Vorzüge und Fehler. Dieser singt, jener zeichnet, dieser macht Rechenaufgaben, ein anderer Aufsätze. Es ist gut, daß jeder anders ist. Du aber behauptest gleich: ‫ ״‬Der ist nichts Rechtes, zu nichts zu gebrauchen." Der Lehrer schreit euch an? Pardon, Monsieur: was soll er denn tun, wenn ihr ihn ärgert? Er ist auch ein lebendiger Mensch mit seinen Nerven und Beschwerden, seinen Familiensorgen und Gallensteinchen. Niemand brüllt sich zum Vergnügen heiser. Der Lehrer verlangt zu viel? Hat er vielleicht den Lehrplan auf gestellt? Wird er vielleicht nicht kontrolliert, und muß er vielleicht nicht auch seinem Vorgesetzten RechenSchaft über die Fortschritte seiner Klasse ablegen? Er erklärt nicht richtig, seine Lehrmethoden sind schlecht? Pardon : aber sollte man vielleicht ausschließlich in deine Schule aus ganz Polen Wissenschaftler wie Kopernikus, auserwählte Redner wie Skarga und Dichter wie Słowacki zusammentreiben23? Nur für dich allein aus dem ganzen Lande die besten Eier des Kolumbus aussuchen? — Und nur für dich, für deine Klasse alle einheimischen Altersgenossen durchsieben, lauter Schul-Marzipan auslesen, nur um dich allein zufriedenzustellen? z 3 Unter den drei von Korczak ‫״‬Auserwählten" des polnischen Olymps bedarf der Astronom Nikolaus Kopernikus (1473—1543) hier keiner Erläuterung. Piotr Skarga (1536—1612; eigentlich: Piotr Pawęski), seit 1569 Mitglied der ‫״‬Societas Jesu", war der berühmteste Verfechter der polnischen Gegenreformation; er suchte in zahlreichen Schriften und Disputationen mit Lutheranern, Calvinisten, Arianern, Orthodoxen und Vertretem nichtchristlicher Religionen die Einheit des Christentums wieder herzustellen, vor allem durch ein Hauptwerk ‫״‬Über die Einheit der Kirche Gottes unter einem einzigen Hirten" (1577)· Zugleich war Skarga ein Prediger von hinreißender Gewalt, der seine Rednergabe oft auch — wie in seinen 1597 niedergeschriebenen ‫״‬Reichstagspredigten" — politischen Zwecken lieh. Juliusz Słowacki (1809—1849) war einer der berühmtesten Dichter der polnischen Romantik, der in all seinen Werken den unlösbaren Konflikt des einzelnen mit einer gesellschaftlichen Umgebung — meist mit der der polnischen Adels-Nation — darstellte. Gerade dadurch war Słowacki für die späteren Generationen bis zur Zeit Korczaks hin bestimmend. Auf Korczak dürften vor allem sein Werk ‫״‬Der Vater der Pestkranken" und sein groß angelegtes historisches Epos ‫״‬König Geist" nachhaltig eingewirkt haben.

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Und was soll mit den anderen Schulen, Internaten und Landschulheimen geschehen? Überall jeden Tag angebrannte Koteletts und übergekochte Milch, aber hier niemals — weil du, der erlauchte Gast, geruhst, dich hier aufzuhalten? Pardon: wenn du aus einem Kuchen die Rosinen herauspickst, wird immer ein anderer weniger bekommen. Über zwei Milliarden Menschen gibt es auf der Welt; in Polen verlangen fünf Millionen Geister Schulbildung. Ein jeder hat das Recht auf einen guten Lehrer und auf seine kleine Portion Himbeereis. Willst du dich also nicht mit einem guten Kameraden begnügen, und der Rest sind eben weniger gute? Man kann sich nur soviel leisten, als die Hütte reich ist. Verlange nicht zu viel, befiehl nicht, sei nicht aufdringlich; denn nicht nur du allein, nicht nur deine wichtige Person hat die Güte zu leben. Er langweilt sich im Unterricht, also stört er, dieses falsche Goldstück, die anderen. Dieses aufgeblasene, gespreizte ‫ ״‬Ich" — eingebildet, aufgeplustert, hochmütig — Blase. Gestank. Beim Volleyball rennt er dazwischen, pfuscht seinerseits, gibt aber den Ball nicht ab; später aber klagt er die anderen an, sie hätten das Spiel verloren. Denn er, ich bitte euch, ein Heliotrop, ein Erz-Meister, eine blaue Mandel, ein olympischer Truthahn und Weltmeister, die sportliche Vollkommenheit auf zwei Beinen — Er, ja er — ein ropalocephalus carcinematosus. (Hm? was das heißt? Das weiß ich nicht. Irgendeine krankheitserregende Bakterie. In meiner Wut habe ich das gesagt, in meiner Aufregung. Oft läßt sich der Mensch im Zorn hinreißen und redet dummes Zeug, ‫ ״‬ein bißchen sehr" aufgeregt.) Du erinnerst dich: ‫ ״‬ein bißchen sehr" — das hast du einmal gesagt. Erwachsene sprechen anders: sie wissen genau, wie sehr man sich in jedem einzelnen Fall auf regen kann. Ich habe einmal irgendwo gelesen: Ein Reisender besucht Afrika und kommt in ein Negerdorf. Da sieht er: in englischer Sprache die Aufschrift ‫ ״‬Schule". Er ist neugierig, wie die kleinen schwarzen Neger lernen. Sie wissen viel und können auch gut Englisch. Also fragt er, wie lange das schon geht. Und der Lehrer: ein Jahr. ‫ ״‬Ein Jahr, nur ein Jahr — unmöglich!" ‫״‬Aber nein: die Schule besteht schon lange; mein Vorgänger hat neun Jahre hier gearbeitet" — ‫ ״‬Wo ist er jetzt und was macht er?" — ‫ ״‬Er ist nicht mehr, die Eltern 225

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der Schüler haben ihn verspeist." — ‫ ״‬Sie scherzen?" ‫ ״‬Aber nein, das sind doch Menschenfresser." — ‫״‬Und was wird aus Ihnen? Die können Sie doch auch auffressen?" — ‫״‬Das können sie: dann müßte das Unterrichtsdepartement statt meiner einen neuen Lehrer herschicken". So ist das, mein Freund. Oh nein. Nicht du, sondern die Sache, der Dienst — ein disziplinierter Bürger. Wäge das einmal ab, redlich und aufrichtig. Das ist ein kluges Wort: abwägen. Wäge ab, wieviel Wahrheit und Gerechtigkeit, wieviel Lüge und Unrecht, wieviel Vernunft und Dummheit; lege Kummer und Dieberei, Unlust und Böswilligkeit in die Waagschale, wäge ab, wieviel feinkörnige Güte, Hilfsbereitschaft und Gefälligkeit, wieviel grobkörnige Ehrlichkeit, Arbeit und guter Wille. Aber du möchtest leicht und mühelos über die heimatlichen Fluren und Felder tanzen, ohne Müh und Plag' ‫ ־־‬und ‫״‬ge‫־‬ bratene Täubchen just ins Mäulchen"? Der Lehrer hat dich ungerecht beurteilt? Er ist vorein‫־‬ genommen? Du hast eine bessere Zensur verdient? — Wenn du nur deine Pflicht getan hast, dann bewahre dir dein heiteres Gemüt. Er wird es vor der Geschichte verantworten müssen. Aber deine Nachlässigkeit und Faulheit —‫ ־‬Minus. Du hast deine Aufgaben nicht gemacht, auch wenn du nicht aufgerufen wurdest: Minus. Du denkst: ‫ ״‬Ich habe Glück gehabt." Nein: Minus. Nicht der kleine Schüler, sondern der Staatsbürger ist in der Schule zu spät gekommen. In der Statistik der staatsbürgerlichen Aktivität erscheint dein Klecks, dein Zuspätkommen — Minus. Pardon. Du wirst Arzt. Denkst auch — ‫ ״‬der Kranke ist kein Hase, er läuft nicht weg", und kommst zu spät — er aber ist derweil hilflos gestorben — wiederum Minus; in der Statistik steigt die Zahl der Waisen. Ein Pilot kommt verspätet zum Flugplatz, die Zeit war zu knapp, um die Maschine vor dem Start zu kontrollieren, eine Katastrophe ‫ ־־־‬du hast dir das Genick gebrochen und — Minus, und die Landesverteidigung ist um ein ganzes Flugzeug ärmer. Du hast Berechnungen nach‫־‬ lässig aufgestellt — eine Katastrophe — deine Brücke, dein 226

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Fabrikschornstein ist eingestürzt, dein Unterseeboot ist kaputt - untergegangen, der Kessel ist geplatzt. Dein erstgeborener Sohn, er fragt dich: ‫ ״‬Vater, wieviel ist sechs mal neun", und du stehst da wie ein großes walachisches Schaf (nach dem Lexikon ist das eine Gattung von Schafen mit einem besonders langen dicken Schwanz) — dein Sohn fragt dich also, und du weißt es nicht. Wenn der Vater ungebildet ist, weil er von klein auf schwer arbeiten mußte und nicht in die Schule gehen konnte — dann ist das keine Schande; aber du, schon mit deiner sauber gebundenen Krawatte, mit deinen Bügelfalten, du also, ‫ ״‬Vater, wieviel ist sechs mal neun", ‫ ״‬Vater, ist Tisch ein Hauptwort?", ‫״‬Vater, ist Mississippi eine Insel oder eine Halbinsel?" — du stehst da wie das besagte walachische Schaf und wirst ganz rot — auch keine Schande? Du sagst: ‫ ״‬Ich hab noch Zeit." Das stimmt nicht. Dort, im Ausland, da wird gelernt, da werden Straßen, Fabriken, Maschinen, Panzerschiffe, saubere helle Wohnungen gebaut. Und was tust du? Nicht mal dein eigenes Ohr willst du waschen, damit es sauber wird? Du belastest die Statistik mit einem schmutzigen Ohr. Minus, Staatsbürger. Du sagst: das ist zu schwer, und du verziehst deswegen das Gesicht. Pardon. Ein Narr, wer alles leicht haben will, irgendwie, nur rasch abgemacht. Du freust dich, wenn dein Lehrer krank ist und der Unterricht eine Woche lang ausfällt? Du solltest das, was schwer ist, liebgewinnen. Zieh, junger Mann . . . Da fällt's mir wieder ein, es ist schon lange her. Damals kannte man noch keine Elektrizität, ich fuhr also mit der Pferdebahn von der Schule heim. Im Sommer zog ein Pferd die Bahn über die Schienen, aber im Winter spannte man zwei Pferde vor, weil es im Schnee schwerer ging. Ich stehe also mit meinem Schulranzen auf dem Rücken neben dem Fahrer, er treibt die Pferde mit der Peitsche an und schlägt sie. Die Pferde ziehen, aber der Schnee liegt hoch. Die Tiere taten mir leid und ich sage: ‫ ״‬Sie schlagen sie so arg." Er blickte mich unfreundlich von der Seite an und erwiderte: ‫ ״‬Steig doch aus und zieh, junger Mann, wenn du so barmherzig bist; runter vom Wagen, und die Pferde werden es leichter haben." Ich schämte 227

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mich sehr. Mir war das eine Lehre fürs ganze Leben: misch dich nicht ein, wenn du's nicht besser weißt, sprich nicht mit, wenn du nicht mithilfst, kritisiere nicht, wenn du's nicht besser kannst. Zieh du auch, junger Mann! Das gefällt dir nicht, das sollte nicht so sein, die Schule so und du so. Dumm ist das und schlecht. Aber was kann man tun? Zieh, junger Mann! Oder erfinde wie Edison die Elektrizitat. Oder warte ab, schau zu und warte geduldig, bis deiner Schule der Weisheitszahn wächst. Schau dir selbst zu, das ist es. Was nehme ich, was gebe ich? Und nicht erst später, irgendwann einmal, sondern jetzt und sofort! Ein Kamerad hat dir einen Bleistift, einen Radiergummi geborgt. Denke daran: du mußt ihn zurückgeben. Jemand hat dir einen Gefallen getan, das mußt du nun auch (nicht unbedingt ihm), aber einem anderen tun. Du nimmst, du gibst. Ein gescheites Spiel — Volleyball (Völkerball). Du nimmst den Ball, du spielst ihn einem anderen zu, bekommst ihn und gibst ihn wieder ab ‫ ־־־‬für ein gemeinsames Ziel. Und du gibst acht —‫ ־‬der Ball ist bei euch —· du bemühst dich, ihn dem Spieler zuzuwerfen, der besser steht, der ihn erfolgreicher ins Ziel spielen kann. Guter Staatsbürger. Aber ein schlechter Staatsbürger reißt Zweige ab und wirft mit Steinen nach dem Huhn; schmutzig ist das Heft des nachlässigen Staatsbürgers, der das vaterländische weiße Papier verschmiert. Oder willst du für deinen Sohn ein Vorbild sein: ‫ ״‬Schau, das ist das Heft deines Vaters aus seiner Schulzeit/' Du kannst die Grammatik nicht ausstehen? Pardon, Monsieur, du Stinktier! Du ißt schließlich chleb? Nicht deutsches ‫״‬Brot", nicht französisches ‫״‬pain", sondern chleb. Dem Deutschen gibt die Kuh ‫״‬Milch", dem Franzosen ‫״‬lait", und dir gibt sie mleko. Du atmest powietrze ein, nicht ‫״‬ľair", oder ‫״‬Luft". Du bist im Ausland. Ich behaupte nicht, dort sei alles schön und reich. Dir gefallen die Sonne und der Himmel. Aber plötzlieh kräht da solch ein ausländischer Hahn, anscheinend genauso wie daheim — der alte: Kukuriku, der junge: Kikeriki. Und doch empfindest du's: das ist kein Landsmann, kein Einheimischer und kein Bekannter — das ist ein Fremder. 228

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Ein exotisches Land: Kolibris, Schmetterlinge, schwere Düfte, Papageien. Kein grauer Spatz, kein Vergißmeinnicht. Eine Palme — nun ja, eine Palme, fremd ist der Ausdruck ihres Gesichts und gleichgültig ihr Blick, verglichen mit einer Weide — ein Krüppel. Eine Mücke, eine Wespe, eine einheimische Wanze —‫ ־‬keine Tsetsefliege, keine Boa, keine todbringende Spinne. Oder ihre Delikatessen, ihre Leckereien, Soßen, Desserts und Sorbets, ihre ausgesuchten Weine, Paprikas und Frikassés, du futterst es in dich hinein, schüttelst dich, nun, es ist Mode und gehört zum Prestige, aber du hast Sehnsucht nach Krakauer Wurst, nach einer Żubrówka, nach Merrettich, Thorner Pfeffer‫־‬ kuchen und heimatlichem Bigos 24. Aber nimm dich in acht, Staatsbürger! Denn hier lauern Netze, Fallen und Schlingen. Denn das ist noch nicht alles. Nicht nur Schlag auf Schlag, heut' ist heut' und hopsassa. Und du tanzt und springst, schreist vivat bei der Parade und steckst dir's noch ins Knopfloch. Ich habe schon gesagt: der eine denkt: ‫״‬Was man mir gibt, das nehm ich" und ‫״‬wenig, ärmlich" —‫־‬ und er ist unzufrieden, der andere denkt: ‫ ״‬Was kann ich geben", nicht, ‫״‬was bekomme ich", vielmehr, ‫״‬was kann ich dazutun". Wir haben Glasscherben, Zigarettenstummel und fettiges Papier aufgelesen, wir haben einen Landungssteg gebaut — nun ist es bequemer beim Baden, sauber, die Füße werden nicht mehr verletzt und versinken nicht mehr im Schlamm, und die Blumen sind begossen, — eine staatsbürgerliche Tat, Plus für unseren kleinen Bereich; nun ja, die Kräfte reichen so weit, als die Hütte reich ist. Nein, nein. Ihr habt mich nicht gestört, im Gegenteil — ihr habt mir geholfen . . . Ja, und da ist mir's eingefallen: ‫ ״‬Zieh, junger Mann!" Es ging mir gut bei euch, und es war auch ein ‫״‬bißchen sehr" lustig. Ich danke euch . . . 24 Unter den oben genannten Genüssen der polnischen Tafel soll hier zunächst die *Żubrówka" erläutert werden. Sie ist ein klarer Branntwein, der durch den Zusatz eines besonderen Büffelgrases aus dem Urwald von Białowieża — der einzigen Naturlandschaft in Europa, wo es noch terrigene Wisente (żubry) gibt — einen eigentümlich würzig-herben Beigeschmack erhält. Der ‫״‬Bigos" stellt ein echtes Nationalgericht dar, das aus mehreren Sorten Fleisch, aus Sauerkraut und anderem Gemüse sowie aus vielerlei Kräutern und Gewürzen zusammengekocht wird.

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Spuck in die Hände — maule nicht — zieh! Es ist schwer, da kann man nichts machen — um so besser, die Anstrengung ist größer. Denn das Maul, das ist eine furchtbare Sache . .. Eine furchtbare ! Merke : Zum Abschluß möchte ich noch . . . aber lassen wir das. — Die Überschrift lautet: ‫ ״‬Fröhliche Pädagogik." Das ver‫־‬ pflichtet.

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B E WE R B U NG Freunde, die mir helfen wollen, bitten mich, ein Testament zu schreiben. Ich tue dies nun in meinem curriculum vitae, mit dem ich mich um die Stelle eines Erziehers im Waisenhaus in der Dzielna-Straße Nr. 39 bewerbe. Ich bin vierundsechzig Jahre alt. Mein Gesundheitsexamen habe ich im vergangenen Jahr im Gefängnis bestanden. Trotz der dort herrschenden strapaziösen Aufenthaltsbedingungen war ich nie krank; ich habe nie einen Arzt aufgesucht und mich nie vor der Gymnastik gedrückt, der sich selbst meine jüngeren Gefährten schaudernd entzogen haben — (Wolfshunger, Schlaf des Gerechten, erst neulich bin ich am späten Abend nach zehn Gläsern starkem Wodka allein zu Fuß von der Rymarska- zur Sienna-Straße zurückmarschiert. In der Nacht stehe ich zweimal auf und gieße zehn große Kübel aus.) Ich rauche, ich trinke nicht, meine geistigen Kräfte reichen für den Alltagsbedarf leidlich aus. Ich verstehe es meisterhaft, mit meinen Kräften hauszuhalten: Wie Harpagon2 rechne ich den sinnvollen Verbrauch jeder Energieeinheit nach. Ich bin hinreichend mit der Medizin, der Erziehung, der Eugenik und der Politik vertraut. Dank einiger Übung besitze ich eine ausgeprägte Fähigkeit, selbst mit verbrecherischen Typen, mit geborenen Schwachköpfen zusammen zu leben und zusammen zu arbeiten. Ehrgeizige, sture Dummköpfe erklären mich für untauglich, nicht ich sie. 1 Aus: Wybór Pism (Ausgewählte Schriften), Bd. IV, S. 497—500. Wortlaut einer Bewerbung Korczaks an das Personalbüro des Judenrates vom Februar 1942. 2 Harpagon: Hauptperson in Molieres ‫״‬L'Avare", dessen Name zum feststehenden Begriff für den ,,fesse-mathieu" (Wudierer, Geizhalz) oder den ‫״‬ladre consommé" (den vollendeten Knauser) wurde.

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Meine letzte Prüfung dieser Art: in meinem Internat duldete ich über ein Jahr eine weiß Gott nicht besonders begabte Leiterin und überredete sie sogar noch zum Bleiben, obwohl das für mich sehr unbequem war und mich manche ruhige Stunde gekostet hat; sie ist dann von sich aus gegangen — (mein Grundsatz: die Schwächen des vorhandenen Personals sind immer noch besser als die Vorzüge des neuen). Ich glaube, daß die kriminellen Typen unter dem Personal des Internates in der Dzielna-Straße die verhaßte Stellung, mit der sie nur durch Feigheit und Trägheit verbunden sind, freiwillig verlassen. Das Gymnasium und die Universität habe ich in Warschau absolviert und meine Ausbildung in Berliner Kliniken (ein Jahr) und in Paris (ein halbes Jahr) ergänzt. Ein vierwöchiger Abstecher nach London gewährte mir einen Einblick in das Wesen karitativer Arbeit (man hat lange Erfahrung dort). Meine Lehrmeister in der Medizin: die Professoren Przeworski (Anatomie und Bakteriologie), Nasonov (Zoologie), Ščerbakov (Psychiatrie) und die Professoren für Pädiatrie: Finkeistein, Bagiński, Marfan und Hutinel (Berlin, Paris)3. (An den freien Tagen Besuch von Waisenhäusern, Besserungsanstalten und geschlossenen Anstalten für sogenannte verbrecherische Kinder.) Ein Monat in einer Schule für zurückgebliebene Kinder, weitere vier Wochen in der neurologischen Klinik von Ziehan4. Meine Lehrmeister im Krankenhaus an der Sliska-Straße: der ironische Nihilist Koral, der joviale Kramsztyk, der tief3 Przeworski — wahrscheinlich Przewóski, Edward (1849—1925), Nikolai Viktorovia Nasonov (1855—1939), russ. Biologe, 1889—1906 Professor an der Universität Warschau, Alexander Efimovič Ščerbakov (1863—1934), russ. Neuropathologe, 1894—1910 an der Universität Warschau, Heinrich Finkeistein (1865—1942), bedeutender deutscher Kinderarzt, Adolf Bagiński (1844—1918), Professor für Kinderheilkunde in Berlin, Begründer des ‫״‬Archivs für Kinderheilkunde", Bernhard Jean Antonin Marfan (1858—1942), franz. Professor für Kinderheilkunde an der Universität Paris, Victor Henri Hutinel (1840—1933), franz. Kinderarzt, Professor für Pathologie in Paris. 4 Ziehan = Theodor Ziehen (1862—1950) dt. Psychiater.

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sinnige Gantz, der glänzende Diagnostiker Eliasberg5, außerdem der Feldscher-Chirurg Sliżewski und die aufopfernde Krankenpflegerin Łaja. Ich hoffe, noch mehr Lajas zu treffen — Heldinnen im Kinderschlachthof und im Leichenhaus in der Dzielna-Straße 39. Das Spital hat mir gezeigt, mit welcher Würde, seelischer Reife und Einsicht ein Kind sterben kann. Bücher über Statistik haben mein Verständnis für die Medizin vertieft. (Die Statistik vermittelt die Disziplin logischen Denkens und objektiver Beurteilung der Tatsachen.) Im Lauf von fünfundzwanzig Jahren habe ich jede Woche Kinder gewogen und gemessen; aus dieser Zeit besitze ich eine unschätzbare Sammlung von Diagrammen, Wachstumsprofilen von Kindern im schulpflichtigen Alter und im Pubertätsalter. Einem jüdischen Kinde begegnete ich zum erstenmal, als ich Leiter in einer Ferienkolonie in Michałówka war, die nach Markiewicz benannt w ar6. Die langjährige Tätigkeit in einer leihgebührfreien Bücherei ergab reichhaltiges Beobachtungsmaterial. Einer politischen Partei habe ich nie angehört. (Ich hatte jedoch engen Kontakt mit vielen konspirativen Politikern.) Meine Lehrmeister in der sozialen Arbeit waren: Nałkowski, Straszewicz, Dawid, Dygasiński, Prus, Asnyk, Konopnicka7. Den Zugang zu der Welt der Insekten und Pflanzen verdanke ich Maeterlinck, den zum Leben der Mineralien — Ruskin8. Von den Schriftstellern verdanke ich Čechov am meisten — diesem genialen Diagnostiker und Therapeuten des gesellschaftliehen Lebens. Zweimal habe ich Palästina besucht, habe seine 5 Adolf Koral (1857—1939), Kinderarzt in Warschau, Julian Kramsztyk (1851—1926), bekannter Kinderarzt und Begründer des Kinderkrankenhauses in der Sliska-Straße in Warschau, Mieczysław Gantz (geb. 1876), Lungenarzt und Laryngologe in Warschau, Isaak Eliasberg (18761929), Gründer des Waisenhauses in der Śliska-StraBe in Warschau. 6 Siehe oben S.35, Anm. 1. 7 Ludwik Straszewicz (1857—1913), Publizist, Jan Władysław Dawid (1859—1913), Psychologe und Pädagoge, Bolesław Prus (Pseudonym von Alexander Głowacki) (1847—1912), poln. Romancier, Adam Asnyk (1838— 1897), polnischer Dichter, Maria Konopnicka (1842—1910), polnische Dichterin. 8 John Ruskin (1819—1900), bedeutender engl. Kritiker u. Philanthrop.

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‫״‬bittere Schönheit", die Dynamik und Technik im Leben der Chaluzim9 und der Kolonisten in einem Moschaw10 kennengelernt (Symchoni, Gurarie, Brawerman). Zweimal hatte ich Gelegenheit, den wunderbaren Mechanismus einer lebendigen Ordnung in Anpassung an ein fremdes Klima kennenzulernen, in der Mandschurei, dann in Palästina. Ich habe erfahren, wie Kriege und Revolutionen vor sich gehen — den japanischen und europäischen Krieg habe ich unmittelbar erlebt, dazu in Kiew den Bürgerkrieg und den polnisch-bolschewistischen Krieg; als Zivilist informiere ich mich jetzt aufmerksam darüber, wie ‫״‬Rechtstitel" und Hintergründe solcher Kriege aufgebaut werden. Ohne das würde ich in der für den Zivilisten verständlichen Abneigung und Verachtung verharren. Meine Arbeitsstätten: 1. Sieben Jahre mit Unterbrechungen als einziger Stations-Arzt im Spital in der Sliska-Straße. 2. Fast ein Vierteljahrhundert im ‫ ״‬Haus der Waisen". 3. 15 Jahre in ‫״‬Unserem Haus" in Pruszków, Pola Bielańskie. 4. Ungefähr ein halbes Jahr in Kindergärten für ukrainische Kinder in der Nähe von Kiew. 5. Sachverständiger für Kinderfragen beim Bezirksgericht. 6. Vier Jahre lang Referent deutscher und französischer ZeitSchriften für Krankenkassen. 9 (HE)-ChALUZ: Organisation zur Vorbereitung und Zusammenfas‫־‬ sung der nach Palästina emigrierenden zionistischen Jugend. Die Grundgedanken der C , bereits 1905 in Odessa formuliert, beruhen auf den ‫״‬Prinzipien der jüdischen Arbeit", der Ansiedlung der Arbeiter auf National-Fonds-Boden und auf der hebräischen Kultur. Die eigentliche, umfassende C.-Bewegung datiert seit 1917. Korczak setzte sich besonders (im Zusammenhang mit eigenen Auswanderungs-Plänen) nach seinen beiden Palästina-Reisen mit den Ideen des C. auseinander. S. Chaim Weizmann, ‫״‬Memoiren", Zürich 1953, S. 371, und ‫״‬Encyclopaedia Judaica, Bd. 5, Berlin 1930, S. 222 f. 10 Moschaw; vollständig: Moschaw-Owdim; aus dem jüdischen Sprachgebrauch Ost-Galiziens (mojschew) stammende Bezeichnung für eine Arbeiter-Siedlung im Neuen Palästina seit den 20er Jahren. Im Gegensatz zu den Kibbuzim dürfen die Arbeiter im Moschaw Eigentum haben (das Haus, die Einrichtung, Pferde bzw. heute Traktoren). Es ist ihnen jedoch nicht erlaubt, andere Arbeiter für sich arbeiten zu lassen oder ihre ErZeugnisse individuell zu verkaufen.

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Kriege: 1. Evakuierungszentren in Charbin und Taolaj-džou. 2. Lazarett-Zug (für Geschlechtskranke der Revolutionsarmee von Charbin nach Chabarovsk). 3. Stellvertretender Oberarzt eines Divisionslazaretts. 4. Seuchenspital in Łódź (rote Ruhr-Epidemie). 5. Seuchenspital in Kamionek. Als Staatsbürger und Angestellter bin ich gehorsam, aber nicht bedingungslos. Strafen wegen Ungehorsams nahm ich gelassen hin (wegen der Entlassung der unrechtmäßig internierten Familie eines mir bekannten Oberleutnants wurde ich mit Flecktyphus bedacht). Ich nehme mich selbst nicht so wichtig: den Vorschlag, die Kindheitserinnerungen des Marschalls Piłsudski aufzuschreiben, habe ich abgelehnt; ich habe ihn zeit seines Lebens nicht ein einziges Mal gesehen, obgleich ich mit Frau Ola zusammengearbeitet habe. Ich kann wohl Organisator, nicht aber Chef sein. Hier wie auch bei vielen anderen Dingen sind mir meine Kurzsichtigkeit und der gänzliche Mangel eines visuellen Gedächtnisses im Wege gestanden. Die Altersweitsichtigkeit hat den ersten Mangel gemildert, der zweite ist stärker geworden. Das hat auch sein Gutes: da ich Menschen nicht erkenne, richte ich meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Sache — ich bin nicht voreingenommen und nicht nachtragend. Die Probezeit soll vier Wochen dauern und mit Rücksicht auf die zeitliche Begrenzung der Aufgabe am Mittwoch, spätestens am Donnerstag beginnen. Ich bitte um eine Dienstwohnung und zwei Mahlzeiten taglieh. Weitere Bedingungen stelle ich, durch unangenehme und schmerzliche Erfahrung belehrt, nicht. Unter Wohnung verstehe ich einen privaten Winkel; unter Mahlzeiten Verpflegung aus dem Kessel für alle; auf beides kann ich aber auch verzichten. 9. Februar 1942

(—) Goldszmit

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ERINNERUNGEN Vorwort von Igor Newerly Dies ist der Erstdruck des einzigen erhaltenen Manuskriptes, das mir nach Korczaks Weisung einige Tage nach seiner und der Kinder Deportation aus dem ‫ ״‬Haus der Waisen" nach Treblinka2 ausgehändigt worden ist. Damals hielt ich. meine Wohnung in Żoliborz3 nicht mehr für ausreichend sicher, um ein so wertvolles Dokument aufzubewahren. Ich wandte mich also an Maryna Falska4 mit der Bitte, es im Waisenhaus ‫״‬Unser Haus" in Bielany5 zu verstecken, und es gelang mir, ihr die ‫ ״‬Erinnerungen" noch vor meiner Verhaftung zuzustellen. Auf Anweisung von Maryna Falska mauerte ein Mitarbeiter des Waisenhauses, Władysław Cichosz, das Manuskript auf dem Dachboden ein. Als das Internat nach dem Kriege von der Arbeitergesell‫־‬ schaft der Kinderfreunde übernommen wurde, holte Cichosz das eingemauerte Manuskript heraus und händigte es, da Maryna Falska nicht mehr lebte, dem Präses der Gesellschaft, Stanisław Zemis, aus ; dieser wiederum gab es mir nach meiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager. Die Veröffentlichung der ‫ ״‬Erinnerungen" stieß damals auf großen Widerstand. Korczak hatte keine Erben hinterlassen. Schließlich hinterlegte ich den Nachlaß beim Hauptvorstand 1 Zweiteilig angelegter Memoirenteil mit einem Vorwort von Igor Newerly. Aus: Wybór Pism (Ausgewählte Schriften), Bd.IV, S. 503—599. 2 Deutsches Vernichtungslager ca. 125 km nordöstlich von Warschau, in dem in den Jahren 1942/1943 rund 700000 Menschen umgebracht wurden, unter ihnen fast die gesamte Warschauer jüdische Gemeinde. 3 Stadtteil im Norden von Warschau, in der Nähe der Zitadelle, begründet im 18. Jahrhundert unter dem Namen ‫״‬joli bord". 4 Maryna Falska siehe S. 242 ff. 5 Wohnviertel, 5 km nördlich Warschau, das seinen Namen von dem 1641 begründeten Kamaldulenser-Kloster desselben Namens herleitet.

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des ‫ ״‬Verbandes Polnischer Schriftsteller", wo es zu den Akten und Papieren eines damals vom Verband geplanten Museums für Literatur kam. Die ‫ ״‬Erinnerungen" hat Korczak erst im Ghetto — zwischen Mai und August 1942 — geschrieben, wenn er sich auch schon seit langem, seit 1939, in einem wachsenden Gefühl der Vereinsamung mit dem Gedanken getragen hatte, eine letzte Aussage über sich zu hinterlassen. ‫ ״‬Nicht so sehr den Versuch einer Synthese als vielmehr einen Grabstein aus Versuchen, Erfahrungen, Fehlern. Vielleicht ist das einmal, nach fünfzig Jahren, irgendjemandem von Nutzen . . ." Die ersten Blätter schrieb er im Januar 1940 und legte sie wieder beiseite. Erst zwei Jahre später, angesichts der herannahenden Vernichtung, nahm er diese Arbeit wieder auf und führte sie systematisch fort bis zum Ende. Um sie zu verstehen und richtig einzuschätzen, muß man den Ort, die Zeit und die Umstände würdigen, unter denen sie geschrieben worden sind. Das Ghetto — ein relativ kleiner und durch Mauern immer mehr eingeengter Teil der Hauptstadt, in dem über eine halbe Million der jüdischen Bevölkerung von Warschau und der umliegenden Ortschaften zusammengepfercht war. Ein ‫״‬Viertel der Verurteilten" nennt es Korczak, und an anderer Stelle notiert er in seinen Erinnerungen: ‫ ״‬Von Tag zu Tag ändert sich das Gesicht dieses Stadtteils: Gefängnis — von der Pest Befallene — Irrenanstalt ‫ ־־־‬Spielbank. Monaco. Einsatz — der eigene Kopf." Entsetzlicher Hunger und Flecktyphus dezimierte die Bevölkerung. Die Menschen brachen auf den Straßen zusammen. Der ‫ ״‬Pinkiert-Bestattungsdienst" kam mit den Abräumungsarbeiten nicht mehr nach. Was morgens weggeschafft worden war, fiel bis zum Abend wieder an. Kinder spielten auf den Bürgersteigen, obwohl mit Zeitungen bedeckte Leichen herumlagen — sie waren so alltäglich, daß sie ebenso nichtssagend waren wie die Aufschriften an den Mauern. Sei immer sauber! Schmutz bringt Läuse hervor, und Läuse den Flecktyphus! Es gab keine Zeit im Sinne einer normal empfundenen Perspektive von Tagen und Monaten. Es gab den gebrechlichen 237

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Augenblick in der Gegenwart oder die Ewigkeit. Niemand konnte beim Einschlafen sicher sein, daß er nicht durch das Gerassel des vorbeifahrenden schwarzen Karrens geweckt oder im Bett erschossen wurde. Niemand konnte beim Verlassen des Hauses wissen, ob er heimkehren oder aber auf der Straße eingefangen und in einen Transport gesteckt werden würde. In einem Viertel, das einer zugeschlagenen Falle glich, inmitten einer überall lauernden Todesdrohung, blieb nichts anderes übrig, als die eigene Existenz von einem Augenblick zum anderen weiterzuschmuggeln — oder ganz und gar zu resignieren und sein Leben in einem außerpersönlichen großen Dasein auf gehen zu lassen; in etwas, das einen höheren Sinn und eine ewigdauernde Würde besaß: Kampf — Wahrheit und Schönheit ‫—־‬Go t t . . . Unterirdisch wuchs die Widerstandsbewegung, und als Korczak seine ‫ ״‬Erinnerungen" beendete, gab es im Ghetto bereits die ersten Straßenkämpfe. Im Ghetto, das sehr viele geistig hochstehende Persönlichkeiten in seinen Mauern einschloß, darunter zahlreiche Angehörige der schöpferischen Intelligenz, versuchte man bis zuletzt, ein menschenwürdiges Leben mit den Resten des damaligen Wissens und der Kultur zu führen. Wissenschaftler und Künstler vergruben sich in ihre Arbeit. Die Jugend drängte zu den illegalen Schulen und Arbeitskreisen, zu den Vorlesungen von Professoren der verschiedensten Disziplinen. Es gab Theaterstudios und Künstlerensembles. Ausstellungen, Konzerte, Autorenabende, Vorträge bekannter Wissenschaftler zogen Massen von Teilnehmern an. Alle Gotteshäuser waren voll. Die Mauern der bisherigen Tempel konnten eine solche Welle des Mystizismus gar nicht fassen, die Glut anderer religiöser Vorstellungen suchte ein Ziel, nicht nur in Adonai ; auch Christus, der Gott der Gemarterten, der Gott von Golgatha, schritt durch das Ghetto und teilte durch die spendende Hand des Pfarrers Plater die TaufSakramente und Linderung aus. Die Kirche der Allerheiligsten Jungfrau Maria war gleichfalls voll von Gläubigen mit [den gelben] Armbinden, den Stigmata zeitlicher Qual und Schmach. Aber daneben waren Kohn und Heller am Werk, die Organisation der jüdischen Gestapo, Tausende von Kollaborateuren, Verrätern und Schindern. Der ‫ ״‬große Schmuggel" dicker 238

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Gangsterfirmen und der ‫״‬kleine Schmuggel" der Kinder fanden ihren Absatz. Vom Blut der Schmuggler besprengt wuchsen Millionenvermögen, dunkle Gestalten mischten sich unter bekannte Persönlichkeiten des Kaufmannspatriziats, und aus diesen beiden Gruppierungen entwickelte sich eine Schicht, die das Ghetto mitregierte, eine unterwürfige Dienerin ihres Henkers. Verbrechen, Angst und Niedertracht suchten ihre Opfer unter den vom Elend und Hunger Geschlagenen und stießen die Schwächeren in die Todes transporte ab. Schlemmereien und Orgien in exklusiven Restaurants hatten etwas Apokalyptisches. In diesem Revier überhöhter Kontraste, unter diesen Bedingungen eines unaufhörlichen Grauens gab es überhaupt keine —wie es mir scheint, und darauf will ich hier hinweisen —völlig normalen Menschen mehr. Das Klima eines Ghettos oder des Lagers von Auschwitz kann niemand ertragen, ohne Schaden zu nehmen an seiner Seele. Jeder Mensch, sei er nun Opfer oder Henker, hatte dort zwangsläufig einen psychischen Defekt. Als Korczak seine ‫ ״‬Erinnerungen" schrieb, war er vierundsechzig Jahre alt, sein Organismus hatte schwer gelitten, und er lebte im Gefühl der vollen Verantwortung für das Schicksal von über zweihundert Kindern und Jugendlichen im Alter von sieben bis siebzehn-achtzehn Jahren, unter ihnen viele ehemalige Zoglinge, die bei ihm Schutz suchten. Das Internat befand sich im Eckhaus an der Siennastraße 16— Sliskastraße 9, im früheren Gebäude der Kaufmanns-Ressource. Im großen Saal des ersten Stocks und in einigen kleinen Nebenräumen spielte sich eigentlich das ganze Leben des Waisenhauses ab: nachts Schlafsaal, tagsüber Eß- und Beschäftigungsraum. Sinnvoll aufgestellte Schränke und Geräte teilten das Ganze in Klassen, Schneiderei, Lesezimmer und andere Winkel für besondere Zwecke auf. Im zweiten Stockwerk, wo früher der Bankettsaal war, fanden alle Veranstaltungen und Aufführungen des Waisenhauses statt, dort wurde u. a. auch ‫״‬Das Postamt" 6 auf geführt. Im ganzen Hause herrschten Friede und sinnvolle Ordnung, als ob die Kinder dort schon lange beieinander wohnten. Die Organisation der Kindergemeinschaft, so wie sie Korczak ent6

Bühnenstück von Rabindranath Tagore.

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wickelt hatte — Gericht, Selbstverwaltung, Zeitung —, der frühere normale Tages- und Beschäftigungsplan mit Tagesdiensten und Schulstunden, das alles blieb erhalten. Die Kinder lernten, hielten das Haus sauber und sorgten für Ordnung, arbeiteten in der Schneiderei und in der Küche, jede Woche wurden sie gewogen und gemessen. Nur die ältesten Jungen gingen zu Bauarbeiten innerhalb des Ghettos, auf den Ostbahnhof zum Entladen von Kohle oder zum Verlegen von Schienen. Dabei konnten sie immer etwas eintauschen und etwas zu essen mitbringen. Die Verpflegung im ‫״‬Haus der Waisen" war dürftig, für Ghettoverhältnisse jedoch luxuriös. Die Kinder bekamen morgens eine Schnitte Brot und schwarzen Malzkaffee oder heißes Wasser, das mit gefärbtem Sacharin wie ‫ ״‬Tee" aussah. Zum Mittag gab es Kartoffeln oder Grütze mit Pferdeblut, nahrhaft und wohlschmeckend zubereitet. Manchmal waren auch Pferdefleisch und Tran auf dem Speisezettel. An Feiertagen wurde sogar ein undefinierbar dunkler Kuchen aus Roggenmehl gebacken. Den Tagesablauf im ‫״‬Haus der Waisen" leitete Stefania Wilczyńska. Korczak ging morgens fort und kehrte erst spät zurück. Er ging in den Kinderhort an der Dzielna-Straße 39, genannt ‫ ״‬Schlachthof und Leichenhaus für Kinder". Dieses Internat wollte er sanieren, und so kämpfte er in hoffnungsloser Position gegen das niederträchtige, diebische Personal. Er ging zur Jüdischen Gemeinde, zum Centes, zum Jüdischen Hilfskomitee, in die Häuser der Reichen, und er erschien auch in den Zimmern berüchtigter, völlig kompromittierter Kollaborateure. Er bettelte, drohte, schlug sich herum. Es war ihm gleichgültig, wer etwas gab und ob es für die anderen reichte. Er war Vater von 200 Kindern, und für sie mußte er das alles haben. Das war nun schon ein anderer Korczak. Erschöpft, erbittert, mißtrauisch und bereit, einen höllischen Krach um ein Faß Sauerkraut, um einen Sack Mehl zu machen . . . Auch daran sollte man denken, wenn man seine ‫״‬Erinnerungen" liest, insbesondere Korczaks Urteile über manche Menschen und seine Auseinandersetzungen mit ihnen. Abends kehrte Korczak von seinem Rundgang vollkommen erschöpft zurück, die Zahlen über die von ihm zusammengeholten Lebensmittel in seinem 240

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Notizbuch und das Bild des Ghettos in den Augen. Für kurze Zeit nahm er am Leben des Waisenhauses teil und zog sich dann zurück. Er wohnte in einem der kleinen Zimmer neben dem großen Schlafsaal, im sogenannten Isolierraum. Dort waren ein paar schwächliche Kinder untergebracht, und dort lag auch der schwerkranke, langsam sterbende Vater einer Erzieherin, der alte Schneider Azrylewicz. Durch einen Wandschirm aus Sperrholz von ihnen getrennt, schrieb Korczak in den Nächten an seinen ‫״‬Erinnerungen". Es scheint unbegreiflich, daß er überhaupt hat schreiben können. Die Umstände, die Situation und sein Gesundheitszustand — das alles fügte sich zu einer ungeordneten Vielfältigkeit in den fieberheißen, intensiv durchlebten Augenblicken des Nachdenkens. Auffallend ist die Ungleichmäßigkeit der Form : von stilistisch ausgefeilten Partien wie den einleitenden Reflexionen über das Alter, über knappe chronikartige Berichte bis zu chiffrierten Gedankensplittern, die er für sich selbst festgehalten hatte, um sie später, wenn Zeit und Lebensumstände es erlaubten, auszuarbeiten. Das gilt auch für den Inhalt: retrospektive Bestandteile einer Selbstanalyse verbinden sich mit den Bildern einer makabren Wirklichkeit, und von dort schweift der Blick wiederholt in die Zukunft, hinweg über die Gleichgültigkeit des eigenen, durchkreuzten Lebens; er versucht, ständig das letzte Schicksal der Welt und des Menschen zu erfassen. Dabei bleibt Korczak von der ersten bis zur letzten Zeile immer er selbst. Er ist von einer redlichen, manchmal sogar grausamen Offenheit in jedem Satz, mit dem Herzen eines Evangelisten und einem für das Groteske geschärften Blick. Getreu den Wahrheiten, zu denen er sich sein ganzes Leben lang bekannt hatte, verteidigte er sie weiterhin mit demselben Temperament des Polemikers und der für das ‫ ״‬Junge Polen"7 7 Das ‫״‬Junge Polen" (Młoda Polska), eine Richtung der literarischen Moderne in Polen vor dem Ersten Weltkrieg, die sich u. a. durch eine gegen das Bürgertum gerichtete Lebenswertung auszeichnet. Unter ihrem Einfluß stehen die frühen literarischen Versuche Korczaks, der aber schon bald nach dem Wiedererstehen des Staates Polen einen eigenen Rang in der sich reich entwickelnden Jugendliteratur einnimmt.

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typischen Neigung, den Spießbürger zu betäuben durch eine Überspitzung seiner visionären Vorstellungen von Eugenik und Euthanasie — auf dem schmalen halsbrecherischen Grat zwischen erhabener Vernunft und dem Absurden. Bis zu seinem Ende bewahrt er sich jenen leidenschaftlichen Erkenntnisdrang, diesen, nach seiner Selbstanalyse, ‫ ״‬forschen‫־‬ den Geist", für den ‫״‬nicht der Mechanismus, sondern das Wesen eines Gegenstandes, das Ding an sich" einzig anziehend erscheint und wert, erforscht zu werden. In der Sintflut einer totalen Bestialität möchte er wenigstens noch einen bescheidenen Rest von Vernunft finden, und so versucht er, von der anderen Seite her, vom Dachbalken einer ihm fremden — weil unmenschlichen — Philosophie, leidenschaftslos seine Betrachtungen anzustellen. Er entwirft eine ‫״‬programmatische Rede der Geschichte", die, wenn man diesen Zug seiner Persönlichkeit nicht berücksichtigt, den unheimliehen Eindruck einer Rechtfertigung des Hitlerismus erwecken könnte. Es erübrigt sich zu erklären, daß der Verlag es nicht für möglich gehalten hat, Korczak in bestimmten formalen Mangeln zu korrigieren, die aus den Umständen hervorgehen, unter denen die ‫ ״‬Erinnerungen" geschrieben wurden. Das gilt mit allem Nachdruck auch für den Inhalt seiner Aussage. Welche Reaktion auch immer einige Urteile des angesehenen Schriftstellers und großen sozialen Wohltäters auslösen, sie dürfen nicht temperiert oder gar verschwiegen werden. Die ‫״‬Erinnerungen" sind also ohne redaktionelle Korrekturen vollständig abgedruckt, mit aller Pietät, die diesem Dokument von den letzten Lebenstagen und Gedanken eines Menschen von solcher Größe zukommt. Igor Newerly Maryna Falska Maryna Falska, geb. Rogowska, geboren in Podlachien am 7. II. 1877, stammt aus einer landadeligen Familie. Im Jahre 1895 beginnt sie, unter Einfluß ihres Bruders, des Ingenieurs Bronisław Rogowski, mit einer sozial angelegten Bildungstätigkeit in der Bücherei der Warschauer Gesellschaft für Wohltätigkeit an der Tamkastraße 30, später in Łódź. Sie tritt in die Polnische Sozialistische Partei ein. Im Jahre 1901 verhaftet und in der Warschauer Zitadelle gefangengehalten, wird sie in das Innere Ruß-

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lands, nadi Vologodzk, verbannt. Nach einem Jahr kehrt sie aber nach Łódź zurück und arbeitet illegal unter dem Pseudonym Hilda. Die Unbeugsamkeit in ihren Einsichten und die Haltung, die ihr im persönlichen Leben keine Kompromisse mit der von ihr für richtig befundenen Weltanschauung erlaubten, wird allein schon dadurch charakterisiert, daß sie nach der Revolution von 1905 nach London reist, um standesamtlich zu heiraten. Ebenso einige Jahre später — als ihr Mann, ein hervorragender Sozialist und aufopfernder Arzt, Dr. Leon Falski, während der Bekämpfung einer Epidemie an Flecktyphus erkrankt und stirbt, und die Bevölkerung des Städtchens (Wołożno im Wilnaer Gebiet) Trauerandachten in allen vier Riten abhalten läßt: im Katholischen, Orthodoxen, Jüdischen und Karäischen — bleibt Maryna Falska trotz der Größe des Schmerzes dem religiösen Begräbnis ihres Mannes fern. Kurz darauf trifft sie ein zweiter Schicksalsschlag — es stirbt ihr einziges Kind. Seitdem widmet sie sich ganz ihrer Tätigkeit als Betreuerin und Erzieherin, zuerst in Kiew, wo sie in den Jahren 1915—1918 mit einer Gruppe Warschauer Studentinnen eine Herberge für 60 polnische Jungen gründet und leitet. Hier lernt sie Korczak kennen, der in seiner dienstfreien Zeit, wenn er im Militärhospital ‫״‬Ausgang" hat, die Herberge besucht und bei schwierigen Erziehungsproblemen hilft. Im Jahre 1919 verzichten Maryna Falska und Maria Podwysodka auf ihre Tätigkeit als Visitatorinnen im Ministerium für soziale Wohlfahrt und gründen in Anlehnung an die Gewerkschaften die Anstalt ‫״‬Unser Haus" für Arbeiterkinder in Pruszków. Korczak nimmt regen Anteil am Leben in ‫״‬Unserem Haus", das trotz unglaublich schwerer finanzieller Bedingungen ein bedeutender erzieherischer Vorposten wird. Nach Jahren gemeinsamer Tätigkeit in der Ausweitung des Wirkungsbereiches der ‫״‬GeSeilschaft" erhalten sie Mittel für den Bau eines eigenen Gebäudes für ‫״‬Unser Haus" in Bielany. In dieser Zeit ist Korczak für Maryna Falska das unumstrittene Vorbild. Der überaus starke Einfluß seines Talents und seiner Erziehungsmethoden dringt in allem durch, was Maryna Falska mit dem Leben in ‫״‬Unserem Haus" verbindet: in den Publikationen, in der Presse (siehe ‫״‬W słońcu" aus den Jahren 1921—1925), wie auch in ihrem Buch, das unter dem Titel ‫״‬Unser Haus" 1928 erschienen ist. Dieses ist eine tiefdurchdachte, hervorragend formulierte Auslegung von Korczaks erzieherischen Prinzipien, in der die Richtigkeit dieser Grundsätze mit reichem Beweismaterial aus den Erfahrungen der Anstalt illustriert wird. Mit der Zeit aber beginnt manches Maryna Falska zu beunruhigen. Begünstigt dieses System nicht die Selbstsucht und Nachgiebigkeit gegenüber dem Leben? Bildet es oder schwächt es die soziale Einstellung? Es stört sie das Übermaß der Statistik und Chronistik, die skrupelvolle Beachtung jeder Arbeitsstunde, die das Kind der Gemeinschaft widmet, jeder vollbrachten Hilfeleistungen . . . Die Meinungsverschiedenheit vertieft sich. Auf pädagogischen VerSammlungen kommt es immer häufiger zu scharfen polemischen Zu­

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sammenstößen zwischen Korczak und Maryna Falska. Schließlich im Jahre 1936 verzichtet Korczak — nadi 18 Jahren ungewöhnlicher Freundschaft, gemeinsamer Sorge und gemeinsamer Kämpfe unter oft schweren Bedingungen — auf die Arbeit in ‫״‬Unserem Haus". Sie trennten sich, unversöhnlich in ihren Ansichten, trotz vollkommener gegenseitiger Wertschätzung und Verbundenheit. Für beide war dieser Schritt ein außerordentlich schmerzliches Erlebnis. Maryna Falska versucht, indem sie Korczaks System korrigiert, ein eigenes erzieherisches Programm aufzubauen, laut dem, wie es Stanislaw Zemis formuliert — der zu Anfang seiner pädagogischen Tätigkeit Erzieher in ‫״‬Unserem Haus" war — ‫״‬die Anstalt auf die Umgebung ausstrahlen, am Leben des Stadtteils teilnehmen und sich mit diesem verbinden sollte. Die Kinderbibliothek wird also für die Kinder des ganzen Viertels zugänglich gemacht; in die Vorschule werden Kinder von auswärts zugelassen; an Stelle geschlossener werden öffentliche Veranstaltungen für die Bewohner von Bielany organisiert. Den Jugendlichen wird erlaubt, Kollegen in der Stadt zu besuchen und diese in ‫״‬Unser Haus" einzuladen. Viele der derzeitigen erzieherischen Methoden werden fallengelassen. [...] Kurz vor Kriegsbeginn verständigt sich Maryna Falska mit ,Społem' (Verband der Genossenschaften), um ,Unser Haus' den Kindern aus den Genossenschaftsschulen zugänglich zu machen. Das sind alles Bemühungen, die die Erziehung gemeinschaftsbezogener ausrichten und ihr einen ideellen Charakter geben sollen." Der Ausbruch des Krieges erlaubte es Maryna Falska nicht, ihre Pläne zu realisieren. In den Jahren der Besatzung, als Kartoffeln zu einer Delikatesse wurden und ein ruhig verlebter Tag ein Feiertag, mußte sie ihre ganze Energie und Sorge auf die Sicherheit der Kinder und das Stillen des Hungers konzentrieren. Es muß erwähnt werden, daß sie Verbindung mit dem ‫״‬Haus der Waisen" und Korczak im Ghetto unterhielt und alles tat, um ihn zu retten. Sie bot ihm eine gut getarnte Wohnung in Bielany an — aber Korczak hat abgelehnt. Sie hat in ‫״‬Unserem Haus" wortwörtlich bis zum letzten Augenblick ausgeharrt: am 7. September 1944, als sie den Befehl erhielt, mit den Kindern Haus und Warschau zu verlassen — starb sie an Herzschlag. Eine Gruppe von Zöglingen und Mitarbeitern bestattete sie auf dem MilitärFriedhof in Powązki. (Anmerkung von Igor Newerly)

Erster Teil Düster, niederdrückend ist die Lektüre von Erinnerungen. Ein Künstler oder ein Gelehrter, ein Politiker oder ein Feldherr treten ins tätige Leben, erfüllt mit ehrgeizigen Plänen; das sind kräftige, angriffslustige, überlegte Regungen — eine lebendige Mobilität des Handelns. Sie bahnen sich den Weg nach 244

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oben, überwinden Hindernisse, erweitern ihren Einflußbereich und gehen, wohlerfahren und von zahlreichen Freunden umgeben, oder — was fruchtbringender und leichter ist — etappenweise ihrem Ziel entgegen. Das dauert ein Jahrzehnt, manchmal auch zwei oder drei. Und dann . . . Dann kommt die Müdigkeit, dann geht es nur noch schrittweise, hartnäckig in der einmal eingeschlagenen Richtung weiter, nun auf einem bequemeren Weg, nicht mehr so eifrig und in dem schmerzliehen Bewußtsein, daß es nicht mehr ganz so leicht geht, daß alles zu wenig ist, daß es allein weit schwerer ist, daß nur noch graue Haare hinzukommen und Falten auf der früher so glatten, verwegenen Stirn, daß das Auge schwächer wird, das Blut langsamer kreist und das Gehen mühsam wird. Das — ja, das ist es, das Alter. Der eine wehrt sich dagegen und möchte weitermachen wie bisher, sogar noch schneller und intensiver, um sein Ziel zu erreichen. Er gibt sich Täuschungen hin, widersetzt sich, lehnt sich auf und schlägt um sich. Der andere beginnt in schmerzlieber Resignation, nicht nur zu verzichten, sondern sogar sich zurückzuziehen. ‫ ״‬Ich kann nicht mehr. — Ich will es gar nicht erst versuchen. — Es lohnt sich nicht. — Das begreife ich nicht mehr. — Wenn man mir die Urne mit den verkohlten Überresten meiner Jahre, meine in Irrtümem vergeudeten Energien, den unnütz verschleuderten Schwung früherer Kraft zurückgäbe . . . " Neue Menschen, neue Generationen, Neues wird gebraucht. Schon regt ihn manches auf, und auch er reizt andere — die ersten Unstimmigkeiten, und dann wachsen die Mißverstandnisse ständig an. Ihre Gesten, ihre Schritte, ihre Augen, ihre weißen Zähne und glatten Stirnen, wenn auch der Mund schweigt. . . Alles und alle ringsum, auch die Erde, auch du selbst und deine Sterne sagen: ‫ ״‬Genug . . . Dein Abgang .. . Jetzt kommen wir .. . Hier ist deine Grenze . . . " Du behauptest, daß wir so . . . , wir streiten nicht mit dir — du weißt es besser, du bist erfahrener, aber laß es uns wenigstens selbständig versuchen. So ist die Ordnung des Lebens. 245

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So ergeht es dem Menschen, den Tieren, auch den Bäumen und vielleicht sogar — wer weiß das — den Steinen. Ihnen gehören jetzt Wille, Macht und Zeit. Dein ist heute das Alter, und übermorgen die Gebrechlichkeit. Und immer rascher kreisen die Zeiger über das Zifferblatt der Uhren. Der steinerne Blick der Sphinx stellt die immerwährende Frage: ‫״‬Wer geht morgens auf vier, mittags munter auf zwei und abends auf drei Beinen?" Du bist es — auf deinen Stock gestützt, blickst du in die verlöschenden, kraftlosen Strahlen der untergehenden Sonne . . . In meinen eigenen Lebenserinnerungen will ich versuchen, es anders zu machen. Vielleicht ist das ein glücklicher Gedanke, vielleicht gelingt es, vielleicht ist es gerade so richtig. Wenn du einen Brunnen aushebst, beginnst du mit der Arbeit auch nicht in der Tiefe, sondern du bewegst zunächst die obere Bodenschicht, wirfst das Erdreich auf, Schaufel um Schaufel, ohne zu wissen, was darunterliegt — wieviel verflochtenes Wurzelwerk, wieviele Hindernisse und Mängel, wieviele schwere, von anderen und dir selbst versenkte, längst vergessene Steine und andere harte Brocken. Der Entschluß ist gefaßt. Die Kräfte reichen aus, um anzufangen. Wird denn eine Arbeit überhaupt jemals vollendet? Spuck' in die Hände, greif zur Schaufel und fang an! Eins ‫—־‬zwei, eins ‫—־‬zwei . . . ‫ ״‬Gott helf dir, Väterchen! Was machst du da?" ‫״‬Du siehst es ja, ich suche nach unterirdischen Quellen, ich grabe nach dem reinen, kühlen Element des Wassers und setze meine Erinnerungen frei." ‫ ״‬Soll ich dir helfen?" ‫ ״‬Ach nein, mein Lieber, das muß jeder selbst tun. Keiner kann ihm dabei helfen, und keiner kann einen da vertreten. Alles andere können wir gemeinsam tun, wenn du mir noch vertraust und mich nicht unterschätzt; aber diese meine letzte Arbeit muß ich allein vollenden." ‫״‬Dann Glück auf." Also dann . . . Ich möchte auf das verlogene Buch eines falschen Propheten antworten. Dieses Buch hat viel Schaden angerichtet. 246

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‫״‬Also sprach Zar thustra." Auch ich hatte die Ehre, mit Zarathustra zu sprechen. Seine schwer faßbaren, harten und strengen Wahrheiten haben dich, du armer Philosoph, hinter die düsteren Mauern und die engen Gitter des Irrenhauses gebracht — so war es doch. Es steht Schwarz auf Weiß da: ‫ ״‬Nietzsche starb, mit dem Leben uneins — im Wahn!" Ich will in meinem Buch nachweisen, daß er vielmehr an einem schmerzlichen Zerwürfnis mit der Wahrheit starb. Derselbe Zarathustra hat mich etwas anderes gelehrt. Vielleicht hatte ich ein besseres Gehör, vielleicht hatte ich aufmerksamer zugehört. Hierin stimmen wir überein: der Weg des Meisters und der meine, der seines Schülers, waren beschwerlich. Viel öfter Niederlagen als Erfolge, viele Krümmungen, also waren Zeit und Mühe vergeblich, aber nur scheinbar vergeblich. Denn in der Stunde der Abrechnung bin ich nicht in der einsamen Zelle des traurigsten aller Krankenhäuser — um mich sind Schmetterlinge, Heupferdchen und Johanniskäfer, das Konzert der Grillen und die Solistin der blauen Höhen, — die Lerche. Guter Gott! Dank dir, guter Gott, für die Wiese und die farbigen Sonnenuntergänge, für den frischen Abendwind nach einem heißen, mühevollen Tag. Guter Gott, der du es so weise eingerichtet hast, daß die Blumen duften, daß die Johanniskäfer auf der Erde leuchten und die funkelnden Sterne am Himmel. Wie fröhlich ist doch das Alter. Wie angenehm ist die Stille. Wohltuende Ruhe. ‫״‬Der Mensch, den Du ohne Maß mit Deinen Gaben überschüttet, den Du geschaffen und vor Gefahren bewahrt h a s t.. Nun ja, gut. Ich beginne. Eins — zw ei. . . Zwei alte Männer wärmen sich in der Sonne. ‫ ״‬Sag mal, Alter, wie ist das möglich, daß du noch lebst?" ‫ ״‬Nun, ich habe ein solides, bedächtiges Leben geführt, ohne große Erschütterungen und plötzliche Wendungen. Ich rauche 247

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nicht, ich trinke nicht, ich spiele nicht Karten und ich laufe auch nicht hinter Mädchen her. Ich habe weder jemals gehungert noch mich je allzusehr angestrengt; ich habe es nicht eilig und ich lasse mich auf kein Risiko ein. Immer alles zur rechten Zeit und mit Maßen. Ich habe mein Herz nicht überfordert, meine Lunge nicht strapaziert und meinen Kopf nicht über Gebühr angestrengt. Mäßigkeit, Ruhe und Überlegung. Deshalb lebe ich noch. Und Sie, mein Freund?" ‫״‬Bei mir war es ein wenig anders. Immer war ich dort, wo man leicht Beulen und blaue Flecken bekommen konnte. Ich war noch ein junger Bursche, als es die erste Revolte und Schießereien gab. Da gab es schlaflose Nächte und soviel Arrest wie es brauchte, um einen jungen Kerl wenigstens ein bißchen zu zügeln. Dann kam der Krieg. Nichts besonderes. Man mußte ihn in der Feme suchen, hinter dem Ural-Gebirge, dem Baikalsee, den Ländern der Tataren, Kirgisen, Burjaten bis hin zu den Chinesen. Ich blieb in dem mandschurischen Dorf Taolaj-džou und ‫—־‬wieder war Revolution. Danach eine kurze Zeit scheinbarer Ruhe. Schnaps habe ich getrunken, warum nicht, und mein Leben, weiß Gott, nicht bloß ein zerknittertes Stück Papier, habe ich manches Mal auf eine Karte gesetzt. Nur für Mädchen hatte ich keine Zeit. Wenn diese Bestien nicht so gierig wären und erpicht auf Liebesnächte, ja und dann die kleinen Kinder, die sie bekommen . . . Eine dumme Sitte. Einmal ist es mir passiert. Ein schlechter Nachgeschmack ist mir geblieben, für das ganze Leben. Ich hatte genug davon, auch von den Drohungen und Tränen. Zigaretten habe ich maßlos viel geraucht. Bei Tage und auch im Eifer der nächtlichen Diskussionen, wie ein Schlot. Nichts ist mehr gesund an mir. Verwachsungen, Schmerzen, Leisten-Brüche und Narben. Ich gehe auseinander, stöhne, platze aus den Nähten — aber ich lebe. Und wie ich lebe! Wer mir in die Quere kommt, kann davon erzählen. Meine Fußtritte haben es in sich. Auch jetzt noch kommt es vor, daß eine ganze Bande vor mir kriecht. Ich habe übrigens auch Parteigänger und Freunde." ‫ ״‬Ich auch. Ich habe Kinder und Enkel. Und Sie? Sie, mein Freund?" ‫ ״‬Ich habe zweihundert." ‫ ״‬Sie sind mir der Rechte . . . " * 248

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Es ist 1942. Es ist Mai. Ein kühler Mai in diesem Jahr. Auch diese Nacht heute, die stillste der stillen. Fünf Uhr früh. Die Kinder schlafen. Es sind wirklich zweihundert. Im rechten Flügel wohnt Fräulein Stefa1, im linken Flügel ich, im sögenannten Isolierraum. Mein Bett steht mitten im Zimmer. Darunter steht eine Flasche Schnaps. Auf dem Nachttisch ein Stück Vollkornbrot und ein Krug Wasser. Der brave Felek2 hat mir meine Bleistifte gespitzt, jeden auf beiden Seiten. Ich könnte auch mit einem Füllfederhalter schreiben, den einen hat mir Hadaska gegeben, den anderen der Vater eines ungezogenen Buben. Von diesem Bleistift habe ich schon einen tiefen Abdruck am Finger. Jetzt erst kam mir in den Sinn, daß es auch anders geht, bequemer, daß es mit dem Federhalter leichter ist. Nicht ohne Grund hat mich mein Vater, als ich ein Kind war, einen Dummkopf oder einen Tropf genannt, und wenn er aufgeregt war, sogar einen Idioten oder einen Esel. Allein die Großmutter glaubte an meinen Stern. Aber sonst — Faulpelz, Heulpeter (ich sagte es schon), Idiot und zu nichts zu gebrauchen. Aber davon später. Sie hatten recht. Zu gleichen Teilen, halb und halb. Die Großmutter und der Vater. Aber davon später. 1 Stefania Wilczyńska, langjährige Mitarbeiterin Korczaks (1886— 1942). Sie entstammte einer assimilierten jüdischen Familie in Warschau, studierte Naturwissenschaften und Pädagogik in Belgien sowie in der Schweiz und arbeitete nach ihrer Rückkehr (1909) in dem Waisenheim in der Franciszkanska-Straße 2, das später als ‫״‬Haus der Waisen" in die Krochmalna-Straße 92 verlegt wurde. 1914—1918 vertrat sie Korczak während dessen Kriegsdienst als Leiterin des Hauses. Vor dem Zweiten Weltkrieg hielt sie sich als Erzieherin in Palästina auf, vor allem in dem Kibbuz ‫״‬Ein-Harod". Kurz vor Kriegsausbruch kehrte sie nach Warschau zurück, weil sie sich dessen sicher war, daß die Kinder im ‫״‬Haus der Waisen" sie mehr brauchten als die in ‫״‬Ein-Harod". Sie war während der Ghetto-Zeit Korczaks engste Mitarbeiterin und ließ sich zusammen mit ihm und den Kindern des ‫״‬Hauses der Waisen" 1942 nach Treblinka transportieren. 1 Feliks Grzyb, ehemaliger Zögling, später enger Mitarbeiter von Korczak.

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Faulpelz .. . das stimmt . . . Ich mag nicht schreiben. Nachdenken — ja. Das fällt mir nicht schwer. So, als ob ich mir selbst Märchen erzählte. Irgendwo habe ich gelesen: ‫ ״‬Es gibt Menschen, die nicht denken, etwa so, wie andere sagen: ,Ich rauche nicht.'" Ich denke. Eins‫—־‬zwei, eins —zwei. Nach jedem ungeschickten Schaufelwurf aus meinem Brunnenschacht blicke ich gedankenverloren vor mich hin. So grüble ich zehn Minuten. Nicht weil ich schwach oder alt bin. Das war schon immer so. Großmutter setzte mir Rosinen in den Kopf und sagte: ‫״‬Du Philosoph." Angeblich habe ich ihr schon damals im Zwiegespräch den kühnen Plan anvertraut, die Welt zu verändern. Ich wollte nicht mehr und nicht weniger als dies, alles Geld aus der Welt zu schaffen. Wie und wohin ich es wegschaffen wollte — darüber habe ich mir damals gewiß keine Gedanken gemacht. Man soll darüber nicht allzustreng urteilen. Ich war damals fünf Jahre alt, und das Problem war unglaublich schwer: was war zu tun, damit es die schmutzigen, verwahrlosten und hungrigen Kinder nicht mehr gab, mit denen ich auf dem Hof nicht spielen durfte; auf demselben Hinterhof, wo unter dem Kastanienbaum — in Watte gebettet — in einer metallenen Bonbondose mein erster geliebter, mir nahestehender Toter begraben lag, wenn es auch nur ein Kanarienvogel war. Sein Tod warf die geheimnisvolle Frage nach dem Bekenntnis auf. Ich wollte ein Kreuz auf seinem Grab errichten. Das Dienstmädchen sagte, das ginge nicht, weil es nur ein Vogel sei, also etwas weit Niedrigeres als ein Mensch. Sogar um ihn zu weinen sei Sünde. Soweit das Dienstmädchen. Und noch schlimmer war, daß der Sohn des Hausverwalters feststellte, der Kanarienvogel sei Jude gewesen. Ich auch. Ich bin auch Jude, und er — Pole und Katholik. Er würde ins Paradies kommen, ich dagegen, wenn ich keine häßlichen Ausdrücke gebrauchen und ihm immer folgsam im 250

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Haus stiebitzten Zucker mitbringen würde, käme nach dem Tode zwar nicht gerade in die Hölle, aber irgendwohin, wo es ganz dunkel sei. Und ich hatte Angst in einem dunklen Zimmer. Tod — Jude — Hölle. Das schwarze jüdische Paradies. Es gab genug Grund zum Grübeln. * Ich liege im Bett. Es steht mitten im Zimmer. Meine Untermieter: der kleinere Moniuś (wir haben vier, die so heißen), Albert und Jerzyk. Auf der anderen Seite an der Wand Felunia, Gienia und Haneczka. Die Tür zum Schlafraum der Jungen steht offen. Es sind sechzig. Etwas weiter ostwärts schlafen still und leise sechzig Mädchen. Die übrigen schlafen im oberen Stockwerk. Es ist Mai, und wenn es auch noch kühl ist, so können die älteren Jungen zur Not doch schon im oberen Saal schlafen. Es ist Nacht. Über sie und die schlafenden Kinder habe ich Aufzeichnungen — vierunddreißig Notizblöcke voll. Eben darum konnte ich mich solange nicht dazu entschließen, meine Erinnerungen aufzuzeichnen. Ich habe vor, folgendes zu schreiben: 1. Einen umfangreichen Band über die Nacht im Waisenhaus und über den Schlaf der Kinder. 2. Einen zweibändigen Roman. Die Handlung spielt in Palästina. Die Hochzeitsnacht eines Chaluzim-Paares am Fuße des Berges Gilboa, dort, wo die Quelle entspringt; von diesem Berg und von dieser Quelle erzählt das Buch Mose. (Wenn ich es schaffe, wird mein Brunnen sehr tief.) 3. 4, 5, 6. Vor einigen Jahren habe ich für die Kinder eine Erzählung geschrieben. Jetzt sollte die Reihe fortgesetzt werden: Pestalozzi, da Vinci, Kropotkin, Piłsudski und noch ein paar Dutzend andere, auch Fabre, Multatuli, Ruskin, Gregor Mendel, Nałkowski, Szczepanowski3, Dygasiński und Dawid. 3 Peter Alexander Kropotkin (1842—1921), Theoretiker des Anarchiemus. Nach seiner Lehre sollte sich das Verhalten des Menschen und das gesellschaftliche Leben auf das Prinzip gegenseitiger Hilfeleistung gründen.

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Ihr wißt nicht, wer Nałkowski war? Die Welt weiß von vielen großen Polen nichts. 7. Vor Jahren habe ich einen Roman ‫ ״‬König Hänschen" geschrieben. Jetzt wäre wieder ein Kind als König an der Reihe: König David der Zweite. 8. Wie kann man das Material von einem halben Tausend Gewichts- und Meßdiagrammen der Zöglinge unbeachtet lassen und wie kann die wunderbare, redliche, fröhliche Arbeit des menschlichen Wachstums unbeschrieben bleiben? In fünftausend Jahren, irgendwann in abgründiger Zukunft — Sozialismus, heute dagegen noch Anarchie. Ein Krieg der Dichter und Musiker in der schönsten Olympiade — ein Wettstreit um das schönste Gebet, um eine Hymne zu Gott für die Welt, für ein Jahr. Ich vergaß zu erwähnen, daß auch jetzt Krieg herrscht. 10. Eine Autobiographie. Ja. Über mich selbst, meine kleine und doch wichtige Person. Jemand hat einmal boshaft geäußert, die Welt sei ein Klümpchen Dreck, irgendwo im All schwebend, und der Mensch sei ein Tier, das Karriere gemacht habe. Das kann schon sein. Aber eine Ergänzung: dieses Klümpchen Dreck kann leiden, lieben, weinen und voller Sehnsucht sein. Und die Karriere des Menschen ist — genau betrachtet — zweifelhaft, sehr zweifelhaft. Sechs Uhr dreißig. Im Schlafsaal hat jemand gerufen: ‫ ״‬Aufstehen, Buben, zum Baden!" Ich lege die Feder weg. Soll ich aufstehen oder nicht? Ich habe schon lange nicht mehr gebadet. Gestern habe ich eine Laus gefangen und sie ohne Skrupel mit einer einzigen schnellen Bewegung der Fingernägel zerquetscht. Wenn ich dazu komme, schreibe ich eine Apologie Jean Henri Fabre (1823—1915), bedeutender französischer Insektenforscher. Multatuli, Pseudonym für Deuves Eduard Decker (1820—1887), holiändischer Schriftsteller, der das Kolonialsystem in Niederländisch-Indien in seinen Schriften hart kritisierte. Stanisław Szczepanowski (1846—1900), Publizist, Verfasser von ‫״‬Aphorismen über die Erziehung".

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der Laus ; denn unser Verhältnis zu diesem schönen Insekt ist ungerecht und unwürdig. Ein erbitterter russischer Bauer hat einmal gesagt: ‫״‬Die Laus ist kein Mensch — sie saugt nicht alles Blut aus." Ich habe eine kurze Geschichte über die Spatzen verfaßt, die ich zwanzig Jahre lang gefüttert hatte. Ich habe mir die Aufgäbe gestellt, diese kleinen Räuber zu rehabilitieren. Aber wer macht sich schon Gedanken über die Benachteiligung der Laus. Wer, wenn nicht ich. Wer wird den Mut haben und vortreten, um sie zu verteidigen. * ‫ ״‬Für den zynischen Versuch, der Gesellschaft die Sorgepflicht für eine Waise aufzubürden, und für die schamlosen Beleidigungen, Verwünschungen und Drohungen, die Sie in größter Wut ausgestoßen haben, als dieser Versuch vereitelt wurde, haben Sie innerhalb von fünf Tagen fünfhundert Zloty zugunsten der ,Waisenhilfe‫ ׳‬zu zahlen. Mit Rücksicht auf das niedrige Niveau Ihrer Umgebung und wohl auch des Hauses, in dem Sie sich aufhalten, ist das Strafmaß so gering ausgefallen. Voraussichtlich werden Sie sich mit der Lüge zu rechtfertigen versuchen, Sie hätten nicht gewußt, wer die Befragung durchführt; als ihre Jüngste, die mich beschatten sollte, bereits die Legitimation gesehen hatte, die ich dem Polizisten vorwies, schrie sie noch zum Abschied: ,So ein Vieh.' Ich bestand nicht darauf, das Mädchen festnehmen zu lassen; einmal ihres Alters wegen, und zum andern, weil sie keine Armbinde4 trug. Abschließend füge ich hinzu, daß es sich um meinen zweiten Konflikt mit diesem Diebesnest in dem vornehmen Haus an der Walicow-Straße 14 handelt. Denn während der Belagerung Warschaus hatte man mir in niederträchtiger Weise Hilfe ver4 Es handelt sich um die Kennzeichnung der Juden; laut Verordnung des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete vom 23.11. 1939 war ‫״‬am rechten Ärmel der Kleidung und Überkleidung ein mindestens 10 cm breiter Streifen mit dem Zionsstern zu tragen". Zuwiderhandlungen wurden mit Gefängnis bestraft.

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weigert, als ich einen sterbenden Soldaten — dessen Brust aufgerissen war — in den Hauseingang bringen wollte, damit er nicht wie ein Hund im Rinnstein verreckte." Und nun der Kommentar! Die Besitzerinnen dieses Lokals — aus dem ich mit dem Zuruf hinausgeworfen wurde: ‫ ״‬Ab mit dir, du alter Lump, brich dir Arme und Beine" ‫ ־־־‬sind ‫ ״‬Freundinnen" von niemand geringerem als von Stefania Sempołowska5. Ich will mich etwas ausführlicher dazu äußern, da diese Angelegenheit von allgemeiner Bedeutung ist. Frau Sempołowska war eine fanatische Fürsprecherin der Juden gegen Verleumdungen und auch gegen die berechtigten Vorwürfe, die unsere ebenso fanatischen Gegner gegen uns erhoben. Die drei Jüdinnen aus der Walicow-Straße gehörten zu jenen Typen, die sich mit schönen Worten, unter Umständen sogar mit Hilfe der Taufe gewaltsam und schamlos in die polnische Gesellschaft, in ihre Häuser und Familien hineindrängten, um dort die Juden zu repräsentieren. Der enthusiastischen Frau Stefania habe ich, ebensooft wie erfolglos, erklärt, daß es zwisehen dieser jüdischen Kanaille und der geistigen und moralischen Elite der Polen keine Verständigung geben könne und dürfe, ja nicht einmal einen losen Kontakt. Während unserer dreißigjährigen Bekanntschaft gab es gerade aus diesem Grund unangenehme Streitigkeiten und Zeiten der Entfremdung zwischen uns beiden. Wojciechowski und Piłsudski, Norwid und Mickiewicz, Kościuszko und Zajączek, wer weiß, vielleicht auch Lukasiewicz, ja auch Kreon und Antigone, — waren sie einander nicht deswegen so fern, weil sie sich so nahestanden? Auch Nałkowski und Ludwik Straszewicz — früher waren sie scheinbar verfeindet, aber doch miteinander eng verbunden. Wie leicht fällt es doch zwei Schurken, sich zu einem gemeinsamen Verrat, einem Verbrechen oder einem Betrug zu ver5 Stefania Sempołowska (1870—1943), Pädagogin und Publizistin, u. a. Verfasserin von ‫״‬Die Juden in Polen", hervorgetreten als Betreuerin politischer Gefangener.

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abreden; wie unmöglich aber ist eine harmonische Zusammenarbeit, wenn zwei Menschen auf dieselbe Weise lieben, auf ganz andere Art jedoch verstehen, weil ihre Erfahrungen ganz andere sind. Haß und Ekel empfand ich gegenüber den Juden, die mit Ideen und Phrasen Geschäfte machten. Dagegen erkannte ich die Würde jener Juden, die geflohen waren und sich von ihren Freunden jenseits des Grabens fernhielten. Wie könnte man auch den lieben ‫״‬Wojtek" vergessen, jenen kämpferischen Nationaldemokraten6, der mich bei einer Tasse schwarzem Kaffee fast verzweifelt fragte: ‫ ״‬Sag, was soll man tun? Diese Juden bringen uns noch ins Grab." Und Godlewski: ‫ ״‬Wir sind zu schwach. Für einen Schnaps verkaufen wir uns als Sklaven an die Juden." Und Frau Moszczeńska7: ‫ ״‬Eure Vorzüge sind für uns das Todesurteil." Ecke Żelazna- und Chlodna-Straße. Eine Metzgerei. Auf einem Stuhl sitzt dick und breit eine fette Jüdin und probiert Schuhe an. Vor ihr kniet der Schuster. Ein durchgeistigtes Antlitz. Das Haar grau, die Augen klug und gut, die Stimme tief und ernst und das Gesicht hoffnungslos und resigniert. ‫ ״‬Ich habe Ihnen gesagt, daß diese Schuhe . . . " ‫ ״‬Und ich sage Ihnen, behalten Sie diese Schuhe für Ihre Frau. Sie als Schuster müßten das wissen. Wie sieht denn mein Fuß darin aus?" Und sie fuchtelt mit ihrem dicken Fuß dem Schuster vor der Nase hin und her — fast trifft sie sein Gesicht. ‫ ״‬Sind Sie blind? Sehen Sie denn nicht, daß das Falten gibt?" 6 Die National-Demokratie (‫״‬Endecja‫ )״‬war die führende Partei des polnischen Bürgertums der Zwischenkriegszeit. Zu ihrem Programm gehörte unter anderem ein sozial bedingter Antisemitismus, der darauf abzielte, die meist jüdische Mittelschicht der städtischen Bevölkerung durch eine polnische zu ersetzen. Der nationaldemokratische Antisemitismus war also weder rassisch noch religiös begründet. 7 Iza Moszczenska-Rzepecka (1864—1941), Publizistin, Mitarbeiterin des nationaldemokratisch beeinflußten ‫״‬Kurier Warszawski".

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Eine der schlimmsten Szenen, die ich je erlebte; keineswegs aber die einzige. ‫״‬Die Unseren sind nicht besser/' ‫ ״‬Das weiß ich." Also was tun? * Ein Radio hat, wer sich eines kauft. Auch ein Auto. Eine Karte für die Premiere. Reisen, Bücher, Bilder. Vielleicht sollte ich von den polnischen Touristen erzählen, die ich in Athen traf. Sie photographierten einander nur vor dem Hintergrund des Pantheon. Schwatzhaft, unordentlich — jedes Hündchen dreht sich um den eigenen Schwanz und möchte ihn gern packen. Aber warum schreibe ich das eigentlich? Nur so. Es gibt Teufel. Es gibt sie. Aber auch unter ihnen sind nicht alle gleich boshaft. X Januszek und Ireczka bauten sich ein Gärtchen im Sand, ein Häuschen, Blumen und einen Zaun. In einer StreichholzSchachtel trugen sie Wasser herbei. Abwechselnd. Sie berieten sich und bauten ein zweites Häuschen hinzu. Dann berieten sie sich wieder: einen Schornstein, einen Brunnen, eine Hundehütte. Die Glocke zum Mittagessen ertönt. Schon unterwegs zum Speisesaal laufen die beiden noch zweimal zurück, um etwas zu verbessern, um ihr Werk zu betrachten. Mušiek aber hatte alles von weitem beobachtet. Er versetzte dem Bauwerk einen Fußtritt, zertrampelte es und schlug lange mit einem Knüppel darauf ein. Als sie vom Essen zurückkamen, sagte Irka: ‫ ״‬Ich weiß schon, das war Mušiek." Mušiek ist in Paris geboren und wurde später dem Vaterland zurückgegeben; dann vergiftete er drei Jahre lang das Leben von dreißig Waisenkindern im Kindergarten. Ich habe in der ‫ ״‬Speziellen Pädagogik" einen Aufsatz über ihn geschrieben und darin die Auffassung vertreten, daß Strafkolonien notwendig seien, und ich habe dabei sogar die Todes256

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strafe erwähnt. Er ist noch so jung! Noch fünfzig volle Jahre wird er sein Unwesen treiben! Die verehrte Frau Maria meinte, betroffen lächelnd: ‫ ״‬Sie scherzen wohl?" ‫״‬Durchaus nicht. Wieviel menschliches Leid, wieviele Schmerzen, wieviele Tränen . . . " ‫ ״‬Sie glauben also grundsätzlich nicht an eine Besserung?" ‫ ״‬Ich bin kein Adler", antwortete ich barsch. Mit Frau Dr. Grzegorzewska kann man nicht lange böse sein. Ein Kompromiß: ich habe die Todesstrafe gestrichen, war also nur noch für die Besserungsanstalt — aber eigentlich gegen meine Überzeugung. Sind denn die ehrlichen Leute aus den oberen Schichten schon derart zwangsläufig für den Kalvarienberg bestimmt? Warum schreibe ich das? * Es ist Nacht, aber das versteht sich ja von selbst. Zwölf Uhr dreißig. Ich hatte einen schweren Tag. Eine Konferenz mit zwei Herren, Magiern der Sozialfürsorge. Danach zwei Interviews — eines davon mit einem Zwischenfall. Später eine Vorstandssitzung. Der Zwischenfall ereignete sich morgens in der DzielnaStraße 39. Ich habe gesagt: ‫ ״‬Herr Rechtsanwalt, wenn es jeden Tag einen Millimeter vorangeht, dann ist das ein Ansporn, sich noch mehr Mühe zu geben. Wenn es jeden Tag schlimmer wird, kommt es unweigerlich zu einer Katastrophe oder zu einer Krise. Aber wir, wir treten auf der Stelle." Gib acht: was ich jetzt sage, kann vielleicht von Nutzen sein. 257

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Es gibt vier Möglichkeiten zu verhindern, daß unerwünschte Ankömmlinge stören: 1. Sie bestechen. Sie in ein geheimes Einverständnis einbeziehen und sie dann betrügen. 2. Sich mit allem einverstanden erklären und dann die nachlassende Aufmerksamkeit der anderen ausnützen, um seinen Willen durchzusetzen. Ich stehe allein, aber die anderen sind ihrer viele. Ich denke, gut gerechnet, täglich drei Stunden an sie; sie aber brüten doch den ganzen Tag, wie sie die Falle stellen können. Ich werde das näher erklären, wenn ich auf das Denken im Schlaf zu sprechen komme. Aber diese Dinge sind wohl bekannt. 3. Warten, abwarten, lauern und im entscheidenden Augenblick bloß stellen. ‫ ״‬Seht nur! So hat der das angeordnet." Man kann auch lügen. (Sie wollten mir die Kasse übergeben). 4. Zermürben. Entweder geht er freiwillig oder er hört endlich auf, so genau hinzusehen. Wozu auch? Meine Tinte ist ausgegangen. * Sooft ich an die Vergangenheit denke, an verflossene Jahre und Ereignisse, bin ich alt. Ich will aber jung sein und deswegen schmiede ich Pläne für die Zukunft. Was werde ich nach dem Krieg tun? Vielleicht werde ich zur Mitarbeit bei der Schaffung einer neuen Ordnung irgendwo auf der Welt oder in Polen berufen. Doch das ist sehr ungewiß, und ich möchte es auch gar nicht. Denn dann müßte ich ja amtieren — Sklaverei regulärer Arbeitsstunden und erzwungener Kontakte mit irgendwelchen Menschen, irgendwo ein Schreibtisch, ein Sessel und ein Telefon. Zeitvergeudung für laufende, alltägliche Angelegenheiten und der Kampf mit kleinen Leuten, mit ihren kleinen Ambitionen, Protektionen, mit ihrer Rangordnung und ihren VorStellungen. Alles in allem — eine Tretmühle. 258

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Ich möchte lieber auf eigene Verantwortung handeln. Als ich Typhus hatte, kam mir diese Vision: Ein riesengroßer Theater- oder Konzertsaal. Festlich gekleidete Menschen. Ich berichte von Krieg und Hunger, vom Dasein der Waisen und von Not. Ich spreche polnisch. Ein Dolmetscher übersetzt ins Englische. (Das ganze spielt in Amerika.) Plötzlich versagt meine Stimme. Stille. Im Hintergrund schreit jemand auf. Regina8 läuft auf mich zu. Sie bleibt vor dem Pult stehen, wirft eine Uhr aufs Podium und ruft: ‫ ״‬Ich will Ihnen das alles geben!" Und dann regnet es Banknoten, Gold und Schmuck. Ringe, Armreifen und Halsketten werden mir zugeworfen. Jungen aus dem Waisenhaus springen auf die Bühne: die Brüder Gelblat, Falka, Majer Kulawski, Gluzman, Szejwacz — und sie stopfen alles in Säcke. Zurufe, Beifall und das Schluchzen gerührter Zuhörer erfüllen den Saal. Ich gebe nicht allzuviel auf Zeichen, aber seit über zwanzig Jahren warte ich doch auf die Erfüllung dieser Vision. Von Regina werde ich noch mehr erzählen, wenn die merkwürdigen Schicksale einiger Zöglinge aus dem weißen Haus in der Krochmalna-Straße im grauen Warschau an der Reihe sind. Ich werde über unbegrenzte Mittel verfügen und einen Wettbewerb für den Bau eines großen Waisenhauses in den Bergen des Libanon, in der Nähe von Kfar Geladi, ausschreiben. Dort wird es große Speisesäle und Schlafräume geben, wie in einer Kaserne, und kleine ‫ ״‬Einsiedlerhäuschen". Für mich gibt es auf der Terrasse eines flachen Daches ein kleines Zimmer mit durchsichtigen Wänden, damit ich keinen Sonnenaufgang und keinen Sonnenuntergang versäume, damit ich immer wieder die Sterne sehen kann, wenn ich nachts schreibe. Das junge Palästina bemüht sich angestrengt und redlich um eine Verständigung mit der Welt. Aber es muß auch an den Himmel denken. Sonst wäre das ein Mißverständnis und 8 Regina, ein musikalisch besonders begabtes Mädchen aus Korczaks Waisenhaus, das nach Amerika heiratete, gemeinsam mit ihrem Mann ein großes Vermögen erwarb und Korczaks Arbeit durch Spenden unterstützte.

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ein Fehler. Warum nicht Biro-Bidžan, Uganda, Kalifornien, Abessinien, Tibet, Madagaskar, Indien, Südrußland oder Polesien? Selbst das großzügige und weltoffene England weiß nicht, wo dieses im Grund so kleine Häuflein Juden versammelt werden soll. In jedem Jahr fahre ich für ein paar Wochen in meine Heimatstadt, zu meinen Freunden, und wir sprechen über wichtige, ewige Dinge . . . Nein, nein, ich will nicht monoton meine Träume wiederholen. Sie sind jedesmal ein wenig anders. Die meisten Sorgen bereitet mir der Bau der Einsiedlerhütten. Alle, die die Einsamkeit verdient haben, streben in ihr nach dem Glück; sie lesen in der Einsamkeit, und sie sollen sie in eine Sprache fassen, die jeder versteht — urbi et orbi —, sie sollen, sollen haben . . . Aber was sollen sie haben —, das ist es eben. Moszek hat wieder zu wenig Karbid nachgefüllt. Die Lampe verlischt. Ich muß unterbrechen. *

Fünf Uhr früh Der gute Albert hat die Verdunkelung entfernt. Die Scheiben sind nämlich mit Rolladen aus schwarzem Papier verhängt, damit die erleuchteten Fenster die Militärs nicht daran hindern, sich mit Signalen untereinander zu verständigen; offiziell heißt es jedoch, sie könnten den feindlichen Flugzeugen zu leicht den Weg zeigen. Als ob es nicht zehn andere Geräte oder Wegweiser für sie gäbe. Aber die guten Leute glauben trotzdem daran. Es ist also wieder hell. Die Menschen sind gutgläubig und bieder. Und wahrscheinlieh unglücklich. Sie wissen nicht recht, worauf das Glücklichsein beruht. Ein jeder versteht es auf seine Weise. Für den einen ist es der tschólent9 oder die Wurst mit Sauerkraut. Für den anderen: Ruhe, Komfort und Bequemlichkeit. Für einen dritten: Mädchen — viele Mädchen und immer 9

Am Freitag vorbereitete Sabbath-Speise.

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wieder andere. Für einen vierten: Musik, Kartenspiel oder Reisen. Jeder aber wehrt sich auf andere Weise gegen die Langeweile oder die Sehnsucht. Langeweile ‫—־‬der Hunger der Seele. Sehnsucht — Durst, Durst nach Wasser und weitem Flug, nach Freiheit oder nach einem Menschen, — nach einem Vertrauten, einem Beichtvater, einem Ratgeber — einem Ratschlag, einer Beichte, einem geneigten Ohr für seine Klage. Der Geist leidet im engen Käfig des Körpers. Die Menschen empfinden und betrachten den Tod als das Ende, aber er ist nur eine Fortsetzung des Lebens, ein anderes Leben. Und wenn du nicht an die Seele glaubst, so mußt du doch zugeben, daß dein Körper weiterleben wird — als grünes Gras, als Wolke. Du bestehst doch aus Wasser und Staub. ‫ ״‬Die Welt ist eine ewig währende Umwandlung des Übels" — sagt Tetmajer. Dieser Zweifler, Pessimist, Ironiker, Nihilist spricht auch von der Ewigkeit. Die Amöbe ist unsterblich, und der Mensch ist — nach Maeterlinck — eine Kolonie von sechzig Billiarden Amöben. Er konnte bis zu diesen Autoritäten Vordringen. Ich habe mich über ein Jahrzehnt lang erfolglos bemüht, zu begreifen, wievielmal das je zwei Milliarden sind. Der Kollege, Professor Paszkiewicz10, sagte, das sei eine astronomische Zahl. Bis ich zufällig die Antwort in den ‫ ״‬Termiten" fand. Auf der Welt gibt es zwei Milliarden Menschen; aber ich bin ein Gemeinwesen, das millionenfach größer ist. Also habe ich das Recht, ja sogar die Pflicht, für meine eigenen Milliarden zu sorgen. Vielleicht ist es gefährlich, der Allgemeinheit gegenüber davon zu sprechen, obwohl jedermann es ohnehin so empfindet, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist. Aber ist denn der Kosmos meines eigenen Lebens und sein Wohlergehen nicht abhängig vom Gedeihen der ganzen Generation, von den 10 Ludwik A. Paszkiewicz (*1878), Professor für Pathologie an der Universität Warschau.

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Inseln der australischen Menschenfresser bis zur Stube des Dichters, des Gelehrten, der auf verschneiter Höhe oder auf der Polarebene gebannt ins Teleskop schaut. Wenn die kleine Genia nachts hustet, dann habe ich — ganz altruistisch — Mitleid mit ihr; aber — ganz egoistisch ‫ ־־־‬denke ich an die nächtliche Störung, die Sorge um ihre Gesundheit: vielleicht ist es ansteckend? Das Geld für zusätzliche Verpflegung, die Mühe und die Kosten, sie aufs Land zu schicken. Ich möchte schlafen. Bevor mein Bienenstock zu summen anfängt, schlafe ich noch eine kurze Stunde. Ich bin sicher, daß es die Diktatur der Uhr in einer zukünftigen vernünftigen Gesellschaftsordnung nicht mehr geben wird. Ich werde schlafen und essen, wann immer ich will. Was für ein Glück, daß Ärzte und Polizei mir nicht vorschreiben können, wie oft ich pro Minute atmen darf und wie oft mein Herz das Recht zu schlagen hat. Ich schlafe nicht gern in der Nacht; ich schlafe viel lieber bei Tag. Brot und Wasser schmecken mir viel besser in der Nacht. Es ist Unsinn, ein Kind zu Bett zu bringen, damit es zehn Stunden lang ohne Unterbrechung schlafen soll. Der Mensch der Zukunft wird verwundert sein, wenn er erfährt, daß wir Schnittblumen als Zimmerschmuck verwendet haben, Bilder und Tierfelle als Teppiche. Skalpe, die Skalpe von Blumen und die Skalpe unserer edlen jüngeren Brüder im Leben. Eine bekleckste Leinwand, nach einer gewissen Zeit nicht mehr beachtet, auf der sich Staub ablagert, in der die Würmer nisten. Wie klein und arm und ungeschickt war doch der Mensch vor Tausenden von Jahren! Und voller Mitleid werden sie an die primitive Art und Weise unseres Unterrichts denken. Die Unwissenheit einer toten Sprache. Wenn ich mich ‫״‬unter das Volk" mische, entdecke ich unter den Kindern immer wieder Talente. Irgendwo in Solec11 zeigte man mir in einer TagelöhnerWohnung die Zeichnungen eines Buben: Ein Pferd war ein Pferd, ein Baum — ein Baum und ein Schiff — ein Schiff. 11

Stadtteil von Warschau am westlichen Ufer der Weichsel.

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Eine Rolle der Bilder, die ich für die besten hielt, nahm ich mit, um sie einem bekannten Maler zu zeigen. Er schaute sie an und verzog das Gesicht: ‫ ״‬Das ist völlig wertlos. Abgezeichnet. Dieses hier geht zur N ot/‫׳‬ Er sagte noch etwas Verwunderliches: ‫ ״‬Ein jeder sollte mit dem Bleistift das zeichnen können, was er im Gedächtnis behalten will. Ein Analphabet, wer das nicht kann." Wie oft habe ich an diese unwiderlegbare Wahrheit denken müssen. Da ist eine Szene, ein Gesicht, ein Baum, die einen Augenblick später wieder meinem Blick entschwinden — für immer. Wie schade und wie traurig! Touristen wissen sich zu helfen: sie photographieren. Sie filmen sogar. Es wachsen Kinder und Jugendliche heran, die ihre ersten tolpatschigen Schritte später betrachten können. Unvergeßlich die Bilder aus dem Schlafsaal, wenn die Kinder aufwachen. Die Blicke und Bewegungen noch ganz schwer, oder aber ein plötzliches Heraus springen aus den Betten. Eines reibt sich die Augen, ein anderes wischt sich mit dem Ärmel seines Nachthemds die Mundwinkel, ein drittes zupft sich am Ohr, reckt sich, und hält, ganz verloren vor sich hinstarrend, ein Kleidungsstück in der Hand. Lebhaft oder langsam, geschickt oder ungeschickt, selbstbewußt oder ängstlich, sorgfältig oder nachlässig, hellwach oder automatisch. Das ist immer ein Test: man erkennt sofort, wer — und warum er — sich immer so oder gerade heute so verhält. Der Vorführer kommentiert den Film: ‫״‬Bitte schauen Sie genau hin" (er bedient sich eines Zeigestocks wie bei einer Landkarte). ‫״‬Der unwillige Blick dieser beiden da rechts zeigt deutlich, daß sie sich gar nicht vertragen — ihre Betten sollten nicht nebeneinanderstehen. Und dann der da, der so mit den Augen zwinkert — der ist bestimmt kurzsichtig. Traut diesem kleinen Burschen keine Ausdauer zu: die Anstrengung, die fahrigen Bewegungen, das wechselnde Tempo, die Pausen innerhalb der scheinbar so beharrlichen Eile sind deutlich sichtbar. Vielleicht ist er eine Wette eingegangen, hat 263

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er etwas angekündigt — vielleicht ein Wettrennen mit seinem Nachbarn zur Linken, nach dem er sich immer wieder umschaut. Diesem hier prophezeie ich einen schlechten Tag. Irgend etwas plagt ihn. Beim Waschen, beim Bettenmachen oder beim Frühstück, im nächsten Augenblick oder in der nächsten Stunde wird er Streit anfangen oder raufen oder dem Erzieher eine freche Antwort geben." Wir standen zu zweit am Fenster, als ein neues VölkerballSpiel anfing. Ein edles, ritterliches Spiel. Ein zehnjähriger Fachmann ist mein Lehrer: ‫״‬Der da wird sofort ,abgeworfen', weil er müde ist. Der da fängt erst in der zweiten Hälfte an, sich anzustrengen. Der ist auch bald raus. Der hat die Augen hinten: er guckt nach rechts und wirft nach links. Der läßt sich mit Absicht ,abwerfen', weil er will, daß die beiden anderen gegeneinander spielen. Und der wird gleich beleidigt sein und anfangen zu zanken und zu heulen." Wenn die Voraussage nicht eintrifft, dann weiß mein Fachmann genau warum und erklärt es mir. Er hat aber bei seiner Berechnung und bei seiner Beurteilung einiges außer acht gelassen: ‫ ״‬Der spielt heute so, weil er gestern eine Scheibe eingeschlagen hat; der Schrecken sitzt ihm noch in den Gliedern. Den blendet die Sonne, und der da ist nicht an diesen Ball gewöhnt, er ist ihm zu hart. Dem tut das Bein weh. Der da verdankt diesen wunderbaren Wurf nur seinem Freund: der hilft ihm immer." Mein Fachmann liest in dem Spiel wie in einer Partitur und kommentiert die Würfe wie die Züge einer Schachpartie. Wenn ich dies und jenes davon verstehe, so verdanke ich das meinen hilfsbereiten Lehrmeistern. Sie sind so geduldig, selbstlos und wohlwollend; was für ein unbegabter und unbeholfener Schüler bin ich dagegen. Das ist auch nicht verwunderlich: ich war über vierzig Jahre alt, als bei uns das Fußballspiel aufkam; aber sie hatten schon einen Ball unterm Arm, als sie noch nicht laufen konnten. 264

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Fünf dicke Bände: 1. 2. 3. 4. 5.

Gewöhnliches Ballspiel. Fußball. Völkerball. Psychologie und Philosophie des Ballspiels. Biographien, Interviews. Beschreibung berühmter Würfe, berühmter Spiele und Sportplätze.

Und hundert Kilometer Film. Wenn ich die Reaktion voraussehen kann, dann reizt, ärgert und empört mich nichts, und ich verliere auch nicht die Geduld. Heute wird die Klasse unruhig sein, weil erster April ist, weil es heiß ist, weil in drei Tagen ein Ausflug stattfindet, weil in einer Woche Feiertage sind, und weil ich Kopfschmerzen habe. Ich erinnere mich an eine Erzieherin mit langjähriger Erfahrung, die empört war, daß die Haare der Buben so schnell nachwachsen — und ich kannte eine junge Helferin, die einen Bericht über das Zubettgehen der Mädchen mit folgender Bemerkung begann: ‫ ״‬Die Mädchen waren heute unerträglich. Um neun Uhr war es noch laut. Um zehn Uhr wurde noch geflüstert und gekichert. Und das alles, weil die Leiterin mich ausgeschimpft hatte, weil ich wütend war, weil ich es eilig hatte, weil ich morgen Seminar haben werde, weil ich meine Strümpfe nicht finden konnte, weil ich einen unangenehmen Brief von zu Hause bekommen hatte/' Jemand könnte einwenden: ‫ ״‬Was ist ein solcher Film denn wert, wenn die Kinder wissen, daß sie photographiert werden?" Da läßt sich schon etwas machen: Der Apparat ist immer aufgebaut. Der Kameramann läßt ihn zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen Einstellungen laufen, ohne jedoch einen Film eingelegt zu haben. Den Kindern gibt man das Versprechen, ihnen den fertigen Film vorzuführen, aber dann kommt immer etwas dazwischen. Wiederholt werden dringliche, schwierige, unbeliebte Kinder und uninteressante Szenen gefilmt. Man fordert sie niemals auf, sich ganz natürlich zu geben, hierher und nicht dorthin 265

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zu sehen und ‫ ״‬einfach weiterzumachen". Willkürlich werden die Jupiterlampen eingeschaltet und wieder ausgeknipst. Dann wird die Spielstunde unterbrochen und eine schwierige Probe angesetzt. Zuerst ist das Ganze eine Attraktion; dann wird eine gewisse Ungeduld spürbar und nach einer Woche oder einem Monat schauen sie schließlich gar nicht mehr hin. Es ist eigentlich überflüssig, all das genau zu beschreiben. So wird es sicherlich gemacht. Ganz bestimmt wird es so gemacht — es kann gar nicht anders sein. Ein Analphabet ist der Erzieher, der das nicht weiß, ein Trottel, wer das nicht begreift. In Zukunft wird jeder Erzieher ein Stenotypist und Filmrégisseur sein. Und das Tonbandgerät, und das Radio? Und die epochemachenden Pavlovschen Versuche12? Und jener Gärtner, der durch Kreuzung oder Züchtung von Pflanzen Rosen ohne Dornen und ‫ ״‬Birnen am Weidenbaum" zieht? Die Konturen des Menschen besitzen wir bereits, — vielleicht sogar eine Photographie? Vielleicht fehlt nicht mehr viel? Vielleicht braucht man nur noch einen fähigen und gewissenhaften Retuscheur? Manche Menschen schlafen nicht gern am Tag, um sich den Nachtschlaf nicht zu rauben. Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich schlafe ungern in der Nacht — lieber am Tage. 15. Mai, sechs Uhr Die Mädchen waren fast fertig. Das hörte sich etwa so an: sie sagten: ‫ ״‬Weißt du, Hella, du bist ein unruhiger Mensch." Daraufhin sie: ‫ ״‬Ich bin ein Mensch?" ‫״‬Nun ja doch. Ein kleiner Hund bist du jedenfalls nicht." Sie dachte nach und sagte nach längerem Schweigen verwundert: ‫ ״‬Ich bin ein Mensch. Ich bin Hella. Ich bin ein Mädchen. Ich bin Polin. Ich bin Mutters Tochter, ich bin Warschauerin . . . Was ich nicht alles bin!" 12 Ivan Pavlov (1849—1936), russischer Physiologe, Entdecker der ‫״‬bedingten Reflexe" des Nervensystems. 266

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Ein andermal: ‫ ״‬Ich habe eine Mutter, einen Vater, eine Großmutter, zwei Großmütter, einen Großvater, ein Kleid, Hände, eine Puppe, ein Tischchen, einen Kanarienvogel, eine Schürze. Habe ich auch Sie?" Ein Nationalist sagte einmal zu mir: ‫ ״‬Ein Jude, und sei er auch ein aufrichtiger Patriot, ist bestenfalls ein guter Warschauer oder Krakauer, nie aber Pole." Das hat mich überrascht. Ich mußte ehrlich zugeben, daß mir weder Lemberg, noch Posen, noch Gdingen, noch die Seen von Augustów, noch Zaleszczyki oder das Olsagebiet etwas bedeuten. Ich war noch nie in Zakopane (wie ungeheuerlich!) — Polesien, die See und der Urwald von Białowieża lassen mich kalt. Fremd ist mir die Weichsel bei Krakau, und Gnesen kenne ich nicht, und ich möchte es auch gar nicht kennenlemen. Aber ich liebe die Weichsel bei Warschau, und ich habe brennendes Heimweh nach Warschau, wenn ich fern von ihm bin. Warschau ist mein und ich bin sein. Ich gehe noch weiter: ich bin Warschau. Mit dieser Stadt war ich fröhlich und traurig, ihre Heiterkeit war meine Heiterkeit, ihr Regen und ihr Schmutz waren mein Regen und mein Schmutz. Mit Warschau bin ich groß geworden. Aber in letzter Zeit sind wir einander ein wenig fremd geworden. Neue Straßen, neue Stadtviertel sind gebaut worden, in denen ich mich nicht mehr auskenne. Jahrelang fühlte ich mich in Żoliborz wie ein Ausländer. Lublin und sogar Hrubieszów, das ich nie gesehen habe, sind mir vertrauter. Warschau war mein Boden — die Werkstätte meiner Arbeit, hier bin ich daheim, hier sind meine Toten begraben. Während der Aufführung eines Puppenspiels erinnerte ich mich an eine Spielgruppe aus der Miodowa-Straße und an ein Krippenspiel aus der Freta-Straße. Das war so : Nach Weihnachten zogen Arbeitslose — in dieser Zeit waren es die Maurer — durch die Höfe der reichen Häuser und gaben eine Vorstellung, wenn man sie einließ. Eine Kiste war die Bühne, eine Ziehharmonika oder ein Leierkasten spielten dazu. Auf der Bühne die Puppenfiguren: 2 67

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König Herodes auf seinem Thron und der Teufel mit der Forke. Die Vorstellung fand in der Küche statt, damit kein Schmutz in die Wohnung getragen wurde. Und die Köchin versteckte die kleinen Sachen, denn sie stahlen — einmal aus einem ganzen Satz zwei Löffel von Fraget. Es war so schön und schrecklich und belehrend. Zum Schluß kam dann ein alter Mann mit einem Beutel und bat um Almosen. Der Vater hieß mich, neue silberne Zehngroschenstücke eigenhändig in den Beutel des Alten zu werfen; aber ich wechsehe meine gesamte Barschaft in Zweiergroschenstücke um und warf sie zitternd vor Aufregung hinein. Der Alte aber schaute in den Sack, schüttelte seinen langen weißen Bart und sagte: ‫ ״‬Wenig, wenig, gib uns noch mehr, junger Mann." In dieser Zeit war ich mit meinem Vater bei einem Krippenspiel. Ein langgestreckter Saal in einem Waisenhaus, ein Vorhang — Geheimnis, Enge, Erwartung. Irgendwelche sonderbaren Gestalten mit dunkelblauen Schürzen und weißen Mützen auf dem Kopf, mit steifen Flügeln. Ich hatte Angst und war den Tränen nahe. ‫ ״‬Geh du nicht fort, Vater." ‫ ״‬Du brauchst keine Angst zu haben." Eine geheimnisvolle Dame setzte mich in die erste Reihe. Tut das nie, wenn das Kind es nicht will. Ich wäre viel lieber irgendwo an der Seite gesessen, auch wenn die anderen mir die Sicht auf die Bühne versperrt hätten und es dort noch enger und unheimlicher gewesen wäre. In meiner Bedrängnis rief ich: ‫ ״‬Vater!" ‫״‬Bleib doch sitzen, Du Dummerle!" Unterwegs hatte ich ihn gefragt, ob auch Herodes und der Teufel auf treten würden. ‫ ״‬Das wirst Du schon sehen." Diese Geheimnistuerei der Erwachsenen ist zum Verzweifein. Verzichtet doch auf Überraschungen für die Kinder, wenn sie keine wollen. Sagt ihnen rechtzeitig, was sie wissen wollen, sagt ihnen, ob geschossen wird, ob das ganze sicher ist, und 268

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wann und wie. Sie müssen sich doch ja auf eine lange, weite und gefährliche Reise vorbereiten. Die Erwachsenen kümmern sich immer nur um eines: ‫ ״‬Geh noch einmal auf die Toilette, dort kannst du es nicht." Aber ich habe doch jetzt keine Zeit, und ich muß doch auch gar nicht. Und ich kann doch nicht im voraus. Ich war sicher, daß es ein besonders wichtiges und hundertmal prächtigeres Krippenspiel sein würde, und dazu noch eines ohne den alten Mann mit dem Beutel. Schon gut, daß der Alte nicht dabei war. Ich sagte es schon, eine belehrende Stunde. Ia. Dieser Alte. Es ging nicht um ihn allein, aber es ging vor allem um ihn. Er war unersättlich. In seinen Beutel wanderten die für die Eltern gleichgültigen Silberstücke, aber auch meine eigenen, mühsam gesammelten Kupfermünzen. Nachdem ich diese bittere und demütigende Erfahrung gemacht hatte, sammelte ich sie lange, woher immer ich sie bekam. Oft war ein Bettler auf der Straße das Opfer; ich dachte bei mir: ‫ ״‬Ich gebe ihm nichts, ich hebe es für meinen Alten mit dem Beutel vom Krippenspiel auf." Mein Alter war unersättlich und sein Beutel bodenlos. Er war ganz klein und sein Beutel fünfmal kleiner als mein Portemonnaie, aber er verschluckte und verschlang alles und preßte noch das Letzte heraus. Ich gab ihm, gab ihm immer mehr. Und ich werde es noch einmal versuchen, vielleicht sagt er dann endlich, nun sei's genug. Vater! Großmutter! Katharina, borg mir etwas, ich geb es zurück! Die ganze lahresernte will ich auf dem Halm verkaufen. Die Neugierde, ihn vielleicht einmal dabei zu ertappen, wenn er für einen Augenblick hinter der Bühne verschwindet und dort noch weiter aufdringlich fordert. Und die Befürchtung, die traurige Gewißheit, daß nach dem Alten alles zu Ende ist und nichts mehr kommt. Aber noch schlimmer ist: das ermüdende Ritual des Waschens vor dem Schlafengehen, vielleicht sogar noch Lebertran? An besonderen Tagen sollte man die Kinder mit alldem verschonen 269

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und sie nicht mit dem quälen, was die Geschichte, die Wissenschaft und die Erfahrung durchaus zu Recht für sie empfehlen. Gebt ihnen Urlaub davon. Besinnung, Freiheit für dieses in den grauen Alltag hineingewobene Märchen. Der Alte vom Krippenspiel aus der Miodowa-Straße — wieviel hat er mich gelehrt für die Zeit, als das verzweifelte Warschau belagert wurde. Die Aussichtslosigkeit, sich der zudringlichen Bitten zu erwehren, und die Unersättlichkeit der Forderungen, die keiner erfüllen kann. Am Anfang gibst du gern, später ohne Begeisterung, aus reinem Pflichtgefühl, dann nach dem Trägheitsgesetz, der Macht der Gewohnheit folgend, ohne innere Beteiligung, schließlich unwillig, ärgerlich, entmutigt. Aber er will alles, was du hast, und dich selbst will er auch noch. Vor jeder Krippe greife ich nach diesem Alten wie nach einem letzten Faden, der mich mit einem schönen Märchen meines Lebens verbindet, mit dem wundersamen Mysterium des Lebens, mit dem Zauber farbiger und feierlicher Empfindüngen. Es ist vorbei — es kommt nie zurück. Gestorben — begraben. Nur dieser eine, dieser sonderbare (. . . ) 13. Und dieser Furchtbare. Das Gute — das Böse. Ein brennender Wunsch, Versagen, die Fülle, das Nichts. Vielleicht sollte ich erzählen, wie ich die Spatzen gefüttert habe — vierzig Jahre später. Sage nie nein, wenn ein Kind dich bittet, immer und immer wieder dasselbe Märchen zu erzählen. Für manche Kinder, vielleicht für mehr, als wir meinen, sollte eine Darbietung nur aus einer einzigen, unzählige Male wiederholten Nummer bestehen. Ein Zuhörer — das ist oft ein vielfaches und dankbares Auditórium. Du verlierst keine Zeit. Alte Ammen oder Maurer — das sind oft bessere Pädagogen als eine Diplom-Psychologin. Auch die Erwachsenen rufen ja: ‫ ״‬Zugabe." Zugabe ! 13 Auslassung im polnischen Original.

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Dasselbe endlos wiederholte Märchen — das ist wie eine Sonate, wie ein geliebtes Sonett, wie ein Bildwerk, ohne dessen Anblick der Tag farblos erscheint. Die Kunstgalerien kennen Menschen, die nur in ein einziges Ausstellungsstück vernarrt sind. Mein ‫ ״‬Heiliger Johannes" von Murillo in einem Wiener Museum und zwei Bildwerke von Rygier14: ‫ ״‬Das Handwerk" und ‫ ״‬Die Kunst" in Krakau. Bevor der Mensch endgültig versumpft und sich mit der Schlamperei des Überlebens abfindet . .. wehrt er sich . .. leidet er .. . schämt er sich, daß er anders, schlechter als die Masse ist; aber vielleicht empfindet er nur seine eigene Einsamkeit und Fremdheit im Leben schmerzlich? Eine Krippe ohne den Alten ist keine Krippe, sondern eben ein Weihnachtsspiel. Es war schlimm, sehr schlimm. Mit Recht vertraute Mutter die Kinder nur ungern der väterliehen Fürsorge an, und mit Recht begrüßten wir — meine Schwester und ich — mit einem Schauder des Entzückens und freudiger Begeisterung selbst die anstrengendsten, ermüdenden, mißlungenen und in ihren Folgen beweinenswerten ‫ ״‬Vergnügungen" und behielten sie in der Erinnerung, die dieser nicht allzu ausgeglichene Pädagoge mit einer eigentümlichen Intuition ausfindig machte — unser Vater. Trotz härtester Verurteilung durch die Mutter und die Großmutter zog er uns an den Ohren, daß es weh tat. ‫ ״‬Wenn das Kind taub wird, so ist das dein Werk." Im Saal war es unterträglich heiß . . . Die Vorbereitungen zogen sich ins Unendliche. Geräusche hinter dem Vorhang erhöhten die Spannung weit über die Grenzen unserer Nerven. Die Lampen rußten. Die Kinder drängten sich. ‫ ״‬Rück nach! Nimm deine Hand weg! Schieb den Fuß weg! Leg dich doch nicht auf mich!" Die Glocke. Eine Ewigkeit. Wieder die Glocke. Ähnliches mag ein Flieger empfinden, wenn er unter Beschuß steht und die gesamte Munition zu seiner Verteidigung bereits ver14 Theodor Rygier (1841—1919), Bildhauer der romantischen Schule; von seinen Werken ist vor allem das Mickiewicz-Denkmal in Krakau bekannt geworden. 271

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schossen, aber noch seinen wichtigsten Auftrag zu erfüllen hat. Es gibt kein Zurück, und es gibt keinen, keinen Wunsch, keinen Gedanken an eine Umkehr. Ich glaube nicht, daß dieser Vergleich unangebracht ist. Es hat angefangen. Etwas Unwiederholbares, Einzigartiges, Endgültiges. An die Figuren erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nicht einmal, ob der Teufel rot oder schwarz war. Eher schwarz, er hatte einen Schwanz und Hörner. Keine Puppe. Leibhaftig. Nicht etwa ein verkleidetes Kind. Ein verkleidetes Kind? An solche kindischen Märchen können auch nur Erwachsene glauben. Selbst König Herodes sagt zu ihm: ‫ ״‬Satanas!" Ein solches Lachen, solche Sprünge, solch ein leibhaftiger Schwanz, ein solches ‫״‬Nein‫'׳‬, eine solche Forke und ein solches ‫ ״‬Komm" — so etwas hatte ich noch nie gesehen oder gehört; eine seltsame Vorahnung überkommt mich — wenn es nun wahr ist, daß es wirklich eine Hölle gibt? Alles war Wirklichkeit. Die Lampe geht aus, Zigaretten, Husten — das stört. Die Miodowa-Straße und die Freta-Straße. In der FretaStraße war die Schule von Szmurlo. Dort bekam man die Rute. Auch Wirklichkeit. Aber das kann man nicht vergleichen. Vier Uhr Ich habe die Verdunkelung an einem Fenster entfernt, um die Kinder nicht zu wecken. Die kleine Regina hat Erythema nodosum15. Nach einer heute gewiß überholten Methode habe ich ihr Salizyl 10.0 zu 200.0 gegeben, alle zwei Stunden einen Eßlöffel voll, bis sie Ohrensausen bekam und alles gelb sah. Daher hat sie sich gestern zweimal übergeben müssen. Aber die Beulen an den Beinen sind schon blaß und durchsichtig geworden und tun nicht mehr weh. Bei Kindern habe ich Angst vor allem, was mit Rheumatismus zusammenhängt. Salizyl wurde in Paris verordnet, und zwar von Hutinel und Marfan, und merkwürdigerweise auch von Bagiński in Berlin. 15 Erythema nodosum — Knötchen‫־‬Ausschlag rheumatischen Ursprungs.

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Das Erbrechen ist nicht weiter gefährlich. Man braucht den mglücklichen Arzt deswegen kein zweites Mal zu rufen ; wenn !r etwas kann, stellt er gleich fest, daß diese Komplikation rom Medikament herrührt. Ich habe nach dem Krippenspiel nur zwei Tage gefiebert. Eigentlich nur eine Nacht. Das Fieber war vielleicht nicht sehr hoch, aber es mußte entschieden demonstriert werden, um wenigstens bis zum Frühjahr jenes drohende ‫ ״‬Nein!" gebrauchen zu können — oh Graus, wenn der Vater Eis mitbrachte. Ich bin mir nicht sicher, ob wir auf dem Heimweg nicht zum Eisessen gegangen sind oder ob wir ein eiskaltes Sodawasser mit Ananassaft getrunken haben. Damals war künstliches Eis noch unbekannt, aber Natureis war im Winter leicht zu bekommen. So konnten wir uns nach dieser höllischen Hitze ein wenig abkühlen. Ich erinnere mich, daß ich damals meinen Schal verloren habe. Und ich weiß noch, daß, als ich am dritten Tag noch im Bett lag und Vater sich mir näherte, Mutter ihn heftig zurechtwies: ‫ ״‬Du hast kalte Hände, geh nicht so nah ans Bett!" Vater warf mir einen Blick wie ein Spießgeselle zu, als er folgsam das Zimmer verließ. Ich antwortete mit einem spitzbübischen Augenzwinkern, etwa: ‫ ״‬Ist schon gut!" Mir scheint, wir fühlten beide, daß letztlich nicht sie — die Mutter, die Großmutter, die Köchin, meine Schwester, das Mädchen oder das Kinderfräulein Maria —, dieses ganze Weibervolk, das Regiment führten, sondern wir, wir Männer. Wir sind die Herren des Hauses. Nur um des lieben Friedens willen geben wir nach. Interessant. Von meinen langjährigen, wenn auch nicht sehr zahlreichen Patienten wurde ich oft von den Vätern gerufen. Aber immer nur einmal. Jetzt hatten die Mütter um des lieben Friedens willen nachgegeben. Ich erzähle noch von (. . .) 16. 16

Auslassung im polnischen Original.

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Eine Anmerkung, oder eher ein Hinweis für diejenigen, die in dreißig Jahren Radioprogramme machen werden: Stellt eine Stunde, zur Hälfte für den Enkel und zur Hälfte für den Großvater (oder Vater), für eine Plauderei unter dem Titel ‫״‬Der gestrige Tag" — ‫ ״‬Mein gestriger Tag" zur Verfügung. Der Anfang wäre immer derselbe: ‫ ״‬Gestern erwachte ich um . . . Uhr . . . Ich stand auf . . . Zog mich an." Diese Plaudereien werden lehren, wie man beobachten und alltägliche Ereignisse erzählen, wie man etwas auslassen oder hervorheben soll, wie man erleben, etwas achten oder geringschätzen, angreifen oder verfolgen soll — eine Anleitung zu leben. Warum eigentlich nicht Frauen, warum nicht Lehrer und Schüler, warum nicht Handwerker und sein Arbeitgeber, warum nicht Beamte und seine Interessenten, warum nicht der Advokat und seine Klienten? Man müßte die Probe machen. Zum Schluß: Die polnische Sprache hat kein Wort für ‫ ״‬Heimat". Vaterland — das ist zu viel und zu schwer. Empfindet das nur der Jude, oder vielleicht der Pole auch? — Vielleicht nicht Vaterland, sondern Häuschen und Garten? Liebt denn ein Bauer sein Vaterland nicht? Wie gut, daß auch die Feder schon zu Ende geht. Ein arbeitsreicher Tag wartet auf mich. Spätere Ergänzung Ugolino-Dante17. Zur Not gehen sie. Ein Krippenspiel. . . Wenn sie noch lebten, würden sie das Recht erkennen. Es gab Jahre, wo ich Sublimat und Morphiumtabletten in einer tiefen Ecke meiner Schublade aufbewahrte. Damals nahm ich sie nur, wenn ich zum Grabe meiner Mutter auf den Friedhof ging. Erst seit Beginn des Krieges habe ich sie immer bei mir, und es ist merkwürdig, daß man sie mir bei der Leibesvisitation im Gefängnis nicht abgenommen hat. 17 Ugolino della Gherardesca (ca. 1220—1289), italienischer Magnat, einer der Führer der Ghibellinen. Des Verrats angeklagt und eingekerkert,, starb er mit seinen Söhnen und Enkeln im Gefängnis den Hungertod. Dante ließ ihn in der ‫״‬Hölle‫ ״‬des ersten Teils der ‫״‬Göttlichen Komödie‫״‬ zur literarischen Gestalt werden.

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Es gibt keinen abstoßenderen Vorfall (Abenteuer) als einen mißlungenen Selbstmord. Seine Planung sollte ganz ausreifen, so daß die Ausführung mit Sicherheit Erfolg hat. Wenn ich meinen eigenen Plan, der bis ins Letzte durchdacht war, ständig aufschob, dann darum, weil immer im letzten Augenblick irgendein neues Traumbild erschien, das ich nicht einfach beiseite schieben konnte, ohne mich mit ihm beschäftigt zu haben. Das waren gleichsam Themen für Novellen. Ich gab ihnen den gemeinsamen Titel: ‫ ״‬Sonderbare Dinge." Zum Beispiel: Ich habe eine Maschine erfunden (einen sehr genauen komplizierten Mechanismus erarbeitet). Eine Art Mikroskop. Die Skala Hundert. Wenn ich das Mikrometer auf neunundneunzig stelle, stirbt alles, was noch nicht einmal ein einziges Prozent Menschlichkeit besitzt. Es gab alle Hände voll zu tun. Ich mußte feststellen, wieviele Menschen (Lebewesen) jedesmal ausfallen, wer an ihre Stelle tritt und wie diese Säuberung aussehen werde; ein provisorisches, neues Leben. Nach einem Jahr voller Überlegungen (natürlich in der Nacht), hatte ich diese Destillation bis zur Hälfte vorangetrieben. Die Menschen waren nur noch Halb-Vieh, die übrigen sind umgekommen. Wie genau meine Voraussagen waren, beweist, daß ich mich selbst aus diesem eigenwilligen Organismus vollkommen eliminiert hatte. Ich konnte doch, wenn ich eine Schraube meines ‫ ״‬Mikroskopes" überdrehte, mir selbst das Leben nehmen. Und was dann? Etwas beschämt gestehe ich, daß ich in unruhigen Nächten auch heute noch zu diesem Thema zurückkehre. Den Gefängnisnächten verdanke ich die interessantesten Kapitel dieser ErZahlung. Mehr als ein Dutzend solcher Träume lagen in meiner Werkstatt bereit — ich brauchte nur zu wählen. Zum Beispiel: Ich hatte eine magische Formel gefunden. Ich war unumschränkter Herrscher über die Bildung. Ich schlief so sehr von Sorgen bedrückt ein, daß sogar Empörung in mir aufwallte. ‫ ״‬Warum ausgerechnet ich? Was wollt ihr denn gerade von mir? Es gibt doch Jüngere, Gescheitere, Sauberere, die diese Mission besser erfüllen können. 275

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Laßt mich den Kindern. Ich bin kein Soziologe. Ich verpfusche und kompromittiere beides: diesen Versuch und auch mich selbst." Zur Erholung und Entspannung zog ich ins Kinderkrankenhaus. ‫״‬Der Platz." Die Stadt spült mir Kinder zu wie Muscheln; und ich — ich bin nur gut zu ihnen. Ich frage sie nicht, woher sie kommen, wie lange sie bleiben, wohin sie gehen und ob sie anderen Menschen Nutzen oder Schaden bringen. ‫ ״‬Der alte Doktor" verschenkt Bonbons, erzählt Märchen und beantwortet Fragen. Stille, heitere Jahre, fern vom Jahrmarkt der Welt. Manchmal ein Buch oder ein Besuch bei einem Kollegen, aber immer braucht irgendein einzelner Patient mehrere Jahre hindurch die meiste Fürsorge. Kinder werden gesund, sterben — so ist das in einem Krankenhaus. Ich grübelte nicht. Ich bemühte mich nicht, das Thema noch zu vertiefen, das mir bis auf den Grund bekannt war. In den ersten sieben Jahren war ich gerade so ein bescheidener Stations-Arzt in einem Krankenhaus. In den Jahren danach wurde ich das unangenehme Gefühl nicht los, desertiert zu sein. Ich hatte das kranke Kind, die Medizin und das Krankenhaus verraten. Falscher Ehrgeiz hatte mich gepackt: Arzt und Bildhauer der kindlichen Seele. Der Seele. Nicht mehr und nicht weniger. (Ach, du alter Tor, du hast dein Leben und die Sache verpfuscht. Die verdiente Strafe hat dich getroffen!) Eine Dame, ein hysterisches, faules Frauenzimmer von der Mentalität einer Auf Wäscherin im Krankenhaus, steht repräsentativ für diesen wichtigen Teil des Lebens, der maître d'hôtel aber schlägt sich mit hygienischen Fragen herum. Dazu hatte ich mich mit hungrigem Magen in den Kliniken dreier europäischer Hauptstädte herumgetrieben. Lieber nicht davon sprechen. * Ich weiß nicht, wieviel ich schon in diese Autobiographie hineingekritzelt habe. Mir fehlt der Mut nachzulesen, wieviel Ballast darin steht. Zugleich droht mir Gefahr, mich immer häufiger zu wiederholen. Was aber noch schlimmer ist — Tat276

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sachen und Erlebnisse können, müssen und werden in unterschiedlicher Weise berichtet werden —‫ ־‬in ihren Einzelheiten. Das macht nichts. Das ist nur ein Beweis dafür, daß dies wichtige, tief durchlebte Augenblicke waren, zu denen ich immer wieder zurückkehre. Es ist auch ein Beweis dafür, daß Erinnerungen von unseren gegenwärtigen Erlebnissen abhängig sind. Wenn wir uns erinnern, lügen wir unbewußt. Das ist klar, und ich sage es nur für die allerprimitivsten Leser. Ein oft gehegter Traum und Plan war eine Reise nach China. Das war durchaus möglich, sogar leicht. Meine arme vierjährige Iuo‫־‬Ia aus der Zeit des japanischen Krieges. Ich schrieb ihr eine Widmung in polnischer Sprache. Geduldig versuchte sie, dem unbegabten Schüler Chinesisch zu lehren. Ja, es soll Institute für Ostsprachen geben. Und Professoren und Vorlesungen. Aber jeder müßte ein Jahr in solch einem östlichen Dorf verbringen und einen Einführungskurs bei einem Vierjährigen machen. Deutsch zu sprechen hatte mich Erna gelehrt — Walter und Frieda waren schon zu alt, sie kamen schon mit Grammatiken, Büchern, Nachschlagewerken, Schulmanieren. Dostojewski sagt, daß sich alle unsere Träume im Laufe der Jahre erfüllen, jedoch in einer so entstellten Form, daß wir sie nicht wiedererkennen. Ich erkenne meine Träume aus den Vorkriegsjahren wieder. Nicht ich kam nach China, sondern China kam zu mir. Chinesischer Hunger, chinesische Mißachtung der Waisenkinder, chinesische Kindersterblichkeit. Ich will mich bei diesem Thema nicht aufhalten. Wer fremden Schmerz beschreibt, der stiehlt gleichsam und macht Jagd auf das Unglück, als ob ihm das, was ist, noch nicht genüge. Die ersten Journalisten und Beamten aus Amerika machten keinen Hehl daraus, daß sie enttäuscht waren: es war gar nicht so furchtbar. Sie suchten Leichen und in Waisenhäusern Skelette. Als sie das ‫ ״‬Haus der Waisen" besuchten, spielten die Jungen Soldaten, mit Papierhelmen und Stöcken. 277

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‫ ״‬Offensichtlich hat der Krieg ihnen nichts ausgemacht", sagte einer ironisch. ‫ ״‬Das mag jetzt so sein. Aber der Hunger ist größer ge‫־‬ worden und die Nerven sind abgestumpft, einiges kommt schließlich wieder in Bewegung — und hier und da sieht man in den Auslagen sogar Spielzeug und Bonbons für zehn Gro‫־‬ sehen bis zu einem ganzen Zloty." ‫ ״‬Ich habe es mit eigenen Augen gesehen: ein kleiner Kerl hatte zehn Groschen erbettelt und sich dafür gleich Bonbons gekauft." ‫״‬Berichten Sie das nicht an Ihre Zeitung, Herr Kollege." Ich habe einmal gelesen: an nichts gewöhnt sich der Mensch leichter als an fremdes Unglück. Als wir über Ostrołęka nach Ostpreußen marschierten, fragte uns eine Krämerin: ‫״‬Was wird aus uns, ihr Herren Offiziere? Wir sind doch Zivilisten — für was sollen wir leiden? Bei euch ist das etwas anderes - ‫ ־‬ihr geht in den sicheren Tod." Nur ein einziges Mal bin ich in Charbin mit einer Rikscha gefahren. Jetzt in Warschau habe ich midi lange dagegen gesträubt. Ein Rikschamann lebt nicht länger als drei Jahre, ein besonders kräftiger fünf. Dazu wollte ich beitragen. Jetzt sage ich: ‫ ״‬Man muß sie etwas verdienen lassen. Besser, ich steige ein als zwei dicke Schwarzhändler, womöglich noch mit Warenbündeln." Ein peinlicher Augenblick, wenn ich gesündere, kräftige auswähle (falls ich es eilig habe) und ich gebe ihnen fünfzig Groschen mehr, als sie verlangen. Der gleiche Edelmut — damals wie heute. Wenn ich mit gesunden Kindern in einem Zimmer zusammen lag und mir eine Zigarette anzündete, dann redete ich mir ein: ‫״‬Rauch ist ein gutes Mittel, um sich auszuhusten. Also trage ich zu ihrem Wohlbefinden bei." X Fünf Gläschen Spiritus, halb und halb mit heißem Wasser, bringen mich in Stimmung. 278

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Dann überkommt mich das herrliche Gefühl der Ermattung, frei von Schmerzen, denn es zählt weder die Narbe noch das ‫ ״‬Ziehen" in den Beinen, und sogar der Schmerz in den Augen und das Brennen des Hodens zählen nicht mehr. Diese Stimmung macht mir bewußt, daß ich hier in meinem Bett liege, und das bis zum Morgen. Also zwölf Stunden normaler Lungen‫־־‬, Herz- und Gedankentätigkeit. Nach einem arbeitsreichen Tag. Im Mund den Geschmack von Sauerkraut und Knoblauch und von einer Karamelle, die ich mir zur Verbesserung des Geschmacks ins Glas getan hatte. Ich Epikuräer. Ja, sogar noch zwei Tee-Löffel voll echtem Kaffeesatz mit etwas Kunsthonig. Es riecht: nach Amoniak (der Urin zersetzt sich jetzt sehr schnell, und ich spüle meinen Kübel nicht jeden Tag), nach Knoblauch, nach Karbid und von Zeit zu Zeit nach meinen sieben Zimmergenossen. Ich fühle mich wohl, ruhig und sicher. Gewiß könnte diese Ruhe noch gestört werden, durch einen Besuch von Frau Stefa, die mit irgendeiner Neuigkeit käme, mit Überlegungen oder desperaten Entschlüssen. Vielleicht auch von Fräulein Esther, weil irgend jemand weint und wegen Zahnschmerzen nicht einschlafen kann. Oder von Felek wegen des Briefes für morgen an irgendeinen Würdenträger. Nun ist da eine Motte vorbeigeschwirrt — schon wieder Ärger, das innere Ferment. Wanzen, neue und einstweilen seltene Gäste — und Motten, die letzten Feinde, sagen wir Nummer fünf: das ist schon, verdammt, ein Thema für morgen. In dieser nächtlichen Stille (es ist zehn Uhr) will ich den heutigen Tag überdenken, einen — wie ich schon sagte — arbeitsreichen T ag18. A propos Schnaps: der letzte halbe Liter von der alten Zuteilung; ich wollte die Flasche nicht öffnen — ich wollte sie 18 Korczaks Gesundheit war damals — im Mai 1942 — schon so vollkommen ruiniert, daß seine Ärzte ihm eine an sich notwendige Operation verweigerten, weil ‫״‬sein Herz diese nicht aushielte‫״‬. Dazu bedrückte ihn die Sorge um seine 200 Waisenkinder, die damals in einem zu kleinen Haus in der Sienna-Straße 16 — der zweiten Unterkunft des ‫״‬Haus der Waisen‫ — ״‬eingepfercht waren.

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aufbewahren als Vorrat für eine schwarze Stunde. Aber der Teufel schläft nicht — Kohl, Knoblauch, das Verlangen nach Linderung und fünf Deka Knackwurst. So still ist es hier und so sicher. Ja, sogar sicher — denn ich glaube nicht, daß Besuch von draußen kommt. Gewiß, es könnte so ein Besuch kommen, wie zum Beispiel eine Feuers‫־‬ brunst, ein Luftangriff, ein über meinem Kopf herabstürzender Verputz. Aber schon allein der Ausdruck ‫ ״‬Gefühl der Sicher‫־‬ heit‫ ״‬beweist, daß ich midi subjektiv als Bewohner eines weit abgelegenen Hinterlandes fühle. Wer die ‫ ״‬Front" nicht kennt, kann das nicht verstehen. Ich fühle mich wohl und will lange schreiben, bis zum letzten Tropfen Tinte in meinem Federhalter. Sagen wir, bis ein Uhr, und dann sechs volle Stunden Erholung. Sogar zum Scherzen habe ich Lust. ‫ ״‬Ist ja famos", sagte ein nicht ganz nüchterner Minister und nicht ganz zur rechten Zeit, denn auf dem Land grassierte da und dort der Hungertyphus, und die Kurve der Tuberkulosefälle mit tödlichem Ausgang stieg in schwindelnde Höhen. Später griffen ihn seine politischen Gegner in der unabhängigen Presse an (daß Gott erbarm!). ‫ ״‬Ist ja famos", sage auch ich und möchte gern fröhlich sein. Eine lustige Erinnerung: Jetzt kosten fünf Deka sogenannter Knackwurst bereits einen Zloty zwanzig, früher nur achtzig Groschen (das Brot etwas mehr). Ich sagte zur Verkäuferin: ‫״‬Mein liebes Fräulein, ist diese Wurst nicht womöglich aus Menschenfleisch, denn für Pferdefleisch ist sie zu billig." Und sie antwortete darauf: ‫ ״‬Das weiß ich nicht, ich war nicht dabei, als sie gemacht wurde." Sie war nicht entrüstet, lächelte dem witzigen Kunden nicht höflich zu, verriet nicht einmal durch ein Achselzucken, daß dieser Scherz ein wenig gespenstisch — makaber sei. Nichts, sie hörte nur auf zu schneiden und wartete auf meinen Ent‫־‬ Schluß. Ein schlechter Kunde, ein schlechter Scherz oder Ver‫־‬ dacht — nicht wert, darüber zu reden. 280

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Der Tag begann mit dem Wiegen. Der Mai hatte einen großen Rückschlag gebracht. Die vergangenen Monate dieses Jahres waren nicht schlecht, und der Mai ist noch nicht beunruhigend. Aber immerhin dauert es im günstigsten Fall noch zwei Monate, bis die neue Ernte kommt. Das ist gewiß. Und die amtlich angeordneten Beschränkungen, zusätzlichen Erklärungen und inneren Spannungen werden die Situation noch verschlimmern. Die Stunde, in der die Kinder am Samstag gewogen werden, ist eine Stunde großer Aufregungen. Nach dem Frühstück Schulsitzung. Das Frühstück selbst ist auch schon eine Arbeit. Wir hatten nach meinem unanständigen Brief an einen Würdenträger eine verhältnismäßig gute Zuteilung erhalten: Würste und sogar Schinken und auch hundert Kuchen. Ganz gut war sie nicht, denn es gibt nicht viel ‫״‬pro Kopf", aber der Brief hatte gewirkt. Später kam sogar eine Überraschung in Gestalt von zweihundert Kilogramm Kartoffeln. Es gibt ein Echo auf diese Briefe. Aber auch Gereiztheit. Ein flüchtiger diplomatischer Sieg, ein leicht errungenes Zugeständnis sollten keine optimistischen Hoffnungen wecken oder die Wachsamkeit einschläfern. Irgendwie werden sie schon versuchen, sich alles zurückzuholen — wie soll man das auch verhindern? Aus welcher Richtung werden die Wolken herauf ziehen? Wie und wann werden unsichtbare Ohm, Volt und Neonen sich für einen künftigen Blitz oder einen Sturm aus der Wüste sammeln? Die quälende Frage: ‫״‬habe ich es gut oder schlecht gemacht", — eine düstere Begleitmusik zu dem sorglosen Frühstück der Kinder. Nach dem Frühstück, schnell, à la fourchette, auf die Toilette (vorbeugend, also auch das eine Anstrengung) und dann eine Versammlung; dort wird der Plan für die Schule im Sommer, für die Ferien und für die Vertretungen besprochen. Es wäre bequem, alles genauso zu machen wie im vergangenen Jahr. Aber das hat den Haken, daß sich vieles geändert hat; der Schlafsaal ist anders, viele Kinder sind hinzugekommen, viele sind weggegangen, neue Rangordnungen — was soll 281

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ich viel reden — es ist anders. Und man möchte es doch auch immer besser machen. Nach der Versammlung die Kinderzeitung und die Gerichts‫־־‬ urteile. Mißbräuche haben sich eingeschlichen. Nicht jeder möchte eine geschlagene Stunde lang zuhören, wer gut und wer schlecht gewirtschaftet hat, wer hinzugekommen ist und wer weggegangen ist, was vorausgeplant und was getan werden muß. Für die neuen Kinder wird die Zeitung eine Offenbarung sein. Aber die Alteingesessenen wissen, daß sie sowieso nicht erfahren, was für sie wichtig oder gar besonders wichtig ist. Es ist ihnen eigentlich gleichgültig, sie hören gar nicht zu; wenn sie sich vor einer Anstrengung drücken können — warum nicht? Gleich nach dem Verlesen der Zeitung, das so mühsam für mich ist, der ich verständnisvoll nachgebe und geflissentlich übersehe, was zu bemerken unbequem wäre, wenn ich mit Gewalt nicht will und mit Überredung nicht vermag — gleich nach dieser Zeitungsstunde also ein längeres Gespräch mit einer Dame, die sich für die Aufnahme eines Kindes einsetzt; das ist eine langwierige Verhandlung, die Vorsicht, Höflichkeit und Entschiedenheit verlangt; es ist zum Wahnsinnigwerden. Aber davon ein andermal. Denn der Gong ruft zum Mittagessen. Wodurch sich dieses Mittagessen am Samstag von anderen Mittagessen unterscheidet, kann ich nicht genau sagen, darum will ich das lieber aufschieben. Heute habe ich nur drei Adressen und drei Besuche vor. Allem Anschein nach leichte. 1. Einen mir sehr sympathischen Herrn nach seiner Krankheit besuchen. 2. In der Nachbarschaft wegen Hefe für die Kinder vorsprechen. 3. Ganz in der Nähe Re-emigranten aus dem Osten willkommen heißen, liebe und freundliche Menschen, denen ich alles Gute wünsche. Nun ja. Der erste Besuch eine Fortsetzung der Vormittagsdiskussionen über die Schule. 282

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Ich traf ihn zu Hause nicht an. ‫ ״‬Ich bitte, ihm meine verspäteten guten Wünsche auszurichten. Ich wollte früher kommen, aber ich konnte nicht." Die Gedanken quälen mich — es sind so viele. Dieser ältere Herr, wunderlich und untypisch, von der Art eines Volksschullehrers. Was weiß ich von ihm? Kein längeres Gespräch, ja vielleicht überhaupt keines im Laufe eines ganzen Jahres. Es war keine Zeit? — Ich lüge. (Die Augen fallen mir zu. Ich kann nicht mehr. Wirklich, ich kann nicht mehr.) Wenn ich aufwache, werde ich fertigschreiben. (. . . Sei gegrüßt, schöne Stille der Nacht.) Ich bin nicht aufgewacht, und am Morgen muß ich Briefe schreiben. Fortsetzung in der nächsten Nacht. Sei gesegnet. Ruhe, N.B. In der vergangenen Nacht sind nur sieben Juden erschossen worden, sogenannte jüdische Gestapomänner. Was soll das bedeuten? Es ist besser, nicht weiter danach zu forschen. Ein einstündiger Vortrag über Hefesorten. Bier- oder Bäckerhefe, lebendige oder abgetötete? Wie lange soll sie lagern? Wie oft und wieviel wöchentlich? Betabion. Vitamin B. Wir brauchten fünf Liter in der Woche. Wie? Durch wen? Von wem? Ein Vortrag über die nationale Küche beim dritten Besuch. Wie wurde in seinen Kindertagen Kugl19 und Tschólent zubereitet? Ein Ausbruch der Erinnerungen eines alten Mannes. Aus der Hölle sind sie in das Warschauer Paradies zurückgekehrt. Auch das kommt vor. ‫ ״‬Sie sind noch ein grüner Junge nach Alter und Lebenserfahrung. Nichts wissen Sie." Und dann dieser Tschólent! Oft habe ich in Kiew an die Warschauer Kaldaunen gedacht und vor Heimweh geweint, wenn ich Kaldaunen aß. Er hörte mir zu — nickte. 19 Eine Mehlspeise in Puddingform, die am Sabbath gegessen wird. 283

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An der Haustür hielt mich der Hausmeister an. ‫ ״‬Hilf/ Allmächtiger! Daß sie nichts fragen, nichts erbitten, nichts sagen." Auf dem Gehsteig liegt ein toter Junge. Daneben bessern drei Buben mit einer Schnur ihre Zügel aus. Auf einmal bemerken sie den Daliegenden — und treten ein paar Schritte zurück, ohne ihr Spiel zu unterbrechen. Jeder ein wenig vermögende Mensch muß seine Familie unterstützen. Seine Familie — das sind seine und seiner Frau Brüder und Schwestern, die alten Eltern, die Kinder. UnterStützungen von fünf bis fünfzig Zloty — und so vom Morgengrauen bis zum späten Abend. Wenn jemand dem Hungertod nahe ist, und er findet eine Familie, die ihn als Verwandten anerkennt und ihm zwei Mahlzeiten täglich zusichert, dann ist er zwei, drei Tage, hochstens aber eine Woche glücklich; aber dann bittet er um ein Hemd, um Schuhe, eine menschliche Behausung, ein wenig Kohle; später möchte er sich, seine Frau und seine Kinder ärztlich behandeln lassen — schließlich will er kein Bettler mehr sein, er fordert Arbeit, er will eine Stellung haben. Das kann gar nicht anders sein, aber es weckt Zorn, Unwillen, Furcht und Abscheu in solchem Maße, daß ein guter und empfindsamer Mensch zum Feind seiner Familie, der Menschheit und seiner selbst wird. Ich möchte nichts mehr besitzen, damit jedermann sieht, daß ich nichts habe, damit das alles endlich aufhört. Zerschlagen kehrte ich von meinem ‫ ״‬Rundgang" zurück. Sieben Besuche, Gespräche, Treppen, Fragen. Ergebnis: fünfzig Zloty und eine Verpflichtung über fünf Zloty monatlich. Können davon zweihundert Menschen leben? Angekleidet lege ich mich hin. Der erste heiße Tag. Ich kann nicht einschlafen, und um neun Uhr abends findet eine sögenannte pädagogische Sitzung statt. Manchmal braust jemand für einen Augenblick auf, aber er beruhigt sich wieder (es hat keinen Wert). Manchmal eine schüchterne Bemerkung (nur so, zum Schein). Diese Zeremonie dauert eine Stunde. Den Formali täten ist Genüge getan: von neun bis zehn. Freilich, ich übertreibe. 284

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Mir gehen vor dem Einschlafen verschiedene Gedanken durch den Kopf. Diesmal: was würde ich, freiwillig und vielleicht sogar ohne Abscheu, jetzt essen? Ich, der ich noch vor einem halben Jahr nicht genau wußte, was mir schmeckt (zeitweise das, womit irgendeine Erinnerung verknüpft war). Also Himbeeren (Tante Magdas Garten), Kaldaunen (Kiew), Buchweizengrütze (Vater), Nieren (Paris). In Palästina habe ich zu jeder Mahlzeit reichlich Essig genommen. Und jetzt, als beruhigendes Thema — um einzuschlafen, was würde ich essen? Die Antwort: Champagner mit Biskuit und Eis mit Rotwein. Ein Beweis für die Dauer meiner Halsbeschwerden, weil ich schon zwanzig Jahre kein Eis mehr gegessen, Champagner vielleicht dreimal in meinem Leben getrunken und Biskuits wohl nur als Kind, wenn ich krank war, genommen habe. Ich stellte mich auf die Probe: Vielleicht Fisch mit Sauce à la tatare. Wiener Schnitzel? Pastete, Hasenbraten mit Rotkohl, Malaga? Nein! Kategorisch nein. Warum? Eine merkwürdige Erklärung: Essen ist Arbeit, und ich bin müde. Es kommt vor, daß ich morgens beim Aufwachen denke: ‫״‬Aufstehen, das bedeutet, sich im Bett aufrichten, nach der Unterhose greifen, sie zuknöpfen, wenn auch nicht alle, so doch wenigstens einen Knopf; sie am Hemd befestigen; zum Socken-Anziehen muß man sich bücken; die H osenträger. . Ich kann Krylov verstehen, der ein ganzes Menschenleben auf einem Sofa verbrachte, unter dem er seine Bibliothek hatte. Er brauchte nur die Hand auszustrecken und konnte lesen, was ihm in die Finger kam. Ich kann auch die Geliebte des Kollegen P. verstehen. Sie zündete in der Dämmerung keine Lampe an, sondern las im Schein von Wachsstreichhölzem, die P. ihr zu diesem Zwecke kaufte. 285

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Ich huste. Das ist eine schwere Arbeit. Vom Gehsteig auf die Fahrbahn hinunter steigen, von dort wieder auf den Gehsteig klettern. Ein Passant stieß mich: ich schwankte und lehnte mich an eine Hauswand. Aber das ist keine Schwäche. Ohne allzu große Anstrengung hob ich einen Schulbuben hoch, dreißig Kilogramm lebendigen, widerspenstigen Gewichts. Nicht die Kraft fehlt, es fehlt die Willensstärke. Wie bei einem Kokainsüchtigen. Ich dachte schon, es könne am Tabak liegen, am rohen Gemüse, an der Luft, die wir atmen. Denn es geht nicht mir allein so. Schlafwandler — Morphinisten. Ebenso ist es mit dem Gedächtnis. Es kommt vor, daß ich wegen einer wichtigen Angelegenheit jemanden aufsuche. Auf der Treppe bleibe ich stehen: ‫ ״‬Weswegen will ich eigentlich zu ihm?" Langes Nachdenken und dann voller Erleichterung: ‫ ״‬Ach ja, ich weiß schon wieder (Kobryner — Krankengeld, Herszaft — Zusatz-Verpflegung, Kramsztyk — Qualität der Kohle und ihr Verhältnis zur Holzmenge)." Genauso geht es bei den Sitzungen. Der Diskussionsfaden reißt so leicht ab. Irgend jemand unterbricht mit einer Bemerkung — und schon wechselt für geraume Zeit das Thema. Worüber sprechen wir eigentlich? Manchmal sagt jemand: ‫ ״‬Erstens . . . " Auf das ‫ ״‬Zweitens" wartest du vergebens. Freilich — ein gut Teil dabei ist reine Geschwätzigkeit. Der Antrag: Ein Kind soll aufgenommen werden. Es wird notiert: ‫ ״‬Der Antrag ist angenommen." Jetzt sollte eigentlich über das nächste Gesuch befunden werden. Aber nein. Nicht nur eine, gleich drei Personen begründen nun den Antrag. Manchmal muß mehrmals unterbrochen werden. Die Diskussion kommt ins ‫ ״‬Schleudern" wie ein schlecht gelenktes Auto. Das quält und strengt an. Nun aber genug! 286

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Da haben wir es: genug! Die Front kennt dieses Gefühl nicht. Die Front — das sind Befehle: ‫״‬Zehn Kilometer Vormarsch, fünf zurück — Halt — Abmarsch, Nachtquartier!" Ob beritten oder motorisiert — ob am Tage oder in der Nacht —, von Zeit zu Zeit kommt ein kurzer Befehl, mit Bleistift auf einen Zettel geschrieben. Dieser muß ohne viel Rederei ausgeführt werden. Im Dorf gibt es nur fünf Hütten, die nicht beschädigt sind. In ihnen müssen Unterkünfte für zweihundert Verwundete vorbereitet werden. Sie sind schon auf dem Weg. Und du mußt sehen, wie du zurechtkommst. Hier ist es nicht so, hier ist es ganz anders : ‫ ״‬Ich bitte, ich werde auch dankbar sein. Seien Sie so gut." Du kannst dich weigern, es anders machen, etwas aushandeln. Da gibt es einen unfähigen Vorgesetzten. Er schikaniert gedankenlos, benachteiligt, stellt sinnlose Anforderungen und verschwindet im kritischen Moment, ohne einen Befehl zu hinterlassen. Und ohne Befehl darf man nichts tun. Man spricht über diesen Vorgesetzten, macht sich Gedanken und träumt. Anders ist es im Zivilleben: da besteht die Möglichkeit sich zu widersetzen, etwas zu beweisen, zu streiten und zu drohen. Die Wirkung ist dieselbe. Langeweile. Langeweile an der Front dauert nie lange. Jemand hat an die Hüttenwand gepocht, ein Pferd hat draußen auf der LandStraße gewiehert. Es wird immer etwas Neues geschehen. Vielleicht geht es in die Stadt, vielleicht heute Nacht in ein Palais, vielleicht an einen anderen Frontabschnitt, vielleicht aber auch — das allerschrecklichste — in Gefangenschaft. Und hier sind wir, wir Juden, und wir wissen nicht, was uns der nächste Tag bringt. Und trotz allem — dieses Gefühl der Sicherheit. Also auch Langeweile. Möchtest du nicht lieber in der Schlacht bei Charkov stehen? Und da schüttelte ich voller Verachtung dieses Zeitungsgeschwätz ab und antworte: 287

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‫ ״‬Ja, das möchte ich." Auch wenn es schlimmer ist, es ist anders. Deswegen flüchten sich die einen in die Industrie, die andern in Spekulationen oder in soziale Arbeit oder in [. . .] Es ist schon Tag. Ich gähne. Noch ein Tag! Dieser Zahn, der mir die Zunge verletzt — zum Verzweifeln. Ich feile an ihm herum, aber es nützt nichts. Vielleicht ist es Krebs. Vielleicht ist es schon soweit? 29. Mai 1942, 6 Uhr früh, im Bett Du willst deine Widerstandskraft gegenüber Wutanfällen prüfen — versuch einmal, einer ganz und gar unbeholfenen Frau zu helfen. Du gibst ihr ein Schriftstück in die Hand, sie soll es — morgen — persönlich übergeben; du nennst ihr die genaue Anschrift und die Zeit. Aber sie hat das Schreiben verloren oder vergessen, es mitzunehmen, oder sie hatte keine Zeit oder ein Amtsdiener hat ihr einen anderen Rat gegeben. Morgen wird sie hingehen. Es ist auch einerlei. Übrigens weiß sie nicht, ob es so gut sein wird. Wem soll sie das Kind überlassen, sie hatte Wäsche, nur ein einziges Kinderkleidchen. ‫ ״‬Konnten Sie das Waschen denn nicht auf morgen verschieben?" ‫ ״‬Es ist doch so heiß. Ich hatte es fest versprochen." Es ist ihr peinlich. Vielleicht wird jetzt nichts daraus? Vor dem Krieg hat ihr Mann alles erledigt. ‫״‬Vielleicht habe ich es schlecht gemacht, aber seien Sie mir, bitte, nicht böse." Ich überprüfe die materiellen Verhältnisse einer Familie — sie hat die Aufnahme ihres Buben beantragt. ‫ ״‬Schlafen kann er doch hier. Es ist sauber." ‫״‬Das nennen Sie sauber? Wenn Sie vor dem Krieg . . . " ‫ ״‬Den ganzen Tag über könnte er bei uns sein." ‫ ״‬Und wenn es regnet?" ‫ ״‬Ich kann darüber nicht entscheiden. Meine Beurteilung habe ich schriftlich niedergelegt, aber die Damen werden beschließen, was getan wird." 288

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‫״‬Herr Doktor! Was ist das nur für ein Kind! Sie werden ihn kennenlernen. Sie werden bedauern, daß es nur eins ist. Bei der Geburt hatte ich fünf Ärzte." Ich sage nicht: ‫ ״‬Sie sind ja nicht recht gescheit." Das habe ich einmal vor dreißig Jahren zu einer Mutter im Krankenhaus gesagt. Sie antwortete: ‫״‬Wenn ich reich wäre, dann wäre ich auch gescheit." Einer anderen sage ich: ‫ ״‬Selbst Baron Rothschild füttert sein Kind nur fünfmal täglich." ‫ ״‬Sein Kind wird auch ein Leben lang genug zu essen haben." Ich sage: ‫ ״‬Wenn das Kind Tee brauchte, dann hätte Gott Ihnen in die eine Brust Milch und in die andere Tee gegeben." ‫״‬Wenn der Herrgott den Kindern das gäbe, was er geben kann und was die Kinder brauchen . . . " Ich sage: ‫ ״‬Wenn Sie mir nicht glauben, dann gehen Sie zu einem anderen Arzt, zu dem Sie Vertrauen haben." ‫ ״‬Seien Sie doch nicht beleidigt, aber wie kann ich einem Menschen vertrauen, wenn ich manchmal sogar zum Herrgott kein Vertrauen habe." Und eine Redensart wie diese : ‫ ״‬Als ich ihm den Hintern so fest verhauen habe, daß er ganz feuerrot war, da hat er mir so leid getan, daß ich, mit Verlaub gesagt, selbst geweint habe." In diesem Augenblick brachte mir Semi seinen Brief ans Bett: ob es so recht sei? ‫״‬An den hochwürdigen Herrn Pfarrer von der Gemeinde Aller-Heiligen. Wir bitten den sehr verehrten Herrn Pfarrer höflichst, uns in seiner Güte zu erlauben, ein paarmal samstags in den Morgenstunden (sechs Uhr dreißig bis zehn Uhr) in den Kirchgarten zu gehen. Wir sehnen uns nach ein bißchen Luft und Grün. Bei uns ist es eng und dumpf. Wir möchten die Natur kennen und lieben lernen. Die Anpflanzungen werden wir nicht beschä289

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digen. Wir bitten inständig darum, unsere Bitte nicht abzuschlagen. Zygmuś Semi Abrasza Hanka Aronek" Wieviele Kostbarkeiten verliert der Mensch, weil er keine Geduld mehr hat, sich mit Menschen zu unterhalten, ohne dabei einen bestimmten Zweck zu verfolgen, nur so, um sie kennenzulemen. Dieser Bittbrief, mit dem der Tag begann, ist ein gutes Vorzeichen. Vielleicht bekomme ich heute mehr als fünfzig Zloty zusammen. Sie schlafen im Isolierraum. Es sind ihrer sieben. An der Spitze als Senior Azrylewicz (angina pectoris), Gienia (wahrscheinlich lungenkrank), Haneczka (Luft-Embolie). Auf der anderen Seite Moniuś, Reginka, Maryla. Hanka zu Gienia: ‫ ״‬Er hat sich so schrecklich für sie auf geopfert. Er hätte ihr sein Leben und alles, gar alles auf der Welt gegeben. Aber sie, dieses Schwein, sie hat ihn nicht geliebt." ‫״‬Wieso Schwein? Muß sie ihn denn lieben, wenn er sie liebt?" ‫ ״‬Das hängt davon ab, wie er liebt. Wenn er nur so ein bißchen liebt, nun, dann soll er nur. Aber wenn er sein Leben und alles, gar alles hingeben will?" ‫״‬Hat sie ihn denn darum gebeten?" ‫ ״‬Das hätte gerade noch gefehlt!" ‫ ״‬Na, also." ‫ ״‬Das sag' ich auch." ‫ ״‬Nein, du hast gesagt, daß sie ein Schwein ist." ‫ ״‬Ist sie auch!" ‫״‬Mit dir spreche ich nicht mehr." Jetzt waren sie einander böse. Ich bin froh und traurig zugleich. Ich ärgere mich, freue mich, beunruhige und empöre mich, ich begehre zu erfahren und zu vermeiden, ich wünsche Gutes und erflehe göttliche oder menschliche Strafe. Ich urteile: dieses ist gut, jenes böse. 290

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Aber all das nur theoretisch. Auf Bestellung. Seicht, grau, gewohnheitsmäßig, beruflich, wie durch einen Nebel hindurch, verschwommene Gefühle ohne Maß. Sie sind neben mir, nicht in mir. Ich kann mühelos auf sie verzichten, sie vertagen, auslöschen, einstellen, auswechseln. Die scharfe Zahnkante verletzt mir die Zunge. Ich werde Zeuge einer empörenden Szene: ich höre Worte, die mich in Zorn versetzen sollten. Aber ich kann mich nicht aushusten, ich würge und ersticke fast. Ich zucke die Achseln, es ist mir gleichgültig. Indolenz. Gefühlsarmut, voller grenzenloser jüdischer Resignation: ‫ ״‬Also, was ist? Und was weiter?" ‫ ״‬Was soil's also, daß meine Zunge weh tut, was soil's, daß man Menschen erschossen hat?" ‫ ״‬Er weiß schon, daß er sterben muß. Und was weiter?" ‫ ״‬Man stirbt ja doch nicht öfter als einmal. . . " Manchmal bewegt mich etwas, und ich wundere mich, gleichsam, als würde mir bewußt oder in die Erinnerung zurückgerufen, daß es so ist, so sein kann, einmal so war. Ich sehe, daß es anderen auch so geht. Es kommt vor, daß wir nach langen Jahren einen Menschen Wiedersehen. In seinem veränderten Gesicht lesen wir, was sich gewandelt hat, und was wir einmal gewesen sind. Aber trotzdem, von Zeit zu Z e it. . . Eine Straßenszene wie diese: Neben dem Gehsteig liegt ein halbwüchsiger Bub, vielleicht lebt er noch, vielleicht ist er auch schon tot. Und gleich daneben sind drei Buben beim Pferdchenspielen die Zügel durcheinandergeraten. Sie halten Rat, probieren, werden ungeduldig und stoßen dabei mit den Füßen an den Daliegenden. Endlich meint einer: ‫ ״‬Laßt uns hier Weggehen, der ist uns im Weg." Sie gehen ein paar Schritte weiter und machen sich wieder über ihre Leine her. Oder: Ich überprüfe den Aufnahmeantrag für einen halbverwaisten Jungen. Smoczastraße 57, Wohnung 57. Zwei ordentliche Familien, am Aussterben. ‫ ״‬Ich weiß nicht, ob er jetzt schon in ein Heim möchte." Ein gutes Kind. Solange die Mutter nicht auch gestorben ist, wird 291

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ihm das Fortgehen schwerfallen. Der Bub ist nicht da: Er ist weggegangen — ,organisieren'. Die Mutter, in halb liegender Stellung auf ihrem Sofa: ‫ ״‬Ich kann nicht sterben, solange er nicht versorgt ist. Er ist so ein gutes Kind: am Tage sagt er, ich solle nicht schlafen, dann könne ich in der Nacht besser schlafen. Und in der Nacht sagt er: ,Warum stöhnst du? Was hast du davon? Schlaf doch lieber.' " So zänkisch, laut und boshaft Kutscher sind, so sanft und still sind Rikschamänner. Wie Pferde, wie Ochsen. An der Ecke der Solna- und Lesznostraße sehe ich eine Gruppe: ein aufgebrachter Rikschamann, eine erboste, aufgeplusterte, platinblonde Schönheit und ein Polizist, der verwundert und enttäuscht schien. Ein paar Schritte daneben steht eine vornehme Dame und beobachtet mit Unbehagen die Szene. Sie wartet, wie das Ganze enden wird. Der Polizist sagt lustlos: ‫ ״‬Geben Sie doch diesem Taugenichts nach." Er entfernt sich mit trägem Schritt. Der Rikschamann stellt die rethorische Frage: ‫ ״‬Wenn diese Dame nicht zahlen will, bin ich dann ein Taugenichts?" Und sie: ‫ ״‬Ich zahle Ihnen zwei Zloty, und Sie fahren mich zu diesem Hauseingang." ‫״‬Wir haben drei Zloty vereinbart, und dies bis zur Ecke der Cieplastraße." Er macht kehrt, fährt weg und stellt seine Rikscha in die Reihe der andern. Ich frage die vornehme Dame, die unangenehm berührt scheint: ‫״‬Wissen Sie, was hier vorgefallen ist?" ,Ja, ich bin mit ihr zusammen gefahren." ‫״‬Wer hat denn nun recht?" ‫״‬Er. Aber warum will er lieber zwei Zloty verlieren, als noch hundert Schritte weiter fahren?" ‫״‬Er hat sich darauf versteift." ,Ja, das sehe ich." Ich gehe zum Rikschamann hinüber. 292

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‫״‬Was ist geschehen?" ‫״‬Nichts. Zwei Złoty habe ich verloren. Aber was soil's? Davon werde ich auch nicht ärmer und ein Taugenichts bin ich sowieso schon." An drei verschiedenen Stellen war ich und mußte drei verschiedenen Zuhörergruppen diesen Vorfall erzählen. Ich konnte nicht anders. Ich mußte. Ein Kollege oder zwei von der Dzielnastraße haben mich — nicht ohne Mitwirkung einer Kollegin (nicht aus der DzielnaStraße) — beim Gesundheitsrat oder bei der Gesundheitskam‫־‬ mer denunziert, ich verheimlichte Typhusfälle. Die Vernachlässigung der Meldepflicht eines jeden Krankheitsfalles zieht die Todesstrafe nach sich. Ich war im Gesundheitsamt, und irgendwie ist die Sache bereinigt und für die Zukunft geregelt worden. Ich habe zwei Briefe an zwei verschiedene Ämter geschrieben. An die eine Behörde, daß ich ein Versprechen gebe, es aber nicht halten werde. An die andere Behörde habe ich die Frage gerichtet, was sie mit mir und meiner neuen Niederlassung in der DzielnaStraße zu tun gedenke. Die Briefe waren nicht gerade höflich. Nein, höflich waren sie nicht. Aber kann man mich deswegen leichten Herzens einen Taugenichts nennen? Ich weiß, die Kollegin heißt [...]. Aber wenn sie ‫״‬böse"20 auf mich ist, und für das Spitalwesen verseucht und aussätzig — ich habe nur das eine, das letztere geschrieben, — warum soll ich deshalb ein Taugenichts sein? Was verlangt die von mir? Eine Kaufmannsfrau antwortete auf die Beanstandungen einer Kundin: ‫״‬Das ist weder eine Ware noch ist das ein Geschäft, Sie sind weder eine Kundin noch bin ich eine Kaufmannsfrau. Ich verkaufe Ihnen nichts und Sie bezahlen mir nichts, denn diese Papierchen sind doch kein Geld. Sie verlieren nichts und ich 20 Im polnischen Text ‫״‬breges", wahrscheinlich die litauische Form des Jiddischen ‫״‬b'rojges sajn" (b'roges) — auf jemanden böse, mit jemanden verzankt sein.

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verdiene nichts. Wer betrügt denn heute schon, und wo-zu? Aber man muß eben etwas tun. Ist es nicht so?" Wollte mir jemand ein Meßbuch geben, ich hielte zur Not einen Gottesdienst ab. Aber ich könnte keine Predigt an Schäfchen mit Armbinden21 richten. Die einzelnen Sätze würden mir im Halse steckenbleiben und ich würde in ihren Augen die Frage ablesen: ‫״‬Also, was ist? Ja, und was weiter?" Beim Amen würde ich steckenbleiben. * Die Straßen: Śliska, Pańska, Mariańska, Komitetowa. Erinnerungen, Erinnerungen, Erinnerungen. Jedes Haus, jeder Hof. Das hier waren meine Halbe-RubelVisiten meistens bei Nacht. Für Konsultationen bei den reichen Leuten in den reichen Straßen bei Tag ließ ich mir drei und fünf Rubel zahlen. Eine Unverschämtheit — ebensoviel wie Anders, mehr als Kramsztyk, Baczkiewicz — wahre Professorenhonorare. Ich, ein gewöhnlicher Ortsarzt, ein Lückenbüßer, ein Aschenputtel des Bersonschen Krankenhauses. Solch ein dicker Band Erinnerungen. Jüdische Ärzte hatten keine christlichen Patienten, es sei denn, sie gehörten zu den bekannten Bewohnern vornehmer Straßen. Diese aber — mit Stolz: ‫״‬Heute bin ich auf Visite beim Reviervorsteher, beim Restaurateur, beim Bankportier, beim Lehrer des Progymnasiums in Nowolipki, beim Postmeister." Das war schon etwas. Bei mir aber Telefonanrufe, freilich nicht alle Tage: ‫ ״‬Herr Doktor, Frau Gräfin Tarnowska bittet zum Apparat. Der Prokurator der Anwaltskammer. Frau Direktor Tygajlo. Rechtsanwalt Makowski, Szyszkowski." Auf einem kleinen Zettelchen notiere ich die Adresse und frage: 2i Gemeint ist die obligatorische Kennzeichnung mit dem Judenstern. 294

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‫ ״‬Geht es nicht morgen? Nach dem Krankenhaus um eins. Wie ist die Temperatur? Ein Ei kann man ihr geben/' Einmal kam sogar ein Anruf: ‫ ״‬Frau General Gilczenko." Was ist dagegen schon Hauptmann Hopper, der nach jedem winzigen Stuhlgang seines Kindes anruft, manchmal zweimal. Das waren die Visiten des Verfassers von ‫״‬Das Salon-Kind", während Goldszmit nachts ins Souterrain in derSliska-Straße52 oder in die Dachwohnung in der Panska-Straße 17 ging. Einmal riefen mich die Poznanskis in ihr Palais in der Ujazdowska-Allee. Unbedingt heute. Die Patienten warteten schon ungeduldig. ‫״‬Drei Rubel", sagt Dr. Julek, der ganz Warschau kennt. ‫״‬Die sind geizig." Ich gehe hin. ‫ ״‬Einen Augenblick bitte, Herr Doktor. Ich lasse die Buben holen." ‫ ״‬Sind sie denn nicht da?" ‫ ״‬Ganz in der Nähe. Sie spielen im Park. Wir trinken inzwischen einen Tee." ‫ ״‬Ich habe keine Zeit zum Warten." ‫ ״‬Aber Doktor, Julian hat immer . . . Was schreiben Sie jetzt gerade, Herr Doktor?" ‫״‬Leider nur Rezepte." Am nächsten Tag: ‫״‬Um Gotteswillen, Herr Kollege!" Empörung. Feinde. ‫ ״‬Ich pfeife drauf!" ‫״‬Nun, nun. —" Als Stationsarzt bekam ich eine Wohnung und zusätzlich zweihundert Rubel jährlich in vier Raten. Ein braves Mütterchen führte mir den Haushalt für fünfzehn Rubel. Aus meiner Praxis kamen einhundert Rubel im Monat, und mit Artikelschreiben verdiente ich auch noch ein paar Groschen. Für Droschkenfahrten gab ich viel Geld aus. ‫ ״‬Bis zur Zlota-Straße nehmen Sie eine Droschke? Für zwanzig Kopeken? Verschwender!" Die Kinder von Sozialisten, Lehrern, Journalisten, jungen Rechtsanwälten, sogar von Ärzten — alles fortschrittliche Mensehen — behandelte ich kostenlos. 295

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Es kam vor, daß ich telefonierte: ‫ ״‬Ich komme erst abends. Ich muß baden und mich umziehen, denn wir haben hier mehrere Scharlachfälle. Sonst stecke ich euch womöglich euer Kerl‫־‬ chen noch an!" Das Kerlchen! Das waren Lichtblicke. Und die Schatten. . . Ich sagte: ‫ ״‬Weil ältere Ärzte sich nachts ungern bemühen und schon gar nicht armer Leute wegen, muß ich, der junge, bei Nadit zu Hilfe eilen. Ihr versteht. Rasche Hilfe. Wie sollte ich auch anders? Denn was wäre, wenn das Kind den Morgen nicht mehr erlebte?" Die Feldschere erklärten mir zusammen mit den Drogerien und zwei mir feindlich gesonnenen Apotheken den Krieg. Ihre Meinung war übereinstimmend: ein Verrückter. Ein gefährlicher Verrückter. Unterschiede gab es nur bei der Beurtei‫־‬ lung: heilbar oder nicht? Einmal kommt nachts ein Weiblein mit Kopftuch. Es regnet in Strömen. ‫ ״‬Zur Mutter, bitte!" ‫ ״‬Ich behandle nur Kinder." ‫ ״‬Sie ist kindisch geworden. Ich weiß, daß Sie ihr nicht mehr helfen können, und warum sollen Sie sich plagen. Aber die Doktoren wollen keinen Totenschein ausstellen. Aber es ist doch die Mutter. Und so ohne Doktor." Ich gehe hin. ‫ ״‬Ich habe nicht gewußt, daß Sie nur Kinder behandeln, ich bitte sehr um Verzeihung. Der Feldscher Blucharski hat mich geschickt. Ein kleiner lud', aber ein redlicher Mensch. Er sagte: ,Mein liebes Frauchen, mir müßtet ihr einen Rubel bezahlen, weil es eine Nachtvisite ist. Aber im Krankenhaus gibt es einen Arzt, der tuťs umsonst und läßt auch noch Geld für Medizin da." Ich wurde eigensinnig und unterschrieb die Rezepte ohne Dr., ohne Doktor. Sie sagten: ‫״‬Wir kennen keinen solchen Doktor. Gewiß nur ein Feldscher." 296

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‫ ״‬Aber . . . ein Doktor im Krankenhaus/‫׳‬ Also: ‫ ״‬Die Arznei hat Dr. NN verschrieben‫( ״‬eine uneheliche, illegitime Arznei). Ich nahm immer zwanzig Kopeken, denn ‫ ״‬Im Talmud steht geschrieben, ein Arzt, der keinen Lohn nimmt, wird einem Kranken nicht helfen‫ ״‬. Meistens unterhielten mich die Patienten. Drollige Leute. Es kam vor, daß sie mich aus dem Gleichgewicht brachten. Nachts läutet die Glocke. Der Rettungswagen bringt ein verbrühtes Kind. ‫״‬Was meinen Sie?‫״‬ ‫״‬Nichts meine ich. Es gibt keine Rettung mehr." ‫״‬Das ist kein gewöhnliches Kind. Ich bin Kaufmann. Ich habe ein Haus. Ich kann bezahlen." ‫ ״‬Bitte schreien Sie nicht. Gehen Sie bitte und wecken Sie die Kranken nicht." ‫״‬Was geht mich das an?" Wir packten ihn zusammen mit dem Feldscher unter den Armen — und raus auf die Treppe! Die Trage mit dem Kind in die Ambulanz im Parterre. ‫ ״‬Sie haben doch Telefon. Rufen Sie sich meinetwegen die Professoren von halb Warschau zusammen!" ‫ ״‬Ich werde Sie in die Zeitungen bringen, ich werde Sie um Ihr Diplom bringen." Eine verpfuschte Nacht. Oder so: Sechs Uhr früh. Jemand kommt ins Schlafzimmer. ‫ ״‬Zum Kind." Verschlafen nach einer schweren Nacht. ‫״‬Was fehlt ihm?" ‫ ״‬Eine Entzündung, nach dem Scharlach." ‫״‬Wer behandelt es?" ‫״‬Verschiedene Ärzte." ‫ ״‬Dann holen Sie doch auch ,verschiedene".‫׳‬ ‫ ״‬Aber wenn ich doch Sie haben möchte? Ich kann bezahlen." ‫״‬Nachts gehe ich nicht." ‫ ״‬Sechs Uhr früh, ist das Nacht?" ‫״‬Ja, Nacht." 297

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‫ ״‬Dann kommen Sie also nicht?" ‫״‬Nein." Während sie laut die Tür ins Schloß wirft, ruft sie mir zum Abschied nach: ‫ ״‬Seht doch nur den Grafen! Auf diese Weise hat er drei Rubel verloren." Sie hätte mir ohne zu feilschen fünfundzwanzig Kopeken gegeben und drei Kopeken ‫ ״‬für den Nachtwächter". Sie wollte mich bestrafen: jetzt wird er nicht einschlafen, er wird sich vor Wut in die Finger beißen. Drei Rubel hat er verloren. Das ist die Gegend, die mir vertraut ist. Die Pańska-, die Sliska-Straße. Ich habe das Krankenhaus um des ‫״‬Hauses der Waisen" willen verlassen. Ich fühle mich schuldig. Einmal bin ich gezwungenermaßen weggefahren (Krieg). Das zweite Mal für ein Jahr nach Berlin. Das dritte Mal — fast ein halbes Jahr nach Paris. Um Erleuchtung, um Wissen zu finden. Jetzt, wo ich weiß, daß ich nichts weiß und warum ich nichts weiß, wo ich im Sinne des obersten Postulats, ‫״‬dem Kranken nicht zu schaden", wirken könnte, schwimme ich auf unbekannte Wasser hinaus. Das Krankenhaus hat mir so vieles gegeben, und ich, ich Undankbarer, gab ihm so wenig. Eine häßliche Fahnenflucht. Das Leben hat mich dafür bestraft. Ich bin gestern wegen einer Spende zum Grzybow-Platz Nr. 1 gegangen. Das letzte Haus vor der M auer22. Gestern haben sie hier einen jüdischen Polizisten getötet — angeblich hatte er den Schmugglern Zeichen gegeben. ‫ ״‬Das ist kein Ort für einen Großhandel", erklärt der Nachbar. Der Laden ist geschlossen. Die Menschen haben Angst. Gestern fragt mich der Gehilfe des Hausmeisters vor dem Eingangstor : 22

— des

Ghettos, offiziell ‫״‬jüdischer Wohnbezirk" genannt.

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‫״‬Erkennen Sie mich nicht, Herr Doktor?" ‫״‬Mome nt . . . Ich weiß schon! Szulc!" ‫״‬Haben Sie mich erkannt?" ‫״‬Aber! ich erinnere mich nur allzugut an dich. Komm, erzähl!" Wir setzen uns auf die Stufen vor der Kirche. Mein Gott, der Grzybów-Platz : genau hier wurde 1905 Sobótka erschossen23. Zwei verschiedene Erinnerungen stoßen aufeinander. Bula ist nun schon vierzig Jahre alt. Vor kurzem war er erst zehn. ‫״‬Ich habe ein Kind. Kommen Sie doch auf einen Teller Kohlsuppe zu mir. Dann sehen Sie den Jungen." ‫ ״‬Ich bin müde. Ich will heim." Wir schwatzen eine viertel, eine halbe Stunde. Entrüstete Katholiken mit Armbinden betrachten uns verstöhlen. schämt, aufdringlich. Am hellichten Tage, auf den Kirchenstufen — Korczak mit einem Schmuggler. Da muß es wohl schon sehr schlecht um die Kinder stehen. Aber warum so in aller Öffentlichkeit, so demonstrativ und, wie man es auch nimmt, so schamlos. Eine Provokation. Was wird der Deutsche denken, wenn er das sieht. Es läßt sich nicht leugnen: die Juden sind unverschämt, aufdringlich. Und Szulc vertraut mir an : ‫״‬Am Morgen trinkt er einen viertel Liter Milch, ißt eine Semmel und zwei Deka Butter. Das kostet schon etwas." ‫״‬Warum das alles?" ‫״‬Er soll wissen, daß er einen Vater hat." ‫ ״‬Er ist wohl ein rechter Lausbub?" ‫״‬Da fehlt nichts. Er ist ja mein Sohn." ‫״‬Und deine Frau?" ‫״‬Eine großartige Frau." ‫ ״‬Schlagt ihr euch?" 23 Die bewaffnete revolutionäre Demonstration auf dem GrzybówPlatz, bei der Sobótka von der russischen Polizei erschossen wurde, fand am 13. November 1904 statt. Sie wurde von Józef Piłsudski und dem Arbeiter Józef Kwiatek organisiert und leitete die Revolution von 1905 für das Königreich Polen ein. 299

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‫״‬Wir leben schon fünf Jahre zusammen, aber ich habe sie noch kein einziges Mal angebrüllt/7 ‫״‬Und erinnerst du dich noch?" Ein Anflug eines Lächelns. ‫ ״‬Oft denke ich an das ,Haus der Waisen'. Manchmal träume ich von Ihnen oder von Frau Stefa." ‫ ״‬Warum hast du dich all die Jahre nicht sehen lassen?" ‫ ״‬Wenn es mir gut ging, hatte ich keine Zeit. Wenn es mir schlecht ging, warum sollte ich da abgerissen und dreckig kommen?" ‫ ״‬Triffst du Lejbus manchmal?" ‫״‬Nein." Er half mir aufstehen. Wir küßten uns aufrichtig und herzlieh. Er ist zu ehrlich für einen Lumpen. Aber vielleicht hat auch das ‫ ״‬Haus der Waisen" in ihm etwas geweckt und etwas zurechtgeschnitten? Ich war immer der Meinung, daß er entweder reich oder gar nicht mehr am Leben sei. ‫ ״‬Mein Teilhaber ist reich." ‫ ״‬Hilft er dir ein bißchen?" ‫ ״‬Er wünscht mir die Pest an den Hals." Wie schnell die Stunden vergehen. Eben erst war es zwölf Uhr, und nun ist es schon drei. Ich hatte einen Gast im Bett. Der kleine Mendel hatte einen schlechten Traum. Ich brachte ihn in mein Bett. Er streichelte mein Gesicht(!) und schlief ein. Er wimmert leise. Es ist ihm unbequem. ‫ ״‬Schläfst du?" ‫ ״‬Ich hatte gemeint, ich bin im Schlafsaal." Verwundert guckt er aus seinen dunklen runden Affenäug‫־‬ lein. ‫״‬Du warst auch im Schlafsaal. Willst du in dein Bett zu‫־‬ rück?" ‫ ״‬Störe ich Sie?" ‫״‬Du legst dich jetzt auf die andere Seite. Ich bringe dir ein Kopfkissen." ‫ ״‬Gut." ‫ ״‬Ich werde weiterschreiben. Wenn du Angst hast, dann komm zurück." ‫ ״‬Gut." 300

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Auch ein Enkelkind. Der jüngste Nadanowski. Jakob hat ein Gedicht über Moses geschrieben. Wenn ich es heute nicht lese, könnte er gekränkt sein. Froh und traurig zugleich lese ich das Tagebuch von ihm und von Moniuś. Sie sind nicht gleichaltrig, so sehr verschieden in ihrem Intellekt und in ihrer Lebensart — aber in ihren Gefühlen sind sie einander sehr ähnlich. Menschen von klarer Lebensauffassung auf gleicher Stufe. Gestern ging ein starker Wind und wirbelte Staub auf. Die Passanten kniffen die Augen zu und hielten sich die Hände vors Gesicht. Von einer Seereise ist mir dieses in Erinnerung geblieben: Ein kleines Mädchen steht auf dem Schiffsdeck, vor dem Hintergrund des saphirgrünen Meeres. Plötzlich kam ein starker Wind auf. Die Kleine machte die Augen zu und verdeckte sie mit ihren Händen. Aber dann blinzelte sie doch neugierig und, o Wunder: Zum erstenmal in ihrem Leben ein reiner Wind. Er bläst keinen Staub in die Augen. Zweimal probierte sie es aus, bevor sie Vertrauen faßte und die Hände auf die Reling stützte. Und der Wind wiegte und kämmte ihr Haar. Mutig und erstaunt machte sie die Augen weit auf. Verlegen lächelte sie. ‫ ״‬Es gibt einen Wind ohne schmutzigen Staub, aber ich habe davon nicht gewußt. Ich habe nicht gewußt, daß es auf der Welt reine Luft gibt. Jetzt weiß ich es." Ein Junge sagte, als er das ‫״‬Haus der Waisen" verließ, zu mir: ‫״‬Wenn dieses Haus nicht wäre, ich wüßte nicht, daß es auf dieser Welt ehrliche Menschen gibt, die nicht stehlen. Ich wüßte nicht, daß man die Wahrheit sagen kann, und ich wüßte nicht, daß es auf dieser Welt gerechte Gesetze gibt." Der Plan für den heutigen Sonntag. Am Morgen in die Dzielna-Straße 39 24. Unterwegs zu Kohn. Ich erhielt eine Aufforderung, wegen meiner Angelegenheit die 24 Dort befand sich das ‫״‬offizielle" Waisenhaus der jüdischen Gemeinde, das zugleich als ‫״‬Rettungsstation" für verwahrloste oder kranke Kinder diente; Korczak nannte es ein ‫״‬Leichenhaus". Er sollte in diesem Haus eine Reform durchführen, konnte sich aber gegenüber dem korrupten Personal nicht durchsetzen, zumal er vom jüdischen Magistrat nicht genügend unterstützt wurde.

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Strafe zu bezahlen25. Jeden Monat fünfhundert Zloty. Der Brief, der Mitte März abgeschickt wurde, traf erst gestern ein. Also müßte ich mit dem heutigen Tage (1. VI.) eintausendfünf‫־‬ hundert Zloty einzahlen. Bei Terminüberschreitung ist die ganze Summe fällig, das wären dreitausend oder fünftausend — ich weiß es nicht mehr so genau. Es geht darum, daß sie mein Postsparbuch mit dreitausend Zloty nehmen. Ich habe ihnen das bei meiner Aussage in der Szucha-Allee angeboten. Ich habe diesen Vorschlag gemacht, als 2s Nach Schließung des Ghettos wurde das ‫״‬Haus der Waisen" an der Krochmalnastraße 92, das auf der ‫״‬arischen Seite" geblieben war, zunächst noch in Ruhe gelassen. Aber bald darauf kam der Befehl, ins Ghetto zu ziehen. Mit der Direktion der Roesler-Schule an der ChłodnaStraße 33, die auf der ‫״‬jüdischen Seite" war, wurde ein Austausch vereinbart: die christliche Schule zog in das jüdische Waisenhaus, und dieses in die Schule. Beide Institutionen verpflichteten sich, auf das zurückgelassene Hab und Gut zu achten und es vollständig zurückzugeben, wenn die trennenden Mauern des Ghettos fallen sollten. Als das letzte Auto mit den Sachen des ‫״‬Hauses der Waisen" in das Ghetto einfuhr, hielten die Gendarmen es an und erlaubten nicht, die Kartoffeln mitzunehmen. Korczak ging in das Palais Blank. Er ging — wie immer — ohne Armbinde, in der Uniform der polnischen Armee. Die Deutschen, verwundert darüber, daß sich ein Pole, ein Soldat, für das Schicksal eines jüdischen Waisenhauses interessierte, begannen, ihn auszufragen : ‫״‬Was geht Sie das eigentlich an?" ‫״‬Ich bin Arzt." ‫״‬Wunderbar. Dann kümmern Sie sich doch um die polnischen Kinder. Sie sind doch kein Jude." ‫״‬Doch, ich bin Jude." ‫״‬Wenn das so ist, warum gehst Du ohne Armbinde? " Sie nahmen ihn in den Pawiak mit, schlugen ihn und verlangten, er solle seine Genossen und die vermeintliche Organisation verraten, auf deren Befehl er — so meinten sie — eine ‫״‬soldi unverschämte Demonstration" unternommen habe. Frühere Zöglinge: B. Cukier, H. Kaliszer und Ch. Bursztyn haben 3000 Złoty gesammelt und Korczak damit aus dem Gefängnis befreit. Sie haben ihn vor dem Urteilsspruch herausbekommen. Das Urteil, das im März verkündet wurde, verurteilte Korczak zu mehreren Monaten Gefängnis, die in eine Geldstrafe umgewandelt werden konnten. Der Polizist, der den Zahlungsbefehl aushändigen sollte, hielt diesen bis zum letzten Termin zurück und überbrachte ihn erst am 1. Juni 1942. 302

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sie mich fragten, ob die Gemeinde Lösegeld für mich hinterlegen könne, damit ich aus der Haft entlassen würde. ‫״‬Du willst also nicht, daß die Gemeinde für dich zahlt?" ‫״‬Nein." Danach wurde zu Protokoll genommen, daß ich dreitausend Zloty auf der Postsparkasse hätte. Ein paar ereignisreiche Wochen sind vergangen. Ich habe nichts geschrieben, weil Heniek krank geworden ist und angeblich niemand da war, der meine nächtlichen Ergüsse auf der Maschine hätte abschreiben können. Merkwürdig, daß ich das geglaubt habe, wo ich doch genau wußte, daß einige andere Buben hätten einspringen können. Das wäre alles ganz anders, wenn ich bestimmt hätte, daß diese Arbeit zu den täglichen Pflichten gehört, wie damals im Krieg. ‫״‬Wie man ein Kind lieben soll" wurde auch in Marschpausen von nur wenigen Stunden abgeschrieben. In Jeziorna meuterte sogar Walenty. ‫ ״‬Lohnt sich das denn für eine halbe Stunde?" Und später in Kiew auch obligatorisch jeden Tag. Und jetzt ist der Notizblock voll. Wieder ein Grund, auch heute nicht weiterzuschreiben, obwohl ich glänzend ausgeschlafen und vier Gläser starken Kaffee getrunken habe, aus aufgebrühtem Kaffeesatz zwar, aber, wie ich vermute, mit noch nicht gebrauchtem gemahlenen Kaffee ergänzt. So betrügen wir uns selbst: ich habe kein Papier. Ich werde Diderots ‫״‬Jacques le fataliste" lesen. Wahrscheinlich zum erstenmal habe ich vergessen, daß ich im zehnten Jahrsiebt meines Lebens bin: 7 X 9 . Die 2 X 7 habe ich einst mit größter Ungeduld erwartet. Vielleicht habe ich damals gerade zum erstenmal davon gehört. Die Zigeuner-Sieben, sieben Tage in der Woche. Warum eigentlich nicht die triumphale Zehn jener Zeit (die Zahl der Finger) ? Ich erinnere mich noch an die Spannung, mit der ich auf den mitternächtlichen Glockenschlag gewartet habe. Mit ihm sollte die Verwandlung geschehen. 303

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Da war ein Skandal um einen Hermaphroditen. Ich bin nicht sicher, ob es gerade zu jener Zeit war. Ich weiß nicht, ob ich Angst hatte, ich könnte einmal als Mädchen aufwachen. Wenn das geschehen sollte, war ich fest entschlossen, diese Tatsache um jeden Preis zu verheimlichen. Gepner26 7 X 10, ich 7 X 9 . Wenn ich mein Leben an mir vorüberziehen lasse, so hat mir das siebente Jahr das Gefühl gegeben, jemand zu sein. Ich bin. Ich habe mein Gewicht. Ich bedeute etwas. Ich werde wahrgenommen. Ich kann. Ich werde. Vierzehn Jahre. Ich blicke um mich. Ich nehme wahr. Ich sehe . . . Meine Augen sollten sich auftun. Sie haben sich geöffnet. Erste Gedanken über Erziehungsreformen. Ich lese. Erste Unruhe, erste Sehnsucht. Einmal Reisen und stürmische Abenteuer, dann wieder stilles Familienleben, Freundschaft (Liebe) mit Stach. Unter vielen, vielen anderen Träumen der eine, der immer wiederkehrt: er, der Pfarrer, ich, der Arzt in jener kleinen Stadt. Ich denke über die Liebe nach, vorher hatte ich nur gefühlt, geliebt. Vom siebten bis zum vierzehnten Lebensjahr war ich immerzu verliebt, immer wieder in ein anderes Mädchen. Merkwürdig, daß ich mich an viele von ihnen noch erinnere. Die beiden Schwestern vom Schlittschuhlaufen, Stadls Cousine (ihr Großvater ist Italiener), das Mädchen in Trauer, Zosia Kalhorn, Anielka, Irenka aus Nałęczów, Stefcia, für die ich Blumen am Rondell um den Springbrunnen im Sächsischen Garten gepflückt habe. Und die kleine Seiltänzerin, deren schweres Los ich beweint habe. Ich liebte eine Woche, einen Monat, manchmal zwei oder drei auf einmal. Die eine wollte ich gern als Schwester haben, die andere als Frau, als Schwester meiner Frau . . . Die Liebe zu Mania von meinem vierzehnten Lebensjahr an (einen Sommer lang in Wawer) war ein Teil dieses (. . .) von Gefühlen, die mich abwechselnd beglückten oder erschütterten. Die interessante Welt war nicht mehr außerhalb meiner selbst. Jetzt war sie in mir. Ich bin nicht dazu da, um geliebt und bewundert zu werden, sondern um selbst zu wirken und zu lieben. Meine Umgebung ist nicht verpflichtet, mir zu helfen, sondern ich habe die Pflicht, mich um die Welt, um den Menschen zu kümmern. 16 Gepner, Adam, ehemaliger Vorsitzender des Kaufmannsverbandes, ein Philantrop, der Korczaks ‫״‬Haus der Waisen" großzügig unterstützte.

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} X y. Im siebten Jahr die Schule, im vierzehnten — die religiöse Reife, im einundzwanzigsten — das Militär. Schon seit langem war ich in Bedrängnis. Damals hielt mich die Schule gefangen. Jetzt fühle ich mich überhaupt bedrängt. Ich will etwas erobern, um Neuland kämpfen. (Diese Gedanken haben sich mir vielleicht wegen des 22. Juni auf gedrängt, wenn nach dem längsten Tag im Jahr die Sonne beginnt, täglich um drei Minuten früher unterzugehen. Unbemerkt und kaum spürbar, aber unabänderlich wird jeder Tag um drei Minuten und drei und wieder drei kürzer. Ich empfand Mitleid mit dem Alter und dem Tod; jetzt fange ich an, längst nicht mehr so sicher, um mich selbst zu fürchten. Vieles muß man erkämpfen und vollbringen, um etwas zu haben, von dem man abgeben kann. Vielleicht reißt mir gerade um diese Zeit ein Dentist den ersten Zahn aus, der nicht mehr nachwächst. Meine Empörung, nicht so sehr gegen die sozialen Verhältnisse als vielmehr gegen das Gesetz der Natur, ist größer geworden. Kniet nieder. Legt an. Gebt Feuer.) 4 X 7 . Die Notwendigkeit, im begrenzten eigenen Arbeitsbereich mit Geschick tätig zu sein. Ich will es können, wissen, nicht zögern, nicht irren. Ich muß ein guter Arzt sein. Ich entwickle meine eigene Methode. Ich will mich nicht an anerkannte Autoritäten halten. (Es ist anders gekommen. Auch heute noch gibt es Augenblicke, in denen ich mich als Jüngling fühle, ein langes Leben noch vor mir habe, wo es sich noch lohnt, etwas zu planen und zu beginnen. Im zweiten, bestimmt aber im dritten Jahrsiebt fühlte ich mich manchmal schon so alt, daß ich meinte, es bliebe alles gleich, es sei schon zu spät, es lohne sich nicht mehr. Das Leben ist wirklich wie eine Flamme: es will verlöschen, obwohl noch sehr viel Brennstoff da ist, oder es springt plötzlich in einer hellen Flamme oder einem Funkenregen auf, während es schon ausbrennt und verlischt. Ein heißer Herbsttag und die Gewißheit, daß es bereits der letzte kühle Juli-Morgen ist, eine Ausnahme.) 5 X 7. In der Lotterie des Lebens habe ich den Einsatz gewonnen. Meine Nummer ist bereits gezogen. Der Einsatz — soviel nur, daß ich in dieser Ziehung nicht mehr verliere, wenn ich nicht erneut etwas riskiere. Das ist gut: ich hätte verlieren 305

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können. Aber ich habe die Chance verspielt, den Haupttreffer zu erzielen — einen bedeutenden Gewinn —, schade. Redlich habe ich zurückbekommen, was ich ausgelegt hatte. Ohne Gefahr. Aber grau — schade. Die Einsamkeit tut nicht weh. Ich liebe Erinnerungen. Ein Schulkamerad — eine freundliche Plauderei bei einer Tasse schwarzem Kaffee in irgendeiner stillen Konditorei, wo uns niemand stört. Ich suche keinen Freund, weil ich weiß, daß ich keinen finden werde. Ich verlange nicht, mehr zu wissen, als man wissen kann. Ich habe mit dem Leben vereinbart: wir werden uns gegenseitig nicht ins Gehege kommen. Es ziemt sich nicht, einander in die Haare zu geraten, und außerdem hat es auch keinen Zweck. In der Politik, glaube ich, nennt man das: die gegenseitigen Einflußgebiete abgrenzen. Bis hierher und nicht mehr, nicht weiter, nicht höher. Du und ich. 6 X 7 . Ist es vielleicht schon soweit, oder bleibt noch Zeit? Das hängt ganz davon ab. Machen wir also Bilanz. Soll und Haben. Wenn man wüßte, wieviele Jahre noch, wann das Ende kommt. Noch spüre ich den Tod nicht in mir, aber ich mache mir schon Gedanken über ihn. Wenn mir der Schneider einen neuen Anzug näht, dann sage ich nicht: das ist der letzte; aber dieser Schreibtisch, dieser Schrank — die werden mich gewiß überleben. Ohne Eskapaden und Überraschungen. Es wird strengere und mildere Winter geben, regnerische und heiße Sommer. Angenehme Kühle, Gewitter und Wirbelstürme. Und ich sage dann: seit zehn, seit fünfzehn Jahren hat es einen solchen Hagel, ein solches Hochwasser nicht gegeben. Ich kann mich an eine ähnliche Feuersbrunst erinnern: damals war ich jung, ich war — einen Augenblick — schon Student, oder war ich noch Schüler? 7 X 7 . Was ist eigentlich das Leben, was ist das Glück? Wenn es nur nicht schlimmer kommt, wenn es nur so bliebe, grad so wie jetzt. Zwei Sieben sind einander begegnet, sie haben einander artig begrüßt, froh darüber, sich gerade so und gerade hier unter diesen Umständen zu treffen. Die Zeitung — nur dem Anschein nach eine gedankenlose Lektüre. Und wenn schon. Ohne Zeitung geht es nicht. Es gibt da die Leitartikel und den Zeitungsroman, Nachrufe und Berichte aus dem 306

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Theater und dem Gericht. Im Kino — ein neuer Film. Ein neuer Roman. Kleine Ereignisse und kleine Anzeigen. Alles nicht unbedingt interessant, vielmehr zur Wahl gestellt. Jemand ist unter die Straßenbahn geraten, jemand hat irgend etwas erfunden, diesem wurde ein Pelz gestohlen, jener wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Irgend jemand will eine Nähmaschine oder eine Schreibmaschine kaufen, ein Klavier verkaufen, oder jemand sucht eine Dreizimmerwohnung mit Komfort. Ein breiter Strom, ich möchte sagen, wie die majestätisch hinfließende Weichsel, so wie sie eben hier bei Warschau ist. Meine Stadt, meine Straße, mein Laden, wo ich immer einkaufe, mein Schneider, aber, was das wichtigste ist, meine Werkstatt. Wenn es nur nicht schlimmer wird. Wenn man der Sonne sagen könnte: bleib' stehen, jetzt wäre die rechte Zeit. (Es gibt eine kleine Abhandlung ‫ ״‬Über den glücklichsten LebensAbschnitt" — und wer würde annehmen, daß sie von Karamzin27 ist. Er hat uns in der russischen Schule arg geplagt.) 7 X 8 = 56. Wie die Jahre dahingejagt sind. — Ja, dahingejagt. Gestern erst waren es 7 X 7 . Nichts ist hinzugekommen, nichts weniger geworden. Welch ungeheurer Altersunterschied : sieben oder vierzehn, vierzehn oder zwanzig. Aber für mich ist der, der 7 X 7 ist oder 7 X 8 — vollkommen gleichaltrig. Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Es gibt ja kein Blatt, keinen Wassertropfen, kein Sandkömchen, das dem anderen vollkommen gliche. Dieser hat eine größere Glatze und jener mehr graue Haare. Dieser hat künstliche Zähne und jener nur Kronen. Dieser trägt eine Brille, jener ist schwerhörig. Dieser ist knochiger und spröder, jener hat mehr Fleisch, ist innerlich ausgeglichener. Aber ich spreche hier von Jahrsiebten. Ich weiß: man kann das Leben in Fünfjahresabschnitte gliedem, und es könnte sein, daß es hinkommt. Ich weiß: die Lebensumstände. Reichtum oder Armut. Erfolge oder Sorgen. Ich weiß: Krieg, Kriege, Katastrophen. Aber auch das ist relaг 7 Nikolaj Karamzin (1766—1826), russischer Schriftsteller und Historiker. Seine ‫״‬Geschichte des Russischen Reiches" gilt als erstes großes Werk der russischen Historiographie.

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tiv. Da sagte eine Dame zu mir: ‫״‬Der Krieg hat mich so verwohnt, daß es mir später schwergefallen ist, mich umzugewöhnen." Sogar dieser letzte Krieg verwöhnt viele. Aber es gibt, wie mir scheint, keinen Menschen, der nicht glaubte, daß Schaden an der Gesundheit, Nachlassen der Kräfte und Energien nicht durch den Krieg verursacht werden, sondern durch jenes 7 X 8 und 7 X 9 . Welch unerträgliche Träume! In der vergangenen Nacht: mitten unter Deutschen, ich, ohne Armbinde, zu verbotener Stunde in Praga28. Ich wache auf. Wieder ein Traum. Im Zug schleppt man mich — Meter für Meter — in ein Abteil, in dem schon mehrere Juden sind. Heute nacht sind wieder Menschen gestorben. Kinder-Leichen. Ein totes Kind in einem Zuber. Ein anderes, mit abgezogener Haut, auf einer Pritsche in der Leichenhalle, atmet noch deutlich. Ein neuer Traum: ich stehe ganz hoch oben auf einer schwankenden Leiter, und der Vater stopft sich immer wieder Kuchen in den Mund, ein großes Stück, mit Zuckerguß und Rosinen, und was im Mund keinen Platz mehr findet, steckt er zerkrümelt in die Tasche. Im gefährlichsten Augenblick wache ich schweißüberströmt auf. Ob der Tod ein solches Erwachen in einem Augenblick ist, in dem es scheinbar keinen Ausweg mehr gibt? ‫ ״‬Jeder kann doch fünf Minuten Zeit finden, um zu sterben" — habe ich irgendwo gelesen. Sommer. Dzielna-Straße 39. Kürzungen. Als ich zum zehnten Male mit der Forderung bedrängt werde, über die Angelegenheit mit den Bonbons und Pfefferkuchen zu entscheiden — gerate ich in Wut. Gibt es denn nichts Wichtigeres als diese Pfefferkuchen? Gestern ist ein kleiner Bub nach einer Beinamputation, die wegen Erfrierung notwendig geworden war, aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Eine Sensation. Jeder hält es für seine Pflicht, mich zu benachrichtigen. Eine lästige Gedankenlosigkeit — ich werde das schon verdauen. Aber dieser Bub — ein Held des Tages? Es gibt hier zu wenig Hysterie zu sehen. * 28 Stadtteil

von Warschau am Ostufer der Weichsel.

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Zwei verständige, ausgeglichene, objektive Informatoren und Berater haben versagt: Waage und Thermometer. Ich habe aufgehört, ihnen zu glauben. Auch sie lügen hier. * Man sagt: Die erste, die zweite Gruppe — Terrain A, Terrain B, Terrain C. Man sagt: Flügel. (Der Flügel hat noch kein Frühstück bekommen.) Man sagt: Terrain U, Terrain I. Zur Abwechslung Gruppe A, der Buben, der Mädchen . . . Ein Zufall, irgendwelche historischen Rudimente, oder der Wunsch, den Neuankömmling einzuschüchtem und zu verwirren. Es ist schwer, sich zurechtzufinden. * Hier gibt es ‫ ״‬Männer" —* einmal den Wagenfahrer, dann den Boten, den Portier oder den Aufseher. Es gibt weibliche Arbeitskräfte, Dienstpersonal, Aufwärterinnen, Erzieherinnen — heute kam etwas Neues hinzu — eine Hygienikerin. Es gibt Abteilungs- oder Etagenaufseher, Fluraufsicht und gewiß auch Beschließerinnen. Im Gefängnis ging mich das alles wenig an, aber hier stört es mich. Es ist schwer, sich zurechtzufinden. X Es gibt Kinder ‫ ־־־‬verletzte Kinder, Kinder, die am Nachmittag oder Kinder, die nur nachts da sind, kranke, genesende, fiebernde, ambulante Kinder, Kinder als Vertretung für andere, Kinder, die Ausgang haben und andere, die ganz entlassen sind. Es ist schwer, zu erkennen, wer und was. X

Verwirrt schaut sie mich an und sagt: Ich weiß es nicht. Als ob sie nicht seit zehn Jahren hier arbeitete, sondern erst gestern hergekommen sei. Als ob meine Frage den Nordpol oder den Äquator beträfe. 309

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Sie weiß es nicht. Sie tut nur ihre Arbeit. Die einzige Rettung: sich nicht einmischen und nicht wissen, was das hundertköpfige Gefolge der Mitarbeiter tut. * Die Kinder? Nicht nur Kinder, auch Vieh, Aas und Unrat. Ich habe mich bei einer Ungerechtigkeit ertappt: ich gebe den letzteren keinen vollen Löffel Lebertran. Ich glaube, daß auf ihrem Grabe Brennesseln, Kletten und Tollkirschen wachsen werden, kein nahrhaftes Gemüse, keine Blumen — woher auch. * Ich habe den Eindruck, daß von verwandten Institutionen aller Ausschuß — sowohl an Kindern wie an Personal — zu uns geschickt wird. Ein aus dem ‫״‬Haus der Waisen" gewiesener, unterentwikkelter, boshafter Bandit fand sich wieder hier ein. Als dann auch noch ein deutscher Soldat für ihn eintrat, sagte ich zu dem Polizisten, wenn dieser Fula wieder aufgenommen werden sollte, sei ich bereit, einen Karabiner in die Hand zu nehmen und seine Wache zu übernehmen, und er sollte statt meiner Leiter des ‫״‬Hauses der Waisen" werden. Seine Mutter hat ihn hier untergebracht. X Das Personal. Ein Schornsteinfeger muß rußig sein. Ein Fleischer muß blutbefleckt sein (ein Chirurg auch). Ein Kloakenreiniger muß stinken. Ein Kellner muß gewitzt sein. Wenn er es nicht ist, wehe ihm. Ich fühle mich ruß ver schmiert, blutbefleckt und stinkend. — Und gewitzt, weil ich lebe, schlafe, esse und — ganz selten — sogar scherze. * 310

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Zu einer Besprechung habe ich eingeladen: Brokmann, Frau Heller, Przedborski, Gantz-Kohn, Lifszyc, Mayzner, Frau Zand. Denkt mal darüber nach: Das Wasser ist so kalkhaltig: gut. Was noch?

Nach dem Kriege werden die Menschen einander lange nicht in die Augen sehen können, um nicht der Frage zu begegnen: Wie ist es möglich, daß du lebst, daß du davongekommen bist? Was hast du getan? Liebe Anka . . . 1. Ich habe keine Besuche gemacht. Für Geld, Lebensmittel, Nachrichten, guten Rat und Tips gehe ich betteln. Wenn du das Besuche machen nennst, dann sind Besuche eine schwere, erniedrigende Arbeit. Und dazu muß man auch noch Späße machen, denn die Menschen mögen düstere Gesichter nicht. Zu den Chmielarzs gehe ich oft. Sie geben mir zu essen. Das sind auch keine Besuche. Ich bin der Meinung, es ist Wohltätigkeit — sie halten es für einen Austausch von Gefälligkeiten. Aber es ist doch oft ermüdend, wenn auch die Atmosphäre wohlwollend, heiter und beruhigend ist. Die Erholung, die mir einst beim Lesen zuteil wurde, finde ich nicht mehr. Ein bedrohliches Zeichen. Ich bin schon wirr geworden, und das beunruhigt mich. Ich will doch nicht verdummen. 2. Fünfhundert Zloty habe ich überwiesen. Wenn mir etwas droht, dann am wenigsten von dieser Seite und in dieser Sache. Ein erprobter und starker Freund wacht darüber — ein geschickter Rechtsanwalt. Ohne seine Zustimmung unternehme ich nichts. 3. Ich werde zum Leiter der Personalabteilung gehen. Ich habe die Angelegenheit nicht leichtgenommen, weil sie das nicht war. Was Frau Stefa gesagt, versprochen und unternom­ 311

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men hat, weiß ich nicht, weil niemand mir etwas davon berichtet hat. Ich habe das Geheimnis geachtet. 4. Ich erfülle meine Pflichten, nach meinem bescheidenen Urteil, so gut ich es kann. Ich schlage keine Bitte ab, die ich erfüllen kann. Ich habe mich aber nicht verpflichtet, die Interessen der Polizei wahrzunehmen, der Vorwurf ist also ungerechtfertigt. 26. Juni 1942. Ende des ersten Teiles

Ich habe alles noch einmal durchgelesen. Nur mit Mühe habe ich es verstanden. Und der Leser? Kein Wunder, daß ein Tagebuch für den Leser Unverstandlieh bleibt. Kann man denn überhaupt fremde Erinnerungen, ein fremdes Leben verstehen? Ich sollte ja wohl ohne Mühe erkennen, was ich schreibe. Nun freilich, aber kann man eigene Erinnerungen verstehen? * Słowacki hat Briefe an seine Mutter hinterlassen. Sie vermittein ein plastisches Bild seiner Erlebnisse über mehrere Jahre hinweg. Dank dieser Briefe ist ein Dokument seiner Wandlung unter dem Einfluß von Towiański29 erhalten geblieben. . . Ich hatte die Idee : ‫״‬Vielleicht sollte ich dieses Tagebuch in Form von Briefen an meine Schwester schreiben?" Kalt, fremd und hochmütig ist mein erster Brief an sie. Es ist die Antwort auf ihren Brief an mich. Und da ist sie: ‫״‬Mein Lieber" .. . Welch großes und schmerzliches Mißverständnis. _______ * 29 Towiański, Andrzej, polnischer Mystiker (1799—1878), der sich als Religionsstifter verstand und auf die polnischen Dichter der Romantik (Mickiewicz, Słowacki) zeitweise großen Einfluß ausübte.

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Proust ist weitschweifig und kleinlich? Oh nein! Jede Stunde — das ist ein dickes Heft, das ist eine Stunde Lesen. Nun ja. Du mußt einen ganzen Tag lang lesen, um einen meiner Tage in etwa zu verstehen. Woche für Woche, Jahr für Jahr. Und wir wollen in einigen Stunden, um den Preis von ein paar eigenen Stunden — ein ganzes langes Leben durchmessen. So einfach geht das nicht. Du wirst es in einer undeutlichen Kürzung, in einer flüchtigen Skizze kennenlemen — eine Episode für tausend, für hunderttausend. Ich schreibe dies im Klassenzimmer, während der HebräischStunde. Da muß ich an Zamenhof30 denken. Naiv, verwegen wollte er einen Fehler oder eine Strafe Gottes korrigieren. Er wollte die verschiedenen Sprachen wieder in einer einzigen vereinigen. Holla! Trennen, trennen, trennen. Nicht vereinigen. Was würden die Menschen denn dann tun? Man muß ihre Zeit ausfüllen, ihnen eine Beschäftigung und ihrem Leben ein Ziel geben. ‫ ״‬Er spricht drei Sprachen. Er lernt eine Sprache. Er kann fünf Sprachen." Da verzichten nun zwei größere Gruppen von Kindern auf ihre Spiele, auf leichte Lektüre und Gespräche mit ihren Altersgenossen. Sie lernen freiwillig Hebräisch. Als die Gruppe der Jüngeren ihre Stunde beendet hatte, wunderte sich ein Bub : ‫ ״‬Schon? Schon eine Stunde vorbei?" Tak31. Auf Russisch: ‫ ״‬da", deutsch: ‫״‬ja", französisch: ‫ ״‬oui", englisch: ‫״‬yes", hebräisch: ‫״‬ken". Nicht nur ein, nein, drei Leben kannst du damit ausfüllen. 3° Zamenhof, Ludwik Łazarz (1859—1917), Augenarzt in Warschau und Erfinder des ‫״‬Esperanto". 31 Polnisch: ‫״‬ja". 313

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Zweiter Teil Heute ist Montag. Von acht bis neun Gespräch mit der Jugendgruppe. Übrigens kann jeder daran teilnehmen, der Lust dazu hat. Nur stören darf er nicht32. Themen, die mir gestellt werden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

Die Emanzipation der Frauen. Vererbungslehre. Einsamkeit. Napoleon. Was ist Pflicht. Über den Beruf des Arztes. Amiels33 Tagebuch. Aus den Erinnerungen des Herrn Doktor. Jack London. Über Mendel. Leonardo da Vinci. Über Fabre. Die Sinne und der Verstand. Das Genie und seine Umgebung (wechselseitige Einwirkungen). Die Enzyklopädisten. Die unterschiedliche Schaffensweise verschiedener Schriftsteller. Nationalität—Volk. Kosmopolitismus. Symbiose. Das Böse und die Bosheit. Freiheit. Vorherbestimmung und freier Wille.

32 Eine Gruppe von Studenten, die im ‫״‬Haus der Waisen" ihr pädagogisches Praktikum machten. Korczak besprach jede Woche in einer VerSammlung mit ihnen Arbeitsmethoden und konkrete Fragen. Von Zeit zu Zeit hielt er auf ihre Bitte hin Vorträge. 33 Amiel, Henri (1821—1881), franz. Dichter, für dessen Werk man sich erst nach seinem Tode und nach der Veröffentlichung seiner Memoiren interessierte.

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Als ich noch die ‫ ״‬Kleine Rundschau"34 redigierte, interessierte sich die Jugend nur für zwei Themen: Kommunismus (Politik) und sexuelle Probleme. Nichts würdige, schmachvolle Jahre — zersetzend und gemein. Die Vorkriegszeit — lügnerisch, verlogen, verdammt. Man hatte keine Lust zu leben. Schlamm. Stinkender Sumpf. Dann kam ein Sturm auf. Die Luft wurde rein. Der Atem tiefer. Es gab wieder Sauerstoff. Dem kleinen Szymon Jakubowicz widme ich die Erzählung aus dem Zyklus : ‫ ״‬Wunderliche Geschichten" Nennen wir diesen Planeten Rho und ihn Professor, Astronom, oder wie es euch gefällt. Und die Stelle auf dem Planeten Rho, von der aus der Professor Zi seine Beobachtungen machte, nennen wir sein Labor. Der Name des Instrumentes ist in unserer unvollkommenen Sprache etwas schwerfällig: ‫״‬Astropsychomikrometer", also ein hochempfindliches Meßgerät für psychische Bewegungen in der Sternenwelt. Übertragen auf unser irdisches Observatorium bediente sich der Professor eines Teleskops, das durch Summen anzeigte, was sich hier und dort im Weltall ereignet, vielleicht projizierte dieses komplizierte Gerät auch Bilder auf eine Leinwand oder es registrierte Schwingungen, wie ein Seismograph. Aber das ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist vielmehr, daß es dem Gelehrten vom Planeten Rho möglich war, seelische Energien zu regulieren und Wärmestrahlen in geistige oder genauer gesagt, in moralische Strahlen umzuwandeln. Nun freilich. Wenn wir unter Sittlichkeit die Harmonie der Empfindungen und die Ausgewogenheit der Gefühle verstehen. Noch ein Vergleich drängt sich auf: ein Radioapparat, der nicht Musik, Gesang oder Berichte von Kriegsschauplätzen 34 Mały Przegląd, eine Zeitschrift für Kinder und Jugendliche, 1926 von Korczak begründet und bis 1931 von ihm redigiert.

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sendet, sondern Strahlen seelischen Gleichgewichts. Im Leben der Sterne, nicht allein unseres Sonnensystems. Ausstrahlungen von Harmonie und Heiterkeit. So sitzt denn Professor Zi bekümmert da und denkt: ‫ ״‬Dieses unruhige Fünkchen Erde ist wieder in Gärung. Unordnung, Unruhe, niederträchtige Gefühle breiten sich aus, herrschen vor. Armselig, voller Schmerzen, unsauber ist ihr Leben dort. Seine Unordnung stört den Lauf der Zeit und den der Empfindungen . . . Die Nadel vibriert wieder . . . Die Leidenskurve ist in die Höhe geschnellt." Eins, zwei, drei, vier, fünf. Der Astronom Zi runzelte die Stirn. ‫ ״‬Sollte man dieses unvernünftige Spiel nicht unterbrechen? Dieses blutige Vergnügen? Die Lebewesen auf der Erde haben doch Blut in den Adern. Und sie kennen Tränen und klagen, wenn sie Schmerzen haben. Ob sie nicht glücklich sein wollen? Oder irren sie, können sie das Glück nicht finden? Finster ist es dort bei ihnen und stürmisch, Staubwolken machen sie blind." Die Nadel zeigt in schneller Folge immer neue Erschütterungen an. Das falsch gebrauchte Eisen dient dem Strafvollzug. Aber zugleich lenkt es und formt, bereitet den Geist auf neue Errungenschaften und Entdeckungen vor. ‫״‬Auf diesem weit entfernten Staubkorn gibt es Wasserreservoire. Aus gemordeten Bäumen habt ihr schwimmende Häuser gebaut und mit Eisen beschlagen. Welch eine Anstrengung. Sie sind widerspenstig, unbeholfen, aber begabt. Flügel haben sie auch noch nicht. Wie hoch erscheint ihnen der Flug und wie weit die Fläche der Meere." Bzzzz . . . Bzzzz . . . ‫״‬Anstatt sich von Herzen zu freuen und dies mit einem Lied, mit gesteigerter gemeinsamer Anstrengung zum Ausdruck zu bringen, anstatt die Fäden zu verknüpfen, bringen sie alles durcheinander und zerreißen es. Was soll ich tun? Einhalt gebieten —‫ ־‬das bedeutet, ihnen einen Weg zu weisen, den sie noch nicht gehen können, ihnen eine Anstrengung aufzubürden, der sie nicht gewachsen sind, ihnen ein Ziel setzen, das weit über das hinausreicht, was sie 316

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heute schon verstehen können. ‫ ״‬Aber so macht man es nun einmal. Unfreiheit, Zwang, Gewalt. All das verwirrt, reizt und kränkt. " Professor Zi seufzte und schloß die Augen. Er legte die Spitze des Astropsychomikrometers an die Brust und lauschte. Und auf der Erde war Krieg. Feuersbrünste, Trümmer, wüste Schlachtfelder. Der Mensch, der für die Erde und ihre Geschöpfe verantwortlich ist, ist entweder unwissend oder er gibt sein Wissen und seine Vernunft nicht preis. Über dem Planeten Rho (vielleicht auch Lo) war der freie Raum von hellem Blau, dem Duft von Maiglöckchen und süßem Wein erfüllt. Wie Schneeflocken schwebten die geflügelten Empfindungen umher und stimmten ein Lied nach dem anderen an, sanft und rein. Unsere Erde ist noch jung. Und jeder Anfang ist eine schmerzhafte Anstrengung. Aus Tagebüchern, die mir die Kinder zu lesen geben. Marceli schreibt: ‫ ״‬Ich habe ein Taschenmesser gefunden. Ich opfere fünfzehn Groschen für die Armen. Das habe ich gelobt." Szlama schreibt: ‫ ״‬Zu Hause sitzt eine Witwe und weint. Vielleicht bringt ihr der ältere Sohn etwas vom Schmuggeln mit. Sie weiß noch nicht, daß ein Gendarm ihren Sohn erschossen hat . . . Aber wißt ihr auch, daß bald wirklich alles gut sein wird?" Szymonek : ‫ ״‬Mein Vater war ein Kämpfer um das tägliche Stück Brot. Obwohl er den ganzen Tag arbeiten mußte, liebte er mich doch." (Zwei erschütternde Erinnerungen.) Natek: ‫״‬Das Schachspiel hat ein persischer Weiser oder ein König erfunden." Mietek: ‫״‬Dieses Gebetbüchlein35, das ich einrahmen will, ist ein Andenken, denn es hat meinem Bruder gehört, der ge35 sydur = ssidur (Jiddisch) = ‫״‬Ordnung", ‫״‬Anordnung"; das Gebetbuch, aus dem in der Synagoge und daheim die Gebete gelesen werden. — Es wird heute noch von Juden an Freunde und Verwandte als Andenken in alle Welt verschickt. 317

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storben ist, und der hat es zur Konfirmation vom Bruder aus Palästina geschenkt bekommen." Leon: ‫ ״‬Ich brauchte ein Kästchen für verschiedene Andenken. Hersz wollte mir für 3 Zloty 50 ein poliertes Kästchen verkaufen." (Die verwickelte Geschichte einer Transaktion.) Szmulek: ‫ ״‬Ich habe mir für zwanzig Groschen kleine Nägel gekauft. Morgen werde ich große Ausgaben haben." Abus: ‫ ״‬Wenn ich etwas länger auf der Toilette sitze, heißt es gleich, ich sei ein Egoist. Und ich möchte doch, daß man mich gern hat." (Ich kenne dieses Problem aus meiner Gefängniszeit.) Ich habe einen Toiletten-Tarif festgelegt: 1. Für ein kleines Geschäft muß man fünf Fliegen fangen. 2. Für ein großes ‫ ־־־‬zweiter Klasse (Kübelhocker mit ausgesägter Öffnung) — zehn Fliegen. 3. Erster Klasse — mit Sitz — fünfzehn Fliegen. Einer fragt: ‫ ״‬Kann ich nicht später bezahlen (mit Fliegen), ich muß so nötig?" Ein anderer: ‫ ״‬Mach nur, mach . . . ich fange sie für dich." Eine im Isolierraum gefangene Fliege zählt für zwei. ‫ ״‬Zählt das auch, wenn eine schon getroffene Fliege wieder fortfliegt?" .. . Wie das halt so geht. Aber die Fliegen sind weniger geworden. . . . So haben mir vor vielen Jahren in Goclawek die Kleinen aus dem Kindergarten alle Wanzen weggefangen. Die Gutwilligkeit einer solchen Schar — das ist eine Macht. Euthanasie Die Kirche hat Geburt, Eheschließung und Tod mit ihren Riten umsponnen. Der gottesdienstliche Ritus hat das gesamte geistige Leben des Menschen auf sich konzentriert und sogar die nebensächliehe wirtschaftliche Tätigkeit seiner Schäflein geordnet. 318

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Als die Menschen dieses Kinderkleidchen, das eng und kurz geworden war — dieses naive und oft geflickte, das der Schaflein —, fortwarfen (warum eigentlich so barsch?), wuchs die Kirche in viele Institutionen hinein. Schon dient die Baukunst nicht mehr allein den Gotteshäusem. Als erste errichteten Frankreich und Paris, wie sich versteht, den modernen Turmbau von Babel: den Eiffelturm. Schulgebäude und weltliche Universitäten, Theater, Museen, Konzertsäle, Krematorien, Hotels, Stadionanlagen — groß, prächtig, hygienisch, modern. Schon gibt es den Rundfunkvortrag, nicht mehr allein eine Predigt, eine Ansprache des Kaplans. Bibliotheken, Druckereien, Buchhandlungen, nicht nur ‫״‬das Buch" oder die Schriftrolle auf dem Altar und eine Krambude mit Amuletten. Der Arzt — der mächtige Bau der medizinischen Wissenschaft. Schon wehrt nicht mehr das Gebet des Priesters eine Seuche ab. Gegen Hagelschlag und Überschwemmung, Feuer und Seuchen gibt es Krankenkassen und Versicherungsanstalten. Soziale Fürsorge, wo einst das Scherflein der Witwe hilfreich war. Bildhauerarbeiten und Malereien auf Leinwand und Stramin befinden sich in Bildgalerien, nicht nur an Tempelwänden und -plafonds. Metereologische Institute an Stelle von Bittgottesdiensten. Das Spital ist aus der Kirche hervorgegangen. Einst hatte alles in ihr Platz, und alles ging von ihr aus. Nun werden die Preise an der Börse, nicht mehr auf dem Platz vor dem Tempel festgesetzt. Internationale Tagungen gelehrter Fachleute und zahlreiche Zeitschriften, nicht aber Briefwechsel, gegenseitige Besuche, Gespräche und Bankette der Leviten. Die Diplomatie schützt ebenso wirksam vor einem Kriegsausbruch wie Gebete. Das Straf-, Zivil- und Handelsgesetzbuch — einst gab es nur die Zehn Gebote und ihre zahlreichen Kommentare. Gefängnisse — früher gab es nur Klöster. Urteile — in alten Zeiten war das der Kirchenbann. 319

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Der moderne Mensch ist reifer, aber nicht klüger und milder geworden. Damals war alles von der Kirche umschlossen, alles, was erhaben, feierlich, vernünftig, schön und menschlich war. Außerhalb gab es nur noch das Zugvieh, verschreckt, abgearbeitet, ratlos. Und doch haben auch heute noch die höchsten Spitzen des Fortschritts und der Wissenschaft ihre wichtigsten Angelegenheiten auf die Taufe, das Sakrament der Ehe und die Riten gebaut, die mit der Stunde des Todes für die einen, der der Erbschaft für die anderen, noch Lebenden verbunden sind. Erst vor kurzem, gestern erst kamen Probleme zur Sprache wie Bevölkerungsdichte und Geburtenregelung, Diskussion über die vollkommene Ehe und — die Euthanasie. Derjenige hat das Recht, aus Mitleid zu töten, der liebt und leidet — der selbst bereit ist, sein Leben aufzugeben. So wird es in ein paar Jahren sein. Eigenartig klingt das Sprichwort: ‫ ״‬Aus Gemeinsinn läßt sich der Zigeuner hängen." Als ich meiner Schwester nach ihrer Rückkehr aus Paris vorschlug, gemeinsam Selbstmord zu begehen, war das weder eine Demonstration noch das Programm einer Bankrotterklärung. Ganz im Gegenteil. Ich hatte einfach zu wenig Platz auf der Welt und im Leben. Q ui3511 bono noch diese zehn oder fünfzehn Jahre? Vielleicht war es eine Schuld, vielleicht, daß ich dieses Angebot später nicht wiederholte. Der Handel war wegen Meinungsverschiedenheiten nicht zustande gekommen. Als ich in schweren Stunden das Projekt der Tötung (Einschläferung) der zur Ausrottung bestimmten Kleinkinder und Greise des Judenghettos erwog, da war es für mich Mord an Kranken und Schwachen, Meuchelmord an Unwissenden. Die Krankenpflegerin einer Station für Krebskranke erzählte mir, sie habe den Kranken immer eine toxische Menge der Arznei ans Bett gestellt und sie belehrt: ‫״‬Nicht mehr als einen Löffel davon nehmen, es ist ein Gift. Ein Löffel ist Arznei und mildert die Schmerzen." 35a So im polnischen Original; gemeint ist vermutlich ‫״‬cui bono".

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Im Laufe vieler Jahre hat kein Patient eine Überdosis eingenommen. Wie wird das in Zukunft aussehen? Eine Behörde, denn wie könnte es anders sein? Ein solide ausgebautes Amt. Ein geräumiger Saal, kleine Zimmer. Schreibtische. Juristen, Ärzte, Philosophen, Handelsberater der verschiedenen Altersgruppen und Fachgebiete. Der Petent stellt einen Antrag. Jeder hat das Recht dazu. Vielleicht werden zahlreiche Einschränkungen notwendig, damit nicht aus Leichtsinn oder nur zum Schein Gesuche eingereicht werden, heuchlerisch, um die Behörde auszunutzen oder die eigene Familie irrezuführen. Ein Antrag auf Tötung könnte dazu mißbraucht werden, Druck auszuüben: ‫ ״‬Geliebte Frau, komm zu mir zurück, denn hier ist ein Beweis, die Quittung für den gestellten Antrag. ‫ ־־־־‬Gib mir Geld für ein lustiges Leben, Vater. Wenn ihr mir das Reifezeugnis verweigert, wird euch das Gewissen quälen, werde ich euch eure Ruhe vergiften." Deshalb : Gesuche nur auf einer bestimmten Papier art. Nur in, sagen wir, griechischer oder lateinischer Sprache. Außerdem wird eine Zeugenliste benötigt. Vielleicht sogar eine Stempelgebühr, in vier Vierteljahres- oder drei Monatsraten oder auf sieben Wochen verteilt. Das Gesuch muß die Motive enthalten: ‫ ״‬Ich will nicht mehr leben: wegen einer schweren Krankheit, wegen einer finanziellen Katastrophe, wegen Unlust, aus Überdruß, weil mich Vater, Sohn, Freund enttäuscht haben. Ich bitte um Ausführung des Eingriffs innerhalb einer Woche, ohne Verzug." Hat schon irgend jemand Ereignisse und Erfahrungen gesammelt, vertrauliche Mitteilungen, Briefe und Tagebücher aus Lagern, Gefängnissen, von Verurteilten und von der Todesstrafe Bedrohten, am Tage vor einer schweren Schlacht, an der Börse oder in Spielsälen? Das Gesuch ist angenommen, die Formalitäten sind erledigt. Die Beweisaufnahme beginnt — wie vor einem Gericht. 321

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Ärztliche Untersuchung. Psychologische Beratung. Vielleicht eine Beichte oder eine Psychoanalyse. Ergänzende Gespräche mit den Zeugen. Festsetzung oder Änderung von Terminen. Spezialisten und Sachverständige. Die Ausführung einer zustimmenden Entscheidung wird abgelehnt oder eingestellt. Oder ein Euthanasieversudi zum Schein. Es kommt doch vor, daß ein Mensch, der einmal den Reiz und die Lust des Selbst‫־‬ mordes kennengelernt hat, es bis ins hohe Alter hinein nicht wieder versucht. Angeblich gehört ein solcher Versuch, eben ein soldi mißlungener Sprung ins Ungewisse, zu den Bedingungen für die Erlangung eines Einweihungsgrades bei den Freimaurern. Der Ort der Ausführung. Das habe ich mir selbst ausgedacht — nach der Ausschlußfrist. Oder: ‫ ״‬Fahre dort hin — dort wirst du den erwünschten Tod empfangen. — Du wirst erhalten, worum du bittest, in zehn Tagen, in den Morgenstunden, am Abend. Die Behörden werden um Unterstützung gebeten, zu Lande, zu Wasser und in der Luft." Es scheint, daß ich scherze. Nein. Es gibt Probleme, die wie blutdurchtränkte Lappen mitten auf dem Wege liegen. Die Menschen gehen auf die andere Straßenseite hinüber oder wenden sich ab, um nichts zu sehen. Ich tu das auch. Wo es aber um solche Probleme geht und nicht um einen verhungernden Bettler, da ist ein solches Verhalten nicht mehr erlaubt. Da geht es nicht um einen oder auch Hunderte von armen Teufeln in schweren Kriegszeiten, sondern um Millionen im Laufe von Jahrhunderten. Hier muß man der Wirklichkeit ins Auge sehen. Mein Leben war schwer, aber interessant. In meiner Jugend hatte ich Gott um gerade solch ein Leben gebeten. ‫ ״‬Gib mir, o Herr, ein schweres, aber schönes, reiches, würdiges Leben." 322

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Als ich erfuhr, daß auch Słowacki so gebetet hatte, da hat es mich gestört, daß ich es nicht erfunden hatte, daß es schon jemanden vor mir gegeben hatte. Als ich siebzehn Jahre alt war, habe ich sogar einen Roman mit dem Titel ‫ ״‬Selbstmord" angefangen. Der Held haßte das Leben aus Furcht vor dem Wahnsinn. Ich hatte panische Angst vor der Irrenanstalt, in die mein Vater ein paarmal eingewiesen worden war. Ich — der Sohn eines Wahnsinnigen. Also erblich belastet. Jahrzehntelang, bis zum heutigen Tage, quält mich zuweilen der Gedanke daran. Ich liebe meine Verrücktheiten zu sehr, als daß mich der Gedanke nicht erschreckte, es könnte mich jemand gegen meinen Willen davon zu heilen versuchen. Hier sollte ich eigentlich hinschreiben: Teil zwei. Nein. Das Ganze ist nur weitschweifiges Gerede. Aber ich kann es nicht kürzer ausdrücken. 15. Juli 1942 Eine Woche Pause vom Schreiben, das jetzt vollkommen unnötig erscheint. Etwas ähnliches habe ich erlebt, als ich ‫״‬Wie man ein Kind lieben soll" schrieb. Es kam vor, daß ich bei einer kurzen Rast, auf einer Wiese, unter einer Kiefer, auf einem Baumstumpf saß und schrieb. Alles war wichtig, und wenn ich es nicht gleich aufgeschrieben hätte, so hätte ich es vergessen. Ein unwiderbringlicher Verlust für die Menschheit. Und dann wieder eine monatelange Pause: wozu einen Narren aus sich machen? Das, was wirklich klug ist, wissen Hunderte von Menschen. Wenn die Zeit kommt, sprechen es diejenigen aus, die etwas Wesentliches verwirklichen werden. Nicht Edison hat seine Erfindungen gemacht, sie hingen gleichsam auf einer Leine, wie Wäsche, die an der Sonne trocknet; er hat sie nur abgenommen. Ebenso Pasteur, auch Pestalozzi. Es ist. Es muß nur ausgesprochen werden. So geht es mit jedem Problem. Zufällig dringt dieser und nicht jener als erster in den Raum vor. 323

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Lange konnte ich nicht verstehen, wodurch sich ein heutiges Waisenhaus von einem früheren unterscheidet, auch von unserem ehemaligen. Das Waisenhaus — eine Kaserne. Ich weiß. Das Waisenhaus — ein Gefängnis. Ja. Das Waisenhaus — ein Bienenstock, ein Ameisenhaufen. Nein. Unser Haus ist jetzt ein Altersheim. In der Isolierstation habe ich gegenwärtig sieben Kranke, davon drei neue. Das Alter der Patienten: vom Siebenjährigen bis zum sechzigjährigen Azryl, der stöhnend und mit hängenden Beinen auf seinem Bettrand sitzt und sich auf eine Stuhllehne stützt. Die Gespräche der Kinder am Morgen — das Ergebnis ihrer Temperaturmessungen. Wieviel Fieber habe ich, wieviel du. Wer fühlt sich schlechter. Wie hat jeder die Nacht verbracht. Ein Sanatorium für launische, in ihre Krankheit verliebte, wohlhabende Pensionäre. Leon ist zum erstenmal in seinem Leben ohnmächtig geworden. Nun will er herausfinden, was ihm geschadet hat. Die Kinder schleichen umher. Nur die äußere Haut ist normal. Aber darunter sind Erschöpfung, Unlust, Zorn, Aufruhr, Mißtrauen, Traurigkeit und Sehnsucht verborgen. Schmerzlich ist der Emst ihrer Tagebuchnotizen. Wenn ich auf ihre vertraulichen Mitteilungen eingehe, dann spreche ich zu ihnen als Gleicher zu Gleichen. Wir haben gemeinsame Erlebnisse — sie und ich. Die meinen sind etwas verdünnter, verwässerter — aber sonst die gleichen. *

Gestern habe ich bei der Stimmenauszählung des Personals in der Dzielna-Straße das Wesen seiner Solidarität begriffen. Sie hassen einander, aber niemand läßt zu, daß seinesgleichen angegriffen wird. ‫ ״‬Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten. Du bist fremd, ein Feind. Selbst wenn es für uns vorteilhaft sein sollte, das scheint nur so, und letzten Endes schadet es uns." Die aufopferungsvolle Pflegerin ist gestorben: Fräulein Wittlin. Schwindsucht. 324

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Mein Gott — Wittlin. Gleich zwei sind betroffen : die Schule und die Isolierstation. Das ‫ ״‬Salz der Erde" löst sich auf — übrig bleibt der Dünger. Was wird daraus werden? ‫ ״‬Es ist schwieriger, einen Tag gut zu durchleben als ein Buch zu schreiben." Jeder Tag, nicht nur der gestrige, ist ein Buch ‫ ־־־‬ein dickes Heft, ein Kapitel, das für Jahre reicht. Wie unwahrscheinlich lange lebt ein Mensch. Die Berechnungen der Heiligen Schrift sind durchaus nicht unsinnig: Methusalem lebte wirklich etwa tausend Jahre. 18. Juli, nachts Während der ersten Woche unseres letzten Aufenthalts in der Ferienkolonie in Godawek36 kam es zu einer allgemeinen Vergiftung bei den Kindern und bei einem Teil des Personals ‫—־‬ hervorgerufen durch den Genuß von Brot, von dem weder die Zusammensetzung noch die Backart bekannt waren. Durchfälle. Der Kot gärte in den Nachttöpfen, auf der Ober‫־‬ fläche der teerigen Schmiere bildeten sich Blasen, die, wenn sie platzten, einen süßlich-fauligen Geruch verbreiteten, der nicht nur den Geruchssinn reizte, sondern auch in Kehle, Augen, Ohren und Gehirn drang. Jetzt haben wir etwas ähnliches, nur diesmal in Form von Erbrechen und dünnem Stuhlgang. In einer Nacht haben die Buben zusammen achtzig Kilo verloren, durchschnittlich ein Kilo pro Kopf, — die Mädchen sechzig Kilo (etwas weniger). Der Verdauungstrakt von Kindern arbeitet unter hohem Druck. Es braucht nicht viel, um eine Katastrophe hervorzurufen. Vielleicht war es die Impfung gegen die rote Ruhr (vor fünf Tagen), vielleicht auch der gemahlene Pfeffer, der nach einem französischen Rezept den nicht mehr ganz frischen Eiern der Freitags‫״־‬Pastete" beigegeben worden war. 36 Im Sommer 1941 hatte Korczak zum letzten Male die Möglichkeit, mit den Kindern des ‫״‬Haus der Waisen" und mit etwa 40 Kindern aus dem Kinderheim Wolska-Straße 18 einen Sommeraufenthalt in dem Ferienheim Godawek bei Warschau durchzuführen. 325

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Am Tage darauf hat sich der Gewichtsverlust der Buben nicht um ein einziges Kilogramm ausgeglichen. Die Hilfsaktion für diese sich erbrechenden, vor Schmerzen stöhnenden Kinder ging fast im Dunkeln vor sich — also Kalkwasser (Kreide zum Zähneputzen, wer und soviel jeder wollte, Kanne um Kanne; außerdem für einige Narkotika gegen Kopfschmerzen), schließlich für das Personal in geringen Mengen — Morphium. Eine Koffeinspritze wegen eines Anfalls bei einem hysterischen neuen Zögling. Seine Mutter, die an einem Darmgeschwür litt, wollte nidit sterben, bevor sie ihr Kind nidit in einem Heim untergebracht hatte. Der Bub wollte nicht in ein Heim, bevor die Mutter nicht gestorben war. Schließlich gab er nach. Die Mutter starb, getreu ihrem Vorsatz, aber das Kind hat nun Gewissensbisse. In der Krankheit ahmt es die Mutter nach: es stöhnt (schreit), daß es Schmerzen habe, dann v/ieder, daß es ersticke, dann, daß es zu heiß sei, endlich, daß es vor Durst sterbe. ‫״‬Wasser!" Ich gehe durch den Schlafsaal. Ob es zu einer Massenhysterie kommt? Das könnte schon sein! Das Vertrauen der Kinder zur Leitung siegte. Der Doktor blieb ja ruhig, also fühlten sie sich nicht bedroht. Dabei war ich gar nicht so ruhig. Daß idi aber den ungebärdigen Patienten anfuhr und ihm drohte, ihn ins Treppenhaus hinauszubefördern, bewies, daß der Steuermann sich seiner Sache sicher war. Wichtig ist: er schimpft, also ist alles in Ordnung. Am nächsten Tag, das heißt gestern — eine Theateraufführung. ‫״‬Das Postam t"37 von Tagore. Publikumserfolg, Händedrücke, Lächeln, Versuche, ein herzliches Gespräch anzuknüpfen. (Nach der Vorstellung hat die Frau Vorsitzende das Haus besucht und gemeint, es sei zwar recht eng hier, aber der geniale Korczak habe augenscheinlich bewiesen, daß er in einem Mauseloch wahre Wunder vollbringen könne.) 37 Das Theaterstück ‫״‬Das Postamt" des indischen Schriftstellers und Philosophen Rabindranath Tagore (1881—1941) war von der nationalsozialistischen Zensur im Generalgouvernement verboten. Die Aufführung wurde von Esther Winogroń inszeniert, einer Studentin der Warschauer Universität und Helferin Korczaks. Diese Aufführung war die letzte im ‫״‬Haus der Waisen". 326

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Darum also wurden den anderen Paläste zugewiesen. (Mir kam die pompöse Eröffnung des Kindergartens im Arbeiterhaus an der Gorczewski-Straße in den Sinn, an der die zweite Frau von Mościcki38 teilnahm.) Wie lächerlich sie doch sind. Was wäre, wenn die Schauspieler von gestern ihre Rolle heute weiterspielen würden. Jerzyk glaubte, er sei ein Fakir: Chaimek, er sei wirklich Arzt. Adek, er sei königlicher Bürgermeister. (Vielleicht wäre das ein Thema für das Mittwochsgespräch der Jugendgruppe — ‫ ״‬Illusionen ‫ ־־־ ״‬Täuschungen; ihre Rolle im Leben der Menschheit. . .) Ich gehe jetzt in die Dzielna-Straße.

Am selben Tag, Mitternacht. Wollte ich behaupten, im Leben keine einzige Zeile geschrieben zu haben, ohne es wirklich zu wollen, so entspräche das der Wahrheit. Aber ebenso wahr wäre es, wenn ich sagte, alles sei nur unter Zwang geschrieben. Ich war ein Kind, das ‫ ״‬stundenlang allein spielen konnte‫ ״‬, von dem ‫״‬man gar nicht merkte, daß ein Kind im Hause ist.‫״‬ Als ich sechs Jahre alt war, bekam ich Bauklötze (Bausteinchen) geschenkt und hörte erst auf, damit zu spielen, als ich vierzelm war. ‫ ״‬Schämst du dich denn nicht? Solch ein großer Bub. Du könntest etwas Vernünftiges tun. Lies doch etwas. Ausgerechnet Bauklötze . . .‫״‬ Mit fünfzehn Jahren geriet ich in eine wahre Lesewut. Die Welt versank vor meinen Augen, es gab nur noch Bücher für mich . . . Ich sprach viel mit Menschen: mit gleichaltrigen und viel älteren, erwachsenen. Im Sächsischen Garten39 hatte ich recht Ignacy Mościcki (1867—1946), polnischer Staatspräsident 1926—1939. Sächsischer Garten (Ogród Saski), eine Parkanlage im Zentrum Warschaus, die zur Zeit der Sachsenkönige (1697—1763) angelegt worden ist. 38

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bejahrte Gesprächspartner. Ich wurde ‫״‬bewundert‫ '׳‬: ein Philosoph. Aber nur mit mir selbst sprach ich mich aus. Denn reden und sich aussprechen ist nicht dasselbe. Sich umziehen und sich ausziehen — das sind zwei verschiedene Tätigkeiten. Ich ziehe mich aus, wenn ich allein bin, und nur, wenn ich allein bin, spreche ich mich aus. Vor einer Viertelstunde habe ich meinen Monolog in AnWesenheit von Heniek Azrylewicz beendet. Und wahrscheinlich das erstemal in meinem Leben sagte ich mir mit aller Entschiedenheit: ‫ ״‬Ich habe einen Forscher-, keinen Erfindergeist." Forschen, um zu wissen? Nein. Forschen, um zu finden, bis auf den Grund vorzudringen? Auch das nicht. Also forschen, um immer weiter- und weiterzufragen. Ich richte meine Fragen an Menschen (kleine Kinder und Greise), an Tatsachen, Ereignisse, Schicksale. Mich packt nicht der Ehrgeiz, eine Antwort zu finden, ich möchte vielmehr zu weiteren Fragen Vordringen — nicht unbedingt nach demselben Gegenstand. Meine Mutter sagte: ‫״‬Dieser Junge hat keinen Ehrgeiz. Ihm ist es gleichgültig, was er ißt, wie er sich anzieht, ob er mit Kindern aus unseren Kreisen spielt oder mit Hausmeisterskindern. Er schämt sich auch nicht, mit Kleinen zu spielen." Ich fragte meine Bauklötze, Kinder, Erwachsene, was sie seien. Ich machte kein Spielzeug kaputt, es interessierte mich nicht, warum die Puppe beim Liegen die Augen schloß. Nicht der Mechanismus, aber das Wesen der Dinge — das Ding an sich, in sich selbst, beschäftigten mich. Wenn ich ein Tagebuch oder einen Lebenslauf schreibe, dann bin ich nur verpflichtet zu reden, nicht, mich auszusprechen. Ich komme noch einmal auf die Euthanasie zurück. 328

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Die Familie eines Selbstmörders. Euthanasie auf Bestellung. Er ist wahnsinnig, entmündigt — unfähig, selbst zu entscheiden. Ein Gesetzbuch mit tausend Artikeln ist notwendig. Das Leben selbst diktiert es. Ein wichtiger Grundsatz: es ist erlaubt, man soll. Auf einer fernen, herrlichen, freundlichen, märchenhaften Insel, in einem schönen Hotel oder Pensionat spielt der Selbstmörder die entscheidende Partie. Lohnt es sich zu leben? Wieviel Tage oder Wochen braucht man für eine solche EntScheidung? Ein Leben wie das der heutigen Magnaten? Vielleicht Arbeit? Hotelbedienung. Dienstzeiten. Gartenarbeiten. Aufenthaltsdauer? Wo ist er geblieben? Abgereist. Auf eine Nachbarinsel oder auf den Grund des Meeres. Sollte man sagen: ‫״‬Das Todesurteil wird in einem Monat vollstreckt, auch gegen deinen Willen? Denn du hast die Einwilligung unterschrieben, den Kontrakt mit der Organisation, den Vertrag über dein zeitliches Leben. Um so schlimmer, wenn du es zur Unzeit bereust." Oder der Tod — die Befreiung kommt im Schlaf, in einem Glas Wein, beim Tanz, begleitet von Musik, plötzlich und unverhofft. ‫ ״‬Ich will sterben, weil ich liebe. Sterben möchte ich, weil ich hasse. Gebt mir den Tod, denn ich kann weder lieben noch hassen." Das alles gibt es, aber in einem törichten, schwärenden, schmutzigen Durcheinander. Tod aus Gewinnsucht, gegen Bezahlung, aus Bequemlichkeit, um sich etwas leicht zu machen. Mit der Problematik des Todes aufs engste verbunden sind Sterilisation, Verhütung und Unterbrechung der Schwangerschaft. 329

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‫ ״‬In Warschau darfst du ein Kind haben, in einer Kleinstadt zwei, auf dem Lande drei, in den Ostgebieten vier, in Sibirien zehn. Nun wähle/‫׳‬ ‫ ״‬Leben darfst du, aber kinderlos." ‫״‬Leben darfst du, aber ehelos." ‫ ״‬Wirtschafte selbst und zahle Steuer nur für dich allein." ‫״‬Hier ist eine Partie für dich. Such dir ein Mädchen aus, unter zehn oder unter hundert." ‫ ״‬Du darfst zwei ,Männchen' haben. Wir gestatten dir drei ,Weibchen'." Freut euch: wieviele neue Stellen, Karteien, Büros und Behörden ! (Diese Maschine aus Eisen arbeitet, gibt Wohnungen, Gerate, Nahrung und Kleidung. Eure Aufgabe besteht ausschließlieh darin, euch zu organisieren.) Eine neue Methode für die Bodenbestellung oder die Tierzucht, oder neue synthetische Produkte, oder die Erschließung heute unzugänglicher Gebiete — am Äquator und an den Polen. Man kann die Erdbevölkerung bis auf fünf Milliarden anwachsen lassen. Die Verständigung mit einem neuen Planeten ist gelungen. Kolonisation. Der Mars, vielleicht der Mond, nehmen neue Einwanderer auf. Vielleicht ein noch besser funktionierender Verkehr mit einem noch entfernteren Nachbarn. Also zehn MilHarden Menschen, die mir und dir ähnlich sind. Die Erde entscheidet: wer, wohin, wieviel. Der moderne Krieg ist ein naives und unaufrichtiges Herumballern. Was bedeutsam ist, das ist die große Völkerwanderung. Rußlands Programm — vermischen und kreuzen. Das der Deutschen — sammeln, was sich ähnelt in Haut- und Haarfarbe, Nasenform, Schädelmaßen oder Beckendurchmesser. Spezialisten ersticken heute unter der Arbeitslosigkeit. Die Suche nach einem bißchen Arbeit für Ärzte und Dentisten ist eine Tragödie. Es fehlen Mandeln zum Herausnehmen, Blinddärme zum Operieren und Zähne zum Plombieren. 330

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Was tun, Was tun? Es gibt noch: Acetonämie, Magenkrampf, Angina pectoris. Was wird, wenn wir entdecken, daß Lungenschwindsucht nicht nur heilbar ist, sondern daß zur Heilung nur eine intra‫־‬ venöse, intramuskuläre oder subkutane Spritze genügt? Syphilis — Probe Sechsundsechzig. Schwindsucht — zweitausendfünf hundert. Was werden die Ärzte tun, und was die Krankensdiwes tern? Was wird, wenn wir den Alkohol durch ein Tröpfchen Gas ersetzen? Apparat Nr.3, Preis zehn Zloty. Garantie auf fünfzig Jahre. Gebrauchsanweisung auf der Verpackung. Bequeme Ratenzahlung. Zwei Pastillen X-Bion täglich sorgen für ausreichende Ernährung. Was wird aus den Köchen, was aus den Restaurants? Esperanto? Eine Zeitung für alle Völker und Mundarten. Was werden dann die Linguisten und vor allem die Dolmetscher und Fremdsprachen-Lehrer tun? Das Radio — perfektioniert. Das feinste Ohr wird lebendige Musik nicht mehr von Melodien ‫ ״‬aus der Verpackung, aus der Konserve" unterscheiden können. Was soll werden, wenn es heute schon zu Katastrophen kommen muß, um Arbeit und Ziele auch für nur eine Generation zu schaffen? So geht das nicht, meine Lieben. Sonst wird es einen Stillstand geben, wie es noch keinen gab, stickige Luft, wie sie noch keiner geatmet, und eine Unlust, wie sie noch niemand gespürt hat. Thema für eine Novelle: Morgen beginnt ein Rundfunkwettbewerb, in dem der Meister im Violinspiel für ein Jahr, für diese oder jene Symphonie oder Disphonie ermittelt wird. Die ganze Welt sitzt an den Lautsprechern. Eine Olympiade, wie es sie noch nie gegeben hat. Die Anhänger des Geigers von der Papageieninsel leben in tragischer Ungewißheit. Die letzte Nacht. Der Favorit ist durchgefallen. 331

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Sie begingen Selbstmord, weil sie die Niederlage ihres Lieb‫־‬ lings nicht verwinden konnten. Es gibt eine Novelle von Čechov: ein zehnjähriges Kindermädchen will schlafen, darum erwürgt es das schreiende Baby. Die Ärmste, sie wußte sich nicht anders zu helfen. Ich habe eine Methode entdeckt. Durchdringendes Husten höre ich nicht, und das offensichtlich feindselige, aufreizende Verhalten des alten Schneiders beachte ich nicht. Ich höre nicht. Zwei Uhr nachts. Stille. Ich lege mich schlafen — für fünf Stunden. Tagsüber werde ich den Rest nachholen. Ich möchte gern eine gewisse Ordnung in meine Schreiberei bringen. Das wird schwierig sein. 21. Juli 1942 Morgen beende ich mein dreiundsechzigstes oder vierundsechzigstes Lebensjahr. Mein Vater hat sich jahrelang nicht um eine Geburtsurkunde für mich bemüht. Später hatte ich deswegen Schwierigkeiten. Mutter nannte das eine strafbare Nachlässigkeit: gerade als Rechtsanwalt hätte Vater die Sache mit der Geburtsurkunde nicht so verschleppen dürfen. Ich bin nach meinem Großvater benannt, und der hieß mit Vornamen Hersz (Hirsz). Vater hatte das Recht, mich Henryk zu nennen; er selbst hatte den Namen Joseph erhalten. Auch seinen anderen Kindern hatte der Großvater christliche Vornamen gegeben: Maria, Magdalena, Ludwik, Jakub, Karol. Aber dennoch hat er dabei geschwankt und gezögert. Ich sollte meinem Vater viel Platz widmen: in meinem Leben verwirkliche ich, was er angestrebt hat und was mein Großvater in langen Jahren qualvoll zu erreichen versuchte. Und meine Mutter. Später einmal. Ich bin sowohl Mutter als auch Vater. Das ist mir bewußt, und darum begreife ich vieles. Urgroßvater war Glasbläser. Ich bin froh deswegen: Glas gibt Wärme und Licht. Es ist schwer, geboren zu werden und leben zu lernen. Mir bleibt die viel leichtere Aufgabe: zu sterben. Nach dem Tode kann es wieder schwer sein, aber daran denke ich nicht. Das letzte Jahr, oder der letzte Monat, oder die letzte Stunde. 332

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Ich möchte gern bei Bewußtsein und bei voller Besinnung sterben. Was ich den Kindern zum Abschied sagen würde, weiß ich nicht. Ich möchte ihnen so viel sagen und es ihnen so sagen, daß sie ganz frei sind bei der Wahl ihres Weges. Zehn Uhr. Schüsse: zwei, mehrere, zwei, einer, mehrere. Vielleicht ist ausgerechnet mein Fenster schlecht verdunkelt. Aber ich unterbreche meine Notizen nicht. Im Gegenteil: lebendiger (ein einzelner Schuß) werden die Gedanken. 22. Juli 1942 Alles hat seine Grenzen ‫ —־‬nur freche Schamlosigkeit ist grenzenlos. Die Behörden haben die Evakuierung des Krankenhauses in der Stawki-Straße angeordnet. Und die Frau Oberin soll die Schwerkranken aus der Stawki-Straße in der Zelazna-Straße aufnehmen. Was tun? Man muß sich schnell entscheiden und energisch handeln. X und Z haben hundertfünfundsiebzig genesende Kinder. Sie haben beschlossen, über ein Drittel dieser Kinder bei mir unterzubringen. Es gibt zwar mehr als fünfzehn Heime, aber unser Haus liegt am nächsten. Daß es aber seit einem halben Jahr keine Gemeinheit gegeben hat, die diese Dame den Kranken gegenüber nicht begangen hätte, aus Bequemlichkeit, Starrsinn, Dummheit, daß sie mit teuflischem Erfindungsreichtum meinen humanen und leicht durchführbaren Vorschlag bekämpfte — das macht ja nichts (...)· In meiner Abwesenheit gibt Frau K. ihre Einwilligung, und Frau S. macht sich daran, die für ihre und unsere Kinder schämlose und höchst schädliche, unrechtmäßige Forderung zu verwirklichen (. . .). Ausspucken und Weggehen. Seit langem hege ich diesen Gedanken. Mehr noch — eine Schlinge — Blei an den Füßen. (Es ist wohl wieder unverständlich geworden. Aber ich bin zu müde, um alles ausführlicher zu beschreiben.) Azrylewicz ist heute früh gestorben. Wie schwer ist das Leben und wie leicht der Tod! 333

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27. Juli 1942. Der Regenbogen gestern Der Regenbogen gestern. Ein wunderschöner, großer Mond über dem Lager der Heimatlosen. Warum kann ich diesen unseligen, verwirrten Stadtteil nicht beruhigen. Nur eine einzige, kurze Bekanntmachung. Die Behörden könnten sie zulassen. Im schlimmsten Falle verbieten. So ein durchsichtiger Plan: Gebt eine Erklärung ab, wählt. Es sind keine bequemen Wege, die wir euch zur Auswahl anbieten. Auf Bridge-Partien müßt ihr einstweilen verzichten, auf Badefreuden auch und auf wohlschmeckende Mahlzeiten, mit dem Blut der Schmuggler bezahlt. Entscheidet euch: entweder macht ihr euch auf den Weg oder arbeitet an Ort und Stelle. Wenn ihr hierbleibt, müßt ihr das hersteilen, was die UmSiedler brauchen werden.

Der Herbst kommt. Sie werden Kleidung, Schuhe, Wäsche und Geräte brauchen. Wer sich herausschwindeln will, den werden wir ertappen, wer sich loskaufen will — wir nehmen gern seine Schmucksachen, seine Devisen, alles, was wertvoll ist. Wenn er alles hergegeben hat — nur möglichst rasch —, dann werden wir ihn erneut fragen: ‫״‬Hier oder dort? Und was — was eigentlich?" Nur kein Leben am Badestrand, keine Bridge-Partien und kein freundliches Schlummerstündchen nach der Zeitungslektüre. Du willst dich gemeinnützig betätigen? Bitte sehr. Eine Zeitlang kannst du sogar so tun als ob, wir werden vorgeben, daß wir dir glauben. Wir glauben überhaupt, was zu glauben uns bequem ist und solange es bequem ist. Verzeihung: nicht was bequem, sondern was eingeplant ist. Wir betreiben ein gigantisches Unternehmen. Es heißt: Krieg. Wir arbeiten planmäßig, diszipliniert, methodisch. Eure 334

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kleinen Interessen, Ambitionen, Gefühle, Launen, Ansprüche, Kummer und Wünsche gehen uns nichts an. Gewiß — Mutter, Ehemann, Kind, Greisin — ein Möbelstück, an dem viele Erinnerungen hängen, ein Lieblingsgericht — das alles ist nett und brav und rührend. Aber es gibt einstweilen Wichtigeres. In einem freien Augenblick werden wir auch darauf zurückkommen. Zunächst muß man vielleicht, um die ganze Sache nicht zu verzögern, ein bißchen rauh und schmerzlich und ohne besondere — wenn ich so sagen darf — Präzision, Feinheit und sogar ohne Genauigkeit Vorgehen. Nur grob zuhauen für den äugenblicklichen, zeitlich begrenzten Gebrauch. Ihr selbst sehnt euch ja danach, daß das alles ein Ende nimmt — wir auch. Also stört uns nicht. Die Juden nach Osten. Jetzt gibt es kein Gefeilsche mehr. Es geht nicht um die jüdische Großmutter, sondern darum, wo du nötiger gebraucht wirst — deine Hände, dein Kopf, deine Zeit und dein Leben. Großmutter hin oder her. Man mußte eben nur einen Anhaltspunkt finden, ein Schlüsselwort, eine Parole. Du kannst nicht in den Osten — du kommst dort um. Dann triff eine andere Wahl. Das kannst du nur selbst und du mußt es riskieren. Denn wir müssen dich doch zum Schein daran hindern, drohen, verfolgen und widerwillig bestrafen. Du kommst aufdringlich mit einem neuen Geldpaket. Wir haben dafür weder Zeit noch Lust. Wir spielen den Krieg nicht als eine kleine Auseinandersetzung, sondern man hat uns befohlen, den Krieg möglichst rasch und gründlich und möglichst redlich zu führen. Das ist weder eine saubere, noch eine angenehme oder wohlriechende Arbeit. Wir müssen also unsere augenblicklich notwendigen Arbeitskräfte mit Nachsicht behandeln. Der eine liebt Schnaps, der andere Mädchen, der dritte prahlt gern, ein anderer dagegen ist ängstlich und hat kein Selbstvertrauen. Wir kennen das: Fehler und Mängel. Aber sie haben sich wenigstens termingerecht gemeldet, du aber hast philosophiert und die Entscheidung auf geschoben. Verzeih, aber der Zug muß planmäßig verkehren, nach seinen vorbestimmten Zeiten. Das ist das Gleis. 335

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Hier ziehen die Italiener, Franzosen, Rumänen, Tschechen, Ungarn vorbei. Dort die Japaner, Chinesen, sogar die von den Salomo-Inseln und die Menschenfresser. Landwirte, Bergbewohner, Städter, Intelligenz. Wir, die Deutschen — es geht nicht um das Aushängeschild, sondern um die Taxe, um die Bestimmung der Erzeugnisse. Wir sind eine eiserne Walze oder ein Pflug oder eine Sichel. Wenn aus diesem Mehl nur Brot wird. Und das wird es, wenn ihr uns dabei nicht stört, nicht hindert, jammert, erregt und die Luft verpestet. Auch wenn wir manchmal Mitleid mit euch haben —wir müssen mit der Peitsche, dem Knüppel oder dem Blei arbeiten —, es muß ja Ordnung herrschen. Ein Plakat. ‫״‬Wer dieses oder jenes tut —wird erschossen." ‫״‬Wer dies und das nicht tut —den erschießen wir." Einer bietet sich selbst an. Ein Selbstmörder? Da kann man nichts machen. Ein anderer hat keine Furcht. Alle Hochachtung! Ein Held? Sein Name wird leuchten, aber — weg mit ihm, wenn es nicht anders geht. Ein Dritter fürchtet sich — wird bleich vor Angst, muß dauernd aus treten, betäubt sich mit Tabak, Alkohol, einer Frau, besteht aber hartnäckig auf seinem Willen. Was soll man mit so jemandem anfangen? Die Juden haben ihre Verdienste. Sie sind begabt, und dann ist da noch Moses, und Christus, und ihr Fleiß, und Heine, und die alte Rasse, und der Fortschritt, und Spinoza, und die Hefe, und die Ersten, und die Opferwilligen. Das ist schon richtig. Aber außer den Juden gibt es auch noch andere und anderes. Die Juden sind wichtig, aber später — ihr versteht schon, morgen. Gewiß, wir wissen das und wir denken daran. Eine wichtige Position, aber nicht die einzige. Wir geben niemandem die Schuld. Ebenso war das auch mit den Polen und ist es jetzt sogar mit Polen und Palästina, mit Malta und Martinique und mit dem ehrwürdigen Proletarier, mit den Weibern und den Waisenkindern, mit dem Militarismus und dem Kapitalismus. Aber nicht alles auf einmal. Es muß 336

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irgendeine Reihenfolge geben, irgendwelche Punkte der TagesOrdnung. Ihr habt es schwer und wir haben es nicht leicht. Um so mehr, weil wir jetzt ohne Büfett auskommen müssen, hinter das man sich früher vor einer schwierigen Debatte verstecken konnte. Mein Freund, du bist gezwungen, dir diese programmatische Rede der Frau Historia über die neue Charta anzuhören. Warum ich das Eßgeschirr wegräume? Ich weiß, daß viele es nicht gerne sehen, daß ich nach den Mahlzeiten das Eßgeschirr wegräume. Selbst die, welche Tagesdienst haben, haben das anscheinend nicht gern. Sie werden ja auch so fertig. Sie sind ihrer ja genug. Und wenn sie zu wenige wären, müßten eben noch einer oder zwei helfen. Was ist das also für eine Grille, was für ein Eigensinn, vielleicht sogar eine häßliche Angeberei, ich sei fleißig und solch ein guter Demokrat. Und was noch schlimmer ist, wenn jemand mit etwas Wichtigern zu mir kommt, dann lasse ich ihn warten und erkläre: ‫ ״‬Ich bin gerade beschäftigt/' Auch eine Beschäftigung: dieses Einsammeln von SuppenSchüsseln, Löffeln und Tellern. Am allerschlimmsten ist aber, daß ich mich dabei sehr ungeschickt anstelle, beim Verteilen der Zusatzportionen störe und die eng an ihren Tischen sitzenden Kinder stoße. Meinetwegen kann einer seine Suppenschüssel oder sein Schälchen nicht mehr auslecken. Es kann sogar jemand um seine Zusatzportion kommen. Ein paarmal habe ich in meiner Ungeschicklichkeit Geschirr fallen lassen. Wenn das einem anderen passiert wäre, hätte man ihn sicher gescholten und zur Verantwortung gezogen. Diese Schrulle bewirkt, daß die einen sich gleichsam schuldig fühlen, weil sie es zulassen, und die anderen, weil sie mich angeblich ausnutzen. Wieso merke oder sehe ich nicht selbst, wie es ist? Wie soll man aber verstehen, warum ich das tue, wenn ich nun hier schreibe, daß ich es weiß, einsehe, begreife, daß ich, anstatt zu helfen, nur im Wege bin? 337

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Merkwürdig: ich spüre, daß jemand im stillen denkt, ich solle das Geschirr nicht einsammeln, aber niemand hat sich bei mir erkundigt, warum ich es tue. Niemand hat direkt gefragt: ‫ ״‬Warum tun Sie das eigentlich? Warum stören Sie hier?" Und das ist meine Erklärung: Wenn ich das Eßgeschirr selbst einsammle, dann sehe ich die Teller, die einen Sprung haben, die verbogenen Löffel, die zerkratzten Schüsseln. Ich mache die Tische rascher frei, daß die Kinder vom Tagesdienst auf räumen können und ein Tisch als Verkaufsstand zur Verfügung steht. Ich sehe, wie gedankenlose Tischgemeinschaften —ein wenig in aristokratischer Manier, ein bißdien ungezogen — ihre Löffel, Messer, Salznäpfe und Becher unordentlich liegen lassen, anstatt sie aufzuräumen. Manchmal beobachte ich verstohlen, wie die Zusatz‫־‬ portionen ausgegeben werden, oder wer neben wem sitzt. Und ich denke mir dies und das dabei. Denn ich tue niemals etwas gedankenlos. Diese Kellnerarbeit ist für mich sowohl nützlich als auch angenehm und interessant. Aber nicht dies ist wichtig. Wichtig ist etwas ganz anderes. Etwas, worüber ich schon oft gesprochen und geschrieben habe, wogegen ich seit dreißig Jahren ankämpfe, seit der Zeit, als das ‫״‬Haus der Waisen" gegründet wurde, ohne Hoffnung auf Sieg, ohne sichtbaren Effekt; aber ich kann und will diesen Kampf nicht aufgeben. Ich setze mich dafür ein, daß es im ‫״‬Haus der Waisen" keine feine oder grobe, gescheite oder dumme, saubere oder schmutzige Arbeit gibt — Arbeit für junge Damen oder für gewöhnliches Gesinde. Es sollte im ‫ ״‬Haus der Waisen" niemanden geben, der nur körperlich oder nur geistig arbeitet. Im städtisehen Heim in der Dzielna-Straße begegnet man mir mit Entrüstung oder gar mit Unbehagen, wenn ich einer Aufwärterin die Hand gebe, auch dann, wenn sie gerade die Treppe putzt und nasse Hände hat. Aber oft vergesse ich, den Doktor K. zu begrüßen, und den Gruß von Doktor M. und von B. habe ich sogar schon unerwidert gelassen. Ich habe Respekt vor ehrlichen Arbeitskräften. In meinen Augen sind ihre Hände sauber, und ihre Meinung wäge ich auf der Goldwaage. 338

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Die Waschfrau und der Hausmeister in der KrochmalnaStraße wurden zu Sitzungen eingeladen, aber nicht, um ihnen eine Freude zu machen, sondern um sie als Kenner um Rat und Hilfe zu bitten, weil ein schwieriger Fall ohne ihre MitWirkung nach Paragraph 3 hätte behandelt werden müssen. In einer Wochenzeitung gab es vor mehr als zwanzig Jahren einen Scherz. Nein, keinen Scherz, vielmehr eine witzige Bemerkung. Ein Josek, ich weiß nicht welcher ‫ ־־־‬es gab so viele Joseks —, konnte eine Rechenaufgabe nicht lösen; er plagte sich lange und sagte endlich: ‫ ״‬Ich weiß nicht, wie man das macht. Ich beantrage Paragraph 3 .4 ° ‫״‬ Niemand ist nur deswegen besser oder klüger, weil er im Magazin arbeitet und nicht vor einem Handwagen. Und keiner, der Anweisungen geben darf, ist deswegen besser oder gar gescheiter. Ich bin auch nicht klüger oder besser, weil ich Legitimationen oder Spendenquittungen unterschreibe. Jemand aus der dritten oder gar der zweiten Abteilung würde dieses dumme Geschäft sorgfältiger und besser erledigen. Die ordinäre Kassiererin ist in meinen Augen ein grober und unreifer Mensch. Herr Lejzor dagegen ist ein feiner Mensch, auch wenn er im Schmutz der Abflußrohren und der Kanalisationen wühlt. Fräulein Nacia wäre für mich genauso achtenswert, wenn sie Kartoffeln schälte, wie jetzt, wo sie Maschine schreibt. Es ist nicht meine Schuld, daß Fräulein Irka, die Sanitäterin, sich bei schwereren Arbeiten von Mira vertreten läßt und Frau Róża Sztokman, die ich gleichfalls schätze, von Zeit zu Zeit die Toilette und die Küchenfußböden nicht scheuert, und sei es auch nur, um einmal Ruhe zu haben. In der Landwirtschaft nennt man das Fruchtwechsel, in der Hygiene und Heilkunde heißt es Klimawechsel, in der Kirche ist es der Akt der Demut. Den Papst nennt man den Heiligen Vater; Würdenträger knien vor ihm nieder und küssen seinen Pantoffel. Und derselbe Papst wäscht jedes Jahr in der Kirche zwölf Bettlern die Füße. 40 Paragraph 3 im Kodex des ‫״‬Hauses der Waisen" besagte: ‫״‬Das Gericht weiß nicht, wie sich die Sache wirklich verhalten hat und verzichtet daher auf eine Urteilsfindung."

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Die Juden sind hochmütig, deswegen werden sie derart verachtet. Ich glaube, daß sich das ändern wird, vielleicht schon sehr bald. Aber einstweilen seid, bitte, nicht ärgerlich, wenn ich das Eßgeschirr einsammle und übervolle Kübel auf dem Abort ausleere. Wer da sagt, ‫ ״‬diese Arbeit ist schmutzig, weil es eine physische Arbeit ist‫״‬, der lügt. Noch schlimmer ist es, wenn einer heuchelt: ‫ ״‬Keine Arbeit schändet‫ ״‬, sich selbst aber nur die saubere Arbeit aussucht, der sogenannten schmutzigen aus dem Wege geht und es auch noch in Ordnung findet, daß er sich davor drückt. 1. August 1942 Wenn die Kartoffelstauden allzu üppig wuchsen, fuhr eine schwere Walze über sie hinweg und zerquetschte sie, damit die Frucht in der Erde Zeit gewann, besser zu reifen. *

Ob Marc Aurel wohl die Gleichnisse Salomons gelesen hat? Wie tröstlich wirken seine Erinnerungen. * Manche Individuen hasse ich, oder vielleicht bemühe ich mich auch nur, sie zu bekämpfen. Leute wie H. oder solche wie G. Ich klage die Deutschen nicht an: sie arbeiten, oder besser, sie planen logisch und mit Erfolg, also müssen sie ärgerlich werden, wenn man sie stört, noch dazu auf so törichte Weise stört. Ich störe sie auch. Sie sind sogar nachsichtig. Nur manchmal ‫ ״‬schnappen‫ ״‬sie mich, befehlen mir, stehen zu bleiben, mich nicht auf den Straßen herumzutreiben, ihnen nicht in die Quere zu kommen. Damit tun sie mir sogar einen Gefallen, denn beim Herumschlendern könnte mich ja eine verirrte Kugel treffen. Aber so stehe ich sicher an der Mauer und kann ruhig und aufmerksam schauen und nachdenken — meinen Gedanken nachhängen. Und das tue ich auch. * 340

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In Myszyniec war ein alter, blinder Jude zurückgeblieben. Er schlurfte an seinem Stock zwischen Wagen, Pferden, Kosaken und Kanonen umher. Welche Grausamkeit, einen blinden Greis allein zurückzulassen. ‫ ״‬Sie wollten ihn schon mitnehmen", sagte Naścia — ‫ ״‬aber er wollte um keinen Preis fort, weil einer doch die Synagoge bewachen müsse." Ich lernte Naścia kennen, als ich ihr half, ein Eimerchen zu suchen, das ein Soldat ihr weggenommen hatte, der sich weigerte, es zurückzugeben. Ich bin beides — der blinde Jude und Naścia. * Es ist so weich und warm im Bett. Das Aufstehen wird mir schwerfallen. Aber heute ist Samstag — und am Samstag wiege ich die Kinder frühmorgens, vor dem Frühstück. Es ist wohl das erstemal, daß mich das Wochenresultat überhaupt nicht interessiert. Sie sollten eigentlich zugenommen haben. (Ich weiß gar nicht, warum es gestern zum Abendbrot rohe Möhren gab.) * An Stelle des alten Azrylewicz habe ich jetzt den jungen Julek bei mir. Er hat ein Ödem in der Hüfte. Und aus einem anderen Grunde auch Atembeschwerden. Das gleiche Stöhnen, dieselben Bewegungen und Gesten, der Groll gegen mich, das egoistische komödiantische Bemühen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; vielleicht sogar aus Rache, weil ich nicht an ihn denke. Heute hatte Julek die erste ruhige Nacht seit einer Woche. Ich auch. * Ich auch. Seit dem Augenblick, wo der Tag so viele feindliehe und düstere Eindrücke und Erfahrungen mit sich bringt — träume ich gar nicht mehr. Das Gesetz des Gleichgewichtes. Wenn der Tag midi quält, beruhigt mich die Nacht. Ein günstiger Tag beschert mir eine qualvolle Nacht. 34 *

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Ich würde gern eine Monographie über das Federbett schreiben. Der Bauer und sein Federbett. Der Proletarier und sein Federbett. * Ich habe die Welt schon lange nicht mehr gesegnet. In dieser Nacht habe ich es versucht — es ist mir mißlungen. Ich weiß nicht einmal, was ich falsch gemacht habe. Die erfrischenden Atemübungen sind einigermaßen gelungen. Aber die Finger sind kraftlos geblieben, die Energie ist nicht bis zu ihnen vorgedrungen. . . . Ob ich an einen Erfolg glaube? Ich glaube, aber nicht an mein Indien! Das heilige Indien! * Von Tag zu Tag ändert sich das Gesicht des Stadtviertels. 1. Gefängnis. 2. Verseuchte. 3. Balzplatz. 4. Irrenhaus. 5. Spielhölle. Monaco. Einsatz — der eigene Kopf. Das Wichtigste ist —‫ ־‬daß es all das schon einmal gab. Elende, die zwischen Zuchthaus und Krankenhaus lebten. Sklavenarbeit: das ist nicht nur die Anstrengung der Muskeln, sondern auch Ehre, Mädchenehre. Mißachtung von Glaube, Familie, Mutterschaft. Handel mit allen geistigen Gütern. Eine Börse, an der man notierte, wieviel ein Gewissen wert ist. Der Kurs — veränderlieh — heute für Zwiebel wie für ein Menschenleben. Die Kinder leben in ständiger Unsicherheit, in Angst. ‫״‬Der Jud' wird dich holen." ‫ ״‬Ich werde dich dem Alten mitgeben." ‫ ״‬Sie werden dich in den Sack stecken." Waisenschicksal. Alter. Seine Erniedrigung und sein moralischer Verfall. (In jener Zeit mußte man sich das Alter verdienen, es erarbeiten. Und die Gesundheit ebenso. Jetzt sind Kraft und Lebensjahre käuflich. Jeder Schuft hat eine Chance auf graues Haar.) 342

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Fräulein Esther. Fräulein Esther möchte weder ein lustiges noch ein leichtes Leben haben — aber ein schönes. Sie hinterließ uns bei diesem vorläufigen Abschied ‫״‬Das Postam t"41. Wenn sie jetzt nicht hierher zurückkehrt, dann treffen wir uns später woanders wieder. Wir sind gewiß, daß sie während dieser Zeit anderen so dienen wird, wie sie uns Gutes getan hat und nützlich gewesen ist. 4. August 1942 1.

Ich habe die Blumen begossen, die armen Pflanzen des Waisenhauses, eines jüdischen Waisenhauses. Die ausgedörrte Erde atmete auf. Ein Posten sah mir bei der Arbeit zu. Ob ihn diese meine friedliche Tätigkeit um sechs Uhr in der Frühe wohl reizt, oder rührt sie ihn vielleicht? Breitbeinig steht er da und schaut. 2.

Alle Bemühungen, Esther freizubekommen, sind gescheitert. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich ihr im Falle eines Erfolges wirklich genützt, oder ob ich ihr nicht vielmehr geschadet, Unrecht getan hätte. ‫ ״‬Wo ist sie in die Falle geraten?" — fragt jemand. Vielleicht ist gar nicht sie hineingeraten, sondern wir, die wir hierbleiben. 3· Ich habe an das Kommissariat geschrieben, daß sie Adzio fortschicken: er ist zurückgeblieben, bösartig und widerspenstig. Wir können nicht das ganze Haus wegen irgendeiner seiner unüberlegten Handlungen gefährden (kollektive Verantwortung). 41 Die Erzieherin Esther Winogron, Regisseurin der letzten Theateraufführung im ‫״‬Haus der Waisen", wurde gleich zu Anfang der Liquidation des Ghettos festgenommen und mit einem der ersten Transporte nach Treblinka geschickt.

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Zunächst eine Tonne Kohlen zur Dzielna-Straße — an Róża Abramowicz. Jemand fragt, ob die Kohlen dort auch sicher seien. Die Antwort ist ein Lächeln.

5· Ein trüber Morgen. Fünf Uhr dreißig in der Frühe Ein scheinbar normaler Tagesanfang. Ich sage zu Hanna: ‫ ״‬Guten Tag!" Sie antwortet mir mit einem verwunderten Blick. Ich bitte: ‫״‬Lächle doch." Es ist ein gequältes, blasses, schwerkrankes Lächeln. 6. Ihr habt getrunken, meine Herren Offiziere, ihr habt reich‫־‬ lieh getrunken und es hat euch geschmeckt, trotz eures Blutvergießens, — beim Tanz habt ihr mit euren Orden geklimpert, ein Hoch der Schande — ihr, die ihr sie in eurer Blindheit nicht gesehen oder so getan habt, als sähet ihr sie nicht.

7· Meine Teilnahme am russisch-japanischen Krieg. Fehlschlag ‫ ־־־‬Niederlage. Im europäischen Krieg — Fehlschlag — Niederlage. Im Weltkrieg . . . Ich weiß nicht, wie und als was sich der Soldat einer siegreichen Armee fühlen mag . . . 8

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Die Zeitschriften, deren Mitarbeiter ich war, wurden eingestellt, verboten, sie haben Bankrott gemacht. Der Herausgeber nahm sich das Leben, vollkommen ruiniert. Und all das nicht etwa, weil ich Jude bin, sondern weil ich im Osten geboren wurde. Es könnte ein trauriger Trost sein, daß es auch dem hochmütigen Westen nicht gut geht. 344

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Es könnte sein, aber es ist nicht so. Ich wünsche niemandem etwas Böses. Ich kann das nicht. Ich weiß nicht, wie man das macht. 9· Vater unser, der du bist im Him m el. . . Hunger und Unglück haben dieses Gebet gemacht. Unser täglich Brot. Brot. Aber das, was ich ertrage, ist doch wirklich gewesen. Es ist gewesen. Man hat Hausrat verkauft und Kleidungsstücke, für einen Liter Petroleum, ein Kilo Grütze — ein Gläschen Schnaps. Als ein forscher Pole mich im Polizeikommando wohlwollend fragte, wie ich durch die Blockade gekommen sei — fragte ich ihn, ob er nicht ‫ ״‬etwas" für Esther tun könne. ‫ ״‬Selbstverständlich nicht. " Ich sagte hastig : ‫״‬Danke für das gute Wort." Dieser Da*Jk ist die welke Frucht des Elends und der Erniedrigung. io. Ich begieße die Blumen. Meine Glatze am Fenster — ein gutes Ziel. Er hat einen Karabiner. Warum steht er da und betrachtet mich so friedlich? Er hat keinen Befehl. Vielleicht war er im bürgerlichen Leben Dorf Schullehrer, vielleicht Notar, Straßenkehrer in Leipzig oder Kellner in Köln? Was würde er tun, wenn ich ihm zunickte? Freundlich winken? Vielleicht weiß er gar nicht, daß es so ist, wie es ist? Vielleicht ist er erst gestern von weither gekommen . . .

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N A C H W O R T

1. Janusz Korczak als Erzieher Von Elisabeth Heimpel Jeder Erzieher fängt von neuem an. Er hat vielleicht Lehrer, aber keine Vorgänger; er kann Schüler haben, aber keine Nachfolger. Sein pädagogisches Werk ist unwiederholbar. Wie Pestalozzi, so hat Maria Montessori, wie Janusz Korczak, so hat A. S. Makarenko allein, oft ratlos und manchmal verzweifelt, mit Rückschlägen angefangen. Das heißt nicht, daß Korczak die pädagogische Literatur nicht gekannt und herangezogen habe. Im Gegenteil: er hat schon als junger Arzt und bis in die letzten Monate seines Lebens viel gelesen. Er kannte Rousseau, Pestalozzi (auch den damals fast vergessenen Stanser Brief), Marx, Nietzsche, Freud, die französische Literatur — Proust besonders, vielleicht Bergson. Seine Schriften sind voll von Zitaten aus der polnischen Dichtung und Romanliteratur; verhältnismäßig selten erwähnt er russische Literatur, obwohl er die russische Sprache selbstverständlich kannte wie er auch die französische, deutsche und wohl die englische Sprache verstand. Andererseits: jeder Erzieher, der hervorragende wie der unbekannte, ist auf das engste mit seiner Zeit verbunden. Nur aus ihr, ihren Krisen, ihrer Not, aus ihrer Vergangenheit und ihrer Sicht der Zukunft ist seine Arbeit, sind seine Gedanken zu begreifen und zu beurteilen. Die Pädagogik ist kein Werk menschlichen Tuns und Forschens, das eine Generation folgerichtig auf den Grundlagen der anderen weiterbauen kann. Es gibt keine Geschichte der Pädagogik im strengen Sinn der Kontinuität. Aber die Erziehung ist so tief in der jeweiligen Gegenwart verwoben, daß es kein Verständnis ihrer Systeme gibt ohne Verständnis der Geschichte. Das trifft bei Janusz Korczak in besonderem Maß zu. 346

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‫״‬Das Recht des Kindes auf Achtung" ist die wichtigste th e o retische Arbeit Korczaks nach seinem Buch ‫״‬Wie man ein Kind lieben soll". Deshalb haben wir sie an den Anfang dieses zweiten Bandes seiner Werke gestellt, dem sie den Namen gibt. Als ‫״‬Das Recht des Kindes auf Achtung", eine als Broschüre zusammengefaßte Vortragsreihe, 1928/29 erschien, war Korezak fünfzig Jahre alt. Er stand auf dem Höhepunkt seiner Arbeit und seines Ansehens als Pädagoge. Neben der Leitung von Dom Sierot, dem Haus der jüdischen Waisenkinder, führte er Nasz Dom, das von Maryna Falska geleitete Heim für polnische Arbeiterkinder, nach seinem System mit Hilfe der Kinder selbst, wie er es in seinem Buch zehn Jahre vorher beschrieben hatte1. Er hielt Vorlesungen im Institut für Spezielle Pädagogik und an der Freien Polnischen Hochschule. Er redigierte mit Kindern und jugendlichen Redakteuren die ‫ ״‬Kleine Rundschau", die er als Beilage einer großen Warschauer Wochenzeitung gegründet hatte; er arbeitete als Sachverständiger für Kinderfragen am Landgericht. 1923 wurde sein schönstes Kinderbuch ‫ ״‬König Hänschen 1" veröffentlicht. 1931 wurde die Komödie ‫ ״‬Der Senat der Tollköpfe" in einem Theater in Warschau aufgeführt. Die bittere Resignation der Komödie durchzieht damals seine Schriften, auch die Geschichte des Königs Hänschen und seines scheiternden Kinderstaates. Im ‫״‬Recht des Kindes auf Achtung" verdichtet sie sich zu einer Anklage gegen die Welt der Erwachsenen. Wenn in ‫״‬Wie man ein Kind lieben soll" die Möglichkeit einer rechten Erziehung gesucht wird, so wird jetzt deren Unmöglichkeit in der gegenwärtigen Welt aufgezeigt, in der Unredlichkeit und Gewalttätigkeit der Erwachsenen untereinander, in ihrem gedankenlos autoritären Verhalten den ungeschützten Kindern gegenüber — in der Mißachtung der Rechte des Kindes. Korczak entwickelt seine Gedanken in ähnlicher Folge wie in seinem ersten Buch, aber verkürzt, komprimiert, in einer schärferen Sprache und jetzt vom Standpunkt des Kindes und seiner Rechte aus. Wie er hier die marxistischen Begriffe der unterdrückten und der unterdrückenden Klasse auf Kinder und 1 Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll. 2.AufL, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969; im folgenden zitiert als Band I.

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Erwachsene anwendet, so verwendet sie in einer seltsamen Gleichzeitigkeit Maria Montessori in Italien. Man muß Korczaks beide Schriften nebeneinander halten, um seine Theorie der Erziehung kennen zu lernen — oder richtiger: um aus seinen Fragen nach der kindlichen Entwicklung, aus seinen Beobachtungen und Erfahrungen den Weg des Erziehers und die Weise seines Einwirkens zu entdecken. ‫ ״‬Wie man ein Kind lieben soll" beginnt mit Fragen; die meisten Abschnitte enden mit Fragen. ‫״‬Die große Synthese des Kindes", die sich schon dem jungen Arzt in der Pariser Bibliothek als Ziel seiner Forschungen abzeichnete, bleibt offen. Sie blieb immer offen. Das forschende Fragen ohne Abschluß ist das Hauptelement der Korczakschen Arbeitsweise. Das mag seinem Begriff des unaufhörlich sich wandelnden, nie ganz zu fassenden Lebens als Weise des Seins (Bergson) entsprechen. Den wissenschaftlichen Stil des Fragens hatte Korczak schon in seinem ersten Buch ausgebildet. Diese nur ihm eigentümliche Methode des Forschens vereint das, was man heute ‫ ״‬teilnehmende Beobachtung" nennt, mit der analysierenden Methode des Mediziners, mit der exakten Erfassung der Symptome, dem Zurückführen der Symptome auf ihre Ursachen, mit dem Vergleich und der Statistik. Noch bis in die letzten Wochen des Waisenhauses im Ghetto setzte Korczak das regelmäßige Wiegen und Messen des Wachstums seiner Kinder fort; bis zuletzt notierte er wie seit Jahren die täglichen Ereignisse, die Veränderungen der Entwicklung und die Krankheiten. Empirisch-hermeneutisch, durch Beobachtung und Vergleich erwarb er die Kenntnis des Kindes, der Stufen und Krisen kindlicher Entwicklung. Auf demselben Weg erwuchs sein System der Erziehung, das eben so offen blieb wie jene. Schon die ScKlägereikurve in der Sommerkolonie, dem Ort der ersten Erziehungsversuche des jungen Arztes, ist ein originelles und zugleich typisches Beispiel für die Korczak eigene Verknüpfung von forschendem Interesse und pädagogischer Einwirkung. Die Schlägereien unter den Kindern werden gezählt und ihre Häufigkeit in einer Kurve anschaulich gemacht; die Kurve wird ausgehängt. In Versammlungen wird sie zwischen Erziehern und Kindern immer wieder besprochen. Das gemeinschaftliche 348

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Sich-Bewußtwerden hilft zu Solidarität, erweckt die Verantwortung der Kinder untereinander und erhöht ihr Selbstbewußtsein. Die Schlägereien nehmen ab. (Band I, S.271; man vergleiche auch den an einen einzelnen Jungen gerichteten Rat: ‫״‬Du bist jä h z o rn ig ..." Band I, S.58 und den Abschnitt ‫ ״‬Schlägereien" in ‫ ״‬Fröhliche Pädagogik" in diesem Band, S. 179 ff.) Die zweite Quelle für Korczaks Pädagogik ist die Erfahrung der eigenen Fehler. Wie Pestalozzi auf dem Neuhof und in Stans, wie Makarenko gegenüber seinen jugendlichen Rechtsbrechern, so beginnt Korczak seinen Weg als Erzieher mit Niederlagen. Im Gegensatz zu Makarenko jedoch, der, sein politisches Ziel vor Augen, überzeugt ist, die Fehler des Anfangs endgültig ausschalten zu können, geht er einen Weg pädagogischer Selbstkritik, der nicht endet. Im zweiten und dritten Teil von ‫ ״‬Wie man ein Kind lieben soll", in ‫ ״‬Das Internat" und ‫ ״‬Sommerkolonien" beschreibt Korczak seine Erfahrungen mit Kindergruppen, sein pädagogisches Versagen, seine Fehlgriffe und Irrtümer. Er zeigt dem jungen Erzieher, an den er sich in diesem Abschnitt wendet, nicht nur, was man alles falsch macht und falsch machen kann, sondern auch, wie man aus den eigenen Fehlem, sie mühevoll und vorsichtig verarbeitend, lernt, es besser zu machen — ein Pädagogenspiegel eigener Art. Der Niederschlag dieser pädagogischen Selbstkritik und des Forschens nach Art und Entwicklung des Kindes ist die Organisation des Warschauer Waisenhauses — Korczaks praktischpädagogisches Lebenswerk. Er nennt es ‫ ״‬ein Werk der Kinder" — ‫״‬Hausherr, Mitarbeiter und Leiter des Hauses wurde das Kind" (Korczak, Bd. I, S.286). Aber ebenso unverkennbar, wie die Organisation der Gorki-Kolonie von Makarenko geprägt war, so trägt Dom Sierot den Stempel seines Leiters. Die Selbstverwaltung oder richtiger: die verantwortliche Mitverwaltung der Kinder in Heimen jeglicher Art ist ein die europäischen Länder und Nordamerika übergreifendes Prinzip der pädagogischen Reform in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Von Anfang an gehörten die gemeinsamen und gemeinsam entscheidenden Beratungen von Erziehern und Kindern, die 349

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gewählten Zimmer- und Gruppensprecher, die gemeinsame Verteilung der Arbeit in ‫ ״‬Tagesdienste", die jeweilige Verantwortung der ‫ ״‬Diensthabenden" zu den festen Einrichtungen des Waisenhauses. Hier sollen nur zwei Züge hervorgehoben werden, die Korczak und sein Kinderheim besonders charakterisieren. Das eine ist die Bedeutung des geschriebenen Wortes. Für wie wichtig Korczak die von Kindern geschriebene und redigierte Zeitung hielt, zeigt der Aufsatz über die Schulzeitung in diesem Band. Das zeigen die nie unterbrochenen Folgen der beiden Intematszeitungen, für die Korczak jede Woche einen Artikel schrieb, das zeigt schließlich die Gründung und Herausgäbe der ‫ ״‬Kleinen Rundschau". Aber auch die Wandtafel mit Nachrichten, Ankündigungen und Kurven, die Gerichtstafel, der Briefkasten, die Tagebücher der Kinder und der Erzieher sind keine zusätzlichen Einrichtungen, sondern es sind wesentliehe pädagogische Elemente im Waisenhaus. Sie helfen dem Kind wie dem Erwachsenen zu einer freieren und ruhigeren gegenseitigen Verständigung, freier von Scheu und Furcht, geschützter vor Distanzlosigkeit und Gefühlsausbruch durch den Abstand, den das geschriebene Wort schafft. Sie dienen der Information und sollen Fragen wecken. Die Mitarbeit an der Zeitung, das Tagebuchführen helfen dazu, die eigene innere Welt auszudrücken und sich über sich selbst klar zu werden. Man muß das rührende schriftliche Gespräch zwischen einem neunjährigen schwierigen Jungen und seiner zwölfjährigen ‫״‬Betreuerin" lesen, um zu begreifen, welche pädagogische Kraft der Kinder hier hervorgerufen wurde (Band I, S. 298ff.). Daß diese Möglichkeit des schriftlichen Ausdrucks viele Jahre später in dem immer härter eingeschränkten Leben der jüdischen Rinder im Ghetto als der einzige Raum der Freiheit fast lebensnotwendig werden konnte, zeigen die Stellen aus deren Tagebüchern, die Korczak in seinen ‫ ״‬Erinnerungen" abschrieb und die uns dadurch erhalten geblieben sind (Ѕ.317Ѓ.; vgl. auch

S-324)· Die zweite Eigentümlichkeit in der pädagogischen Organisation des Waisenhauses ist die zentrale Stellung des Gerichtes. Das Kameradschaftsgericht institutionalisiert im Dom Sierot das Recht des Kindes auf Achtung (Band I, S.304ff.). 350

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Erwachsene und Kinder sind vor seiner Autorität gleich. Schon darin unterscheidet es sich von den Schülergerichten der pädagogischen Reformzeit in Deutschland. In Berthold Ottos Hauslehrerschule (1914), in Karl Wilkers Berliner Erziehungsheim ‫״‬Der Lindenhof" (1917) übernehmen die Kinder das Strafrecht der Lehrer und Erzieher. Sie beurteilen und bestrafen die ‫״‬Verstöße gegen die Interessen des Heims". Wie die VollverSammlung in Makarenkos Kollektiven gehen die deutschen Jungengerichte von der gestörten Ordnung der Gesamtheit aus; deren Verletzung wird beklagt, verurteilt und — oft hart — bestraft. Das Gericht des Waisenhauses jedoch ist zuerst der Ort, an dem das einzelne Kind anklagen kann und sein Recht finden soll. Es kann klagen, wenn es sich unrecht behandelt, beleidigt oder übervorteilt glaubt. Das Gericht ist zuerst eine Stätte der Gleichberechtigung und des Schutzes. Es ist zweitens ein Ort des VerStehens und der Verzeihung. Die ersten hundert Paragraphen verzeihen die Vergehen, die unter sie fallen. Sie sind so verschieden begründet, daß die jugendlichen Richter genau unterscheiden müssen, ob und warum die Täter im Umgang untereinander unrecht gehandelt oder gegen die (wenigen) Regeln des Hauses verstoßen hatten und warum ihnen verziehen werden müsse. Das Gericht ist schließlich ein Ort der Aufforderung zu Selbstbestimmung und zu Selbstdisziplin. Die Kinder können nicht nur anklagen, sondern sie können ihre Klagen, die auf der Gerichtstafel aushängen, wieder zurückziehen. ‫ ״‬In unserem Kodex gibt es den Paragraphen eins. Der erste Paragraph besagt: ,Die Klage wurde zurückgezogen.' Das bedeutet, daß derjenige, der die Anzeige gemacht hat, von sich aus verzeiht. Von allen Paragraphen kommt dieser am häufigsten vor" (Band I, S.319). Die Kinder wie die Erwachsenen können sich selbst anzeigen, sei es auf eine schriftliche Aufforderung, sei es spontan. ‫ ״‬Ich selbst habe mich im Verlaufe eines halben Jahres fünfmal dem Gericht gestellt. . . Ich behaupte mit aller Entschiedenheit, daß diese wenigen Fälle Grundstein meiner eigenen Erziehung zu einem neuen ,konstitutionellen' Pädagogen waren, der den Kindern kein Unrecht tut, nicht weil er sie gern hat oder 351

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liebt, sondern weil eine Institution vorhanden ist, die sie gegen Rechtlosigkeit, Willkür und Despotismus des Erziehers schützt" (Band I, S.353). Ein Parlament des Waisenhauses, der Sejm, wird erst ein paar Jahre später gegründet. In ‫״‬Wie man ein Kind lieben soll" spricht Korczak von ihm als von einem noch neuen Versuch der Selbstverwaltung, der seine Befugnisse nur langsam und vorsichtig erweitern werde und der ‫״‬keine Spielerei mit einer Selbstverwaltung" werden dürfe (Band I, S.354). Wir kennen die Veränderungen nicht, welche die Organisation des Waisenhauses in den Jahren nach der Veröffentlichung von Korczaks Buch, nach 1920 etwa, erfuhr. Die meisten der zahlreichen Quellen, die Internatszeitungen, die Protokolle und Tagebücher der Erzieher und der Kinder, die Kurven, Dokumente der Weiterentwicklung des Kinderparlaments und des Kalenders mit seinen lustigen Festtagen, die Erinnerungsund Gedenkpostkarten wurden im Untergang von Dom Sierot vernichtet. Jedoch die Aufzeichnungen von Igor Newerly und das schöne, viele Einzelheiten wiedergebende Erinnerungsbuch von Hanna Mortkowicz-Olczakowa2 bezeugen die stete, lebendige Weiterentwicklung dieses Warschauer Kinderstaates, der sich, wie ein Brief nach Deutschland aus dem Jahre 1928 sagt, hervorragend bewährte. Zuletzt darf die eigenste Gabe Korczaks nicht vergessen werden, seine Phantasie. Schon der Student der Medizin war als Märchenerzähler von den Kindern seines Wohnviertels gesucht und geliebt. Der Dichter schöner und origineller Kinderbücher wurde auch zum Dichter des Kindes. Korczak kann exemplarisch erzählen. Unser Band bietet dem Leser zwei Beispiele: die früh geschriebene Skizze ‫״‬Eine 2 Igor Newerly, Einleitung in Band I, S. VII ff. — Hanna MortkowiczOlczakowa, Ianusz Korczak, Verlag Anton Pustet, 2.Aufl. München und Salzburg 1967. Sie bringt aufschlußreiche Zitate aus Briefen K.s an seine Freunde und Schüler in Palästina, vor allem nach K.s zweiter Palästinareise 1936, als er seine Einwanderung nach Palästina erwog. Diese Briefe sind in Israel vereinzelt (hebräisch übersetzt) veröffentlicht, z. T. auch verloren. — Letzte Nachrichten über K. im Ghetto bringt Michael Zylberberg in: A Warsaw Diary 1939—1945, Vallentine, Mitchell, London 1969; Kapitel 2: Janusz Korczak, Kapitel 3 : The Golden Chain und Kapitel 6: An Orphanage Concert.

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Unglückswoche" und die ‫ ״‬Fröhliche Pädagogik", seine letzte Veröffentlichung. Sie besteht aus Niederschriften der schon namenlos gesendeten ‫ ״‬Radioplaudereien eines alten Doktors" 3, Sendungen des Warschauer Radio unter dem dunklen politisehen Himmel der letzten Jahre vor dem deutschen Krieg gegen Polen. Der Glanz dieser Phantasie muß das Waisenhaus mit Freude und Überraschungen erfüllt haben trotz der nie ganz überwundenen Knappheit der Geldmittel und trotz der sich nach 1930 wieder verschärfenden Einschränkungen, die nach dem Ausbruch des Krieges rasch zu bitterer Armut wurden. Eine Fülle fröhlicher und nachdenklicher Einfälle stecken hinter allen Einrichtungen und Kundgebungen im Dom Sierot bis zu der unpedantischen Ernsthaftigkeit der Gerichtsparagraphen. Nach der Eroberung Warschaus hatte sich Korczak für sein Waisenhaus eine grüne Fahne sticken lassen, die Fahne der Hoffnung des Kinderkönigs Hänschen I. (Vgl. H. MortkowiczOlczakowa, S.219 und S.154.) Sie begleitete als Zeichen der Unbesiegbarkeit der pädagogischen Phantasie dieses großen Erziehers im äußersten Moment von Untergang und Tod — so darf man es vielleicht ausdrücken — den Zug der Kinder auf den Verladeplatz des Ghettos am 5. August 1942.

2. Janusz Korczak — Tradition, Umwelt und Zeitgeist Von Hans Roos Das Verhältnis von Janusz Korczak zu seiner Zeit erschließt sich wohl am tiefsten aus der Frage, ob er der polnisehen Nation angehörte —die vor der Staatsgründung von 1918 zweifellos bestand, gerade weil sie zuvor ein Jahrhundert lang staatenlos und geteilt war — oder der jüdischen geschichtlichen Gemeinschaft, die erst einige Jahre nach seinem Tode sich als Nation im Staate Israel konstituieren sollte. Diese Frage ist um einer ‫״‬Biographie" willen kaum erheblich. Sie ist indessen dar3 Die Radiosendungen (1935) wurden trotz ihrer Beliebtheit infolge des sich verschärfenden Antisemitismus nicht mehr unter Korczaks Namen, sondern nur noch als ‫״‬vom alten Doktor" gesendet.

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um von einigem Gewicht, weil sie das geistige Gefüge Korczaks in seiner Zeit, seine gesellschaftliche und politische Denkungsart, das Ethos seines Handelns und mithin die Gesamtheit der wechselseitigen Bezüge Korczaks zu seiner Umwelt, zum Geiste seiner Zeit zu erhellen vermag. Nach den überlieferten Prinzipien deutschen Volks-Verstandnisses beantwortet sich diese Frage einfach genug. Korczak selbst, seine beiden Eltern und alle vier Großeltern waren jüdischer Abstammung und mosaischer Konfession — und damit war die wichtigste Voraussetzung für sein ‫״‬Judentum" erfüllt: das als ‫ ״‬objektive Kategorie" geltende Kennzeichen der Herkunft. Der deutsche Begriff des ‫״‬Volkstums", einstmals von Herder, der jungen Romantik und schließlich auch von Hegel als eine der Geschichte vorgegebene, gleichsam schon der Schöpfung der Welt aufgeprägte Entelechie gedacht, hatte zu LebZeiten Korczaks längst schon jene Rückbildung und Vergrüberung erfahren, welche allein noch die biologische Kontinuität, die Feststellung nach ‫ ״‬völkischer" oder gar ‫ ״‬rassischer" Herkunft als konstitutiv gelten lassen wollte. Hatte Heinrich von Treitschke schon im vermutlichen Geburtsjahr Korczaks (1879) davon sprechen können, daß die deutschen Juden im Grunde nur ‫ ״‬deutsch redende Orientalen" seien, so stellte Korczak selbst kurz vor seinem Tode (1942) mit vollem Recht fest, das deutsche Volks-Programm erschöpfe sich nunmehr darin, zu ‫ ״‬sammeln, was sich ähnelt in Haut- und Haarfarbe, Nasenform, Schädelmaßen oder Beckendurchmesser". Diese Deutung des Volksturns mußte für Korczak um so erheblicher sein, als die Anschauungen Treitschkes, des rechten Flügels der deutschen National-Liberalen und der Alldeutschen — wenn auch mit Sicherheit nicht die des Nationalsozialismus — von der polnisehen National-Demokratie seit 1898 gerne übernommen wurden. In der Zwischenkriegszeit hatte sich Korczak ständig mit den Argumenten Treitschkes im Munde polnischer Nationaldemokraten auseinanderzusetzen, und es mußte ihn tief treffen, wenn ihm in solchen Streitgesprächen gesagt werden durfte: ‫״‬Ein Jude, und sei er auch ein aufrichtiger Patriot, ist bestenfalls ein guter Warschauer oder Krakauer, nie aber Pole." So war es kaum überraschend, wenn sich Korczak im letzten Jahrzehnt seines Lebens stärker als zuvor auf sein Judentum besann. Er 354

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reiste zweimal — 1934 und 1936 — nach Palästina, um die ‫״‬bittere Schönheit" dieses Landes und die ‫ ״‬Dynamik und Technik der Chaluzim" kennenzulemen, welche die Geburt des Staates Israel herbeizuführen suchten. Im Warschauer Ghetto (1941—1942) befürwortete Korczak entgegen allen Erwartungen das Jiddische als Schulsprache für sein Kinderheim, und er konnte damals geradezu sagen: ‫ ״‬Wir Juden." Unter diesen Umständen fehlte es nicht an posthumen Deutungen seines Lebens und Handelns, das erst mit seinem ‫״‬jüdischen Märtyrertod" im Vernichtungslager von Treblinka seine letzte Legitimation finden sollte. Wesentlich war auch der Umstand, daß mit der Gründung des Staates Israel (1948) eine historiographische Schule mächtig zu werden begann, die im Sinne des Zionismus die jüdische Assimilation als Irrweg ablehnte und daher nicht mehr von ‫ ״‬Polen" mosaischer Konfession, sondern von ‫ ״‬Juden" polnischer Sprache sprach und lehrte. Auch diese Schule geriet — wenn auch von der umgekehrten Position her — in die bedenkliche Nähe der Abstammungskategorien Treitschkes. Insofern stellte es nur eine spirituelle Verfeinerung solcher Denkweisen dar, wenn manche Forscher in Korczak gleichsam den ‫״‬letzten chassidischen Heiligen" gemäß dem ursprüngliehen Chassidismus des 18. Jahrhunderts oder der Legenden Martin Bubers erblickten. Für derartige Urteile waren freilich auch in der Geschichte des polnischen Judentums wirkliche oder scheinbare Belege zu finden. Die jüdische Gemeinschaft in der historischen Polnischen Republik — die im 18. Jahrhundert mehr als die Hälfte aller Juden der ganzen Welt umschloß — bildete bis 1765/1795 hin eine eigene ‫ ״‬Generalität der Jüdischen Nation", einen besonderen Personalverband also, der mit den schönsten in der modernen Geschichte überhaupt bekannten Autonomie-Rechten ausgestattet war. Die stillschweigende innere Zusammengehörigkeit dieser ‫ ״‬Generalität" und die gegenseitige Loyalität ihrer Mitglieder galt vielfach noch bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkriege. Dafür legte die Bezeichnung ‫ ״‬Consensus" (hebräisch und polnisch: Kahal) für die jüdische Gemeinde ebenso Zeugnis ab wie der Sachverhalt, daß die MinderheitenSchutzverträge, die der zweiten Polnischen Republik 1919 einseitig auferlegt wurden, vorzüglich von den Interessen und 355

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Überlieferungen des Judentums in Polen präformiert waren. So verstanden sich mehr als vier Fünftel der jüdischen Einwohner Polens noch nach dem Ersten Weltkrieg als eine eigene ‫ ״‬Nationalität", die mit ihrer eigenen ‫״‬jüdischen" Sprache und Kultur, mit eigenen Schulen und Hochschulen, mit eigenen Parteien und Vereinigungen gleichsam eine eigennationale ‫״‬Gesellschaft in sich selbst" bildeten. Gewiß gab es in Polen seit 1815 eine immer stärker werdende Schicht von jüdischen ‫״‬Assimilatoren", die gemäß den Losungen der Französischen Révolution um der individuellen Bürgerrechte willen die jüdische ‫״‬Nationalität" mit dem Bekenntnis zur polnischen Nation vertauscht hatten, also mit der Rezeption der polnischen Sprache zugleich vollberechtigte polnische Bürger mosaischer Konfession nicht allein dem Rechts-Status nach, sondern auch der Gesinnung nach geworden waren. Andererseits war aber schon seit etwa 1890 die Gruppe der ‫״‬Neo-Assimilatoren" entstanden, die unbeschadet der Übernahme der polnischen Sprache die jüdische kulturelle Eigenart zu bewahren versuchten. Hier stellte sich das Problem der ‫ ״‬doppelten Loyalität" in voller Schärfe. Hier war in der Tat zu fragen, ob das polnische Judentum zu Lebzeiten Korczaks mit dem ursprünglich deutschen, scheinbar objektiven Verständnis eines Volkstums zu messen war, das kollektiv und naturgebunden war und in seiner feinsten Sublimierung sogar spirituell als ‫ ״‬objektive Idee" definiert werden konnte, dem einzelnen Menschen jedoch keinerlei Wahl ließ. Dagegen konnte eine Auffassung gesetzt werden, in der allein das subjektive und individuelle Bekenntnis zur Nation Gewicht hatte, das der biologischen Kategorien entraten konnte und seine Legitimität allein aus dem politischen Handeln schöpfte. Diese Deutung, die in der Nation einen Sammelverband politisch tätiger Staatsbürger sah, leitete sich herkömmlich aus dem französischen Nationsverständnis ab; so war es auch ein Theoretiker wie Emest Renan, der in der Auseinandersetzung mit Treitschke das nachmals berühmte Wort prägte, das Bekenntnis zur Nation sei ‫ ״‬un plebiscite de tous les jours" ihrer politischen Bürger. Diese Begriffsbestimmung der ‫״‬Nation" mußte für die Polen — wie auch für die jüdischen Assimilatoren — tiefer greifen und wesentlicher sein als jede andere. Schließlich hatte die polnische Nation schon zwei Jahr356

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hunderte vor der Französischen Revolution die parlamentarischdemokratische Gleichheit und Freiheit ihrer politischen Bürger praktiziert, schließlich hatte sie schon 1791 die erste kodifizierte Verfassung des nichtantiken Europa überhaupt geschaffen, und schließlich waren sich alle politischen Richtungen des Polentums und polnischen Judentums schon 1892—1918 darin einig, daß ein wieder zu schaffendes polnisches Staatswesen nur eine demokratische Republik mit allen dieser eigentümliehen Freiheitsrechten sein dürfe. Die wenigen der Vernichtung entgangenen Zeugnisse, die über das politische Bekenntnis von Janusz Korczak Auskunft geben können, sagen übereinstimmend aus, daß er sich unbeschadet seiner mosaischen Konfession von seiner Kindheit an bis zu seinem Tode in nationaler Hinsicht weniger als ‫״‬Jude", sondern viel eher als ‫ ״‬Pole" verstanden hat. Für sein Bekenntnis zur polnischen Kultur-Nation sorgte schon die Herkunft aus einer in der dritten Generation assimilierten Warschauer Patrizier-Familie, die ihn von Kindheit an die große klassische und romantische Literatur des Polentums lieben lehrte. Eltern und Großeltern gehörten zu jener Gruppe der mosaischen Einwohner Warschaus, die sich als ‫ ״‬Polen" bezeichneten und nach der Volkszählung von 1921 — übrigens der einzigen VolksZahlung in Polen, die nicht nach dem scheinobjektiven Kriterium der Sprache, sondern nach dem subjektiven Selbstbekenntnis der Betroffenen fragte — schon 61000 Menschen zählte, also rund 19% aller mosaischen Einwohner der polnischen Hauptstadt. ‫ ״‬Warschau ist mein, und ich bin sein", bekannte Korczak in unbedingter Liebe zu seiner Vaterstadt, und kurz vor seinem Tode konnte er geradezu sagen: ‫ ״‬Ich bin Warschau." Der Glanz und die ungemeine innere Werbekraft der Warschauer Gesellschaft hatte sich schon an seinen mütterliehen Vorfahren bewiesen, die mit dem Namen ‫ ״‬Gembicki" einen berühmten, meistens mit dem Wappen ‫ ״‬Nałęcz" verbundenen Adelsnamen angenommen hatten; daß Korczak selbst schon als Student seinen bürgerlichen Namen ‫״‬Henryk Goldszmit" mit dem von Kraszewski entlehnten Kryptonym ‫ ״‬Janusz Korczak" vertauschte, der an die alte und berühmte Wappengemeinschaft ‫ ״‬Korczak" erinnerte, wies in dieselbe Richtung. Diese Kultur-Identität Korczaks mit dem Polentum 357

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ging sicher nicht dahin, daß er die seit etwa 1887 spürbare Ver‫*־‬ härtung des polnschen Nations-Ideals im polnischen Volkstum (narodowość), dessen simple Gleichsetzung der Begriffe ‫ ״‬Polak" und ‫ ״‬Katolik", angenommen oder gar begrüßt hätte; seit einem Kindergespäch mit dem katholischen Hausmeisterssohn wußte er, daß er Jude war und folglich nach seinem Tode nicht in das Paradies der Polen, in das Reich der Allerheiligsten Jungfrau Maria, der Königin der Krone Polens, eingehen werde. Andererseits lebte in seinem Elternhaus die große Überliefe‫־‬ rung der polnisch-jüdischen Verbrüderung von 1861—1863, die ‫ז‬ der berühmte Groß-Rabbiner von Warschau, Dow Ber Meiseis, zur gemeinsamen Abwehr der zaristischen Autokratie und ihrer Russifizierungsbestrebungen zustande gebracht hatte; Korczak wußte, wieviele Juden in der konspirativen polnischen ‫״‬National-Regierung" von 1863—1864 an leitender Stelle tätig gewesen waren, und nicht allein ihr Finanzminister, der getaufte Jude Baron Leopold Kronenberg. Das britische Pariamentsmitglied Francis Goldschmidt, das 1863 eine viel beachtete Parlamentsrede zugunsten der polnischen Insurgenten hielt, war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein entfernter Verwand ter; so dürfte selbst der Umstand, daß der französische Philosoph Henri Bergson väterlicherseits dem Warschauer jüdischen Patrizität entstammte, Korczak zur Lektüre seiner Werke erstmalig angeregt haben. Es war daher bezeichnend, daß Korczak niemals daran dachte, sich einer der zahlreichen jüdischen Organisationen anzuschließen, welche die politische und kulturelle Sonderung der Juden in Polen betrieben, obgleich diese alle zu einer Zeit entstanden, als er noch ein junger Mann war. Für ihn kamen die Gruppen der konservativen ‫ ״‬reinen" Orthodoxie ebensowenig in Frage wie die Richtung der ‫״‬Trennungs-Orthodoxie", die während des Ersten Weltkrieges von der deutschen Besatzungsverwaltung und von deutschen Rabbinern propagiert wurde und später als ‫״‬Agudas Iisroel" eine mächtige Massenpartei werden sollte. Dem Zionismus aller sozialen und politischen Strömungen stand Korczak trotz seiner Reisen nach Palästina innerlich fremd gegenüber. Auch die Partei der jüdischen ‫ ״‬Folkisten", welche die Emigration ablehnte und in der personalen, national-kulturell bestimmten Autonomie des jüdischen ‫״‬Folks" daheim in Polen ihr Ziel sah, 358

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besaß keine Anziehungskraft für ihn. Nicht einmal dem ‫ ״‬Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund für Polen und Rußland", kurz ‫ ״‬Bund" genannt, vermochte Korczak Interesse abzugewinnen, obschon er doch mit dem ‫״‬Bund" immerhin in der sozialistischen Überzeugung hätte übereinstimmen können. In seinem kulturellen und politischen Bekenntnis war Korczak kein Jude; das war bei einem Manne, der ‫״‬jiddisch" zwar verstand, aber nicht sprach, und der das Hebräische trotz aller Bemühungen nicht zu erlernen vermochte, in keiner Weise überraschend. Die besondere, ja fast einmalige Beziehung Korczaks zur polnischen Sprache ging weit darüber hinaus, daß sie die Sprache seines Elternhauses, seiner Kindheit und Jugend und seiner frühen literarischen Entdeckungen war. Die polnische Sprache kennt die gemütsgebundene, für die deutsche Romantik und ihre ‫ ״‬Volks-Nation" so wesentliche Bedeutung einer ‫״‬Muttersprache" nicht; so konnte Korczak in seinen Tagebüchern von 1942 auch treffend bemerken: ‫״‬Die polnische Sprache hat kein Wort für ,Heimat'." Für Korczak —‫ ־‬wie für alle Polen — war jene Fassung des Sprachbegriffs maßgebend, die in der polnischen Sprache eine ‫ ״‬Vatersprache" (język ojczysty) oder vielmehr sogar eine ‫״‬Vaterlandssprache" sah. Hier war und ist eine begriffliche Fassung vorgegeben, welche die ‫״‬lingua materna" nicht kennt, die ‫״‬lingua vulgaris" oder auch die ‫ ״‬lingua naturalis" Herders als ungenügend betrachten muß und lediglich in der ‫״‬lingua nationalis" den vollen ‫ ־־־‬auch politischen — Wert der Sprache erkennt. Das Bekenntnis zur polnischen Sprache und ihrer literarischen Kultur war mithin für Korczak von Anfang an eine politische Manifestation, und dies war angesichts der gewaltsamen Denationalisierungspolitik des Russischen Reiches gegenüber dem Polentum ‫ ־־‬die preußische Sprachenpolitik war im Grundsatz der russischen gleich, wenn auch nicht ganz so brutal — nur allzu verständlich. Korczak wurde schon als Kind auf dem — kaiserlich-russischen und russischsprachigen — Gymnasium in Praga mit dieser Politik sprachlicher Vergewaltigung konfrontiert, als er das polnische Alphabet auf russische Manier hersagen sollte; der furchtbaren, geradezu existentiellen Angst des jungen Gymnasiasten, im russischsprachigen Diktat nicht zu 359

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bestehen, gab er später in seiner Erzählung ‫ ״‬Die Unglückswoche" erschütternden Ausdruck. Mit solchen Praktiken, welche die vaterländische Sprache gleichsam zu einer Fremdsprache degradierten, vollzog das russische Unterrichtswesen mehr als nur eine grobe Verletzung der patriotischen Empfindungen. Hier wurde eine Entfremdung der Gefühle, Gedanken und Worte des jungen Menschen unternommen, eine Mißachtung der Menschenwürde schlechthin, die schon Herder in schärfster Weise als ‫ ״‬geistigen Mord" verurteilt hatte. In diesem Jugenderlebnis bildete sich eines der stärksten Motive dafür, daß Korczak über die patriotische Gesinnung hinaus schon früh zum Sozialismus fand —wenn auch zu jenem polnischen Sozialismus ‫ ״‬sui generis", der das Eigenrecht und das Eigenleben der Gesellschaft gegenüber dem Machtapparat der Autokratie zu behaupten versuchte. Hier war der Vereinigungspunkt, in dem sich der Patriotismus und der Kosmopolitismus des jungen Korczak ohne inneren Widerspruch verbinden ließen. So kam Korczak zu einer Grundanschauung, die es ihm leicht machte, den engstirnigen und bornierten ‫״‬Nationalismus" der NationalLiberalen oder der National-Demokraten seiner Zeit ebenso abzulehnen wie den exaltierten Doktrinarismus der radikalen Linken, welche die Wirkungskraft patriotischer Ideen überhaupt leugnete. Für diese Erkenntnis einer notwendigen, um der Entfremdung willen unerläßlichen Synthesis von patriotischen, sozialen und humanen Ideen fand Korczak später, in seinen ‫ ״‬Regeln des Lebens", das ganz schlichte Wort: ‫ ״‬Die größte Sehnsucht aber hat der Mensch nach seinem Vaterlande." Mit den großen politischen Bewegungen des Polentums kam Korczak um 1898—1903 in Berührung, als er sein medizinisches Fachstudium an der — ebenfalls russischsprachigen und daher von vielen Polen gemiedenen — Universität Warschau absolvierte. In ähnlicher Weise wie der später von Korczak gem gelesene Maxim Gorki, der seine soziale Lehrzeit in der Erzählung ‫ ״‬Meine Universitäten" schilderte, lernte der junge Mediziner die Not und das Elend des proletarischen Warschau während seiner Studienzeit gründlich kennen. Die Einweisung seines Vaters in ein Irrenhaus und die vollkommene Verarmung seiner Familie zwangen ihn während seines Studiums 360

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zu einem Broterwerb, der ihn oft in die schlimmsten Viertel der Warschauer Altstadt führte. Zugleich waren damals schon die drei großen politischen Parteien tätig, welche das politische Leben der polnischen Zwischenkriegszeit maßgeblich bestimmen sollten: die polnische ‫״‬National-Demokratie" (Endecja) als Sammelbewegung der eingewurzelten adelig-bürgerlichen Intelligenz, die ‫ ״‬Polnische Sozialistische Partei" (PPS), welche die Mehrheit der Industrie-Arbeiterschaft repräsentierte und von Marx selbst mächtige patriotische Impulse empfangen hatte, und schließlich die ‫ ״‬Sozialdemokratie des Königreichs Polen" (SDKP), die mit ihrer extrem internationalistischen, vornehmlich von Rosa Luxemburg geformten Doktrin später den Nährboden für die Kommunistische Partei Polens abgeben sollte. Diese Parteien waren ungeachtet dessen, daß sie wegen des grundsätzlichen Verbotes politischer P a rtie n im Russischen Reiche illegal und konspirativ arbeiten müßten, doch schon mächtige Motoren der öffentlichen Meinung und vornehmlich der Anschauungen der Studentenschaft. Politische Aktionen der akademischen lugend gegen das System des Zarismus, wie sie seit 1891 an der Tagesordnung waren, aber auch die zahlreichen Auseinandersetzungen der einzelnen politischen Gruppen untereinander ließen Korczak damals die Notwendigkeit politischen Handelns erkennen. Die Wahl konnte für ihn freilieh nicht leicht sein. Die National-Demokratie verbot sich für ihn von selbst, da sie damals unter dem Einfluß von Roman Dmowski anfing, um der künstlichen Schaffung eines polnischen ‫ ״‬tiers état" willen das polnische Judentum anzufeinden, das die Mehrheit der bürgerlichen Berufe beherrschte; dieser ‫ ״‬soziale Antisemitismus" fand manchmal, obschon er religiöser oder rassischer Rechtfertigungen ganz und gar entbehrte, handfeste Unterstützung bei einzelnen katholischen Priestern — auch hier war das deutsche Vorbild etwa eines Adolf Stöcker nicht ohne Einfluß. Immerhin blieb Korczak aus diesen Gesprächen seiner Jugend zeitlebens das Bemühen um Verständnis für eine so spezifisch polnische Form des Antisemitismus. Daher suchte Korczak immer wieder das Gespräch, das auf nationaldemokratischer Seite vor allem von Iza Moszczeńska-Rzepecka geführt wurde, einer glänzenden Publizistin, die sich von der Revolution von 1905—1907 an bis zum 361

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Zweiten Weltkriege große Verdienste als nationale Erzieherin erwarb. Mit den kleineren Gruppen der bürgerlichen Demokratie fand Korczak ebenfalls keine bleibenden geistigen Gemeinsamkeiten. Schon als Primaner hatte er eine Beziehung zu Aleksander Świętochowski gesucht, dem Herausgeber der legalen und damals berühmten Zeitschrift ‫ ״‬Prawda" (Die Wahrheit), einem politischen Essayisten, der als ‫ ״‬Hetman des fortschrittlichen Gedankens" gerühmt wurde und mit seinem literarischen ‫ ״‬Liberum Veto" für eine allmähliche Fortbildung der älteren Adels-Demokratie zu einer modernen MassenDemokratie ein trat. Świętochowski war indessen um 1900 schon auf dem Wege, einen ‫ ״‬fortschrittlichen Antisemitismus" zu postulieren, der ihn in bedenkliche Nähe zur NationalDemokratie brachte. Seine unerbittliche Gegnerin wurde Stefania Sempolowska, die um 1900 wegen ihres unermüdlichen Engagements für die Arbeiterbildung im ‫ ״‬Pawiak" gefangengehalten wurde, dem zaristischen politischen Gefängnis, das später im Zweiten Weltkrieg als Haftanstalt der Gestapo noch entsetzlichere Berühmtheit erlangte als je zuvor in der Zarenzeit. Frau Sempolowska war vorzüglich nach dem Erscheinen ihres Werkes ‫ ״‬Die Juden in Polen" nach Korczaks eigenem Zeugnis geradezu eine ‫ ״‬fanatische Fürsprecherin der Juden". Korczak hätte sich sehr wohl damals auch der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) anschließen können, die den Zarismus am unversöhnlichsten bekämpfte und den traditionellen polnischen Patriotismus in reinerer und schönerer Form pflegte als die Nationaldemokratie; war es doch sein Landsmann und Zeitgenosse Stanislaw Mendelson, der sich 1892—1895 auf das direkte Gebot des alten Friedrich Engels hin vom doktrinären Internationalisten zum polnischen Patrioten wandelte und diese Losung eines von der internationalen Arbeiterbewegung geforderten ‫״‬Nationalismus des polnischen Proletariats" der PPS einhämmerte, vor allem deren damaligem Führer Józef Piłsudski. Es erregte im gesamten konspirativen Polen Aufsehen, als Piłsudski mit der geheimen Redaktion des ‫״‬Robotnik" (Der Arbeiter) im Jahre 1900 in Łódź verhaftet wurde, als er gerade mit dem Wort des Zaren Nikolaus I., Gutenberg habe als Erfinder der Buchdruckerkunst alles Übel in die Welt gebracht, die planmäßig praktizierte Staatsraison 362

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des russischen Analphabetismus brandmarken wollte. Zusammen mit Piłsudski wurde damals Maria Rogowska verhaftet, die 1918—1936 unter dem Namen Maryna Falska eine der engsten Weggefährtinnen Korczaks wurde. Korczak selbst hatte sicher jeden Grund, auch in der PPS keine politische Heimat zu finden. Mochte diese Partei auch seinen patriotischen Idealen entsprechen, so widersprach sie doch wenigstens von 1905—1907 an seinen Vorstellungen von Sozialismus. In diesen stürmischen Jahren der Revolution spaltete sich die PPS in eine ‫ ״‬Linke", die mit der Sozialdemokratie des Königreichs Polen zusammenging, und eine ‫ ״‬Rechte" unter Piłsudski, die rasch den polnischen Patriotismus als Absolutum setzte — obgleich Karl Marx und Friedrich Engels bei aller Förderung nationaler Ideen unter der polnischen Arbeiterbewegung immer wieder betont hatten, das Nationale verstehe sich nicht von selbst, sondern habe lediglich transitorischen Charakter, dürfe allein den internationalen Interessen des Proletariats dienen. Für Korczak mußte es doch erheblich sein, wenn Piłsudski —wie dieser später in seinen Erinnerungen offen bekannte—sich vom Sozialismus überhaupt löste, weil die ‫״‬Marxsche Herrschaft der Ware über den Menschen" und damit die Grundfrage der menschlichen Entfremdung ‫״‬nicht in seinen Kopf hineinging". Daher blieb von der Berührung Korczaks mit der PPS nichts als ein Nachklang warmherziger Sympathie übrig. Als Piłsudski durch seinen Militärputsch 1926 die Staatsmacht an sich riß, als die PPS ihn durch einen Generalstreik unterstützte und sogar die Kommunistische Partei Polens seine ‫ ״‬revolutionäre Armee" begrüßte, beklagte Korczak ‫ ״‬seine" Gefallenen, indem er die Namen der bei den Kämpfen umgekommenen Kinder andächtig notierte. Ein letzter Rest von Gemeinsamkeit aus der alten Zeit offenbarte sich noch einmal 1928, als die Marschallin Piłsudska — die als ehemalige sozialistische Untergrundkämpferin und ‫״‬Dromaderka" (Trägerin von Lasten, die aus politischen Kampfschriften oder Waffen bestanden) mit Frau Rogowska-Falska gut bekannt war — das Patronat über Korczaks ‫ ״‬Nasz Dom" (Unser Haus) in Bielany übernahm. Unter diesen Umständen blieb Korczak am ehesten noch mit der Sozialdemokratie des Königreichs Polen verbunden, 363

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zumal Frau Falska ihn später immer wieder mit den Ideen der linkssozialistischen Theoretikerin Maria Koszutska konfron‫־‬ tierte, die mit ihrer Lehrerin Rosa Luxemburg wohl deren edle Philanthropie, nicht aber deren starren Doktrinarismus gemein hatte. Gleichwohl band Korczak sich auch nicht an diese Partei. Er erkannte die Notwendigkeit einer politischen Aktion, und er schätzte die Macht der Masse gewiß auch richtig ein; er gab mehr als einmal zu erkennen, auf welcher Seite er stand, und er ging in seiner Jugend wohl auch einmal für kurze Zeit ins Gefängnis — dennoch verharrte er bis zum Ende seines Lebens in der entschiedenen Ablehnung politischen Tuns, soweit es parteigebunden war, und er blieb gegenüber der Möglichkeit, ein Problem auf dem Wege der revolutionären Gewalt zu lösen, recht skeptisch. Das ‫ ״‬Thema seines Lebens" fand er ‫ —־‬ungeachtet seiner tiefen politischen Bindung — auf anderen Feldern. Für den Werdegang des künftigen Pädagogen konnte die ‫ ״‬offizielle" Universität Warschau kaum Anregungen bieten. Die Professorenschaft dieser Universität war vielleicht in fachlicher Hinsicht tüchtig, in allen anderen Rücksichten jedoch — und vornehmlich in der Weite des geistigen Horizontes — mit Sicherheit die ärmste des Russischen Reiches. Übertriebenes Reglement und Schikanen prägten sie kaum weniger als das russische Gymnasium, und überdies stellte sie einen Verbannungsort für mißliebige Professoren dar, die sich wegen ihrer geringen Qualifikation oder auch wegen politischer Unzuverlässigkeit mit der ihnen fremden Welt Warschaus abzufinden hatten und dort ihrerseits streng überwacht wurden. Immerhin blühte während der Studienzeit Korczaks in Warschau noch eine andere Hochschule, die illegale und konspirative ‫״‬Fliegende Universität", an der die bedeutendsten Gelehrten des damaligen Königreichs Polen lehrten, immer auf der Flucht vor der allmächtigen Gendarmerie, die alle Privatwohnungen nach ‫״‬heimlichem Unterricht" zu durchschnüffeln das Recht hatte. An dieser ‫ ״‬Fliegenden Universität" hatte auch die spätere Nobelpreisträgerin Maria Curie-Sklodowska ein Jahr‫־‬ zehnt zuvor entscheidende Impulse empfangen und gegeben. An dieser Hochschule nahm auch Korczak als Lernender teil, angeregt durch Kommilitonen wie Licinski, den Dichter der 364

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polnischen Décadence, seinen lange als politischen Provokateur verdächtigten revolutionären Freund Brzozowski, das hervorragende Mitglied der Dichterschule des ‫״‬Jungen Polen" (Młoda Polska), und vor allem durch Zofja Nałkowska, die sich hernach durch ihre meisterhaften sozialkritischen Erzählungen einen dauernden Ehrenplatz in der polnischen Literaturgeschichte errang. Mit diesen und vielen anderen jungen Akademikern arbeitete Korczak auch in dem geheimen Unterricht der illegalen polnischen Volksschulen mit, in denen gerade für die einfachen Menschen das Prinzip der Bildung und Selbstbildung gegen die Maxime der russischen Regierungskunst gesetzt wurde, die Massen ihrer Untertanen das Lesen und Schreiben entbehren zu lassen, damit sie gegen jede révolutionäre Versuchung gefeit seien. Korczak gehörte bei dieser Lehrtätigkeit, bei der Arbeit an den gleichfalls verbotenen Volksbüchereien, bei patriotischen und allgemein bildenden Aktionen gewiß ‫״‬in die Reihen der schönsten Armee, die Polen jemals besessen hat". Zugleich fand er in diesem Zentrum einer radikalen Intelligenz jene wegweisenden Geister und Leitbilder, denen er bis zum Ende seines Lebens die Treue hielt. Hier ist namentlich Wacław Nałkowski zu nennen, der Vater von Zofja Nałkowska, ein bekannter Geograph und Publizist, der die ungewöhnliche Zivilcourage bewies, gegen den Abgott der nationalen Jugend, den historischen Romancier und späteren Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz, aufzutreten. Nałkowski zeigte in seinen ‫ ״‬Sienkiewicziana" von 1904 und in anderen Schriften, wie engstirnig und verkürzt jener unheilige Synkretismus von Nationalpolentum und katholischer Religion war, mit dem der ‫ ״‬Condottiere der Reaktion" seine faszinierenden Geschichtsbilder erfüllte. Starken Einfluß auf Korczak übte auch der Pädagoge und Sozialhistoriker Jan Władysław Dawid aus, welcher der polnischen Sozialdemokratie und namentlich ihrem gewaltigsten Geist, dem Sozialtheoretiker Julian Marchlewski, eng verbunden war; Dawid übernahm 1900 die altberühmte Zeitschrift ‫ ״‬Głos" (Die Stimme), die er 1905 geradezu als ‫ ״‬Sozial-Demokratische Zeitung" mit dem Aufruf ‫ ״‬Proletarier aller Länder, vereinigt Euch" herausbrachte. Wesentlich war schließlich die innige Vertrautheit Korczaks mit dem Schriftsteller Bolesław Prus — dem seine 365

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Grabinschrift in der Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau attestiert, er sei ‫ ״‬der Lehrer der Nation" —, mit den Dichtem Stefan Żeromski, Adam Asnyk, Maria Konopnicka und schließlich mit dem Publizisten Adolf Dygasiński, der zusammen mit Frau Sempolowska unermüdlich für einen wirklichen ‫ ״‬Fortschritt" auch in der Judenfrage eintrat. Noch in der an den Judenrat des Warschauer Ghettos gerichteten ‫״‬Bewerbung" (1942) stellte Korczak rückblickend fest: ‫ ״‬Meine Lehrer in der sozialen Arbeit waren: Nałkowski, Straszewicz, Dawid, Dygasiński, Prus, Asnyk, Konopnicka." Von geringerer Bedeutung für das erinnernde Urteil Korczaks, dennoch aber von wirklichem Einfluß auf ihn, war der berühmte Soziologe, Ökonom, Ethnograph und Pädagoge Ludwig Krzywicki, der als erster das ‫ ״‬Kapital" von Karl Marx und einige Werke von Friedrich Engels ins Polnische übersetzte und dank seiner eigenen reichen wissenschaftlichen Produktion geradezu als ‫ ״‬Nestor des polnischen Sozialismus" gelten kann; er war in der ‫ ״‬Fliegenden Universität" so angesehen, daß ihm seine Kollegen einmütig attestierten: ‫ ״‬In England würde er einen Lehrstuhl und weitweite Anerkennung haben." Von ihm lernte Korczak neben den theoretischen Grundfragen eines stets humanen Sozialismus die Methoden der empirischen Soziologie und der Statistik, die beide bis zuletzt konstitutive Elemente seiner Pädagogik darstellten. Fraglos war einem solchen Kreise von Gelehrten, wie ihn Korczaks Lehrer bildeten, ein gewisser Zug zum Dilettantismus eigen, bisweilen sogar ein Mangel an gründlicher fachlicher Fundierung der Lehrgegenstände; schließlich waren es Wissenschaftler, die ohne Lehrstühle, ohne Arbeitsstätten, ohne moderne Forschungsmöglichkeiten und nicht zuletzt ohne jedes Einkommen aus ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit arbeiten mußten, dazu in der Illegalität, in ständiger Furcht vor dem ‫ ״‬Pawiak" oder dem berüchtigten ‫ ״‬Zehnten Pavillon" der Warschauer Zitadelle, der für die politischen Gefangenen bestimmt war. Andererseits besaßen sie den Vorzug, ihre Fragen auf einem weit gespannten Problemhintergrund zu stellen, eine übergreifende Deutung von Grenzbezirken der einzelnen Fachdisziplinen zu versuchen, mit einem unleugbaren Hang zu aktuellen sozialen Fragen und vorzüglich zur ständigen philosophischen Durchdringung hin. Von daher war es 366

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fast selbstverständlich, daß Korczak von seinen Lehrern die Wesensart des Forschers übernahm, die sich manchmal in einem nur scheinbar leichten Plaudern, ein andermal in tiefsinnigem Grübeln äußerte, stets aber geistvoll blieb ; Korczak war gewiß nicht weniger ein ‫״‬Wanderphilosoph" als seine Lehrer. Es war kaum zufällig, daß Korczak die meisten seiner Lehrer unter der altberühmten Intelligenz der polnischen Adelsnation fand, die insgesamt auf ihre Weise bemüht war, die überlieferte ‫ ״‬Demokratie" in der altadeligen ‫ ״‬Gesellschaft" auf die moderne, adelige und nicht adelige Einwohner umfassende Massen-Nation zu übertragen. Angesichts des Sachverhaltes, daß die Masse der polnischen Intelligenz nicht dem polnischen Bürgertum und auch nicht dem assimilierten Judentum, sondem den pauperisierten Massen des ‫ ״‬Grauen Adels" entstammte, war in Polen kein Platz für das vulgärmarxistische Dogma, daß ‫ ״‬Adel" eine Zeiterscheinung des ‫ ״‬feudalen Zeitalters" darstelle. Schließlich entstammten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert alle politischen Führer und Denker Polens, soweit sie nicht wie Korczak selbst jüdischer Herkunft waren, der alten adeligen ‫ ״‬Inteligencja". Die Skala der politischen Gesinnungen dieser Führer adeliger Herkunft reichte von dem grobkörnigen Nationalismus Dmowskis bis zu der intellektuellen kommunistischen Potenz Marchlewskis, von einem weitläufigen Künstler und Politiker streng nationaler Gesinnung wie Paderewski bis hin zu dem linkssozialistischen Theoretiker Krzywicki, von dem pseudo-sozialistischen Patrioten Piłsudski bis zu seinem mittellitauischen Landsmann Dzierzyński, der später der Robespierre der Oktober-Revolution von 1917 werden sollte. Für antifeudale Sentiments bestand bei den polnischen Sozialisten um so weniger Grund, als Karl Marx selbst vier Jahrzehnte seines Lebens sich ständig mit polnischen Edelleuten umgab, wenn sie nur zugleich Sozialisten waren, wenn er die Aufstände von 1830 und 1863 hymnisch feierte, wenn er in der unbedingten Zustimmung zur ‫ ״‬Renaissaince" der polnischen Republik geradezu einen ‫ ״‬Prüfstein" für die wahre sozialistische Gesinnung der Arbeiter in aller Welt sah. Marx selbst hatte in der polnischen Verfassung von 1791 — deren Centenarium (1891) für das Wiedererwachen des polnischen Sozialismus so erheblich war — das ‫ ״‬einzige Freiheits­ 367

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werk‫ '׳‬gesehen, das Osteuropa jemals selbständig hervorgebracht habe, und er pries die Adelsnation, die dieses Freiheitswerk geschaffen hatte, mit den überschwänglichen Worten: ‫ ״‬Die Weltgeschichte kennt kein anderes Beispiel von solchem Adel des Adels." So ergab sich für den jungen Korczak das nur für westeuropäische Denkweisen überraschende Bild eines genuinen ‫ ״‬adeligen Sozialismus" des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in dem sogar ein podolischer Latifundienbesitzer und zugleich Großmeister der Freimaurer im Russischen Reiche wie Stanislaw Stempowski extremer Linkssozialist sein konnte. Spätere doktrinär-marxistische Beurteilungen sollten dieses Bild durch die Verschweigung der adeligen Herkunft der meisten leitenden polnischen Sozialisten trüben und entstellen. Für Korczak aber lag auch in diesem Umstand eines ‫ ״‬adeligen Sozialismus" eine gewisse Rechtfertigung seiner Rezeption eines adeligen Namens und Wappens. Auch für ihn war in gewisser Weise die Anschauung Marxens geltend, daß in der traditionellen, zugleich außenpolitischen und innerpolitisch ‫ ״‬reaktionären" Allianz zwischen — wie Marx es ausdrückte — ‫ ״‬Vorder-Rußland und Hinter-Rußland", zwischen ‫״‬Borussia und Russia" das größte Hindernis für die Emanzipation der europäischen Arbeiterklasse zu sehen sei. Von daher war es nur folgerichtig — und dieses Argument Marxens wurde tausendmal gegen Rosa Luxemburg vorgebracht —, daß der pol‫־‬ nische Sozialismus unbedingt patriotisch sein müsse. Dies konnte um so unbedenklicher postuliert werden, als der polnische Sozialismus — wiederum gemäß der Auffassung von Marx — unbedingt und in jeder Hinsicht ‫ ״‬progressiv" sei, auch im patriotischen Ansatz niemals ‫ ״‬nationalistisch", weil er eben über die eingewurzelten Traditionen der Demokratie und der Bildung für alle verfüge. Tiefer noch griff die Frage nach der Legitimität der Auslegung von Marx. Die polnischen Sozialisten konnten in Anspruch nehmen, noch den lebenden Marx als Lehrer gehabt zu haben, während die russischen Sozialisten lediglich eine posthume und literarische Rezeption des Marxismus aufzuweisen hatten. Daher hatte es auch der polnische Sozialismus nicht nötig, seine Kraft nur an dem Entwurf gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Modelle zu erschöpfen :er stellte vielmehr in erster Linie die für Marx wirklich entscheidende 368

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Frage nach der Überwindung jeder irgendwie gearteten Entfremdung, mochte sie nun den einzelnen Menschen oder die ganze Menschheit, eine Nation oder ein Volk betreffen. Hier konnte der ‫ ״‬subjektive Sozialismus" Korczaks ansetzen, der ebenso wie alle seine polnischen Kon-Sozialisten nicht den Weg der Errichtung eines zwanghaften Sozial-Modells, sondem das Ziel einer ‫ ״‬Aufhebung" verfremdenden Zwanges im Auge hatte. Auf dieses Ziel wiesen ihn sowohl seine eigenen Erfahrungen mit den russischen Unbildungs- oder auch Verbildungsversuchen wie auch die ungemeine Vielfalt individueller Sozialismen in der ‫ ״‬Gesellschafts-Nation", zu der er sich bekannte. Wie für die meisten Polen seiner Zeit flössen die Begriffe ‫ ״‬Sozialismus" und ‫ ״‬Soziologie" für ihn ineinander über, wobei beiden allein die Forderung nach einem Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit verbindlich war. Hier lag der entscheidende Ansatz seines erzieherischen Ideals und zugleich gewissermaßen die ‫ ״‬Erkenntnistheorie" seiner Pädagogik. Von daher würdigte er auch Čechov als den ‫ ״‬genialen Diagnostiker und Therapeuten des gesellschaftlichen Lebens". Von daher bedurfte seine ‫ ״‬Pädagogik" — mochten auch kurzsichtige Kritiker immer wieder das Fehlen einer eigenen ‫״‬pädagogischen Theorie" bei Korczak rügen — keines theoretischen Fundaments. Ihm und seiner Pädagogik konnte die einfache Übertragung der in der polnischen Gesellschaft bis zur Meisterschaft ausgebildeten Fähigkeit zur Selbst-Organisation, die große Idee des in Polen jahrhundertelang praktizierten ‫ ״‬Gemeinwesens" (Rzeczpospolita, Commonwealth) ohne staatlichen Zwang genügen. Seine Pädagogik war ganz einfach eine Therapie des gesellschaftlichen Zusammenseins von Menschen. Dazu bedurfte er weder des bezeichnenden Mißverständnisses einer ‫״‬politischen Bildung" noch gar des Ansatzes einer ‫ ״‬antiautoritären Erziehung", die ihrerseits ebenso doktrinär sein mußte wie die ältere deutsche Erziehung zum ‫״‬Dienst am Staate". Noch im Ghetto ersehnte Korczak unter dem Eindruck der Symbole deutsch-nationalsozialistischer Ordnung, der Peitsche der Disziplin und des Bleistiftes der Bureaukratie, eine ‫ ״‬zukünftige vernünftige Gesellschaftsordnung", die sogar —* ganz im Sinne der Utopien von Karl Marx — der ‫״‬Diktatur der Uhr" entraten konnte. Umgekehrt mußte Korczak an­ 369

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gesichts der Ideale deutscher Ordnung, die etwa einem Lenin für den Aufbau seines Sozialismus unerläßlich schienen, die Indisziplin seiner polnischen Landsleute wirklich als ‫ ״‬Anarchie" erkennen. Er war seit seiner Berliner Studienzeit, die ihn gelehrt hatte, langsam, ordentlich und ‫ ״‬systematisch" vorzugehen, nicht blind für die Wahrheit des Satzes: ‫ ״‬Polen besteht durch Unordnung." So notierte er, wiederum nur wenige Tage vor seinem Tode: ‫״‬Heute noch Anarchie . . . in fünftausend Jahren, irgendwann in abgründiger Zukunft — Sozialismus." In dieser sozialistischen Endzeit-Vision war es freilich nicht mehr erheblich, daß jedem — wie St. Simon und Lenin es forderten — ‫ ״‬nach seinen Bedürfnissen" gegeben werde. Korczak hatte schon früh erkannt, daß ein wahrer Sozialismus sich nicht darin erschöpfen dürfe, die Menschen ‫״‬physisch und geistig satt" zu machen —‫ ־‬in diesem Falle ‫ ״‬droht immer der Bankrott". Seine chiliastische Utopie schaute eine künftige GeSeilschaft, die einen immerwährenden ‫ ״‬Krieg der Dichter und Musiker in der schönsten Olympiade" hervorbringen würde. Den reinsten und tiefsten Ansatz zu einer Pädagogik als gesellschaftlicher Therapie fand Korczak in der folgerichtigen Fortentwicklung des gesellschaftlichen Denkens der polnischen Sozial-Demokratie ganz allgemein. Die Kinder — das waren für ihn Mitglieder einer unterdrückten Gesellschaftsschicht, gleichsam ein ‫ ״‬Proletariat auf kleinen Füßen". Die Révolutionen und Kriege seiner Zeit lehrten ihn, die Klassenkämpfe als einen der Antriebe der Geschichte zu erkennen, und so durfte er nicht zögern, ‫ ״‬die Menschheit in Erwachsene und Kinder" einzuteilen. Nach seinen eigenen Worten nahmen die erwachsenen Menschen seiner Zeit die Kinder nicht wahr, verkannten deren Grundrechte auf Achtung, so wie frühere GesellschaftsOrdnungen ‫״‬die Frauen, die Bauern, die unterdrückten Schichten und Völker nicht zu sehen vermochten". Dieser Gedanke stellt das leitende Thema jenes Märchens für Kinder und für Erwachsene dar, das er 1923 unter dem Titel ‫ ״‬König Hanschen" (Król Maciuś I.) veröffentlichte. In König Hänschen fanden die in ihren Rechten gekränkten Kinder — übrigens in ähnlicher Weise wie einstmals in der alten Polnischen Republik die unbeachteten Massen des pauperisierten Adels ihren ‫ ״‬Architribun" gefunden hatten — einen Fürsprecher, einen 370

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wahrhaften Volkstribunen. König Hänschen führte die Kindergemeinschaft zum Sieg über die Erwachsenen, die nunmehr wieder in die Schule gehen mußten, während die Kinder das Land bebauten, die Maschinen in den Fabriken bedienten und sich sogar im Parlament versammelten. Aber eben in dieser Übernahme der politischen Macht über die Erwachsenen durch die Kinder lag der Grund für den Untergang einer solchen Kinder-Republik, die mit der Verbannung König Hänschens auf eine unbewohnte Insel ihren sprechendsten Ausdruck fand. Die Kinder verdarben die Einrichtungen in den Fabriken, die Präzisionsinstrumente der Laboratorien, die Protokolle der Parlamente. Sie, die Kinder, waren eben nicht nur ‫ ״‬sua sociali statu" von der herrschenden Schicht unterschieden, wie das die Bürger, Bauern und Arbeiter einmal gewesen waren, sondern vor allem ‫ ״‬sua naturali statu", der sie den Erwachsenen nach Kraft und Geistesart unterlegen machte. Daher mußte es sich zeigen, daß die reine soziale und politische Gleichheit zwischen Erwachsenen und Kindern die Frage dieses ‫ ״‬Klassengegensatzes" nicht lösen konnte. Dies war ein Problem, das sich Korczak sicher schon bei der Erwägung der ‫ ״‬Gleichberechtigung der Frau" gestellt hatte, einer Gleichberechtigung, die der Frau alle sozialen und politischen Rechte gewährte, sie dafür aber manchmal der schönen gesellschaftlichen Ehrenrechte beraubte, die sie zuvor hatte beanspruchen dürfen. Daher konnte Korczak nicht bei der Idee einer bloßen Gleichberechtigung von Erwachsenen und Kindern stehenbleiben, so schön die ‫ ״‬Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt", auch gewesen wäre. Für die Kindergemeinschaft an sich war der absolute Wert der Kindheit, ihr ‫ ״‬Recht auf Achtung" durch die Erwachsenen, die ‫ ״‬Magna Charta" ihrer politischen Rechte festzustellen. Kinder sollten nicht für eine bestimmte Zukunft erzogen werden, nicht um eines Nutzens für einen Staat oder eine Gesellschaft willen, und schon gar nicht darum, weil sie einmal Erwachsene sein würden. Korczak bezeichnete es als einen der ‫ ״‬schlimmsten Fehler", daß die Pädagogik ‫ ״‬die Wissenschaft vom Kinde" und nicht ‫ ״‬die Wissenschaft vom Menschen" sei. Von daher war es notwendig, daß der ‫״‬subjektive Sozialismus" Korczaks das Heil der Zukunft nicht so sehr in einer anderen, besseren 371

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Gesellschaftsordnung sah ‫ —־‬obwohl er eine solche sicher erwartete —, als vielmehr in einem besseren Menschen. So entging Korczak den Chimären von Marx und Engels, die mit der ‫ ״‬neuen Gesellschaft" des kommunistischen Endzeitalters annahmen, diese neue Gesellschaft werde aus sich heraus einen ‫״‬neuen Menschen" schaffen. Dieser neue Mensch war allein durch ein erzieherisches Handeln der Erwachsenen zu vollbringen, das als Maxime das einfache Wort Korczaks annahm: ‫ ״‬Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer."

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SACHREGISTER (Die Register beschränken sich auf die Schriften Korczaks.) Abneigung dem Kinde gegenüber 15-23 A lt—Jung 158 í. Angst 133, 251, 342 Achtung 7 ff., 20, 23—29 Arbeitslosigkeit d. Vaters 126 Armut s. Reichtum Arzt —Krankenhaus 276, 298, 305 Autobiographie 252, 276 Autorität 10, 305 Besserungsanstalt 34, 232 Beschimpfungen, strafende RedeWendungen 183, 188 ff. Buben —Mädchen 150—156, 186, 219 f. Dienstpersonal 110 ff., 116, 309 í. Eigentum des Kindes 10 f., 24, 26 f. Eltern 17, 24 f., 97, 99 ff., 104—110 (Elternhaus), 110ff.; s.a. Mutter, Vater Enttäuschung, Erbitterung, Kränkung 27, 135 f. Erbgut, Vererbung 3 3 ,3 6 Erinnerung 159 (Vergessen), 160 (Erfahrung) Erfahrung 12 ff., 160 Erwachsene —Kinder 110, 114 ff., 198—205 Erziehung 18, 172 (Mittel), 304 (Reformen) Erzieher 17 í. (privat), 18 ff. (Internat, Klasse), 29, 31, 35, 110, 112 f. (Erzieherin), 185, 265 f. Eugenik 231, 242 Euthanasie 242, 318 ff., 328 f. Ferienkolonie, Sommerkolonie 143, 147, 200, 325 Fragen 97, 203 f., 206 ff., 211 (heikle) Freundschaft 145 f.

Geburtenregelung 320, 329 f. Gehorsam io , 30, 92 Geld — Taschengeld 26 f., 123 ff., 124 (Darlehenskasse d. Waisenhauses), 250 Genfer Erklärung der Rechte des Kindes 25 Gericht 184; im Dom Sierot 240, 282 Geringschätzung des Kindes 10—13, 22, 31 Geschwister 97, 100 ff. Gesundheit — Krankheit 32, 128, 137 ‫ ־‬143

Gewicht 252 (Diagramme), 281, 309 Gott 247, 252, 322, 345 Großeltern 99,103 f., 111, 134, 274,

335 Gut —Böse 14, 30, 103, 134 (gut sein — Mitgefühl), 270 Heilige Schrift 325 ‫״‬Heimat" 274 Heimweh 110, 267, 283 Hunger 35, 277, 278, 284 (Hungertod) Hysterie 308, 326 Intelligenztest (Terman-Binet) 206 Internat: Waisenhaus, Kinderheim 18, 32, 225, 232, 324 Haus der Waisen, Dom Sierot 232, 234, 236, 239 í., 277, 298, 300 f., 310, 324, 338 Waisenhaus, Kinderhort in der Dzielna-Straße 231—233, 240, 257/ 293, 301, 308 ff., 324,

З38, 344 Waisenhaus der polnischen Arbeiterkinder, Nasz Dom, ‫״‬Unser Haus" 234, 236, 243 f.

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Jugend 36, 92 (Sprache) Jugendgericht 27 Jugendgruppe 314, 327 Jung s. Alt Kameradschaft, Schulkameraden 107 f., 120, 145 f., 203 f., 223 f. Kapitalismus 336 Kind 12 (demokratische Gesinnung), 24 (Klasse d. Fronenden), 25 (Fremdling), 37 u. 163 (Dichter u. Weiser), 309 f. Kindergarten 167, 234, 256, 327 Kindergärtnerin 116 Kindergruppe 18 Kindesalter 22 f. Klasse der Kinder 24 (d. Fronenden), 171 (Solidarität) Koedukation 151 Kollektivverantwortung der Kinder 33 Kommunismus 315 Krankenkassen 127 f., 234, 319 Krieg 126, 178, 234 f., 248, 287,

307 f·334 ‫ ׳‬f·344 ‫׳‬ Krippenspiel, Puppenspiel 267 ff., 272

Psychoanalyse 322 Psychologie, Psychologe 21, 180, 270 Rebellion, Revolution, Aufstand der Kinder 18 f., 34 Reichtum — Armut 11, 26 f., 108 ŕ., 123—130 Schamgefühl 133, 155 Schlägereien 102, 132, 179—185 Schule, Schüler 16, 24 í., 81, 88, 97, 117—123, 151, 223 fr. Schulmuseum 117 Schulsitzung 281 Schwäche des Kindes 7, 8, 13, 22 Selbsterkenntnis 131 Selbstmord 275, 320, 323, 329 (von d. Behörde organisiert) Selbstverwaltung 147, 240 Sexuelle Probleme 315 Siebenjahrperioden, Jahrsiebte 303 e Sommerkolonie s. Ferienkolonie ‫״‬Spezielle Pädagogik" 256 Sport 211—218 Soziologie 276 Staatsbürger 13, 23, 25, 226—229,

235

Lehrer, Lehrerin 19, 81, 84, 92,118, 120, 203 f., 223 f., 226 Liebe 134 f., 218—223, 304 (Jugendlieben K.s) ; liebenswert — nicht liebenswert 143—150 Mathematik 219 Märchen 21, 105, 161, 192—198, 270 f. Mutter 17, 26, 98 f., 103 f., 111 f.,

73‫ ־‬f· Naturkunde 207 Onanismus 30 Pädiatrie 32 Pfadfinder 155 Plebiszite im Waisenhaus 148 Poesie der Kinder 164 Postkarten 85 í., 91

Statistik 226, 233 Sterilisation 329í. Strafe, Bestrafung 17, 27, 34, 172 (körperliche), 256 (Strafkolonien), 256 í. (Todesstrafe) Sublimierung 182 Tagebuch 79 f. (für die Schulzei‫־‬ tung), 301, 312, 317 h. (aus Tagebüchern d. Kinder), 324 Tagesdienst 240, 337 f. Takt 148 Talmud 297 Teufel, Satanas 256, 268 (Puppenspiel), 272 (Krippenspiel) Tierdressur 21 Tod 250 f., 306, 308, 329, 332 f. Tränen 26, 189 Traum 105, 159, 161 f., 275 h, 308 Trinker, Trinken 33, 126 f. Unterdrückung, Tyrannei 17, 24, 31

37 4

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Vater 99, 112 Vaterland 13, 135, 256, 274 (‫״‬Heimat" ‫ ־־‬Vaterland) Vergangenheit —Zukunft 25, 157— 163 Vertrauen 7—15 (Mangel), 18, 20 Wachstum, -sprofile 27 í., 32, 233,

252

Wahrheit —Lüge 202 Wettbewerb der Schulzeitung 85 Wetten, Kartenspiel 127

‫״‬Wie man ein Kind lieben soll"

303323 ‫׳‬

Wille, Selbstbeherrschung 132, 183, 185 Zärtlichkeiten 23, 31 Zauberer 86, 161 Zeitung, Zeitschrift 76—95 (Schulzeitung), 240, 282, 315 (‫״‬Kleine Rundschau"), 339 Zorn 30, 132 Zukunft s. Vergangenheit

NAMENREGISTER Abessinien 260 Abramowicz, Róża 344 Afrika 225 Amerika 85, 259, 277 Amiel, Henry (1821—1881), frz. Dichter 166, 314 Anczyc, Władysław (1823—1883), Dichter 214 Anders, Arzt 294 Anka s. Goldszmit Antigone 254 Apollo 212 Aristomenes (7. Jh. v. Chr.) 212 ff., 217 Asnyk, Adam (1838—1897), Dichter 233 Athen 212 ff., 256 Augustów, die Seen von 267 Australien 217 Azrylewicz, Henryk, Schneider 241, 290, 324, 328, 333, 341

Chabarovsk 235 Charbin 235, 278 Charkov 287 China, Chinesen 1^8, 248, 277, 336 Christus 336 Cichosz, Władysław, Mitarbeiter 236 Chmielarz, Bekannte 311

Babel, Turmbau von 319 Baczkiewicz, Arzt 294 Bagiński, Adolf (1844—1918), Prof. für Kinderheilkunde 232, 272 Baikalsee 248 Berlin 232, 272, 298 Białowieża, Urwald von 267 Biro-Bidżan 260 Blucharski, Feldscher 296 Brawerman, Familie 234 Brokmann, Arzt 311 Burjaten 248

Edison, Thomas Alva (1847—1931) 228, 323 Eliasberg, Isaak (1876—1929), Kinderarzt 233 England 260 Esther s. Winogron, E. Eurotas 212

Catilina 188 Čechov, Anton (1860—1904) 233,

З32

Dante Alighieri (1265—1321) 274 David = König David II. 252 Dawid, Jan Władysław (1859— 1913), Psychologe u. Pädagoge 233, 251 Delphi 212 Deutsche 299, 330, 336, 340 Diderot, Denis (1713—1784) 303 Dostojewski, Fedor M. (1821—1881)

277

Dygasiński, Adolf (1839—1902), Schriftsteller 233, 251

Fabre, Jean Henri (1823—1915), frz. Entomologe 251, 314 Falska, Maryna (1877—1944), Leiterin von ‫״‬Unser Haus" 236, 242 ff. Felek, Feliks Grzyb, Zögling und Mitarbeiter 249, 279

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Finkeistein, Heinrich (1865—1942), dt. Kinderarzt 232 Frankreich, Franzosen 319, 336 Gantz, Mieczysław (geb. 1876), Arzt 233 Gantz-Kohn, Arzt 311 Gepner, Adam, Kaufmann 304 Gdingen 267 Gilboa 251 Gilczenko, General 295 Gnesen 267 Goclawek, Ferienheim 325 Godlewski 255 Goldszmit, Anka, Schwester 311 f., 320 —,Cäcilie, geb. Gębicka, Mutter 271, 273, 328, 332 —, Henryk s. Korczak, Janusz —, Hersz (Hirsz), Großvater, Arzt 332 — Großmutter 249 f., 271,

27З

—, Joseph, Vater, Rechtsanwalt 249, 268 f., 271, 273, 323, 332 —, Maria, Magdalena, Ludwik, Jakub, Karol 332 Griechenland 24, 212 f. Grzegorzewska, Maria, Dr. 257 Gurarie, Freunde 234 Hänschen = ‫״‬König Hänschen L" 252 Harpagon, Hauptperson in Molieres ‫״‬L'Avare" 231 Heine, Heinrich (1797—1856) 336 Heller, Mitglied d. jüd. Ghettover‫־‬ waltung 238 Heller, Ärztin 311 Herkules 214 Herodes, Puppenspiel-Figur 268,

272 Hopper, Hauptmann 295 Hrubieszów 267 Hutinel, Victor Henri (1840—1933), frz. Pathologe 232, 272 Indien 207, 260, 342 Irka, Sanitäterin 339 Italiener 336

Japaner 336 Jeziorna 303 Juden 250 í. (Tod-Jude-Hölle), 254 í., 267 u. 274 (Jude-Pole),

287,299,335 ft., 340 Julek, Arzt 295 Kalifornien 260 Kamionek 235 Kanada 207 Karamzin, Nikolaj (1766—1826), russ. Historiker 307 Katharina, lebte im Haus von Goldszmits 269 Kfar Geladi 259 Kiepura, Jan (1902—1966), Sänger 189 Kiew 234, 283, 303 Kinder: Abrasza 290. Abus 318. Adek 327. Adzio 343. Albert 251, 260. Anielka 304. Aronek 290. Chaimek 327. Erna 277. Falka 259. Felunia 251. Frieda 277. Fula 310. Gelblat 259. Gienia 251, 262, 290. Gluzman 259. Hadaska 249. Haneczka 251, 290, 344. Hanka 290. Hella 266. Heniek 303. Hersz 318. Ireczka, Irka 256. Irenka 304. Iuo‫־‬Ia 277. Jakob 301. Januszek 256. Jerzyk 251, 327. Julek 341. Leon 318, 324. Majer Kulawski 259. Mania 304. Marceli 317. Mendel Nadanowski 300. Mietek 317. Moniuś 251, 290. Moszek 260. Mušiek 256. Naścia 341. Natek 317. Regina 259, 272, 290. Semi 289 f. Stefcia 304. Szejwacz 259. Szlama 317. Szmulek 318. Szymonek 317. Walter 277. Zosia Kalhorn 304. Zygmuś 290 Kirgisen 248 Köln 345 Kolumbus, Christoph (1451—1506) 224 Kohn, Mitglied d. jüd. Ghettoverwaltung 238, 301 Konopnicka, Maria (1842—1910), Dichterin 233 Kopernikus, Nikolaus (1473—1543) 224

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Korczak, Janusz = Goldszmit, Henryk 235-237, 239 ff., 326, 332 Koral, Adolf (1857-1939), Kinderarzt 232 í. Kościnszko, Thaddeusz (1746— 1817), poln. Feldherr 254 Krakau 212, 267 Kramsztyk, Julian (1851—1926), Kinderarzt 232 í., 294 Kreon, König a. d. griech. Sage 254 Kropotkin, Peter Alexander (1842— 1921), Theoretiker des Anarchismus 251 Krylov, Ivan A. (1768—1844), russ. Dichter 285 Kusociński, Sportier 173 Kwiatek, Józef 299 Łaja, Krankenpflegerin 233 Leipzig 345 Lejbus, ehemal. Zögling 300 Lejzor, Arbeiter 339 Lemberg 212, 267 Libanon 258 Lifszyc, Arzt 311 Lodz 212, 235 London 232 London, Jack (1876—1916), amerikan. Schriftsteller 314 Lublin 267 Lukasiewicz 254 Madagaskar 260 Maeterlinck, Maurice (1862—1949), belg. Schriftsteller 233, 261 Makowski, Rechtsanwalt 294 Malta 336 Malczewski, Antoni (1723—1826), Dichter 195 Mandschurei 234 Marc Aurel (121—180) 340 Marfan, Bernard Jean A. (1858— 1942), Prof. d. Kinderheilkunde in Paris 232, 272 Maria, K.s Kinderfräulein 273 Markiewicz, Stanisław (1839—1911), Gründer d. poln. Sommerkolonien 35 ‫ ׳‬233 Martinique 336 Mayzner, Arzt 311

Mendel, Gregor (1822—1884) 251, 3 4

Methusalem 325 Messener 212 ff., 217 Michalowka, Ferienkolonie 233 Mickiewicz, Adam (1798—1855), Dichter 254 Mira, Helferin 339 Mississippi 227 Monaco 343 Moses 251, 301, 336 Montecatini 177 Mościcki, Frau von 327 Moszczeńska, Iza (1864—1941), Publizistin 255 Multatuli (1820-1887), niederländ. Schriftsteller 251h Murillo, Bartolome Esteban (1617— 1682) 271 Myszyniec 341 Nacía, Sekretärin 339 Nałęczów 304 Nałkowski, Wacław (1852—1911), Geograph u. Publizist 233, 251 f., 254 Napoleon Bonaparte (1769—1821) 314 Nasonov, Nikolai V. (1855—1939), Biologe 232 Nero 31 Newerly, Igor 236 Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844—1900) 246 f. Norwich 254 Olsagebiet 267 Ostpreußen 278 Ostrołęka 278 Palästina 233 f., 251, 258, 285, 336 Paris 24, 84, 232, 256, 272, 298,

319í. Pasteur, Louis (1822—1895) 323 Paszkiewicz, Ludwig (geb. 1878), Pathologe 261 Pavlov, Ivan (1849—1936) 266 Pestalozzi, Heinrich (1746—1827) 251‫ ׳‬323

Piłsudski, Józef (1867—1935) 251, 254 ‫ ׳‬299

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Plater, Pfarrer 238 Polen, Pole 224 f., 256 (Jude-Pole), 2 5 8 3 3 ‫׳‬b/

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Polesien 260, 267 Posen 212, 267 Poznański, Familie 295 Proust, Marcel (1871—1922) 313 Prus, Bolesław (1847—1912), Schriftsteller 233 Pruszków 234 Przedborski, Arzt 311 Przewóski, Edward (1849—1925), Anatom u. Bakteriologe 232 Riviera 177 Rom 24 Rothschild, Baron 289 Rumänien 336 Ruskin, John (1819—1900), engl. Philosoph 172, 233, 251 Rußland 260, 330 Rygier, Theodor (1841—1919), Bildhauer 271 Salomon 340 Salomo-Inseln 336 Ščerbakov, Alexander E. (1863— 1934), Neuropathologe 232 Sempołowska, Stefania (1870— 1943), Publizistin 254 Shirley s. Temple, Sh. Sibirien 180, 330 Sienkiewicz, Henryk (1846—1916), Schriftsteller 85 Skarga, Piotr (1536—1612), S. J., Kanzelredner u. Schriftsteller 224 Sliżewski, Feldscher-Chirurg 233 Słowacki, Juliusz (1809—1849), Dichter 224, 312, 323 Sobótka (1905 erschossen), Sozialist 299 Sparta, Spartaner 183, 212 ff. Spinoza, Baruch (1632—1677) 336 Stach, Jugendfreund 304 Stefa s. Wilczyńska Straszewicz, Ludwik (1857—1913), Publizist 233, 254 Symchoni, Freunde in Palästina 234 Szczepanowski, Stanisław (1846— 1900), Publizist 251 f.

Sztokman, Róża, Scheuerfrau 339 Szulc, Bula, ehemal. Zögling 299 í. Szyszkowski, Familie 294 Tagore, Rabindranath (1861—1941) 326 Taolaj—džou 235, 248 Tarnowska, Gräfin 294 Tartaren 248 Temple, Shirley, Filmkinderstar d. 30er Jahre 190 Tetmajer, Kasimierz (1865—1940), Schriftsteller 261 Tibet 260 Towiański, Andrzej (1799—1878), Mystiker 312 Treblinka 236 Tschechen 336 Tschechow s. Čechov Tygajło, Direktor 294 Tyrtaios (7. Jh. v. Chr.) 213 f., 218 Uganda 260 Ugolino della Gherardesca 274 Ungarn 336 Ural 248 Vinci, Leonardo da (1452—1519) 251‫ ׳‬314

Walasiewicz, Sportler 173 Walenty, Soldat od. Sanitäter 303 Warschau 104, 180, 212, 215, 253, 259, 267, 270, 278, 307, 330. — Stadtteile, Vororte: Ghetto 237ÍL, 320. Nowolipki 294. Praga 308. Pruszków, Pola Bielański, Bielany 234, 236. Solec 262. Żolibórz 236, 267. — Straßen: Chłodna- 255. Ciepła- 292. Dzielna- 231, s. a. Internat. Freía- 267, 272. Gorczewski- 327. Grzybów-Platz 298 f. Komitetowa- 294. Krochmalna- 259, 302, 339. Leszno- 292. Mariańska- 294. Miodowa- 267, 270, 272, Pańska- 294 h, 298. Rymarska 231. Sienna- 231, 239. Śliska232—234, 239, 294f., 298. Smocza- 291. Solna- 292. Stawki-333. Szucha-Allee 302. UjazdowskaAllee 295. Waliców- 253 f. Żelazna- 255, 333. Złota- 295

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Wawer 304 Weichsel 212, 267, 307 Wilczyńska, Stefania (1886—1942) 240, 249, 279, 300, 311 Wilna 212 Winogroń, Esther, Studentin, Helferin 279, 343, 345 Witkiewicz, Stanislaw, Schriftsteller 166 Wittlin, Pflegerin 324 f. Wojciechowski, Stanislaw, 1922— 1926 poln. Staatspräsident 254

Zajączek, General u. 1815 Vizekönig

254

Zakopane 267 Zaleszczyki 267 Zamenhof, Ludwik Łazarz (1859— 1917), Augenarzt 313 Zand, Ärztin 311 Zarathustra 247 Zemis, Stanislaw 236, 244 Ziehan = Ziehen, Theodor (1862— 1950), dt. Psychiater u. Psychologe 232

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JANUSZ KORCZAK W ie man ein Kind lieben soll Einleitung von Igor Newerly. Hrsg, von Elisabeth Heimpel und Hans Roos. Aus dem Polnischen von Armin Dross. 10. Auflage 1992. XXXIV, 366 Seiten, kartoniert. ISBN 3 4 ‫־‬523 ‫־‬31310 ‫־‬. Leinenausgabe. ISBN 3 3

‫־‬525 ‫־‬

Inhalt: Das Kind in der Familie / Das Internat / Sommerkolonien / Das Waisenhaus.

Wenn ich wieder klein bin Und andere Geschichten von Kindern. Aus dem Polnischen von Ilka Boll und Mieczysław Wójcicki. 1973. 386 Seiten, Leinen. ISBN 3 0 ‫־‬525 ‫־‬3150 In diesem Band des Friedenspreisträgers des deutschen Buchhandels 1972 kommt der Erzähler Korczak zu Wort. Er hat diese Geschichten für Erwach‫־‬ sene geschrieben, aber auch für jugendliche Leser: mit Phantasie und Humor, stets mit einzigartigem Verständnis fur die Sache des Kindes.

Begegnungen und Erfahrungen Kleine Essays. Aus dem Polnischen von Ruth Roos und Nina Kozłowski. 4 . unveränd. Auflage 1991. 66 Seiten, kartoniert. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1372). ISBN 3 3 ‫־‬525 ‫־‬33332 ‫־‬ »In jugendlich-temperamentvoller, leidenschaftlicher Begeisterung für die Beseitigung der sozialen Not in Polen hat hier der 30jährige Korczak seine Prinzipien und Methoden für seine geplante und auch bald verwirklichte ,Schule für das Leben‘ niedergeschrieben, die in ihrer Aktualität den Leser in Erstaunen versetzt...« Deutsches Ärzteblatt

Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto 1942

Mit einem Vorwort von Friedhelm Beiner. 1992. 119 Seiten mit 1 Abbil‫־‬ dung, kartoniert. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1562). ISBN 3 2 ‫־‬525 ‫־‬33579

Der Text dieses Bändchens ist auch in dem Band »Das Recht des Kindes auf Achtung« enthalten.

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Die phamasievoll illustrierten Originalausgaben JANUSZ KORCZAK

König H änschen I Aus dem Polnischen von Katja Weintraub. Mit einem Nachwort von Elisabeth Heimpel. Zehn farbige Illustrationen von Jerzy Srokowski. 4 . Auflage 1973. 262 Seiten, Leinen. ISBN 3 4 ‫ ־‬525 ‫־‬39106 ‫־‬ »Es ist erstaunlich, wieviel der Pädagoge Korczak Kindern in diesem Buch zumutet, ... erstaunlich deshalb, weil heute in der Kinderliteratur vielfach eineTendenz zur Verharmlosung der Welt festzustellen ist, was zu einer Diskrepanz zwischen der Welt, in der Kinder leben müssen und über die sie lesen können, führt. Korczaks Buch trägt dagegen, wie jedes sehr gute Kinderbuch, bei aller Fabulierkunst den Stempel der Wahrhaftigkeit.« Stuttgarter Zeitung

König Hänschen auf der einsamen Insel Aus dem Polnischen von Katja Weintraub. Mit einem Nachwort von Elisabeth Heimpel. Durchges. von Klaus Staemmler. Sieben farbige Illustrationen von Jerzy Srokowski. 3. Auflage 1993. 186 Seiten, Leinen. ISBN 3 7 ‫־‬525 ‫־‬39144 ‫־‬ »,König Hänschen' - übrigens im gleichen Jahr erschienen wie Kästners ,Emil und die Detektive' - ist das Lieblingsbuch der polnischen Kinder geworden, aber es gehört zu der seltenen Kategorie von Kinderbüchern, die auch die Erwachsenen angehen, weil es dazu auffordert, gemeinsam nach Formen vernünftigen und friedlichen Zusammenlebens zu suchen.« Bayerischer Rundfunk

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