Das sittliche Recht des Krieges
 9783111550480, 9783111181172

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Vorwort
Das sittliche Recht des Krieges
Anhang

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Das sittliche Recht des Krieges von

D. Feröinanö Rattenbusch Geh. Uirchenrat u. ordentl. profeffor der Theologie in Göttingen

Verlag von Alfred Töpelmann (vormals I. Ricker) — Gießen —

190$

Vorwort. Nachstehenden Vortrag habe ich am 1. Februar dieseJahre- in Göttingen gehalten, später in der Christi. Welt (Nr. 22—24) veröffentlicht. Ihn noch einmal, mit einigen Aenderungen und erweitert um einen literarisch-kritischen An­ hang, gesondert erscheinen zu lassen, bewegt mich der Wunsch, eine ernste Frage, die noch zu wenig in der Ethik durchdacht ist, in weiteren Kreisen, besonder- unter unS Theologen, zur Diskussion zu stellen. Es ist fast ein kleine- Wagnis als Theo­ log« irgendwie für ein sittliche- Recht de- Krieg- einzutteten. Denn die in der Att gegnerische Gedanken zu behandeln nicht allzu friedfettigen professionellen Frieden-leute sind unS Theo­ loge«, wenn wir ihnen nicht rundum zustimmen oder wenigstenzu ihren Reden schweigen, besonder- abhold. Ich habe von der Baronin von Suttner den Eindruck einer warmherzigen und nicht kleinlich denkenden Frau; mehr al- ihre Romane „Die Waffen niederI" und „Martha-Kinder" (von denen der letztere der gedankenhafter« ist) kenne ich freilich nicht. E- war mir peinlich zu sehen, wie sehr sie von ihrem Streben nach Gerechtigkeit den Vertretern de- Militarismus al- Personen gegenüber verlassen ist, wo sie (in dem erstgenannten Werke) einen preußischen „Militiroberpfarrer und Konfistorialrat" als „gläubigen" Bertteter des Militari-mu- auftreten läßt. Wohl mag e- Personen geben, die solch eine Verbindung von Pietis­ mus und Militarismus in sich darstellen wie dieser Herr Mölser. Aber daß ein Mann dieser Art al- typischer Repräsentant der evangelischen Denkweise hingestellt wird, ist da- Ungehörige in dem Suttnrr'schen Buche. Ich zweifele allerdings nicht, daß viele, wie die Verfasserin, glauben, die evangelischen Theologen ließen sich genügen, müßte« sich genügen lassen mit bloßen ein­ zelnen Bibelsprüchen und übttgenS mit Hinwegblicken über

4 bie Widersprüche zwischen solchen, zumal zwischen alttestamentltcheu und neutestamentlichen Gedanke«. Als ich meinen Bortrag ausardeilete, kümmerte ich mich, in der Abficht mich nicht ans dem Zuge «einer eigenen Ge­ danke« herauszerren zu laffe«, nicht sehr um die vorhandene Literatur zum Thema. Biel wissenschaftliche Literatur über den Krieg als ethisches Problem gibt es überhaupt nicht, wenigstens nicht viel Spezialliteratur: in den große« Werken über Ethik ergibt fich das Urteil Über den Krieg nach den Prämissen meist mit kurze« Worten. Leser der Ehristl. Welt habe« mir zu« Teil freundliche Beihülfe geleistet, daß ich nichts Belangreiches übersehen milchte; mehrere haben die Güte gehabt, mir eigene Arbetten zugeh«« zu laffen. Daß ich den Bortrag nicht ohne Umschau in der Literatur zumal der letzten Zeit als Sonderschrtst dürfe ausgehen laffen, stand mir natür­ lich von vornherein fest. Absolute Vollständigkeit der Rückfichtnahme auf die Ltteratur, bezw. «ehr als eine aphoristische Auseinandersetzung mtt ihr wird dennoch niemand erwarten. Ein« zusammenhängend« Geschichte der Idee« über den Krieg fehlt noch. A. HaruackS Schrift »Militta Ehristl. Die christlich« Religion und der Soldateustaad tu den ersten drei Jahrhun­ derten" (1905) kaun zeigen, wie pe anzufaffen wäre, um in rechter Weise interessant und instruktiv zu seht. Göttingen, 17. Juni 1906.

F. Kattendnsch.

yen Anlaß zur Wahl meine» Thema- gab mir eine kleine Schrift die den Titel führt „Die Verweigerung be» Heeresdienste» und die Verurteilung de» Kriege» und der Wehrpflicht in der Geschichte der Mensch­ heit." (Selbstverlag de» Berfaffer», Potsdam 1905.) Der Ver­ fasser, Dr. Hermann Wetzel, teilt zum Schlüsse da» Schreiben mit, welche» er im vorigen Herbst, kurz vor dem letzten Termin, an dem er sich zur Ableistung seiner militärischen Dienstpflicht zu stellen hatte, an die Ersatzkommisfion in Potsdam gerichtet hat, um ihr mitzuteilen, daß er unter keinen Umständen sich al» Soldat werde ««»bilden lassen. Gr schreibt:

Ich habe e» al» meine höchste Pflicht erkannt, nach . . . dem durch meine praktische Vernunft erkannten Sittengesep zu leben . . » (und) halte e» für meine Pflicht ... in allen meinen Handlungen . . . meinen Mitmenschen, allen ohne Ansnahme, mit Liebe entgegen» zukommen, ihnen aber nie und nimmer körperlich oder geistig Gewalt anzutun. Infolgedessen kaun ich weder versprechen ... den Befehlen eine» noch da» Rachegesetz bekennenden Menschen zu gehorche», noch sonst irgend eine Handlung zu unternehme«, die auf die Schädigung eine» Menschen abzielt, die aber al» Soldat ununterbrochen von mir gefordert werden würde . . . Borangeschickt hat Dr. Wetzel eine Blumenlese von Aus­ sprüchen alter und neuer, bedeutender und unbedeutender Männer, die da» Unrecht und den Widersinn de» Kriege- behaupten. Gewidmet ist da» Schriftchen dem Andenken de» 1832 gestor­ benen Philosophen Krause (geb. 1781) und dem noch lebenden geistig stärksten Vorkämpfer de» Antimilitari-mu», Graf Leo Tolstoi. ®e» Dr. Wetzel bei der Ersatzkommisfion, die er bittet ihn al» „Vernunstwesen" zu achten und nicht zu versuchen, ihn „durch körperliche Qualen zur Verleugnung feine» Wesen» zu zwingen", durch seine Eingabe erreicht hat, weiß ich nicht. Da er der Kommission auch mitteilt, daß sein „Leib sehr rasch er»

6 liegen werde", fall- man ihn körperlichen Qualen unterwerfen werde, ist er, wie ich vermute, dienstuntauglich befunden und dadurch dem Konflikte persönlich entrückt worden. Indeß damit erledigt sich da- Jnteresse seiner Eingabe doch eben nicht, wie er sie denn auch zugleich der Oeffentltchkeit mit dem Wunsche, damit eine Bewegung der Geister hervorzurufen, vorgelegt hat. Eine Empfehlung ist für mich, daß er sich ohne Deckung von Seiten einer interessanten Persönlichkeit einführt. Er vertraut eben zuversichtlich seiner Sache, dir sich auch dann Beachtung verschaffen werd«, wenn ein ganz junger und noch unbekannter Schriftsteller auf sie Hinweis« und, auf sich allein stehend, nur mit treuem und festem Willen für sie eintrete. Und e- wild vielleicht wirklich genug nachdenklich« Menschen unter un- inner­ lich treffe«, was Dr. Wetzel zumal au- der Geschichte, wenn auch in planloser, zusammenhang-loser Weise mitteilt. Ich bekenne, daß auch mir der Krieg ein ernstliche- sitt­ liche- Problem zu bedeuten scheint, dem mit bloßer froher tap­ ferer patriotischer Stimmung nicht zu begegnen ist. Unter den Autoritäten, die Dr. Wetzel heranzieht, fehlt natürlich Jesunicht. Indeß er legt kein Gewicht darauf, gerade ein .Christ" zu heißen. Er ist nicht ganz sicher, baß e- einmal «inen wirk­ lichen Jesu- gegeben hat. So hält er sich vielmehr an die .praktisch« Vernunft", deren Inhalt ihm absolut klar erscheint und der er zutraut, daß sie jedem ernsten, gewissenhaften Men­ schen innerlich Zeugnt- gebe, daß et mit seiner unbedingten und zu jeder persönlichen Konsequenz entschlossenen Verurteilung de- Kriege- Recht habe. Er ist Krauseaner, und da wir eben mitten in einer Strömung stehen, die vielerlei lange ganz oder halb verschollene philosophisch« Größen wieder emporträgt, finde ich e- nicht unberechtigt, daß auch der edele, wenngleich ziem­ lich krause Karl Krause wieder oder, richtiger gesagt, auch einmal genauerer Beachtung empfohlen wird. Ich gedenke nun freilich nicht meinerseits gerade darauf näher einzugehen. AlTheologen liegt e- mir umgekehrt näher, di« Frage in- Aug« zu fassen, wie da- Christentum zum Kriege stehe und ob, wer sich zu Jesu- hält, urteilen müsse, baß der Krieg al- solcher ein .Verbrechen" sei. Indeß ich möchte doch auch vorerst da- sittlich« Recht de- Kriege- in freierer Weise, ohne Rücksicht auf irgend eine besondere Autorität, in Ueberlegung nehmen. Bon jeder Erwägung konkret politischer Art, also darüber ob wir in unserer

7 Zeit viel oder wenig Au-ficht haben al- Deutsche wieder tu einen Krieg verstrickt zu werben, sehe ich billigerweise ab. Die tatsLchlichen politischen Entscheidungen werden nicht gerade sehr davon beeinflußt, waS wir zur Zeit im Sinne der „Vernunft" oder im Namen von Ethik und Religion in Bezug auf den Stritg „fordern". Nur die Frage möcht« ich einer klLrenden Beantwortung entgegenzuführen versuchen, ob es für Jemand, der den Chorus von Stimmen vernommen hat, die sich in jeder Zett wider den Krieg ausgesprochen haben, im Falle eine­ neuen Krieg- und wenn er dann etwa wieder ein Zeuge würde flammender Bolk-begeisterung, wie wir Aelteren sie 1870 mit­ erlebt haben, bei sich im stillen wirklich Nagen müßte: Meine Blindheit gib mir wieder Und den fröhlich dunkeln Sinn. 1

Das ist für un- natürlich über alle Diskussion htnau-gestellt, daß wir nur einen „gerechten" Krieg in- Auge fasten dürfen. Werden wir in einen Krieg hineingeführt, so wäre es sicher der Gipfelpunkt der Bedrückung aller sittlich denkenden Glieder unsere- Volks, wenn wir urteilen müßten, es sei ein „unge­ rechter", ein nicht genügend begründeter, ein von unserer Seite bei gutem Dillen zu vermeiden gewesener Krieg, in den wir ver­ strickt worden. Aber die Frage, die un- beschäfttgen soll, ist die prinzipielle, ob es überhaupt einen gerechten Krieg gebe. Ist es nicht eben geistige Verblendung, ein noch leider leben­ diger Wahn, daß man die Begriffe „Krieg" und „gerecht" zusammendenkrn könn«; ist kriegerischer Sinn nicht notwendiger­ weise da- Grab für allen gerechten Sinn; muß, wer der Würde der Menschheit bewußt geworden ist, nicht gerade, wenn an ihn di« sogenannte Pflicht der Mitbeteiligung an einem Kriege heran­ treten sollte, ruhig und fest erklären, daß es gelte Gott oder dem Sittengesetz mehr zu gehorchen, al- zufälligem menschlichen, bloß vaterländischen Gesetze? Ich zittere nur einen der Aussprüche, die in dem Schrift» chen, von dem ich au-gtng, gesammelt find; es find Worte des berühmtesten protestantischen Theologen Nordamerikas, des 1842 gestorbenen William Ellery Channing. Dieser schreibt:

Soll dieser Wahnfinn nie aufhörrn? . . . Große Bvlker setzen gleich großen Junge» ihre Ehre darein, der Beleidigung entgegrnzu»

8 treten und sich gut -u schlagen. Ist e- nicht Zeit, daß der Begriff der Ehre eint Aenoerunß erfahre? . . . Die Ehre de- Menschen besteht darin, über Belerdiaungen hinwegzusehen, und so verhält es sich auch mit Staaten ... Ich kann jetzt nicht mehr, wie ich es einst tat, leicht und gedankenlos von einem Kriege mit diesem oder jenem Volke sprechen. Diese- Volk ist für mich nicht länger ein bloßer Be­ griff, nicht mehr eine unbestimmte Maffe. E- entfaltet sich mir in Einzelwesen, in tausend anziehende Gestaltungen und Beziehungen. ES besteht au- Ehemännern und Gattinnen, Eltern und Kindern, die sich einander lieben, wie ich meine Familie liebe . . . E- besteht auArbeitern am Pstuge und in der Werkstatt, für deren Müde ich MitSefühl hege ... ES besteht aus Männern der Wissenschaft, des GehmackS, des Genies, deren Schriften meine einsamen Stunden ver­ kürzt und meinem Geiste, meinen besten Gefühlen Leben und Nahrung gegeben haben. Dies ist da- Volk, daS ich bekriegen, in deffen Fa­ milien ich Trauer senden, deffen Fall oder Erniedrigung ich durch Blutvergießen erstreben soll.

Channing argumentiert hier sehr fein. Er redet gar nicht von der Wohlfahrt deS eigenen BolkS, die man im Kriege daransetze, sondern verweist auf daS, waS man dem anderen Volke antue, wenn man sich in den Krieg treiben laffe. Auch da- edelste Motiv, die Verteidigung der Ehre, nimmt er allein inS Auge. Offenbar will er für die Friedfertigkeit alle Motive der bloßen Ruhe, Wohllebigkeit, gar der Feigheit, die sich nur zu sehr bei vielen Kriegsgegnern hervordrängen, bei Seite lassen. Aber wenn er darauf verzichtet, die gemeine bürgerliche Philistrofität wider den Krieg aufzustacheln, ist eS wirklich und bloß die echte ewige Sprache deS Herzen-, die er laut werden läßt, oder ist eS nicht auch so etwas wie rühr­ selige Sentimentalität? Ich möchte betonen, daß ChanningArgumentation, auf den Kern geblickt, jedenfalls diejenige ist, die am ehesten einen sittlich denkenden Menschen packen kann. Er schärft die Schuldempfindung gegenüber eigenem überreizten Ehrgefühl und zumal gegenüber fremdem Leid. Channing scheint letztlich zu denken, und ich müßte ihm darin Recht geben, daß man e- leichter noch sittlich rechtfertigen könne, sich selbst in die Schanze zu schlagen und dem eigenen Bolle zuzumuten, daß e- Wunden nicht scheuen möge, ellS Andern Berderben zu bringen, daß ein niedergetteteneS Volk dem niedertretenden wahrlich auch zur Gewissenslast werden könne. Unter allen Umständen steht Channing- Gedankenreihe turmhoch über einer Menge von Gewäsche, was Dr. Wetzel leider auch meint unserm Nachdenken empfehlen zu dürfen, welche- bloß darauf basiert,

9 daß eS doch Unsinn sei, wenn im Kriege Leute gegen einander gehetzt würden, Leute einander sich mit allen Listen zu töten versuchten, die sich persönlich in keiner Weise etwas angetan hätten, die wohl gar einzeln alle vor Blutvergießen, „Morden" zurückschauderten und sich nun Plötzlich einreden ließen, daß sie „ruhmreiche" Helden werden sollten und könnten, indem sie sich zu rücksichtslosem Massenmorde zusammentäten. Was ein Swift, Voltaire, ja auch Comenius, Pascal und Andre in dieser Bezieh­ ung mit Spott und Hohn, auch mit pathetischer Entrüstung vor­ gebracht haben, ist wirklich nicht wert, daß man ihm mit ernster Kritik begegne. So steht es doch nicht, daß bloß die Ge­ dankenlosigkeit die Menschen an der Gewohnheit de- Krieg­ führens festhalte. Oder ich will mich ander- ausdrücken: so steht eS längst nicht mehr. Wer heutiges Tages dem Kriege den Krieg ansagen will, der muß vor allem wissen und in Ge­ wissenhaftigkeit mitberücksichtigen, daß wir doch wirklich hinaus sind über die Leichtfertigkeit und gedankenlose, gefühlsrohe Art des Kriegführens, welche- frühere Zeiten geübt haben. Eine Menge de- sogenannten philosophischen Räsonnement- wider das kriegeri­ sche Treiben der Menschen, das man bei Wetzel lesen kann, nimmt seine Gründe von der Art eines Kriegführens, die wir überwun­ den haben oder die doch alle Staaten aufs ernstlichste zu über­ winden versuchen, von jener Art, die darauf verzichtete, das wirkliche Volk-interesse und -empfinden zu befragen, wenn denn ein Konflikt mit einem anderen Volke auftauchte, jener Art, welche bloße Dynastenintereffen für das ausreichende Motiv eines Krieg-, selbst eine- grausamen, schweren, langen Kriegs erachtete, welche überhaupt nach dem „Rechte" für einen Krieg kaum fragte, wenn er Eroberungen verhieß, die vor allem — und das ist für manchen der älteren recht turbulenten Eiferer wider den Krieg wenigstens eine gewisse Entschuldigung seiner Ge dankeneilfertigkeit — die noch bloße Söldnerheere vorau-setzte. In der Gegenwart haben wir in Europa wohl keine Fürsten mehr, die einen „KabinetSkrieg" anzuzetteln wag­ ten, denen eS nicht in lebendige Empfindung übergegangen wäre, daß sie zur Wahrung des Friedens ihrem Volke ver­ pflichtet seien, solange das Volk es nicht verstehen würde, daß ihm um seiner selbst willen, um seiner vitalen Interessen willen zugemutet werde, einen Gang in Waffen zu wagen. Und die Völker Europas haben fast alle, wir in Deutschland

10 schon seit beinahe einem Jahrhundert, ein Heer, das sich auden Söhne« und jungen Hau-Vätern aller Stände rekrutiert, ein Heer, dem all« Gesittung der Ratto« selbst da- Mark deEmpstnden- genähtt, ein Heer, da- gar nicht mehr fähig ist so stumpf und hattherzig sich dem Feinde gegenüberzustellen, wie ehedem die gemietete, zufällig zusammengewürfelte, großenteilau- den gesunkenen Elementen nicht bloß de- eignen Volk-, sondern auch fremder Völker gebildete, naturgemäß von vielen uiedttgen Instinkten, oft bloßer Abenteurerlust und Brvtegier getriebene Soldateska. ES ist ja klar, daß nicht all« modernen Volk-Heere auf gleicher Höhe stehen. Wir wollen uns auch nicht etwa selbst einfach verherrlichen. Auch in unsern deut­ schen Soldaten könne« Leidenschaften aufkvchen und überschäu» men, bk unS schrecken und beschämen. Aber da- ist sicher, daß unsere Soldaten im Kriege wie im Frieden in fester Zucht gehalten werden und nicht den Söldnern verglichen werden dürfen, die ehedem die Kriege fühtten. Auch da- ist Jedem, der sehen will, klar, daß kaum ein Boll noch kriegslüstern ist. Wir in Deutschland haben nicht einmal eine sogenannte Krieg­ partei. Daß unter unseren Berufssoldaten, im Osfizierkorp», einmal so etwa- verlautet wie der Wunsch nach einem «frischen fröhlichen Krieg" kann nur dokttinäre Verbissenheit und blinder Militärhaß al- schweren Posten zu Buch bringen. E- ist wirklich ein etwa- starke- Stück, wenn Dr. Wetzel auch herbei­ bringt, wa- ein Herwegh dem deutschen Volke in- Gesicht zu schleudern wagte: Du bist im ruhmgekrbnten Morden Da- erste Land der Welt geworden. Germania, mir graut vor dir. Mir graut vor dir; ich glaube fast. Daß du in argem Wahn versunken

Da» Menschenrecht vergessen hast.

Rein, da- alle- dürfen wir abwehren. Wir dürfen mehr oder weniger von allen zivilifietten Nationen abwehren, daß sie noch Kriege führten ohne ein Gefühl der Verantwortlich­ keit vor dem „Menschenrecht". Und de-halb muß man heute mit anderen, tiefergehenden sittlichen Reflexionen kommen, aldie Antimilitaristen der Vergangenheit sie meist darbieten. Der Krieg ist längst Allen erkennbar geworden al» höchsten- ein letzte- Mittel, al- ein Unternehmen, da- nur eveutuell sich

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al- Pflicht rechtfertigen lasse, ein Unternehmen auch, in dem nicht mehr da- alte Wort gelte: Inter arma silent leges (Wo di« Waffen klirren, gilt kein Gesetz mehr), ein Unternehmen vielmehr, in dem die Gesetze der Humanität im weitesten Maße aufrecht erhalten werden könnten und des­ halb mühten. ES ist daS sogenannte Völkerrecht, durch welcheseit dem siebzehnten Jahrhundert dem Kriege im weitesten Maße von allen Kulturvölkern anerkannte Rechtsgesetze aufer­ legt find. Ich darf mich da in kein Detail verlieren. Mit großem Eifer und reichem Erfolg ist man am Werke gewesen Methoden festzustellen, wie man Konflikten zwischen Staaten rechtzeitig begegne, um nicht Krieg daraus werden zu lassen, wie man dann, wenn ein Krieg entstanden, ihn so erträglich machen könne als möglich, wie man die Neutralen vor seinen Folgen schütze, seine Schrecknisse für die betroffenen Völker, zumal auch ihre Heere, mildere, ihm so bald als tunlich ein Ende bereite. DaS Alle- läßt sich noch weiter au-bauen und wird noch weiter auSgebaut werden; der Gedanke der inter­ nationalen Schiedsgerichte wird gewiß weiter verfolgt werden. Vielleicht liegt nun aber da der Kern der Frage, daß wir noch nicht gelernt hätten sittlich ein Mehrere- in Bezug auf den Krieg zu erkennen, als daß er einer Umspannung und Durch­ dringung mit Rechts formen nicht widerstrebe. Soweit könne er freilich humanisiert werden, als er eine rechtliche Gestaltung seiner Grundsätze gestatte. Aber e- gebe doch noch andere Ge­ danken über menschliches Tun, andere Gesetze für menschliche Entschließungen als rechtliche. Auch der humanste Krieg sei und bleib« ein widrrsittlicheS Unternehmen. 2

Ich möchte nun doch zunächst einen Philosophen zu Worte kommen lassen, der gerade da- Gegenteil vertritt, der den Krieg vielmehr für eine sittlich« Notwendigkeit, fast möchte man sagen, wie ein- der Prachtstücke der hohen Vernunft, die in der Welt waltet, ansieht und nur scheltende Worte für die­ jenigen hat, die dem ewigen Frieden nachttachten. E- ist Hegel, an den ich denk«. In seiner Rechtsphilosophie sucht er dem Staate recht eigentlich auS den obersten ewigen GefichtSPunken aller Betrachtung der Dinge gerecht zu werden, und da sieht er den Krieg als da- wesentlich« Mittel an, da-

12 Staaten und Völker vor dem Stagnieren bewahrt. Deutlich steht da- Prinzip seiner Philosophie, der Gedanke der Alles im „Werden" erhaltenden Weltvernunft, im Hintergrund. Nichts „Besonderes" darf verharren wollen, letztlich auch kein Einzel­ staat bloß für sich, gar in den Staaten die momentane Ord­ nung. Der Krieg ist immer wieder der Totengräber besten, was zu Unrecht sich über seine Zeit hinaus erhalten will, er saniert in den noch leben-berechtigten Staaten bas innere Leben, solange diese- eben noch sich entwickeln kann. Im Zusammenhänge der Lehre von der Souveränität deStaat- kommt Hegel auf den Krieg zu sprechen (Rechtsphilo­ sophie § 324, im 8. Bande der Werke). Soll diese berechtigt sein, soll sie es wert sein und im Einzelnen Aussicht be­ halten zu bestehen, so muß Alle- im Staate, jeder Bürger in ihm bereit sein sich mit Allem, wa- ihm eignet, für daGanze einzusetzen, dafür „aufzuopfern". Hier sagt Hegel: In dem Angegebenen liegt da- sittliche Moment de- Krieg-, der nicht al- absolute- Uebel und al- eine bloß äußerliche Zufälligkeit zu betrachten ist, welche, sei e- in wa- eS wolle, in den Leidenschaften der Machthabenden oder der Völker, in Ungerechtigkeiten rc., über­ haupt in solchem, da- nicht sein soll, ihren somit selbst zufälligen Grund habe. ... ES ist notwendig, daß da- Endliche, Besitz und Le­ ben, al- Zufälliges gesetzt werde, weil dies der Begriff deS Endlichen tst. Diese Notwendigkeit hat einerseits die Gestalt von Naturgewalt und alles Endliche ist sterblich und vergänglich. Im sittlichen Wesen aber, dem Staate, wird der Natur diese Gewalt abgenommen und die Notwendigkeit zum Werke der Freiheit, einem Sittlichen erhoben; jene Vergänglichkeit wird ein gewolltes Borüberyehen. ... Der Krieg als der Zustand, in welchem mit der Eitelkeit der zeitlichen Güter und Dinge, die sonst eine erbauliche Redensart zu sein pflegt, Ernst gemacht wird, ... hat die höhere Bedeutung, daß durch ihn die sitt­ liche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen da- Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie die Völker ein dauernder und gar ein ewiger Friede, ver­ setzen würde.

Natürlich will Hegel nicht jeden einzelnen zufälligen wirklichen Krieg auf diese Weise mit sittlicher Gloriole um­ kleiden. Er sagt ausdrücklich, daß es ihm nur um die „philo­ sophische Idee" des Kriegs zu tun sei. So schreibt er weiter: Im Frieden dehnt sich da- bürgerliche Leben mehr au-, alle Sphären hausen sich ein, und eS ist auf die Länge ein Versumpfen der Menschen; ihre Partikularitäten werden immer fester und ver-

18 knöchern. Aber zur Gesundheit gehört die Einheit de- Körper-, und wenn die Teile in sich hart werden, so ist der Tod da. Ewiger Friede wird häufig al- ein Ideal gefordert, worauf die Menschheit -ugehen müsse. Kant hat so einen Fürstenbund vorgeschlagen, der Streitig­ keiten der Staaten schlichten sollte, und die heilrge Allianz hatte dre Abficht ungefähr ein solche- Institut zu sein. Allein der Staat ist Individuum und in der Individualität ist die Negation wesentlich enthalten. Wenn also auch eine Anzahl von Staaten fich zu einer Familie macht, so mutz fich dieser Verein al- Individualität einen Gegensatz kreieren und einen Feind erzeugen .. .

Also Kriege sind nötig, weil kein Leben ohne Gegensatz bleiben kann, bleiben darf, weil der Staat im ewigen Frieden durch Verknöcherung seiner Verhältnisse untüchtig werden würde seiner Idee und der Vernunft zu entsprechen: Man hört soviel auf den Kanzeln von der Unsicherheit, Eitelkeit und Unstätigkeit zeitlicher Dinge sprechen, aber Jeder denkt dabei, so gerührt er auch ist: ich werde doch da- Meinige behalten. Kommt nun aber diese Unsicherheit in Form von Husaren mit blanken Säbeln wirklich zur Sprache und ist e- Ernst damit, dann wendet sich jene gerührte Erbaulichkeit, die Alle- vorhersagte, Flüche über die Eroberer au--usprechen. Trotzdem aber finden Kriege, wo sie in der Natur der Sache liegen, statt. Die Saaten schießen wieder auf, und da- Gerede verstummt vor den ernsten Wiederholungen der Geschichte.

Also auch da- ist ein Segen de- Kriegs, daß er die Men­ schen immer wieder auf die Probe stellt, wie weit ihr religiöser Glaube ihnen Ernst ist. Was Hegel aus philosophischen Gründen deduziert, hat Moltke sehr schlicht fast ebenso als seine aus dem gewöhn­ lichen Leben geschöpfte Ueberzeugung kundgegeben. Ich weiß nicht, ob man dem großen Manne zutrauen darf, daß er Hegel gelesen habe, oder ob man seine Worte als eine Art von freier Bestätigung für die Richtigkeit der Hegelschen Gedanken an­ sehen soll. Moltke schreibt in einem sehr bekannten Briefe (an Bluntschli, 11. Dezember 1880, Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten, Bd. V, S. 194): Der ewige Frieden ist ein Traum, und nicht einmal ein schöner, und der Krieg ein Element in Gottes Wettordnung. In ihm entfalten sich die edelsten Tugenden der Menschen, Mut und Entsaaung, Pflicht­ treue und Opferwilliakeit mit Einsetzung des Leben-. Ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen.

Ich kann meinerseits doch nicht zugeben, daß diese bei­ den in tiefem Ernste kriegsfrohen Geister die Stimme zum Schweigen bringen könnten, die sich im Innern zum Wider-

14 spruch meldet. Mir will eS scheinen, daß S heiße über daZiel hinausschießen, wenn man den Krieg zur begrifflichen Not­ wendigkeit stempelt oder, wie Moltke daS schlicht und überzeugt tut, auf einen direkten GotteSwillen zurückführt. Beide sehen in ihm einen, den vielleicht höchsten regulierenden Faktor in dem Getriebe der Weltgeschichte. Auf Hegels Spekulationen möchte ich nicht weiter eingehen. Was Moltke sagt, steht un­ näher. Ihm gegenüber muß doch gesagt werben, daß der Krieg nicht nur solche Tugenden erweckt, wie er fie namhaft macht. Ich halte mich an die Erfahrungen, die wir um unS sehen. I« länger ein Krieg währt, um so unzweifelhafter wirkt er auch verrohend. Im Kriege wächst Alle- in dem Menschen in- Ungewöhnliche, da- Gute und daS Böse. Auch die Religion, der ernste innerliche GotteSglaube wächst im Kriege, aber zugleich wächst gerade in ihm der Aberglaube. E- ist nicht richtig, wie Moltke rS ja nach anderen Aeußerungen auch nicht meint, in dem angezogenen und verbreiteten Briefe aber doch darstellt, daß der Krieg einfach versittlichend wirke: auf das Heer gewiß nicht; auf die Familien, die daheim bleiben, auf die Regierenden, di« die Verantwortung tragen, vielleicht eher und länger, aber auch nicht unbedingt. Auch di« größte sittliche Idee, die hinter einem Kriege stehen kann, die der Abwehr einer Knechtschaft, eine- Joches der Fremd­ herrschaft, unter der ein Volk seine Art zu verlieren droht, ist nicht im Stande, lauter sittlichen Ernst, lauter strenge- Maß, lauter innere Ehre zu sichern. Und auch damit schießt Moltke, wenigsten» im AuSdrucke, über da- Ziel hinaus, daß er an­ deutet, der Krieg sei da- einzige Mittel, um ein Volk vor dem Versinken in Materialismus, in Wohllebigkeit und schlaffer Genußlust zu behüten. Dann wäre eS letztlich für einen Herr­ scher, der erkännte, daß seinem Volke eine Stärkung der sitt­ lichen Nerven not tue, eine Pflicht, Sorge zu tragen, daß ein­ mal wieder kriegerischer Sturmwind entstehe, und gegebenenfalls, wenn keinen Grund, dann einen Vorwand zu einem Kriege wahrzunehmen. 3

Wir werden also nicht zustimmen, daß der Krieg an und für sich als eine Notwendigkeit verstanden werden müsse, sondern werden höchsten- denken, daß er nach den Erfahrungen der Ge»

15 schichte vielleicht eine Unvermeidlichkeit sei; so werden wir unS auch nicht überreden laffen, daß in ihm ein Gut zu sehen sei, vielmehr höchsten-, und die- allerdings ernstlich, zugestehen, daß er viel sittlich Gutes in den Menschen erwecken könne. Er mag unS als ein Leiden erscheinen, daS man je nachdem mit sitt­ lichem Segen oder Unsegen, teils wie einen Antrieb für die Geister sich zusammenzuraffen und zu stählen, teils wie eine Ge­ fahr für sie sehr tief zu sinken, erlebe. Hat dann aber nicht jeder Einzelne das Recht für seine Person zu verlangen, daß er unverworren gelaffen werde mit einer sittlich zum mindesten zweischneidigen Sache? Dürfte nicht der Einzelne beanspruchen, daß es seiner freien Entschließung überlassen werde, ob er sich an kriegerischem Tun beteiligen wolle oder nicht? Der Fall des jungen Mannes, von dem wir ausgingen, taucht da wieder auf. Wir sind nun aber doch wohl in der Lage ihn nicht mehr so völlig als einen Fall von metallechtem Gewiffensanspruch gelten zu laffen, wie dieser selbst ihn findet; wir dürfen schon jetzt dem jungen Manne die Frage vorlegen, ob er sicher sei, nicht einem irrenden Gewissen gefolgt zu sein, indem er sich kategorisch der Erfüllung der ihm von unserem Staate zugemuteten solda­ tischen Leistung weigerte. Es ist klar, daß ein Staat, der es seinen Bürgern frei stellen wollte, der es jedem Einzelnen nach seinem Gewiffen offen laffen wollte, Soldat zu werden oder nicht, zu dem alten Elend der Söldnerei zurückkehren müßte. Die nächste Wirkung einer unbedingten Rücksichtnahme auf den Gewiffensanspruch der Einzelnen, mit dem Militärdienst un­ beschwert zu bleiben, wäre die Förderung der Gefahr des kriege­ rischen Barbarismus, nicht der Friedenshoffnungen. Aber ist und bleibt es nicht einfach richtig, daß man, wie Herr Wetzel das in seinem Schreiben ausspricht, „nie und nimmer" Jemandem „körperlich oder geistig Gewalt antun" darf? Gewalt nach der geistigen Seite spürt, wer wie er Soldat werden soll, ob­ wohl er das soldatische Treiben in dem Ernstfälle deS Krieg­ für „verbrecherisch" hält; körperliche Gewaltübung ist doch der Krieg in dem furchtbarsten Maße, das wir kennen. Ich möchte die Frage, wie die Majorität ein Gewissen, daS sie für irrend hält, praktisch behandeln solle, hier auf sich beruhen laffen. Ich möchte nicht- Weitere- versuchen, al- das zweifelhafte Ge­ wissen über Recht und Unrecht eine- Kriegs überhaupt zu beraten. Da aber ist Eines doch wohl sehr bald klar zu machen, näm-

16 ltch die-, daß der Gedanke, körperliche Gewalt sei unter allen Umständen zu vermeiden, keine-weg- sittlich unanfechtbar ist. ES ist schon mehr als Einer nachträglich dankbar gewesen, daß Jemand, der «eiterblickte als er selbst, ihn mit Gewalt hin­ derte, dies oder da- zu tun. Aber darf man Jemand „ schä­ digen Da- ist eine Frage, die gar nicht so einfach ist, wie etwa Herr Wetzel meint. Ohne den persönlichen Willen der Schädigung setzen wir einander jeden Augenblick der Schädig­ ung au-, ja treiben einander in lauter Gefahren. Oder heißt e- nicht Leute immer wieder dringender Gefahr Preisgeben, wenn wir sie als Lokomotivführer, als Arbeiter in maschinellen Großbetrieben, als Seeleute usw. usw. in Dienst stellen? Nein, davon haben wir uns nicht nur für unS selbst, sondern auch in der Inanspruchnahme Anderer mit Kraft zu durchdringen, daß da- Leben für unS Menschen nicht unbedingt da- Gut der Güter ist. So bleibt denn für den Krieg nur da- die Frage, ob der Entschluß, ihn zu führen, etwa deshalb spezifisch unerlaubt, deshalb vor anderen Untemehmungen, die eine Schädigung an Leib und Leben für vielleicht Biele mit sich zu bringen drohen, verwerflich heißen müffe, weil hier Derartige- zwar nicht al- Selbstzweck, wohl aber als Mittel zum Zwecke beabsichtigt sei. E- ist ja in der Tat der Unterschied derjenigen Schreckniffe, die der Krieg heraufbeschwört, von allen andern, die in übrigen- löblichem Tun, wie Fabrikbrtrieb rc., Menschen sich wohl wechselseitig bereiten, daß jene von vornherein geplant find. Der Feldherr, der in den Krieg zieht, will Menschen töten und könnte e- höchsten- eine wunderbare Fügung nennen, wenn er seinen Zweck ohne da- erreichte. Wer zum Soldaten ausgebildet wird, muß wissen, daß er direkt darauf zugerichtet wird, im gegebenen Fall« viele Andere sehr schwer zu schädigen. Ist daS sittlich erlaubt? ES ist noch nicht da- letzte Wort in der KriegSfrage, wohl aber nunmehr eine ernstliche Aufgabe, daß wir versuchen uns Rechenschaft zu geben, ob der Zweck, dem die Kriege dienen, denn nicht sachlich von der besonderen Art sei oder vielmehr sein könne, daß um seinetwillen auch Besondere- gewagt werden dürfe und verantwortet werden könne. Nehmen wir sogleich und lediglich den besten, ehrlichsten Zweck eine- Kriege-, den wir unS denken können, den Zweck, das Vaterland wider bru-

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taten Ueberfall zu schützen ober von fremden Eroberern zu be­ freien. Ist wenigstens dieser Fall sicher ein solcher, daß er uns ein freies Gewissen schafft, um den Jammer zu verant­ worten, den der Krieg bringen muß, dem Feinde bereiten will, dem eigenen Volke sicher nicht erspart? Ich denke an daS Wort, das Schiller der Jungfrau von Orleans in den Mund legt: Was ist unschuldig, heilig, menschlich, gut, wenn es der Kampf nicht ist umS Vaterland? Aber ist das Vaterland wirklich Alles wert? Wenn der­ selbe Schiller mit flammendem Worte bezeugt: Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles setzt an ihre Ehre,

können wir dann nicht die Frage aufwerfen: Ja muß es denn Nationen geben? Da sind wir ja nun in eins der sublimsten und kompli­ ziertesten ethischen Probleme hineingeführt. Das Problem, das hier auftaucht, ist das des Volkstums und seiner Werte. Es ist wohl nötiger, als Biele zugestehen, die Frage nicht ein­ schlafen zu lassen, ob der Kosmopolitismus, der im achtzehnten Jahrhundert ganz wie selbstverständlich als Ideal galt, nur und rundum zum sittlichen Heile der Menschen im neunzehnten Jahr­ hundert von einem so entschlossenen Nationalismus, wie wir ihn jetzt allenthalben sehen, abgelöft worden sei. Ich kann nun freilich nicht daran denken, diese Frage anders als mit kurzen Andeutungen über die in Betracht kom­ menden Gesichtspunkte zu behandeln. Was den Kosmopolitis­ mus betrifft, so ist es nicht zufällig, daß er großenteils in den Anarchismus ausmündet, oder auch umgekehrt als Frucht des theoretischen Anarchismus erscheint. Ich habe keine Veran­ lassung, auf die konkreten Formen, die der KosmopolitiSmuS gehabt hat, zu reflektieren, sondern nehme ihn in demjenigen Begriff, der am deutlichsten dem Nationalismus entgegensteht. Je nachdem man den ersten oder zweiten der im Ausdruck kombinierten Begriffe („SBelt" und „Bürger") als Auftakt des Gedankens behandelt hat, sind verschiedene Theorien vom „rech­ ten" Kosmopolitismus gebildet worden. Ich verfolge die Theorie, für die der naturhafte Begriff der „Welt" maßgebend ist. (Ist der soziale Begriff des „Bürgers" leitend, so nähert sich der Kosmopolitismus vielfach nur den Idealen des „Völkerrechts".)

18 Mit dem Namen Anarchismus bezeichnet man die Theorie, die keinerlei eigentliche Herrschaft unter den Menschen dulden will. Alle Art von Herrschaft unter unS, die mehr sein will als eine solche der Gewalt, ist di« deS Recht-; gerade fie kann doch auch den Zwang nicht entbehren. Wir kennen kein Recht, können unS auch krinS vorstellen, welche- nur durch Ueberredung wirksam zu werden und sich zu erhalten vermöchte. Andrer­ seits ist da- Recht und der von ihm gebildete Herrschaftsorga» niSmuS, der Staat, nach je länger je deutlicher gewordener GeschichtSerfahrnng national bedingt. Wer sich nicht als Bürger eine- „Volks", eine- nationalen Staat-, empfindet, sondern als Bürger der „Welt", kann kaum ein andere- Ideal haben als jene volle Entschränkung der Individuen, die sich als wissenschastliche Theorie Anarchismus nennt. Diese Theorie will selbstverständlich keinerlei Gerichte dulden. Sie spricht den Men­ schen da- Recht ab, einander zu richten, der Freiheit durch Ge­ fängnisstrafen, gar des Lebens durch eine sogenannte Todes­ strafe zu berauben. Sie ist überzeugt, daß das goldene Zeit­ alter nur deshalb verziehe, weil noch so wenig Menschen da­ große Ideal der unbedingten Selbstherrlichkeit jede- Einzelnen begriffen hätten. Graf Leo Tolstoi ist gegenwärtig in Europa wohl der König der idealistischen Anarchisten. Im Gebiet deS angelsächsischen PuritaniSmuS waren die Quäker seine Haupt­ verfechter. Mit ihnen in geistigem Zusammenhang stand jener Nordamerikaner William Lloyd Garrison, der 1838 einen Bund Aller, die eS erkannt hätten, daß da- Sittengesetz keinerlei Herrschaft menschlicher Art gestatte, zu gründen unternahm. In der Gründung-urkunde diese- Bunde- ist auch sofort der Krieg und seine für di« Gegenwart allein noch wahrhaft mäch­ tig« Quelle, der NattonaliSmuS, die Vaterlandsliebe, aufs Korn genommen. Der sich hier aussprechende Anarchismus will nicht, wie der eigentlich revolutionäre, damit beginnen, daß den tatsächlich bestehenden nationalen Staaten durch Zertrümmerung ihrer Recht-organisation vorerst einmal nach ihrer eigenen Weise durch Gewalt ein Ende bereitet werde, er will nur durch passiven Widerstand zu siegen versuchen. Es heißt in dem angeführten Dokumente u. A. (bei Wetzel, S. 44): Unser Vaterland ist di« ganze Welt, unsre Mitbürger find alle Menschen. Wir lieben unser Heimatland (nur) so, wie wir die andern Länder lieben. Dir Angelegenheiten, Rechte und Freiheiten unserer

19 Volksgenossen sind un- nicht teurer als die der gesamten Menschheit, daher können wir kein Recht -»gestehen, unter Berufung auf daS Ge­ fühl der Vaterlandsliebe Rache für Kränkung oder Schaden, der un­ serem Volke zugefügt wird, zu nehmen. Wir meinen, daß ein Volk weder da- Recht hat, sich gegen Süßere Feinde zu verteidigen, noch die Angreifer zu bestrafen.

Das Weitere in jenem Dokumente zeigt, daß allem Ge­ richtswesen natürlich auch ein Ende bereitet werden soll. Man will kein anderes Reich als ein solche-: in dem Barmherzigkeit und Wahrheit mit einander gehen, dakeine Ruhmsucht noch Teilungen nach Nationen, noch geographische Grenzen kennt, in dem es keine Standesunterschiede, noch Kastenwesen, noch Ungleichheit der Geschlechter gibt, dessen Beamte „Frieden" heißen, deffen Verwalter „Gerechtigkeit", besten Mauern „Lieberbieten" und dessen Tore „Lobpreisungen" sind.

Diese Anarchisten ziehen doch immer eine Konsequenz nicht, nämlich die, daß sie auch der Kultur das Ende predigen, auch sie auflösen zu wollen sich stark machen. Und doch würde ihr Sieg auf das Ende der Kultur hinauskommen. Alle-, was wir Kultur nennen, basiert auf Rechtsordnungen. Man schaffe nur einmal volle und wirkliche Freiheit, d. h. nach dem Sinne der Anarchisten volle und konsequente Entfesselung aller Individuen unter unS, man schaffe absolute Arbeit-- und Lernfreiheit, ab­ solutes Recht der Faulheit, der Gedankenlosigkeit, auch für Jeden, der dazu neigt, der Gier und Frechheit, wir würden ja bald sehen, was aus unserer Kultur würde und wie sehr die Sitt­ lichkeit der Kultur bedarf, um mitaufzusteigen und in den Ge­ mütern Platz zu greifen, nicht in Traumanwandlungen und unfruchtbarem Willen, sondern mit wirklicher HülfSkraft und der Fähigkeit tatsächlichen „LieberbietenS". Diese idealistischen Anarchisten haben ja meist auch wirklich asketische Neigungen, aber nicht viel ernsthafter, als daß dabei Schrullen heraus­ kommen. Sie find meist Leute, die man mit Fug und Recht „wunderliche Heilige" nennt, Leute ohne Weltverstand, allenfalls mit dem Weltverstande des Poeten wie Graf Tolstoi, oder Leute in Verhältnissen, die noch wa- Primitive- an sich haben, wie Garrison in dem Amerika vor 70 Jahren. Sie meinen, Alles um sie herum, was Kultur heißt, werde gewiß von selbst sich so erhalten und fortentwickeln. Sie benutzen frohgemut alle vorhandene Technik bis zum Telephon und der drahtlosen Tele­ graphie hinauf, freuen sich der Kunst und Wissenschaft, der Leich-

20 tigkeit deS Handel-, der Hülfe der entwickelten ärztlichen Kunst usw. usw. Aber wer eS verlangt, daß wir seinen Anarchismus nicht bloß tolerieren wie eine individuelle Idiosynkrasie, vielleicht wie eine Mahnung, nicht alles empirisch Gewordene und zufällig Bestehende in der Kultur zu glorifizieren, auch nicht alles Recht mit dem Nimbus deS „Rechten", des Notwendigen, zu umklei­ den, wer verlangt, daß wir dem Anarchismus im Prinzip zu­ stimmen, der soll auch die unbedingte Rückkehr zur Natur pre­ digen, der soll selbst zeigen, daß er von nicht- Anderm leben will, als was ihm Natur, eigene Arbeit der Hände und meinet­ wegen die Güte irgend eine- Nachbarn in den Schoß bringt. Wer nicht soweit geht, daß er alle Welt aufruft, die Kultur überhaupt preiszugeben und zu der Einfalt freundlicher Tiere zurückzukehren, der darf nicht erwarten, daß man seinen Anar­ chismus sehr ernst nimmt. Wer als Anarchist inmitten der Kulturwelt bleiben will, darf auch nicht verlangen, daß wir ihm schlechthin Freiheit ließen. Was wir nun heute das „Vaterland" nennen und was wir al- solche- lieben, ist mehr als bloß da- „Heimatland". Kosmopolitismus und Anarchismus vertragen sich (begrifflich und praktisch) mit Heimatsliebe, nicht mit „Vaterlandsliebe". Natürlich ist daS Vaterland uns zunächst auch da- Heimat­ land. Denn wehe dem Volke, das keine Heimat mehr hat l Wollen wir aber im Bollsinne vom Vaterland« reden, so müffen wir sagen, eS sei jener Inbegriff von persönlichen und sachlichen Werten, den wir deutlicher als „unser Volk" bezeichnen, dieseVolk, dem auch ein Land gehört, welches in seinem Lande zu einer in deffen eigentümlicher Natur wurzelnden, in der Geschichte fest gewordenen Eigenart sich entwickelt hat, und welche- da- Glück hat, in seinem Lande selbständig und nach seinem Rechte zu leben. Ich kann nicht die vielen immanenten Probleme deS Volkstum-, der Bedingungen seiner Entstehung, seiner leiblich­ geistigen Besonderheit, seines Wachsen- oder Welkens in- Licht rucken wollen. Wir kennen kein Volk, das nicht verkümmerte, wenn es kein Eigenland mehr besitzt oder auf seinem alten ei­ genen Boden die Herrschaft eine- anderen Volkes ertragen müßte. Ein Volk, das im besten Falle wie ein willkommener Gast im Land und unter dem Herrenrechte eines anderen Vol­ kes lebt, hat die Gefahr, daß auch die Individuen in ihm ver­ kümmern, weil sie sich auch bei größtem Schutze doch letztlich

21 nur wie Geduldete empfinden. Und nun frage ich, darf ein Volk für sein Land und seine Selbständigkeit einen Krieg wa­ gen? Sein Besitz und sein Recht find seine Ehre. Denn Ehre im sittlichen Sinn ist die Summe der Faktoren, ohne welche man sich nicht in seiner sittlichen Art behaupten kann. ES ist ein wunderlich kurzer Verstand, der unter Ehre sich nur Ruhm denken kann. Aber muß denn ein Volk fittlichermaßen eben sich behaupten? Ja da weiß ich nun freilich keine Antwort weiter, als daß ich darauf verweise, daß wir Menschen auf diesem Stern, den wir die Erde nennen, nun einmal nicht zum Le­ ben erwachen, es sei denn in individuellen Formen, und daß wir eS wiederum bisher nicht anders wissen, als daß sich unter uns durch Natur und Kultur Kollektiveinheiten bildeten, die als Völker durch die Geschichte schreiten. Gewiß ist keinem Volke verheißen, daß es nicht untergehen könne, sich nicht um­ bilden, mit andern zu einer neuen größeren Individualität ver­ schmelzen könne. Aber das wissen wir: eS hat auch kein Volk das Zeugnis, daß es alle andern an Wert überstrahle, also daß es verlangen dürfte, alle andern sich untertan zu machen und mit der Zeit zu assimilieren. So steht unter den Völkem Recht gegen Recht. Welchem Volke haben wir zu sagen: es dürfe sich jedenfalls nicht für sein Land und sein Recht wehren? Und doch hat der Kosmopolitismus auch ein Recht. Haben die Nationen ein sittliche- Recht, weil es nicht Laune ist, waS sie geschaffen hat, so haben sie doch kein höheres Recht als da- von Gliedern der Gesamtgattung. Lebendig muß in ihnen bleiben, daß keine das Menschentum erschöpft. In der Gegen­ wart, wo der Chauvinismus als die Karrikatur des Nationalis­ mus nur zu sehr wie ein Gift durch die Völker schleicht, hat der Kosmopolitismus doch so etwas an sich wie ein feierlicher Glockenklang. ES fragt sich, ob die Vielheit der Instrumente im sogenannten Bölkerkonzerte nicht Gefahr läuft, allzu oft schrille Mißtöne zu erzeugen, wenn die Glocke, der eherne ewige Ton von dem einen allgemeinen Menschentum über allen Partiku­ laritäten, zum Schweigen gebracht würde.

4 Wir reden im Christentum von einem Reiche GotteS, dem die „Reiche dieser Welt* dienstbar werden müßten. Ja kann man denn nun an das Christentum denken, ohne von neuem in

22 alle Skrupel zu kommen, ob Kriege wirklich sittlich zu rechtfer­ tigen seien? Ich sagte vorhin (S. 16), daß ich nach aller Erör­ terung der sittlichen Werte, die jedes Volk in sich und seiner Selbständigkeit zu repräsentieren glauben dürfe, doch noch eine letzte Frage aufwersen müßte. DaS ist nun die, ob Leiden und Dulden, zutiefst stummes Verzeihen, nicht das Mittel wäre, zuletzt gerade allen Völkern zu helfen. Versetzen wir un» ein­ mal in den eigentlichen Geist eines Garrison. ES ist klar: Garrison meint, die Sache könne etwa den Gang nehmen, daß zuerst Einzelne, die Glieder eine- freien Bunde- von Menschen erklärten, sie seien bereit, jede Feindseligkeit zu dulden und jedenfalls sich an keinem Kriege zu beteiligen. Vorerst würden nur zu Biele übrig bleiben, die doch Kriege mitmachten. Jene absolut leidenswilligen Friedensfreunde würden auch ruhig nach wie vor mitschaffen an allen Kulturwerken, soweit man ihnen nur gestatte. Die Kultur werde gewiß an chuen noch nicht sterben. Die Lauterkeit und Selbstlosigkeit ihrer Gesinnung müffe doch Eindruck machen. Mit der Zeit würden immer mehr Menschen sich zu ihnen gesellen, zuletzt vielleicht die Majorität eines Volks. Und durch eine solche würbe dieses Volk jetzt in seiner Willigkeit, sich unterjochen zu laffen, ohne doch dabei feige zu sein, vielmehr nur erfüllt vom Geist« des Martyriums den Andern zum Zeugen werden, welche heilige Größe im Dul­ den und Berzeihen liege I Und bann werde sich im Großen wiederholen, was zuvor im Kleinen geschehen. Auch ander« Völker würden mitwillig werden Gewalt zu leiden, statt Gewalt zu üben und der Gewollt mit Gewalt zu begegnen. Sie würden allen ihren rechtschaffenen Geschäften und Interessen nachgehen und so letztlich der Ansatz werben zu einer kulturfrohen, immer noch in Völkern bestehenden und doch über alle ihre natürlichen Unterschiede hinweg in freier Liebe verbundenen Menschheit. Müssen wir nicht sagen: Ja daS ist auch ein Weg, ja das ist der rechte Weg um Alles lebendig zu erhalten, waS auf Erden lebendig zu bleiben verdient? Wäre daS nicht vor allem der Weg, den die Christenheit billigen und wenigstens einmal ver­ suchen müßte, wenn sie ihre- Namen- würdig wäre? Müßte nicht der einzelne ernste Christ sagen, er werde sicher, eS koste für ihn waS eS koste, feine kleine Person und sein bischen Leben nun dafür einsetzen, daß dieser Weg wenigsten- zur Dis­ kussion unter den Menschen gebracht werd«? Wäre da< nicht

23 die rechte Probe einer Jüngerschaft Christi, dessen Worte doch wahr­ lich deutlich genug auf diesen und keinen andern Weg hinwiesrn? Lassen wir Jesu Worte vorerst noch einmal bei Seite und erwägen wir die innere Ueberzeugung-kraft der Gedanken­ reihe, die ich im Sinne etwa Garrison- formulierte. Ich ge­ stehe, daß ich sie nur für idealistisch in jener Bedeutung er­ klären kann, die sich mit utopistisch deckt. Sie entfernt sich soweit von aller Wahrscheinlichkeit des Erfolge-, daß e- sich doch ernstlich fragt, ob e- gestattet ist zu einem solchen Experi­ ment auch nur durch Zuwendung von Sympathie aufzumuntern. Ich will zunächst annehmen (nicht etwa ohne weitere- zugeben), Jesus habe gedacht wie Garrison. Dann ist das Erste, wa- zu sagen wäre: wenn Jesu- mit solchen Gedanken nicht hat durch­ dringen, mit seinem Borbilde keinen wirksamen Erfolg hat er­ zielen können, wie sollte eS einem Garrison gelingen? Wenn Jesu erste Jüngergemeinde nicht stark genug war, um als Sauer­ teig die Menschheitsmaffe zu durchdringen (sie ist mit ihrem Frie» denSfinn und Leiden-willen historisch zu einem heiligen Erinner­ ung-bilde geworden, der katholischen Kirche etwa noch dafür gut, um für ihren Klerus, der sich wahrlich nicht durch Bereit­ schaft zum „Dulden" von „Unrecht" auszeichnet, das „Privi­ leg" der Befreiung vom Militärdienst zu beanspruchen), war es da zu erwarten, daß Garrison- Non-Resistance Society auch nur einen wirklichen Achtungserfolg davon trug? Denn in Wirklichkeit ist sie, soviel ich weiß, kaum zu Stande ge­ kommen und längst verschwunden. Man hat dem gegenüber nicht zu sagen: „Ja da- ist eben der Abfall der Kirche von ihrem Evangelium, aber dieser erste und gewiß schwere Fehlschlag darf un- Freunde de- Frieden- nicht irre machen. In Garrison und Anderen hat doch Jesu Borbild und der Geist seiner Zeugen wieder Gestalt gewonnen, und wenn e- un- abermalnicht auf die Dauer gelingt, wiefern beweist da-, daß e- nicht gelingen kann? Wir wollen trotz allem von neuem SLeleute für Jesu Gedanken sein." Man hat so nicht zu sagen, weil dabei Zweierlei verwechselt ist, waS nur in sehr verschiedenem Maße die Zuversicht und Entschlossenheit der Menschen herauS» fordern darf: die sittliche Idee al- solche und da- Urteil in Hinsicht der Methode für sie in concreto. Die sittliche Idee selbst ist die Liebe; waS ein Garrison :c. verlangen, da- un­ bedingte Dulden, ist nur eine Methode der Liebe.

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Ja aber hat nicht wirklich Jesu- diese Methode allein betätigt? Und heißt «S nicht ihn selbst seiner Autorität unter unS entkleiden, wenn wir seine Methode beanstanden oder be­ mängeln und für historisch, um mich kurz so auSzudrücken, ge­ richtet erklären? Gemach, da- habe ich nicht gesagt und brauche ich nicht zu sagen. Denn rS ist ein Irrtum zu meinen, daß Jesu- da- Dulden wirklich die Methode der Liebe überhaupt genannt habe, er hat es nur die Methode seiner Liebe genannt. „De- Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondem daß er diene und gebe sein Leben zu einer Er­ lösung für Biele" (Matth. 20, 28). Jesus hat nicht unbe­ stimmt und ins Ungewisse hinein sein Leben geführt und sein Evangelium verkündet, sondern er hat sich gewußt als betraut mit einem ganz persönlichen, nicht übertragbaren, auch nicht nachahmbaren Berufe, mit der Stellung und Aufgabe des Messias. Und wir verstehen allerdings, daß er eS dann bewährt hat, wirtlich der Messias, der GotteSkönig unter unS und der Stützpunkt unserer Seelen zu sein, daß er seine Liebe betätigte durch Dulden, nur durch Dulden, als die Torheit und Bosheit der Menschen ihn an das Kreuz brachte und dadurch zu besei­ tigen gedachte. Aber ich will nun wirklich zugeben, daß er auch seine Jünger angewiesen hat, einfach und nur zu dulden, waS etwa die Menschen ihnen antäten. ES find gewiß treu bewahrte Worte deS Meisters, die wir bei Matthäus (5, 39 ff.) als solche der Bergpredigt lesen: „Ich sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel, sondern so dir Jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar rc." Aber auch das bedeutet nicht, daß er daS Dulden des Unrechts, das „Nichtwiderstehen" bei erfahrener Bosheit kurzweg und für jeden Fall als „die" Methode der Liebe hingestellt habe. Wir müssen in mancherlei Beziehung lernen, den Jesus der Geschichte anders hinzunehmen, als wir meist gewohnt sind, d. h. wie eine garnicht in Raum und Zeit gestandene Persön­ lichkeit. Auch diesem Gedanken entspricht eine richtige religiöse Ueberzeugung, die, daß wir al» Christen in lebendiger innerer Beziehung zu ihm stehen in jeder Gegenwart. Aber da» darf uns den Blick nicht dafür verdecken, daß daS dokumentarische Bild, welches wir von ihm in den Evangelien haben, ihn unS zeigt als Jemand, der an einem bestimmten Orte unter gege-

25 denen Verhältnissen und, wie ich das schon sagte, als Träger einer besonderen Mission auf Erden, als Messias, gehandelt und gelehrt hat. Wenn wir das begreifen, so werden wir gefeit gegen die Vorstellung, daß er vom Sittengesetz geredet habe wie nur ein Moses höherer Ordnung, d. h. wie Einer, der zwar größere tiefere Gebote, als Moses, aber doch auch bloß einzelne solche verkündet habe. Und nicht minder werden wir dann gefeit gegen die Vorstellung, daß er wie ein Theoretiker und ethischer Systematiker „Alles" zu sagen bemüht gewesen sei, was man wohl in dem Sittengesetze finden und mittelst seiner im Einzelleben und im Leben der Gesamtheit schaffen könne. Nein, er hat nur ganz wenige Menschen direkt und mit scharfer Einzelweisung sittlich beraten, in seinen Einzel­ weisungen wieder nächste Zwecke, die wir nicht immer mehr er­ kennen können, berücksichtigend. Was er seinen Aposteln un­ mittelbar zur Pflicht gemacht hat, ehren wir mit der ruhigen Zuversicht, daß er gewußt habe, warum er es getan. Wir würden es nicht in seinem Sinne ehren, wenn wir es für jeden Nachgeborenen zum Gesetzesparagraphen machten. Mit solchem Mißverständnis hat schon Paulus gekämpft und er hat ihm das große Wort entgegengestellt: „Der Herr ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2. Kor. 3, 17). Der Geist Jesu gibt uns Freiheit dem Freunde, auch dem Feinde gegenüber, Freiheit auch in der Methode der Liebesübung! Und nun lassen Sie mich den Schluß machen mit einer richtigen d. i. geistgemäßen Interpretation des Gebotes der Feindesliebe und auch einer Anwendung dieses Gebotes auf das Verhältnis hadernder Völker. Es ist deutlich eine prin­ zipielle Zusammenfassung dessen, was er Neues über den Ge­ halt des „Gesetzes" zu sagen habe, wenn Jesus in der Berg­ predigt nach den Ermahnungen, die den Jüngern die rechte Art Verletzungen, Beleidigungen, ungebührliche Zumutungen aufzu­ nehmen bezeichnen wollten, und die nach der einen Seite in der Weisung „nicht zu widerstreben", nach der andern in Exempeln gewissermaßen von rechter Uebertrumpfung gipfelten, den großen Gedanken formuliert, es gelte auch den Feind zu lieben. Ich brauche wohl kein Wort darüber zu verlieren, daß die spezielle Zumutung an die Jünger, den Schlag auf die eine Wange nur mit der Aufforderung zu erwidern, auch die andere schlagen zu wollen, die Zumutung, dem der wegen eines Rockes mit

26 ihnen prozessieren wolle, willigst sogar den Mantel dazu anzu­ bieten rc., nur Illustrationen sind für die vorangestellte Weisung »nicht zu widerstreben*. Diese Illustrationen haben jedoch den Wert zu zeigen, daß JesuS unter dem »nicht widerstreben* mehr al- «in gedankenlose- Dulden versteht. Ich meine, man begreife unmittelbar, daß jene Illustrationen den Gedanken aus­ drücken, man solle den Gegner innerlich zu beschämen versuchen, auch das nicht, um daran eine Form von raffiniert geistiger Rache sich zu schaffen, vielmehr offenbar um den Gegner umzu­ stimmen. Daß daS Jesu Gedanke ist, werden wir unter Anderem daraus ableiten dürfen, daß er selbst hernach, als er bei seinem Verhör von einem Diener deS Hohenpriesters wirklich auf eine Backe geschlagen wurde, doch nicht mechanisch nach seinem Worte in der Bergpredigt gehandelt, sondern eben daS betätigt hat, was ein rechter Versuch des Beschämens und UmstimmenS war: Habe ich übel geredet, sagt er jenem Diener, so beweise eS, daß eS böse sei; habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich? (Joh. 18, 23.) Das wird Niemand anders bezeichnen denn als auch ein „Nichtwiderstreben*, ein Dulden, aber eben kein gedankenloses, zielloses. DaS müffen wir im Auge behalten. Ich sagte, wir werden denken müssen, daß JesuS seinen un­ mittelbaren Hörern, dem intimen KreiS, der ihn umgab, und dessen Glieder wie er selbst eine besondere Mission erfüllen sollten, direkt und wörtlich einschärfen wollte, sich wirklich »Alle­ gefallen zu lassen. * Aber eS ist sicher, daß er damit nicht etwa der Schwäche und Feigheit einen Schlupfwinkel verschaffen wollte, sondern gerade an Entschlossenheit und Mut gedacht hat und daß er ein eigentümliches Wahrnehmen auch der Sonder­ situation zur Pflicht macht. Da- verstehen wir, wenn wir denken, daß er alle Art von sittlichem Verhalten, auch dagegenüber der Bosheit, Rechthaberei, Begehrlichkeit geforderte »Nichtwiderstreben*, als wirkliche Pflicht verständlich macht auS einem Zielgedanken, der ihm überall leuchtete und von dem er verlangte, daß er auch den Seinigen überall leuchte. Da- aber ist der Gedanke, Allen zu helfen und Alle zu fördern. Denn das ist da- Wesen der Liebe. Spricht JesuS es in der Bergpredigt schließlich ausdrücklich au-, daß auch der Feind von uns Liebe erfahren müsse, an unserem Verhalten eS spüren müsse, daß Liebe in unseren Herzen wohne, Liebe auch gegen ihn, so heißt da-, daß wir erkennen sollten, der Feind bedürf« ganz beson-

27 der- der Hülfe und Förderung. Ja worin denn? Nun an dem, woran Jeder von uns, der aber, welcher liebloser ist alwir selbst, unser Feind, besonders der Förderung, der Hülfe bedarf, an seiner Seele. Das ist der letzte Hintergrund aller Gedanken Jesu, daß wir Menschen eine Seele hätten, die für Jeden mehr bedeute al- die „ganze Welt", alle Ehre und aller Reichtum der Welt. Wie so denn? Nun, weil ein Mensch mehr sei oder sein könne als die Lebewesen, die in der Welt, in der Natur ihr Ziel erreichen. Und nun dürfen wir ohne jeden Zweifel in seinem Sinne denken, daß wer noch von Begehrlichkeit, Rechthaberei, Bosheit umgetrieben werde, im höchsten Maße gefährdet sei, gefährdet an seiner Seele, gefährdet an dem, was an ihm für ein höhere- Leben, al- das der Welt, bestimmt und befähigt sei. Da soll denn der, der dieses Leben kennt und schon in sich spürt, be­ greifen, daß er einem Solchen gerade dann, wenn er e- persönlich zu erfahren bekommt, mit einem wie bösen, harten Sinn er es zu tun hat, durch sein Verhalten zu zeigen habe, daß er ge­ fährdet sei, daß er Hülfe bedürfe. Nicht mit Worten soll er ihm da- zeigen, sondern durch ein überraschende- Tun, ein spürbare- Entgegenkommen, wo der Andere vielmehr ^Wider­ streben" erwartet. Ein Christ soll dadurch, daß er selbst seinem persönlichen Feinde noch entgegenkommt, diesem zum Bewußt­ sein bringen, welchen Allwert die Liebe für eine Seele habe: vielleicht daß er ihn umstimmt. Aber da- Entgegenkommen, da- Helfen und Fördern wird nun natürlich dem Feinde gegen­ über nicht in jedem Falle dieselbe Form annehmen können. E- kann tausend Fälle geben, e- kann ganze große Situationen geben, wo einfache- schlichte-, stumme- Dulden dem Gegner und Feinde zeigt, daß man ihn liebe, seiner Seele gedenke, ihn nicht reizen und verstocken wolle. E- kann aber auch Fälle ganz anderer Art geben. Wir können in zwei Gedanken zusammenfaffen, wa- Jesu- sich unter FeindeSliebe denkt. Da­ ist negativ: keine Rache nehmen, positiv: bereit sein zum Ver­ zeihen. Ja aber kann man Jedem verzeihen? Auch dem, der gar keine Verzeihung begehrt? Der sich verstockt in dem Gedanken an sein Recht zur Böswilligkeit? Wir berühren da in der Tat noch den sittlich schwierigsten Punkt in der FeindeSliebe. Wir finden in der Bergpredigt auch noch eine wohl Manchem rätsel­ haft erschienene und doch der Liebe auch verständliche Weisung:

28 das ist da- den Jüngern auch mitgegebene Wort, daß sie ihre Perlen nicht vor die Säue werfen sollten (Matth. 7, 6). Dies Wort ist sicher in Jesu Sinn auf Alles anzuwenden, was mit dem Evangelium zusammenhängt, auch auf das Verzeihen, näm­ lich nicht zur Einschränkung des Berzeihungswillens, sondern zur Einschränkung der unmittelbaren und bloßen Kundgebung (wieder nicht des Berzeihungswillens, wohl aber) des tatsäch­ lichen Verzeihens. Und das ist eS, was auch noch andere Me­ thoden der FeindeSliebe,der Rücksicht auf die nicht zu vergesiende Seele des Feindes vielfältig zur Pflicht macht, als das Nicht­ widerstreben". Letztlich ist die sittliche Feindesliebe der Ver­ such eines Erziehens. Ist nach den Umständen klar, daß der Feind es nicht begreift, nicht begreifen will, daß nicht Schlaff­ heit, bloße Empfindungslosigkeit, mangelhaftes Ehrgefühl, viel­ mehr wirkliche Rücksicht auf seine Seele, reiner und besonnener Wille ihn nicht zu bestätigen und zu stärken in seiner Gesinnung, sondern ihn davon zu befreien, die Quelle eines stillen gedul­ digen Tragens und Sichgefallenlassens ist, so soll und muß dieses ein Ende haben, nicht überhaupt, aber bis dahin, wo der Gegner den rechten Blick gewinnt. Ich weiß nicht, ob es ein Wort Jesu selbst ist, was wir Matth. 18, 15 lesen. Da heißt eS: „Sündiget dein Bruder an dir, so gehe hin und setze ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Höret er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen." Höret er aber nicht, heißt es dann, so sage es der Gemeinde. „Höret er die Gemeinde nicht, so halte ihn als einen Heiden." Das will heißen: auch ein rechter kraftvoller Berzeihungswille kann nicht immer in wirklichem Ver­ zeihen enden. Hat Jesus jenes Wort nicht schon selbst gesagt, so widerspricht es doch nicht seinem Gedanken der Liebe. Denn zu helfen ist nur dem, der Hülfe annehmen will und nicht den bloß verspottet, der ihm helfen möchte. Ist es der Sinn der Liebe zum Feinde, daß man versuche nicht bloß sich zu saldieren wider ihn, überhaupt auch seinem Tun gegenüber nicht sowohl an sich selbst zu denken, als an den Andern und seine Gefahr, so kann diese Liebe naturgemäß ihre direkte Kraft nur entfalten, wo sie begriffen wird. Es ist kein Rachenehmen, sondern nur ein Beweis dafür, daß man weiß, was dem Feinde wirklich helfen kann, nämlich ein rechter Zwang sich zu besinnen, daß man ihn unter gegebenen Umständen auch einer Strafe überläßt. Und nun höre ich die Frage: das Alles soll ja wohl letzt-

29 lich heißen, daß auch Krieg und Feindesliebe sich nicht wider­ sprechen, am Ende wohl gar, daß Bekriegung auch ein Aus­ druck von FeindeSliebe sein könne? Ich meine das in der Tat. In den Erörterungen, die ich anstellte, ehe ich spezifisch als Theologe an die Frage nach dem Rechte eines Krieges heran­ trat, ist ja zur Genüge gesagt, daß ich den Krieg nicht verherr­ liche. Er ist immer ein Uebel und ein Leid. In irgend einem Maße steckt in ihm immer eine Schuld, wohl durchweg auf beiden Seiten. Aber das eine Teil kann die mindere Schuld tragen, im Momente der Entscheidung vielleicht überhaupt keine Schuld. Setzen wir den Fall, daß nicht wir den Krieg herauf­ beschworen haben, sondern der andere Teil. Setzen wir den Fall, daß wir alle Mittel ehrlich und nachhaltig versucht haben, die in Kollision geratenen Interessen friedlich gegen einander abzugrenzen, nehmen wir an, daß es sich wirklich um vitale Interessen für uns handele, nicht um Ruhm, aber um die Ehre, um unser Recht das zur Geltung zu bringen, was uns gebührt — dürfen wir uns, um es zusammenzufassen, das Zeugnis geben, nicht mit Egoismus, nicht mit Begehrlichkeit, nein, mit gutem Willen, in dem Konflikte zu stehen: so hieße es nicht sittlich, sondern unsittlich handeln, wenn wir dem andern Teil einfach und unbedingt nachgäben, nur „duldeten" was er uns zumutet. Jesus denkt bei der Feindesliebe an die einzel­ nen Seelen, es gibt aber auch Völkerseelen. Und auch diese haben ihre Gefahren. Die schlimmeren, weiter noch reichenden als die der einzelnen Seele. Ein Volk, das sich an Hochmut und Brutalität gewöhnt, gefährdet sittlich jedes einzelne seiner Glieder. Ist es in Privatverhältnissen nicht der Sinn der Forderung Jesu, daß wir dem Feinde Vorschub leisten in seiner Gesinnung als solcher, seinem Hasse, seinem Egoismus, so ist es auch unter Völkern nicht seinem Geiste entsprechend, daß eines dem anderen zum Fallstrick werde, um sich dauernd in Begehrlichkeit, dumpfer Abneigung, oder was gerade das eine wider das andere zur Feindseligkeit treibt, zu verfangen. Auch Völker sind es einander schuldig — um des Gedankens der „Menschheit" willen — sich zur Besinnung zu rufen. Der Krieg ist unter Umständen das einzige Mittel, wie das gesche­ hen kann, und dann hat das „unschuldige" Teil sich nicht des Mangels an Liebe zum Feinde, nicht der „Unchristlichkeit" zu zeihen, sondern darf wissen, daß es noch in der Liebe steht, in-

30 dem e- widersteht, indem eS den Krieg auch führt, nun wie eben ein Krieg geführt werden muß. Im Riiege haben hundert­ fältig Gegner einander erst achten gelernt und den Grund zu gesundem Frieden gelegt. Ein Soldat braucht nicht zu denken, sein Tun schließe ihn eigentlich auS von der Christengemeinde, oder er könne nur neben seinem Christentum her auch ein tapferer und entschlossener Krieger sein. Jesu- hatte, als er auf Erden weilte, eine andere Mission, als über Kulturwerte und Kultur­ aufgaben im Verhältnis zum Gedanken der Liebe zu reflektieren und zu dozieren. Wir aber, die wir den Geist besten, was er Liebe nannte, verstehen können, mögen deß guter Dinge sein, daß er im Geiste auch im „rechten* Kriege unter uns waltet. Gewiß gibt eS verbrecherischen Krieg-willen, aber auch eine christ­ lich« Kriegsrntschloffenheit. Wir verstehen eS, daß der Geist der sittlichen Liebe anheben mußte unter uns mit bloßem Dulden und Leiden, aber auch daß er zu seiner Zeit den christlich ge­ wordenen Völkern nicht gestattet hat, ihr Land, ihr Recht, ihre Freiheit, ihre Ehre für Nichts zu erachten, sondern für Heilig­ tümer, für die auch Kriege zu wagen ein rechte- und sittliches Tun sei.

Anhang. Das Merkchen von Wetzel erhebt nicht den Anspruch eine wissenschaftliche Leistung zu fein; eS nimmt seine Zitate meist auS zweiter Hand: selbständig scheint mir wesentlich nur zu sein, waS aus Krauses Werken beigebracht wird. Samm­ lungen von kürzeren und längeren Ausführungen verschiedenster Personen („Denker* wäre für viele darunter eine zu hoch ge­ griffene Bezeichnung), die dem Kriege gelten, seinen Unsinn, seine Frevelhaftigkeit dartun sollen und dagegen den Frieden feiern, gibt es mannigfach. So bei Tolstoi besonders in „Besinnt Euch! Ein Wort zum russisch-japanischen Kriege*, deutsch von R. Löwenfeld, 1904. Auch B. von Suttner bietet eine Sammlung in ihren Romanen. Vgl. auch „FriedenSstimmcn. Eine Anthologie*, herausgeg. von L. Kätscher (eingeleitet von Konr. Ferd. Meyer und B. v. Suttner) o. I.: enthält „Dicht­ ungen* und „Goldkörner* d. i. Sentenzen von 200 mehr oder weniger bekannten Vertretern der meisten Kulturvölker, Fürsten, Politikern, Militär-, Kirchenmännern, Philosophen, Geschichts­ schreibern :c., im einzelnen bunt durch einander (der Prophet Jesaja erscheint S. 299 unter „Verschiedene*, zwischen Graf Hompesch und Ludwig Kunwald, Rechtsanwalt!) — zum Schluß werden einige „Erzählungen* geboten. Tolstoi hat sein Ver­ ständnis deS Christentums, speziell seine Theorie vom Richt­ widerstreben, zuerst vollständig entwickelt in dem Schriftchen „Mein Glaube* (erstmals in Deutschland erschienen, 1885; ferner jetzt Gesammelte Werke, herausgegeben von R. Löweuseld, Sb. 2, 1902). In dem nachfolgenden größeren Werke „DaS Reich Gottes ist in Euch* (ebenda Sb. 6 u. 7, 1903) berichtet er über den Widerhall, den er gefunden. Besonders aus Nordamerika, von den Quäkern dort, hat er Zuschriften erhalten und erfahren von den Vorläufern, die er gehabt habe.

82 So hat er von Garrison und Adin Balu gehört. Wa» Wetzel über ersteren mitteilt, ist (wie er auch selbst angibt) auS Tolstoi entnommen; man wolle bei diesem das Genauere nachlesen. Im Grunde ist jedermann zur Zeit ein Freund aller auf­ richtigen und einsichtigen FrirdenSbestrebungen. Auch diejenigen, welche den Krieg nicht nur für „unvermeidlich", sondern auch „notwendig" halten, find meist nicht Freunde deS Krieg». Fast von allen bedeutenden Kriegsführern, selbst einem Napo­ leon I, find Aussprüche nachzuweisen, die eine Schauderrmpfindung gegenüber dem Krieg in seiner tatsächlichen Erscheinung, seiner Not, bezeugen. Man wird nicht an Heuchelei denken. — Die Entwickelung der Ideen vom „Völkerrecht" ist nicht so kompliziert, daß es sehr schwierig wäre, sie zu verfolgen. Die Namen der Haupttheoretiker seit Hugo GrotiuS, St. Pierre rr. sind nicht unbekannt, zumal seit der Verbindung der Friedensidee mit der Theorie vom Freihandel (A. Smith, C o b d e n rc.). Letztere Kombination hat der Friedensbewegung unleugbar bei vielen geschadet. Dazu die Phrasenfülle, die sie wie eine fast undurchdringliche Schicht lange Zeit, ja noch immer zum Teil, umlagert. ES ist auch zuviel „cant" oft bei der Sache gewesen, nicht zum wenigsten bei den englischen Friedens­ predigern. Bei Tolstoi freilich fehlt er völlig, da« macht ihn hier, wie überall, anziehend und eindrucksvoll. Die Ausbildung eines „Völkerrechts" ist langsam, aber doch unaufhaltsam vorwärtSgeschritten; vgl. für den gegenwärtig gültigen Bestand an Vereinbarungen etwa F. E. von Lißt, Das Völkerrecht syste­ matisch dargestellt, 3. Ausl. 1904, für die Bedeutung speziell der Haager Konferenz von 1899, etwa Ph. Zorn, „Die völker­ rechtlichen Ergebnisse der Haager Konferenz", Deutsche Rund­ schau, Bd. 102 — 1899—1900, Bd. II, S. 68 ff., 149 ff., 208 ff., auch den sehr einsichtigen Aufsatz von E. Schlief, „Das Ergebnis der Haager Konferenz", Christi. Welt 1899, Nr. 33. (Dieser ganze Jahrgang der Christi. Welt ist voll von Artikeln über den Krieg und seinen sittlichen Charakter, bezw. Politik und Moral. WaS M. Rade, Nr. 41, „Ein Schlußwort über Krieg und Frieden", ausführl, entspricht größtenteils auch meinen Empfindungen.) Was die Friedensgesellschaften betrifft, so werden sie in dem Maße als sie nüchterne, konkrete Einzelzirle in-

33 Auge fassen, nicht länger auf ihren Kongressen uferlos« Reso­ lutionen hinauSsenden, auch sich ehrlicher Unparteilichkeit gegen­ über den Nationen erschließen lernen, Heilsames schaffen helfen. Eine Uebersicht über die Geschichte der Friedensbewegung, be­ sonders in der Neuzeit, gewährte P. G ö h re: „Der Friedens­ gedanke in der Vergangenheit", „Die Hauptträger deS Friedens­ gedankens in der Gegenwart (1. Berta v. Suttner, 2. Die Frie­ densgesellschaften, 3. Der Zar, 4. Die Sozialdemokratie)", end­ lich „Die Erfolge des Frirdrn-grdankenS", Christ!. Welt 1899, Nr. 20, 21, 22. (Ein letzter Artikel „Der FriedenSgedanke und das Christentum", Nr. 24, ist ein Appell zur Mitwirkung an der Friedensbewegung). Dgl. jetzt besonder- A. H. Fried, Handbuch der Friedensbewegung, 1905 wo alles Wichtige zur Sache beieinander ist. (Bon ihm auch eine Flugschrift „Die Friedensbewegung, was sie will und was sie erreicht hat", 1906; noch recht flach war sein „FriedenS-Katechismus. Ein Kompen­ dium der Friedenslehre zur Einführung in die Friedensbeweg­ ung", 1896). Unter deutschen evangelischen Theologen der Hauptvertreter der „Friedensbewegung" ist der Stuttgarter Pfarrer O. Um frid; er ist der 2. Vorsitzende der „Deutschen FriedenSgescllschaft" und litterarisch ungemein rührig. Dgl. von ihm „Friede auf Erden! Betrachtungen über den Bölkerfrieden", 2. Ausl. 1898; ferner: „Der Krieg auf der Anklagebank. Unterhaltungen über die Friedensbewegung", 1898, „Recht, Gewalt und Zukunftskrieg", 1901, „Die Mobilmachung des Christentums gegen den Krieg, von O. Ke Hermann, auS dem Französischrn übersetzt", 1902; „Der nationale Interessen­ krieg — das Widerspiel der christlichen Gesittung", Christi. Welt, 1903, Nr. 1 rc. rc.

Indem ich Hegel und Moltke als Vorkämpfer der Idee von einer idealen Notwendigkeit des Kriegs zitierte, wollte ich nur die bekanntesten Wortführer auf diesem Gebiete nennen. Don Moltke ist auch hrranzuziehen ein Brief an Goubareff (vom 10. Februar 1881, Gesammelte Schriften Bd. V, S. 199 ff.). Ich setze die interessanten Aeußerungen darin, die Moltke- Ge­ danken vielleicht am vollständigsten enthüllen, hierher. Er schreibt: „Sie erklären den Krieg bedingungslos für ein Berbrechen, wenn auch ein in Versen besungene-, ich halte ihn für ein letztes

34 aber vollkommen gerechtfertigte- Mittel, da- Bestehen, die Unabhängig­ keit, die Ehre eine- Staat- -u behaupten. Hoffentlich wird die- letzte Mittel bei fortschreitender Kultur immer seltener in Anwendung kommen, aber garu darauf verzichten kann kein Staat. Ist doch da- Leben de- Menschen, ja der ganzen Natur ein Kampf de- Werdenden gegen da- Bestehende, und nicht ander- gestaltet sich da- Leben der Bvlkereinheiten. Wer möchte in Abrede stellen, daß jeder Krieg, auch der fiegreiche, ein Unglück für da- eigene Volk ist, denn kein Landerwerb, keine Milliarden können Menschenleben ersetzen und die Trauer der Familien aufwiegen. Aber wer vermag in dieser Welt sich dem Unglück, wer der Notwendigkeit entziehen? Sind nicht Beide nach Gotte- Fügung Be­ dingungen unsere- irdischen Dasein- ? Nicht den Wallenstein, sondern Max läßt unser großer Dichter sprechen: Der Krieg ist schrecklich wie de- Himmel- Plagen, Doch ist er gut, ist ein Geschick wie sie.

Und daß der Krieg auch seine schöne Seite hat, daß er Tugenden zur Ausführung bringt, die sonst schlummern oder erlöschen würden, kann wohl kaum in Abrede gestellt werden. Gewiß ist e- viel leichter, da- Glück de- Frieden- zu preisen, al- anzugeben, wie er gewahrt werden soll. Um die so vielfach sich durchkreuzenden Interessen der Nationen auszugleichen, ihre Streitig­ keiten zu schlichten, somit die Kriege zu verhindern, wollen Sie an Stelle der Diplomatie eine dauernde Versammlung von Au-erwählten der Völker. Mehr Vertrauen al- zu diesem Areopaa habe ich zu der Einficht und der Macht der Regierungen selbst. Die Zeit der KabinetSkriege gehört der Vergangenheit an, und eS gibt heute schwerlich einen Staat-lenker, welcher die schwerwiegende Verantwortung auf sich nimmt, ohne Not das Schwert zu ziehen. Möchten nur überall die Regier­ ungen stark genug sein, um zum Kriege drängende Leidenschaften der Völker zu beherrschen!"

Sergi, auch noch Moltke- Brief an Webermeister Heffel, 17. April 1881, a. a. O. S. 205—206. Wie ein Moltke fich da- volle sittliche Gefühl für die Not de- Krieg- bewahrt hatte, so verkennen wenige unter den geistig bedeutsamen Gegnern de- Krieg- den sittlichen Wert, den auch er in der Geschichte gehabt habe und immer wieder haben werde. Bergl. bei Kant die Ausführungen in der ^Kri­ tik der Urteilskraft", 1. Abschn. 2. Buch § 28 (Werke von Hartenstein, Bd. V, S. 270 f.), die ausdrücklich konstatieren, daß der Rrieg, „wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, etwa- Erhabene- an fich hat", er mache die Denkungsart deS Volks, welches ihn in dieser Art führe, „nur desto erhabener, je mehreren Gefahren eS aus­ gesetzt war und fich mutig darunter hat behaupten können; da-

35

hingegen ein langer Frieden den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herr­ schend zu machen und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt." Man hat solch einen Satz mitzubedenken, wenn man Kants übrigens sehr weltklugen und praktischen „philosophischen Entwurf", wie er daS Schriftchen nennt, „Zum ewigen Frieden" (Werke Bd. VI, S. 405 ff.) überlegt. AuS der neueren Litteratur ist v. BoguSlawSki, Der Krieg in seiner wahren Bedeutung sür Staat und Volk, 1892 durchaus der Beachtung wert. Der als Kriegshistoriker wohl­ bekannte General stellt sich rundum zu MoltkeS Wort über den ewigen Frieden als einen unschönen „Traum". Der Kampf sei ein „Naturgesetz", nicht ein „unvermeidliches Uebel", nein ein „unumgängliches notwendiges Element unseres Daseins", S. 106. Sieht B. v. Suttner ein „Königliches Geschlecht" entstehen, wenn erst der ewige Friede walte, so BoguSlawSki ein „Geschlecht ohne Saft und Kraft, ohne geistige Erhebung und körperliche Tüchtigkeit"; ein Geschlecht werde heraufkommen, „wie daS der in einem achtzigjährigen Frieden verkümmerten Benetianer, die fich zu keinem Entschluß in dem KriegSungewitter aufraffen konnten, daS fich 1796 unter Bona­ parte in Italien entlud, und denen der neue Cäsar, als er sie, trotz vollständiger Unterwerfung unter seinen Willen, an Oester­ reich überlieferte, das verächtliche Wort zudonnerte: „Ce sont des Iftches, eh bien! qu’ils fuient, je n’ai plus besoin d’eux!" S. 102. Bon neuem nahm BoguSlawSki das Wort in dem Aufsatz „Der Abrüstungsvorschlag des Zaren", Deutsche Rundschau, Bd. 97 — 1898/99 Bd. I, S. 215 ff. Ihm ant* worrete ebenda Bd. IV mit einem später (1899) auch (einiger­ maßen erweitert) als Sonderschrift herausgegebenen Aufsatze „Die Philosophie deS Friedens" der Berner Philosoph L. Stein; vgl. von ihm ferner „Das Ideal deS ewigen Friedens und die soziale Frage" 1896 (mir unzugänglich geblieben). Durch Gedankenreichtum ausgezeichnet und sehr gut ge­ schrieben ist die philosophische Studie von A. Lasson, DaS Kulturideal und der Krieg, 1868; (soeben neu erschienen — ob auch neu bearbeitet, weiß ich nicht — in der „Deutschen Bücherei"). Der Berfaffer ist von Hegel (und Fichte) geleitet, aber doch sehr frei in der Nachfolge der Meister. Der Krieg gilt ihm als „Notwendigkeit", da ein „Gerichtshof" für daS Verhält-

86 niS zwischen bett Staaten „nicht denkbar" sei (ein Universalstaat sei „denkbar", aber nicht real möglich"). Wie kein Staat ohne Krieg geworden sei, so könne keiner erwarten, sich ohne solchen zu behaupten. Sei der Staat „unzweifelhaft ein Gut", so könne dasjenige, was „mit dem Staate gesetzt" sei, kein „Uebel" sein. „Widerstrebt eS dem Gefühle, den Krieg geradezu ein Gut zu nennen, so wird wenigstens soviel auSgemacht sein, daß der Krieg in die Sphäre deS Guten fällt" (S. 45). Soeben wird ein Buch von Klaus Wagner buchhänd­ lerisch angekündigt mit dem Titel: „Krieg" (eS wird alsbald auch in einer „Volksausgabe" erscheinen). Es will auf natur­ wissenschaftlicher Grundlage da- ewige Recht de- Kriegedartun. Der Verfasser hat in einem Aufsatze „Der Krieg als schaffende- Weltprinzip", Beilage zur Allg. Zeitung, 1906, Nr. 87, (14. April) eine Skizze seiner Gedanken gegeben. Der Sbrieg war und wird stets sein die „natürliche Auslese" für die Menschen al- Völker, die Art, wie die lebensfähigen, klugen, starken Völker und Raffen fich an die Stelle der verbrauchten, schlaff gewordenen setzen. In Nr. 101 hat der geistvolle katho­ lische Schriftsteller P. Garin unter dem gleichen Titel eine „Erwiderung" an Wagner geschrieben. Er betont, WagnerTheorie sei nicht Ergebnis „wiffenschaftlicher" Welterkenntnis, sondern eines „Glaubens" in Hinsicht der Kräfte, die die Welt beherrschen; das ist richtig. In concreto macht Garin geltend: 1) dem Sieger werde e- immer schwerer, den SiegeSpreiS, den Zweck deS Krieg- zu erreichen, 2) der Krieg sei heute zu einem Werkzeug geworden, dem bald kein Arm mehr gewachsen sein werde. Auch da- ist richtig, entscheidet aber die Sache doch ebensowenig wie Wagner- „Glaube". Ich sehe die Möglichkeit eineä AufhörenS der Kriege ohne gleichzeitige Degeneration der Völker nur in dem Wachsen eines wirklich sittlichen WillenAller, in der Verwirklichung deS Gotte-reich- in den „Herzen." Nicht die Erschwerung deS Bösen, sondern die Erstarkung des Guten wird Kriege „unmöglich" machen. Erwähnen möchte ich noch ein französische- Merkchen, die Schrift von Michel Revon, Die Philosophie des Krieg-, deutsch von A. H. Fried (Publikationen deS „Deutschen Ver­ ein- für intentationale Friedenspropaganda von 1874", Bd. I, 1896). Es stellt die Einleitung dar zu dem größeren Werke, in dem Revon baS vom Institut de France für den Prix

87 Bordin be8 Jahres 1892 bestimmte Thema .Das internatio­ nale Schiedsgericht, seine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft" (siegreich) bearbeitete. Die Arbeit ist schwungvoll ohne phrasen­ haft zu sein, belebt von einer mir nicht gegebenen Hoffnungs­ freudigkeit in Hinsicht eines Tribunals für Dölkerzwiste. Relativ gleichgültige Einzelfragen können gewiß noch viel öfter als bisher durch Schiedsspruch erledigt werden, Lebensfragen der Völker werden dadurch niemals entschieden werden. Für die vitalen Bedürsniffe der Völker und ihre Ausgleichung rin statu­ tarisches Recht so zu formulieren, daß es zureicht, scheint mir ein aussichtsloses Unternehmen. Kollidieren Jntereffen der Völker, die hüben und drüben als unveräußerliche empfunden werden, so wird immer die letzte Entscheidung bei der Macht und dem sittlichen Willen der Völker liegen. Die Ethik deS Volkstums berührt die bisher schwächste Seite der .Friedens­ bewegung". Für die Geschichte der anarchistischen Theorien s. et­ wa den Art. .Anarchismus" von G. Adler im .Handwörter­ buch der Staatswiffenschaften", herausgeg. von I. Conrad, L. Elster usw., 2. Aust., Bb. I, 1898, S. 296—327. Tolstoi hat seine Ideen neuestens zusammengefaßt in dem .Aufruf an die Menschheit", 1900 (deutsch von Wladimir Czumikow, 1901) und in der Abhandlung über .Patriotismus und Regierung" (deutsch von dems., 1901). Er erachtet den Patriotismus für ein „schlechtes und schädliches Gefühl" und eine „dumme Theo­ rie", aber er hält ihn auch für identisch mit der Selbstschätzung jedes Volks als „das beste" und mit dem „Gefühl einer aus­ schließlichen Liebe zu seinem Volke". Das ist vielmehr der ChauviniSmu-l

ES ist eine Art von ausgemachter Sache für die Leute der „Friedensbewegung", daß das Christentum, wenn es nur ernst genommen werde, sie und nur sie rechtfertige, aber daKirchentum habe das Christentum unwirksam gemacht. Tolstoi spricht vom Christentum der Geschichte nur al- von dem „un­ schädlich gemachten", „sterilisierten": die „herrschende Klaffe" habe eS „mit dem Instinkte der Selbsterhaltung" jetzt und längst sogar zu einem Horte deS Militarismus, wie deS Patriotismus, der Regierungen usw. gemacht. Ich denke nicht daran, die

38 Stellung der Kirche zum Kriege ohne weitere- in Schutz zu nehmen. Aber e- ist ein Irrtum, daß da- Evangelium zwinge, unter allen Umständen für den Frieden und wider den Krieg einzutreten. Ich muß eS mir natürlich gefallen kaffen, auch zu den Verfälschern deS Evangelium- gezählt zu werden, indem ich seinen Liebe-gedanken deute, wie ich in meinem Vor­ trag« getan habe. Aber die Ethik deS Christentum- ist nicht eine solche der bloßen Wetchherzigkeit, gar Sentimentalität. Sie kennt die Herzen-Härtigkeit der Menschen und die Aufgabe einer „Erziehung des Menschengeschlecht-", nicht nur zur Kultur, sondern zur Liebe al- dem einzigen Selbstwerte. Niemand von unS ist soweit, daß er keiner Erziehung weiter bedürfte. Wer sich nicht selbst erzieht, muß erzogen werden. Nun kann man streiten über die aussichtsreichste „pädagogische" Methode. Ich meine, daß fast jeder letztlich nur dankbar ist, wenn man ihm nicht einfach Raum läßt für da- Ueberschäumen seiner Begehrlichkeit, Rechthaberei, Abneigung. Natürlich kenne ich auch die Gefahr der Idee von einer Schranke de- Verzeihen-, de- „Duldens".

Wa- Jesu- Matth. 18,21 u. 22 sagt, ist mir sehr gegen­ wärtig: man überlege doch aber auch in dem angeschloffenen Gleichnis den Ber- 34. Wer einen Borwand sucht, um sich die Pflicht deS Verzeihen-, des „NichtwiderstrebenS" zu er­ leichtern, dem ist sittlich nicht beiznkommen. E- ist eine Tatsache, die solchen, welche nicht einen ganzen Stand ohne weitere- der Urteilslosigkeit, heillosen Befangenheit, gar etwa der Liebedienerei zeihen wollen, zu denken geben kann, daß wiffenschaftliche theologische Ethiker, die den Krieg unbe­ dingt verurteilen, kaum zu finden find. Ich kann hier nicht auf die Lehrbücher der Ethik eingeheu: man lese nur mal die „Ethik" von W. Herrmann, 3. Aufl. 1903, zusammenhängend, und in ihrem Zusammenhang die kurzen Ausführungen darin über den Krieg, S. 199—201, ob man dabei den Eindruck der Ge­ dankenlosigkeit oder Eilfertigkeit haben wird? Ich folge etwaanderen Ideen al- Herrmann, aber ich brauche auch den seinigen nicht zu widersprechen. Vgl. von ihm auch „Die sittlichen Weisungen Jesu", 1904. Ich berühre im Weiteren etwa- ge­ nauer nur noch einige Monographien. Wie die Kirche dazu gekommen ist, „Krieger" unter ihren Gliedern zu dulden, schließlich auch Kriege auf Gott zurückzuführeu und Gott so zu denken, daß man ihn im Kriege au-

39 rufen, um Hülse bitten könne, zeigt A. HarnackS von mir schon in der Vorrede namhaft gemachte Schrift. Sie enthält auch die erwogenste Behandlung der kriegerischen Metaphern in der christlichen Sprache. — SB. Lütgert, „Die Liebe im Neuen Testamente. Ein Beitrag zur Geschichte des Urchristen­ tums", 1905, haudelt, wenn ich recht seh«, nicht eigens von der Feindesliebe. Daß Luther den Krieg als ein Tun beurteilt hat, daS gegebenenfalls ein christliches heißen müsse und mit der Liebe nicht streite, ihr vielmehr diene, ist bekannt. Er vergleicht in dem Schriftchcn „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können" (1526, Erlanger Ausgabe der Werke Bd. 22, S. 244ff.) das kriegerische Tun in dem als recht gedachten Falle dem Tun des Chirurgen, der auch schneide, verwunde rc. und doch nur heile. Frau von Suttner läßt ihren evangelischen „Militär­ oberpfarrer und Konsistorialrat" auch ein Sätzchen aus Luther zitieren, das da lautet: „Sehe ich den Krieg an als ein Ding, das Weib, Kind, Haus, Hof, Gut und Ehre schützt und Frieden damit erhält und bewahrt, so ist es eine gar köstliche Sache." Sie fügt in dem Roman hinzu: „Nun ja — sehe ich den Panther als eine Taube an, so ist der Panther ein gar sanftes Tierchen, bemerkte ich ungehört. * Das zitierte Lutherwort steht ungefähr so wirklich in der genannten Schrift, S. 249. Frau v. Suttner hat es nicht der Mühe wert gefunden, Luther ein­ mal selbst aufzuschlagen und auch nur dieses eine kurze Schristchen (das „Bon weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehor­ sam schuldig sei", 1523, E. A. Bd. 22, S. 59 ff., gehört da­ mit zusammen) zusammenhängend zu lesen, so glaubt fie mit einem bon mot mit Luther fertig zu werden. (Sie hat auch rin Zitat aus der Schrift eines „OberststückhauptmamiS" deS 17. Jahrhunderts zur Hand. Der alte Haudegen schreibt: „Der Krieg ist von Gott selbst inventieret und den Menschen gelehrt worden. Den ersten Soldaten setzte Gott ein mit einem zweischneidigen Schwert vor das Paradies um dem ersten Rebellen, Adam, solches zu verbieten. Im Deuteronomium ist zu lesen, wie Gott sein Volk durch Moses zum Sieg enkouragieren läßt und ihnen sogar seine Priester als Avantgarde gibt. Das erste Stratagema ward der Stadt Hai beigebracht. In diesem Judenkriege mußte die Sonne zwei ganze Tage aneinander am Firmament stehend leuchten, damit der Krieg und die Biktori

40 konnte persequieret unb viele Tausend« erschlagen und die König« anfgrhenkt werben. Alle Kriegsgreuel find vor Gott gebilligt, denn die ganze hellige Schrift ist voll davon unb beweiset ge­ nugsam, baß bet rechtmäßige Krieg von Gott selber inventieret,

baß also ein jeder Mensch von gutem Gewissen in demselben bienen, leben unb sterben kann rc. :c." Wie es mit der Au» thentie diese- Zitats steht, kann ich nicht kontrollieren; manches macht mir ben Eindruck moderner Persiflage der alten Art die Bibel zu benutzen). Aus neuerer Zeit ist zu beachten: E. Achelis, Der Krieg im Lichte der christliche« Moral. Ein Bortrag, 1871. Der Gedanke des Rechts der „Nationalität" als einer „Individuali­ tät" wird hier gut erörtert. Unbekannt ist mir (ich bin von anderer Seite darauf hingewiesen worden, doch ohne besondere Empfehlung) J. de Triac, Guerre et Christianisme, Paris, Finnin Didot, 1896. Recht lesenswert ist W. Koppelmann, Jesu- und der Krieg (Christi. Welt 1899, Nr. 85), ferner R. Mulot, Die Friedensbewegung, ihre geschichtliche Ent­ wicklung und die Stellung de- Christen zu ihr (Zeitfragen dechristl. Volkslebens, Bd. XXVII, Heft 5, auch Einzelausgabe), 1902; F. Sieffert, Krieg und Christentum (Deutsch evang. Blätter, Bd. XXIX, 1904, S. 689 ff., offenbar auch ein Bor­ trag); R. Schubring, Der Jntereffenkampf der Einzelnen und der Nationen in seinem Verhältnis zum sittlich-religiösen Em pfinden (Evangelisch Sozial. Mitteilungen des evangelisch-sozialen KongreffeS, 13. Folge, 1904, Nr. 1/2); zuletzt E. Böhme, Krieg und Christentum (Protestantenblatt, 39. Jahrg., 1906, Nr. 16, 17, 18, 19, geht aus in eine Empfehlung der deutschen Friedensgesellschaft und der Bestrebungen besonderO. Umfrids). Ich trete in keine Sonderbesprechung ein, da ich im Bortrag wohl zur Genüge meinen Gedanken über „Liebe" gegen ben Feind ausgesprochen habe unb nicht sehe, baß er von einem andern vorweggenommen ober zum voraus widerlegt sei. Mehrere der zuletzt genannten Arbeiten (so Sieffert, besonder- Sch »bring; früher LassonI) berühren oder be­ handeln auch das Problem vom Wettkampf der Nationen, wie er friedlich beginnt und in blutigem Ringen oft endet, da­ zu vom Expansionstrieb der Nationen. Ich habe dieseProblem nicht eigen- in'- Auge gefaßt, wie ich denn nicht denke.

41 das ganze Kapitel, das die Ueberschrift „Krieg* trägt, nach der ethischen Seite klar gelegt zu haben. Aber an diesem Orte möchte ich doch zweierlei bemerken: 1) Daß ich allerdings nicht der Meinung bin, eine Nation sei einfach und immer wert erhalten oder geschont zu werden. E- gibt Völker, die wirklich nicht geschichtsfähig find oder es nicht zu bleiben vermögen, die kein „Staatsganzes* zu bilden fich tüchtig erweisen. Sie gleichen schließlich den „verwahrlosten Kindern* und bedürfen der „Zwangserziehung.* In rechter Schule mögen fie sich vielleicht aufraffen (Polen?); andere söhnen fich auS mit ihrem Geschicke von einem kräftigeren, völligeren, „wahreren* Volke ausgenommen und assimiliert zu werden. ES gibt auch Situationen von solcher Verworrenheit, solcher Hoff­ nungslosigkeit in fich selbst, daß man den Entschluß den Knoten zu durchhauen, mit dem Schwerte fich Luft zu verschaffen, wohl dem Entschlüsse des Arztes, der bloß von einer Operation noch eine Gesundung erhofft, vergleichen kann. Solch eine Situation war für Preußen, wenn ich eS recht verstehe, die von 1866. Im einzelnen Falle kann nur der konkrete Stand das Recht oder Unrecht einer Aggressive erkennen lassen. 2) Gerade weil ich das sittliche Recht deS Kriegs nicht bloß auf die Verteidigung beschränke, fühle ich mich verpflichtet, zu betonen, daß ich nicht mit denen übereinstimme, ja auch nur sympathisiere, die für ein „Volk*, ihr Volk, — politisch — nur „Macht* als Ziel und Norm deS Handels anerkennen wollen. Zwischen sentimentalem Interesse an „anderen* Völkern und bloßem Interesse am eigenen gibt eS ein mitt­ leres. Der sog. „gesunde EgoiSmuS* in der Polittk kann sich äußern als ein Gegensatz zu weichlicher, fauler, seiger „Selbstlosigkeit*, er tritt un- zur Zeit, auch in Deutschland, nur zu ost entgegen als einfache polittsche Brutalität. Wir haben viele kleine BiSmarcke, die dem alten echten eigentlich nur sein« Gelegenheit-formen, nicht aber seine wirklichen StaatSgedanken abgemerkt haben. Der technische Staat-gedanke fordett Macht, nämlich genügend«, daß der Staat dem Volke leisten kann, wo­ für er da ist, Schutz seiner Bürger und Bechülfe zur Verwirklich­ ung seiner Ideale, aber die Macht ist nicht selbst da- Ideal; nicht um Ruhm zu gewinnen, sondern um chm seine Ehre zu behalten, hat der Staat für das Volk Macht zu sammeln und zu organisieren. Da- Volk selbst, welches von seiner Ehre weiß

42 (vgl. oben S. 21), wird auch je länger je reifet werden zu begreifen und mit seiner Regierung zu entscheiden, wann eS einen Krieg wagen muß. — Eine Zukunft, in der wir Men­ schen die Wunden scheuten, den Kampf nicht mehr wagten, wenigsten» keinen Kampf mehr aus Leben und Tod, vermag auch ich nur zu fürchten, nicht zu verherrlichen. Wenn wir Menschen un» zu nicht» Weiterem verhelfen sollten, al» zuletzt im Großen zum glückseligen Dasein des DölkleinS der PHLaken zurückzukehren, so wäre die Menschengeschichte wahrlich nicht wert überhaupt gelebt zu werden. Aber ich glaube, unsere unbe­ dingten Friedensfreunde halten zum Teil auch noch auf SchillerWort: „Da» Leben ist der Güter höchste» nicht", sie meinen nur tiefer al» wir (freilich nicht mit Recht) durchdrungen zu sein von dem weiteren Wort: „Der Uebel größte» aber ist die Schuld." Indem ich in meinem Vortrag wie selbstverständlich den Gedanken der Liebe al» den einheitlichen Exponenten des Sittengesetzes behandelt habe, mache ich es erkennbar, daß ich mich im Gegensatze fühle zu denjenigen, auch durchaus ernst denkenden, modernen Ethikern, die wie E. T r o e l t s ch (Politische Ethik und Christentum, 1904), F. Naumann u. a. die Kulturerfahrungen und unmittelbaren Leben-ansprüche wie ein selbständige-, jetzt endlich al- ein solche- erkanntes, in diesem Sinn „neue-", er­ gänzende- ethische- Prinzip ansehen. Troeltsch meint von der „wesentlich religiösen" Ethik de- Christentums und ihrem Prinzip der Liebe, daß dadurch nur für den „inneren Menschen" und die „persönlich-menschlichen Beziehungen" ein Ideal, „zweifel­ los da- höchste und erhabenste sittliche Ideal", gezeigt sei. Diese- „kann daher von sich au- unter keinen Umständen die ein­ zige und alle andere Normen hervorbringende sittliche Idee sein. Au- der christlichen Liebe kann in alle Ewigkeit nicht der ganze Umfang sittlicher Betättgungen de» Menschen in der Welt ab­ geleitet werden. So muß die christliche Ethik andere sittliche Prinzipien neben sich anerkennen. Da- ist von der Ethik deKatholizismus und de» älteren Protestantismus überall durch tatsächliche Entlehnungen bestätigt, und nur die künstliche Bersteckung de- Entlehnung-charakter- konnte darüber täuschen. Bon dem heutigen Christentum muß die bewußte und prinzipielle Anerkennung diese» Satze- verlangt werden. Renaiffance, Auf­ klärung, die moderne Weltkultur, die wissenschaftlichen, fünft-

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krischen, technischen Umwälzungen haben diese Wahrheit klar gemacht-, S. 39. Troeltsch erörtert nirgend- den Gedanken der Liebe. So kann ich nicht ganz wissen, wie eng er ihn faßt. Ich meine, daß er eine Weite hat, die freilich gestattet auch andere al- private Verhältnisse zu regeln. Selbstverständlich kann ich nicht au- ihm da- Leben selbst erklären, die sinn­ lichen Bedingungen und Bildungen de- Sein- in der Welt und die Tatsächlichkeit seiner Lust. Aber ich kann von der Liebe au- da- Leben bejahen. Und ich kann verstehen, daß alle­ natürliche Leben der Liebe dienen, ihr zum Vehikel werden kann. Die Kultur hat uns erst gezeigt, wie mannigfaltig und reich an immanenten Wetten die Natur (Sinnenwelt und Geistes­ welt) ist. Die Natur ist jedoch kein Selbstwert. In ihr er­ scheinen wir Menschen al- Seelen, die ihr eigene- Gesetz, da- Sittengesetz, haben und mit ihm ein Leben in und doch der Möglichkeit nach über Natur und Kultur führen. Die Seelen find e-, die Völker bilden, Staaten schaffen, Kunst und Wissenschaft hervorbttngen, die arbeiten, fich freuen und leiden, die mit einander auch in Freundschaft und Feindschaft kommen. Sie können „Alle-" brauchen, e- auch mißbrauchen. Wie fie e- „gebrauchen*, da- entscheidet über ihre „Sittlichkeit*. Ist der Grundgedanke der Liebe die wechselseitige Erziehung der Seelen zu ihrer Reife, so erschließt fich der Liebe da- ge­ samte Gemeinleben al- ihre Werkstatt, die sie sich auch selbst einttchtet, sittlich „wohnlich* macht.