Das Recht der Heiligen [1 ed.] 9783428437849, 9783428037841

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Das Recht der Heiligen [1 ed.]
 9783428437849, 9783428037841

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HANS HATTENHAUER

Das Recht der Heiligen

Schriften zur Rechtsgeschichte

Heft 12

Das Recht der Heiligen

Von

Dr. Hans Hattenhauer o. Professor der Rechte in Kiel

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Gedruckt mit Unterstützung der Dr. Otto Hagge-Gedächtnisstiftung zu Kiel CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Hattenhauer, Hans Das Recht der Heiligen.- 1. Aufl.- Berlin: Duncker und Humblot, 1976. (Schrüten zur Rechtsgeschichte; H. 12) ISBN 3-428-03784-7

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bel Buchdruckerei Bruno Luck, Berlln 65 Prlnted in Germany

© 1976 Duncker

ISBN 3 428 03784 7

Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lukretia, eines Mutius Scävola und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, daß jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fiktionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben. Goethe an Eckermann Mittwoch, den 15. Oktober 1825

Inhaltsverzeichnis Die Legende als Quelle der Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Misericordia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Auctoritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fides

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........................................................

Consensus

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Conversio

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Literatur

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Die Legende als Quelle der Rechtsgeschichte Die Legende gehört wie Märchen, Sage, Sprichwort und Rätsel zu den sog. "einfachen Formen" der Literatur (A. Jolles). Mit jenen hat sie den erzieherischen Zweck gemeinsam. Einem der Anschaulichkeit verhafteten Denken vermittelt die bildhafte "einfache Form" diejenigen sozialen Leitbilder, die im differenzierten Denken von den Wissenschaften (Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft) formuliert werden. Die christliche Legende unterscheidet sich von den übrigen "einfachen Formen" durch ihre Verfasser. Diese sind Kleriker. Die Legende ist wesens- und bestimmungsgemäß kirchliche Propaganda. Für die mündliche Mitteilung in der Predigt bestimmt, ist sie selbst die erfolgreichste -weil dem Verständnis einfältiger Zuhörer am weitesten angepaßteKurzpredigt der Kirchengeschichte. Unter Verwertung vorchristlicher Traditionen hat die Legende in der Kirchen- und Rechtsgeschichte insbesondere des Mittelalters eine hervorragende Rolle gespielt. In der Gestalt des Heiligenlebens (vita) und der Sammlung von Wundergeschichten einzelner Heiliger (miracula, historia) gehört die Legende zu den am meisten überlieferten erzählenden Geschichtsquellen der Spätantike und des Mittelalters. Daneben steht die literarische Gattung der Legendensammlung, die in der Folge des Kirchenjahres zu liturgischen Zwecken die Legenden der großen Heiligen zusammenfaßt. Die wichtigste von ihnen ist die Legenda Aurea (ca. AD 1270) des Bischofs Jacobus de Voragine. Sie gehört zu den am stärksten verbreiteten Büchern des Mittelalters. Dennoch wurde bisher der wissenschaftliche Wert der Legende relativ gering eingeschätzt. Seit der Aufklärung werden "Märlein" und Legenden dem naiven Volksglauben überlassen. Ihre Erforschung ist im wesentlichen das Verdienst des Jesuitenordens. Von dem Niederländer Johann Bolland im Jahre 1630 begründet, veranstalteten die sog. Bollandisten mit dem heute noch in Erscheinung begriffenen Werk der Acta Sanctorum (AA SS) die umfassendste Edition hagiographischer Texte. Hagiographische Quellen sind in größerem Umfang ferner in Mignes Patrologia Latina (MPL) und in den Monumenta Germaniae Historica (MGH) ediert. Die weltliche Forschung nahm sich erst seit dem 19. Jahrhundert der Legenden an. Bei den Rechtshistorikern ist sie auch heute noch fast unbekannt.

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Die Legende als Quelle der Rechtsgeschichte

In der Regel besteht die Legende als literarische Form aus zwei Elementen: 1. einem Konflikt und 2. einem Handeln des Heiligen, zumeist einem Wunder, das den Konflikt löst und ihm deshalb auch zeitlich nachfolgt. Das Mißtrauen der Forschung richtet sich gegen das Wunder, in dem man das Wesen der Legende zu erkennen meint. Für den Historiker- mit Ausnahme des Religionshistorikers- hat das Wunder geringen Quellenwert. Zwar ist es für die meisten Hörer der Legende "wahr" und damit ein Zeugnis für deren Denken und Wahrheitsbegriff. Doch ist das Wunder selbst zumeist nicht historisches Faktum, sondern Produkt der Phantasie seiner Verfasser und der von diesen benutzten Quellen. Die Wunder der christlichen Legenden sind zum Teil bereits in der vorchristlichen Literatur zu finden. Im übrigen wiederholen sich die Wunder eines bestimmten Typs (z. B. Totenerweckungen, Heilungen, Gefangenenbefreiungen) bei den Heiligen verschiedener Epochen und können deshalb nichts über die Zeit des bzw. der betr. Heiligen mitteilen, von denen sie berichtet werden. Die historische Forschung hat über der berechtigten Ablehnung des Wunders als historische Quelle das Element des Konfliktes zumeist übersehen. Zwar ist auch der Konflikt in den seltensten Fällen exakt datierbar. Doch haben bestimmte historische Epochen ihre speziellen Konflikte, die sich auch in ihren Legenden niederschlugen und tradiert haben. Die Märtyrerlegende der römischen Christenverfolgung etwa hat andere Konflikte als die Missionslegende des Frühmittelalters oder die in der Zeit der Ketzerbekämpfung entstandene Legende. Aus dem Vorliegen des einer bestimmten Epoche zuzuordnenden Konflikts darf allerdings nicht geschlossen werden, daß die jeweilige Legende auch in der Zeit des Konflikts verfaßt worden ist; die Legendenverfasser pflegten oft auch solche Konflikte noch zu verwenden, die zur Zeit der Abfassung bereits historisch waren. Für die rechtshistorische Forschung sind insbesondere jene Konflikte von Interesse, die in der Begegnung der missionierenden Kirche mit den Germanen entstanden sind. Gerade hier hat die Legende oft Rechtsfragen zum Gegenstand, die in der Verschiedenheit von christlichem und germanischem Rechtsdenken begründet sind. Sie ist dann kirchliche Rechtspropaganda. Prozessuale Wahrheitsfindung, Begnadigung, Strafmaß, Vertragsauslegung etc. können Gegenstand der Rechtslegende sein. Zur eindeutigen Bestimmung des kirchlichen Standpunktes in bestimmten Rechtsfragen bedienen sich ihre Verfasser der Technik der Schwarz-Weißmalerei. Damit der naive Hörer die Einzigartigkeit der christlichen Rechtsidee begreifen kann, muß ihm auch die traditionelle und nun gernißbilligte Anschauung mitgeteilt werden. Hier erschließt sich der rechtshistorischen Forschung ein Zugang zur Erforschung der Gegensätze zwischen germanischem und christlichem Recht.

Die Legende als Quelle der Rechtsgeschichte

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Bei der Interpretation der Legende ist zu beachten, daß sie wie Märchen und Sage mit typisierten Motiven arbeitet wie z. B. Aufspringen von Gefängnistüren, Brechen des Galgenbalkens, die als Mönch verkleidete Frau, der der Unzucht geziehene Bischof, belohnte Gastlichkeit - bestrafte Ungastlichkeit etc. Diese Motive werden in verschiedenen Legenden unterschiedlich miteinander kombiniert. Die Kombination der Motive begründet oft erst die Individualität der Legende. Die Auswertung von Varianten desselben Legendentyps und von Vorbildern aus dem Alten und Neuen Testament kann daneben wichtige Hinweise für die Textinterpretation geben. Fruchtbar ist auch ein Vergleich mit Märchen, Sage und Sprichwort.

Misericordia Im Musee Cluny in Paris ist ein Gobelin ausgestellt, der in der Art einer Bildgeschichte von einem Wunder berichtet, das der Heilige Quentin an einem Dieb getan hat. Wir sehen auf dem ersten Bild, wie der Dieb heimlich ein Pferd aus einem Stall wegführt; ein Knabe macht den Eigentümer des Pferdes, einen Priester, auf den Diebstahl aufmerksam. Das zweite Bild zeigt alsdann, wie der Priester bei dem Vogt von St. Quentinden Diebstahl anzeigt. Sodann sieht man, wie der Dieb von den Leuten des Vogtes gefangen in den Kerker geführt wird. Das nächste Bild zeigt den Priester, der kniefällig den Vogt um Gnade für den Dieb anfleht. Im folgenden Bild kniet der Priester vor dem Schrein des Heiligen und bittet diesen um seine Hilfe. Danach wird die Hinrichtungsszene gezeigt; die Kette ist gerissen und der Dieb sitzt, noch mit der gerissenen Kette um den Hals, unter dem Galgen. Das letzte Bild zeigt den Dieb, der vor dem Schrein von St. Quentin sein Dankgebet verrichtet. Diese farbige Schilderung des Wunders wird zudem durch eine Reihe von Versen in frühneufranzösischer Sprache erläutert und ergänzt: Um fromme Herzen zu erbauen Vernehmt dies löbliche Wunder Von einem Dieb, der einem Priester Dessen Pferd aus dem Stall stahl. Der Priester, der den Diebstahl bemerkt, Geht und erhebt Klage Beim Vogt von Sanct Quentin, Der seine Knechte hinter dem Dieb herschickt. Der Dieb, der so verfolgt wird, wird, Damit er über den Diebstahl Kundschaft gebe, Mit dem gestohlenen Pferd gefunden, Ergriffen und gefangen abgeführt. Aus Furcht, daß es nicht richtig sei, Wenn wegen dieser Sache ein Urteil ergehe, Wendet sich der Priester an den Vogt Und bittet, daß er dem Dieb die Untat vergebe. Aber der Vogt als wahrhaftiger Richter Will dies dem Priester nicht gewähren, So daß jener zu den Gebeinen des Heiligen seine Zuflucht nimmt Mit der Bitte, daß er ihm helfe.

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Indessen wird der Dieb verurteilt, Am Galgen gehenkt zu werden, Wohin er schmählich geführt wird, Damit er seine Untat büße. Als er dort von Rechts wegen aufgehängt wird, Brechen alsbald Kette und Schlinge Auf wunderbare Weise Und er fällt lebend zu Boden. Als dies dem Vogt kund getan wird, Vollstreckt er das Urteil nicht weiter. Der Dieb aber geht und sagt Dank Dem Heiligen Quentin, der ihn bewahrt hat. Ist der aus der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts stammende Teppich schon für den Kunsthistoriker interessant genug, so vermag er doch auch das Interesse des Rechtshistorikers auf sich zu ziehen. Die Legende, die uns hier in Wort und Bild vorgestellt wird, hat einen Rechtsfall zum Gegenstand. Es geht um eine Todesstrafe, die nicht vollstreckt wird. Es geht damit zugleich um die Art, wie sich dieses Erlebnis in dem Denken der Menschen spiegelt, die uns die Legende berichten. Es geht, juristisch gesprochen, um das Problem der Begnadigung im Recht des Mittelalters. In dem Wunder St. Quentins ist die Ausgangssituation recht alltäglich: ein Pferd wird gestohlen, der Diebstahl angezeigt, der Dieb verfolgt und - überführt durch das in seinem Besitz vorgefundene Pferd - gefangen genommen. Das ist so gewöhnlich, wie man es sich nur irgend denken kann. Pferdediebe hat es überall und zu aller Zeit gegeben. Die Rechtsordnungen aller Zeiten sind darauf eingerichtet, den hier eingetretenen Konflikt zu lösen. Der Pferdediebstahl ist so alt wie das Pferd als Haustier. So geschieht es auch hier. Es wird dem Dieb der Prozeß gemacht. Er wird zum Tod am Galgen verurteilt, denn der Pferdediebstahl ist ein todeswürdiges Verbrechen. So bemerkt der Text unserer Legende ausdrücklich, daß dies gerechterweise (par Justice) so geschehen sei. Der Pferdedieb muß hängen. Der Konflikt wird in überkommener Weise gelöst, oder er soll doch so gelöst werden. Mit diesem Konflikt weiß das Recht und weiß auch der Richter ohne alle Schwierigkeiten fertig zu werden. Es könnte alles seinen gewohnten, durch jahrhundertealte Rechtsübung geheiligten Gang gehen. Der Dieb soll seine Missetat "büßen" (loyer). Die ausgesprochene Strafe hat die alte Heilungsfunktion; damit die Missetat wieder in Ordnung gebracht wird, muß der Dieb hängen. Freilich wäre das Wunder nicht überliefert worden, wenn für den Erzähler dieser längst bekannte Konflikt um das Eigentum im Mittelpunkt des Interesses gestanden hätte. Wäre die Geschichte ihren

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gewohnten Gang gegangen, wäre man mit dem Dieb so verfahren, wie man es mit Tausenden seinesgleichen seit Jahrhunderten getan hatte, dann wäre nichts Bemerkenswertes geschehen. Kein Künstler hätte dann einen Grund gesehen, die Geschichte auf einem Gobelin zur Erbauung der Frommen darzustellen. Der wirkliche Konflikt der Legende, so wie er für den Berichterstatter bestand, wird erst im vierten Bild gezeigt. Nach Eröffnung des Strafverfahrens und in Erwartung der als gerecht empfundenen Verurteilung des Diebes bekommt der bestohlene Priester Bedenken. Er zweifelt, wo man vorher nie gezweifelt hat. Er hat Bedenken gegen die Vollstreckung des Urteils. Der Text sagt das recht vorsichtig und vage und stellt sich nicht so recht hinter die Meinung des Priesters, der "fürchtet", das Urteil könne nicht richtig, unregelmäßig, "irregulier" sein. Der Priester behauptet nicht etwa, das Urteil werde zu Unrecht ergehen und stehe nicht in Einklang mit der überlieferten Rechtsordnung. Er hat jedoch ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, ob es gut sei, das Urteil zu verhängen und zu vollstrecken. Er ist nicht mehr wie alle anderen am Vorfall Beteiligten von der Vollkommenheit der Strafe überzeugt. Ob er nun nicht mehr daran glaubt, daß man eine solche Missetat auf die überkommene Weise sühnen kann und muß, oder ob er gar an der Notwendigkeit solcher Sühne zweifelt, weil er inzwischen sein Pferd zurückerhalten hat, wird nicht gesagt. Letztlich richtet sich der Zweifel gegen die überlieferte Rechtsordnung. Es geht hier nicht um einen kleinen Pferdedieb, wenn auch die Gefahr für dessen Leben der Anlaß zum Zweifel des Priesters ist. Es geht um die alte Rechtsordnung selbst, an die der Priester nicht mehr ungebrochen glauben kann; denn glaubte er noch vorbehaltlos daran, so könnte er nie eine solche Bitte an den Richter stellen. Allgemeiner gesagt: Der in der Legende mitgeteilte Konflikt hat nicht die Eigentumsverletzung zum Inhalt. Es geht vielmehr um einen Konflikt, der um das alte, überlieferte Rechtsdenken selbst ausgebrochen ist. Ein Mensch äußert den Gedanken, daß man einem Übeltäter die wohlverdiente Strafe erlassen kann, daß es im Belieben der Rechtsgenossen, insbesondere des Richters stehe, ob er die rechtmäßige Strafe verhängt und vollstreckt oder ob er davon absieht. Es ist bezeichnend, daß dieser Mensch ein Mann der Kirche ist. Es geht um das Eindringen der Begnadigung in das Recht. Das hat es für den Richter der Legende, wie es scheint, bisher noch nicht gegeben, daß er um das Leben eines todeswürdigen Diebes gebeten worden ist. Selbst der Priester ist sich der Ungeheuerlichkeit seiner Bitte bewußt. Er fällt vor dem Richter auf die Knie und bittet ihn in derselben demütigen Weise, in der er sich danach an den Heiligen wen-

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det. Aber der Richter gewährt ihm die Bitte nicht, denn er ist ein "wahrhaftiger" Richter (vray Juge). Die Legende berichtet nichts von dem Gespräch, das beide miteinander geführt haben. Wir hören nichts von Feilschen und Argumentieren. Es wird uns aber der Grund für die Ablehnung des Gnadengesuchs mitgeteilt. Der Richter will in der Erfüllung seiner Pflichten wahrhaftig bleiben. Ihm wäre die Gewährung der Begnadigung ein Verstoß gegen sein Amt. Er wäre ein schlechter Richter, wenn er einen überführten Pferdedieb nicht zum Tode am Galgen verurteilte. Für den Richter besteht der Konflikt des Priesters offenbar nicht. Er kennt die Gnade nicht. Seine Amtspflicht besteht vielmehr allein darin, daß er durch Aussprechen des rechten Urteilsspruchs dem Recht zu seiner Wiederherstellung verhilft. Ohne Urteil und Vollstreckung kann die Missetat nicht gesühnt werden. Das Urteil ist keine Sache, die den Verletzten und den Täter allein beträfen. Alle Menschen sind an der Wiederherstellung der durch den Diebstahl gebrochenen Ordnung interessiert. Wenn die Störung der Rechts- und Heilsordnung durch den Diebstahl nicht im Wege der Strafvollstreckung geheilt würde, dann wäre daraus Unheil für alle, und nicht nur für den Dieb allein, zu erwarten. Deshalb kann der Richter, als wahrhaftiger Diener des Rechts nicht etwas gewähren, was außerhalb seiner Befugnisse liegt. Er kann nicht auf die Bitte des Priesters eingehen, selbst wenn er es wollte. So lehnt er das Gnadengesuch ab. Die Legende bezeugt ihm, daß er damit recht gehandelt hat. So sehr sich aber der Richter durch die Bitte des Priesters überfordert sieht, so sehr hat andererseits doch auch der Priester mit seiner Forderung recht. Er handelt nicht spontan und ohne Anlaß, sondern stützt sich vielmehr auf einen kirchenrechtlich anerkannten Rechtsstandpunkt. Er macht das kirchliche Interzessionsrecht geltend. Die Legende sagt davon kein Wort, denn sie ist kein Lehrbuch des Kirchenrechts. Sie wendet sich vielmehr an einfältige Herzen. Es kann aber kaum bezweifelt werden, daß der Priester hier, wenn auch erfolglos, in Ausübung jenes Amtes zu handeln sucht, das der Kirche von jeher besonders am Herzen gelegen hat: der Übung von clementia und misericordia. Von den Zeiten der Urgemeinde an gehört es zu den besonderen Diensten der Kirche und ihrer Glieder, die Witwen und Waisen zu besuchen, für die Schwachen einzutreten, die Gefangenen zu trösten und ihnen Hilfe zu bringen (Matth. 25, 36). Dieses Amt ist in der Kirchengeschichte nie erloschen. Die Kirche ist sogar weiter gegangen und hat die Gefangenen nicht nur besucht, sondern sie auch aus den Händen der weltlichen Gerichtsbarkeit zu befreien gesucht. Sie hat, wenn auch nicht

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immer erfolgreich, schon seit den Tagen der frühen Kirche ein lnterzessionsrecht geltend gemacht, kraft dessen sie von der weltlichen Gerichtsbarkeit die Herausgabe einzelner Gefangener verlangte. Meist ging dieses Interzessionsrecht Hand in Hand mit dem kirchlichen Asylrecht und galt als dessen Fortführung. Wenn ein zu Recht oder Unrecht Verfolgter einmal die kirchlichen Asylstätten erreicht hatte, dann mußte die Kirche auch die Möglichkeit haben, über die Gewährung des zumeist nur in zeitlich engen Grenzen möglichen Asyls hinaus für die weitere Sicherheit des Flüchtlings zu sorgen. Das tat sie, indem sie sich den Asylanten von der weltlichen Gerichtsbarkeit erbat und für dessen Freiheit von weltlicher Strafe sorgte. Doch hat das kirchliche Freiungsrecht auch unabhängig von dem Asylrecht Bedeutung gehabt. Gerade die hier erörterte Legende zeigt, wie die Kirche noch dann um die Befreiung einzelner Übeltäter besorgt war, wenn diese nicht vorher bei ihr Asyl gesucht und gefunden hatten. Vielmehr hatte das lnterzessionsrecht überall da selbständige Bedeutung und darf deshalb auch nicht als bloßes Anhängsel des Asylrechts gesehen werden, wo die Kirche Grund zu der Annahme hatte, daß eine Urteilsvollstreckung irgendwelche bösen Folgen haben werde, d. h., in der Sprache der Legende, "irregulier" sei. Die Kirche konnte in der Ausübung des Interzessionsrechtes nicht willkürlich vorgehen. Sie wußte selbst, daß man dem weltlichen Rechtsgang nicht überall und immer in die Arme fallen kann, ohne größeren Schaden zu verursachen. Sie war auch die Hüterin des guten alten Rechts, der antiqua et bona consuetudo. Allein praktische Gründe werden sie gezwungen haben, ihre Forderung auf Herausgabe einzelner Verurteilter zu begründen und darzulegen, warum sie die Urteilsvollstreckung für schädlich hielt. Daß das lnterzessionsrecht nicht überall und zu allen Zeiten unbestritten war, daß es Zeiten gab, in denen die weltliche Gerichtsbarkeit solche Einmischung nicht zulassen wollte, zeigt sich nicht nur in unserer Legende. Eine ganze Reihe von Zeugnissen spiegelt die Auseinandersetzungen wider, die begannen, als der durch die Behauptung des kirchlichen Interzessionsrechtes geschaffene Konflikt zwischen Kirche und weltlicher Obrigkeit noch neu war und die Kirdie nicht fordern, sondern nur bitten konnte. Was aber den Konflikt in der hier vorliegenden Legende besonders scharf werden läßt, ist die Tatsache, daß der Richter nicht einmal zu verstehen scheint, warum der Priester solch ein Ansinnen an ihn stellt. Für den Richter ist die Ablehnung der Bitte um das Leben des Gefangenen keine Frage der Behauptung des Vorrangs der weltlichen Gerichtsbarkeit. Es geht offenbar nicht um seine Superiorität gegenüber der Kirche, so daß er sich aus Gründen der Zuständigkeit die Einmischung der gerichtsfremden Person verbäte. Der Richter lehnt die Bitte ab, weil er sich nicht versteht.

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Mit der Zurückweisung der priesterlichen Interzession tritt die Handlung in ein neues Stadium. Wäre es keine Legende, so müßte die Geschichte hier abbrechen. Die erfolglose Interzession kann den Lauf der Vollstreckung nicht hindern, der Dieb wird gehängt, der Gerechtigkeit ist Genüge getan, und das durch den Diebstahl verletzte Recht ist wiederhergestellt. Das alte Verständnis von der Sühneautomatik der Strafe hätte über den kirchlichen Gedanken von rnisericordia und clernentia gesiegt. Hier nun tritt das Wunder ein und sorgt dafür, daß der Anspruch der Kirche durchgesetzt und vorn Richter sogar verstanden wird. Der Vorgang ist so einfach wie wunderbar. Obwohl der Dieb im Bild mit einer Kette - nach dem Wortlaut des Berichtes sogar mit Kette und(!) Schlinge- arn Galgen befestigt worden war, reißen beide auf wunderbare Weise "par miraculeux artifice". Der Dieb fällt unversehrt zu Boden. Hier bekommen wir es mit Denkformen zu tun, die vorchristlich und längst bekannt und anerkannt waren, als die Kirche zu den Germanen kam. Wenn beim Hängen der Strick reißt, dann ist damit die weitere Vollstreckung unmöglich gemacht. Allgemeiner: die Vollstreckung einer Todesstrafe ist dann nicht möglich, wenn sie auf übernatürliche Weise beim ersten Versuch ohne menschliches Zutun gescheitert ist. Daß die Todesstrafe bei den Germanen die Funktion eines Opfers hatte, und daß die Art ihrer Vollstreckung sich danach richtete, welchem Gott jeweils geopfert werden sollte, ist bekannt. Gerade in der Vollstreckung der Todesstrafe zeigt sich, daß die Strafe magische Funktion hatte, weil durch ihre Vollstreckung- das Opfer an die Gottheit - die gestörte Rechts- und Heilsordnung wieder in Ordnung gebracht werden sollte. Diese Opferfunktion brachte für die Vollstreckung der Todesstrafe besondere Probleme mit sich. Neben den besonderen Formen der Vollstreckung, dem Einhalten von Ritus und magischer Form bei der Vollstreckung selbst, ging es hauptsächlich um die Frage: Was geschieht, wenn die Vollstreckung aus irgendeinem Grunde, der außerhalb des Willens der Opfernden liegt, unmöglich wird? Die klassischen Beispiele, die aus Sage und Legende genugsam bekannt sind, sind das Reißen des Stricks, das Brechen der Galgenleiter oder des Galgenarms usw. Die magischem Denken ganz selbstverständliche Folge war die, daß also die Gottheit, der geopfert werden sollte, dadurch anzeigen wollte, daß das Opfer nicht angenehm war. Gegen den so wunderbar kundgewordenen Willen der Gottheit konnte man das Todesurteil nicht vollstrecken. Es hätte keine Kraft gehabt und die Heilungswirkung nicht erreicht. Man glaubte, daß man gegen den Willen der Gottheit nicht opfern konnte, daß sie es auf jede Weise verhindern werde. Natürlich erwartete und wußte man von der Gottheit, daß sie sich bei der Ablehnung des vorgesehenen Opfers deutlich genug ausdrückte. Je 2 Hattenhauer

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wunderbarer und unerwarteter das Eingreifen der Gottheit war, um so sicherer war man in der Meinung, daß hier nicht etwa nur ein morscher Strick gerissen war, sondern, daß die Gottheit selbst gesprochen hatte. Mißverständnissen wußte man vorzubeugen. So werden bis in die Gegenwart keine morschen Stricke beim Hängen verwendet. Der Strick muß neu sein. Man trägt auch keine Bedenken, die Befestigung doppelt abzusichern. Deshalb berichtet uns die Legende nicht nur von einer Kette, an der der Dieb aufgehängt worden ist, sondern sagt ausdrücklich, daß Kette und Schlinge gerissen seien. Wer die Kette auf dem Gobelin betrachtet, kann sehen, daß eine so starke Kette nicht durch bloßen Zufall brechen kann, daß etwas Besonderes hinzutreten muß, bevor derartig starke Befestigungsmittel wie nichts zerreißen und zwar "alsbald", nachdem der Verurteilte daran aufgehängt worden ist. Hier kann für den Berichterstatter der Legende nichts mehr auf menschliche Weise erklärt werden. Hier ist, wie in vorchristlicher Zeit, noch immer nur der eine Schluß zulässig, daß die Vollstreckung nicht stattfinden darf. Das heidnische Denken reicht ungebrochen in die christliche Pra~ xis hinein. Es wird nicht einmal christlich umgedeutet, sondern ganz selbstverständlich anerkannt, wie es die Menschen seit Jahrtausenden anerkannt und verstanden hatten. Das Wunder ist kein "christliches" Wunder. Es hat insbesondere keine Vorbilder im Alten und Neuen Testament. Man braucht nur den Bericht von der Opferung Isaaks (1. Mose 22) zum Vergleich beizuziehen, um den Abstand zwischen beiden Berichten zu begreifen. Das Wunder der Legende spielt sich in den überlieferten heidnischen Denkformen ab. Dennoch nehmen der Legendenerzähler, der Dieb und der Priester, das Wunder als ein christliches Wunder in Anspruch. Was ist nun die Folge des Wunders? Die Vollstreckung wird abgebrochen. Diese Sprache versteht der Richter. Er hat nun keine Bedenken mehr, sondern sieht sich in Befolgung der überlieferten Vorstellungen sogar gezwungen, die Fortsetzung der Vollstreckung zu befehlen. Der Gefangene wird freigelassen. Aber es ist doch wichtig zu erkennen, daß die Freilassung sich ganz in den Vorstellungen des alten Rechtes bewegt. Der Richter, der vorher nicht fähig war, den Gedanken des Priesters zu folgen und seiner Bitte zu entsprechen, ist nun ebensowenig fähig, auf der Fortsetzung des Hängens zu beharren. Für den Richter ist das Wunder ein heidnisches Wunder, das sich in den bekannten Formen abspielt und dementsprechende Maßnahmen von ihm fordert. Die Anordnung zum Abbrechen der Vollstreckung bewegt sich in denselben magischen Vorstellungen des überlieferten Strafrechts, wie das bereits bei der Ablehnung der Bitte des Priesters der Fall war. Der Richter braucht nicht aus seinen überlieferten Formen des Rechtsdenkens und des Verständnisses vom Wesen der Strafe

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herauszutreten. Seine Überlieferung reicht aus, um das Geschehene erklären zu können. Das Wunder spricht für sich und bedarf keiner Auslegung, insbesondere keines Hinweises auf das Handeln eines Heiligen, um verstanden zu werden. Das ist doch das Erstaunliche an der Legende, daß das Wunder kein spezifisch christliches Wunder ist. Dennoch nimmt der Legendenerzähler, wie der Priester und der Dieb, das Wunder als ein "christliches" Geschehen in Anspruch. Es ist sowohl dem Denken des Richters zugänglich, der von misericordia und clementia nichts versteht, wie dem des Priesters, der die misericordia in ihrer Ausprägung als Interzessionsrecht geltend macht. Beide leben in verschiedenen geistigen Welten und interpretieren das Geschehen im Ergebnis dennoch gleich. Es ist also nach den Motiven und Ursachen zu fragen, die dem Priester das Wunder zu einem christlichen Geschehen machen. Was unterscheidet die Vorgänge in der Legende von irgendeinem anderen vorchristlichen Bericht, in dem die Vollstreckung einer Todesstrafe wegen Reißens des Stricks unmöglich wird? Der Unterschied liegt in dem, was dem Wunder vorausgeht, und dem, was ihm folgt. Voran geht dem Wunder das Gebet des Priesters. Es folgt ihm das Gebet des Diebes. Beide beten zu dem Heiligen, von dem sie die Hilfe erwarten bzw. erfahren haben. Erst das Gebet des Priesters löst für den Berichterstatter das wun-derbare Handeln des Heiligen aus. Das Wunder ist kein Wunder einer heidnischen Gottheit und auch nicht das Handeln eines entsprechend souverän gedachten Christengottes. Es ist das Wunder eines Heiligen, der durch inbrünstiges Beten zu solchem Handeln gebracht worden ist. Das aber sprengt die heidnischen Vorstellungen. Das Reißen des Stricks - vom Richter als die Zurückweisung des Opfers durch die Gottheit gedeutet - sieht für den Priester ganz anders aus. Für ihn hat die Todesstrafe nicht mehr den Zweck der magischen Wiederherstellung der Ordnung, sondern den der Bestrafung des Diebes. Deshalb ist das Wunder für ihn ein Zeichen, daß dem Dieb Gnade widerfahren soll. Er soll trotz allen anderslautenden Rechtssätzen nicht sterben, weil der Heilige sich seiner erbarmt und an seinem Schicksal mehr interessiert ist als an der Einhaltung alter Rechtsvorschriften. Das Wunder wird das Mittel, durch das die heidnische Strenge des Urteils dem Gedanken christlicher Gnade weichen muß. Der Heilige tut das Wunder nicht deshalb, weil Gott das Opfer nicht annimmt, sondern deshalb, weil Gott nicht den Tod des Sünders will und sich seiner erbarmt (Hesekiel 33, 11). Das Wunder ist der Weg, auf dem die Begnadigung in das weltliche Recht einzieht. Sie zieht deshalb ein, weil vorher ein Heiliger darum gebeten worden war. Erst das Gebet des Priesters veranlaßt das Wunder. Nun sind die Ursachen für das Unterbleiben der Strafvollstreckung nicht hinter dem unerforschlichen Willen einer heid-

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nischen Gottheit verborgen, sondern jeder kann erkennen, was der wundertuende Heilige mit seinem Handeln bezwecken will: Gottes Gnade für den Dieb. So hat es auch der Dieb begriffen, der alsbald vor den Gebeinen des Heiligen diesem für die erfahrene Begnadigung dankt. Er kennt nämlich den Wundertäter und sieht eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Gebet des Priesters und dem Reißen von Strick und Kette. Wir wissen nicht, ob der gerettete Dieb nun in das Kloster des Heiligen eintritt, wenn dies auch mittelalterlichem Denken entspricht und daher zu vermuten ist. Aber auch für den Fall, daß der Dieb weltlich bleiben sollte, ändert sich nichts an seiner Erkenntnis, daß es der Heilige gewesen ist, der ihn gerettet hat. Für ihn ist das Wunder ein christliches. Für ihn wie für den Priester wird damit der Rahmen der überlieferten Rechtsvorstellungen zerbrochen. Darin unterscheidet er sich von seinem Richter. Die Gnade dringt auf dem Umweg über germanische Vorstellungen in das Recht ein. Sie muß noch vom Heiligen selbst durch wunderbares Handeln erzwungen werden, damit sie auch vor dem wahrhaftigen Richter Anerkennung findet. Aber sie ist doch schon eine Sache der Menschen- im Unterschied zum Denken des alten Rechts -insoweit nämlich, als das Gebet des Priesters die Ursache für das Reißen von Strick und Kette ist. Mensch und Gottheit handeln zusammen. Die Initiative geht bezeichnenderweise vom Menschen aus, der das Handeln der Gottheit deshalb für die Durchsetzung seiner Vorstellungen von einer richtigen Strafe erbittet, weil er durch unmittelbares Handeln noch nicht zu seinem Ziel gelangen kann. Er geht deshalb einen Umweg, aber auch nur einen Umweg, und behält doch insoweit das Gesetz des Handeins in der Hand, als er sich der Unterstützung des Heiligen vergewissert. Darin aber liegt der entscheidende Unterschied zu jenen alten Formen der Vereitelung der Todesstrafe, die von der Gottheit allein ohne Einwirkung von Menschen bestimmt waren. Der historische Konflikt, den uns die Legende bewahrt hat, ist kirchenrechtlich gesehen zwar das Problem der Anerkennung des von der Kirche behaupteten, von der weltlichen Gerichtsbarkeit aber bestrittenen Interzessionsrechts. Doch das ist nur die konkrete Ausprägung eines Konflikts im Rechtsdenken, der noch tiefer reicht. Es geht um die Anerkennung der Begnadigung im weltlichen Recht desiMittelalters. Nicht jede Rechtsordnung kennt die Gnade und die Begnadigung. Die Sühneautomatik der alten Strafe läßt es nicht zu, daß man nach Belieben strafen oder begnadigen kann. Die Notwendigkeit der Wiederherstellung der gestörten Ordnung durch die Strafe ist absolut. Kein Richter kann eine Strafe dann erlassen, wenn die ganze Rechtsgemein-

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schaft dadurch den Zorn der Gottheit mit Sicherheit auf sich herabbeschwört. Erst wo diese Heilfunktion der Strafe nicht mehr geglaubt wird, wo die Strafe aus einem Mittel zur Wiederherstellung der Rechtsund Heilsordnung zu einer Bestrafung, zur Zufügung eines Übels, zur ethischen Mißbilligung des Täters wird, wo also der Täter den Zweck der Strafe bestimmt und nicht die Tat mit ihren unheilvollen Folgen, erst dort ist Raum für die Gnade. Erst dann fragt man danach, wie sich die Strafe auf den Täter auswirken wird. Dann ist man auch fähig zu erwägen, ob es dem Täter nicht besser ist, wenn ihm die Strafe erlassen wird. Die Strafe gerät in die Verfügungsgewalt des Menschen, der den automatisch rächenden Zorn der Gottheit nicht mehr glaubt und deshalb die Begnadigung in seine Erwägungen einbezieht. An diese Stelle ist unsere Legende aber noch nicht gelangt. Kennzeichnend ist vielmehr, daß für den Richter der Erlaß der Strafe noch schlechthin unzulässig ist, und daß ihn der Erzähler der Legende darin sogar billigt. Nur der Priester weiß schon, daß man einen Täter nicht zu hängen braucht, selbst wenn er ein todeswürdiges Delikt begangen hat. Die Grenze zwischen altem und neuem Rechtsdenken geht mitten durch den in der Legende handelnden Personenkreis hindurch. Wir sehen hier im Detail einen Konflikt, der das ganze Strafrechtsdenken des Mittelalters bestimmt. Dabei ist allerdings festzuhalten, daß die Legende den Konflikt konserviert hat und durchaus nicht ein Problem widerzuspiegeln braucht, das im Zeitpunkt der Entstehung des Gobelins noch aktuell war. Das XV. Jahrhundert war- in Frankreich wie in Deutschland- mit diesen Problemen bereits weiter vorgedrungen. Das neue Strafrechtsdenken und sein Repräsentant, die peinliche Strafe, hatten auf weite Strecken längst das alte sakrale Strafensystem überwunden. Vergessen war der alte Konflikt, wie die Legende zeigt, jedoch noch nicht. Die Folgen des Eindringens der Begnadigung in das Recht sind bekannt. Es kommt jetzt die Billigkeitserwägung in breitem Strom in das Recht herein. Es tut sich damit jener für das Recht des hohen und späten Mittelalters so bezeichnende Gegensatz zwischen Recht und Willkür, Minne und Recht auf, der im Strafrecht seinen Ausdruck in der Erscheinung des "Richtens nach Gnade" gefunden hat. Die Anfänge des Richtens nach Gnade sehen wir in religiös verkleideter Form hier. Noch ist die Gnade verhüllt in die alte Form des Götterspruchs. Aber unter dieser alten Hülle ist doch das Neue, die von Menschen und Menschenwille bestimmte Gnade zu sehen. Die Heimat der Gnade, und damit zugleich die Zerstörerin des alten gnadenlosen Rechts, ist die Kirche und ihr am Heil des einzelnen Sünders interessiertes Denken.

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Nun handelt es sich bei dem berichteten Wunder um eine Wanderlegende. Gregor von Tours kennt sie schon (um 580) und berichtet sie in der Frankengeschichte (Rist. lib. VI 8) als ein Wunder des Eparchius, eines Klausners zu Angouleme: "Es starb damals auch Eparchius, ein Klausner zu AngouH~me, ein Mann von ausgezeichneter Frömmigkeit, durch den Gott viele Wunder tat; ... Eine große Menge Volks kaufte er mit Spenden der Frommen aus der Gefangenschaft los; oft bannte er durch das Zeichen des Kreuzes das Gift gefährlicher Pusteln, vertrieb durch sein Gebet böse Geister aus den Besessenen und gewann durch seine milden Worte die Richter, den Schuldigen zu verzeihen - er befahl es ihnen mehr, als er sie bat. Denn so gewinnend war seine Rede, daß sie es ihm nicht verweigern konnten, wenn er sie um Nachsicht ansprach. Einst wurde einer wegen eines Diebstahls zum Galgen abgeführt, der auch wegen vieler anderer Verbrechen, Räubereien und Mordtaten von den Einwohnern schwer angeklagt war; sobald Eparchius dies vernahm, schickte er einen seiner Mönche ab und ließ den Richter bitten, er möchte jenem Verbre.c her das Leben belassen. Da aber das Volk tobte und schrie, wenn dieser begnadigt würde, sei es um die ganze Gegend und den Richter selbst geschehen, so konnte dieser ihn nicht loslassen. Inzwischen wurde der Verbrecher auf den Bock gespannt, mit Ruten und Knütteln geschlagen und zum Galgen verurteilt. Da dies der Mönch betrübt dem Abte meldete, sprach dieser: "Gehe hin und habe von fern acht, denn wisse, den, welchen der Mensch nicht losgeben wollte, wird uns Gott durch seine Gnade schenken. Wenn du ihn aber wirst vom Galgen fallen sehen, so nimm ihn sogleich in Empfang und führe ihn in unser Kloster." Der Mönch tat, wie ihm geheißen. Der Abt aber warf sich auf die Knie zum Gebet, und so lange flehte er unter Tränen zum Herrn, bis der Querbalken und die Ketten brachen und der Aufgeknüpfte zu Boden fiel. Alsbald nahm ihn der Mönch in Empfang und brachte ihn unversehrt vor den Abt. Der dankte Gott, ließ den Grafen kommen und sprach "Du hattest bisher immer gütig auf meine Bitten gehört, teuerster Sohn, warum warst du heute so hartnäckig, mir den Menschen nicht loszugeben, um dessen Leben ich dich bat?" Jener antwortete: "Gerne höre ich auf dich, heiliger Priester; aber es tobte das Volk, und ich konnte nicht anders, denn ich fürchtete einen Aufstand wider mich." Da sagte der Abt: "Du hast mich nicht erhört; Gott aber hat mich in Gnaden erhört, und den du dem Tode überliefert hast, hat er in das Leben zurückgerufen. Siehe, da steht er unverletzt vor dir." Bei diesen Worten fiel jener Mensch dem Grafen zu Füßen, der ganz erstaunt war, den lebend vor sich zu sehen, den er in der Angst des Todes verlassen hatte. Dies habe ich aus dem Munde des Grafen selbst gehört. ...". Im Grundsätzlichen unterscheidet sich das Wunder des Heiligen Eparchius nicht von dem des Heiligen Quentin. Hier wie dort wird ein Dieb rechtmäßig zum Tode am Galgen verurteilt. Hier wie dort bittet ein Vertreter der Kirche um die Herausgabe des Übeltäters, ohne Gehör zu finden, wendet sich an einen Heiligen und erreicht das wunderbare Scheitern der Vollstreckung durch Versagen der Vollstreckungswerkzeuge. Ebenso wendet sich der Verurteilte in beiden Fällen der Kirche zu und ein weiterer Vollstreckungsversuch unterbleibt. Wieder steht in

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der Mitte des Interesses das Problem der Begnadigung, die sich auch hier auf jenem eigentümlichen Wege der Verbindung des Gebets des Heiligen mit der überlieferten heidnischen Form Geltung verschafft. Die heidnische Form wird durch das christliche Gebet geheiligt und zum Gefäß für die Ausbreitung des Gnadengedankens und des kirchlichen Interzessionsrechtes gemacht. Daneben gibt es genügend Merkmale, in denen sich der Bericht Gregors von dem des Gobelins unterscheidet. Gregor wendet sich nicht an einfältige Herzen. Ihm geht es um die Verbreitung des kirchlichen Denkens unter den Gebildeten seiner Zeit. Der Stil des Kirchenpolitikers bestimmt seinen Bericht. Er lebt in einer von dem französischen XV. Jahrhundert grundverschiedenen geschichtlichen und geistigen Welt. Er ist selbst alles andere als ein einfältiges frommes Herz. Als Sohn der Führungsschicht seiner Zeit, des gallo-romanischen Senatorenadels, ist er mit den Vorstellungen beider Kulturen vertraut. Er kennt die fränkischen Probleme der Blutrache und des Wergeldes aus eigener Anschauung. Aber ihm sind auch die Traditionen der Antike wohl bekannt. Das römische Stadtpatriziat seiner Zeit hatte die Verbindungen zu lateinischer Gesittung und Denkart nicht verloren, wenn es auch nicht mehr in der Lage war, die alte Subtilität des Denkens zu bewahren. Gregors Latein ist streckenweise roh und unklar, aber er beherrscht noch die lateinische Sprache. Vor allem ist er ein Mann der Kirche, der mit seiner ganzen Kraft und Bildung für die Kirche eintritt, gegen ihre Feinde kämpft und - besonders in Berichten von Wundertaten - ihre Überlegenheit gegenüber Heiden und Ketzern zu beweisen sucht. So ist sein Interesse an der Legende auch verschieden von dem, was der Erzähler in der Legende des Gobelins berichten will. Er will die Macht der Kirche beweisen, will besondere kirchliche Anliegen behaupten und das vor Leuten, die seine Schriften noch lesen können, die also noch in den Traditionen der antiken ratio stehen und mehr hören wollen als den Bericht eines äußeren Geschehens. Die Legende will vom Autor gedeutet und bekräftigt sein. Das äußert sich darin, daß Gregor über die bloße Aufzählung der Tatsachen, auf die sich das Wunder des Heiligen Quentin beschränkt, ein Netz von Gedanken und Erklärungen legt. Die Form Gregors versucht "geistig" zu sein. Es zeigt sich ein Interesse nicht nur an einer Einleitung und an einem erklärenden Schluß, in denen beiden der Verfasser sich zu Worte meldet und die Wahrheit des Berichtes bekräftigt, sondern grundsätzlich an einer starken Betonung der subjektiven Seite der Erzählung, an Motiven, Gefühlen und Ängsten. Das zeigt bereits die Einleitung der Legende: In der Mitte steht der wundertätige Heilige, der mit seinen milden Worten die Richter um

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Freigabe des Verurteilten bittet und so zwingend redet, daß sich die Richter dem nicht entziehen können. So allgemein das gesagt ist, so stark wird die Betonung auf die hinter der äußeren Wirklichkeit begründete virtus und auctoritas, die Wunderkraft und Vollmacht des Heiligen gelegt. Die Geschichte hat vor allem den Zweck, das allgemein Gesagte zu beweisen. Deshalb werden auch im folgenden besondere Akzente gesetzt. Es ist nicht ein einfacher Dieb, um den es geht; der Mann ist vielmehr als Schwerverbrecher bekannt. Das gerade macht seine Befreiung zu einer besonders schweren Aufgabe für den Heiligen und zu einem überragenden Beweis seiner göttlichen Kraft. Von besonderem Interesse ist das Motiv, durch das der Richter zur Durchführung der Vollstreckung und zur Ablehnung der Bitte des Heiligen gezwungen wird. Er wird durch das Volk genötigt. Er hätte selbst offenbar keine Bedenken, den Täter loszulassen. Was für den "brave juge", den Vogt von St. Quentin galt, das fehlt hier. Für Gregor ist es undenkbar, daß ein Richter seiner Zeit und Welt, nicht in der Lage sein sollte, einen verurteilten Täter jedenfalls dann loszulassen, wenn die Kirche ihn darum bittet. Gregor sieht darin kein Problem. Er betrachtet den Richter als einen Menschen seiner eigenen geistigen Welt, dem die Begnadigung noch unproblematisch ist, weil er sie durch die Tradition der Spätantike kennt. Er muß den Richter zeigen, wie er durch das tobende Volk bedroht und genötigt wird, damit die vorangegangene Behauptung über die wiederholten Freilassungen von Übeltätern glaubhaft bleibt. Für Gregor und seinen Richter besteht das Problem nicht in der Frage, ob man überhaupt begnadigen könne, sondern wie man es gegen den Willen des tobenden Volkes tun kann. Und doch verbirgt sich hinter diesen subjektiven Erwägungen über Nötigung und Zwangslage des Richters, mit der jener sich ausführlich entschuldigt, dasselbe Problem, das in der nordfranzösischen Fassung der Legende sichtbar wurde. Da ist nämlich noch das Volk. Was dem Richter unproblematisch zu sein scheint, ist für das einfache Volk ein Skandal. Es ist nach dem Denken des Volkes weder für den Richter noch für die ganze Gegend geraten, die Vollstreckung auszusetzen. Die Frage aber ist, welcher Grund die Aussetzung der Vollstreckung nicht geraten sein läßt und das Volk bis an den Rand des Landfriedensbruchs treibt. Es wäre zu aufgeklärt gedacht, wollte man dem randalierenden Volk Erwägungen der Rechtspolitik im modernen Sinne unterstellen, etwa der Art, daß sich das Verbrechen mehren werde, wenn dieser Dieb nicht aufgehängt wird. Mit abstrakten Erwägungen über das Problem der Rechtssicherheit bringt man keine Volksseele zum Überschäumen. Das Volk hat offenbar Angst vor den Folgen der Begnadigung - eine Angst, die so weit geht, daß es auch den Gedanken an die Ermordung

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des Richters nicht zurückweist. Wie ernst der Richter diese Bedrohung nimmt, zeigt sein Nachgeben. Wir haben allen Grund, hinter dieser Angst des Volkes vor den Folgen der Begnadigung die alte Furcht vor dem Zorn der unbefriedigten Gottheit zu vermuten. Mag diese Gottheit auch einen christlichen Namen tragen, so hat sie für die einfachen Leute der Zeit Gregors dieselbe Funktion wie die alten Heidengötter, die den ungesühnten Diebstahl schrecklich am ganzen Volk und am Richter heimsuchten. Gregor erkennt diese Erwägungen nicht an, jedenfalls berühren sie sein Denken nicht, und er läßt sie in seinem Bericht nicht durchblicken. So muß er die Verweigerung der Begnadigung durch den Richter seinen Lesern auf seine Weise erklären. Es fällt aber auf, daß er bei der Begründung für den Aufstand des Volkes seine sonstige Freude an subjektiven Erwägungen und Motiven nicht zeigt und sich in eine allgemeine Formel zurückzieht. Warum die Begnadigung für das Volk ein Ärgernis war, das mitzuteilen läßt er wohlweislich als Mann der Kirche, dem es um die Bekräftigung des kirchlichen Interzessionsrechtes geht, vor dem Leser verborgen. Man teilt nicht die Argumente in extenso mit, gegen die man mit großer Mühe ankämpft. Ohne Zögern aber geht Gregor in seinem Bericht dort auf die alten Denkformen ein, wo sie seine eigene Absicht unterstützen. Wieder brechen Kette und (!) Querbalken. Das Wunderbare wird deutlich herausgestellt und zwar als eine unmittelbare Folge des Gebets, in dem der Heilige nicht nachläßt, bis sein Wille vor Gott Erhörung findet. Da der Verbrecher in germanischer Zeit beim Aufhängen nicht erdrosselt wurde, konnte er tagelang lebendig im Baum hängen bleiben, bevor er starb. Der Heilige hatte also genug Zeit zum Beten. Der Abschluß in Gregors Bericht zeigt uns seine pädagogische Absichten. Der ungehorsame Richter wird zur Rede gestellt, entschuldigt sich in großer Demut und wird dann durch das Vorzeigen des befreiten Diebes beschämt. Mit aller Macht sucht Gregor das kirchliche Freiungsrecht zu beweisen. Deshalb folgt nun auch noch die Bezugnahme auf den Augenzeugen, der das Wunder bestätigen kann. Wie wichtig das Problem des kirchlichen Freiungsrechtes für Gregor war, zeigt sich nicht allein an dem drängenden Stil seines Berichtes. Er nimmt das Problem an anderer Stelle (Liber in gloria confessorium, c. 99) wieder auf. Von dem inzwischen verstorbenen Eparchius berichtet er ein neues Wunder derselben Art. Daß ein Heiliger auch nach seinem Tode Wunder tut und sich in Wundern mächtig erweist, die er schon zu seinen Lebzeiten getan hat, gehört zu der festen Überzeugung der Legendenliteratur. Die Acta Sanctorum, jene im Jahre 1643 begründete hagiographische Sammlung aus der Schule der Bollandisten, in der 25 000 Heiligenleben aus der Zeit vom VI. bis zum X. Jahrhundert zusammengeiaßt sind,

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kennen ebenfalls ein Begnadigungswunder unter dem Namen des Heiligen Eparchius (AA SS, 1. Juli Bd. 1, S. 113 f.): Als ein gewisser Bauer namens Redemptus einen Topf Honig sich zurückgestellt hatte und der ihm von einem Dieb gestohlen worden war, suchte er heimlich und fand auch den Dieb. Als die ganze Angelegenheit vor dem Grafen Ramulf öffentlich vorgetragen wurde und der schwer gefolterte Dieb sowohl diese wie auch andere größere Übeltaten zugab, befahl der obengenannte Graf, daß er unter allen Umständen erhängt werden solle. Der heilige Mann aber bat um das Leben des Diebes mit den Worten, daß der Mann nicht um dieser Sache willen den Tod verdiene. Er vermochte aber auf keinerlei Weise das zu erlangen, worum er so sehr bat. Da rief er einen der Brüder, den Presbyter Gratian, wie wir von ihm selbst gehört haben, und befahl ihm, daß er zusammen mit den Kranken und Pflegebefohlenen des Klosters am Stadttor den Ausgang der Sache abwarte. Als aber der Elende gehenkt wurde, und als sie ihn schon dem Tode übergeben zurückgelassen hatten, zerbrach der am Galgen Gehenkte den Galgenbalken gänzlich und wandte sich, von den hindernden Fesseln befreit, im gewaltigen Lauf zur Stadt. Als das der Graf sah, befahl er den Reitern, daß sie ihn auf ihren Pferden verfolgten und ergriffen, bevor er die Schwelle der Kirche betreten konnte. Als aber auf diesen Befehl eine große Schar losritt, begab es sich wunderbarer Weise, daß sie alle vor dem Angesichte des Grafen auf dem Wege entkräftet hinsanken und ihn nicht ergreifen konnten. Jener aber wurde von den Pflegebefohlenen des Klosters aufgenommen und behielt sein Leben unverletzt, da er durch die Gebete des Gottesknechtes Eparchius gerettet worden war. Die Wundergeschichte des Gobelins wird hier stärker als zuvor abgewandelt und gedeutet. Zwar geht es wieder um einen Dieb. Auch ist seine Schuld unstreitig erwiesen. Es kommt hinzu, daß der Missetäter, wie sich bei der Folterung herausstellt, noch eine ganze Reihe anderer schwerer Übeltaten auf dem Kerbholz hat. Aber die Tat, um die es geht, ist doch nur unbedeutend. Wenn bei dem Pferdediebstahl noch die Todesstrafe mit aller Selbstverständlichkeit verhängt wurde und für alle Beteiligten die gerechte Strafe war, so bekommt der Heilige nun gerade wegen des Strafmaßes Bedenken. Hier geht es nicht mehr um die Gnade allein, die er für einen todeswürdigen Verbrecher gegen alle Rechtsgrundsätze erbittet und erwirkt. Die Bedenken des Gottesmannes sind juristisch begründet. Die Strafe ist zu hoch und wegen dieser unverhältnismäßigen Höhe eine unrechte Strafe. Der "kleine Diebstahl" ist kein todeswürdiges Verbrechen. Der Heilige kann den Verurteilten nicht nur unter Berufung auf die Gnade und unter Anrufung der Milde des Richters losfordern. Seine Argumente wiegen schwerer. Gnade und Recht treten zusammen. Einerseits ist die Strafe zu hoch und der Übeltäter muß aus Rechtsgründen vor dem Hängen bewahrt bleiben. Andererseits geht es dem Heiligen um die Befreiung des Verurteilten auch von der rechtlich zulässigen Strafe, also um einen Gnadenakt. Er fordert Gerechtigkeit und Gnade für den Dieb und kann bei seiner Argumentation viel überzeugender reden, weil er auch

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Rechtsgründe für seine Ansicht vortragen kann. Seine Stellung beim Interzedieren ist weniger schwierig als in den Fällen des Forderns reiner Gnade. Aber zugleich wird damit auch das Interzessionsrecht der Kirche relativiert, indem es mit dem weltlichen Rechtsdenken in Verbindung gebracht wird. Die Kirche interzediert hier nicht allein unter Berufung auf clementia und misericordia, auf die absoluten Grundlagen des Interzessionsrechtes. Sie ergänzt diese Unbedingtheit des Anspruchs, indem sie den Rechtsgrund der iustitia ihrer Argumentation hinzufügt. Im Grunde geht es immer noch um die Gnade für den Missetäter und um die Motive, die aller kirchlichen Interzession zugrunde liegen. Aber um der besseren Verständlichkeit und Durchschlagskraft ihrer Argumentewillen nimmt sie den Vortrag mit auf, daß der Täter diese Strafe auch nach weltlichem Rechtsdenken nicht verdiene. Im Ergebnis hilft das alles nichts, weil auch der Richter von seinen Vorstellungen über die Strafhöhe nicht abweicht. Der Dieb soll "auf alle Fälle" (omnimodis) gehängt werden. Von rechtlicher Argumentation ist nichts zu erkennen. Der Graf "will" den Tod des Täters. Deshalb verhängt er das Todesurteil. Er fragt nicht nach der seit alters festgesetzten Strafe, sondern er entschließt sich auf Grund freier Erwägung zu dieser Strafe. Nun stehen die subjektiven Erwägungen des Heiligen und die des Grafen im direkten Gegensatz. Beide beurteilen nicht mehr nur die Tat und die dafür festgesetzte Strafe als notwendiges Mittel zur Heilung der gestörten Rechtsordnung, sondern fragen nach dem Täter und danach, ob er die Strafe subjektiv verdient habe. Das Gespräch, das in der Legende Sankt Quentins zwischen Richter und Priester noch auf zwei Ebenen - denen des alten und des neuen Rechtsdenkens - geführt wurde, wird hier von beiden Parteien im Stile des neuen, ethisch orientierten Rechtsdenkens ausgetragen. Der Richter versteht die Argumentation des Heiligen. Er wendet nicht etwa ein, daß er das Urteil von Rechts wegen so verhängen und vollstrecken lassen müsse, sondern daß er das Urteil so wolle, und daß es deshalb auch so vollstreckt werde. Der Wille des Richters bestimmt das Schicksal des Diebes. Weil der Richter das Recht auslegt und dem Einzelfall anpaßt, weil er danach fragt, was dieser individuelle Übeltäter verdient hat, ist er durch alten Rechtssatz nicht gebunden. An diesem Willen aber scheitert der Gottesmann. So neu dieser Stil der Verhandlung um das Leben des Diebes ist, so sehr unterscheidet sich auch die Art des Wunders von den voraufgegangenen. Wieder betet der Heilige. Wieder wird das Urteil vollstreckt und der Dieb dem Tode übergeben. Aber nun zertrümmert der Gehenkte selbst den Galgenbalken, an dem er hängt. Auch das ist natürlich wunderbar und wäre ohne das Gebet des Heiligen nicht möglich gewesen. Ohne göttliche Hilfe hätte er sich sicher nicht aus den starken

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Fesseln befreien können. Aber das alte Schema der Strafbefreiung durch Gottesurteil wird zerstört. Der Täter ist an der Befreiung vom Galgen aktiv beteiligt, indem sein Bemühen durch göttliche Gnade unterstützt und von Erfolg gekrönt wird. Wie das im einzelnen geschieht, berichtet die Legende bezeichnenderweise nicht. Wichtig ist nur, daß es geschieht und daß der Dieb frei kommt und davonlaufen kann. Das hat seine besonderen Folgen. Denn nun ist es nicht mehr für alle Beteiligten offensichtlich, daß hier ein Gottesurteil geschehen ist, durch das die Götter das Leben des Diebes anzunehmen verschmähen und damit die weitere Vollstreckung unmöglich machen. Das ist kein offensichtlicher und für jeden erkennbarer Eingriff der Gottheit. Der Vorgang bekommt durch das Mitwirken des Diebes etwas Diesseitiges, Innerweltliches und wird für den Richter und sein Gefolge verständlich. Er verliert damit aber zugleich den Charakter des Heiligen. Man kann die Befreiung des Diebes menschlich erklären. Die selbstverständliche Folge ist, daß der Graf die erneute Vollstreckung anordnet. Hier gibt es keine Bedenken, ob das Hängen des Diebes wiederholt werden darf. Das alte Verbot der Wiederholung einer gescheiterten Strafvollstrekkung hat in diesem Fall keine Gültigkeit. Deshalb reiten die Reiter gehorsam und ohne Zögern los, um den flüchtigen Dieb zu verfolgen. Dieser vertraut auch seinerseits nicht darauf, daß sein Freiwerden als göttliches Eingreifen vom Grafen anerkannt werde. Die Sache ist ihm selbst nicht offensichtlich genug, als daß er sich auf das erfahrene Wunder allein verlassen und nunmehr gelassen die Anordnung des Grafen zum Abbrechen der Vollstreckung abwarten könnte. Daher tut er das einzig Sinnvolle, um einem erneuten Vollstreckungsversuch zu entgehen. Er wendet sich in vollem Lauf zur Stadt und versucht, unter allen Umständen das kirchliche Asyl zu erreichen, bevor ihn die Soldaten fangen können. Die Lage ist aber doch recht aussichtslos, denn die galoppierenden Reiter drohen, ihn schnell einzuholen. Ein wirkliches Wunder wird nötig, damit der Heilige mit seiner Gnadenbitte doch noch Recht und Gnade bekommt. Durch wunderbares Eingreifen Gottes sinken die Reiter entkräftet hin und können nicht mehr weiterreiten. Erst hier geschieht das Wunder, das für alle Beteiligten einsichtig ist und allen menschlichen Erklärungsversuchen trotzt. Erst durch dieses Wunder gelingt dem Dieb die Flucht zum Asyl und die Befreiung von der Strafe. Die Gnade ist nicht die Frucht des wunderbaren Geschehens am Galgen, sondern des Verfolgungswunders. Die Legende weiß hier selbst nicht mehr, daß es ursprünglich allein auf das Gottesurteil beim Vollstreckungsakt ankam, wenn sie auch noch die "völlige" Zertrümmerung des Galgenbalkens betont. Das alte Wunder wird in seiner magischen Begründung und in seiner Absolutheit nicht mehr verstanden. Es wird

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nicht mehr begriffen, daß es sich nach festen Regeln abzuspielen hatte. Deshalb wird es ersetzt durch ein Doppelwunder, dessen Schwergewicht nicht in dem Geschehen am Galgen liegt. Daß das Begnadigungsproblem als Legendentypus auch damit noch nicht die Grenze seiner Variationsfähigkeit erreicht hat, zeigt ein Exemplar des Wunders aus dem Heiligsprechungsprozeß des Bischofs Petrus von Luxemburg (AA SS, 2. Juli, Bd. I, S. 604): Befragt, sagt er (sc. der Zeuge), daß er selbst ein Joch Rinder, die dem Herrn Bertrand Cur de Monrove aus der Diözese von Die gehörten, geraubt habe; und zwar deshalb, weil jener Bertrandus Cur die Feinde des besagten Herrn (d. h. seines weltlichen Herrn), des Herrn Bischofs von Die aufgenommen habe. Als er die besagten Rinder zur Stadt Die getrieben habe, sei er durch das weltliche Gericht der besagten Stadt Die ergriffen worden. Er habe alsbald eingestanden, daß er die vorgenannten Rinder geraubt habe. Auf sein Geständnis, sagt er, hätten die Richter das Urteil gesprochen, daß er gehenkt werden solle. Da er aber gehört habe, daß er gehenkt werden solle, habe er sich dem Herrn Kardinal von Luxemburg geweiht, damit dieser ihn vor solchem Tode bewahre. Nach diesem Gelübde hätten sie ihn zum Galgen geführt. Und als er am Fuße des Galgens gestanden habe und das besagte Gelübde wiederholt habe, sei der Henker die Leiter zwei oder drei Stufen hinaufgestiegen, damit er ihn an dem Galgen aufknüpfe. Aber beim Hinaufsteigen sei die Leiter in zwei oder drei Stücke gebrochen. Da hätten die Gerichtsreiter ein großes Getümmel untereinander erhoben und seien hin und her gestürmt. Wie er glaube und der festen Zuversicht sei, sei er wegen dieses Wunders vom Tode errettet worden. Nach einigen Tagen, nachdem die Sache an einen anderen Gerichtshof verwiesen worden sei, sei er nicht noch einmal in gleicher Weise verurteilt worden und so dem Tode gänzlich entkommen. Der Hintergrund dieses Berichtes ist einer der unzähligen Fehdefälle des Mittelalters, jener Privatkriege, in denen die großen Herren des Landes einander bekämpften und sich gegenseitig wirtschaftlich zu rui~ nieren suchten. Der hier vernommene Zeuge ist deshalb auch kein einfacher Dieb (fur), dessen Verhalten als Stehlen (furare) bezeichnet werden könnte. Es geht um mehr, nämlich um ein fehderechtlich genau beschriebenes Verhalten, das "Schadentrachten" (rapere) genannt wird. Man versuchte sich gegenseitig zu bekämpfen, indem man das Vermögen des Gegners möglichst gründlich zu beschädigen suchte. So treibt hier der Verurteilte das Joch Rinder des Fehdegegners seines Herren Bischofs fort. Er hat dabei, wie er behauptet, auch einen Rechtfertigungsgrund, der sein Schadentrachten als in rechtmäßiger Fehde geübt rechtmäßig sein läßt. Er wird ergriffen. Sein Vortrag wird vor Gericht jedoch für unbegründet gehalten. Das Gericht erkennt den Rechtfertigungsgrund nicht an und sieht in dem Verhalten einen Raub. Deswegen ergeht die Todesstrafe. Aber dieses Mal ist kein Priester zur Stelle, der dem Bedrängten durch sein Gebet aus der Not helfen könnte. So muß er sich selbst helfen. Das geschieht durch den Einsatz des höchsten, was

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der vom Tode Bedrohte überhaupt zu versprechen hat: seine eigene Person. Hier geht die Initiative zur Erlangung der Gnade vom Verurteilten aus. Das kirchliche Interzessionsrecht wird verselbständigt und zu einem Instrument gemacht, das auch ohne leibhaftige Anwesenheit eines Wundertäters verwirklicht werden kann. Der Heilige kann auch von ferne eingreifen. Er tut das, indem er die Galgenleiter brechen läßt. Wieder werden die alten Denkformen sichtbar. Sie sind hier so absolut, daß sie nicht angezweifelt werden können. Dem Verurteilten kann schwerlich der Vorwurf der Selbstbefreiung gemacht werden. Das göttliche Handeln ist eindeutig. Und so geschieht das, was im Falle eines Wunders dieser Art geschehen muß: die Soldaten geraten in Unruhe und Schrecken, weil sie begriffen haben, daß die Vollstreckung jetzt nicht fortgesetzt werden kann. Aber der Weg der Gerechtigkeit ist feiner als in den vorangegangenen Varianten der Legende. Die ganze Sache wird nicht dadurch beschlossen, daß der Richter sofort die Einstellung der Vollstreckung anordnet. Vielmehr geht der Prozeß in die nächste Instanz. Zur weiteren Prüfung wird er an ein anderes Gericht abgegeben und erst auf Grund dessen Entscheidung ohne erneuten Vollstreckungsversuch abgeschlossen, weil das Gericht das Brechen der Leiter als Hinderungsgrund für die Vollstreckung anerkennt. Die Zahl der Legenden, die sich mit dem Begnadigungsproblem befassen, ist damit noch keineswegs erschöpft. Indessen genügen die hier vorgelegten Beispiele, um das zu zeigen, was die Hagiographie über die Geschichte der Begnadigung zu berichten hat. Es ist eine bekannte Beobachtung, daß die Kirche im allgemeinen und das kanonische Recht im besonderen an den Anfängen und Neuanfängen der verschiedensten Erscheinungen des weltlichen Rechts des Mittelalters steht. Das kanonische Recht leitet jenen umfassenden Prozeß der Ethisierung und Verinnerlichung des weltlichen Rechts ein, in dessen Verlauf auch das Problem der Gnade und der Begnadigung entsteht. Daß das "Gesetz der Praezession des Kirchenrechts" (Hans Dombois) kein leeres Schlagwort ist, zeigt sich auch in der Legende. Wie immer sie die Begnadigung und den Konflikt zwischen weltlicher iustitia und kanonischer misericordia widerspiegelt und welche verschiedenen Formen dieses Konfliktes sie auch immer zeigt: der eine Grundsatz bleibt überall sichtbar, daß nämlich die Gnade anfangs allein eine Sache der Kirche ist. Die Gnade und ihre juristische Ausprägung als Begnadigung finden ihren Weg aus dem kirchlichen Denken in die weltliche Rechtspraxis anfangs nur mühsam. Es bedarf eines langen Weges und einer Jahrhunderte währenden Auseinandersetzung zwischen Kirche und weltlicher Gerichtsbarkeit, bis es zu jener Subjektivierung und Ethisierung der Strafe kommt, die im "Richten nach Gnade" in der Frage nach

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der Angemessenheit einer einzelnen Strafe für einen bestimmten individuellen Täter ihren sichtbaren Ausdruck findet. Der Punkt der Anknüpfung für dieses Neue sind bekannte alte Formen. In der Form des alten Rechts begegnet der neue Inhalt so versteckt, daß er in seinen Anfängen nur von wenigen bemerkt werden kann. Die Kirche weiß wohl, was sie hier unternimmt. Aber der weltliche Richter merkt noch nicht, daß das Problem der Begnadigung durch menschlichen Willensentschluß entstanden ist. Er merkt es um so weniger, als dieselben Formen der Unterbindung von Urteilsvollstreckungen auch dort geübt werden, wo es um die Verurteilung Unschuldiger geht. Falsche Urteile werden korrigiert, indem der Heilige in der gleichen wunderbaren Weise eingreift, in der er auch die Erzwingung des Interzessionsrechtes zu erreichen pflegt. So berichtet die Legenda Aurea (De sancta Elisabeth, c. 10): "Ein Mensch, Johannes mit Namen, im Bistum Mainz, ward mit einem Diebe unschuldig ergriffen, und ward mit ihm zum Galgen verurteilt. Da bat er das Volk, daß sie zu Sanct Elisabeth bäten, daß ihm geholfen würde nach seinem Verdienst. Da er gehenkt ward, da hörteer eine Stimme über ihm, die sprach ,Habe gute Zuversicht zu Sanct Elisabeth, so wirst du erledigt sein'. Alsbald riß sein Strick, dieweil der andere an dem Galgen hängen blieb, und er fiel von der Höhe schwerlich herab, doch litt er keinen anderen Schaden, denn daß das neue Hemd zerriß, damit er bekleidet war. Da sprach er mit großen Freuden ,Heilige Elisabeth, du hast mich erlediget und hast mich fallen lassen auf ein weich Lager'. Es sprachen etliche, daß man ihn zum anderen Male sollte henken. Antwortete der Richter ,Wen Gott erlöset hat, den will ich zum anderen Male nicht henken'." Der den Begnadigungslegenden so ähnliche Ablauf des Wunders kann nicht über den Abstand dieser Legende zu den vorhergegangenen hinwegtäuschen. Dort ging es um Gnade. Hier geht es um Gerechtigkeit. Dort ging es um Schuldige. Hier geht es um einen Unschuldigen. Das Motiv der Legende, der hinter ihr stehende Konflikt ist in beiden Legendengruppen grundverschieden. Erreicht wird die Lösung so verschiedener Konflikte aber auf dieselbe Weise, nur mit dem Unterschied, daß das alte Motiv- die Gottheit lehnt die Urteilsvollstreckung ab - bei der Verurteilung Unschuldiger in vollem Umfang gerechtfertigt und sinnvoll bleibt, während es dort seinem Inhalt nach verändert wird. Die Grenze zwischen beiden Legendengruppen bleibt trotz aller Ähnlichkeit im Äußerlichen doch grundlegend. Das hier Entscheidende ist aber, daß die Legendenpredigt. der Kirche ein Weg zur Verwirklichung des kirchlichen Gnadendenkens ist. Auch über die Legende zieht die Gnade in das weltliche Recht.

Auctoritas Die Legenda Aurea berichtet aus dem Leben des Heiligen Germanus von Auxerre folgende Legende, die sich gelegentlich einer Reise des Heiligen nach Britannien zugetragen haben soll (Cap. VII): "Da Sanct Germanus predigte in Britannien, geschah es, daß der König des Landes ihm und seinen Gesellen keine Herberge wollte gewähren. Da kam der Sauhirte des Königs von der Weide und wollte die Nahrung, die er in des Königs Palast hatte empfangen, heim in seine Hütte tragen. Als der Germanum und seine Gefährten hungernd und frierend sah stehen, nahm er sie freundlich in sein Haus und schlachtete den Gästen das einzige Kalb, das er hatte. Als die gegessen hatten, sammelte Sanct Germanus alle Knochen des Kalbes in das Fell, betete darüber, und das Kalb sprang alsbald gesund wieder auf. Des andern Tages ging Germanus zum König und fragte ihn gar ernstlich, warum er ihm die Herberge hätte versagt. Da erschrak der König und wußte nicht, was er ihm sollte zur Antwort geben. Sprach der Bischof ,So gehe hin und laß das Königreich dem, der besser ist denn du'. Und nach Gottes Willen ließ er den Sauhirten samt seinem Weibe kommen und machte ihn zum König, daß alles Volk sich verwunderte. Und von den Nachkommen des Sauhirten wird seit der Zeit das Land Britannien regiert." Es handelt sich um eine Legende, der an der entscheidenden Stelle fehlt, was man von einer Erzählung dieser literarischen Gattung eigentlich erwarten darf: das Wunder. Zwar wird, gewissermaßen nebenher, auch hier durch die Wiederbelebung des Kalbes die wunderwirkende Vollmacht des Heiligen demonstriert. Aber an der Stelle, an der die Legende eigentlich im Wunder kulminieren müßte, an ihrem Schluß nämlich, geht es ohne Wunder ab. Der Heilige setzt durch ein Machtwort einen Mann als König ab und einen anderen an seine Stelle. Das muß auch einem in der Geschichte nicht bewanderten Leser ungewöhnlich vorkommen. Wo gibt es das heute noch, daß ein Regent ohne allen Aufruhr gegen einen anderen ausgetauscht wird? Wo hat es das je gegeben? Bei dem Königtum handelt es sich um eine Rechtsposition obersten verfassungsrechtlichen Ranges, die ein König so leicht gegen seinen Willen nicht aufgibt. Verbirgt sich in der Legende ein verfassungsrechtlicher Lehrsatz? Unter den fünf Heiligen, die den Namen Germanus ISt. Germain tragen, ist dieser der berühmteste: Sanctus Germanus episcopus Autissiodorensis confessor I Saint Germain d ' Auxerre. Nach dem Heiligen

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Martin von Tours wurde er in Frankreich am meisten verehrt. Er gehört auch nicht zu jener Gruppe von Heiligen, über deren geschichtliche Existenz Unklarheit besteht. Wir wissen, daß es ihn gegeben hat. Germanus ist eine Hauptfigur der Kirchengeschichte im späten antiken Gallien. Der Priester Constantius von Lyon verfaßte bereits um das Jahr 480 die vita des Heiligen. Nachdem W. Levison in einer scharfsinnigen Untersuchung nachgewiesen hat, daß die vita des Constantius authentisch ist, können heute folgende biographische Daten als gesichert angenommen werden: Germanus repräsentiert den Typ des spätantiken Bischofsheiligen, der - als Sprößling einer vornehmen und reichen gallischen Senatorenfamilie zu höchsten Ämtern berufen zum confessor und Mitbegründer der kirchlichen Machtposition im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter wurde. Um das Jahr 378 wurde er als Sohn des Rusticus und der Germanilla in Auxerre geboren. Er genoß eine ausgezeichnete Erziehung auf gallischen Schulen und studierte anschließend die Rechtswissenschaft in Rom. Als Rechtsanwalt trat er mit großem Erfolg vor den höchsten Gerichten auf und wurde als einer der besten Redner berühmt. Als Zensor von Latium trat er in die höhere Verwaltungslaufbahn ein. Noch in Rom heiratete er die Patrizierin Eustachia. Durch die Gunst des Kaisers Honorius (AD 395- 423) erreichte er die höchste Stufe der römischen Verwaltung durch die Ernennung zum Provinzialstatthalter in Auxerre. So wurde er eine der führenden Persönlichkeiten Galliens. Dann wurde er Priester, wobei er allerdings sein weltliches Amt behalten zu haben scheint. Am 1. Juni 418 wurde er auf Wunsch seines Vorgängers, des Bischofs Amator, gegen seinen Willen zum Bischof von Auxerre gewählt und am 7. Juli 418 als solcher geweiht. Nun legte er sein Statthalteramt nieder, trennte sich von seiner Frau, verteilte sein Vermögen unter die Armen, gründete Schulen, Kirchen und Klöster und führte ein Leben strengster Askese und Armut. Er verwaltete die ihm anvertraute Diözese mit großer Sachkenntnis und bewahrte sie in den Gefahren, die ihr durch die Übergriffe römischer Beamter und eindringender Germanen drohten. So bemühte er sich persönlich und mit Erfolg beim Präfekten Auxilliaris in Arles um die Ermäßigung der übermäßigen Steuerlasten, durch die die Bürger von Auxerre bedrückt wurden. Besondere Beziehungen hatte er zur britannischen Insel, auf der er noch heute große Verehrung genießt. Sein Schüler, der Heilige Patrick, wurde zum Apostel und Bekehrer Irlands. Germanus unternahm zwei Reisen nach England. Die erste Reise trat er im Jahre 429 an. Die englischen Bischöfe hatten bei den gallischen um Hilfe gegen die Irrlehren des Pelagius gebeten, der die offiziellen Dogmen der Erbsünde und der Prädestination bestritt. Auf Beschluß der Synode in Arles und mit päpstlicher Vollmacht bestätigt, zog Germanus in Begleitung 3 Hattenhwer

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des Bischofs Lupus von Troyes nach England und führte in zweijähriger Tätigkeit seinen Missionsauftrag auf der Insel erfolgreich durch. Die zweite Missionsreise fand im Jahre 444 statt. Bei dieser Gelegenheit griff Germanus auch schlichtend in den Krieg zwischen den Briten einerseits und den Sachsen und Pikten andererseits ein. Auch nach seiner Heimkehr betätigte er sich als politischer Vermittler. Nach Ordnung der Angelegenheiten seiner Diözese und in Vorahnung seines nahen Todes begab sich Germanus bald danach auf eine Reise nach Ravenna, der Residenz des Kaisers Valentinian III. und dessen Mutter Galla Placidia. Dort starb er am 31. Juli 445. Seine Gebeine wurden nach Auxerre gebracht und dort beigesetzt. Soweit der historisch gesicherte Teil der Vita. Die Legende weiß außerdem zu berichten, Germanus sei während der Zeit seiner Statthalterschaft ein leidenschaftlicher Jäger gewesen. Er sei wegen seiner Gewohnheit, das erbeutete Wild an einem Baum in Auxerre aufzuhängen, mit dem Bischof Amator in Streit geraten. Dieser habe nach vielen vergeblichen Ermahnungen endlich den Baum während der Abwesenheit des Germanus umhauen lassen. Germanus habe ihm deswegen nach dem Leben getrachtet und Amator sei von Auxerre geflohen. Durch einen Traum angewiesen, habe sich Amator aber wieder zurückbegeben, vor allem Volk sein nahes Ende verkündet und um die Wahl des unter dem Volk stehenden Germanus zum Nachfolger gebeten. So sei aus dem leichtlebigen Statthalter ein hingebungsvoller Bekenner geworden. Die Legende ist es auch, die den Bericht von der verweigerten Gastfreundschaft des Königs von Britannien überliefert hat. Germanus, der als "Wundertäter Galliens" (Franz von Sales) gepriesen wird, ist nach seinem Tode hoch verehrt worden. Diese überragende Verehrung ist wohl auch der Anlaß dafür gewesen, daß seine Gebeine während der Hugenottenkriege unauffindbar verlorengegangen sind. Wie aber fügt sich der Text unserer Legende in das authentische Lebensbild des Heiligen? Die Legende paßt durchaus zu dem von Germanus repräsentierten Heiligentypus des Bekenners (confessor). Mit dem Toleranzedikt des Kaisers Constantin vom Jahre 313 war das Martyrium für die Christen rar geworden. Es war - insbesondere seit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im Jahre 391 wenig Aussicht für die Anhänger des Christenglaubens, daß sie je wieder ihr Bekenntnis in der Verfolgung würden bewähren müssen. Das Märtyrerideal bestand zwar noch, aber es war - jedenfalls in der Romania - unerfüllbar geworden. Wer sich dennoch des Martyriums für würdig hielt, mußte schon nach Germanien als Missionar reisen, um überhaupt in Lebensgefahr geraten zu können. So wurde das veraltete Leitbild christlicher Vollkommenheit gegen ein modernes und für jedermann erreichbares ausgetauscht. Christliche Vollkommenheit wurde

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nun in der Bewährung der praxis pietatis, in Bekennermut, Rechtgläubigkeit, Askese und Einsatz für die Kirche gesucht und gefunden. Der confessor als Heiligentypus ist die Verwirklichung dieser neuen Frömmigkeit. Dievita des Germanus ist typisch für die merowingische Heiligenvita schlechthin. Diese Merowingerheiligen waren keine kleinen Leute. Sie entstammten ausnahmslos den besten Familien Galliens. Man wurde im Merowingerreich nicht Bischof, wenn man nicht die Voraussetzungen vornehmer Abstammung erfüllte. Gregor von Tours (Rist. IV, 6) konnte sich nicht beruhigen über die Unverschämtheit des Priesters Cato, der als sozialer Aufsteiger allein wegen seines vorbildlichen christlichen Lebenswandels zum Bischofsamt berufen zu sein glaubte. Mit diesen vornehmen Heiligenpersönlichkeiten wurde in einer historisch einmaligen Weise die Tradition der Antike, ihre Bildung und Kultur in die Kirche hinübergerettet, die sich immer stärker in die geistige Auseinandersetzung mit dem Germanenturn geführt sah. Auch insoweit ist das Beispiel des Germanus typisch; als römischer Jurist ausgebildet, muß er sich in England und in der Bretagne als Friedensschlichter und Vermittler bei Germanenkämpfen mit Problemen befassen, die nicht mehr der alten Welt entstammen. Germanus war ein Herr. Als solcher trat er auch in der Begegnung mit dem König von Britannien auf. Er bat nicht, er befahl. Er handelte offenbar in der Erwartung, daß man seinem Befehl widerspruchslos nachkommen werde, auch wenn er ihn nicht durch eine Wundertat bekräftigte. Die Amtsautorität seines weltlichen Berufs kennzeichnete auch sein Handeln als Bischof. So handelte ein Statthalter. Handelte so aber auch ein Bischof des 5. Jahrhunderts? Zwar fügt sich die Legende gut in den Rahmen der zweiten Englandreise des Heiligen. Denn nur in einem ihm fremden Land konnte das Problem der verweigerten Gastfreundschaft entstehen. Wie steht es aber - und damit sind wir an der Stelle, an der Legende und authentische Heiligenvita nicht harmonieren wollen - mit der Absetzung des Königs selbst? Es erregt Zweifel, wenn dieses Handeln gerade von diesem Heiligen berichtet wird. Für ihn war das Kaisertum, war weltliche Obrigkeit noch eine unbezweifelte Wirklichkeit. Als einem Freund und Günstling des Kaisers muß ihm der Gedanke der Absetzung eines weltlichen Herrschers besonders fremd gewesen sein. Auch war die Autorität seines Amtes noch keineswegs so groß, daß er einen solchen Akt h ätte wagen können. Die Kirche befand sich noch im Stadium ihrer Konsolidierung. Der Heilige selbst hatte als etwa 13jähriger Knabe die Erhebung der Kirche zur Staatskirche erlebt. Die Zeit der Verfolgung lag nicht im fernen Dunkel der Vorzeit. Die gallische Kirche seiner Zeit hatte - wie seine eigene Vita zeigt - andere Probleme, als die des revolutionären Eingriffs in die weltliche Gewalt. Nicht Kaiser-

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und Königtum, sondern vielmehr Ketzer, Steuerbeamte und Germanen machten der Kirche Sorgen. Die Begegnung mit der weltlichen Regierung fand vor allem auf der Ebene der Finanzbeamten statt. Hätte Germanus aber als Fremdling in England etwas zu tun gewagt, was ihm im eigenen Lande nicht in den Sinn gekommen wäre? Das ist unwahrscheinlich. Denn die missionierende Kirche des Frühmittelalters hat sich zumeist davor gehütet, in die Traditionen und Verfassungen der zu missionierenden Völker mehr als notwendig einzugreifen. Es kam ihr vielmehr darauf an, daß den zu missionierenden Völkern ihre überlieferten Gewohnheiten belassen und lediglich daran angeknüpft wurde. Es paßt schlecht zu dem Bild einer so behutsam missionierenden Kirche, daß einer ihrer klügsten Vertreter brutal in die Verfassung eines fremden Volkes eingreift, unter dem er sich zur Bekämpfung der Ketzerei aufhält. Die Legende von der Absetzung des englischen Königs kann sich so wie berichtet nicht ereignet haben. Allerdings läßt sich hier auch noch eine andere Deutung vertreten. Ist es nicht möglich, daß der- in der Amtstracht des hohen römischen Beamten auftretende- Heilige die Autorität des römischen Imperiums repräsentiert und ausgeübt hat? Man könnte meinen, Germanus habe mit Recht zornig auf die Verweigerung des ihm als römischen Beamten zustehenden Gastrecht reagiert und deshalb auch mit Recht jenen Kleinkönig abgesetzt, der sich der Rechtsordnung des Imperium Romanum nicht fügen wollte. Dieser Deutung widersprechen jedoch die historischen Tatsachen. Das römische Reich war auf der englischen Insel im Jahre 444 bereits endgültig zusammengebrochen. Wir wissen zwar, daß die christliche Kirche Englands im 5. Jahrhundert ihre erste Blüte erlebte. War sie noch im 4. Jahrhundert auf die Rolle einer Minorität beschränkt gewesen, die ihre Anhänger unter den Armen in den Städten hatte, so erfuhr sie nun eine soziale Aufwertung, die begleitet war von einer rapiden Vermehrung ihrer Anhänger auf dem Lande. Zugleich brachte das 5. Jahrhundert den Beginn einer planmäßigen Mission unter den Nichtchristen der Insel. Das Chrakteristikum dieser Blüte der christlichen Religion aber war ihre Unabhängigkeit vom römischen Imperium. Wenn auch keine volle Klarheit über den genauen Zeitpunkt des Zusammenbrechens der römischen Herrschaft auf der Insel besteht, so wissen wir doch mit Sicherheit, daß zu der Zeit der zweiten Englandreise des Heiligen Germanus dieser Zusammenbruch schon erfolgt war. Es gab keine römische Gewalt mehr, also auch kein römisches Gastrecht und erst recht keine römische Strafgewalt, die dieses Handeln des Heiligen hätte sanktionieren können. Läßt sich die Legende aus ihrem historischen Zusammenhang nicht erklären, so bleibt als weiteres Hilfsmittel des Verstehens die Ausle-

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gung des Textes selbst. Die Legende ist ein Text wie jeder andere und daher auch wie jeder andere Text der Interpretation fähig. Insoweit gelten die Interpretationsregeln, deren sich die Rechtsgeschichte - wie jede andere Textwissenschaft - ihrer Fragestellung entsprechend bedient. Für die Interpretation der Legende ergibt sich eine Besonderheit: das Motivproblem. Die Legende bedient sich wie Märchen und Sage einer Reihe von Motiven, die in verschiedenen Texten immer wieder vorkommen. Man liest einen Text und erinnert sich, daß man gewissen Einzelzügen schon einmal anderswo begegnet ist. Das archaische Denken, an das sich Legende wie Märchen und Sage wenden, arbeitet typisierend. Bestimmte Redewendungen, Bilder, Geschichtsschlüsse, Wunder, Arten des Fehlverhaltens oder Erfolges etc. kommen in derselben Form wiederholt vor. Insoweit strebt die Legende nicht nach Originalität. Aber die Legende verfährt mit diesen Motiven wie man in einem Dominospiel vorgeht. Die stereotypen Motive werden in der einzelnen Geschichte neu zusammengesetzt und diese Kombination gibt dem Text sein Gesicht und gegebenenfalls auch seine rechtshistorische Aussage. Bei der Interpretation der Legende sind also zwei Schritte zu gehen: a) die Feststellung und Einordnung der Motive und b) die Analyse der Motivkombination. Für unsere Legende ergeben sich folgende Motive: 1. 2. 3. 4. 5.

Gastlichkeit Ungastlichkeit Sauhirt König Knochen

(wird belohnt) (wird bestraft) (wird bestraft) (wird erniedrigt) (werden wiederbelebt).

Das Motiv der belohnten Gastlichkeit ist in der Literatur der "einfachen Formen" typisch und geläufig. Durch solche Geschichten sollen die Zuhörer zu guten Gastgebern erzogen werden. Der Verfasser der Legende hat zur Darstellung solcher vorbildlicher und daher belohnter Gastlichkeit besonderen Grund. Denn zu der Art von Gastlichkeit, wie sie der Sauhirt gegenüber dem Heiligen ausübt, werden die Christen bereits in der Bibel aufgerufen. Die Legende ist nichts weiter als das in ein anschauliches Verhaltensmuster übersetzte Gebot des Hebräerbriefs: "Gastfrei zu sein vergesset nicht!" Daß der Legendenverfasser an diesen Satz wahrscheinlich sogar gedacht hatte, als er dieses Motiv von dem gastfrei beherbergten Heiligen das erste Mal formulierte, zeigt der Satz, der im Hebräerbrief als Begründung für das Gebot der Gastlichkeit gegeben wird: "Denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt." Im Hintergrund klingt das Wort Jesu im Jüngsten Gericht an (Matth. 25, 35): "Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherbergt." Im Gast verbirgt sich für den Christen der Besuch Gottes

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selbst. Das ist eine Aussage, die durch die Beschreibung des Besuches eines Heiligen für die Zuhörer der Legende an Eindringlichkeit nur gewinnen konnte. Ja noch mehr, denn die Verfasser konnten bei der Formulierung dieses Motivs sogar zwischen den Zeilen auf eine Geschichte Bezug nehmen, auf die auch das Gebot aus dem Hebräerbrief hinweist: der Bericht von der Gastlichkeit des Abraham beim Besuch der Engel (1. Mose 18, 1 ff.). Dort wird am anschaulichsten und für jedermann verständlich die vorbildliche Art der Gastlichkeit beschrieben: "Als Abraham sie sah, lief er ihnen entgegen von der Tür seiner Hütte und bückte sich nieder auf die Erde und sprach: ,Herr, habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so gehe nicht an deinem Knecht vorüber. Man soll ein wenig Wasser bringen und eure Füße waschen und lehnet euch unter den Baum. Und ich will euch einen Bissen Brot bringen .. .'. Abraham eilte in die Hütte zu Sara und sprach: ,Eile ... und backe Kuchen.' Er aber lief zu den Rindern und holte ein zartes, gutes Kalb (!) und gab's dem Knechte; der eilte und bereitete es zu. Und er trug auf Butter und Milch und vom Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor und blieb stehen vor ihnen unter dem Baum und sie aßen." Der Lohn der spontanen Gastlichkeit des Abraham war die Verheißung eines Sohnes, der ihm innerhalb Jahresfrist trotz des hohen Alters seiner Frau geboren werden sollte. Daß die Gastlichkeit des Sauhirten und die des Abraham frappierende Parallelen zeigen, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Der Standpunkt, von dem her das Motiv der belohnten Gastlichkeit verwendet wird, kann nicht klarer vor Augen liegen. Aber es wäre falsch, wenn man glaubt, diese Vorstellungen von der vorbildlichen Gastlichkeit auch bei den Hörern der Legende als selbstverständlich voraussetzen zu können. Die Legende predigt nicht ohne Anlaß. Sie braucht die nicht mehr zu erziehen, mit denen sie sich darüber einig ist, daß man so gastlich sein soll wie Abraham es getan und Christus es gefordert hat. Allerdings ist die Legende nicht daran interessiert, irgendwelche anderen Theorien von der Gastlichkeit vergleichend vorzutragen und damit die eigene Konzeption zu relativieren. Diese andere Theorie gab es aber. Das zeigt ein Blick in die Rechtsgeschichte. Dem germanischen Recht ist nicht jeder Fremde ein Gast. Das zeigt noch die Geschichte des Wortes "Gast". Es ist mit dem lateinischen Wort "hostis" verwandt, das ursprünglich den Fremden bezeichnete. Der Fremde aber war rechtlos. Sein eigenes Recht wurde in der Fremde nicht anerkannt wie er andererseits nicht Glied der Rechtsgemeinschaft wurde, unter der er sich als Fremder aufhielt. Er hatte keine Rechte und auch keinen Rechtsschutz. Er konnte buBlos erschlagen und verknechtet werden. Der Fremde (althochdeutsch: alilanti) war im wahrsten Sinne des Wortes ein "Elender" . Erst durch das Mittel der Gast-

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"Freundschaft" wurde aus dem Fremden ein Gast. Dabei ist zu beachten, daß "Freund" in diesem Sinne die Bedeutung von "Sippengenosse" hatte. Gastfreundschaft war die Adoption des Fremden, der dadurch zum Verwandten und dadurch erst zum Träger von Rechten und Pflichten wurde. Es war selbstverständlich, daß nicht jeder Fremde die Möglichkeit hatte, Gast zu werden. Und es war ebenso selbstverständlich, daß für den Fremden kein Recht auf Gastfreundschaft bestand wie es für den potentiellen Gastgeber keine Rechtspflicht zu einem so weitgehenden und ihn auf das erheblichste verpflichtenden Schritt gab. Es war deshalb ein revolutionärer Akt, der von den meisten auch unverstanden blieb, wenn die vom klerikalen Denken bestimmte Lex Baiuvariorum (IV, 30) es verbot: "einen Fremden zu belästigen oder zu schädigen, weil die einen um Gottes willen, die anderen aus Notwendigkeit daherziehen". Was die Realisierung eines solchen neuen Bildes von Fremden für die -von Fremden betriebene- Mission unter den Kelten und Germanen bedeutet haben muß, ist leicht einzusehen. So überrascht es nicht, daß eine der interessantesten Quellen des alten Rechts von diesem Konflikt durchaus noch weiß. Es ist bemerkenswert, wie oft sich das Sprichwort mit dem Gast und wahrer Gastlichkeit befaßt. Zwar fehlt es nicht an Sprichwörtern, die das in der Legende empfohlene Verhältnis zum Gast ebenfalls anpreisen. "Arme Gäste sendet Gott uns zu." Oder: "Armer Gast, Gottes Kast." Aber es ist doch bezeichnend, daß hier die Armut des Gastes die Legitimation der Gastlichkeit, d. h. der Gewährung guter Werke ist. Der Gast wird dem Gotteskasten verglichen; die Gabe an ihn ist Almosen. Doch gibt es daneben auch die "ungebetenen Gäste", die man "untern Ofen steckt". "Ein Gast soll nicht ungebeten kommen." Die meisten Sprichwörter aber vertreten eine Ansicht über die Gastlichkeit, mit der sie die Mitte zwischen der christlichen Forderung nach unbegrenzter Gastlichkeit und den eigenen materiellen Interessen und Erfahrungen einzuhalten suchen. "Nach drei Tagen stinkt der Fisch und der Gast." Das Sprichwort empfiehlt zwar die Gastlichkeit, beschränkt sie aber auf die Dreitagesgrenze und macht den Fremden damit zugleich nicht mehr zu dem, was er durch die Gastfreundschaft nach germanischem Recht wurde: "Gastfreund". Jeder kann Gast sein, aber das Verhältnis zwischen ihm und dem Gastgeber wird unverbindlicher. Das Motiv der bestraften Ungastlichkeit ist nur die Ergänzung und Verstärkung des Motivs der belohnten Gastlichkeit. Die Legende bedient sich hier wie so oft der Technik der Schwarzweißmalerei, um ihre Absichten eindringlich den Zuhörern vor die Augen zu malen. Wer sich nicht um den Lohn kümmert, der soll sich doch wenigstens vor der Strafe scheuen. Auch diese Verbindung von Lohn und Strafe ist speziell

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bei den Geschichten, die sich mit der Gastlichkeit befassen, nicht ungewöhnlich. Ein Vorbild findet sich auch im Neuen Testament, von dem der Verfasser der Legende allerdings wohlweislich keinen Gebrauch gemacht hat (Lukas 9, 52- 55): "Und er (sc. Jesus) sandte Boten vor sich hin; die gingen hin und kamen in einen Markt der Samariter, daß sie ihm Herberge bestellten. Und sie nahmen ihn nicht an, weil er nach Jerusalem reiste. Da das aber seine Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: ,Herr, willst du, so wollen wir sagen, daß Feuer vom Himmel falle und verzehre sie, wie Elia tat!' Jesus aber wandte sich und bedrohte sie und sprach: ,Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?'." Hier wird das Motiv der bestraften Ungastlichkeit vorausgesetzt, dann aber zerbrochen. Die verdiente Strafe bleibt aus, d. h., es wird Gnade geübt. Aber mit einem Gnadenwunder ist dem Verfasser der Legende nicht gedient. Gnade kann von ihm erst dann verkündigt werden, wenn überhaupt begriffen wird, daß das germanische Verhältnis zum Gast im Sinne der christlichen Vorstellungen ein schreiendes Unrecht ist. Die Legende hält an der Strafe der Ungastlichkeit fest, denn sie will die Sitten verändern. Von daher verändert sich auch die Deutung des Verhaltens des ungastlichen Königs. Vom germanischen Rechtsstandpunkt aus gesehen verweigert er dem Heiligen das Quartier mit vollem Recht. Die Legende sagt nicht, daß es sich um einen christlichen König gehandelt habe. Sie geht davon aus, daß nur ein Heide sich so böse verhalten konnte. Daß im Britannien der Spätantike und des Frühmittelalters die neuen Vorstellungen des christlichen Gastgebers allgemein durchgedrungen waren, kann sie mit gutem Grund nicht behaupten. So zeigt sich die merkwürdige Situation, daß jeder von beiden, König und Heiliger, von dem Standpunkt seiner Rechtsauffassung aus gesehen recht hat. Der Heilige fordert zu Recht christliches Verhalten des Gastgebers. Der König aber kann sich mit gutem Gewissen auf sein überliefertes und heiliges Recht berufen, wenn er die Bitte abschlägt. Wenn die Legende das Motiv des zum König erhobenen Sauhirten verwendet, so wird man bei dem Typ des gastlichen Sauhirten leicht an Eumaios, den göttlichen Sauhirten im 14. Gesang der Odyssee erinnert. Zwar war auch Abraham ein gastlicher Hirte. Aber wohl nirgends sonst ist ideale Gastlichkeit gerade an dem Verhalten eines Sauhirten geschildert worden. Der als Bettler verkleidete Odysseus wird von Eumaios auf das freundlichste eingeladen (Vers. 45- 47): "Aber folge mir, Greis, in meine Hütte, damit du, Wenn deine Seele mit Brot und Wein sich gelabt hat, Sagtest, von wannen du kommst und welche Leiden du littest." Odysseus wird auf ein bequemes Lager geführt. Dann schlachtet und brät der Hirte selbst zwei Ferkel, die er dem fremden Bettler zusam-

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men mit einem Trunk süßen Weins zum Mahle vorsetzt. Nun wird man in der Schlußfolgerung, der Verfasser der Legende hätte die Odyssee gekannt und aus diesem Grund einen Sauhirten zum Gastgeber des Germanus gewählt, vorsichtig sein müssen. Ein zwingender Schluß läßt sich aus dem Text nicht ziehen. Immerhin besteht aber, abgesehen von der erstaunlichen Ähnlichkeit im Verhalten des griechischen und des britannischen Sauhirten ein Indiz für die Annahme, der göttliche Eumaios sei das literarische Vorbild für den gastlichen Sauhirten des Germanus gewesen. Denn das Werk des Homer ist als Homerus latinus noch in der Mitte des 9. Jahrhunderts in französischen und deutschen Bildungszentren vorhanden gewesen und auch gelesen worden. Aber damit ist noch wenig gesagt. Denn der göttliche Eumaios und der Gastgeber des Germanus unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt voneinander, nämlich in ihrer sozialen Stellung. Eumaios war kein kleiner Mann. Er hatte mindestens 4 Knechte unter sich und verwaltete ein Vermögen von zwölf mal fünfzig Mutterschweinen, die Eber und Ferkel nicht eingerechnet. Er saß auf einem prächtigen Hof und konnte es sich leisten, einem Fremden zwei Ferkel zur Speise vorzusetzen, ohne dabei seine Befugnisse zu überschreiten. Offenbar hatte er eine unabhängige Position, denn seine Beziehungen zum Hofe des Odysseus beschränkten sich darauf, daß er jeden Tag einen schlachtreifen Eber durch einen seiner Knechte zu Hofe zu bringen hatte. Ganz anders verhielt es sich dagegen mit dem britannischen Sauhirten. Er besaß nur ein Kalb, holte sich seine Nahrung vom Königshofe und stand auf der untersten sozialen Stufe. Einen solchen Mann zum König zu machen, bedeutete, einen Menschen von der untersten auf die höchste soziale Stufe zu versetzen. Nun gibt es in der von den Verfassern der Legende benutzten Literatur nicht nur diesen einen Sauhirten. Noch berühmter als Eumaios, den zu allen Zeiten nur wenige Gebildete gekannt haben, war ein biblischer Sauhirt. Ihn kannten alle Hörer der Legende und wußten ihn auch richtig zu beurteilen: den Verlorenen Sohn aus dem Evangelium des Lukas (15, 14 ff.): "Da er nun all das Seine verzehrt hatte, war eine große Teuerung durch dasselbe ganze Land, und er fing an zu darben. Und er ging hin und hängte sich an einen Bürger des Landes. Der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen, und niemand gab sie ihm." Dieser Sauhirt war nicht nur durch eigenes Verschulden von seinem Vater getrennt und in Hunger und Armut geraten. Er befand sich zudem in einer hoffnungslosen Lage, denn das Hüten der unreinen Tiere brachte ihn an eine Stelle, an der er nur noch allgemeine soziale Mißachtung zu erwarten hatte. Allerdings war er nicht gastfrei. Aber es

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scheint fast, als hätte die Legende die beiden Sauhirten miteinander verschmolzen und dadurch einen neuen Typ geschaffen: den armen, aber gastfreien Sauhirten. Es war auch den Hörern der Legende aus ihrer eigenen Umwelt bekannt, daß ein Sauhirt ein kleiner und armer Mann ist. Von dieser geringen sozialen Stellung des Sauhirten weiß auch das Sprichwort, wenn es jemanden geringschätzig von einer anderen sagen läßt: "Die kommt erst hinter dem Sauhirt." Das Sprichwort weiß aber, daß auch ein Sauhirt trotzdem Glück haben und zu Ehren kommen kann. Allerdings weiß es nichts davon, daß aus einem Sauhirten ein König werden könnte. Aber bis zu einem Abt kann er es immerhin bringen: "Es ist schon hier und da ein Sauhirt über Nacht ein Abt geworden." Auch die Sage kennt einen Sauhirten, der drei Fragen löst und dadurch Abt wird. Aber zum König hat es ein Sauhirt in Sprichwort und Sage nie gebracht. Nun ist es nicht ganz ausgeschlossen, daß in der Literatur der "einfachen Formen" auch ein kleiner Mann einmal König wird. Das Beispiel des tapferen Schneiderleins ist hier am bekanntesten. Besondere Verdienste (Töten des Drachen, Lösen von Rätseln etc.) können dazu führen, daß ein kleiner Mann König wird. Das geschieht dann aber durch Heirat der Königstochter, also durch einen Akt der Aufnahme in die königliche Familie, eine Art von Adoption. Aber selbst dann noch weiß das Märchen zu berichten, daß die neue Königswürde nicht voll anerkannt wird. Die Königstochter ärgert sich am Ende doch, daß sie nur einen Schneider zu Ehemann bekommen hat. Die Literatur der "einfachen Formen" kennt aber keinen Fall, in dem durch ein einfaches Machtwort ein dazu durch Geburt nicht Berufener ein Königtum verliehen bekommt. Das bedeutet indessen nicht, daß der Verfasser der Legende sich dieses Motiv selbst ausgedacht hätte. Denn es gibt einen berühmten Hirten, der durch Prophetenwort König wurde: David (1. Samuel 16, 11- 13): "Und Samuel sprach zu Isai: ,Sind das die Knaben alle?' Er aber sprach: ,Es ist noch übrig der jüngste; und siehe, er hütet die Schafe.' Da sprach Samuel zu Isai: ,Sende hin und laß ihn holen .. .'. Da sandte er hin und ließ ihn holen. Und er war bräunlich, mit schönen Augen und guter Gestalt. Und der Herr sprach : ,Auf! und salbe ihn; denn er ist's.' Da nahm Samuel sein Ölhorn und salbte ihn .. . ". Das Alte Testament kennt also das Beispiel einer Salbung zum König durch Handeln eines dazu von Gott bevollmächtigten Mannes. Angesichts der Verehrung, die gerade David im Mittelalter als "rex et propheta" erfahren hat, ist es sicher, daß gerade diese Stelle bei der Abfassung der Legende eine Rolle gespielt haben muß. Germanus wiederholte am Sauhirten, was Samuel an dem Schafhirten David vorbild-

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lieh getan hatte. Theologische und nicht folkloristische Erwägungen stehen hinter dem Motiv des zum König erhobenen Sauhirten. Wenn es aber in Legende und Sage auch möglich ist, daß aus einem kleinen Mann ein König wird, so ist dies nach dem rechtsgeschichtlichen Befund doch gänzlich ausgeschlossen. Anspruch auf das Königtum haben nur die Angehörigen der königlichen Familie. Nur von ihnen wählt man einen zum König aus. Es kann in diesem Zusammenhang von der Erörterung der neuerdings umstrittenen Frage nach dem germanischen Sakralkönigtum abgesehen werden. Denn auch die Gegner dieses religiösen Verständnisses des germanischen Königtums werden kaum behaupten können, daß je aus einem Sauhirten ein König geworden ist. So bleibt das Motiv des zum König erhobenen Sauhirten trotz des alttestamentlichen Vorbilds und ähnlicher folkloristischer Motive für den Rechtshistoriker fragwürdig. Einmalig in der Legendenliteratur ist auch das Motiv des vom Heiligen abgesetzten Königs. Nicht einmal Samuel hatte es gewagt, nach der Salbung des jungen Davids den von Gott verworfenen Saul durch Prophetenwart abzusetzen. Er hätte das wohl auch mit seinem Leben bezahlen müssen. Die Absetzung des verworfenen Königs blieb Gott selbst vorbehalten, der selbst "die Fürsten zunichte macht" (Jesaja 40, 23). So hat die Kirche der Spätantike die Absetzung von Königen nicht erwogen. Das bedeutet nun allerdings nicht, daß es vor der Abfassung der Legende den Gedanken der Absetzung eines Königs im Abendland nicht gegeben habe. Die Germanen kannten die Absetzung von glücklosen Königen. Unfruchtbarkeit des Landes, Mißwuchs und Hungersnot konnten bei den Schweden zur Absetzung des Königs und zu seiner Opferung führen. Aber dann lebte der König nicht als gemeiner Mann unter seinem Volke weiter. Seine Absetzung bedeutete zugleich seinen Tod. Von den Burgundern berichtet Ammianus Marcellinus (XXVIII, 5, 14), daß ihr König: "gemäß dem alten Brauch seine Amtsgewalt niederlegt und abgesetzt wird, wenn das Kriegsglück unter seiner Regierung schwankend geworden war oder die Erde eine ausreichende Ernte verweigert hatte". Dabei ist nicht auszuschließen, daß der König hier am Leben blieb. Aber die Frage des weiteren Schicksals des Königs ist auch zweitrangig. Absetzbare Könige gab es jedenfalls schon nach germanischem Recht. Doch muß hier beachtet werden, daß diese Absetzung den offenkundigen Verlust des Königheils voraussetzte. Damit ist für die Interpretation dieses Motivs noch nicht viel gewonnen. Denn die Absetzung eines Königs war nach dem Wenigen, was wir von den Germanen wissen, nicht die Sache eines einzelnen, sondern erfolgte auf Beschluß des ganzen Volkes. Schon gar nicht wäre es mög-

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lieh gewesen, daß ein ohnehin rechtloser Fremder die Absetzung durch bloße Rede und ohne Sanktion vornahm und damit widerspruchslos und unter Hervorrufung großen Schreckens bei dem abgesetzten König durchdrang. Die hier dargestellte Szene bleibt unwirklich. Weniger Schwierigkeiten bereitet das Motiv der wiederbelebten Knochen. Die Legende greift hier auf eine vorchristliche Vorstellung zurück, nach der die Knochen der Sitz des Lebens und ihr unbeschädigter Besitz damit die Voraussetzung für die Wiederbelebung eines toten Lebewesens sind. Wo die Knochen verloren sind, da kann auch das Leben nicht zurückkehren. Der Verlust oder die Beschädigung eines einzelnen Knochens kann die Wiederbelebung ganz verhindern oder das wiederbelebte Wesen mit einem Schaden versehen (z. B. Hinken). Knochen können deshalb Glücksbringer sein. Sie können singen und ein Unrecht endlich doch noch verraten, das an demjenigen begangen wurde, dessen Knochen sie waren. Märchen und Sage berichten deshalb oft von wiederbelebten Knochen. So etwa zerschneidet Petrus im Märchen von Bruder Lustig den Leib einer gestorbenen Prinzessin, wirft ihn in kochendes Wasser, fügt "wie alles Fleisch von den Knochen herabgefallen war ... das schöne weiße Gebein" wieder in seine natürliche Ordnung zusammen und belebt durch sein Wort die Verstorbene. Die Sage berichtet von einer Mutter, der ihr Kind ertrunken war; als das Meer die Knochen des Kindes ans Ufer spült, sammelt die Mutter diese in einem Tuch und bringt sie zur Kirche - beim Betreten der Kirche wird das Tuch schwer und das Kind liegt wieder lebendig darin. Im Märchen vom Machandelboom heißt es: "mein Mutter, der mich schlacht, mein Vater, der mich aß, mein Schwester, der Marlenichen, sucht alle meine Benichen, bind't sie in ein seiden Tuch, legts unter den Machandelbaum. Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!" Die Kirche hat an diesen Vorstellungen über die Knochen als den Sitz des Lebens und die Voraussetzung der Auferstehung nicht gerüttelt. Sie hat sie vielmehr in ihre Predigt aufgenommen. Die Verehrung von Heiligengebeinen und die Existenz von Beinhäusern - Aufbewahrungsstätten für die Knochen der Verstorbenen- beweist das mehr als jeder theologische Lehrsatz. So kann es auch nicht überraschen, daß der Heilige das verzehrte Kalb erst wiederbelebt, nachdem er die Knochen hat einsammeln lassen. Das Wunder bleibt auch danach noch immer mächtig genug, denn die Wiederbelebung solcher Knochen setzte die wunderbare Kraft des Heiligen voraus.

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Die Kornposition der Motive wird von der Technik der Schwarzweißmalerei bestimmt. Um die Gastlichkeit gegenüber jedermann den Hörern nahezubringen, wird zugleich der Lohn der Gastlichkeit wie die Bestrafung der Ungastlichkeit gezeigt. Ein weiterer Kontrast ist der zwischen dem gastlichen Sauhirten und dem ungastlichen König. Damit wird diese Forderung an jedermann gerichtet und zugleich macht die Verheißung der Strafe vor niemandem halt. Die Motive 1 bis 4 treten paarweise aufeinander bezogen auf. Anders aber verhält es sich mit dem letzten Motiv. So einsichtig es für den Völkerkundler ist, so wenig paßt es in die Legende hinein. Ihm fehlt nicht nur ein Kontrastrnotiv. Es ist auch vorn Erzählerischen her unbegründet. Zwar geschieht durch die Wiederbelebung der toten Knochen das einzige Wunder in der Legende, so daß diesem Motiv vorn einfältigen Zuhörer gewiß ein besonderes Interesse entgegengebracht worden sein wird. Aber warum geschieht das Wunder? Der Erzähler übersieht, daß es sinnlos ist, einem Mann, der ein paar Stunden später ein begüterter König sein wird, noch sein Kalb lebendig zu machen. Angesichts der nahen Königswürde war es unerheblich, daß das Kalb der einzige Vermögensgegenstand des Sauhirten war. Sollte der Heilige zur Zeit des Wunders noch nicht daran gedacht haben, daß er den Sauhirten an die Stelle des Königs setzen könnte? Das würde schlecht zu der Vermutung seiner göttlichen Bevollmächtigung passen. Sollte der Heilige dem Sauhirten etwa erst diesen Trost verschafft haben, um ihn durch die spätere Erhebung zum König um so mehr zu überraschen? Auch das wäre allzu menschlich vorn Heiligen gewesen. Das Wunder war an dieser Stelle überflüssig. Dafür wäre es an einer anderen Stelle um so notwendiger gewesen: bei der Absetzung des Königs und der Erhebung des Sauhirten. Hier mußte auch der naivste Zuhörer annehmen, daß es ohne besondere Machterweisung des Heiligen zu Aufruhr und Ungehorsam gekommen wäre. Das Verhalten des Heiligen war für ihn selbst sogar lebensgefährlich. Welcher König hätte einen ihm so entgegentretenden Fremden nicht alsbald getötet? Die Legende verzichtet hier auf das Wunder, aber doch nicht ohne Unbehagen. Sie berichtet, daß der König auf die drohende Frage des Heiligen erschrocken sei. Aber warum dieser Schrecken, der doch durch ein Wunder viel eher verständlich gernacht worden wäre? Ist es allein die Person des Gottesrnannes, die erschrekkend wirkt? Es wäre wohl denkbar, daß für den Verfasser der Legende der Heilige in dieser Lage etwas von der "erschreckenden" Qualität des alttestamentlichen Gottes an sich gehabt hatte. Aber dieser Gedanke wäre doch viel zu blaß und theologisch, als daß er zur literarischen Form und sozialen Funktion der Legende passen könnte. So kann auch die Motivexegese nicht weiterführen: Die Legende hat an

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einer Stelle ein Wunder zuviel und an der anderen Stelle ein Wunder zuwenig, um glaubwürdig zu sein. Damit ist der Zugang zum Text noch nicht verschlossen. Es bleibt die Frage nach der Herkunft des Textes und nach seiner Geschichte. Jacobus de Voragine hat die Legende nicht selbst verfaßt. Allerdings ist sie auch nicht in einer der verschiedenen Fassungen der vita Sancti Germani zu finden. Zwar berichtet bereits die um das Jahr 480 von Constantius verfaßte Vita über die Britannienreise des Heiligen; die Geschichte von der Begegnung mit dem ungastlichen König ist ihr aber nicht bekannt. Auch die erweiterte Prosafassung der Vita des Constantius und die von dem Mönch Heiric in Verse gefaßte Vita- beide entstammen der Mitte des 9. Jh.s - kennen die von Jacobus mitgeteilte Legende nicht. Dagegen findet sie sich in den miracula Sancti Germani (C. 80- 82). Sie hat dort folgenden Wortlaut: "Es wird auch ein berühmtes Wunder berichtet, dessen Kenntnis über den heiligen Greis Marcus, einen Bischof jenes Volkes, zu uns gekommen ist. Dieser war ein Britanne von Geburt, aber in Irland erzogen worden. Nach einem langen Dienst in priesterlicher Heiligkeit war er zur Pilgerschaft auf das Festland gekommen. So war er ins Frankenreich gelangt und hatte sich unter Wohltatserweisungen des allerfrömmsten Königs Karl bei dem Kloster der Heiligen Nedardus und Sebastian dem Einsiedlerleben ergeben. Er war zu unseren Tagen ein einzigartiger Philosoph der Heiligkeit. Daselbst pflegte er wiederholt öffentlich zu berichten, wie der Heilige Germanus, der Apostel seines Volkes - um seine Worte zu gebrauchen durch irgendein Geschick während seines Aufenthaltes in Britannien mit seinen Gefährten zu dem Palast eines Königs gelangt sei. Es war damals ein schrecklicher Winter, der nicht nur den Menschen, sondern auch den wilden Tieren bedrohlich war. So schickte der Heilige einen Boten zum König und forderte Herberge für die hereinbrechende Nacht. Der König schlug ihm dies ab und behandelte die Sache geringfügig, da er ein Barbar nach Abstammung und Gesinnung war. Inzwischen ertrug Germanus mit seinen Gefährten ungebrochenen Mutes unter dem Schutz des Höchsten die Schrecken des Wetters. Als der Tag sich schon dem Abend zuneigte, kam der Sauhirt des Königs von der Fütterung, nachdem er seinen täglichen Lohn erhalten hatte, aus dem Palast und strebte seiner eigenen Hütte zu. Als dieser den Heiligen Germanus erblickte, wie er mit seinen Jüngern in dem schrecklichen Unwetter zu vergehen drohte, nahte er sich ihm und fragte demütig, er möge ihm sagen, wer er wäre und warum er dort unter solchem Wetter zu vergehen drohe. Als er keine gewisse Antwort erhielt, sprach er, von der Würde des Heiligen beeindruckt: ,Ich bitte Dich, wer immer Du seiest, oh Herr, daß Du Deinen Leib schonst und Deinen Knecht würdigst, Dich als Gast zu beherbergen und meinen Dienst, so gering er auch ist, anzunehmen. Denn mir scheint es billig zu sein, daß ihr die Schrecken der hereinbrechenden Nacht in einer Herberge übersteht, so arm diese auch sein mag.' Der Heilige verschmähte die Niedrigkeit des Mannes nicht und nahm gern die ihm von dem Armen angebotene Herberge an. Es war dort nur eine Kuh zusammen mit einem Kalbe. Der Hirt spr ach zu seiner Frau: ,Merkst du nicht, welchen Gast du aufgenommen hast. Rüste

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dich und setze den Gästen das einzige Kalb, das wir haben, zum Mahle vor.' Auf sein Wort bereitete sie unverzüglich das Kalb zu und tischte es ihnen auf. Der Bischof, der selbst fastete, gebot den Gefährten zu essen. Nach der Mahlzeit rief der Heilige die Frau und befahl, daß die Knochen des Kalbes sorgfältig gesammelt und auf seinem Fellehen vor dessen Mutter in der Krippe niedergelegt würden. Nachdem dies geschehen war, stand das Kalb - so wunderbar dies auch klingt - alsbald wieder lebendig auf, stellte sich zu seiner Mutter und begann zu fressen. Dann sprach der Bischof an beide gewandt: ,Nehmt inzwischen dies als Entschädigung für das Opfer, das ihr in mildtätiger Erfüllung des Gastrechtes gebracht habt.' Der wunderbare Ausgang der Sache verbreitete sich schnell. Am folgenden Tage ging der Priester wieder zum Palast und verlangte, daß der König öffentlich herauskomme. Als dieser hervortrat, empfing ihn Germanus und fragte unter machtvollen Vorwürfen, warum er ihm am Vortag die Herberge verweigert habe. Der König war vor Schrecken wie gelähmt und vermochte dem Manne nicht zu antworten. Dann sprach Germanus voller wunderbarer Autorität: ,Geh und übergib dein Szepter einem Besseren!' Als jener noch zögerte, stieß ihn Germanus mit seinem Stabe fort und sprach: ,Weiche von hier! Und wie feststeht, daß es von Gott beschlossen ist, mißbrauche in Ewigkeit nicht wieder die königliche Gewalt!' Der Barbar schreckte vor der himmlischen Autorität des Priesters zurück, zog aus mit seinem Weibe und den Kindern und hat seitdem nie wieder versucht, den Palast zu betreten. Dann schickte der Heilige einen der Jünger zum Sauhirten und ließ ihn mit seiner Frau kommen. Unter der Verwunderung aller Bewohner des Palastes setzte er ihn an die Spitze des Königreiches. Von jener Zeit bis heute werden die Britannier von den Nachkommen des Sauhirten regiert, so wie es Gott durch den Heiligen Germanus wunderbar geordnet hatte."

Es kann kaum ein Zweifel bestehen, daß dieses die Quelle ist, aus der Jacobus de Voragine geschöpft hat. Sie ist zwar von ganz anderem Stil, gelehrter und länger als der Text der Legenda Aurea. Aber in der Verwendung und Komposition der Motive enthält sie nicht weniger als jener. Eine ebenso frühe Fassung ist nicht nachzuweisen. Der Verfasser dieses Textes ist bekannt. Es ist der Mönch Heiric von Auxerre. Er ist einer der hervorragenden Vertreter jener Kulturrenaissance, die sich in der Mitte des 9. Jahrhunderts im westlichen Frankenreich abspielte. Die eigentliche karolingische Renaissance, man könnte sie auch die Aachener Renaissance nennen, hatte mit dem Tode Karls des Großen abrupt ihr Ende gefunden. Zu neuen Bemühungen um die Pflege des antiken Bildungserbes kam es im Ostfrankenreich danach nicht wieder. Walafried und Hraban blieben dort als Gelehrte von Rang Ausnahmen. Anders verliefen die Dinge in Westfranken. Karl der Kahle (gest. AD 877) knüpfte bewußt an die Tradition seines berühmten Großvaters an. Unter dem Abt Lupus von Ferrieres sammelten sich bedeutende Gelehrte, darunter auch viele Iren. Man pflegte die grammatischen Studien. Die lateinische Sprache und Dichtung blühten von neuem auf und sogar das Griechische beherrschte man bis zu einem gewissen Grade.

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Die Abtei St. Germain d'Auxerre war einer der Mittelpunkte der westfränkischen Gelehrsamkeit. Hier lebte um diese Zeit der Mönch Helperic von Auxerre als Lehrer der Grammatik. Hier wurde Remigius von Auxerre ausgebildet, vermutlich ein Verwandter des Abtes Lupus und ein großer Gelehrter und Lehrer seines Jahrhunderts. Er war ein Schüler des Heiric. Im Jahre 841 geboren, wurde Heiric bereits als siebenjähriger Knabe in die Abtei zu Auxerre gebracht und dort später (AD 858) zum Subdiakon geweiht. Er besuchte auswärtige Schulen in Laon, Soisson und Ferrieres. Er gilt als der Meisterschüler des Abtes Lupus. Nach Auxerre zurückgekehrt wirkte er dort als berühmter Lehrer und Schriftsteller. Nicht lange nach dem Jahre 876 ist er dort gestorben. Auf Wunsch des Abtes Lothar von Auxerre (AD 864 - 865), eines Sohnes Karls des Kahlen, schrieb Heiric das Hauptwerk seines Lebens: er arbeitete die vita Sancti Germani des Constantius in Verse um. Das Werk wurde im Jahre 873 vollendet. Heiric fügte ihm noch zwei Bücher in Prosa hinzu: die miracula, aus denen Jacobus de Voragine später unsere Legende entnehmen sollte. Da der Abt Lothar bereits gestorben war, widmete Heiric die Schriften Karl dem Kahlen. Er fügte dem Werk einen mit antiken Zitaten reich versehenen Widmungsbrief bei, in dem er dem König jene verehrungsvolle Gesinnung gegenüber dem Heiligen Germanus wünscht, wie sie seiner königlichen Majestät wohl anstehe: "Ich habe ferner aus den Wundern des hochberühmten Germanus ein kleines Werk in zwei Büchern verfaßt. Da in diesem Euer Name und Eure Zeit wiederholt Erwähnung gefunden hat, habe ich es Eurer Hoheit um so lieber gewidmet. Nehmt auch dieses hin und erweist dem Heiligen Germanus diejenige Ehrerbietung, die wahrlich der königlichen Majestät geziemt ...". Daß dieser Wunsch sehr praktisch gemeint und keine bloße Floskel war, wußte der König nur zu gut. Heiric weist sich nicht nur durch sein solides Latein als Gelehrter von Rang aus. Er teilt auch mit, woher er die Legende hat. Daß er sie nicht der vita des Constantius entnommen haben kann, ist bereits daran zu erkennen, daß seine in Versen gefaßte vita diese Geschichte nicht mitteilt. Allerdings ist mit der Berufung auf den Heiligen Marcus als Gewährsmann auch nicht viel gesagt. Denn mögen auch von dessen Herkunft und Lebenslauf sogar Einzelheiten mitgeteilt werden - ein Heiliger Marcus ist uns aus dem 9. Jahrhundert nicht bekannt. So läßt sich auch nicht feststellen, ob es ihn wirklich gegeben hat. Allerdings sprechen die mitgeteilten Tatsachen für die Annahme seiner Existenz. Denn man beruft sich nicht auf Gewährsleute, die jedermann aufsuchen und befragen kann, wenn diese nicht tatsächlich an dem angegebenen Ort auch angetroffen werden können.

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Immerhin ist mit dieser Berufung auf den Heiligen Marcus eines ausgesagt: Heiric schöpft aus der Quelle mündlicher Tradition. Hätte er schriftliche Quellen gehabt, so hätte er diese als mittelalterlicher Gelehrter, der die Autorität des Buches jeder anderen vorzieht, sicher zitiert. Die bloße mündliche Tradition ist ihm Anlaß zu besonderen Beteuerungen. Er beruft sich auf die Herkunft seines Gewährsmannes. Außerdem ist es ihm ausgeschlossen, daß ein so heiliger Mann eine Unwahrheit berichten sollte. Zudem hat Marcus diese Geschichte wiederholt vor vielen Leuten öffentlich erzählt, so daß es sich auch nicht um ein einmaliges Versehen, sondern um das Zeugnis eines gesicherten Wissens handeln muß. Schließlich berichtet Heiric später, der Heilige Marcus habe ihm eidlich (!) bekräftigt, daß die englische Legendenliteratur diese Geschichte berichte. So steht endlich doch über allem die Berufung auf eine Schriftquelle, wenn diese dem Berichterstatter Heiric unmittelbar auch nicht zugänglich und bekannt war. Es bleibt aber bemerkenswert, daß der gelehrte Heiric sich lieber mit der Berufung auf unsichere mündliche Tradition behilft, als auf diese Legende zu verzichten. Hätte er nicht besser seinem - hier offenbar unruhigen - Gelehrtengewissen gehorcht und den nur unsicher belegten Text weggelassen? An einer Stelle allerdings befriedigt die Fassung des Heiric mehr als die des Jacobus: die Absetzung des Königs und die Einsetzung des Sauhirten wird sorgfältig begründet. Nun kann allerdings auch Heiric nicht übersehen, daß hier die Glaubwürdigkeit der Geschichte am stärksten in Frage gestellt wird. Er geht auf dieses Bedenken ein, indem er das Widerstreben des Königs betont. Dieser weicht nicht bei der ersten Aufforderung. Germanus muß neben seinen harten Worten noch den Stab gebrauchen, um ihn zu vertreiben. Heiric unterstreicht auch stärker als Jacobus den harten Tadel des Heiligen. Aber das weiß auch Heiric: mit Tadel allein läßt sich kein König absetzen, so verschreckt er auch im ersten Moment sein mag. Heiric sieht das Problem, viel klarer als Jacobus, darin, daß der König nach dem Weggang des Heiligen von seiner alten Gewalt wieder Besitz ergreifen kann und dabei auch von seinen Palastbewohnern unterstützt wird. Wie soll sich der Sauhirt halten, wenn der Heilige seines Weges gezogen ist? Deshalb wird betont, daß der abgesetzte König sich auch in der Folgezeit gegen den Heiligenspruch nicht mehr aufgebäumt hat und daß zudem der stupor, das erschreckte und machtlose Staunen, alle übrigen Palastbewohner ebenfalls befallen hat. Sieht Heiric die Probleme der Königsabsetzung in aller Klarheit, so wird er dadurch nur um so mehr genötigt, das Handeln des Heiligen zu legitimieren und für jedermann überzeugend darzustellen. Ein Wunder wäre hier der beste Ausweg gewesen. Aber daran fehlt es ja gerade, 4 Hattenh.auer

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und Heiric ist offenbar nicht gewillt, sich damit aus der Verlegenheit zu helfen. Zwar wird die Wiederbelebung des Kalbes ausführlicher geschildert und in den Textzusammenhang eingeordnet. Es wird damit angedeutet, daß die schnelle Verbreitung dieses Wunders bei den Palastbewohnern den Boden für den Respekt gegenüber dem Heiligen vorbereitet haben muß. Heiric geht aber nicht so weit zu folgern, daß jemand, der ein Kalb wiederbeleben kann, auch einen König absetzen könne. Das Belebungswunder kann auch für Heiric nicht den Schlüssel für eine plausible Lösung des Problems abgeben. Allerdings begegnet das Wort "Wunder" doch noch, wenn auch nur als Adjektiv, in der Wendung "mit wunderbarer Autorität (auctoritate mirabili)". Hier liegt in der Tat der Schlüssel Heirics zum Verständnis der Legende. Denn die auctoritas mirabilis ist zugleich eine "himmlische Autorität (auctoritas caelistis)". Zweimal gleich verwendet der kluge Stilist Heiric den Begriff der auctoritas und interpretiert ihn zugleich mit diesen beiden, auf die göttliche Vollmacht des Heiligen hinweisenden Adjektiven. Auctoritas meint hier mehr als das, was uns heute Autorität bedeutet. Denn dieser Zentralbegriff des römischen wie des kirchlichen Verfassungsrechts hatte zu allen Zeiten seiner Verwendung den Stempel des Geheimnisvollen und Irrationalen. Er barg etwas, das sich jeder juristischen Definition entzog. Auctoritas war charismatische, heilige Gewalt, die auch ihrem Träger übermenschliche Qualität beilegte. Auctoritas ist jene Gewalt, die man ohne Worte selbstverständlich anerkennt. Die Verwandtschaft der Worte auctoritas und augustus war in Rom nie in Vergessenheit geraten. So konnte Kaiser Augustus von sich sagen, daß er zwar nicht mehr potestas habe als die übrigen Inhaber hoher öffentlicher Ämter, daß er ihnen allen aber deswegen überlegen sei, weil er durch seine auctoritas alle anderen übertreffe (Res gestae divi Augusti, c. 34). Die Kirche hat diesen Begriff bereitwillig für sich in Anspruch genommen. Nicht nur der Glaube der Christen gründete sich auf die auctoritas der Kirche. Insbesondere die Stellung der Bischöfe und des Papstes wurde mit dem Begriff der auctoritas begründet. Die Kirche griff nicht zuletzt deswegen auf ihn zurück, weil sie damit über die innerweltlichen Mächte und Gewalten hinausweisen konnte. Das Wort wurde auch von dem gebildeten Heiric in dieser Bedeutung verwendet. Die Autorität eines Heiligen ist seine Vollmacht, die er von Gott erhalten hat. Und gerade darin erweist sich deren göttlicher Charakter, daß sie nicht angezweifelt werden kann. Eine solche Autorität aber konnte nur der christliche Heilige, nur der Vertreter der allein im Besitz der Wahrheit stehenden Kirche haben. Heiric wurde hier sehr

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theologisch. Für ihn war der Heilige nicht an diesem oder jenem Wunder und an seiner Fähigkeit zum wunderbaren Handeln, seiner Wunderkraft (virtus) zu erkennen. Es war keine christliche Zauberkraft, die den Heiligen ausmachte und als solchen vor jedermanns Augen erwies. Es war die auctoritas caelestis, Gottesvollmacht, die das Handeln des Heiligen unanfechtbar machte. Für Heiric ging es darum, daß gerade kein Wunder der traditionellen Art passierte. Er vermied es, um dann mit um so größerem Nachdruck von der auctoritas reden zu können. Es ging ihm allein darum, daß das in göttlicher Vollmacht vollzogene Handeln des Vertreters der Kirche auf Grund dieser Vollmacht von niemandem mehr angezweifelt werden durfte. Heiric sah den Zweifel an der Gültigkeit des Handeins und setzte ihm die Predigt von der auctoritas entgegen. So geschah am Ende doch etwas Wunderbares; zwar kein äußeres Mirakel, aber das noch größere Wunder der Unumstößlichkeit heiliger Vollmacht und ihrer Offenbarung vor der Welt. Dies war allerdings nicht mehr eine Predigt für einfältige Zuhörer, sondern schon ein Wunder für Theologen und Gebildete. Ein solcher war der König Karl der Kahle. Die Legende hatte einen besonderen Adressaten: Karl den Kahlen. Das ist nicht nur dem Widmungsbrief zu entnehmen. Noch in der Einleitung wird die Großzügigkeit des allerfrömmsten Königs Karl erwähnt. Gemeint ist damit Karl der Kahle und nicht etwa Karl der Große, denn es wird hier von einem noch lebenden König geredet. Zudem ist dies eine der Stellen, auf die Heiric schon in seinem Widmungsbrief hingewiesen hatte, an denen nämlich vom König Karl die Rede sein sollte. Karl wird hier noch einmal besonders angeredet. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß Heiric damit die Aufmerksamkeit des Königs in besonderem Maße gerade auf diese Legende hat lenken wollen. Daß er die Sammlung der Wunder für diesen König verfaßt hatte und damit Vorbilder hat setzen wollen, hatte er deutlich genug gesagt. So bleibt nur die Frage, was Heiric seinem König mit dieser ihm offenbar besonders wichtigen Legende hat predigen wollen. Karl Il. (der Kahle), der Sohn Ludwigs des Frommen und Enkel Karls des Großen, war ein sehr gebildeter Mann, dem das Reich seines Großvaters Vorbild und Aufforderung war. Ihm ging es um die renovatio imperii. Aber er hatte doch ganz andere Sorgen als sein berühmter Großvater. Nachdem das Reich im Jahre 843 durch den Vertrag von Verdun unter die Söhne Ludwigs des Frommen geteilt worden war, bestand das Problem des im Westfrankenreich herrschenden Kar! II in der Bestandssicherung und Erweiterung dieses Teilreichs. Die alte Konzeption vom einheitlichen Frankenreich war an der Wirklichkeit zerbrochen. Der Enkel mußte taktieren und sich mit den Mächten seiner Zeit - mit Kirche, Adel und den anderen Teilreichen - arrangieren. 4•

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Bei aller Tatkraft, die er dabei zeigte, blieb ihm das Reich des Großvaters doch unerreichtes Ideal. Das sollte sich insbesondere in seinem Verhältnis zur Kirche erweisen. Für Karl den Großen war das Reich die große Missionsanstalt gewesen. Fränkischer Treueid und christliche Taufe gingen bei seinen Eroberungen Hand in Hand, Karl der Große machte als der vicarius Christi, als Christi Stellvertreter auf Erden, die abendländische Welt seinem Himmelskönig untertan. Im Verhältnis zum Papsttum war in diesem Reiche nie ein Zweifel darüber aufgekommen, daß die oberste geistliche Gewalt nicht dem Papst, sondern dem Kaiser zustand. Der Kaiser als neuer David (novus David), als Priesterkönig (rex et sacerdos) rief kraft seiner geistlichen Legitimation Synoden und Konzilien ein. Er entschied in Glaubensfragen und erließ für die Kirche verbindliche Rechtssatzungen. Zwar mochte es fraglich sein, ob dem Kaiser eine richterlic.~e Gewalt auch über den Papst selbst zukam, den Bischöfen gegenüber wurde diese Gewalt unstreitig anerkannt. So war, bestätigt durch die äußere Macht des Kaisers und die theologische Konzeption seiner Herrschaftsgewalt, aus der römischen Kirche eine fränkische Reichskirche, aus dem Papst der oberste fränkische Reichsbischof geworden. Widerspruchslos mußte Papst Leo die kaiserliche Konzeption der päpstlichen Gewalt anerkennen, als der Kaiser ihm im Jahre 796 schrieb (MGH Ep. 4, S. 136, Nr. 93), die Aufgaben zwischen dem Papst einerseits und dem König und späteren Kaiser andererseits sollten so geteilt werden, daß die Gebete des einen die göttliche Gnade erflehen sollten, damit der andere die römische Kirche schützen, das Christenvolk gegen die Heiden und Ungläubigen nach außen verteidigen und im Innern im katholischen Glauben und in der Sitte festigen könne, auf daß Christi Name in aller Welt verklärt werde. Dem Papst blieb als Auftrag allein das Gebet für den Kaiser. Die Dinge hatten sich grundlegend gewandelt, als Karl der Kahle ein halbes Jahrhundert später regierte. Jetzt war der König auf die Hilfe der Kirche angewiesen, die ihm eine verstärkte geistliche Legitimation seines Königtums verschaffen sollte und auch verschaffte. Karl hatte einen mit Machtmitteln nicht durchsetzbaren Anspruch auf Aquitanien, das ihm von seinem Neffen Pippin II. vorenthalten wurde. Wo die Macht allein versagte, sollte die Klugheit helfen. Aquitanien war nur zu bekommen, wenn Karl der Zustimmung des ganzen Volkes gewiß war. In der Auseinandersetzung zwischen Karl und seinem widerspenstigen Neffen trat im Jahre 848 eine ansehnliche Partei der Aquitanier auf Karls Seite. Hier war die Möglichkeit, sich eine Legitimation zu verschaffen, die der renitente Pippin nicht hatte. Auf Einladung der Aquitanier kam er nach Orleans und ließ sich dort unter dem consensus des Volkes von den weltlichen Großen und den Bischöfen und Äbten

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zum König wählen. War es schon bemerkenswert genug, daß bei dieser Wahl der Klerus des Landes mitwirkte, so war es damit allein noch nicht getan. Im Anschluß an die Wahl wurde Karl unter der Leitung des Erzbischofs Wenilo von Sens von der Geistlichkeit des Landes zum König der Aquitanier gesalbt und gekrönt. Damit erlangte er gegenüber seinem Konkurrenten einen geistlichen Status. Er wurde zum "Gesalbten des Herrn", der sich eines Sakramentes rühmen konnte, das sonst kein Laie für sich in Anspruch nehmen kann. Neben der Legitimation seiner Abstammung hatte der König nun die des Sakraments. Zum ersten Male war in der fränkischen Geschichte ein Königtum durch kirchlichen Akt begründet worden. Dabei war es entscheidend, daß nicht der Papst, sondern der Klerus des Landes das Sakrament spendete. Damit hatte die Kirche die Superiorität gegenüber dem König erlangt. Daß es sich hierbei nicht um bloße Symbolik, sondern vielmehr um die Grundlegung aller späteren rechtlichen Argumentation im Verhältnis von König und Kirche handelte, war bald zu erkennen. Es genügt hier der Hinweis auf eine programmatische Stellungnahme des Bischofs Hincmar von Reims, des geistigen Führers des westfränkischen Klerus (Capitulatio in synodo apud S. Macram, MPL Band CXXV, Sp. 1021). Er hatte in den vier Jahrzehnten seiner Herrschaft im vornehmsten Bistum des .Landes (AD 845 - 882) die Theorie entworfen und fortentwickelt, mit der schon von langer Hand die Konflikte des Investiturstreites vorbereitet wurden. Die Konsequenzen aber, die der westfränkische Episkopat im Jahre 881 aus der Krönung von Orleans und den ihr folgenden Krönungen zog, waren eindeutig genug: "Es sind streng voneinander zu unterscheiden die königliche Gewalt (potestas regia) und die Autorität der Priester (auctoritas pontificum). Mit dem Priesteramt (officium) und dem Königsdienst (ministerium) verhält es sich nämlich folgendermaßen: Wie wir in der Heiligen Schrift lesen, wird die irdische Welt grundsätzlich von zwei Dingen regiert, von der heiligen auctoritas der Priester und der königlichen potestas. Allein unser Herr Jesus Christus nämlich konnte in Wahrheit König und Priester zugleich sein. Nach seiner Fleischwerdung, seiner Auferstehung und Himmelfahrt dagegen darf weder der König sich anmaßen, priesterliche auctoritas beizulegen noch der Priester königliche potestas fordern. Sie sind so durch eigentümliche Handlungen und Würden voneinander verschieden, so daß die christlichen Könige der Priester bedürfen, um des ewigen Lebens teilhaftig zu werden, die Priester sich dagegen der königlichen Anordnungen zur Ordnung der zeitlichen Dinge bedienen . . . Und deshalb ist die Würde der Priester größer als die Würde der Könige, weil die Könige von den Priestern zur Erlangung der Spitze des Königreiches geweiht werden müssen, die Priester dagegen von den Königen nicht geweiht werden können." Das war eine klare Sprache. Die Zeiten des karolingischen Königtums unter der Formel "rex et sacerdos" waren vorbei. Das Königtum mußte

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sich vor dem Klerus des Landes beugen. So konnte Hincmar an König Ludwig III. ohne zu übertreiben unter Bezugnahme auf das Jesuswort "Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt" (Joh. 15, 16) schreiben (MPL Band CXXVI, Sp. 119): "Nicht ihr habt mich zur Leitung der Kirche gewählt, sondern ich zusammen mit meinen Amtsbrüdern und den übrigen Getreuen Gottes und Eurer Vorfahren habe Euch gewählt zur Herrschaft des Reiches unter der Bedingung, daß ihr die verbindlichen Gesetze einhaltet." Die klaren Vorstellungen, die Hincmar über das Verhältnis von Königtum und Kirche hatte, drückten sich in einer ebenso klaren, juristisch-technischen Sprache aus. Dem König wurden die Begriffe potestas und ministerium, der Kirche wurden die der auctoritas und des officium zugeordnet. Am auffälligsten war die scharfe Unterscheidung zwischen auctoritas und potestas, auf die besonderer Wert gelegt wurde. So hatte bereits der Papst Gelasius I. im Jahre 494 in einem Brief an Kaiser Anastasius I. scharf auf den Unterschied zwischen der auctoritas sacrata pontificum und der regalis potestas hingewiesen und das Hochmittelalter hatte nicht vergessen, diesen Brief in das Corpus Iuris Canonici (Decret. Grat. c. 10, D. 96) aufzunehmen. Hincmar war viel zu gebildet, als daß er diese klare Unterscheidung nicht ebenfalls sehr bewußt getroffen hatte. Auctoritas war das Schlüsselwort, mit dem er im Kampf zwischen Königtum und Kirche die Position des Klerus beschrieb. Es war ein Kampfwort. Zwar sagte Hincmar noch kein Wort darüber, woher der König seine potestas ableitet - direkt von Gott, Dei gratia, oder mittelbar durch kirchlichen Verleihungsakt. Die hochmittelalterliche Zweischwerterlehre ist noch nicht voll ausgebildet. Ob er diese Frage noch nicht sah, oder ob er ihr bewußt auswich, läßt sich nicht feststellen. Er wurde aber in der Wahl seiner Begriffe durch seine solide Kenntnis des Kirchenrechts bestimmt. Denn potestas bedeutete nichts anderes als innerweltliche Gewalt, Rechtsmacht. Potestas hatte auch der Familienvater. Nur der größere Umfang bestimmte die besondere Qualität der königlichen potestas. Anders war es dagegen mit der auctoritas beschaffen. Auctoritas war nicht Autorität schlechthin. Sie war diejenige Autorität, die originär begründet und also nicht abgeleitet war. Auctoritas war Urheberschaft und Autorität zugleich; Autorität, die gerade deswegen besteht, weil sie sich zu ihrer Legitimation auf keinen Gewährsmann (lat.: auctor) zu berufen braucht. Auctoritas war selbst die Gewährschaft, Garantie, die ihrerseits keiner Garantie bedarf. So war es konsequent, wenn Hincmar betonte, daß die kirchliche auctoritas im Gegensatz zur königlichen potestas nicht durch einen heteronomen Akt begründet werde. Die Kirche bedurfte des Königs nicht, um ihre auctoritas auszuüben. Der König aber hatte den Priester nötig, um sich auf ein vollgültiges Königtum berufen zu kön-

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nen. Das war die Konsequenz, die die Kirche aus dem Sakrament der Königsweihe zog. Damit offenbart sich der Text des Heiric in einem helleren Licht. Denn hier wird derselbe auctoritas-Begriff verwendet. Heiric und Hincmar waren nicht nur Zeitgenossen. Sie gehörten beide dem westfränkischen Klerus an und hatten an den großen verfassungsrechtlichen Themen der Zeit gleichen Anteil. Sie vertraten gegenüber dem König denselben Standpunkt. Es klang wie eine Mahnung an den König, dem die Legende gewidmet war, wenn Heiric den Begriff der auctoritas durch die Beiworte mirabilis und caelestis erläuterte und präzisierte. Was Hincmar in theologischen und kirchenrechtlichen Formeln aussprach, das übertrug Heiric in die Legende und fügte der auctoritas-Predigt der Kirche damit einen neuen Aspekt zu. Denn damit wurde gesagt, daß es ein Herrschaftsanspruch der Kirche über das Königtum schon vor den Zeiten Karls des Kahlen gegeben hatte. Die Kirche hatte immer auctoritas gehabt und ihre bevollmächtigten Vertreter waren seit jeher zur Absetzung und Einsetzung neuer Könige befugt gewesen. Die alte germanische Geblütsheiligkeit der Könige wurde durch die kirchliche Doktrin der auctoritas entwertet. Denn der britannische König hatte mit seiner ganzen Familie dem Königtum entsagen müssen. Daß die Legende des Heiric von denselben Theorien lebt, auf die auch Hincmar seine Argumentation stützte, wird an zwei weiteren Stellen sichtbar. Es ist wohl mehr als ein Zufall, daß die Einsetzung des Sauhirten mit denselben Worten beschrieben wird, die Hincmar für die Bezeichnung des Aktes der Königsweihe gebraucht: der König wird vom Heiligen bzw. von der Kirche an die Spitze des Königreiches (in culmen regni) gestellt bzw. geweiht. Ist das Vorkommen desselben Wortes in beiden Texten nur ein Zufall? Ein Zufall aber ist es sicher nicht, wenn Heiric auf das königliche Szepter anspielt, das dem Barbarenkönig aus der Hand genommen wurde. Denn die Überreichung des Szepters war in den Königsweihen seiner Zeit eine Neuheit. Die Salbung mit dem heiligen Öl (Chrisma) und die Krönung mit der Krone hatte es bereits früher gegeben. So wurde etwa Karl der Große durch Salbung und Krönung zum Kaiser erhoben. Karl dem Kahlen ist als erstem ein Stab (Szepter) als kirchliches Investitursymbol übergeben worden. Sollte Heiric das nicht gewußt haben? Sollte der angeredete König nicht verstanden haben, was mit der Wegnahme des Szepters gemeint war? Die Legende predigt, daß der König sich vor der Kirche zu verantworten habe. Wofür er sich zu verantworten hatte, wurde deutlich gesagt. Es war derselbe Tatbestand, auf den Hincmar in seinem Brief an

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den König anspielte: Mißbrauch der königlichen Gewalt. Heiric nannte es "abuti regia potestate" (!); Hincmar spricht davon, der König sei vom Klerus erwählt worden unter der Bedingung, daß er die zu beachtenden Gesetze einhalte ("sub conditione debitas leges servandi"). Welche Gesetze aber waren dies? Die Legende ging hier weiter als Hincmar. Denn Heiric betonte einerseits, daß es sich bei dem abgesetzten König um einen Barbaren gehandelt habe, also um einen Nichtchristen, dem die christlichen Normen der Gastlichkeit nicht bekannt und verbindlich waren. Wahrscheinlich hat Heiric sogar gewußt, daß das germanische Recht hier anderes verlangte als das christliche. Trotzdem verlangte er auch von dem Barbaren die Einhaltung der christlichen Gesetze. Denn die unscheinbare Gastlichkeitsnorm war nur ein Beispiel. Dahinter stand der Absolutheitsanspruch des Kirchenrechts, demgegenüber sich niemand - auch nicht ein Barbar im fremden Land auf sein anderslautendes heimisches Recht berufen durfte. Schärfer konnte die Kirche den Geltungsanspruch ihrer Rechtsnormen nicht formulieren. Indem sie so das Königtum als eine Funktion der kirchlichen Weihe interpretierte, ordnete sie das weltliche Recht im Range dem Kirchenrecht unter. Heiric war viel zu klug, als daß er die Konsequenzen seiner Legendenpredigt nicht genau berechnet hätte; aber er war noch zu taktvoll, als daß er dem König die volle Wahrheit dessen, was nunmehr auf das weltliche Regiment zukam, deutlicher als durch ein Bild hätte vortragen mögen. Die Konsequenz war deutlich genug: Eher sollte ein - auch von der Kirche nicht gerade hoch eingeschätzter Sauhirt König sein, als daß ein König den kirchlichen Rechtsanspruch ungestraft übergehen durfte. Das Bild vom Sauhirten wird der angeredete König gewiß verstanden haben. Als Heiric sich auf das Vorhandensein einer schriftlichen Quelle seiner Legende in der englischen Literatur berief, hatte er nicht ganz unrecht. Denn in der Tat hatte seine Legende bereits einen Vorläufer, der als Vorbild gedient haben wird. "Nachdem Germanus auf die Insel Britannien gekommen war, ging er zu der Burg eines bösen Mannes namens Benli, um ihm zu predigen. Germanus stand mit seinen Klerikern am Burgeingang. Es ging der Pförtner mit dem Boten des Klerikers zum König und der König sagte mit einem Schwur: ,Wenn die Kleriker bis zum Ende des Jahres am Burgeingang stünden, so sollen sie doch niemals hereinkommen.' Der Pförtner kam mit dieser Antwort zu Germanus. Dieser zog sich zur Abendzeit vom Burgeingang zurück und wußte nicht, wohin er gehen sollte. Es kam einer von den Knechten des Königs aus der Burg, verneigte sich vor Germanus und führte sie mildtätig mit sich in seine Hütte. Er hatte aber keinerlei Vieh außer einer Kuh mit ihrem Kalbe. Er schlachtete das Kalb, kochte es und gab es den Klerikern. Germanus befahl ihnen, daß sie die Knochen nicht zerbrächen und am anderen Morgen stand das Kalb lebend bei seiner Mutter . . . (Am folgenden Tage) verbrachte Germanus den Tag bis zum

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Abend bei der Pforte der Burg und es kam derselbe Knecht. Da sprach G€rmanus zu ihm: ,Hüte dich, daß keiner von deinen Leuten heute Nacht in der Burg bleibt!' Jener führte alsbald seine neun Söhne aus der Burg und brachte die Kleriker mit sich in sein Haus und alle blieben wach. Es kam alsbald ein Feuer Gottes vom Himmel in die Burg und verbrannte die Menschen der Stadt ... Und sie ist wüst bis auf den heutigen Tag. Am folgenden Tage aber wurde der Knecht getauft mit seinen Söhnen und den Menschen jener Gegend. Und Germanus segnete ihn und seine Nachkommen. Sein Name war Caitel. Und er wurde König und seine Söhne wurden Könige nach dem Worte des Germanus. Und seine Nachkommen sind von jener Zeit an Könige in der Gegend namens Pogus wie geschrieben steht in den Psalmen: ,Du erhebst den Niedrigen vom Boden und aus den Staube den Armen."' Marcus, der fromme Greis, hatte also nicht gelogen. Ihm war die Legende aus der englischen Germanustradition bekannt. Die von Nennius überarbeitete Historia Brittonum (MGH auct. ant. 13, 3, S. 172 ff.) kennt diese Version der Legende. Der Text stammt wohl aus dem späten 7., spätestens aus dem Anfang des 8. Jahrhunderts. Die Historia Brittonum hat eine verlorengegangene englische Vita des Germanus verwendet, aus der wohl auch die hier berichtete Legende stammt. Wir dürfen annehmen, daß dies die Vorlage des Heiric war, mag sie ihm auch nur mündlich überliefert worden sein. So ähnlich dieser Text der von Heiric und Jacobus berichteten Fassung auch zu sein scheint, so deutlich zeigen sich charakteristische Unterschiede. Diesmal sieht der Motivindex wie folgt aus: 1. Missionspredigt (wird nicht angehört) 2. Gastlichkeit (wird belohnt) 3. Knochen (werden nicht zerbrochen und lebendig) 4. Feuer (fällt vom Himmel als Strafe für Bosheit) 5. Sklave (wird getauft, gesegnet und König) Das Verweigern der Anhörung der Missionspredigt ist nur bei Legenden als Motiv verständlich. Erst dadurch aber verlor Germanus die Aussicht auf ein Nachtquartier. De r Vorwurf, den die Legende gegen den König erhebt, ist also nicht der der Ungastlichkeit. Vielmehr wird betont, daß er ohnehin ein böser Mann gewesen sei. Dementsprechend wird er auch nicht wegen seiner Ungastlichkeit, sondern wegen seiner Bosheit bestraft, die sich gerade in dem Verhalten gegenüber dem ihm angebotenen Evangelium exemplarisch zeigte. Der Verfasser der Legende konnte sich insoweit auf die Aussagen des Neuen Testaments berufen, nach denen die Ablehnung der christlichen Botschaft das Gericht und die ewige Verdammnis zur Folge habe. Das Strafwunder geschah also nur zur Verdeutlichung dieser Gerichtspredigt. Es wurde das Gericht für alle sichtbar und vor aller Augen an denen vollzogen, die die Gnade verwarfen. Daß sich das Gericht in dieser Form ereignete, war nicht nur durch die bereits erwähnte Stelle Lukas 9, 52- 54 legitimiert, wo die Jünger Jesu diesen auffordern, auf ein ungastliches

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samaritanisches Dorf Feuer vom Himmel fallen zu lassen. Das klassische Bild eines strafenden Himmelsfeuers, das dem Verfasser der Legende gewiß vor Augen gestanden hat, ist das Strafgericht an Sodom und Gomorra (1. Mose 19, 24 ff.): "Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen Himmel herab- auf Sodom und Gomorra."

von dem Herrn vom

Damit zugleich erledigte sich auch das Problem der Ausrottung des königlicllen Geschlechts. Der König konnte nicht wiederkommen. Es wußte jedermann an der Art seines Todes abzulesen, daß er und seine Familie durch ein Strafgericht getötet und also - sowohl nach christlichen wie nach germanischen Vorstellungen - von der Gottheit verworfen worden waren. Man wird sich künftig seines Todes nur noch mit Grauen erinnert haben. Zugleich war das Wunder die Erklärung dafür, daß sich nicht nur Caitel und seine Familie, sondern alle Leute jener Gegend taufen ließen. Der Erweis der größeren Macht des Heiligen und seines Gottes war zugleich der Beweis für die Ohnmacht der alten Götter. Das Motiv der wiederbelebten Knochen begegnet hier in einer neuen Variante. Die Knochen durften nicht zerbrochen werden, damit das Wunder der Wiederbelebung geschehen konnte. Auch diese Vorstellung war vorchristlicll. Das Zerbrechen der Knochen - geschehe es absichtlich oder nicht - verhinderte die Wiederbelebung, weil dadurch das Leben selbst zerbrochen wurde. Die Erhebung des Sklaven zum König nach dem Strafwunder konnte nun sehr viel leichter geschehen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß der Sklave nicht königlichen Geblütes war. Seine Erhebung bedurfte einer besonderen Legitimation. Andererseits fehlte es an einem Menschen königlichen Geblütes überhaupt. Nur in dieser außergewöhnlichen Lage konnte der Verfasser der Legende auf das Vorbild Davids zurückgreifen. Daß die Kirche einen Menschen zum König einsetzen kann, der kein königliches Geblüt hat, wird hier also nur in dem außergewöhnlichen Fall für möglich gehalten, in dem es überhaupt an einem König fehlt. Ein Recht zur Absetzung eines Königs wurde der Kirche dagegen nicht zugestanden. Nur in diesem außergewöhnlichen Fall soll die Kirche Erwägungen über die sittliche Berechtigung des Kandidaten anstellen und nach seinem christlichen Vorleben fragen dürfen. Im übrigen wird nun klar, daß bei der Abfassung dieses Textes tatsächlich an das Vorbild Davids angeknüpft wurde. Nennius berichtet davon in der von ihm überarbeiteten Fassung nicht. Dagegen weiß die Historia Brittonum in einer anderen Fassung (MGH a.a.O., S. 176) zu berichten:

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"Am folgenden Tage glaubte jener Mann, der gastfrei gewesen war, und wurde getauft mit allen seinen Söhnen und allen Leuten der Gegend. Und sein Name war Catel. Und er segnete ihn und fügte hinzu: ,Es soll dem König nicht an Nachkommen fehlen.' Es war dies aber Catell Durnhuc. ,Und du wirst König sein vom heutigen Tage.' So geschah es." Das war ein direktes Zitat der davidischen Verheißung: "Es soll dir nicht gebrechen an einem Mann auf dem Stuhle Israel (1. Könige 9, 5 u. 2. Samuel 7, 12 f.). Auch im übrigen zeigen sich Unterschiede zwischen der Legende des Heiric und der des Nennius. Hier ist der Sauhirt nur ein Sklave- das Eumaiosmotiv taucht erst bei dem gelehrten und des Griechischen kundigen Heiric auf. "Der" König von England ist hier einer jener vielen germanischen Kleinkönige, wie es sie auch in England gegeben hat. Der Bericht ist in dieser Hinsicht also genauer. Die kunstvolle Schulbuchrhetorik des Heiric fehlt ganz; statt dessen begegnen Bibelzitate und eine Anspielung auf ein solches Zitat (Matth. 28, 19). Heirics Fassung war die des Gelehrten, ein unmittelbares Zeugnis der westfränkischen Kulturrenaissance des 9. Jahrhunderts und seiner verfassungsrechtlichen Probleme. Sie zeigte zudem, daß ihm der historische Hintergrund des berichteten Geschehens fremd und uninteressant war. Nennius und seine Vorlage hatten die Missionssituation der Kirche vor Augen und enthüllten dabei den Predigtcharakter der Legende sehr viel deutlicher. Dort ging es auch um die Mitteilung von Namen, an denen Heiric nach dem Ziel seiner Darstellung kein Interesse haben konnte. Wir können nicht annehmen, daß Heiric die schriftliche Fassung des Nennius gekannt hat. So wissen wir auch nicht, ob erst er oder ein unbekannter Vorläufer die seiner Fassung charakteristischen Merkmale eingefügt hat. Gewiß aber stammt von Heiric der gelehrte Stil und die ideologische Zuspitzung durch den auctoritas-Begriff. Levisons Ansicht, Heiric berichte "dieselbe Geschichte (sc. wie Nennius) mit einigen Abweichungen, die sich aus der Art der Übermittlung erklären", hält einer genaueren Nachprüfung nicht stand. Zwischen Heiric und Jacobus liegen wiederum vier Jahrhunderte, Karl der Kahle und seine Zeit waren längst vergangen, als Jacobus dieses Stück aus den vielen Germanuslegenden auswählte und sie zusammen mit nur 12 anderen in die Legenda Aurea aufnahm. Warum aber gerade diese? Es war inzwischen unstreitig geworden, daß ein König unter Beteiligung der Kirche in sein Amt eingeführt werden mußte. Das Verhältnis von kirchlicher und königlicher Gewalt aber war umstrittener denn je. Inzwischen war die Zweischwerterlehre in allen ihren Ausprägungen formuliert worden. Inzwischen hatte das Papsttum, und nicht nur der Klerus eines einzelnen Landes, den kirchlichen Superioritätsanspruch formuliert. Inzwischen hatte der Investi-

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turstreit das Gesicht Europas verändert. Und vor allem: Inzwischen hatte es die Absetzung von Königen durch die Kirche zum wiederholten Male gegeben. Der Investiturstreit hatte aus dem Instrument der Absetzung eine der schärfsten Waffen der Kirche gemacht. Im Dictatus papae (MGH Ep. sel. II, 1; 202 ff.) hatte Papst Gregor VII. erstmals sein Recht zur Absetzung des Kaisers formuliert: "Daß er Kaiser absetzen darf!" Die Beispiele Heinrichs IV. und Friedrichs II. waren auch Jacobus de Voragine bekannt. Die im Jahre 1245 erfolgte Absetzung Friedrichs II. war für Jacobus noch unmittelbare Gegenwart. Hier lag für ihn das Problem der Legende und der Grund, weshalb er sie in seine Sammlung aufnahm. Sie war die volkstümliche Predigt, daß die Kirche weltliche Große ab- und einsetzen kann. Sie war Predigt der Kirche im Streit zwischen Kaiser und Papst. Dabei lag nun die Betonung auf dem Recht der Absetzung. Von der auctoritas der Kirche sagte er kein Wort mehr. Das Problem der Verdrängung eines bestehenden Königs und die Gefahr seines Wiederkoromens überging er. Die Einsetzung des Sauhirten war nichts weiter als die logische Konsequenz dieses Rechts. Wo Heiric noch Probleme sehen mußte, beschränkte Jacobus sich auf die massive Behauptung kirchlichen Rechts. Mit dem Ende der Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst verlor auch die Legende von der Erhebung des Sklaven zum König ihre praktische Bedeutung als Rechtspropaganda der Kirche. Als die Bollandisten im Jahre 1749 die vita S. Germani im siebenten Band ihrer Acta Sanetarum edierten, hatten auch sie ganz im Stil des Rationalismus nur noch die Frage nach der "historischen Wahrheit" der Germanuslegenden. So wurde die Version des Nennius verworfen, da sie "von fragwürdiger Autorität (suspecta auctoritate)" sei. Levison war gewiß, mit seiner Ansicht auf keinen Widerspruch zu stoßen, als er im Hinblick auf die Fassung des Nennius im Jahre 1904 schrieb: "Für die Ermittlung der wirklichen Vorgänge kommen diese Erzählungen gar nicht in Betracht."

Fides Vom Heiligen Nikolaus, Bischof von Myra, wird eine Legende berichtet, die in der Fassung der Legenda Aurea folgendermaßen lautet: Ein Christ nahm bei einem Juden ein Darlehen auf. Da er keinen anderen Bürgen finden konnte, schwor er dem Juden auf dem Altar des Heiligen Nikolaus, daß er das Geld, sobald er könne, zurückzahlen werde. Nachdem er das Darlehn lange Zeit gehabt hatte, forderte der Jude das Geld schließlich zurück. Doch jener behauptete, er habe es schon zurückgezahlt. Daraufhin brachte der Jude die Sache vor das Gericht und der Schuldner wurde zur Eidesleistung verurteilt. Jener aber nahm einen hohlen Stab, füllte ihn mit Goldstücken und brachte ihn mit sich vor Gericht, so als ob er seiner zur Stütze bedürfe. Als er sich nun zur Eidesleistung anschickte, übergab er den Stab dem Juden, damit dieser ihn halte. Dann schwor er, daß er sogar mehr als geschuldet zurückgegeben habe. Nach der Eidesleistung forderte er seinen Stab zurück und der ahnungslose Jude gab ihm den Stab wieder. Als aber jener, der den Betrug begangen hatte, nach Hause ging, wurde er an einem Kreuzweg von plötzlicher Müdigkeit überfallen und überwältigt. Da kam ein Wagen in schneller Fahrt daher, tötete ihn und zerbrach auch den goldgefüllten Stab, so daß das Gold auf die Straße rollte. Sobald der Jude das vernahm, kam er schnell zu jener Stelle und erkannte die List. Als nun die Menge ihn aufforderte, er solle sein Geld an sich nehmen, wollte er dies keinesfalls tun, es sei denn, der Verstorbene würde durch die Gnade des Heiligen Nikolaus wieder zum Leben erweckt. Dabei versicherte er, daß er sich dann taufen lassen und ein Christ werden wolle. Alsbald wurde der Tote wieder lebendig und der Jude wurde in Christi Namen getauft.

Legenden, die sich mit Fragen aus dem Rechtsleben befassen, gibt es in großer Zahl und aus allen Epochen der Hagiographie. Seltener sind unter ihnen jene Stücke, die prozessuale Themen behandeln. Einmalig ist aber auch unter den letzteren das hier mitgeteilte Exemplar, dessen Hauptproblem die prozessuale Wahrheitsfindung ist. Auch der juristische Laie weiß, daß zu den Hauptfragen des Prozesses die Beweisprobleme gehören. Der Satz "Recht bekommt nicht, wer es hat, sondern wer es beweisen kann" ist jedermann geläufig. Man nimmt es auch als Selbstverständlichkeit an, daß dies zu allen Zeiten so gewesen sein muß. In der Tat scheint diese Legende den Leser in solcher Annahme zu bestätigen. Ein Gläubiger scheitert mit seinem guten Recht allein daran, daß die Beweislage gegen ihn ist. Bei genauerem Hinsehen zeigt es sich jedoch, daß sich dieses Scheitern des Gläubigers wesentlich anders vollzieht, als das heute der Fall zu sein pflegt.

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So berühmt und geliebt Nikolaus von Myra, der Kinderfreund und Knecht Ruprecht bis in unsere Tage im Abend- und Morgenland geblieben ist, so wenig wissen wir an historisch gesicherten Fakten über ihn. Seine Vita ist jahrhundertelang nur mündlich überliefert worden. Erstmals wurde sie zu Beginn des neunten Jahrhunderts in griechischer Sprache schriftlich fixiert. Nach der Legende soll er im Jahre 343 gestorben sein. Sein Todestag, der 6. Dezember, wird noch heute gefeiert. Unsere Legende ist daher kein zeitgenössischer Bericht aus dem Leben des Heiligen. Sie kann nur bis zur Übernahme des Nikolauskultes in das Abendland zurückverfolgt und -datiert werden. Der Kult des Heiligen Nikolaus stand im Abendland um die Mitte des 12. Jahrhunderts in voller Blüte. Nikolaus ist ein ausgesprochener Stadtheiliger, dessen Kult sich mit dem Aufblühen der abendländischen Städte ausbreitete. Als Heiliger der Kaufleute und der Seeleute genoß er in allen Städten des Abendlandes gleich hohe Verehrung. Die Anfänge dieses allgemeinen Kults lassen sich im Abendland bis in das 10. Jahrhundert zurückverfolgen. Im Jahr 1037 ist es Kaufleuten aus Süditalien gelungen, sich der in Myra befindlichen Gebeine des Heiligen zu bemächtigen und diese nach Bari zu überführen. Das war eine der größten Unternehmerischen Leistungen des Mittelalters. Der bereits vorhandene Nikolauskult des Abendlandes erhielt damit die entscheidende Anregung. Der Kult breitete sich explosionsartig in ganz Europa, vor allem an den Küsten und in den Handelszentren, aus. Bari wurde Zentrum und Ausgangsort der Nikolausverehrung. Dort entstand ein wichtiges Wallfahrtszentrum. Nördlich der Alpen wurde die Normandie ein Hauptzentrum der Nikolausverehrung. So hat es keinen Sinn, den Nachweis der Geschichtlichkeit dieser Nikolauslegende führen zu wollen. Die Geschichte vom christlichen Schuldner und jüdischen Gläubiger paßt nicht in die kleinasiatische Welt des vierten Jahrhunderts. Das Thema der Judenbekehrung war für die Zeit des Heiligen Nikolaus nicht aktuell. Damals ging es vielmehr um den Kampf gegen die antiken Kulte, wie zum Beispiel um den Sieg über die Göttin Diana. Es ging um die Christianisierung des römischen Imperiums und dessen Verwaltung. In der Tat kennt gerade die Nikolausvita diese Themen und berichtet darüber erstaunlich lebensnah. Auch der Geldverkehr war zu Lebzeiten des Heiligen nicht so problematisch wie dies für den Autor unserer Legende der Fall ist. Es gab eine voll ausgebildete Geldwirtschaft, sogar Finanzkrisen von modernem Format im römischen Imperium des 4. Jahrhunderts. Das mutuum des römischen Rechts, der Darlehnsvertrag, tat seinen Dienst ohne Schwierigkeiten. Man wußte, wie man Geld auslieh und mit Zinsen zurückbekam. An einer fehlenden Schuldurkunde scheiterte ein Darlehnsgeber nicht so leicht. Dies ist kein Wunder aus der Antike,

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der Zeit des Heiligen Nikolaus. Vielmehr gehört es in die Welt der im 11. und 12. Jahrhundert aufblühenden abendländischen Städte und das damit eng verknüpfte neue Aufkommen einer Geldwirtschaft. Es ist von der Legende also keine Aussage über das antike, wohl aber über das mittelalterliche Recht zu erwarten. Der Zugang zum Verständnis der Legende muß zuerst über die Analyse der einzelnen Legendenmotive gesucht werden. Löst man den Text in seine Motive auf, so ergibt sich folgende Tabelle: Jude (gibt Darlehn an Christen) 2. Darlehn (wird durch Eid auf dem Altar gesichert) 3. Darlehn (wird nicht zurückgezahlt und eingeklagt) 4. Eid (ist richtig und falsch zugleich) 5. Tod (tritt kurz nach Eidesleistung ein) 6. Toter (wird wieder lebendig) 7. Jude (wird getauft). 1.

Von allen diesen Motiven ist das Taufmotiv (7) und das damit eng verknüpfte Wiederbelebungsmotiv (6) für den Rechtshistoriker am wenigsten interessant. Dabei ist zu beachten, daß es sich hier nicht um eine Judenbekehrung, sondern um eine Judentaufe handelt. Sie wird motiviert mit dem Satz, der Jude habe das ihm von der Volksmenge zugesprochene Geld nur unter der Bedingung der Wiederbelebung seines verstorbenen Schuldners annehmen wollen. Das aber ist kein überzeugendes Motiv. Es läßt sich kein vernünftiger Grund für die Verweigerung der Annahme des Geldes finden. Im Gegenteil: Die Legende wäre harmonisch zu Ende geführt, wenn sie damit schlösse, daß der Jude nach Bekanntwerden des Unfalls sein Geld an sich genommen und damit sein Recht bekommen habe. Das Motiv für das Verhalten des Juden überzeugt um so weniger, als der Heilige Nikolaus ein typischer Stadtheiliger ist, dessen Geschichten städtische Themen behandelten und für ein städtisches Publikum (Kaufleute und Seeleute) bestimmt waren. Ein solches Publikum hätte in seinem rationalen Verhältnis zum Gelde zu keiner Zeit so reagiert wie es hier vom Juden berichtet wird. Wer sein ihm zustehendes Geld trotz der Aufforderung der Menge mit einer solchen Begründung nicht annehmen will, der setzt sich in den Kaufmannskreisen aller Zeiten dem Vorwurf extremer Dummheit aus. Rechtlich hat das Motiv der Judentaufe nur insoweit Konsequenzen, als der neugetaufte Christ nunmehr zur Einhaltung des kanonischen Zinsverbots verpflichtet wurde und damit sicherlich seinen Beruf hat wechseln müssen. Überzeugend wirkt dieser Legendenschluß darum immer noch nicht. Warum wird er dann aber mitgeteilt? Der Grund dafür, daß der Verfasser der Legenda Aurea ihn trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten bei der Verknüpfung mit dem Hauptteil der Legende verwendet hat, muß in theologischen Erwägun-

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gen gesucht werden. Es handelt sich hier um ein Stück christlicher Apologetik gegenüber dem Judentum, das für Jacobus de Voragine besonders wichtig gewesen ist. Wir müssen uns hier auf eine Andeutung beschränken: Für Jacobus hatte der Jude allein in der Rolle des Bekehrungsobjekts einen Sinn. Aus diesem Grunde durfte die Geschichte nicht dort zu Ende sein, wo ein Ungläubiger wider Erwarten Recht bekam. Der Ungläubige war erst dann wirklich "im Recht", wenn er außerdem Christ wurde. Für Jacobus war die Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Christen und Juden auch die Grenze zwischen Recht und Unrecht- mochte im Einzelfall auch einmal ein Ungläubiger im Streit mit einem Gläubigen Recht bekommen. Der Jude durfte nicht ungetauft mit seinem Geld davongehen. Daß damit die Haltung des Jacobus de Voragine zur Judenfrage keinesfalls zu einseitig gesehen ist, zeigt sich beim Vergleich seines Textes mit der ältesten Fassung dieser Legende (Anal. Boll. 2 [1883), S. 153 ff.), die ihm vermutlich als Vorlage gedient hat. Diese Vorlage, die vermutlich dem 10. oder 11. Jahrhundert entstammt, enthält gleichfalls am Schluß den Bericht von der Auferstehung des betrügerischen Schuldners. Allerdings hat die Auferstehung hier nicht ihren Grund in der Verweigerung der Geldannahme durch den Juden. Dieser nimmt nämlich sein Geld schon an der Unfallstelle an sich, nachdem er den Betrug entdeckt hat. Danach jedoch eilt er sofort zur Kapelle des Heiligen Nikolaus, wo er dem Heiligen vor allem Dank sagt für das ihm erwiesene Wunder, dann aber auch für die Wiederbelebung seines Schuldners bittet mit den Worten: "Da du mir nun unverdientermaßen so viele Wohltaten erwiesen hast und es nicht zugelassen hast, daß ich von jenem Betrüger hintergangen wurde, will ich künftig nur noch dich anbeten als den treuen Freund und Zeugen des höchsten Gottes. Wenn du aber durch die Auferweckung jenem Bösewicht deine Wohltat unverdientermaßen erweisen willst, so werde ich mit meinem ganzen Haus deinem Gott glauben und alle meine Glaubensgenossen, soweit ich es vermag, zum Christenglauben zu bekehren versuchen."

Der Jude betet hier schon vor seiner Taufe zum Heiligen. Er betet für einen betrügerischen Schuldner. Er verspricht die Taufe, um seinem Schuldner zu helfen. Hier tritt uns ein ganz anderer Typ des Juden entgegen. Diese Fassung der Legende, die den Juden bereits vorher als einen sehr frommen Mann warmherzig und menschlich geschildert hatte, berichtet nun sogar, daß er für seinen Feind bittet. Das ist nicht der unverbesserliche Ungläubige, der nur durch ein Auferstehungswunder bekehrt werden kann. Es ist vielmehr der "edle Jude", ein Ungläubiger, der schon vor seiner Taufe der Wahrheit sehr viel näher ist, als ein christlich getaufter Betrüger. Auch ein Jude kann danach "im Recht" sein. Von diesem

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Typ des Juden wollte Jacobus nichts mehr wissen. Die Zeiten des 11. und 12. Jahrhunderts, in denen Juden und Christen noch in einem partnerschaftlichen Gespräch miteinander gestanden und die Existenzberechtigung des anderen Glaubens anerkannt hatten, waren für ihn vorbei. Inzwischen war die Zeit der Glaubenskämpfe ausgebrochen. Deshalb konnte Jacobus die Auferstehung des Christen auch nicht auf die Fürbitte des Ungläubigen gründen. Der Schluß der Legende ist eine Predigt zum Thema Judenbekehrung in einer Zeit, die sich an diesem Thema sehr quälte und die in dem Juden nur noch den verstockten Verneiner des Christenglaubens sah. Das Motiv "Jude als Darlehnsgläubiger" (1) gehört dagegen zum Alltäglichsten des mittelalterlichen Stadtlebens. Seit der Antike hatten die Juden als Großkaufleute den abendländischen Handel betrieben. In den großen Hafenstädten des Mittelmeers hatten sie in ungebrochener Kontinuität ihre Rolle des Bankiers gespielt. Geldgeschäfte waren für den Christen seit je Geschäfte mit dem Juden, der in dieser Funktion mit dem Aufblühen der mittelalterlichen Städte sehr an Bedeutung gewonnen hatte. Trotz seiner Abneigung gegen die Juden behält Jacobus de Voragine dieses Motiv so bei, wie er es in der Legendentradition vorgefunden hatte. Denn den Christen war das Zinsnehmen und als Konsequenz daraus auch die Ausführung von Geldgeschäften durch das kanonische Zinsverbot untersagt. Die Juden dagegen waren, neben den Lombarden und den Leuten von Cahors (Kawerzen), dem kanonischen Zinsverbot in der Praxis nicht unterworfen. So alltäglich dieses Motiv für das Mittelalter war, so selbstverständlich war es auch, daß der Jude sein Darlehn nur gegen ein Pfand gewährte. Dieses Pfand pflegte in seinem Wert dem Doppelten der Darlehnssumme zu entsprechen. Eine Darlehnsgewährung ohne Sicherheit war ein Unding und ein grober Verstoß gegen die Regeln des Bankgeschäfts. So berichtet der ehemalige Jude und spätere Prämonstratenser Hermann (MGH, Quellen z. Geistesgesch. Bd. VI) in seiner Autobiographie, daß er vor seiner Bekehrung zum Christentum als junger und offenbar bedeutender Kaufmann dem Bischof Ekbert von Münster (AD 1127 -1132) ein größeres Darlehn gewährt habe. Wegen der Achtbarkeit des Schuldners habe er, Hermann, es nicht für erforderlich gehalten, diesem ein Pfand abzufordern. Er sei darüber von seinen Eltern und Verwandten wegen seines grob fahrlässigen Geschäftsgebarens hart gescholten worden. Hermann beklagt sich hierbei keineswegs über die Schelte der Verwandten. Er betont vielmehr, daß es allbekannte Sitte der Juden sei, bei der Kreditgewährung ein Pfand im Werte der doppelten Darlehnssumme hereinzunehmen. Um so mehr fällt es auf, daß der Jude in der Legende kein Pfand nimmt. Hätte er ein Pfand genommen, dann wäre an der Legende aller5 Hattenhauer

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dings auch nichts Berichtenswertes gewesen und es hätte sich um ein Geldgeschäft unter hunderttausend anderen gehandelt. Dem Juden genügte vielmehr der Eid des Christen. Der gelobte pünktliche Rückzahlung. Das war ein Verfahren, durch das dem Juden offenbar wenig materielle Sicherheit gewährt wurde. Denn niemand bricht seine Beteuerungen so leicht wie ein insolventer Schuldner, mag er deswegen auch einen Eid geleistet haben. Was aber sollte einen realistisch denkenden und geschäftstüchtigen Gläubiger bewegen, sich mit einem Eid zu begnügen, den der Schuldner selbst leistet - ein Schuldner, der nicht einmal mehr pfandfähiges Vermögen besitzt? Hier macht der Text eine Mitteilung, die rechtlich von erheblichem Wert ist: "weil er einen anderen Bürgen nicht stellen konnte"

leistete der Christ den Eid auf dem Altar des Heiligen. Der Akzent aber liegt auf dem Wort "anderen (alium)". Der Christ konnte keinen anderen Bürgen beschaffen und leistete daher den Eid. Man muß daraus folgern, daß er also noch einen Bürgen hatte: den Heiligen Nikolaus. Der Eid des Christen hatte dann nicht oder doch nicht in erster Linie den Zweck, den Schwörenden zu verpflichten. Vielmehr sollte dadurCh der Heilige "beschworen", als Bürge verpflichtet werden. Zwar verzichtete der Jude also auf die Leistung eines Realpfandes. Ein Personalpfand wurde ihm aber in der Person des Heiligen gestellt. Dem modernen Betrachter ist die Bürgschaft des Heiligen allerdings schwer verständlich. Das Problem liegt nicht etwa in der Frage, was geschehen wäre, wenn der Heilige die Bürgenpflichten nicht hätte übernehmen wollen und in der Frage, wie der Christ die Bereitschaft des Heiligen zum Rechtsgeschäft hat feststellen können. Darüber sagt die Legende nichts. Wichtig ist vielmehr, daß nach der Vorstellung des Legendenverfassers ein Heiliger als Bürge in menschlichen Rechtsgeschäften auftreten konnte. Der Heilige war Partner im Rechtsverkehr. Er war auch nach seinem leiblichen Tode wirksam. Das zeigt sich gerade an den Wundern, die er durch seine Reliquien oder in sonstiger Weise noch Jahrhunderte nach seinem Erdenleben vollbringt. Denn der Heilige besitzt ein Leben, eine Realität, die allem menschlichen Leben überlegen ist. Er ist im Himmel, unsterblich. Diese Unsterblichkeit aber äußert sich gerade darin, daß sie Wirkungen für die Menschen aller Zeiten hat. Er hat Wirkungen, die bis hinein in das Rechts- und Wirtschaftsleben reichen. Diese mittelalterlichen Heiligen nehmen segnend und helfend am irdischen Leben teil. Sie tun dies um so mehr, als sie selbst nicht mehr an die Gesetze des Erdenlebens gebunden sind. Unsterblichkeit ist hier nicht gleichzusetzen mit Unwirklichkeit. Sie ist eine Qualität von Wirklichkeit, der alles Menschenleben

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unterlegen ist. Deshalb war die Teilnahme des Heiligen am Darlehnsgeschäft auch keine Entwürdigung, Ent-Heiligung für diesen. Sie war vielmehr die konkrete Form der Hilfeleistung für einen Mann, der die Hilfe des Nothelfers nötig hatte. Sie war damit Bestätigung der Wunderkraft des Heiligen. Allerdings hat sich kein weiterer literarischer Beleg für die Verpflichtung eines Heiligen als Bürgen bisher finden lassen. Außerhalb der Legendenliteratur wird er sich vermutlich auch nicht finden. Denn bei aller Wertschätzung der christlichen Heiligen wird sich in der Praxis ein erfahrener jüdischer Bankier auf eine solche Sicherheitsleistung nicht eingelassen haben, weil sich das vom Heiligen erwartete Wunder nicht vor dem irdischen Richter einklagen ließ. Daß es sich bei diesem Rechtsgeschäft jedoch nicht um ein reines Phantasieprodukt, sondern um ein sehr klug konstruiertes Legendenmotiv handelt, zeigt das Vokabular, mit dem es in der ältesten Fassung beschrieben wird. Vom Heiligen wird gesagt, daß er "als Bürge bestellt" wird. Das Rückzahlungsversprechen wird "über dem Heiligen" geleistet, indem der Schuldner den Rand des Altars mit den Händen berührt und spricht: "Diesen Altar übertrage ich dir zu Pfande und bestelle zugleich (=dadurch) den Heiligen Nikolaus selbst für mich zum Bürgen. Ich verspreche vor dessen Angesicht, daß ich das, was du mir nun gewährst, dir zum bestimmte Termin zurückzahlen werde." Ferner wird gesagt, daß der Schuldner um das Darlehn bittet "unter dem Versprechen der Treue des Heiligen". Das sind technische Ausdrücke des römischen und des kanonischen Rechts, die jedem Leser römischer Rechtsquellen geläufig sind. Für jedes dieser Worte läßt sich nachweisen, daß damit ein fest umrissener Begriff bezeichnet wurde: pollicere, delegare, praestare, tradere, praebere, promittere, reddere, denominatio, fidejussor, vadimonium. Beurteilt man dieses Rechtsgeschäft nach den Regeln des römischen Rechts, so handelt es sich um die Begründung des Rückgewähranspruchs beim Darlehnsgeschäft im Wege der Stipulation. Durch Austausch bestimmter Formeln wurde im klassischen römischen Recht in Frage und Antwort der Anspruch des Gläubigers begründet. Dabei ist es wichtig zu beachten, daß die stipulatio der Legende eine fideiussio zum Gegenstand hat, wie das bereits im klassischen römischen Recht der Fall war. Der Bürge, der durch das Bürgschaftsgelöbnis mit den Worten "spondere, promittere" oder ähnlichen Wendungen verpflichtet wurde, trat mit seiner ganzen Persönlichkeit, seinem Kredit in die Verbindlichkeit des Hauptschuldners als Nebenschuldner ein. Für die Auslegung der Legende bedeutet dies, daß deren Verfasser genaue Vorstellungen von dem rechtlichen Gehalt der Bürgschaft und s•

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auch von der Art ihres Zustandekoromens besaß. Er kannte das Formular. Das ist auch nicht erstaunlich. Die Tradition römischer Rechtssprache und römischen Vulgarrechts ist in Norditalien und auf provinzialrömischem Boden niemals völlig abgebrochen. Das gilt insbesondere für die Kirche, bei der das römische Recht niemals vergessen worden war. Aus der Verwendung römisch-rechtlicher Formeln und Begriffe in der Legende kann allerdings nicht geschlossen werden, daß die Bestellung eines Heiligen zum Bürgen in der Rechtspraxis des Mittelalters gang und gäbe gewesen wäre. Wir müssen eher damit rechnen, daß sich der Legendenverfasser des römisch-kanonischen Rechtsstils bedient hat, um das Rechtsgeschäft anschaulicher und lebensnäher vor die Augen seines Publikums zu malen, gerade weil das Publikum dergleichen nicht kannte. Ein städtisches Publikum, das mit Rechts- und Wirtschaftsfragen vertraut war, wollte wissen, wie - und nicht nur daß - diese spezielle Form der Bürgschaft erfolgt war. Die Kauf- und Seeleute, die in ihren Zünften am Feste des Heiligen dessen Legende in der Kirche vorgetragen bekamen, wollten und mußten von der Realität des Wunders durch eine realistische Darstellung überzeugt werden. Dazu gehört auch der Gebrauch einer realistischen und exakten Rechtssprache. Zu dem römisch-rechtlichen Formular trat ein kirchenrechtlicher Akt: das Rechtsgeschäft "auf dem Altar", die Berührung des Altars durch den Verpflichteten. Hier handelte es sich nicht um ein Rechtsgeschäft, das speziell für die Legende ersonnen worden war. Vielmehr wurde insoweit an eine allgemein bekannte kirchliche Rechtspraxis angeknüpft. Das Rechtsgeschäft auf dem Altar begegnet in den Quellen oft bei der Auflassung von Grundstücken. Ein Kloster, eine Kirche oder sonstige kirchliche Anstalt erwarb das Eigentum an einem Grundstück, indem der Veräußerer es durch Niederlegung der Urkunde "auf dem Altar" an das erwerbende Kloster etc. übertrug (traditio cartae super altarem). Diese Altarhandlung war in Italien bereits im spätrömischen und langobardischen Recht bekannt. Sie war auch im mittelalterlichen Recht gebräuchlich. Sie hatte im kirchlichen Recht außerdem besondere Bedeutung bei dem Eintritt eines Novizen in ein Kloster benediktinischer Regel. Hierzu schreibt die Benediktinerregel (Cap. 58) vor: "Über sein Versprechen (sc. zur Einhaltung des klösterlichen Wandels) stelle er (sc. der Novize) eine Urkunde aus auf den Namen der Heiligen, deren Reliquien dort sind, sowie auf den Namen des anwesenden Abtes. Diese Urkunde schreibe er mit eigener Hand, falls er nicht schreiben kann, schreibe sie auf sein Ersuchen hin ein anderer, und jener Novize setze sein Zeichen hinzu und lege sie mit eigener Hand auf den Altar." Die Niederlegung der Urkunde war ein Verpflichtungsakt, mit dem sich der Novize an den Orden und damit an den Heiligen, band, dem der

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Orden diente und der Altar gehörte und auf den die Urkunde lautete. Es war eine traditio, deren Gegenstand der sich tradierende Novize selbst war. Damit wird ein juristischer Aspekt sichtbar, der für das Verständnis des Heiligen als Rechtsgenossen eine entscheidende Rolle spielte. Der Heilige, über dessen Reliquien und auf dessen Altar geschworen wurde, war selbst Rechtssubjekt. Er lebte und war rechtsfähig im Sinne des Zivilrechts. Die Gabe auf dem Altar war Gabe an den Heiligen und nicht nur an das Kloster. Die Fertigung der Verpflichtungsurkunde auf dem Altar war Übereignung des Novizen an den Heiligen und nicht an das Kloster als innerweltlichen Rechtsverband. Der Eid des Christen auf den Altar war die Bestellung des Heiligen als Bürgen. Der Heilige wurde personal verpflichtet und nicht etwa in der Weise, daß das Vermögen der dem Heiligen gewidmeten Anstalten als Pfand eingesetzt wurde. Von dem Anstaltsvermögen war nicht die Rede. Denn der Altar mit der Reliquie des Heiligen und nicht das Vermögen der Kirche, in der dieser Altar stand, wurde als Pfand eingesetzt. Rechtlich bedeutete dies, daß der Heilige Nikolaus dem Juden mit seinem guten Namen und mit allen seinen überweltlichen Kräften dafür haftete, daß der Christ die Schuld zurückzahlte. Es war selbstverständlich, daß ein Heiliger von dieser Berühmtheit die Verunehrung seines Namens durch einen unredlichen Gläubiger nicht ungestraft hinnehmen würde. Trotz aller Bemühungen des Legendenautors um eine realistische und gemeinverständliche Beschreibung dieser eigenartigen Bürgschaft bleibt der Bericht unwirklich. Denn es wird nichts berichtet von dem wichtigsten Element aller Darlehnsgeschäfte: der Schuldurkunde. Wo immer es Geldgeschäfte gibt, dort gibt es auch den Schuldschein. Der Darlehnsnehmer bekundet darin, daß er eine bestimmte Summe erhalten habe und den Betrag zum bestimmten Termin zurückzahlen werde. Jeder weiß, daß der Schuldschein vor allem Beweisfunktion hat. Solange der Gläubiger den Schein vor Gericht präsentieren kann, wird der Schuldner die Tatsache der Darlehnsgewährung nicht bestreiten können. Er wird auch nicht behaupten können, daß er den Betrag bereits zurückgezahlt habe. Denn im Falle der Rückzahlung muß der Gläubiger seinerseits den Schuldschein an den Schuldner herausgeben. Zu keiner Zeit, zu der diese Legende gepredigt wurde, war das anders. Auch im l 1. Jahrhundert, im Zeitalter der neu aufblühenden Geldwirtschaft war der Schuldschein in den Kreisen der Kaufleute und Bankiers eine Selbstverständlichkeit. Es muß für die Hörer der Legende daher besonders erstaunlich geklungen haben, wenn ihnen von einem Bankier berichtet wurde, der es unterläßt, sich eine solche Urkunde von seinem Schuldner auszustellen. Denn der Schuldner haftet zuerst und vor den

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Bürgen. Diese Fassung der Legende überzeugt den modernen Leser nicht. Anders aber scheint der Legendenverfasser die Sache gesehen zu haben. Darauf deutet die ältere Fassung der Legende hin. Dort begründete der Jude seinen Entschluß zur Darlehnsgewährung mit den Worten: "Der Heilige Nikolaus ist mir durch die vielen Wundertaten bekannt, die von ihm berichtet werden. Ich zweifle daher nicht, daß er ein guter Mann (bonus vir) ist. Und da ich aus dem über ihn verbreiteten Ruf erfahren habe, daß er dem höchsten Gott getreu (fidelis) ist, werde ich nicht zögern, dir zu gewähren, worum du bittest, und zwar unter dem Versprechen seiner Treue (sub ejus fidei pollicitatione). Ich glaube nämlich, daß ein Mann von einer solchen Autorität (auctoritas) mir keinesfalls mein Vermögen durch einen betrügerischen Eid (fraudulenta fide) abschwindeln wird." Zwei Leitbegriffe bestimmen die Rede des Juden: fides und auctoritas. Die fides des Heiligen wird in der Legende mit verschiedenen Wendungen erwähnt. Die fides, die der Heilige dem höchsten Gott gegenüber hegt, macht ihn auch gegenüber den Menschen zu einem vir fidelis, zu einem vertrauenswürdigen Mann. Die Menschen ihrerseits sollen dem Heiligen und damit auch Gott ihre fides erweisen. Fides ist hier einmal der Glaube- des Heiligen wie seiner Verehrer-, dessen Wesen in der Zuverlässigkeit, der Beständigkeit besteht. Fides ist aber auch das Vertrauen auf die Beständigkeit dessen, dem man selbst fides erweist. Fides ist auch der Akt, mit dem dieses Bündnis gegenseitiger Zuverlässigkeit begründet wird: der Treueid (pollicitatio fidei, sacramento fidem facere). Fides ist dies alles zusammen - ein Begriff, der in seiner Vielfalt dem Legendenverfasser sehr wichtig war. Gerade die Rede des Juden, mit der dieser die Darlehnsgewährung begründete, war ein kunstvolles Variieren der fides-Vorstellung, deren verschiedene Qualitäten in diesen wenigen Sätzen überraschend vielfältig gezeigt werden. Die fides des Heiligen war die Grundlage für die fides des Juden. Damit wird zugleich mitgeteilt, daß es etwas Stärkeres als eine Schuldurkunde gibt. Denn das starke Vertrauen in die fides des Heiligen war für den Juden offenbar Grund genug, über die Sicherung der Darlehnsforderung selbst und ihre Erfüllung durch den Christen nicht weiter nachzudenken. Worin aber gründet sich diese fides? Von dem Juden kann man nicht erwarten, daß er sich ohne besonderen Anlaß auf die fides eines christlichen Heiligen verläßt. Der Jude gibt die Antwort mit dem Begriff der auctoritas. Dieser Begriff aber ist noch reicher an Bedeutungen. Das lateinische Mittelalter hat sich beim Gebrauch des auctoritas-Begriffes nicht an den verschiedenen Bedeutungen des Wortes gestoßen. Man kann sogar feststellen, daß der autoritasBegriff gerade wegen des Reichtums seiner Bedeutungen von dem

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wortfreudigen Mittelalter mit Vorliebe gebraucht worden ist. Die vielen Obertöne und Nebenbedeutungen, die beim Nennen dieses Wortes zum Klingen kamen, waren auch ein Grund für die Verehrung, die gerade dieses Wort genoß. Es ging den mittelalterlichen Autoren nicht um begriffliche Eindeutigkeit, sondern um die Vielfalt des Wortes, in der sich für sie erst dessen Geheimnis erschloß. Die "Kraft der Bezeichnungen" (vis nominum), die Isidor von Sevilla mit der Etymologia (I, 29) aus den Worten herausspüren wollte, war beim Wort auctoritas besonders groß. "Autorität, Urheberschaft, Be~ fugnis, Zeugnis, Bestätigung" und noch vieles andere mehr konnte mit dem Wort gemeint sein. Meistens wurden zugleich mehrere dieser Bedeutungen angesprochen, wenn das Wort Verwendung fand. Auctoritas war die ursprüngliche, von niemandem abgeleitete Macht, die sich vor niemandem verantwortete und von allen Verantwortung forderte. Auctoritas war das Leitwort der Kirche im Verhältnis zum Staat, der nur die potestas für sich beanspruchen kann. Unter dem Leitwort der auctoritas wurde der Investiturstreit geführt. Wenn daher in einem kirchlichen Text die auctoritas eines Heiligen gerühmt wurde, so war damit sicherlich sein Ansehen, seine göttliche Vollmacht, war seine hervorragende Stellung vor Gott angedeutet. Die fides des Heiligen und seine auctoritas gehörten wesentlich zueinander. Die fides war in der auctoritas begründet. Damit aber war der Begriff der auctoritas in dem hier verwendeten Sinne nicht erschöpft. Denn es war ein Jude der die auctoritas des Heiligen rühmte und zudem ein Darlehnsgläubiger. Die auctoritas mußte aus der Sicht des Juden im Bereich des Privatrechts, für Darlehnsgeschäfte des täglichen Lebens wichtig sein. In der Tat ist sie das auch. Denn auctoritas hatte, auch in mittellateinischer Zeit, die alte Bedeutung von "Garantie, Gewährschaft, Gewährleistung" beibehalten. Das aber bedeutet: Der Jude vertraute dem Heiligen deshalb, weil ihm dieser ein sicherer Garant für die Rückzahlung des Darlehns war. Die Schuldurkunde war nicht nötig, weil der Heilige Nikolaus, ein bonus vir, ein unbezweifelbarer Gewährsmann ist. Auctoritas im Sinne von Gewährschaft, Garantie ist ein sehr konkretes rechtliches Handeln, das vor allem im römischen Recht eine Rolle gespielt hat. Der Veräußerer einer Sache mußte dem Erwerber nicht nur die volle rechtliche Sachherrschaft übertragen. Er haftete dem Erwerberauch als Garant dafür, daß niemand ihm in Zukunft sein Recht an der Sache streitig machen werde. Wenn der Erwerber einer Sache von dritter Seite auf Herausgabe der Sache verklagt wurde, so mußte er sich gegen die Klage mit dem Nachweis seines besseren Rechts an der Sache wehren. Das bedeutete: Er mußte den Beweis des rechtmäßigen Erwerbs der Sache vom rechtmäßigen Voreigentümer erbringen. Die-

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ser Beweis wurde durch die sogenannte laudatio auctoris, den Zug auf den Gewährsmann, geführt. Der beklagte Erwerber forderte seinen auf Gewährleistung haftenden Veräußerer auf, ihn im Prozeß zu vertreten. Der Gewährsmann trat im Prozeß an die Stelle des ursprünglich Beklagten oder berief sich seinerseits auf seinen Gewährsmann, von dem er wiederum sein Recht ableitete. Konnte der auctor seine Pflicht zur Verteidigung des beklagten Erwerbers nicht erfüllen, so haftete er diesem wegen der unterbliebenen Gewährleistung auf das Doppelte des Wertes der streitbefangenen Sache. Auctoritas war also die Rechtsstellung, kraft derer man verpflichtet war, sich schützend vor einen prozessual angegriffenen Vertragspartner zu stellen. Diese Bedeutung des Wortes auctoritas scheint im römischen Recht nie ganz vergessen worden zu sein. Sie findet sich dort nicht nur im frühen und im klassischen Recht. Sie ist auch in der Kaiserzeit noch bekannt. Zwar wurde im Corpus iuris unter Justinian (AD 527- 565) der Begriff der auctoritas vielfach durch den der evictio ersetzt. Völlig ist er im Abendland aber nicht verschwunden. Auch im römischen Vulgarrecht blieb der auctor - bei allen Modifikationen im übrigen Garant des Erwerbers. Auch dem Mittelalter war diese Seite des auctoritas-Begriffs geläufig. Bei aller Unklarheit über die Einzelheiten der Wortgeschichte, soweit sie die Bedeutung "auctoritas- Gewährschaft" betrifft, kann man doch als sicher annehmen, daß dem Verfasser der Legende dieser privatrechtliche Gehalt des Wortes bekannt war, und daß er das Wort nicht zuletzt aus diesem Grunde zur Erläuterung des fides-Begriffs gebrauchte. Fides und auctoritas hatten für den Legendenverfasser offenbar eine so hohe Bedeutung, daß er bei deren Verkündigung sogar eine fehlende Schuldurkunde in Kauf nehmen konnte. Trotzdem geschieht, was sich im Rechtsleben zu allen Zeiten immer wieder ereignet: Der Schuldner verweigert die Zahlung. Er tut dies auch mit einer Behauptung, die recht alltäglich ist. Er bestreitet nicht die Darlehnsgewährung, sondern behauptet vielmehr, das Darlehn inzwischen zurückgezahlt zu haben. Da der Gläubiger keine Urkunde in der Hand hat, kommt es deswegen zum Prozeß und damit zu einem Problem, das sich zu allen Zeiten im Prozeß gestellt hat: dem Problem der richterlichen Wahrheitsermittlung. Das Gericht muß feststellen, welche der beiden Parteibehauptungen wahr ist. Diese Feststellung aber wird auf eine uns heute ungewöhnlich dünkende Weise getroffen. Die Legenda Aurea berichtet sehr knapp: "Dem Schuldner wurde die Eidesleistung auferlegt." Wenn die Vorlage der Legenda Aurea auch bei der Beschreibung des streitigen Vortrages der Parteien ausführlicher ist, so kommt sie doch in der Sache selbst zu demselben knappen Ergebnis:

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"Sodann wurde nach Beratung der Richter beschlossen, daß er entweder jenem in Gegenwart des Gerichtes die Summe zurückzahlen oder einen Eid darüber leisten müsse, daß jener alles Geschuldete zurückerhalten habe." Es ergeht also ein sogenanntes "zweizüngiges Urteil". Entweder soll der Beklagte das Darlehn sofort zurückzahlen und damit den Anspruch des Klägers anerkennen, oder er soll schwören, daß die Darlehnstilgung bereits erfolgt sei. Die Bedeutung dieses sogenannten "Parteieides" ist heute nur noch dem Rechtshistoriker bekannt. Noch vor hundert Jahren hatte dieses Beweismittel erstrangige Bedeutung. Auch im Italien des Hochmittelalters war es ein selbstverständliches Instrument prozessualer Wahrheitsfindung. Der Verfasser unserer Legende hatte also genaue und zutreffende Vorstellungen über den Ablauf, den der Prozeß zwischen dem Juden und dem Christen hatte nehmen müssen. Das ist auch kein Wunder, denn das Institut des Parteieides stammte aus dem Kirchenrecht und war zur Zeit der Entstehung unserer Legende voll ausgebildet. Seine Schilderung war juristisch exakt und für die Hörer der Legende lebensnah. Nur so konnte die Geschichte sich abgespielt haben, wenn sie wirklich geschehen war. Ebenso verständlich mußte das Ende des Prozesses den mittelalterlichen Zeitgenossen erscheinen: Indem der Christ den Parteieid leistete, hatte der Jude seinen Prozeß verloren. Hier zeigt sich ein Verständnis vom Wesen des Eides, das für den modernen Leser nicht unmittelbar einsichtig ist. Zwar hat auch heute der Eid bei den Gerichten eine hohe Bedeutung und ist aus der Rechtspraxis nicht wegzudenken. Aber es ist ein anderer Eid, den wir heute schwören, als es jener Eid war, durch den der Christ seinen Prozeß mit dem Juden gewann. Der moderne Eid soll die Aussage des Schwörenden "bestärken, bekräftigen", fester machen, als sie es ohne die Eidesleistung wäre. Aber dieser Eid unterliegt der Beweiswürdigung durch den Richter. Eid und Wahrheit haben nicht notwendig miteinander zu tun. Die Wahrheit läßt sich nicht zwingend durch den Eid ermitteln. Umgekehrt verhält es sich aber bei dem alten Parteieid. War die Aussage beschworen, so war auch der Richter daran gebunden. Die Eidesleistung machte die beschworene Aussage unanfechtbar, wahr. Anders ausgedrückt: der Parteieid ersetzte das richterliche Urteil. Er schloß den Rechtsstreit eindeutig und endgültig ab. Der Schwörende sprach mit dem Parteieid das Urteil in dem Rechtsstreit. Der Schuldner, der eidlich erklärte, das Darlehn bereits zurückgezahlt zu haben, sprach ein Urteil - dem Gläubiger, aber auch sich selbst. Wer den Parteieid schwor, machte sich zum Richter in eigener Sache und sprach sich selbst sein Urteil. Nur noch Märchen und Sage kennen heute die alte Vorstellung des Selbsturteilens durch die Partei.

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Dieser Eid war nicht Beteuerung, er war Rechtszauber. Er wird zutreffend von den Rechtshistorikern als "bedingte Selbstverfluchung" definiert. Der Schwörende richtete durch den Eid - durch Zauberformel und Zaubergebärde - ein genau bezeichnetes Urteil über sich auf. Der Eid bewirkte, daß dieses Unheil den Meineidigen traf. Wer falsch schwor, richtete sich selbst. Der Richter war für die "Beurteilung" eines Schwurs nicht zuständig. Hier walteten höhere Mächte mit ihrer Strafe und ließen keinen Raum für menschlich-richterliches Handeln. Wenn die Umgangssprache noch heute die Wendung kennt, jemand spreche sich selbst sein Urteil, so ist damit im Sinne dieser Vorstellung vom Eid mehr und Grauenvolleres gesagt, als dem modernen Menschen bei dieser Wendung bewußt wird. Eid und Wahrheit standen in einem untrennbaren Verhältnis der Automatik zueinander. Die Frage nach der Wahrheit stellte sich in den Prozessen aller Zeiten und Kulturen. Überall gab es Beklagte, die - zu Recht oder zu Unrecht - den Vortrag des Klägers bestritten. Das gilt auch für das mittelalterliche Recht. Wie aber wurde die Frage, ob ein Beklagter dem Kläger wirklich ein Roß gestohlen hatte, beantwortet? Das ist die Frage, wie man durch den streitigen Parteivortrag hindurchdringen kann bis zu jenem Begriff, den wir "Wahrheit" nennen und, ganz selbstverständlich, mit dem historischen Faktum gleichsetzen. Zwar knüpfte man auch im alten Recht bei der Wahrheitsermittlung an den historischen Fakten an, wenn dies ohne Schwierigkeiten möglich war. In der inquisitio des fränkischen Prozesses und in der Spurfolge haben wir hierfür Zeugnisse. Die Grenzen eines Grundstücks wurden durch Befragung von Tatzeugen ermittelt. Durch Verfolgung der Spuren des Diebes wurde der Dieb selbst festgestellt. Wenn man auch diese Verfahren der Wahrheitsermittlung mit den modernen Beweisverfahren nur mit Vorbehalt vergleichen darf, so lassen sich hier doch Frühformen modernen Beweisrechts finden. Was aber geschah in jenen Fällen, in denen solche einfachen Formen der Spurenauswertung nicht zum Ziele kamen? Dann wurde das Problem der Wahrheitsfindung sehr "unmodern" gelöst. Keineswegs brachte der Kläger Tatzeugen bei, die den Diebstahl gesehen hatten. Er berief sich auch nicht auf Indizien, aus denen man schließen konnte, was sich in der Nacht des Diebstahls ereignet hatte. Der Kläger wie der Beklagte stellten die Wahrheit- "ihre" Wahrheit, die sich offenbar wesentlich von unserer modernen Wahrheit unterscheidet - auf eine ganz andere Weise fest. Der Kläger forderte den Beklagten zur Eidesleistung auf. Was war das für eine Wahrheit, die nicht nach historischen Fakten, nach Tatablauf und Tatzeugen fragte und sich mit einem Eid zufriedengab? Jacob Grimm hat über diese Frage gesagt:

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"der zeuge, indem er die wahrheit sagte, war folglich in der that urteilend und hieraus leuchtet ein zusammenbang zwischen urteilern und zeugen hervor, der besonders für die älteste zeit, wo es noch keine ständigen schöffen gab, unverkennbar ist. Factische wahrheit und rechtswahrheit waren in solchen fällen eins." Anders ausgedrückt: Nicht das historische Faktum, sondern der Eid war die Wahrheit, der Beweis. Deshalb heißt es in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtssprache, daß ein Zeuge eine Tatsache "bewährt", das heißt: wahr macht. Die Frage nach dem Faktum stellte sich für das alte Recht nicht als ein Problem der Schlußfolgerung aus Indizien und der Beweiswürdigung. Sie wurde vielmehr beantwortet durch die Tatsache, daß sich jemand fand beziehungsweise nicht fand, der bereit war, für das behauptete Geschehen mit seinem Eid sein Leben aufs Spiel zu setzen. Der Eid des alten Rechts bewies nicht etwa die Wahrheit. Er selbst war die Wahrheit, die Garantie, für das Bestehen oder Nichtbestehen behaupteter Fakten. Der Schwörende "sagte (die) Wahrheit". Wo heute durch den Eid "bewiesen", auf ein historisches Faktum hingewiesen wird, dort wurde im alten Recht "bewährt", die als wahr behauptete Tatsache durch Eidesleistung wahr gemacht. Dabei ist es wichtig zu beachten, daß mit den Wendungen "(die) Wahrheit sagen, Wahrheit schwören, Wahrheit leisten" nicht etwa das Gegenteil von "lügen" gemeint war. Diese Wendungen waren technische Ausdrücke der Rechtssprache. Sie bezeichneten den Eid, mit dem eine Partei die bis dahin umstrittene Tatfrage unstreitig machte. So konnte es beispielsweise heißen (Grimm, Weistümer V, S. 109): "und ist dozemaul uf denselben tag richter gewesen, da sölichs erofnet, ernuwrot und von ainem an das ander mit worhait aigenlich ergründt und erkunnet ward, Werlin Rosz von Wart; die alle und jeglicher besunder mit iren ufgehepten handen und fingern liplich zu got und den hailigen gelert aid, darumb ain warheit zu sagen, nieman zu lieb noch ze laid ...". Indem der Schwörende "Wahrheit sagte", bestellte er sich selbst zum Garanten für seine Behauptung. Er wurde auctor in dem oben beschriebenen Sinne. Wahrheit war Gewährschaft, auctoritas. Das war das Wesen des Eides im Recht des Frühmittelalters, das sich sprachlich in der Verwandtschaft der Worte "Wahrheit, bewahren, Gewährschaft, Bewährung, gewere, Garantie" ausdrückt. Der kirchliche Legendenverfasser sah keinen Grund, an diesen Vorstellungen mit rationalen Argumenten zu rütteln und die Furcht vor dem Gotteszorn zu erschüttern. Im Gegenteil. Dem Meineid folgt in der Legende die Strafe. Der meineidige Christ stirbt an einem Verkehrsunfall. Er stirbt, für alle Hörer offensichtlich, an einem Gottesgericht. Denn er stirbt einen "schnellen Tod", der für das Verständnis

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der Kirche und ihrer Hörer ein "böser Tod" war. Es war dies ein Tod, der keine Zeit zur Buße ließ und den Gerichteten noch in seinen Sünden vor den himmlischen Richter zu treten zwang. Es war eine offenbare Gottesstrafe, die härteste Offenbarung des Gotteszorns über den Sünder. Jedermann konnte an diesem Tode ablesen, daß hier ein Bösewicht von Gott endgültig gerichtet worden war. Deshalb dichtete beispielsweise Johann Rist (AD 1607- 1667) noch unter dem Schrecken dieser mittelalterlichen Todesvorstellung: "Ach bewahre mich vor Schrecken Schütze mich vor Überfall Laß mich Krankheit nicht aufwecken Treibe weg des Krieges Schall Wende Feuer- und Wassersnot Pestilenz und schnellen Tod Laß mich nicht in Sünden sterben Noch an Leib und Seel verderben." Die Legende betont nicht ohne Grund die schnelle Fahrt des Wagens und damit die Plötzlichkeit des Ereignisses. Sie malt das klassische Bild der Meineidsfolgen vor die Augen ihres Publikums. Der Christ stirbt als ein Mensch, der sich selbst ein Urteil gesprochen hat und daran alsbald zugrundegeht. Doch das waren erst die Folgen der bösen Tat. Diese waren jedem Legendenleser geläufig. Wichtiger war die Eidesleistung selbst. Denn man kann mit gutem Grund fragen, ob es überhaupt ein Meineid gewesen war, den der Christ dem Juden geschworen hatte. Die Tatsachen sind einfach genug. Der Christ "gab das Geld zurück". Wenn er nun die erfolgte Rückgabe beschwor, so mußte ein Kenner aller Umstände ihm zugeben, daß er damit die Wahrheit geschworen hatte, mochte diese Wahrheit auch noch so verborgen vor den Augen des Juden und der Umwelt gewesen sein. Denn daß der Christ alsbald sein Geld zurückfordern würde, brauchte er nicht zu beschwören und hat er auch nicht beschworen. So jedenfalls wollte der Christ seinen Eid aufgefaßt wissen. Der Jude dagegen, und mit ihm der Heilige und seine Kirche, hielten den Schwur für einen Meineid, weil der Christ seiner Eidesformel einen für niemand erkennbaren Sinn beigelegt hatte. Mit dieser Deutung der Formel konnte niemand rechnen und - das ist die Konsequenz, die in der Legende daraus gezogen wird - brauchte daher auch niemand zu rechnen. Um diesen nur dem Christen bekannten Sinn der Eidesformel und um seine rechtliche und ethische Qualifikation geht es letztlich allein in der Legende. Alle übrigen Umstände haben nur den Zweck, dieses Problem anschaulich zu machen. Bei aller Verschiedenheit im übrigen unterscheidet sich die Fassung der Legenda Aurea insoweit nicht von ihrer älteren Vorlage. Dieses Problem hat das Recht des ganzen Mittelalters beschäftigt.

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Der Christ bediente sich einer List, um wahr zu schwören und dennoch das Geld zu behalten. Hier ist es wichtig zu beachten, daß der Christ es keineswegs wagte, einen Eid zu schwören, in dem die Eidesformel auch seinem eigenen Verständnis nach nicht mit den beschworenen Tatsachen übereinstimmte. Denn das wäre auch für ihn ein Meineid gewesen. Auch er fürchtete sich offenbar vor den Folgen eines falschen Eides. Da er aber den Eid nicht umgehen konnte und dennoch das Geld behalten wollte, konnte er sich lediglich dadurch helfen, daß er den Begriff dessen, was falsch war, anders faßte, als die Legende es tut. Nur derjenige Eid war für ihn falsch, bei dem keine Kongruenz zwischen Wort und Wirklichkeit bestand. Das Wort "zurückgeben" aber umfaßte vielerlei Handlungen, von denen die Rückgewähr eines Darlehns nur eine war. Bewußt wurde also die Eidesformel zu weit gefaßt, aber doch wieder nicht so weit, daß der Jude auf die Idee kommen konnte, mit dem Schwur werde etwas anderes gesagt, als der Rechtsverkehr darunter zu verstehen pflegte. Das Motiv der List bei der Eidesleistung ist bekannt. Aus SchleswigHolstein werden folgende Sagen berichtet: "Zur Zeit der Aufteilung und Einkopplung entstanden zwischen den Dörfern Albersdorf und Röst in Süderdithmarschen Grenzstreitigkeiten. Die Scheide konnte nicht ermittelt werden, bis ein Mann aus Albersdorf erklärte, daß er sie genau wisse und mit einem Eide seine Aussage bekräftigen wolle. Zu dem Ende begab er sich an die Grenze der Albersdorfer Feldmark, füllte bei der Trensbüttler Furt, wo es durch die Gieselau geht, seine Schuhe mit Sand, ging dann nahe vor Röst und tat da seinen Eid, daß er auf Albersdorfer Grund und Boden stehe. Er glaubte, den Meineid vermieden zu haben. Aber nach seinem Tode mußte er als Feuerkerl auf der Scheide umgehen ...". "Auch zwischen dem Gute Röst und dem Dorfe Rabenkirchen in Angeln war einmal Streit um eine Holzung. Der Edelmann füllte an einem Morgen Erde aus seinem Garten in die Schuhe, steckte Zweige von den Bäumen auf seinem Hofe auf den Hut und tat nun im Gehölze, das den Rabenkirchnern eigentlich gehörte, den Schwur, daß er auf seiner Erde stünde und die Zweige über seinem Haupte sein wären." In einem anderen Zusammenhang wird das Motiv in Gottfried von Straßburgs Tristan (V. 15 560 ff.) verwendet. Da lsolde des Ehebruchs mit Tristan beschuldigt wird, soll sie sich von diesem Vorwurf durch Eid und Gottesurteil reinigen. Sie erklärt sich ihrem Ehemann, dem König Marke gegenüber dazu auch bereit, kommt aber in große Angst, da der Vorwurf des Ehebruchs berechtigt ist. Durch fromme Werke sucht sie, den Ausgang des Gottesurteils zum Guten zu wenden. Sie bedient sich daneben einer List. Sie fordert Tristan zum Kommen auf. Dieser kommt, als Wallfahrer verkleidet, zu dem ZugMarkesund lsoldes. Isolde läßt sich von ihm, dem "wallaere" vom Schiff an das Land tragen. Dabei stürzt jener auf Isoldes Rat mit ihr zu Boden, so daß er

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und Isolde nebeneinander am Boden liegen. Als die Königin vor dem Gottesurteil den Reinigungseid schwören soll, kommt es zu Auseinandersetzungen über die Frage, ob Isolde den Wortlaut des Eides selbst formulieren dürfe. Ihre Feinde bestreiten ihr diese Befugnis und wollen ihr den Wortlaut des Reinigungseides vorschreiben. Doch ist Marke mit der von Isolde angebotenen Eidesformel zufrieden und so schwört sie: " ... daz mines libes nie kein man dekeine künde nie gewan noch mir ze keinen ziten weder zarme noch ze siten ane iuch nie lebende man gelac wan der, vür den ich niene mac gebieten eit noch lougen, den ir mit iuwern ougen mir sahet an dem arme, der wallaere der arme .. .". Nach dem Eid nimmt Isolde das glühende Eisen in die Hand und bleibt in der Tat unverletzt, weil sie im Sinne ihres Eidverständnisses die Wahrheit geschworen hat. Gottfried knüpft daran die bittere Bemerkung: "... daz der vil tugenthafte Crist wintschaffen alseein ermel ist: er vüeget unde suochet an, da manz an in gesuochen kan, also gevuoge und alse wol, als er von allem rehte sol. erst allen herzen bereit, ze durnehte und ze trügeheit. Ist ez ernest, ist es spil, er ist ie, swie so man wil". Bei aller Verschiedenheit im übrigen ist diesen Texten gemeinsam, daß Schwörende sich einer List bedienen. Es geht also nicht allgemein um den Betrug, den der moderne Leser in diesem Verhalten sieht. Es geht auch nicht um Wahrheit und Lüge im weitesten Sinne. Es geht vielmehr um die Wahrheit beim Eid, um die Frage, wo die Grenze zwischen wahrem und falschem Eid liegt. Diese Grenze mußte zu aller Zeit scharf und für jedermann verständlich bestimmt werden. Denn nur der Meineid hatte das Gottesgericht zur Folge. Wann aber lag ein Eid und wann ein Meineid vor? Daß diese Frage für das Mittelalter von existentieller Bedeutung war, zeigt die große Zahl von Legenden, Märchen, Sagen und Geschichten, in denen Gottesurteile und Eide behandelt werden. Für Legende und Sage war der Meineid kein Thema von nur poetischem Interesse. Er war ein lebenswichtiges Problem für jeden, der Eide abzulegen hatte, das heißt aber angesichts der Häufigkeit des Eides im mittelalterlichen Recht: für jeden Rechtsgenossen.

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Zwei Meinungen sind hier zu erkennen, die in absolutem Gegensatz zueinander stehen: Für die eine war jeder Eid wahr, bei dem der Wortlaut der Eidesformel, ihr buchstäblicher Sinn mit dem beschworenen Sachverhalt objektiv übereinstimmte. Der bloße Wortlaut also war entscheidend. Auf die Deutung der Eidesformel durch die Rechtsgenossen kam es hier nicht an, denn der Eid wirkte ex opere operato, durch den bloßen vorschriftsmäßigen Vollzug. Für die andere Meinung war es entscheidend, wie die Eidesformel von den unbefangenen Menschen verstanden wurde, die bei der Eidesleistung zugegen waren. Während auf der einen Seite die Eidesformel objektiv auszulegen war, konnte auf der anderen Seite der Eid nur dann recht verstanden werden, wenn man auch die Menschen berücksichtigte, für die und vor denen der Eid geschworen wurde. Für die eine Meinung war die Grenze zwischen Eid und Meineid objektiv-äußerlich zu ziehen, für die andere konnte dies nur unter Berücksichtigung subjektiver Momente geschehen. Die Eindringlichkeit, mit der die Legende ihre Position vertritt, läßt erkennen, wie weitverbreitet die gegnerische Position in ganz Europa noch im Hochmittelalter war, und wie schwer es war, sie zu erschüttern. Ein Zugang zu dem von der Kirche bekämpften Eidesverständnis findet sich mit der Einsicht, daß der Eid nach seiner Herkunft ein Zauber, die Schwurformel mithin ein Zauberspruch ist. Wesentlich für die Eidesformel war es, daß sie vor der Eidesleistung so exakt wie nur möglich festgelegt wurde, damit sie den gemeinten Sachverhalt wirklich traf. Eidesformeln waren Zauberformeln. Es ist daher kein Zufall, daß zu den ältesten Denkmälern der deutschen Sprache neben den Segensformeln die Fluchformeln des Eides stehen. Denn alles Schwören, das heißt Zaubern, war nutzlos, wenn man nicht die richtige Formel besaß, wie überall der Besitz der richtigen Formel und Gebärde allein entscheidend für das Gelingen oder Mißlingen des Zaubers war. Hatte man aber die richtige Formel, so wirkte sie automatisch und unabhängig vom Willen des Zaubernden. Wer immer die richtigen Worte mit richtiger Gebärde aussprach - mochte dies auch zufällig geschehen - , setzte eine religiöse Automatik in Gang, über deren Ablauf er nicht mehr verfügte, solange er sich nicht etwa eines Gegenzaubers - einer Gegenformel oder einer Gegengebärde - bediente. Der Zauber wirkte durch bloßen Vollzug. Deshalb konnte man Menschen zur Eidesleistung zwingen, wie das beispielsweise bei den frühen Lauclfriedensgesetzen geschah oder auch bei der Vereidigung von Soldaten geschah. Wer den Eid brach, konnte sich nach dem extrem objektiven Eidesverständnis auf den Zwang zur Eidesleistung nicht berufen. Denn dieser wirkte ohne Rücksicht auf geheime Vorbehalte oder Zwangslagen des Schwörenden. Es kam bei diesem Schwur nicht auf subjek-

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tive Erwägungen, nicht auf ethische Gesinnung, nicht auf Zustimmung oder Ablehnung, nicht auf soziale Billigung oder Mißbilligung an. Allein der exakte Vollzug der vorgeschriebenen Gebärden und das wortwörtliche Nachsprechen der vorgeschriebenen Worte entschied über die Wirksamkeit des Eides. Dieser alte Eid konnte zwar durch subjektive Erwägungen nicht beeinflußt werden. Dagegen bot sich für denjenigen, der sich der Gottesstrafe nicht aussetzen wollte und dennoch schwören mußte, eine andere Möglichkeit. Er mußte entweder die ihm vorgesprochene Eidesformel für die Umwelt unmerklich abändern und so die Zauberformel "entkräften" oder er mußte die Eidesformel selbst in der Weise fassen, daß sie auch noch einen geheimen und für die Umwelt nicht erkennbaren Nebensinn umfaßte, mithin objektiv richtig war. Den letzteren Weg hat der Christ in der Legende, haben die Bauern in der Sage und hat Isolde im Epos gewählt. Gewiß hatte dieser Weg auch seine Gefahren. So wie ein erfahrener Amtsrichter - vor allem in ländlichen Gegenden - auch heute noch darauf achtet, daß die Schwörenden nicht heimlich mit der linken Hand hinter ihrem Rücken "abschwören", so wie in den alten Heeren die Unteroffiziere sehr genau darauf achteten, daß die Soldaten beim Fahneneid nicht nur die Lippen tonlos bewegten, ebenso gehörte zum Rechtsalltag des Mittelalters die Prüfung der Frage, ob eine Eidesformel rechtlich wirksam war. Es leuchtet deshalb auch ein, daß nach diesem extrem objektiven Eidesverständnis dem durch den Eid Geschädigten kein Unrecht geschah. Er hätte bei der Formulierung der Schwurformel und bei der Eidesleistung besser achtgeben müssen. Hier lag der Grund dafür, daß die Gegner der Königin Isolde dieser die Formulierung der Schwurformel nicht überlassen wollten. Denn auch der Schwörende mußte sorgfältig beim Eid auf sich achten, daß der Eid nicht falsch ausfiel und ihn, ohne sein Wissen und Wollen, aber dennoch zu Recht im Sinne dieses Eidesverständnisses traf. Man mag gegen dieses Eidesverständnis einwenden, daß es äußerlich, formalistisch und unbarmherzig gewesen sei. Die Legende tut das auch. Doch ist die Beurteilung modern. Das alte Recht war ein anschauungsgebundenes, archaisches Recht, das von der Berücksichtigung subjektiver Erwägungen absehen mußte, weil es dafür keinen Blick hatte. Wie kompliziert die Subjektivierung und Verinnerlichung des Rechts in der abendländischen Rechtsgeschichte war, zeigt gerade unsere Legende. Erst im hohen Mittelalter entdeckte man die Gefahren und Grenzen des extrem objektiven Eidesverständnisses sowie die Möglichkeiten der Subjektivierung und Ethisierung des Rechts. Die Wahrheit des alten Eides war äußerlich. Gottfried von Straßburg nahm das als eine Tatsache hin. Zwar klagte er über den bestechlichen

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Christengott, der "wintschaffen als ein ermel" einer Frau recht gab, die unstreitig Ehebruch getrieben hatte. Der Dichter sah das Problem, aber er resignierte vor der Frage, wie man es lösen konnte. Was sollte man gegen einen solchen Gott machen? Eins aber war wichtig in dem Bericht vom Eid der Isolde: Gottfried von Straßburg gebrauchte das Wort "Wahrheit" in einem neuen Sinn - einem Sinn, der mit dem traditionellen Rechtswort "Wahrheit" nicht mehr allein umfaßt wurde. Denn "warheit" bekam hier einen neuen Gegenbegriff: "unwarheit". Wahrheit und Lüge standen sich nun gegenüber, und es ist bezeichnend, daß Gottfried mit dem Negativbegriff der Unwahrheit auszudrücken suchte, was er meinte und was doch so neu war. Für Gottfried war das Verhalten der Königin Isolde "trügeheit", ihr Eid ein "gelüppeter eit", das heißt: ein zauberisch vergifteter Eid. Die Wahrheit und damit der Eid als Instrument des Wahrheitsbeweises, wurde nun ethisch qualifiziert. Gottfried hatte eine moderne Diagnose für das Verhalten der Isolde. Er konnte sich nicht mit dem traditionellen Eidesverständnis zufriedengeben. Aber ihm fehlte die Therapie. Anders ging es dem Verfasser der Legende. Denn er sagt über die Diagnose nicht viel. Ihm war es selbstverständlich, daß hier ein Meineid vorlag, mochten die Worte der Eidesformel auch noch so raffiniert formuliert worden sein. Er wäre auch kein guter Prediger kirchlicher Lehre gewesen, wenn er sich mit der von der Kirche verdammten Lehre noch intensiv auseinandergesetzt hätte und diese damit implizit dargestellt hätte. Diese Lehre wurde totgeschwiegen. Der Christ bekam keine Gelegenheit, seine irrigen Ansichten zu verteidigen. Entscheidend war allein die Therapie, der Nachweis, daß solches listige Schwören Sünde war und dem Schwörenden den Gotteszorn zuzog. Anders als die alten Götter war der Christengott der Herr aller Eide. Er bestrafte jeden, der bei der Eidesleistung die Regeln verachtete, die dieser von der Kirche verkündigte Gott gesetzt hatte. Eidesleistung war hier nicht Auslösung einer Automatik. Auch der Eid, gerade der Eid, war nach der Lehre der Kirche in Gottes Hand und wurde mit den christlichen Maßstäben von Gut und Böse gemessen. Hier wurde die Grenze zwischen Eid und Meineid neu gezogen und damit zugleich ein neuer Wahrheitsbegriff in die Eideslehre eingeführt. Zwar war auch der christliche Eid eine bedingte Selbstverfluchung, mit der der Meineidige sich selbst richtete. Auch der Christengott sanktionierte seine Eide mit dem unfehlbaren Gottesgericht. Aber neu war die Definition dessen, was ein Meineid sei. Das Wesen des Meineids bestand nun nicht mehr in dem Fehlen der Kongruenz von beschworenem Faktum und objektiver Eidesformel. Es bestand vielmehr darin, daß der Meineidige gegen den neuen christlichen Wahrheitsbegriff verstoßen hatte. Was aber war für die christliche Wahrheit charakteristisch? 6 Hattenha