Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland [1 ed.] 9783428526246, 9783428126248

Die Autoren des vorliegenden Bandes vermitteln einen Überblick zur Parteiendemokratie und zum Parteiensystem im vereinig

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Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland [1 ed.]
 9783428526246, 9783428126248

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 94

Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland Herausgegeben von

Eckhard Jesse und Eckart Klein

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ECKHARD JESSE / ECKART KLEIN (Hrsg.)

Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 94

Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland

Herausgegeben von

Eckhard Jesse und Eckart Klein

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-12624-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Eckhard Jesse und Eckart Klein Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Marten Breuer Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl 1990 und die Folgen für das Parteiensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Hugo Klein Überhangmandate und Grundmandatsklausel im Bundestagswahlrecht . . . . . . .

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Nikolaus Werz Parteien in den neuen Bundesländern seit 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Florian Hartleb Parteien in den alten Bundesländern seit 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eckhard Jesse Koalitionsaussagen der Parteien vor Bundestagswahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerd Strohmeier Moderne Wahlkämpfe unter besonderer Berücksichtigung der Bundestagswahlkämpfe seit 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peter März Große Koalitionen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Hans Herbert von Arnim Parteien in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Einführung Von Eckhard Jesse und Eckart Klein Die politischen Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. So steht es in Art. 21 Abs. 1 GG. Den Parteien ist damit nicht nur der Weg in den Verfassungstext gebahnt worden – was selbst heute für demokratische Verfassungen keine Selbstverständlichkeit ist –, sondern ihnen wird auch eine wichtige Rolle zugeordnet: die Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes nämlich. Was dies im einzelnen bedeutet, ist in § 1 des Parteiengesetzes näher umschrieben. Die Mitwirkung ist eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von diesem verbürgte öffentliche Aufgabe. Sie macht, wie es in § 1 heißt, die Parteien zu einem verfassungsrechtlich notwendigen Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus die jedenfalls verfassungsprozessrechtlich wichtige – freilich umstrittene – Konsequenz gezogen, dass Parteien Organe zwar nicht des Staates, wohl aber der Verfassung seien, denen ein besonderer Rechtsstatus zustehe1. Politische Parteien mögen ihrer „öffentlichen Aufgabe“ nicht immer zur Zufriedenheit nachkommen, vielleicht verdienen sie sogar herbe Kritik: Dass unser politisches Leben, die Vorbildung und Ausbildung politischer Entscheidungen, ohne Parteien funktionieren könnte, ist allerdings eine Illusion. Es gibt keine andere Institution (sozialwissenschaftlich gesprochen), welche die den Parteien zugewiesene Rolle ebenso umfassend ausfüllen würde. Diese Rolle ist eine Herausforderung. In ihr liegt gewiss auch eine Versuchung, die in jeder Machtausübung liegt. Und in der Tat: Politische Parteien üben Macht aus – nach innen, im Rahmen der eigenen Organisation, und nach außen, auch wenn sie nicht direkt als Partei über den Staat und dessen Instrumente verfügen. Aber § 1 des Parteiengesetzes sinnt den politischen Parteien an, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluss zu nehmen und die von ihnen erarbeiteten Ziele in den Prozess der staatlichen Willensbildung einzuführen. Die Parteien ragen also – ausgehend von ihrer gesellschaftlichen Funktion, bei der Willensbildung des Volkes mitzuwirken – in den staatlichen Willensbildungsprozess hinein, verknüpfen in sehr charakteristischer Weise Gesellschaft und Staat miteinander, erhalten dadurch eine singuläre Stellung in unserem Regie-

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BVerfGE 13, 54 (82) – ständige Rechtsprechung.

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rungssystem – als „Faktoren des Verfassungslebens“2, wie das Bundesverfassungsgericht sie apostrophiert hat. Unter diesem Aspekt ist es von größter Bedeutung, wie sich die politischen Parteien in Deutschland darstellen. So müssen die Wettbewerbschancen kleinerer Parteien erhalten, ja verbessert werden,3 um – nur ein Beispiel sei genannt – den Prinzipien einer offenen Gesellschaft zu entsprechen. Die Bundestagswahl 2005 gab das Thema der Jahrestagung 2006 beinahe von selbst vor. Die Große Koalition auf der einen, die Oppositionsbänke für FDP, Bündnis90/Die Grünen und Die Linke/PDS auf der anderen Seite führen möglicherweise (und führten bereits tatsächlich zum Teil) nicht nur zu Konsequenzen, die diese Parteien als solche, in ihrer Organisation, ihrem Zusammenhang, ihrer Führungsstruktur berühren, stärken oder schwächen. Haben die Wahlen und die sich daran anschließenden Regierungsbildungsgespräche vielleicht zukünftige neue Kombinationsmöglichkeiten (im Sinne von Koalitionsmöglichkeiten) eröffnet (Stichwort: „Jamaika“), die bislang weitgehend außerhalb der politischen Vorstellung (oder des Wollens) waren? Auch dieser politische Bereich ist ja als „Wille und Vorstellung“ begreifbar. Hat die PDS über ihre – politisch umstrittene – Fusion mit der WASG dauerhaft oder jedenfalls auf absehbare Zeit ihren Fuß in die alten Länder gestellt? Verliert sie damit die für sie typische Verankerung in den neuen Ländern? Auf solche Fragen gehen einige der Beiträge ein. Marten Breuer, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam, befasst sich mit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990, der im überraschend schnell verlaufenen Prozess der Wiedervereinigung eine besondere Bedeutung zukam. Sie war nicht nur der demokratische Kreationsakt des gesamtdeutschen Parlaments, sondern hat auch die parteipolitischen Linien der „alten“ Bundesrepublik weiter ausgezogen und damit eine politisch tragfähige Grundlage für das schwierige Zusammenwachsen geschaffen. Allerdings waren Besonderheiten bei dieser Wahl zu berücksichtigen. Probleme bereitete damals vor allem die sachgemäße Anwendung der Sperrklauselregelung. Der Blick zurück in das Jahr 1990 erschien uns daher geboten. Der Autor votiert entschieden für die seinerzeit praktizierte regionalisierte Sperrklausel. In gewisser Weise schließt sich hieran das Thema der Überhangmandate und der sogenannten Drei-Mandats- oder Grundmandats-Regelung an. Beide erweisen sich unter dem Aspekt der Wahlrechtsgleichheit als diskussionswürdig. Sie sind ebenso praktisch-politisch wichtig: Überhangmandate können Mehrheiten sichern, wie das 1994 für die christlich-liberale Regierung galt, drei Direktman2

BVerfGE 27, 240 (246). Vgl. Jan Köhler, Parteien im Wettbewerb. Zu den Wettbewerbschancen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, BadenBaden 2006. 3

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date den Einzug in den Bundestag unter Umgehung der eigentlichen Sperrklausel eröffnen, wie das 1994 bei der PDS der Fall gewesen ist. Diese auch für die Fortentwicklung des Parteienspektrums wichtigen Bestimmungen kommen im Beitrag von Hans Hugo Klein, ehemals Richter des Bundesverfassungsgerichts, zur Sprache. Die Besonderheiten des Parteienspektrums in den neuen und alten Ländern sollen spezifischer erfasst werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede näher herausarbeiten zu können. Nikolaus Werz, Politikwissenschaftler an der Universität Rostock, und Florian Hartleb, Politikwissenschaftler an der Universität Chemnitz, haben diese Aufgabe übernommen. Sie machen aufschlussreiche Spezifika deutlich. So zeigt Nikolaus Werz die vielfältigen Schwierigkeiten der Parteien im Osten des Landes auf. Die demokratischen Parteien haben die hohen Erwartungen vielfach nicht zu erfüllen vermocht. Die PDS4 und die Rechtsaußenparteien schneiden dort deutlich besser als im Westen ab. Die Ursachen für die Erfolge der Linkspartei liegen auf der Hand, die Ursachen für die (weniger starken) Erfolge der rechtsextremistischen Parteien sind wesentlich ein Ausfluss der Transformationsprobleme. Im Vergleich zu den ostdeutschen Ländern ist das Protestmotiv in den westdeutschen weit weniger ausgeprägt. Für Florian Hartleb sind die Koalitionsmuster nach der deutschen Einheit vielfältiger geworden, haben Überraschungserfolge nicht-etablierter Kleinparteien gerade in den Stadtstaaten zugenommen. Die Landtagswahlen werden noch stärker als zuvor auf ihre bundespolitische Funktion hin interpretiert. Die SPD musste dies als Regierungspartei im Bund zwischen 1998 und 2005 schmerzlich erfahren, zum Teil auch die Partei der Grünen. Eckhard Jesse geht der Frage nach, ob die Parteien in der Vergangenheit bei Bundestagswahlen im Wahlkampf Koalitionsaussagen getroffen haben. Das war meistens der Fall. Bis auf die erste Bundestagswahl hatte eine der beiden großen Parteien mit einer kleinen Kraft immer die absolute Mehrheit der Stimmen. Bei der Bundestagswahl 2005 erreichte weder die Union mit der FDP noch die SPD mit den Grünen eine absolute Mehrheit der Mandate. Wenn künftig Dreierbündnisse nötig erscheinen, so stellt sich die Frage, ob die Parteien vor der Wahl eine Koalitionsaussage wagen wollen und sollen. Die Zukunft des Parteiensystems ist ungewisser denn je. Da die Bindung der Wähler an die Parteien zunehmend nachlässt, kommt den Wahlkämpfen eine größere Bedeutung zu. Stimmungen schlagen schneller in Stimmen um. Der Politikwissenschaftler Gerd Strohmeier, Privatdozent an der Universität Passau, arbeitet die Kennzeichen moderner Wahlkämpfe am Bei4 Der Name der Partei (jetzt „Die Linke“) hat sich mehrfach geändert. Der Titel der folgenden Neuerscheinung ist durch den Zusammenschluss mit der WASG bereits überholt. Vgl. Tim Spier/Felix Butzlaff/Matthias Micus/Franz Walter (Hrsg.), Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?, Wiesbaden 2007.

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spiel der letzten drei Bundestagswahlen heraus. Diese sind stark an den Wechselwählern ausgerichtet, weil die Wählerschaft in ihrem Votum flexibler geworden ist. Die Mediatisierung spielt eine immer bedeutendere Rolle. Auch ist die Professionalisierung, Kommerzialisierung und Externalisierung des Wahlkampfmanagements gestiegen. Wer die beiden „Großen Koalitionen“, die es auf Bundesebene von 1966– 1969 gab und seit der letzten Bundestagswahl 2005 wieder gibt, miteinander betrachtet, hat das Problem, dass er eine vergangene mit einer noch andauernden Koalition vergleicht. Der Bonner Historiker Klaus Hildebrand, der in der „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ die Zeit von 1963–1969 bearbeitet hat, zitiert dort zustimmend die Aussage des Journalisten Hermann Rudolph: „Die Große Koalition [1966–69] hat unter den verschiedenen Regierungsbündnissen der Bundesrepublik wohl das merkwürdigste Schicksal gehabt. Zu ihren Lebzeiten weitgehend, ja, in nachgerade spektakulärer Weise verkannt, weil von den an das englische Modell [. . .] geklammerten Kritikern als Sündenfall gegeißelt, ist sie mit ihrem Ende fast vollständig in Vergessenheit geraten.“5 Als ersten Grund für diese Verdrängung nennt Hildebrand die zu hohen Erwartungen, die an die Große Koalition als Retterin in krisenhafter Zeit gestellt wurden, vor allem das höchst ambivalente Verhältnis, das die beiden Parteien, Union und SPD, später ihr gegenüber entwickelten: Bedeutete sie – im Rückblick – für die Union den Beginn des Abschieds von zwanzigjähriger Machtausübung, verblasste sie für die SPD gegenüber dem „neuen Zeitalter“, das diese mit dem Beginn der Kanzlerschaft Willy Brandts heraufgezogen sah. Darüber hinaus sind Große Koalitionen Übergangsphänomene und sollten es bleiben, auch wenn sie ihrerseits das parlamentarische System als Ausweis der Bündnisfähigkeit seiner Akteure durchaus stärken können. Peter März, Direktor der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, betont in seinem umfassenden Beitrag die Leistung der ersten Großen Koalition, die nicht immer zureichend gewürdigt worden sei. Er bringt die unterschiedlichen Ausgangskonstellationen der beiden Großen Koalitionen zum Ausdruck. Ob das jetzige Bündnis ähnlich wegweisende Reformen zustande bringt?6 Und wird die Große Koalition erneut der Ausgangspunkt für den Wandel des Parteiensystems sein? Hans Herbert von Arnim, emeritierter Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, erörtert abschließend ein Thema, das ihm geradezu auf den Leib geschneidert ist und mit dem er weiten Kreisen als scharfer Analytiker des deutschen Parteienwesens bekannt wurde: „Die Parteien in der Kritik“. „Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze ma5 Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969. Mit einem einleitenden Essay von Karl Dietrich Bracher, Wiesbaden 1984, S. 404. 6 Skeptisch urteilt Jürgen Dittberner, Große Koalition – Kleine Schritte. Politische Kultur in Deutschland, Berlin 2006.

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chen“7 lautet ein vielbeachtetes Buch des Autors. „Das System. Die Machenschaften der Macht“ ein anderes, um nur zwei Titel zu nennen. In der Tat gibt es genügend Anzeichen politischer Machtversuchung und Grenzenmissachtung. Aber zugleich wissen wir: Zu Parteien fehlt es im „System“ an einer demokratisch angemessenen Alternative. Das muss auch der schärfste Kritiker konzedieren. Der Sammelband von Historikern, Politikwissenschaftlern und Juristen macht einerseits die Veränderungen im Bereich der Parteien und des Parteienspektrums seit 1990 deutlich. Andererseits wird ein hohes Maß an Kontinuität erkennbar. Demnach ist es keineswegs sicher, ob das Thema „Parteien“ sich als Beleg für die verbreitete These eignet, das vereinigte Deutschland sei ein neues Deutschland geworden.

7 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München 1993; ders., Das System. Die Machenschaften der Macht, München 2004.

Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl 1990 und die Folgen für das Parteiensystem Von Marten Breuer 1. Einleitung Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat im Bundestagswahlkampf 2005 mit seiner Kritik an den Ostdeutschen die Unionsparteien in arge Bedrängnis gebracht. Laut Presseberichten äußerte Stoiber bei einem Wahlkampfauftritt am 4. August 2005 im baden-württembergischen Argenbühl: „Ich akzeptiere nicht, dass erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird.“ Eine Woche später bekräftigte er seine Position mit den Worten: „Ich will nicht, dass noch einmal im Osten die Wahl entschieden wird.“1 Dahinter steht die verbreitete Vorstellung, dass die Wahlen 1998 und 2002 für die CDU/ CSU gerade im Osten verloren worden seien2. Und in der Tat blieb bei beiden Wahlgängen die Unterstützung für die Union im Osten deutlich hinter dem Stimmenanteil im Westen zurück. So verwundert es denn auch nicht, dass die SPD im Jahr 1998 mit dem Werbeslogan „Auf den Osten kommt es an“ in den Wahlkampf zog3. Diese Beobachtungen veranlassen dazu, die erste Wahl, in der „der Osten“ mitzuentscheiden hatte, also die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990, einer genaueren Analyse zu unterziehen und nach ihren möglichen Auswirkungen auf das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland zu fragen. Ich möchte mich dieser Thematik in drei Schritten nähern: Zunächst gilt es, schon aus Gründen des nun doch immerhin gut 16 Jahre betragenden zeitlichen Abstandes, die Vorgeschichte dieser Wahl, also die Ereignisse im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung 1989/90, kurz in das Gedächtnis zurückzurufen. In einem zweiten Schritt möchte ich etwas ausführ-

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Vgl. „Das war ja Stoiber im Bierzelt in Bayern“, in FAZ.NET v. 11. August 2005. Differenzierte Analysen bei Kai Arzheimer/Jürgen W. Falter, „Annäherung durch Wandel“? Das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 1998 in Ost-West-Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52/98, S. 33 ff.; dies., Ist der Osten wirklich rot? Das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 2002 in Ost-West-Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49–50/2002, S. 27 ff. 3 Vgl. Rainer Burger, „Auf den Osten kam es an“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12. August 2005, S. 2. 2

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licher auf die rechtlichen Probleme eingehen, die die erste gesamtdeutsche Wahl aufgeworfen hat. In einem letzten Schritt sollen dann etwaige Folgen dieser Wahl für das deutsche Parteiensystem in den Blick genommen werden. 2. Vorgeschichte der Dezemberwahl 1990 Nachdem im Herbst 1989 die – zumindest aus westlicher Sicht – fest etablierte SED-Herrschaft in der DDR unter den Protesten der Bürgerrechtsbewegung und dem alles übertönenden Ruf „Wir sind das Volk!“ nahezu lautlos in sich zusammengebrochen war, begann eine Phase des Übergangs, in der zunächst nicht ganz klar war, welche Richtung die weitere Entwicklung nehmen würde. Noch in seinem Zehn-Punkte-Plan vom November 1989 sprach Bundeskanzler Helmut Kohl von dem Ziel, „konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln“, um dann auf lange Sicht die deutsche Einheit zu verwirklichen4. Demgegenüber gewann der Prozess in der Folgezeit bekanntlich an Dynamik, die unaufhaltsam auf eine alsbaldige Vereinigung zustrebte. Aus der Parole der Bürgerrechtsbewegung „Wir sind das Volk!“ wurde der Ruf nach der Herstellung staatlicher Einheit Deutschlands: „Wir sind ein Volk!“. Die Bürgerrechtsbewegung der DDR – und diesen Punkt gilt es mit Blick auf die spätere Parteienentwicklung im Hinterkopf zu behalten – stand dieser Forderung skeptisch gegenüber, trat sie doch eher für das Modell eines „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und real existierendem Sozialismus ein5. Im Jahr 1990 wurde die ostdeutsche Bevölkerung dann gleich viermal zu den Wahlurnen gerufen: Zunächst zu den ersten – und einzigen – freien Volkskammerwahlen vom 18. März, sodann zu den Kommunalwahlen vom 6. Mai, den – bereits nach dem Beitritt erfolgten – Landtagswahlen vom 14. Oktober und schließlich, wie erwähnt, zur Bundestagswahl vom 2. Dezember. Bereits die erste dieser Wahlen, also die Volkskammerwahl, brachte ein Ergebnis, mit dem Parteienforscher so nicht gerechnet hatten: Aufgrund der sozialen Struktur der ostdeutschen Bevölkerung sowie durch den vermuteten Einfluss der 40-jährigen sozialistischen Herrschaft war vielfach mit einer Präferenz für eine „linke“ Politik und demgemäß mit einem Erstarken der gerade erst neu gegründeten und folglich unbelasteten (Ost-)SPD gerechnet worden6. Stattdessen wurde die CDU – und damit immerhin eine ehemalige Blockpartei – mit 40,8% der Stimmen

4 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 11. Wahlperiode, Stenographische Berichte, 177. Sitzung vom 28. November 1989, S. 13512 B. 5 Eckhard Jesse, Die institutionellen Rahmenbedingungen der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1990, S. 15 (23). 6 Arzheimer/Falter (Anm. 2), S. 27.

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stärkste Kraft7; die aus CDU, DSU und „Demokratischem Aufbruch“ gebildete „Allianz für Deutschland“ kam zusammen gar auf 48% der Stimmen und stellte in der nachfolgend gebildeten Großen Koalition mit Lothar de Maizière den Ministerpräsidenten. Ein zweites bemerkenswertes Ergebnis der Volkskammerwahlen war das schlechte Abschneiden der Bürgerrechtsbewegung, die doch gerade den Sturz der SED ermöglicht hatten. So erzielte das „Bündnis 90“ lediglich 2,9%, die Ost-Grünen zusammen mit dem „Unabhängigen Frauenverband“ lediglich 2,0% der Stimmen. Ihr Programm einer „neuen DDR“ entsprach nicht dem Wunsch der großen Bevölkerungsmehrheit nach staatlicher Wiedervereinigung8. Dass die Bürgerrechtsbewegung überhaupt in der Volkskammer vertreten war, verdankte sie allein dem Umstand, dass bei dieser Wahl das reine Verhältniswahlrecht ohne 5%-Klausel galt. Noch ein drittes Ergebnis der Volkskammerwahlen erscheint bemerkenswert, nämlich das vergleichsweise gute Abschneiden der SED-Nachfolgepartei PDS mit 16,4% der Stimmen. Die PDS befand sich zu Beginn des Jahres 1990, zunächst noch unter der Firmierung „SED/PDS“, am Rande der Auflösung, bedingt durch Streitigkeiten um die Weiterführung des früheren Ministeriums für Staatssicherheit sowie einen massiven Mitgliederschwund9. Mit der Volkskammerwahl übertraf die PDS klar das von ihr selbst gesteckte Ziel, mehr als zehn Prozent zu erreichen10. Nur nebenbei sei bemerkt, dass der Einzug der PDS in die letzte frei gewählte Volkskammer zur Folge hatte, dass die Partei nach dem 3. Oktober 1990 bereits im 11. Deutschen Bundestag – also vor der ersten gesamtdeutschen Wahl – mit 24 Abgeordneten im Parlament vertreten war, da der Einigungsvertrag11 die Entsendung von 144 Abgeordneten durch die Volkskammer entsprechend ihrer Zusammensetzung vorsah12. Die nächsten Monate waren geprägt von der Aushandlung der drei großen Verträge, mit denen die Wiedervereinigung vollzogen wurde: Dies waren der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion13, der Einigungsvertrag14 und – hier allein von Interesse – der sog. Wahl-

7 Wahlkommission der DDR, Endgültiges Ergebnis der Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990, Berlin 1990. 8 Vgl. (Anm. 5), S. 25. 9 Thomas Ammer, Die Parteien in der DDR und in den neuen Bundesländern, in: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992, S. 421 (446 f.). 10 Günter Olzog/Hans-Joachim Liese, Die politischen Parteien in Deutschland, 25. Aufl., München 1999, S. 212. 11 Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands (EV), BGBl. 1990 II, S. 889. 12 Art. 42 EV. 13 BGBl. 1990 II, S. 537. 14 Vgl. Anm. 11.

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vertrag15. Dass die Bestimmungen für die erste gesamtdeutsche Wahl vertraglich zwischen der Bundesrepublik und der DDR ausgehandelt und nicht durch einseitige Erstreckung des Bundeswahlgesetzes auf das Beitrittsgebiet festgelegt wurden, dürfte mit Rücksichtnahmen der Bundesregierung gegenüber ihrem Verhandlungspartner zu erklären sein16. Rechtlich notwendig war es jedenfalls nicht, denn der damalige § 55 BWahlG bestimmte: „Dieses Gesetz ist in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes in Kraft zu setzen. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens und die Wahlkreiseinteilung werden durch Bundesgesetz bestimmt.“17 Entsprechend war man beim Beitritt des Saarlandes 1956/57 verfahren18, und entsprechend hätte man auch im Zuge der Wiedervereinigung, die ja ebenfalls durch Beitritt nach dem früheren Art. 23 GG und nicht über Art. 146 GG a. F. erfolgte, verfahren können. Der Verweis auf die Möglichkeit einer einseitigen Erstreckung des BWahlG auf das Beitrittsgebiet setzt allerdings einen Gang der Ereignisse voraus, der so von vornherein keineswegs feststand, nämlich dass die ersten gesamtdeutschen Wahlen nach dem Beitritt der DDR zum Bundesgebiet durchgeführt wurden. Theoretisch denkbar erschien hingegen auch, dass die ersten gesamtdeutschen Wahlen noch vor dem Beitritt getrennt in Ost und West nach einem gleichen Wahlrecht durchgeführt würden und das so gewählte Legislativorgan sich erst mit dem Beitritt vereinigte. Wenn uns diese Variante in der Rückschau vielleicht abwegig erscheint – der Freiburger Staatsrechtler Rainer Wahl nannte sie eine „Zumutung gleichermaßen an den gesunden Menschenverstand wie auch an die Staatsrechtswissenschaft“19 –, so darf doch nicht vergessen werden, dass im Sommer 1990 über diese Frage heftig gestritten wurde, und zwar auch und vor allem unter dem Gesichtspunkt parteipolitischer Opportunitätserwägungen. So plädierten die Bundestagsfraktionen von SPD und F.D.P. für ein Vorgehen nach der Maxime „gemeinsames Wahlgebiet, gemeinsames Wahlrecht und Wahlen nach Beitritt“. Die CDU/CSU-Fraktion hingegen favorisierte zunächst ein Modell getrennter Wahlgebiete in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR20. Entscheidende Bedeutung kam dabei der Anwendung der 5%-Klausel zu. Hierzu muss man sich vor Augen führen, dass die Parteien in Ost und West höchst unterschiedliche Ausgangslagen vorfanden. Die Parteien und politischen 15 Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages, BGBl. 1990 II, S. 822. 16 Michael Brenner, Die Entwicklung des Wahlrechts und der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit im wiedervereinigten Deutschland, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 537 (553). 17 BGBl. 1956 I S. 1011. 18 § 14 des Gesetzes über die Eingliederung des Saarlandes, BGBl. 1956 I S. 1011. 19 Rainer Wahl, Das Wahlrecht in der Sondersituation der deutschen Einigung, in: Neue Juristische Wochenschrift 1990, S. 2585 (2587). 20 Vgl. BT-Drs. 11/7652 (neu), S. 4.

Bundestagswahl 1990 und die Folgen für das Parteiensystem

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Vereinigungen in der DDR waren personell und organisatorisch den West-Parteien klar unterlegen. Teilweise erst aus dem Wendeherbst 1989 hervorgegangen, waren sie nicht in Westdeutschland vertreten. Wäre es somit zu einer gesamtdeutschen Bundestagswahl nach dem Beitritt unter einheitlicher Anwendung der 5%-Klausel gekommen, wären gerade diejenigen politischen Gruppierungen ausgegrenzt worden, die den Sturz der SED-Diktatur herbeigeführt hatten – ein Umstand, auf den Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble Anfang Juli 1990 ausdrücklich hinwies21. Allgemein wurde angenommen, dass eine ostdeutsche Partei, um auf bundesweit 5% der Zweitstimmen zu kommen, in der DDR einen Stimmenanteil von 23,75% erzielen musste. Im Unterschied dazu bedurfte eine West-Partei, bezogen auf das Gebiet der alten Bundesrepublik, lediglich 6% der Stimmen, um mit Blick auf Gesamtdeutschland die 5%-Hürde zu überwinden22. Wenn sich die CDU/CSU vor diesem Hintergrund für getrennte Wahlen vor dem Beitritt unter jeweiliger Geltung der 5%-Klausel aussprach, so wurde ihr von der SPD hierbei ein zweifaches Kalkül unterstellt23: Zum einen würde es auf diese Weise der PDS ermöglicht, in das Parlament einzuziehen und eine Alternative zur SPD im linken Parteienspektrum zu etablieren. Auf Gesamtdeutschland bezogen hatte die PDS keinerlei Aussichten, die 5%-Hürde zu überwinden, bei einer Wahl vor dem Beitritt war hingegen mit ihrem Einzug in das Parlament zu rechnen. Ein zweites Kalkül, das der Union von Seiten der SPD unterstellt wurde, war die Absicherung der mit Unterstützung der CSU im Osten etablierten DSU. Bei den Volkskammerwahlen hatte diese Partei 6,3% der Stimmen errungen, so dass für die gesamtdeutschen Wahlen die Überwindung einer 5%-Hürde nur im Osten jedenfalls möglich erschien. Wie noch zu zeigen sein wird, spielte die DSU für die letztendlich gefundene Ausgestaltung des Wahlvertrages in der Tat eine entscheidende Rolle. Auf ostdeutscher Seite sprach sich die SPD ebenso wie im Westen für Wahlen nach dem Beitritt unter einheitlicher Anwendung der 5%-Klausel aus; dies war im Übrigen die Linie, auf die sich die Große Koalition der DDR Anfang Juli 1990 geeinigt hatte24. Dies hinderte die Ost-CDU indes nicht, ihrerseits für getrennte Wahlen vor dem Beitritt zu plädieren25. Bei den Verhandlungen über den Wahlvertrag wurden noch verschiedene andere Modelle diskutiert26, wie z. B. die Anwendung der 5%-Klausel auf Ebene der einzelnen Länder – nach diesem Modell war man bei der ersten Bundestagswahl 1949 verfahren – oder die Absenkung einer bundesweiten Sperrklausel auf 4% oder 3%. Durchgesetzt 21

Archiv der Gegenwart vom 24. Juli 1990, S. 34732. BVerfGE 82, 322 (340); siehe auch BT-Drs. 11/7652 (neu), S. 5. 23 Vgl. BT-Drs. 11/7652 (neu), S. 5. 24 Archiv der Gegenwart vom 24. Juli 1990, S. 34732. 25 Ebd. 26 Siehe auch Rainer Wahl, Das Wahlrecht in der Sondersituation der deutschen Einigung, in: Neue Juristische Wochenschrift 1990, S. 2585 (2558 f.). 22

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hat sich letztlich eine Variante, durch die es den Parteien ermöglicht würde, allein zum Zweck der Überwindung der 5%-Hürde sog. Listenverbindungen einzugehen27. Allerdings war die Möglichkeit hierzu stark dadurch eingeschränkt, dass nur solche Parteien eine Listenverbindung eingehen konnten, die – abgesehen von Berlin – in keinem Land miteinander konkurrierten28. Dahinter stand erkennbar die Vorstellung, dass eine starke Westpartei einer Ostpartei, die andernfalls an der Sperrklausel gescheitert wäre, über die 5%-Hürde hinweghelfen sollte – weshalb man auch vom sog. Huckepackverfahren sprach. Da jedoch im Laufe des Jahres 1990 CDU, SPD und F.D.P. (West) mit ihren ostdeutschen Schwesterparteien fusioniert waren, blieben nur wenige politische Gruppierungen übrig, die überhaupt von dieser Regelung profitieren konnten: Dies waren einerseits die Ost-Grünen oder das Bündnis 90, die jedoch jede Verbindung mit den Grünen (West) aus später zu erläuternden Gründen ablehnten und – eben die DSU. Von Seiten einiger F.D.P.-Politiker wurde denn auch offen ausgesprochen, dass diese Regelung es der DSU ermöglichen sollte, mit Hilfe der CSU in den Deutschen Bundestag einzuziehen29. Im Unterschied zu dem Modell zweier getrennter Wahlgebiete konnte diese Variante nicht der PDS zugute kommen, da diese keinen entsprechenden West-Partner aufzuweisen hatte; die DKP war jedenfalls für das „Huckepackverfahren“ zu schwach. 3. Rechtliche Probleme der ersten gesamtdeutschen Wahl a) Kernaussagen des Urteils Damit sind die Voraussetzungen für den zweiten, juristischen Teil geschaffen, denn die Frage der 5%-Klausel war in rechtlicher Hinsicht die umstrittenste der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl. Wie nicht anders zu erwarten, hat erst eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu einer endgültigen Klärung geführt. Angerufen wurde das Verfassungsgericht von zwei Grünen-Politikern aus Hamburg und von den Parteien der Republikaner, der (West-)Grünen sowie der PDS. Bevor die Entscheidungsgründe im Einzelnen dargelegt werden, sollen die sich aus den Leitsätzen ergebenden Kernaussagen des Urteils hier kurz thesenartig vorangestellt werden:

27 Das Wahlrecht kannte bis dahin nur die sog. „einparteiige“ Listenverbindung (§ 7 Abs. 1 BWahlG). 28 Diese Voraussetzung bestand bis dahin nur für die Fraktionsbildung, vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 GO-BT. Gegenwärtig haben die Streitigkeiten zwischen der PDS und der WASG in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zur Folge, dass am Fraktionsstatus der Linkspartei gezweifelt wird, vgl. „Fraktionsstatus der Linkspartei unter Beschuss“, in: Financial Times Deutschland vom 26. Februar 2006. 29 Karlheinz Merkel, Der Wahlvertrag für die ersten gesamtdeutschen Wahlen ist grundgesetzwidrig, in: Juristische Rundschau 1990, S. 489 (491) m.w. N.

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(1) „Die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl kann nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden. Bei ihrem Erlass sind die Verhältnisse des Landes, für das sie gelten soll, zu berücksichtigen.“ „Die erste gesamtdeutsche Wahl des Deutschen Bundestages findet unter besonderen Umständen statt, die eine unveränderte Aufrechterhaltung der herkömmlichen, wahlgebietsbezogenen Sperrklausel von 5 v. H. nicht erlauben.“30 (2) „Findet der Wahlgesetzgeber besondere Umstände vor, die ein Quorum von 5 v. H. unzulässig werden lassen, so muss er ihnen Rechnung tragen. Dabei steht es ihm grundsätzlich frei, auf eine Sperrklausel zu verzichten, deren Höhe herabzusetzen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Hält er es für ratsam, an einer Sperrklausel von 5 v. H. festzuhalten, aber ihre Auswirkungen zu mildern, so muss das Mittel, zu dem er sich entschließt, um die gebotene Milderung zu bewirken, seinerseits mit der Verfassung vereinbar sein, insbesondere den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien genügen.“ „Ein Wahlgesetz, das es Parteien ermöglicht, ihre Landeslisten zu verbinden, um als bloße Zählgemeinschaft die 5 v. H.-Klausel zu überwinden (Listenverbindung), gewichtet [. . .] den Erfolg von Wählerstimmen ohne zwingenden Grund ungleich und verstößt daher gegen den Grundsatz der Wahl- und Chancengleichheit.“31 (3) „Unter den besonderen Bedingungen dieser Wahl ist eine Sperrklausel verfassungsrechtlich unbedenklich, die nicht auf das gesamte Wahlgebiet bezogen ist sondern Parteien am Verhältnisausgleich teilnehmen lässt, wenn sie entweder im bisherigen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) oder im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich Berlin (Ost) 5 v. H. der für ihre Landeslisten abgegebenen Stimmen erreichen.“32 Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts entfaltet sich somit in drei Schritten: Die bundeseinheitliche Geltung der 5%-Klausel wird für die ersten gesamtdeutschen Wahlen für verfassungswidrig erklärt; die im Wahlvertrag vorgesehene Abmilderung der Sperrklausel durch die Ermöglichung von Listenverbindungen wird gleichermaßen verworfen; stattdessen erklärt das Bundesverfassungsgericht eine für die Wahlgebiete Ost und West getrennte Anwendung der 5%-Klausel für verfassungsgemäß.

30 31 32

BVerfGE 82, 322, LS 2a und 4a. BVerfGE 82, 322, LS 2b und 3. BVerfGE 82, 322, LS 4b.

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b) Bundeseinheitliche Sperrklausel Konzentrieren wir uns zunächst auf die erste Frage der generellen Zulässigkeit einer 5%-Klausel vor dem Hintergrund der Wahlen von 1990. Die 5%Sperrklausel (§ 6 Abs. 6 BWahlG) bildet seit langem einen zentralen Streitpunkt in der wahl- wie verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur33. Durch die Sperrklausel wird in den Schutzbereich des gleichen Wahlrechts, niedergelegt in Art. 38 Abs. 1, 4. Alt. GG, eingegriffen, denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfordert die Gleichheit der Wahl bei Anwendung eines Verhältniswahlsystems nicht nur Zählwert-, sondern auch Erfolgswertgleichheit34. Da nach dem in der Bundesrepublik geltenden System der personalisierten Verhältniswahl durch die Anwendung der 5%-Klausel ein Teil der Zweitstimmen unberücksichtigt bleibt, liegt ein Eingriff vor. Das Bundesverfassungsgericht hält derartige Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit jedoch in einer langen Rechtsprechungstradition für verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn „zwingende Gründe“ vorliegen35. Die Terminologie ist insoweit nicht ganz einheitlich, teilweise spricht das Gericht auch von „besonderen, zwingenden Gründen“36, ohne dass dabei im Ergebnis eine Differenz erkennbar würde. Der Grund für dieses streng formale Verständnis der Wahlrechtsgleichheit liegt im Demokratieprinzip: „Die durch das Grundgesetz errichtete demokratische Ordnung gewichtet [. . .] im Bereich der Wahlen die Stimmen aller Staatsbürger unbeschadet der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede gleich. Daher ist eine Differenzierung des Zählwertes und grundsätzlich auch – bei der Verhältniswahl – des Erfolgswertes der Wählerstimmen ausgeschlossen“ – so das Bundesverfassungsgericht in der hier analysierten Entscheidung37. Allerdings fragt es sich, warum eine Differenzierung des Erfolgswertes nur grundsätzlich und nicht ganz generell ausgeschlossen sein soll. In Art. 38 GG jedenfalls ist von einer Einschränkungsmöglichkeit aus „zwingenden Gründen“ nichts zu lesen. Zunächst könnte man auf den Gedanken kommen, den Grund für die Einschränkbarkeit der Wahlrechtsgrundsätze in Art. 38 Abs. 3 GG zu suchen. Dort heißt es: „Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz“. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, der bis 1956 für Wahlprüfungsbeschwerden zuständig 33 Vgl. statt vieler Michael Wild, Die Gleichheit der Wahl. Dogmengeschichtliche und systematische Darstellung, Berlin 2003, S. 222 ff. m.w. N. 34 BVerfGE 1, 208, LS 9. 35 St. Rspr. seit BVerfGE 1, 208 (249). Das Bundesverfassungsgericht entlehnte diesen Terminus der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, vgl. Marten Breuer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an das Wahlrecht der Auslandsdeutschen, Berlin 2001, S. 92 f. m.w. N. 36 BVerfGE 51, 222 (233). 37 BVerfGE 82, 322 (337).

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war – heute liegt die Zuständigkeit hierfür beim Zweiten Senat –, hat sich in einer Entscheidung aus dem 3. Band einmal auf Art. 38 Abs. 3 GG bezogen38, allerdings ohne dass gänzlich klar geworden wäre, welchen Stellenwert er dieser Vorschrift für die Frage der Einschränkbarkeit der Wahlrechtsgleichheit beimaß39. Im Gegensatz dazu hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof die entsprechende Vorschrift der Bayerischen Verfassung dahingehend ausgelegt, dass der Gesetzgeber hierdurch befugt sei, „mit einfacher Mehrheit ergänzende Bestimmungen zu erlassen, vorausgesetzt, dass sie sich im Rahmen der Rechtssätze und Grundgedanken der ermächtigenden Verfassungsnorm und der Gesamtverfassung halten“40. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof sah in dem Satz „Das Nähere bestimmt ein Gesetz“ mit anderen Worten keinen Gesetzesvorbehalt, der zu einer Einschränkung der verfassungsrechtlich verbürgten Rechtspositionen ermächtigen würde, sondern einen reinen Ausgestaltungsvorbehalt; dieser hat sich im Rahmen der Verfassung zu halten und kann selbst keine Rechtfertigung für Einschränkungen verfassungsrechtlicher Positionen abgeben41. Diese Lesart ist für Art. 38 Abs. 3 GG heute auch ganz herrschende Literaturmeinung42, so dass diese Vorschrift zur verfassungsrechtlichen Abstützung der „zwingenden Gründe“ ausscheidet. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, der wie erwähnt seit 1956 für die wahlrechtliche Judikatur maßgebend ist, hat demgegenüber eine andere dogmatische Konstruktion bemüht. Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit wurde von ihm zunächst als ein „Anwendungsfall“ des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG verstanden. In einer – so Hans Meyer – „verblüffend unlogischen“43 Argumentation beschrieb der Zweite Senat das Verhältnis von Wahlrechtsgleichheit und allgemeinem Gleichheitssatz indes nicht nach dem Verhältnis von lex specialis und lex generalis, sondern formulierte: „Damit ist aber die regulative und letzthin übergeordnete Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes auch für die Wahlrechtsgleichheit nicht völlig aufgehoben. Nur diese Überordnung macht es verständlich, dass die Wahlrechtsgleichheit trotz ihrer unter dem Verhältniswahlsystem ,radikalen‘ Formalisierung unter ge-

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BVerfGE 3, 19 (24). Vgl. Michael Sachs, in: Klaus Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, München 1994, S. 420. 40 BayVerfGH 2, 181 (207), Hervorhebung im Original. 41 Vgl. BVerfGE 48, 127 (163); 69, 1 (23) zur insoweit parallelen Problematik des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG. 42 Vgl. statt vieler Breuer (Anm. 35), S. 154 m.w. N. 43 Hans Meyer, Wahlgrundsätze, Wahlverfahren, Wahlprüfung, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 3, 3. Aufl., Heidelberg 2005, § 46 Rn. 33; siehe auch ders., Wahlsystem und Verfassungsordnung. Bedeutung und Grenzen wahlsystematischer Gestaltung nach dem Grundgesetz, Frankfurt a. M. 1973, S. 148: „juristisches Paradoxon“. 39

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wissen Voraussetzungen überhaupt durchbrochen werden darf“44. Anders gewendet, maß der Zweite Senat Art. 3 Abs. 1 GG derogative Wirkung gegenüber Art. 38 Abs. 1 GG bei. Die Unhaltbarkeit dieser vielfach kritisierten Rechtsprechung hat der Zweite Senat mittlerweile erkannt und in seinem Beschluss vom 16. Juli 1998 die These von der regulativen und letztlich übergeordneten Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes ausdrücklich fallen gelassen45. Damit aber kommen wir zu folgendem Befund: Die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG sind nach ihrem Wortlaut46 vorbehaltlos gewährleistet47. Eine Einschränkung derartiger Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte48 ist nach der allgemeinen Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts nur durch verfassungsimmanente Schranken möglich, d.h. nur dann, wenn das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht mit dem Grundrecht eines Dritten oder sonstigen Rechtsgütern von Verfassungsrang kollidiert49. Nach der berühmten Formel von Konrad Hesse sind derartige Kollisionslagen nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz aufzulösen50. In meiner Dissertation habe ich mich dafür ausgesprochen, die „zwingenden Gründe“ im Sinne derart verfassungsimmanenter Schranken zu verstehen und dabei den Zielen und Funktionen der Wahl den Status eines sonstigen Rechtsguts von Verfassungsrang beizumessen51. Ich halte dies auch heute noch für die einzige dogmatisch befriedigende Konstruktion. Wir werden sehen, dass sich hieraus auch Argumente für die Richtigkeit der Verfassungsgerichtsentscheidung zur gespaltenen Anwendung der 5%-Klausel in Ost und West herleiten lassen. 44

BVerfGE 4, 375 (382); bestätigt in E 13, 243 (247). BVerfGE 99, 1 (9). 46 Es besteht auch kein ungeschriebener Gesetzesvorbehalt, vgl. Nicolai Nahrgang, Der Grundsatz allgemeiner Wahl gem. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG als Prinzip staatsbürgerlicher Egalität, Berlin 2003, S. 154 ff. 47 Breuer (Anm. 35), S. 159; Nahrgang (Anm. 46), S. 156. 48 Für die Wahlrechtsgrundsätze ist umstritten, ob es sich insoweit um Grundrechte oder um grundrechtsgleiche Rechte handelt vgl. Wolfgang Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl., Köln u. a. 2002, Einführung Rn. 18 m.w. N. 49 BVerfGE 28, 243 (261); 84, 212 (228); 94, 268 (284). Dass diese Rechtsprechung für die Freiheitsrechte entwickelt wurde, steht einer Übertragung auf die speziellen Gleichheitssätze von Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl nicht entgegen, vgl. Nahrgang (Anm. 46), S. 158 f. 50 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl., Heidelberg 1999, Rn. 72. 51 Breuer (Anm. 35), S. 156 ff.; dem folgend Nicolai Nahrgang (Anm. 46), S. 156 ff. Beide Arbeiten haben zwar den Grundsatz des allgemeinen Wahlrechts zum Gegenstand, dieser stellt jedoch nur einen Sonderfall der Wahlrechtsgleichheit dar vgl. Breuer (Anm. 35), S. 88 f. In Monographien, die speziell die Wahlrechtsgleichheit zum Gegenstand haben, wird diese Konstruktion nicht fruchtbar gemacht, sondern vielmehr mit dem Gedanken der Systemgerechtigkeit argumentiert. Vgl. Winfried Bausback, Verfassungsrechtliche Grenzen des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 177 ff.; Wild (Anm. 33), S. 202 ff. 45

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Zunächst aber gilt es, die Verfassungsmäßigkeit einer einheitlichen Anwendung der 5%-Klausel bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen anhand des so gewonnenen Maßstabes zu beurteilen. Dabei möchte ich nicht in eine vertiefte Diskussion über die prinzipielle Zulässigkeit der Sperrklausel eintreten. Das Bundesverfassungsgericht bejaht diese bekanntlich mit dem Argument, dass auf diese Weise die Funktionsfähigkeit des Parlaments sichergestellt werden könne52. Mit der von mir vorgenommenen Zuordnung der „zwingenden Gründe“ zu den verfassungsimmanenten Schranken steht dies jedenfalls vom Grundsatz her insoweit in Einklang, als die Funktionen der Wahl nach meinem Modell als verfassungsimmanente Schranken anzuerkennen sind und eines der Wahlziele in der Hervorbringung eines funktionsfähigen Parlaments besteht53. Dass diese Begründung angesichts der besonderen Umstände54 der ersten gesamtdeutschen Wahlen nicht tragen konnte, wird deutlich, wenn man sich die faktischen Auswirkungen vor Augen führt, die eine einheitlich angewendete 5%-Klausel gehabt hätte: Wie zuvor erwähnt, hätte die Sperrklausel für eine politische Gruppierung im Osten nahezu die fünffache Wirkung gehabt, indem diese faktisch 23,75% der Zweitstimmen hätte erringen müssen, um die Sperrklausel zu überwinden, während eine reine Westpartei hierzu lediglich 6% der Stimmen bedurft hätte55. Dieser Umstand war nun aber, wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht betont, von den politischen Parteien und Vereinigungen in der DDR nicht zu verantworten und ihnen auch nicht aus sonstigen Gründen zuzurechnen56. Er hatte seine Ursache vielmehr allein in dem Einigungsprozess. Vor diesen höchst disparaten faktischen Auswirkungen der 5%-Klausel in Ost und West durfte der Bundesgesetzgeber, wie das Verfassungsgericht zutreffend entschied, nicht die Augen verschließen. Eine einheitliche Anwendung der Sperrklausel kam daher bei den Dezemberwahlen 1990 nicht in Betracht. c) Zulässigkeit von Listenverbindungen Auch über die Frage der (Un-)Zulässigkeit von Listenverbindungen, wie sie der Wahlvertrag als Ausgleich für die Härten der einheitlichen 5%-Klausel vorsah, kann in meinen Augen nicht ernsthaft gestritten werden. Dabei soll gar 52 BVerfGE 1, 208 (247 f.); 4, 31 (40); 6, 84 (92, 93 f.); 51, 222 (236); 82, 322 (338). 53 Zu den unterschiedlichen Wahlzielen vgl. auch Nahrgang (Anm. 46), S. 33 ff., hier S. 37 f. 54 Das Bundesverfassungsgericht hat auch in anderem Zusammenhang die Einmaligkeit des Vereinigungsprozesses bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt, vgl. Eckart Klein, Deutsche Einigung und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Verfassungsrecht im Wandel. Zum 180-jährigen Bestehen der Carl Heymanns Verlag KG, Köln u. a. 1995, S. 91 (92 ff.). 55 Anm. 22. 56 BVerfGE 82, 322 (341).

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nicht vorrangig auf die Tatsache abgestellt werden, dass es sich hierbei augenscheinlich um eine „lex DSU“ handelte. Eine solche Regelung wäre verfassungsrechtlich gleichwohl nicht zu beanstanden gewesen, wenn die DSU zwar den Anlass zu ihr gegeben hätte, alle andere Parteien dabei aber gleich behandelt worden wären. Dass dem nicht so war, wird bereits deutlich, wenn man sich das Bild des „Huckepacknehmens“ vor Augen führt: Hiernach stand es im freien Belieben der großen Parteien, sich denjenigen Partner auszuwählen, dem über die 5%-Hürde hinweggeholfen werden sollte. Nun ist es verfassungsrechtlich den Parteien keineswegs untersagt, sich zur Verbesserung ihrer Wahlchancen zusammenzuschließen. Problematisch war die Lösung der Listenverbindung aber dadurch, dass sie als reine Zählgemeinschaft ausgestaltet war, die allein mit dem Ziel der gemeinsamen Überwindung der 5%-Hürde eingegangen wurde. Im Gegensatz zur Listenvereinigung, die das Wahlrecht der DDR kannte, erforderte sie keine verfestigte Form des Zusammenwirkens. Indem es aber im reinen Belieben der großen Parteien stand, wen sie als „parlamentsfähig“ ansahen und wen nicht, wurde, wie Rainer Wahl zutreffend ausgeführt hat, der grundsätzliche Zusammenhang, der bei dem Grundakt der Wahl gegeben sein muss, in sein Gegenteil verkehrt: Das Volk, nicht der wahlrechtsgestaltende Gesetzgeber, hat zu bestimmen, wer gewählt wird und wer ins Parlament einzieht.57 Daneben führte das Huckepackverfahren auch deshalb zu verfassungswidrigen Zuständen, weil es, wie vorhin ausgeführt, nur sehr wenigen Parteien überhaupt zugute kommen konnte und andere Parteien hierdurch von vornherein ausgegrenzt wurden. Und drittens war das Modell der Listenverbindung verfassungsrechtlich unhaltbar, weil es zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung bei der Erfolgswertgleichheit führte: Wer seine Stimme einer Partei gab, die eine Listenverbindung mit einer anderen Partei eingegangen war, wählte hierdurch automatisch diese zweite Partei mit, obwohl er dieser seine Stimme überhaupt nicht gegeben hatte. „Eine derart unterschiedliche Gewichtung der Wählerstimmen“, so das Bundesverfassungsgericht, „widerspricht dem Grundsatz der formalen Wahlrechtsgleichheit in so grundlegender Weise, dass schon von daher kein rechtfertigender Grund für die damit einhergehende Chancenungleichheit der Parteien in Betracht kommt.“58 4. Regionalisierte Sperrklausel Damit komme ich zu dem vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß beurteilten Modell einer gespaltenen Anwendung der 5%-Klausel in Ost 57 Rainer Wahl, Das Wahlrecht in der Sondersituation der deutschen Einigung, in: Neue Juristische Wochenschrift 1990, S. 2585 (2592). 58 BVerfGE 82, 322 (346).

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und West59. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach der klaren Aussage des Bundesverfassungsgerichts auch ein gänzlicher Verzicht auf jegliche Sperrklausel bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl in Betracht gekommen wäre. Hingegen hätte eine bloße Absenkung der Sperrklausel nicht ausgereicht, um die verfassungsrechtlichen Einwände auszuräumen, da sich hierdurch an der Relation der unterschiedlichen Betroffenheit zwischen Ost- und Westparteien nichts geändert hätte. Da sich der Gesetzgeber aber an dem vom Verfassungsgericht vorgeschlagenen Modell einer regionalisierten Sperrklausel orientiert hat, soll diese hier im Vordergrund stehen. Das Bundesverfassungsgericht hielt eine derartige Regelung für verfassungsrechtlich unbedenklich, weil mit ihr die Ungleichheit, die sich aus den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Parteien in Ost und West ergab, „nicht Ausgangspunkt für eine den Erfolgswert der Wählerstimmen unterschiedlich gewichtende Regelung“ würde; sie – die Ungleichheit – „würde auf diese Weise nicht auf die rechtliche Ebene gehoben und damit rechtlich sanktioniert. Statt dessen würden den Parteien hier wie dort – bezogen auf ihren ungleichen Start – im wesentlichen nicht ungleiche, sondern gerade gleiche Chancen eingeräumt und dementsprechend auch die gleiche Unterstützung durch die Wähler abverlangt.“60 Dieser Punkt in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vermag meines Erachtens nicht zu überzeugen. Wenn ein einheitliches Wahlvolk zu den ersten gesamtdeutschen Wahlen aufgerufen war und nicht zwei Wahlvölker vor dem Beitritt der DDR zu entscheiden hatten, dann führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass durch eine regionalisierte Sperrklausel ungleiche Bedingungen in Ost und West geschaffen wurden. Die Frage ist aber, ob diese ungleiche Ausgestaltung Wahlrechts gerechtfertigt werden konnte. Und hierfür komme ich auf mein Modell der zwingenden Gründe als verfassungsimmanente Schranken zurück. Ich war davon ausgegangen, dass die Funktionen und Ziele der Wahl als sonstige Gründe von Verfassungsrang anzuerkennen seien, durch die auch die textlich vorbehaltlos gewährleisteten Wahlrechtsgrundsätze eine Einschränkung erfahren können. Die 5%-Klausel war im Grundsatz als durch das Wahlziel der Bildung eines funktionsfähigen Parlaments gerechtfertigt angesehen worden. Unter den besonderen Bedingungen der Wiedervereinigung geriet dieses Wahlziel jedoch mit einer anderen Funktion der Wahl in Widerstreit, nämlich der der Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvor-

59 Nicht eingegangen wird im Folgenden auf die Situation in Bremen, wo eine für die Wahlbereiche Bremen und Bremerhaven getrennte Sperrklausel existiert (Art. 75 Abs. 3 brem. Verfassung). Der Staatsgerichtshof hält sie in st. Rspr. für zulässig, allerdings mit unterschiedlichen Begründungen (vgl. BremStGHE 1, 205 [212 ff.]: Gliederung des Landes Bremen in zwei Stadtgemeinden; 4, 111 [122 ff.]: 5 Prozent-Quorum entspricht dem sog. natürlichen Quorum; lediglich bestätigend: E 5, 94 [99]; 6, 253 [269]). 60 BVerfGE 82, 322 (349).

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gangs bei der politischen Willensbildung des Volkes61. Wäre die 5%-Klausel einheitlich angewandt worden, so wurde erwartet, dass bis zu 30% des Parteienspektrums der DDR unberücksichtigt bleiben würden.62 Es wäre aber verfassungspolitisch für den Einigungsprozess in hohem Maße belastend gewesen, wenn ein Drittel der Beitrittsbevölkerung sich in dem neuen politischen System nicht repräsentiert gefunden hätte. Insoweit trägt der Gedanke, den das Bundesverfassungsgericht Jahre später in seinem Urteil zur Grundmandatsklausel formuliert hat: „Das Ziel der Verhältniswahl, den politischen Willen der Wählerschaft in der zu wählenden Körperschaft möglichst wirklichkeitsnah abzubilden, kann dazu führen, dass im Parlament viele kleine Gruppen vertreten sind und hierdurch die Bildung einer stabilen Mehrheit erschwert oder verhindert wird. Soweit es zur Sicherung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments geboten ist, darf der Gesetzgeber deshalb bei der Verhältniswahl den Erfolgswert der Stimmen durch eine Sperrklauselregelung unterschiedlich gewichten. Dabei muss der Gesetzgeber jedoch auch die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration politischer Kräfte sicherstellen und zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volke von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben.“63 Die getrennte Anwendung der 5%-Klausel in Ost und West war somit dadurch gerechtfertigt, dass das Wahlziel der Bildung eines funktionsfähigen Parlaments angesichts der unterschiedlichen Startbedingungen der Parteien mit der Integrationsfunktion der Wahl kollidierte und beide Ziele in einen verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden mussten64. Neben der 5%-Klausel gab es bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl noch weitere rechtliche Streitpunkte, die sich jedoch nicht nachhaltig auf 61 Zu diesem Wahlziel vgl. Nahrgang (Fn. 46), S. 36 f. Zum staatstheoretischen Begriff der Integration vgl. Rudolf Smend, Integration, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 482 (483 ff.). 62 BT-Drs. 11/7652 (neu), S. 5. 63 BVerfGE 93, 408 (419). Anders jedoch die Verwendung des Integrationsarguments in BVerfGE 6, 84 (92 f.): „Der Gesetzgeber darf Differenzierungen in dem Erfolgswert der Stimmen bei der Verhältniswahl vornehmen und demgemäß die politischen Parteien unterschiedlich behandeln, soweit dies zur Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes, im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit der Parlamentswahl verfolgten staatspolitischen Ziele unbedingt erforderlich ist [. . .]. Zu diesen zulässigen Sicherungen gehören die Sperrklauseln, die Parteien benachteiligen, die einen bestimmten Hundertsatz der Gesamtstimmenzahl nicht erreicht haben.“ Integrationsfunktion und Bildung eines funktionsfähigen Parlaments erscheinen hier nicht als Gegensatzpaar, sondern der Integrationsgedanke wird gerade zur Begründung der Sperrklausel herangezogen, krit. insoweit Hans Meyer (Anm. 43), § 46 Rn. 39 mit Anm. 145; zustimmend jedoch Hans H. Klein, Das Problem der Überhangmandate und der Drei-Mandats-Regelung, in diesem Band; siehe auch Wild (Anm. 33), S. 224 f. 64 Kritisch jedoch – mit unterschiedlicher Begründung – Brenner (Anm. 16), S. 577 ff.; Jesse (Anm. 5), S. 34 ff.

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das Wahlergebnis ausgewirkt haben und die ich daher hier nur kurz erwähnen möchte: Dies war zum einen die Frage, ob neben den Parteien im Sinne des Parteiengesetzes auch politische Vereinigungen zur Wahl zuzulassen seien – das Bundesverfassungsgericht hat sie angesichts der besonderen Umstände der ersten gesamtdeutschen Wahl bejaht65 –, zum anderen das Problem der Beibringung von Unterstützungsunterschriften von im Bundestag und in der Volkskammer nicht vertretenen Gruppierungen; hier hat das Bundesverfassungsgericht im Wege einer einstweiligen Anordnung bestimmt, dass in den Landtagen vertretene Parteien oder gleichgestellte politische Vereinigungen von der Beibringungspflicht befreit sind66. 5. Folgen für das Parteiensystem Damit wollen wir uns abschließend der Frage nach den möglichen Folgen der Wahl vom Dezember 1990 für das deutsche Parteiensystem zuwenden. In diesem Punkte werde ich mir eine gewisse Zurückhaltung auferlegen müssen, denn die Frage ist ihrer Natur nach eher eine politikwissenschaftliche denn eine juristische und insoweit, das muss ich aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit vorausschicken, fehlt es mir an der Expertise. Eine Auswirkung lässt sich allerdings mit einiger Sicherheit ausmachen, und das ist die beschleunigte Angleichung des Parteienspektrums in Ost und West. Wie ich bereits an anderer Stelle erwähnt habe, vollzogen die Westparteien von CDU, SPD und den Liberalen in der zweiten Jahreshälfte 1990 die Fusion mit ihren ostdeutschen Schwesterparteien. Der unmittelbare Zusammenhang mit der Dezemberwahl erscheint mir hier offensichtlich67. Freilich ist zu bedenken, dass die Westparteien schon vor dem formellen Zusammenschluss massiven Einfluss im Osten genommen hatten, etwa im Vorfeld der Volkskammerwahlen vom Frühjahr 199068. Die Wahlen vom Dezember dürften den Prozess der formellen Parteivereinigung somit beschleunigt haben, sollten aber nicht als die einzige Ursache hierzu gelten. Keine formelle Fusion vollzogen die West-Grünen vor der Bundestagswahl mit den alternativ-bürgerbewegten politischen Gruppierungen im Osten. Hierfür gab es mehrere Ursachen. Auf Seiten der West-Grünen war zu bedenken, dass eine frühzeitige Parteivereinigung deren Forderung nach einem verfassunggebenden Prozess mit abschließender Volksabstimmung über das Grundgesetz 65

Vgl. BVerfGE 82, 322 LS 4c und 349 ff. Vgl. BVerfGE 82, 353 ff. 67 Siehe auch Oskar Niedermayer/Richard Stöss, DDR-Regimewandel, Bürgerorientierung und die Entwicklung des gesamtdeutschen Parteiensystems, in: dies. (Hrsg.), Parteien und Wähler im Umbruch, Opladen 1994, S. 11 ff. 68 Vgl. nur Jesse (Anm. 5), S. 24. 66

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hätte unglaubwürdig erscheinen lassen. Im Osten hingegen bestanden Befürchtungen vor einer Dominanz der West-Grünen und eine Verwicklung in die dortigen Lagerkämpfe. Erschwerend kam hinzu, dass es für die West-Grünen zwei Ansprechpartner im Osten mit divergierenden Interessen gab, nämlich die OstGrünen einerseits und die unter der Bezeichnung „Bündnis 90“ zusammengeschlossenen Bürgerrechtsbewegungen andererseits. Gerade diese Bürgerrechtsbewegungen befürchteten aber, sich bei einem Zusammengehen mit den Grünen in Ost und West nicht ausreichend profilieren zu können. Infolgedessen wurde der formelle Zusammenschluss auf die Zeit nach der Bundestagswahl 1990 verschoben69. Die beschriebene Dreieckskonstellation zwischen den Grünen (West), den Ost-Grünen und dem Bündnis 90 erwies sich in mehrfacher Hinsicht als folgenreich. Zunächst hatten sich die Gruppierungen auf die Bedingungen einzustellen, die der Wahlvertrag in seiner ursprünglichen Fassung vorsah, d.h. auf die Möglichkeit der Bildung von Listenverbindungen. Da eine Listenverbindung zwischen miteinander konkurrierenden Gruppierungen nach dem Wahlvertrag aber ausgeschlossen war, hätte dies an sich bedeutet, dass sich die West-Grünen zwischen einer Kooperation mit den Ost-Grünen oder aber dem Bündnis 90 hätten entscheiden müssen. Erst unter dem Druck der wahlrechtlichen Bestimmungen kam im August 1990 ein Kompromiss dahingehend zustande, dass die OstGrünen und das Bündnis 90 sich zu einem Wahlbündnis zusammenschließen sollten, um sodann mit den Grünen (West) eine Listenverbindung eingehen zu können. Nachdem aber das Bundesverfassungsgericht die einheitliche Geltung der 5%-Klausel und die Möglichkeit von Listenverbindungen für verfassungswidrig erklärt hatte, entfiel der Zwang, ein Wahlbündnis einzugehen. Auf Veranlassung der ostdeutschen Bürgerbewegung kam es daher nicht zu einem Zusammengehen mit den Grünen im Westen, sondern lediglich mit den Ost-Grünen70. Diese Entscheidung sollte fatale Folgen für die alternative Bewegung haben: Denn anders als erwartet, schaffte zwar das ostdeutsche Wahlbündnis den Sprung über die 5%-Hürde, die West-Grünen scheiterten hieran jedoch mit 4,8 Prozent. Bei einem Zusammengehen von Ost und West hätte sich ein Stimmenanteil von 5,1 Prozent ergeben71. Die Grünen wurden damit in gewisser Weise das Opfer ihres eigenen Erfolgs in Karlsruhe. Besonders schwierig zu beurteilen ist die Frage, welche Auswirkungen das Wahlrecht zum 12. Deutschen Bundestag auf die spätere Entwicklung der PDS gehabt hat, denn die Frage, ob es der PDS gelungen wäre, sich nach einem 69 Vgl. Jürgen Hoffmann, Die doppelte Vereinigung. Vorgeschichte, Verlauf und Auswirkungen des Zusammenschlusses von Grünen und Bündnis 90, Opladen 1998, S. 154 f. 70 Vgl. ebd., S. 163 ff. 71 Vgl. Jesse (Anm. 5), S. 33 f.

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Scheitern an der 5%-Hürde im Jahr 1990 später auf bundespolitischer Ebene zu etablieren, ist im Wesentlichen eine hypothetische. Allerdings lassen sich meines Erachtens einige Faktoren ausmachen, die einen derartigen Verlauf zumindest als plausibel erscheinen lassen. Bei Oskar Niedermayer lesen wir: „Die im Rahmen der Wende in der ehemaligen DDR und des Wiedervereinigungsprozesses geschaffenen gesetzlichen Rahmenbedingungen haben der PDS das Überstehen dieses Prozesses nicht erschwert, sondern eher erleichtert.“ Dabei identifiziert Niedermayer die „getrennte Anwendung der Sperrklausel 1990“ als einen der Faktoren, die der PDS „den Einzug in den Bundestag“ gesichert haben.72 Nun wäre es sicherlich naiv, wollte man dem Wahlerfolg der PDS Ende 1990 jegliche Auswirkungen auf ihre spätere Entwicklung absprechen. Der Einzug mit 17 Abgeordneten in den Deutschen Bundestag hat der Partei eine bundespolitische Plattform geschaffen, zudem profitierte sie von der Wahlkampfkostenerstattung73. Es erscheint mir jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine monokausale Betrachtung in dem Sinne, dass nur und erst die Anwendung der regionalisierten Sperrklausel der PDS das politische Überleben gesichert habe, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit an der Wirklichkeit vorbeigeht74. Dies wird im Übrigen auch von Niedermayer so nicht behauptet. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass sich die PDS seit den Volkskammerwahlen vom Frühjahr 1990 zunächst in einem stetigen Abwärtstrend befand. Konnte sie bei den Volkskammerwahlen noch 16,4 Prozent der Stimmen erringen, sank ihr Stimmenanteil bei den Kommunalwahlen vom Mai auf 14,0 Prozent. Bei den Landtagswahlen im Oktober 1990 betrug ihr Stimmenanteil nur noch 11,6 Prozent und bei der Bundestagswahl im Dezember, bezogen auf das Wahlgebiet Ost, 11,1 Prozent75. Dieser Abwärtstrend ließ die Parteienforscher zunächst davon ausgehen, dass die PDS „unwiderruflich zum Niedergang verurteilt“ sei, so Patrick Moreau in seiner Monographie von 199276. 72 Oskar Niedermayer, Die Stellung der PDS im ostdeutschen Parteiensystem, in: Peter Barker (Hrsg.), The Party of Democratic Socialism in Germany: modern postcommunism or nostalgic populism?, Amsterdam 1998, S. 28 f. 73 Da es sich bei der Wahlkampfkostenerstattung um „Neuvermögen“ handelte, konnte die Partei hierüber frei verfügen, vgl. Ammer (Anm. 9), S. 429 f. Anders hingegen beim sog. „Altvermögen“: vgl. BT-Drs. 13/11353, S. 150 f. 74 In diese Richtung aber Ph. Kunig, Die Parteien und ihr Vermögen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 9, Heidelberg 1997, § 216 Rn. 16. 75 Neugebauer/Stöss, Nach der Bundestagswahl 1998: Die PDS in stabiler Seitenlage?, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 1998, Opladen 1999, S. 119. 76 Patrick Moreau, PDS. Anatomie einer postkommunistischen Partei, Bonn u. a. 1992, S. 142–144.

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Bemerkenswert erscheint sodann, dass die PDS trotz ihrer ständigen Präsenz in Volkskammer, Bundestag und den fünf ostdeutschen Landesparlamenten noch bis Ende 1991 „mehr oder weniger kontinuierlich an Resonanz bei der Bevölkerung verlor“77. Sie konnte also aus ihrer Präsenz keinen politischen Nutzen ziehen. Erst ab Januar 1992 setzte ein Aufwärtstrend ein, der bei den Bundestagswahlen im Jahr 1994 der Partei ein bundesweites Ergebnis von 4,4 Prozent der Stimmen und dank der vier gewonnenen Direktmandate den abermaligen Einzug in den Bundestag ermöglichte. Von daher erscheint mir wesentlich plausibler, wenn Geoffrey K. Roberts zwei externe Faktoren ausmacht, die der PDS den Wiederaufstieg ermöglichten: einerseits das Ausbleiben der „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl dem Osten prophezeit hatte, und andererseits die Unfähigkeit der SPD, sich in den neuen Ländern als eine Alternative zur Regierungskoalition in Bonn zu präsentieren78. Auch sei hier noch einmal daran erinnert, dass die PDS schon vor der Dezemberwahl 1990 für zwei Monate im Deutschen Bundestag vertreten war, da der Einigungsvertrag ihren Einzug in das Parlament nach dem 3. Oktober vorsah. Und selbst ohne die regionalisierte Sperrklausel wäre die PDS nach dem 2. Dezember 1990 zumindest mit einem Abgeordneten im Parlament vertreten gewesen, da Gregor Gysi ein Direktmandat in Berlin erringen konnte. Der getrennten Anwendung der 5%-Klausel in Ost und West wird man daher, wie zuvor ausgeführt, nicht jegliche Auswirkung auf die spätere Entwicklung der Parteienlandschaft absprechen können, dass der Einfluss signifikant gewesen wäre, erscheint mir dagegen – bei aller gebotenen Zurückhaltung – eher zweifelhaft. Doch selbst wenn man in dieser Frage zu einer anderen Einschätzung gelangen sollte, würde dies an der Richtigkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nichts ändern. Die 5%-Klausel ist kein geeignetes Instrument, um politisch unliebsame Parteien vom Parlament fern zu halten. Das Grundgesetz stellt mit dem Parteiverbotsverfahren lediglich eine äußerste Grenze zur Bekämpfung verfassungsfeindlicher Parteien auf. Das Verbot durch das Bundesverfassungsgericht hat jedoch gem. Art. 21 Abs. 2 GG konstitutiven Charakter. Wegen der hiermit angeordneten Sperrwirkung ist jede staatliche Bekämpfung einer politischen Partei verboten, solange das Bundesverfassungsgericht sie nicht durch Urteil für verfassungswidrig erklärt und aufgelöst hat79. Die Partei kann zwar politisch bekämpft werden, sie soll aber in ihrer politischen Aktivität von jeder Behinderung frei sein. Das Grundgesetz nimmt die Gefahr, die in der Tätigkeit der Partei bis zur Feststellung ihrer Verfassungswidrigkeit besteht, um 77

Gerd Neugebauer/Richard Stöss (Anm. 75), S. 119. Geoffrey K. Roberts, Party Politics in the New Germany, London 1997, S. 148 f. Weiterführend Michael Gerth, Die PDS und die ostdeutsche Gesellschaft im Transformationsprozess. Wahlerfolge und politisch-kulturelle Kontinuitäten, Hamburg 2003, S. 27 ff. 79 BVerfGE 111, 382 (410). 78

Bundestagswahl 1990 und die Folgen für das Parteiensystem

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der politischen Freiheit willen in Kauf80. Da nie versucht worden ist, ein Parteiverbotsverfahren gegen die PDS durchzuführen81, bedeutet dies, dass die etablierten Parteien von Verfassungs wegen darauf beschränkt waren, sich politisch mit der PDS auseinander zu setzen. Die 5%-Klausel, ich sage es nochmals, war hierfür nicht das geeignete Instrument. Andere Parteien konnten bei der Wahl vom Dezember 1990 von der regionalisierten Sperrklausel nicht profitieren, insbesondere scheiterten die Republikaner, die ja ebenfalls in Karlsruhe geklagt hatten, klar an der 5%-Hürde. Die DSU kam im Wahlgebiet Ost auf einen Stimmenanteil von 1,4 Prozent und hat bundespolitisch nie Bedeutung erlangt. So ist es trotz regionalisierter Sperrklausel nicht zu „Weimarer Verhältnissen“ gekommen. Insoweit darf ich noch einmal Oskar Niedermayer zitieren: „[I]n Bezug auf die Fragmentierung ist die Bundesrepublik nicht mit Weimar zu vergleichen. Dort hatten wir es mit einem extrem fragmentierten Parteiensystem zu tun, das erst in der Endphase 1932/33 mit dem zunehmenden Erfolg der Nationalsozialisten einen rapiden Konzentrationsprozess durchmachte. Selbst 1933 jedoch war das Parteiensystem noch deutlich zersplitterter als heute. Die Veränderungen haben somit auch nach der Vereinigung nicht zu einer Parteiensystemtransformation geführt. Der von manchen befürchtete Übergang vom moderaten zum polarisierten Pluralismus hat nicht stattgefunden, die Grundstruktur des deutschen Parteiensystems ist nach wie vor erhalten geblieben.“82 6. Schlussbetrachtung Die vorstehenden Ausführungen haben ergeben, dass die besonderen Bedingungen, unter denen die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl stattfand, einen geringeren Einfluss auf das Parteiensystem gehabt haben, als man bei einem flüchtigen Blick vielleicht annehmen möchte. Wichtiger als der Ausgang der Wahl war die veränderte Zusammensetzung des Wahlvolks. Unter der Geltung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts ist es aber eine verfassungsrechtliche Absurdität zu fordern, die Wahlen dürften nicht „im Osten“ entschieden werden, wie dies Ministerpräsident Stoiber getan hat. Die Wahlen werden ebenso sehr im Osten entschieden wie im Westen, im Norden oder im Süden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, eine regionalisierte Sperrklausel für Ost und West zuzulassen, hat sich im Ergebnis als richtig erwiesen, weil nur so sichergestellt werden konnte, dass an die neu hinzugekommene Wahlbe80

BVerfGE 107, 399 (362). Kunig (Anm. 74), § 216 Rn. 13. 82 Oskar Niedermayer, Der Trend zum fluiden Fünfparteiensystem, in: Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, 2. Aufl., Bonn 1997, S. 107 (110). 81

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völkerung ein ernstzunehmendes Integrationsangebot gemacht wurde. Wie dieses Angebot von ihr letztlich genutzt wurde, ist aus rechtlicher Sicht nicht zu kommentieren, sondern souveräne Entscheidung des Verfassungsorgans Staatsvolk. Die Bedeutung der Bundestagswahl vom Dezember 1990 liegt danach weniger in ihren Auswirkungen auf das Parteienspektrum als vielmehr in ihrer staatspolitischen Tragweite83, erhielt doch der Vereinigungsprozess hierdurch nachträglich seine unmittelbar-demokratische Legitimation.

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Vgl. BVerfGE 82, 353 (369): „herausgehobene staatspolitische Bedeutung“.

Überhangmandate und Grundmandatsklausel im Bundestagswahlrecht Von Hans Hugo Klein 1. Überhangmandate a) Überhangmandate und ihre praktische Bedeutung Überhangmandate entstehen in einem Wahlsystem, das die Verhältniswahl mit der Mehrheitswahl verbindet1. Ein solches – kurz und weniger präzise als personalisierte Verhältniswahl bezeichnetes – Wahlsystem liegt den Wahlen zum Deutschen Bundestag von Beginn an zugrunde. Einerseits wählen in den 299 Wahlkreisen, in die das Bundesgebiet eingeteilt ist, die Wähler mit ihrer ersten Stimme (vgl. § 4 BWahlG) je ein Mitglied des Bundestages nach den Regeln der relativen Mehrheitswahl. Gewählt ist also derjenige Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt (§ 5 S. 2 BWahlG). Die andere Hälfte der Abgeordneten wird nach den Regeln der Verhältniswahl gewählt. Für die Verteilung dieser Mandate auf die von den Parteien eingereichten Landeslisten (§ 27 Abs. 1 S. 1 BWahlG) ist das Verhältnis der auf sie entfallenden Zweitstimmen maßgeblich. Es ist eine politische Entscheidung, ob das Verhältnis zwischen in Wahlkreisen und über die Liste gewählten Abgeordneten wie im geltenden Wahlgesetz hälftig oder anders bestimmt wird. Beließe man es dabei, dass ein Teil der Abgeordneten in Einerwahlkreisen nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl, der andere Teil in übergreifenden Großwahlkreisen (z. B. in den Ländern) oder in einem einheitlichen Bundeswahlkreis nach dem Proportionalsystem über Listen gewählt wird, stünden die Wahlergebnisse in beiden Sektoren streng getrennt nebeneinander. Es läge gleichsam ein tiefer Graben zwischen ihnen, weshalb man von einem „Grabensystem“ spricht2. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen über ein neues Bundeswahlgesetz wurde in der 2. Wahlperiode des Bundestages über die Einführung eines solchen Grabensystems streitig verhandelt3. Es war vor allem die FDP – sie gehörte mit CDU/CSU und DP der damaligen Regierungskoalition 1

Vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 BWahlG. Vgl. Karl-Heinz Seifert, Bundeswahlrecht, 3. Aufl., 1976, S. 12. 3 Ebd., S. 21; siehe auch Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, Düsseldorf 1985, S. 103 ff. 2

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an –, die sich am Ende mit Erfolg gegen dieses Wahlsystem zur Wehr setzte. Aus der Sicht einer kleinen Partei war diese Haltung konsequent. Ohne Chance, einen Wahlkreis zu gewinnen, sähe sie sich auf den ihrer Stimmenzahl entsprechenden Anteil an Listenmandaten verwiesen, an denen die großen Parteien indes ihrem Anteil entsprechend gleicherweise partizipierten4. Um das neue Bundeswahlgesetz auf eine möglichst breite Basis zu stellen, blieb es wie schon bei den beiden ersten Bundestagswahlen 1949 und 1953 bei der Anrechnung der Wahlkreis- auf die Listenmandate. Denn das ist nun – Einzelheiten des nicht unkomplizierten Berechnungsverfahrens seien beiseite gelassen – der eigentliche „Witz“ jener Verbindung von Personenwahl nach den Grundsätzen der (relativen) Mehrheitswahl mit der Verhältniswahl, die das Bundeswahlgesetz vorsieht: Nachdem – unter Nichtberücksichtigung derjenigen Parteien, die im Wahlgebiet nicht wenigstens 5 v. H. der Zweitstimmen erhalten oder drei Wahlkreise gewonnen haben, – die Gesamtzahl der zu vergebenden 598 Sitze im Verhältnis der Summen der Zweitstimmen auf die einzelnen Listen verteilt worden sind (§§ 6, 7 BWahlG), wird von der für jede Landesliste ermittelten Abgeordnetenzahl die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des betreffenden Landes errungenen Wahlkreismandate abgerechnet (§ 6 Abs. 4 S. 1 BWahlG). Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt, wobei Bewerber, die in einem Wahlkreis gewählt wurden, unberücksichtigt bleiben (§ 6 Abs. 4 S. 2 und 3 BWahlG). Dadurch wird prinzipiell, unbeschadet der vorgeschalteten Personenwahl, eine Sitzverteilung erreicht, die dem Verhältnis der von einer Partei in einem Land erzielten Zweitstimmen entspricht. Nun kann es aber geschehen, dass eine Partei in einem Land in den Wahlkreisen mehr Mandate erringt, als ihr nach der Zahl der auf sie entfallenen Zweitstimmen zustehen. Diese sog. Überhangmandate verbleiben der Partei, wodurch sich die Gesamtzahl der Abgeordneten entsprechend erhöht (§ 6 Abs. 5 BWahlG). Überhangmandate sind also den Parteien außerhalb des Proporzes zugeteilte Mandate5. Gemessen am Proporz hat die Partei, die Überhangman-

4 Erränge eine Partei 10 v. H. der (Zweit-)Stimmen, aber kein Direktmandat, läge ihr Anteil an Mandaten (bei hälftiger Aufteilung der nach dem jeweiligen Wahlsystem zu vergebenden Sitze) bei 5 v. H. – Die politischen Auswirkungen des Grabensystems hängen erheblich davon ab, ob der Wähler über eine oder zwei Stimmen verfügt. Hat der Wähler nur eine Stimme (wie es bei der Bundestagswahl von 1949 der Fall war), müssen alle Parteien auch Wahlkreiskandidaten aufstellen, um keine Stimme zu verschenken. Wahlkreisaussparungsabkommen – Parteien verzichten zugunsten eines potentiellen Koalitionspartners auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten – wären dann nicht sinnvoll. Dazu: Jesse (Anm. 3), S. 167. 5 Ob es sich dabei um Direkt- oder Listenmandate handelt, ist streitig; dazu: einerseits Peter Badura, Anmerkung, in, Juristenzeitung 1997, S. 681 ff. (683), andererseits Hans Meyer, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl., Heidelberg u. a. 2005, § 46 Rdnr. 45.

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date erringt, also einen Vorteil: sie erhält mehr Mandate, als ihr nach dem Ergebnis der Zweitstimmenauszählung an sich zustünden. Der Bundesgesetzgeber hat sich – im Unterschied etwa zu dem in Niedersachsen geltenden Wahlrecht – nicht veranlasst gesehen, den Nachteil auszugleichen, der den anderen Parteien dadurch entsteht. Das niedersächsische Landeswahlgesetz sieht demgegenüber vor, dass sich die Mindestzahl der Abgeordnetensitze, die auf 155 festgelegt ist (§ 1 Abs. 1 LWahlG), um die doppelte Zahl der Überhangmandate (das Gesetz nennt sie „Mehrsitze“) erhöht und dass diese Zusatzmandate (bei vier Überhangmandaten also weitere vier) nach den Regeln des Proporzes verteilt werden (Ausgleichsmandate): § 33 Abs. 7 LWahlG6. Überhangmandate sind bisher in 12 von 16 Bundestagswahlen in unterschiedlichem Umfang angefallen7. 1961 waren es fünf, 1990 sechs, 1994 sechzehn, 1998 dreizehn, 2002 fünf und 2005 sechzehn (neun für die SPD, sieben für die CDU) Mandate. Sie entfielen mit einer Ausnahme – 1953 erhielt die DP ein Überhangmandat in Hamburg – ausschließlich auf CDU und SPD. Infolge der Überhangmandate der CDU (die SPD gewann ihrerseits vier) erzielte die Koalition von CDU/CSU und FDP 1994 eine Mehrheit von 341 Sitzen gegenüber 331 Mandaten von SPD, GRÜNEN und PDS; ohne die Überhangmandate hätte die Mehrheit nur bei 329 gegen 327 Sitzen gelegen. Im Jahr 1998 hätte die rotgrüne Koalition ohne Überhangmandate über 332 von 656 Sitze verfügt, drei mehr als die absolute Mehrheit, dank der dreizehn Überhangmandate der SPD fiel ihr Vorsprung gegenüber den 327 Sitzen der Oppositionsparteien jedoch merklich klarer aus. 2002 entfielen vier Überhangmandate auf die SPD, eines auf die CDU; die Überhangmandate nicht gerechnet, hätte die Mehrheit von Rot-Grün zwei Sitze mehr betragen als zur absoluten Mehrheit erforderlich, vermöge der Überhangmandate waren es am Ende vier8. Es gibt unterschiedliche Ursachen für die Entstehung von Überhangmandaten: die Verrechnung der Wahlkreismandate nicht auf Bundes-, sondern auf Landesebene (§ 7 Abs. 3 i.V. m. § 6 Abs. 4 BWahlG), deutlich voneinander abweichende Wahlkreisgrößen, eine unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung und ein überdurchschnittlicher Anteil von ungültigen Stimmen in einem Land, knappe Wahlkreismehrheiten einer Partei in einem Land, vielfaches Stimmensplitting sowie Wahlabsprachen über ein systematisches Zusammengehen mehrerer Par6 Weitere Nachweise bei Wolfgang Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag, 7. Aufl., Köln u. a. 2002, § 6 Rdnr. 12; BVerfGE 95, 335 (339 f.). 7 Siehe die Angaben im Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949–1999 (bearb. von Peter Schindler), Baden-Baden 1999, Band I, S. 287 f.; Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1994–2003 (bearb. von Michael F. Feldkamp), Berlin 2005, S. 60 ff. 8 Ohne Überhangmandate wären SPD und CDU/CSU mit je 247 Mandaten gleich stark gewesen, mit Überhangmandaten war die SPD-Fraktion um drei Abgeordnete stärker. Der Beinahe-Gleichstand führte zu einem Streit um die Besetzung des Vermittlungsausschusses – siehe BVerfGE 112, 118.

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teien in den Wahlkreisen9. Daraus erhellt, dass es nur zum Teil in der Hand des Gesetzgebers liegt, die Entstehung von Überhangmandaten zu vermeiden, solange er am gegenwärtigen Wahlrecht festhält. Es verwundert darum nicht, dass die in der 13. Wahlperiode des Bundestages erfolgte Neueinteilung der Wahlkreise10 die Entstehung von Überhangmandaten nicht verhindert hat11. b) Die verfassungsrechtliche Problematik Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Überhangmandaten ist auch nach der Entscheidung des BVerfG vom 10. April 199712 umstritten geblieben13. Die 9 Vgl. Badura (Anm. 5), S. 683 f.; Hans-Jörg Bücking, Der Streit um Grundmandatsklausel und Überhangmandate, in: E. Jesse/K. Löw, (Hrsg.), Wahlen in Deutschland, Berlin 1998, S. 141 ff. (195); Wolfgang Schreiber, in: H.-P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, Berlin u. a. 1989, § 12 Rdnr. 93; ders. (Anm. 6), § 6 Rdnr. 13; Michael Wild, Die Gleichheit der Wahl, Berlin 2003, S. 246; s. a. BVerfGE 95, 335 (345 ff.). 10 16. Gesetz zur Änderung des BWahlG vom 4. Mai 2001, BGBl I S. 701. 11 Vgl. etwa: David N. Rauber, Überhangmandate – keine Überraschung (mehr), in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 34 (2003), S. 116 ff.; Joachim Behnke/Ruth Kamm/ Thomas Sommerer, Der Effekt der Neueinteilung der Wahlkreise auf die Entstehung von Überhangmandaten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 34 (2003), S. 122 ff. 12 BVerfGE 95, 335. 13 Aus der älteren Literatur vgl. etwa: Hans Meyer, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II (2. Aufl. Heidelberg u. a. 1998), § 38 Rdnrn. 31 ff.; Jochen A. Frowein, Bundesverfassungsgericht und Wahlrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts 99 (1977), S. 72 ff. (94). – Nach der Entscheidung des BVerfG haben sich ablehnend u. a. geäußert: Norbert Achterberg/Martin Schulte, in: H. v. Mangoldt/F. Klein/C. Starck, GG. Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., Band 2, München 2000, Art. 38 Rdnr. 142; Martin Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band II, Tübingen 1998, Art. 38 Rdnr. 187; Hans-Heinrich Trute, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Band II, 5. Aufl., München 2001, Art. 38 Rdnr. 61; Gerald Roth, in: D.C. Umbach/T. Clemens (Hrsg.), Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar, Band II, Heidelberg 2002, Art. 38 Rdnrn. 98 ff.; Meyer (Anm. 5), § 46 Rdnrn. 45 ff.; Bücking (Anm. 9), S. 180 ff., bes. S. 198 ff.; Ralph Backhaus, Neue Wege zum Verständnis der Wahlrechtsgleichheit?, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1997, S. 737 ff.; Hans-Peter Schneider, in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, 2002, Art. 38 Rdnrn. 57, 68; Ernst Gottfried Mahrenholz, Über den Satz vom zwingenden Grund, in: G. Pfeiffer u. a. (Hrsg.), Der verfasste Rechtsstaat. Festgabe für Karin Graßhof, Heidelberg 1998, S. 69 ff. (76 ff.). – Zustimmend dagegen: Badura (Anm. 5), in: Juristenzeitung 1997, S. 681 ff.; Winfried Bausback, Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 26. Februar 1998, in: BayVBl 1998, S. 657 ff.; Gerald Kretschmer, in: B. Schmidt-Bleibtreu/F. Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl., München 2004, Art. 38 Rdnr. 56; Wolfgang Löwer, Aktuelle wahlrechtliche Verfassungsfragen, Bonn 1996, S. 86 ff.; Ute Mager/Robert Uerpmann, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1995, S. 273 ff.; Siegfried Magiera, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl., München 2003, Art. 38 Rdnr. 95; Hans-Jürgen Papier, Überhangmandate und Verfassungsrecht, in: Juristenzeitung 1996, S. 265 ff.; Walter Pauly, Das Wahlrecht in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, in: Archiv des öffentlichen Rechts 123 (1998), S. 232 ff. (262 ff.); Thomas Poschmann, Wahlgleichheit und Zweitstimmensystem, in: BayVBl 1995, S. 299 ff.

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Bedenken wurzeln im Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit, dem das BVerfG in ständiger Rechtsprechung einen hohen Rang zuerkennt, weil, so heißt es in einer frühen Entscheidung14, die „Gleichbewertung aller Aktivbürger bei der Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte . . . zu den wesentlichen Grundlagen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes“ gehört und „Allgemeinheit und Gleichheit (scil.: der Wahl) die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger“ sichern15. Aus diesen Gründen hat das Gericht auch immer darauf bestanden, dass der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit „im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen“ sei16. Dabei hat das BVerfG der Wahlrechtsgleichheit immer eine wahlsystemspezifische Bedeutung zugemessen. In jedem Fall müsse die Stimme jedes Wählers den gleichen Zählwert haben, denn es dürften die Wähler nicht aus in ihrer Person liegenden Gründen einen verschieden starken Einfluss auf das Wahlergebnis haben. In Ansehung der Mehrheitswahl bewende es auch dabei, weil es nach diesem System einen gleichen Erfolgswert nicht geben könne: die für die erfolglos gebliebenen Kandidaten abgegebenen Stimmen fielen allemal unter den Tisch. Anders bei der Verhältniswahl: hier müsse jede Stimme nicht nur den gleichen Zählwert sondern auch den gleichen Erfolgswert haben17. Während das Gericht Differenzierungen beim Zählwert der Stimmen stets strikt ausgeschlossen hat, sind Differenzierungen beim Erfolgswert – in gewissem Umfang – zugelassen worden18. Es träten sich hier zwei Prinzipien gegenüber, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stünden: Einerseits solle es ein Parlament geben, das fähig sei, eine Regierung zu bilden und sachliche gesetzgeberische Arbeit zu leisten, andererseits werde aber mit der Verhältniswahl das Ziel verfolgt, den Anteil der Parteien an den zu vergebenden Parlamentssitzen in möglichst genaue Übereinstimmung zu bringen mit dem Stimmenanteil der verschiedenen politischen Richtungen im Land19. Entscheide sich der Gesetzgeber für das System der Verhältniswahl, und sei es auch nur zusätzlich zur Mehrheitswahl, so akzeptiere er diese „Gerechtigkeitsforderung“ und stelle sein Gesetz unter dieses Maß20. Die staatspolitische Gefahr des (vom System der Verhältniswahl begünstigten) Aufkommens kleiner Parteien und einer entspre(300 ff.); Waldemar Schreckenberger, Zum Streit über die Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 26 (1995), S. 678 ff.; Christian Starck, Die Vergrößerung der Mehrheit durch Überhangmandate, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. November 1995, S. 11. 14 BVerfGE 11, 351 (360). 15 BVerfGE 98, 1 (13). 16 Etwa: BVerfGE 51, 222 (234); 78, 350 (357 f.); 82, 322 (337); 85, 264 (315). 17 So im Anschluss an den Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich (RGZ 128, Anhang S. 8) BVerfGE 1, 208 (244 ff.). 18 Zuletzt BVerfGE 95, 408 (417 f.); 99, 1 (9). 19 BVerfGE 1, 208 (247 f.). 20 Ebd.

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chenden Fraktionierung des Parlaments rechtfertige eine differenzierende Behandlung der Parteien bei der Sitzverteilung im System der Verhältniswahl. Die dadurch bewirkte Durchbrechung der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen und (zugleich) der Chancengleichheit der Parteien21 bedürfe zu ihrer Rechtfertigung freilich eines „zwingenden Grundes“22. Der Satz vom zwingenden Grund23 „verlangt allerdings nicht, dass sich die Differenzierungen von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen, wie dies etwa in Fällen der Kollision der Wahlrechtsgleichheit mit den übrigen Wahlrechtsgrundsätzen der Fall sein kann . . . Es werden auch Gründe zugelassen, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann . . . Dabei ist es nicht erforderlich, dass die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen gebietet . . . In diesem Zusammenhang rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht Differenzierungen auch durch „zureichende“, „aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe“ . . . Hierzu zählt insbesondere die Verwirklichung der mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele . . .; dazu gehören die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes . . . und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung . . .“24. Differenzierende Regelungen müssen nach dieser Rechtsprechung zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein, ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich u. a. nach der Intensität des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit25. Dabei wird dem Gesetzgeber ein gewisser Ermessensspielraum eingeräumt: Das BVerfG kann einen Verstoß gegen die Wahlgleichheit nur feststellen, wenn die zu prüfende Regelung andere Ziele verfolgt als die bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zulässigen und wenn sie zur Verfolgung eines zulässigen Ziels nicht geeignet oder erforderlich ist26. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs hat das BVerfG Unterschriftenquoren als Voraussetzung für eine Kandidatur (vgl. §§ 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1, 27 Abs. 1 S. 2 BWahlG)27, Sperrklauseln28, die Grundmandatsklausel29 und eben auch Überhangmandate30 als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen. 21

Vgl. BVerfGE 95, 335 (354) mit weiteren Nachweisen. Etwa: BVerfGE 1, 208 (248 f.); 28, 225 (228); 82, 322 (338); 95, 335 (353, 376 – hier mit weit. Nachw., 386 f.); 95, 408 (418, 421). 23 Vgl. Mahrenholz (Anm. 13). 24 BVerfGE 95, 408 (418). 25 Ebd., siehe auch BVerfGE 95, 335 (376 f.). 26 BVerfGE 95, 408 (420) mit weiteren Nachweisen. 27 BVerfGE 12, 10 (27); 12, 132 (134); 12, 135 (137); 71, 81 (96 ff.); 82, 353 (364). 28 BVerfGE 95, 335 (366); 95, 408 (419 f.) – jeweils mit Rückverweisungen auf die ältere Rechtsprechung. Siehe auch BVerfGE 82, 322 (338), zu Besonderheiten bei der ersten gesamtdeutschen Wahl. 29 BVerfGE 95, 408. 22

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Die an dieser Rechtsprechung im Schrifttum geübte Kritik ist nicht einhellig, aber weit verbreitet. Sie bezweifelt die Zulässigkeit oder zumindest die Höhe der Sperrklausel (§ 6 Abs. 6 BWahlG)31, die der Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 6 BWahlG) und mit besonderem Nachdruck der Überhangmandate, vor allem dann, wenn sie in größerer Zahl anfallen. In dem vom Lande Niedersachsen nach der Bundestagswahl 1994 geführten Normenkontrollverfahren wurde vor allem geltend gemacht32, die Zulassung von Überhangmandaten ohne Kompensation führe zu erheblichen Differenzierungen des Erfolgswerts. Da das geltende Wahlrecht als Verhältniswahl und nicht etwa als ein Mischwahlsystem zu qualifizieren sei, sei die strikte Erfolgswertgleichheit aller Wählerstimmen zu gewährleisten. Abweichungen von der Gleichheit des Erfolgswerts seien nur zum Schutz – hier nicht ersichtlicher – fundamentaler Verfassungswerte zulässig. In den Wahlkreisen angefallene Mandate müssten zwar erhalten bleiben, es gebe aber verschiedene Kompensationsmöglichkeiten33, so ließe sich etwa durch Ausgleichsmandate der Proporz wiederherstellen. Die Kontroverse um die Vereinbarkeit des geltenden Wahlrechts mit dem Grundgesetz hat tiefer liegende Gründe. Die Kritik34 stellt nämlich die Befug30

BVerfGE 7, 63 (74 f.); 16, 130 (140); 79, 169 (172); 95, 335. Vgl. u. a.: Michael Antoni, Grundgesetz und Sperrklausel. 30 Jahre 5%-Quorum – Lehre aus Weimar?, In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 11 (1980), S. 93 ff.; Ernst Becht, Die 5%-Klausel im Wahlrecht, Stuttgart u. a.1990; Michael Brenner, Die Entwicklung des Wahlrechts und der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit im wiedervereinigten Deutschland, in: Archiv des öffentlichen Rechts 116 (1991), S. 537 ff. (580 ff.); Werner Frotscher, Die parteienstaatliche Demokratie – Krisenzeichen und Zukunftsperspektiven, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1985, S. 917 ff. (926 ff.); Meyer (Anm. 5), § 46 Rdnrn. 36 ff.; Edzard Schmidt-Jortzig, Parteienrechtsordnung im Wandel, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1983, S. 777 ff.; Trute (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 58; Achterberg/Schulte (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 138. – Für die Zulässigkeit der Klausel haben dagegen votiert: Peter Badura, in: R. Dolzer u. a. (Hrsg.), Bonner Kommentar, Anhang zu Art. 38 Rdnr. 69; Magiera (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 94; Theodor Maunz, in: ders./G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 38 Rdnr. 50; Bodo Pieroth, in: H. D. Jarass/B. Pieroth, GG. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 7. Aufl., 2004, Art. 38 Rdnr. 19; Schreiber, Handbuch (Anm. 6), § 1 Rdnr. 23b; ders., in: K. H. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 38 Rdnr. 88 unter Nr. 2; Seifert (Anm. 2), Art. 38 Rdnr. 25; Hans-Peter Schneider, in: W. Hoffmann-Riem u. a. (Hrsg.), Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 38 Rdnr. 69 (zulässig, aber „verfassungspolitisch zumindest fragwürdig“); Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Aufl., München 1984, S. 311; Gerald Kretschmer, in: B. Schmidt-Bleibtreu/F. Klein, GG. Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl., München 2004, Art. 38 Rdnr. 52. – Eine (im Ergebnis positive) politikwissenschaftliche Bewertung der Sperrklausel findet sich bei Jesse (Anm. 3), S. 234 ff. 32 Vgl. BVerfGE 95, 335 (403 f.). 33 Dazu: BVerfGE 95, 335 (403 f.). 34 Vgl. insbes. Meyer (Anm. 5), § 45 Rdnrn. 22 ff., § 46 Rdnrn. 45 ff.; Martin Morlok, Demokratie und Wahlen, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Band, Tübingen 2001, S. 559 ff. (595 ff.). – Auf Brüche in der Argumentation Meyers wird von Jesse (Anm. 3), S. 151 ff., hingewiesen. 31

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nis des Wahlgesetzgebers, sich für die Mehrheitswahl oder die Verhältniswahl oder für ein Elemente beider kombinierendes Wahlsystem zu entscheiden, in Frage. Der der Rechtsprechung des BVerfG zugrunde liegenden These, im Konzept der Mehrheitswahl komme dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit eine andere Bedeutung zu als im Konzept der Verhältniswahl, wird entgegengehalten, sie laufe darauf hinaus, dass sich der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Maßstab für sein Produkt selber aussuchen könne: entscheide er sich für die Mehrheitswahl, reduziere er die Wahlrechts- auf die bloße Zählwertgleichheit, während bei einem Verhältniswahlsystem die Wahlrechtsgleichheit zusätzlich die Bedeutung der Erfolgswertgleichheit gewinne. Es sei zwar richtig, dass das Grundgesetz die Festlegung des Wahlsystems und dessen Ausgestaltung dem Gesetzgeber überlasse, das bedeute aber nicht, dass ihm die freie Wahl zwischen den Wahlsystemen überlassen worden sei. Unschlüssig sei die Behauptung, die relative Mehrheitswahl sei zulässig, die Korrektur der Ergebnisse der Verhältniswahl durch eine hohe Sperrklausel oder die Verhältniswahl in Dreier- oder Viererwahlkreisen hingegen unzulässig. Denn wenn es zulässig sei, bei der Mehrheitswahl einem großen Teil der Stimmen jeden Erfolgswert zu versagen, dann müsse es auch – a maiore ad minus – erlaubt sein, jedes andere Wahlsystem einzuführen, das diesen Effekt zwar auch, aber in geringerem Umfang habe. Gegen unterschiedliche verfassungsrechtliche Maßstäbe spreche auch, dass es sich bei Mehrheits- und Verhältniswahl nicht um kategorial verschiedene Wahlsysteme sondern um ein von der Verhältniswahl ausgehendes Kontinuum handele, ausgehend von der weitgehend uneingeschränkten Abbildung der in der Wählerschaft vorhandenen politischen Richtungen im Parlament bis hin zu durch verschiedene wahlrechtliche Techniken einschließlich der Mehrheitswahl erzielbare Beschränkungen des Proporzes im Interesse der Arbeitsfähigkeit der Volksvertretung. Komme, dem Grundgedanken der repräsentativen Demokratie folgend, dem Wahlvolk die Mandatsbeschaffungsmacht zu, dann folge daraus, dass die Sitzverteilung im Parlament der relativen Stimmverteilung im Wahlvolk zu entsprechen habe, nur so könne die konkrete Gestalt des heterogenen Volkes zum parlamentarischen Ausdruck gelangen. Aus dem Grundsatz der Volkssouveränität ergebe sich mithin eine verfassungsrechtliche Präferenz zugunsten der Verhältniswahl. Aus Art. 21 GG folge, dass dem Verfassungsgeber grundsätzlich eine parteiengebundene Verhältniswahl vorschwebte, sie sei unter dem Gesichtspunkt der personengebundenen Legitimationsweise modifizierbar, aber nicht auswechselbar. Die Wahlrechtsgleichheit müsse als einheitlicher Maßstab verstanden werden, der grundsätzlich eine möglichst getreue Abbildung der Heterogenität des Wahlvolkes verlange, aber Differenzierungen der Erfolgswertgleichheit der Stimmen zulasse, soweit sie dazu dienten, weitere mit der Parlamentswahl verfolgte legitime Ziele (externe Zwecke) zu verwirklichen, und verhältnismäßig seien. Solche Zwecke seien die Personalisierung der Wahlen und die Bildung einer handlungsfähigen Volksvertretung.

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Die hier skizzierte „demokratische“ Position steht wie die, die dem Mehrheitswahlrecht wegen seiner (vermeintlich?) stärker persönlichkeitsorientierten und angeblich zuverlässig mehrheitsbildenden Wirkung den Vorzug gebende „liberale“ oder „bürgerliche“ Position in einer die deutsche Wahlrechtsdiskussion seit dem 19. Jahrhundert prägenden Tradition35. In seinem Urteil vom 10. April 199736 konnte der Zweite Senat des BVerfG einen Verstoß der von der Antragstellerin gerügten Vorschriften des BWahlG wegen Stimmengleichheit im Spruchkörper nicht feststellen37. Die vier die Entscheidung tragenden Richter haben dafür die – hier verkürzt wiederzugebenden – folgenden Gründe angegeben: Der Verfassungsgeber habe, wie an Hand der Entstehungsgeschichte nachgewiesen wird, darauf verzichtet, dem Gesetzgeber ein Wahlsystem vorzugeben. Der Gesetzgeber dürfe sich deshalb für die Mehrheitswahl wie für die Verhältniswahl entscheiden und auch beide Systeme miteinander verbinden. Gewählt würden stets Abgeordnete, eine bloße Parteienwahl sei ausgeschlossen: Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG garantiere die Personenwahl im Parteienstaat. Im Spannungsverhältnis zwischen Art. 38 Abs. 1 S. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG habe der Gesetzgeber einen Entscheidungsspielraum zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl. Dabei dürfe er auch auf den gliedstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik Rücksicht nehmen. Mehrheits- und Verhältniswahlsystem verschafften den Abgeordneten und damit dem Parlament demokratische Legitimation in je unterschiedlicher Weise, ohne dass dem einen oder dem anderen Wahlsystem unter dem Gesichtspunkt der repräsentativen Demokratie ein Vorrang gebühre. Die Verhältniswahl mache das Parlament zum Spiegelbild der politischen Gliederung der Wählerschaft, die Wahl des Abgeordneten als Person (und nicht als Exponent einer Partei) stärke den repräsentativen Status des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes, stärke auch die innerparteiliche Demokratie und gebe dem Vertrauen des Wählers zu seinem Repräsentanten eine persönlichkeitsbestimmte Grundlage. Nun folgt die entscheidende Weichenstellung: „Aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG) folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche

35 So Wild (Anm. 9), passim, siehe etwa S. 154 ff., 159 ff. – Ob die Charakterisierung als „demokratisch“ oder „liberal“ glücklich ist, darf man bezweifeln. Richtig ist, dass die Wahlziele „Abbildung der im Wahlvolk vorhandenen politischen Richtungen im Parlament“ (Parlament als Surrogat der Volksversammlung) und „Kreation einer funktionstüchtigen Volksvertretung“ (Wahl als Vergabe von Macht auf Zeit – wobei dem Volk nicht nur die Besetzung der Parlamentsmandate sondern auch die definitive Entscheidung über die vom Parlament zu bildende Regierung zugedacht ist) in einem tendenziellen, grundsätzlich nicht auflösbaren Spannungsverhältnis stehen. 36 BVerfGE 95, 335. – Dazu Christofer Lenz, Grundmandtasklausel und Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Neue Juristische Wochenschrift 1997, S. 1534 ff. 37 Vgl. § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG.

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Erfolgschance haben muss. Maßgeblich ist hierbei eine Betrachtung ex ante“38. Die Wahlgleichheit wirke sich bei Mehrheits- und Verhältniswahl je unterschiedlich aus. Bei der Mehrheitswahl fordere sie, „dass bei der Wahl von Abgeordneten in sog. Ein-Personen-Wahlkreisen (Personenwahl) alle Wähler auf der Grundlage möglichst gleichgroßer Wahlkreise . . . und damit mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können“. Bei der Verhältniswahl hingegen verlange die Wahlrechtsgleichheit „dass jeder Wähler mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments haben kann“. Daraus ergäben sich Anforderungen an die spezifische Erfolgswertgleichheit der Stimmen. Die Entscheidung für das eine oder das andere Wahlsystem oder für eine Kombination beider habe zur Folge, dass der Gesetzgeber den im Rahmen des jeweiligen Systems geltenden Gleichheitsmaßstab zu beachten habe. Danach könne sich der Gesetzgeber für ein System der personalisierten Verhältniswahl nach dem Muster des geltenden Wahlrechts, für das Grabensystem oder für andere Kombinationen entscheiden, „wenn dabei die Gleichheit der Wahl im jeweiligen Teilwahlsystem gewahrt wird, die Systeme sachgerecht zusammenwirken und Unmittelbarkeit und Freiheit der Wahl nicht gefährdet werden“39. Im geltenden Wahlrecht beurteile sich die Wahl der Wahlkreiskandidaten nach den Maßstäben der Mehrheitswahl. Die anderen Abgeordneten würden nach den Regeln der Verhältniswahl gewählt. Und schließlich finde ein Verhältnisausgleich statt (die Anrechnung der Wahlkreis- auf die Listenmandate). Überhangmandate seien eine Folge dieses Systems, der Gesetzgeber habe also den Proporz nach Zweitstimmen nicht zum ausschließlichen Verteilungsmaßstab erhoben. In diesem Wahlsystem komme der Erfolgswertgleichheit der Stimmen von vornherein nur eine begrenzte Tragweite zu. Das sei durch das Ziel der vorgeschalteten Mehrheitswahl, eine engere Beziehung zwischen den Wählern und den gewählten Wahlkreiskandidaten herzustellen, gerechtfertigt. Überhangmandate seien also keineswegs nur im Rahmen der durch das mathematische Sitzverteilungsverfahren ohnehin unvermeidbaren Ungleichheiten zulässig. Die ex ante zu beurteilende Erfolgschancengleichheit aller Stimmen werde durch die Möglichkeit von Überhangmandaten nicht beeinträchtigt. Allerdings müsse sich im Hinblick auf den „Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl“, der nicht aufgehoben werden dürfe, die Zahl der Überhangmandate in Grenzen halten. Zur Bestimmung derselben könne die 5%-Sperrklausel des § 6 Abs. 4 S. 1 BWahlG als Anhalt dienen – in Zahlen: bis zu 30 Überhangmandate sind hinnehmbar.

38 Der Begriff der Erfolgschancengleichheit geht zurück auf Roman Herzog, Rechtsgutachten über die Verfassungsmäßigkeit eines Verhältniswahlsystems in (kleinen) Mehrmandatswahlkreisen, 1968, S. 54. 39 BVerfGE 95, 335 (353 f.).

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Wie die vier die Entscheidung tragenden sind auch die vier dissentierenden Richter der Ansicht, dass für Mehrheits- und Verhältniswahl verschiedene Gleichheitsmaßstäbe gelten40. Im Unterschied zu jenen akzentuieren sie aber scharf den Charakter des geltenden Wahlrechts als Verhältniswahlsystem und folgeweise den dieses System als ganzes beherrschenden Maßstab der Erfolgswertgleichheit. Damit wie auch mit der Chancengleichheit der Parteien vertrage sich das zusätzliche Stimmgewicht derjenigen Wähler nicht, die ihrer Partei durch ein nicht verrechenbares Überhangmandat zu einem überproportionalen Erfolg verhülfen. Das Sondervotum zieht daraus die folgenden Schlüsse: Überhangmandate seien nicht als Element der Mehrheitswahl gerechtfertigt; es werde daran festgehalten, dass die Zuteilung von Überhangmandaten als Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien anzusehen und rechtfertigungsbedürftig, aber ohne Ausgleich grundsätzlich nicht rechtfertigungsfähig sei – es wird vorgerechnet, dass bei der Bundestagswahl 1994 vor allem die CDU infolge ihrer Überhangmandate je Mandat deutlich weniger Stimmen benötigte als die anderen Parteien. Überhangmandate seien nur insoweit hinnehmbar, als sie sich im Rahmen unvermeidlicher, im Verhältnisausgleich zwingend auftretender Unschärfen hielten. Jenseits dieser Grenze müsse der Gesetzgeber für die Wahrung des Proporzes Sorge tragen, was auf unterschiedliche Weise möglich sei. Zu ergänzen ist, dass das BVerfG – 2. Senat – wenig später entschieden hat, dass im Falle des Ausscheidens eines im Wahlkreis gewählten Abgeordneten aus dem Bundestag ein Rückgriff auf die Liste solange nicht in Betracht kommt, als die Partei des ausgeschiedenen Abgeordneten in dem entsprechenden Land über Überhangmandate verfügt41. § 48 Abs. 1 BWahlG, der die Listennachfolge regelt, sei dann nicht anwendbar42. Die Entscheidung des BVerfG, in erster Linie die sie tragende Begründung, ist im Schrifttum auf harsche Kritik gestoßen43, 44. Diese Kritik kann vernach-

40 Das – und die Prämisse, dass das GG sowohl die Mehrheits- als auch die Verhältniswahl und endlich auch Kombinationen beider zulässt – ist der (nicht knapp bemessene) gemeinsame Boden des 2. Senats, den manche Kommentatoren nicht sehen zu können meinen; vgl. Badura (Anm. 5); Backhaus (Anm. 13); Meyer (Anm. 5); anders aber Pauly (Anm. 13); Roth (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 54. 41 BVerfGE 97, 317. Zur Kritik: Meyer (Anm. 5), § 46 Rdnr. 51. 42 Der Bundesgesetzgeber hat auf eine klarstellende Korrektur des § 48 Abs. 1 BWahlG bisher verzichtet. Die Praxis folgt jedoch der verfassungsgerichtlichen Vorgabe. Dazu Schreiber, Handbuch (Anm. 6), § 48 Rdnr. 3 mit Nachw. In der 14. Wahlperiode verlor die SPD, die 1998 13 Überhangmandate gewonnen hatte, auf diese Weise vier Abgeordnete; siehe Datenhandbuch 1994–2003 (Anm. 7), S. 63, 248 f. 43 Siehe nur Meyer (Anm. 5), § 46 Rdnr. 48; Roth (Anm. 13), Art. 38 Rdnrn. 93 f., 98 ff.; Achterberg/Schulte (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 142; Backhaus (Anm. 13). Siehe auch Mahrenholz (Anm. 13), S. 76 ff., der für seine Kritik allerdings einen anderen Ansatz wählt als beide Teile des Senats. Im Ergebnis qualifiziert allerdings auch Mah-

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lässigt werden, soweit sie auf der These fußt, das Grundgesetz schließe die Einführung der Mehrheitswahl aus oder versehe jedenfalls die Verhältniswahl mit einem verfassungsrechtlichen Mehrwert. Weder die Verfassung noch die Rechtsprechung des BVerfG lassen auch nur den Schatten eines Zweifels daran zu, dass beide Wahlsysteme mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Probleme erwachsen dann, wenn der Gesetzgeber Elemente beider Systeme miteinander kombiniert, wie es im BWahlG geschehen ist. Darum ist es kein Zufall, dass sich die Wege der Richter des 2. Senats, die sich einig sind in der wahlsystemabhängigen Auswirkung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit, trennen, wo es sich um die Beurteilung der in dem gewählten Modell angelegten Rechtsfolge der Überhangmandate und der damit verbundenen Sprengung des Proporzes geht. Ist der Proporz das dieses Modell beherrschende Element – das wäre der Fall, wenn es sich dabei im Ergebnis um eine reine Verhältniswahl handelte, um ein „unechtes Mischsystem“ also45 – oder ist das Überhangmandat ein Teil der Mehrheitswahl, die insoweit – zulässigerweise – unverbunden neben der Verhältniswahl steht, mit der Folge, dass hier der Maßstab der Erfolgswertgleichheit nicht zur Anwendung kommt? Ist die Systementscheidung einschließlich möglicher Kombinationen von Verfassungs wegen dem Gesetzgeber vorbehalten, dann ist, wie das BVerfG46 mit Recht hervorhebt, das sog. Grabensystem verfassungsrechtlich unbedenklich, in dem ein Teil der Abgeordneten nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl, der andere nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt wird. Der Gesetzgeber muss hier die Wahlgleichheit nur „im jeweiligen Teilsystem“ wahren47 – auf der einen Seite des Grabens die Zählwert- und Erfolgschancengleichheit, auf der anderen Seite zudem die Erfolgswertgleichheit. Die personalisierte Verhältniswahl des BWahlG ist dem Grabensystem verwandt48, versucht allerdings durch die Anrechnung der Wahlkreis- auf die mit der Zweitstimme gewonnenen Listenmandate dessen Schärfen zu mildern, soweit eben nicht die Zahl der von einer Partei gewonnenen Wahlkreismandate höher ist als die ihr zustehenden Listenmandate. Dieser Überhang ist die Konsequenz der vom Gesetzgeber zulässigerweise getroffenen Systementscheidung, insoweit hat er sich dem Prorenholz das geltende Wahlrecht als Verhältniswahl und knüpft daran seine Schlussfolgerungen. 44 Zu Recht vermerkt Mahrenholz (Anm. 13), S. 81 Anm. 42, den Streit um den Charakter der Überhangmandate als Direkt- oder Listenmandate als eigentümlich: siehe dazu einerseits BVerfGE 95, 335 (357), andererseits ebd., S. 380 f. – Sondervotum; dem Sondervotum zustimmend: Meyer (Anm. 5), § 46 Rdnr. 45 f., 48; dagegen: Mahrenholz (Anm. 13); ebenso Badura (Anm. 5). 45 In diesem Sinne Wild (Anm. 9), S. 216 ff. 46 BVerfGE 95, 335 (354) – das Sondervotum widerspricht dem nicht! 47 Ebd. 48 So zu Recht das Sondervotum: BVerfGE 95, 335 (386); ebenso Pauly (Anm. 13), S. 246, 265.

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porz nicht unterworfen. Deshalb ist, darauf besteht Walter Pauly zu Recht49, die Prämisse, von der das Sondervotum ausgeht, nicht tragfähig, dass für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Überhangmandate der Maßstab der Erfolgswertgleichheit Geltung heische. Proporzstörungen, die sich aus der Zusammenführung von Mehrheits- und Verhältniswahl ergeben, können ganz oder teilweise50, müssen aber nicht ausgeglichen werden51. Dem Urteil des BVerfG ist vorgehalten worden, die Begrenzung der Überhangmandate auf 5 v. H. der gesetzlichen Mandatszahl52 sei inkonsequent53. In der Tat scheint es so, als habe die die Begründung der Entscheidung tragenden Richter am Ende der Mut verlassen – eine Linie, die sich in dem Beschluss über die Unzulässigkeit der Listennachfolge in ein erledigtes Überhangmandat54 fortsetzt. Es wird der „Grundcharakter des geltenden Wahlrechts als Verhältniswahl“ betont und damit scheinbar die Ausgangsthese in Frage gestellt, dass die Entstehung von Überhangmandaten eine zulässige Folge der dem Gesetzgeber anheimgegebenen Systementscheidung sei. Indessen: zu dieser Systementscheidung gehört es eben auch, dass „für den Regelfall“ der Legitimationsvorgang der Wahl „hälftig persönlichkeitsbezogen, hälftig parteibezogen stattfinden soll“55. Das in der Erststimme selbständig zur Geltung kommende Element der Personenwahl darf nach Ansicht des Senats nicht in den „Grundcharakter des geltenden Wahlrechts als Verhältniswahl“ eingeschmolzen werden56. Anders gewendet: Trotz der vorgeschalteten Mehrheitswahl wird an der Funktion der Wahl, die in der Wählerschaft vertretenen politischen Richtungen in der Zusammensetzung des Bundestages zu spiegeln, im Grundsatz festgehalten. Diesen Grundsatz strikt einzuhalten, gebietet das GG nicht, wohl aber verbietet es, ihn

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Ebd., S. 264 f. Ein (nahezu) vollständiger Ausgleich ließe sich auf verschiedene Weise erzielen, vgl. BVerfGE 95, 335 (399 ff. – Sondervotum). Einen teilweisen, durch die Föderalisierung (Verlagerung des Anrechnungsmodus auf die Landesebene: §§ 6 Abs. 4 S. 1, 7 Abs. 3 BWahlG) eingeschränkten Ausgleich ermöglicht das System der personalisierten Verhältniswahl des BWahlG. Auf jeglichen Ausgleich verzichtet das Grabensystem. 51 Pauly (Anm. 13), S. 266. Richtig ist, dass bei denjenigen Wählern (aber welche sind das?), die einer Partei Überhangmandate verschaffen, sowohl die Erst- als auch die Zweitstimme gezählt wird, während bei der Verrechnung der Wahlkreis- auf die Listenmandate die Zweitstimme nicht gewertet wird (s. Trute [Anm. 13], Art. 38 Rdnr. 61). Die Erfolgschance der ihre Stimme abgebenden Wähler bleibt, davon unberührt, die gleiche. 52 BVerfGE 95, 335 (365 f.). 53 Pauly (Anm. 13), S. 267; Roth (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 101; Meyer (Anm. 5), § 46 Rdnr. 49; Trute (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 61. 54 BVerfGE 97, 317. – Dazu: Bausback (Anm. 13), S. 657 ff. 55 BVerfGE 95, 335 (365). 56 So zu Recht Badura (Anm. 5), S. 683. 50

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preiszugeben57. Nur in dem Maße, in dem sie im Blick auf das genannte Wahlziel nicht mehr tolerabel sind, sind Überhangmandate mit einem Makel behaftet58. Wie dieses Maß zu bestimmen ist, steht auf einem anderen Blatt59. 2. Die Grundmandatsklausel a) Rechtslage und praktische Bedeutung Auch die Grundmandatsklausel60 steht, ungeachtet ihrer einstimmigen Billigung durch das ebenfalls am 10. April 1997 ergangene Urteil des Zweiten Senats des BVerfG 61, unverändert in der Kritik des Schrifttums62. Die Klausel ermöglicht es Parteien, die in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben, an der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten teilzunehmen, auch 57 Man kann das an dem folgenden gelegentlich zitierten Beispiel deutlich machen: Angenommen alle Direktmandate fallen an Gruppierungen, die keine Zweitstimmen erhalten. Es gibt dann 598 Listen- und 299 Überhangmandate. Der Halbteilungsgrundsatz wäre nicht nur peripher berührt, sondern aufgehoben. Ein anderes Beispiel: Bildete das gesamte Wahlgebiet einen einzigen Wahlkreis, führte die Mehrheitswahl zu dem offensichtlich inakzeptablen Ergebnis, dass alle Sitze an den Gewinner der Mehrheit fielen; eine parlamentarische Opposition gäbe es dann nicht. – Dieter Nohlen, Wahlsysteme im Vergleich, in: Jesse/Löw (Anm. 9), S. 51 ff. (67), betont zu Recht, es komme „auf die in etwa ausgewogene Berücksichtigung verschiedener Ziele an“. 58 Dafür, dass das BVerfG jedes Überhangmandat als mit einem Makel behaftet ansieht, wie Meyer (Anm. 13), § 46 Rdnr. 51, meint, bietet die Rechtsprechung keinen Anhalt. 59 Die Heranziehung der 5%-Sperrklausel erscheint in der Tat auf den ersten Blick gegriffen. Immerhin vermittelt sie einen Anhaltspunkt dafür, in welchem Umfang der Gesetzgeber (und mit ihm das BVerfG) die im einen wie im anderen Fall eintretende Verkürzung der Wahlrechtsgleichheit einerseits und der Chancengleichheit der Parteien andererseits für hinnehmbar hält. Zum Problem siehe einerseits Meyer (Anm. 5), § 46 Rdnr. 49 a. E.; andererseits Pauly (Anm. 13), S. 268 Anm. 170; siehe auch Christofer Lenz, Grundmandatsklausel und Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Neue Juristische Wochenschrift 1997, S. 1534 ff. (1536). 60 Sie findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung: § 6 Abs. 6 S. 2 BWahlG. 61 BVerfGE 95, 408. 62 Zu den Kritikern gehören: Morlok (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 106; Pieroth (Anm. 31), Art. 38 Rdnr. 22 b; Werner Hoppe, Die Verfassungswidrigkeit der Grundmandatsklausel, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1995, S. 268 ff.; Roth (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 72; Markus Heintzen, Die Bundestagswahl als Integrationsvorgang, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1997, S. 744 ff.; Bücking (Anm. 9), S. 162 ff. – Befürwortend haben sich geäußert: Achterberg/Schulte (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 143; Badura (Anm. 31), Anhang zu Art. 38 Rdnr. 26; ders. (Anm. 13), S. 681; Kretschmer (Anm. 31), Art. 38 Rdnr. 53; Joachim Lege, Überhangmandate und Grundmandatsklausel, in: Jura 1998, S. 462 ff. (469); Lenz (Anm. 58), S. 1534 f.; Schneider (Anm. 31), Art. 38 Rdnr. 60; Wild (Anm. 9), S. 231 ff. – Skeptisch: Magiera (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 94; Pauly (Anm. 13), S. 259 ff.; Schreiber, Handbuch (Anm. 6), § 6 Rdnr. 20; Trute (Anm. 13), Art. 38 Rdnr. 60.

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wenn sie die Hürde der 5%-Klausel nicht genommen haben63. Grundmandatsklauseln finden sich – neben der Sperrklausel – auch in den Wahlgesetzen von Berlin, Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein, wobei jeweils ein Mandat, in Sachsen zwei Mandate, gewonnen werden müssen64. Die Grundmandatsklausel kam bisher bei drei (von 16) Bundestagswahlen zur Anwendung: 1953 profitierten DP und Z, 1957 die DP, 1994 die PDS – sie gewann vier Wahlkreismandate und erhielt 30 Sitze65. b) Verfassungsrechtliche Beurteilung (1) Die Kritik wendet sich nicht dagegen, dass in einem Wahlkreis gewonnene Mandate den erfolgreichen Kandidaten verbleiben, wohl aber verletze die Teilnahme einer Partei, die nicht 5 v. H. der Zweitstimmen erhalten habe, am Verhältnisausgleich die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. Für die Durchbrechung beider Gleichheitssätze fehle es an einem „zwingenden Grund“. Das Ziel der Sperrklausel, Splitterparteien vom Parlament fernzuhalten, um so dessen Handlungsfähigkeit zu sichern, werde konterkariert. Zur Überwindung der Sperrklausel bedürfe es weit mehr Stimmen als für den Gewinn dreier Wahlkreismandate. Die Grundmandatsklausel könne dazu führen, dass eine Partei mit vergleichsweise wenigen Zweitstimmen am Verhältnisausgleich teilnehme, während eine andere mit 4,9 v. H. Zweitstimmenanteil nicht im Bundestag vertreten sei. Diese Differenzierung der Erfolgswertgleichheit werde durch die an sich legitime Berücksichtigung von Schwerpunktparteien nicht gerechtfertigt, da es auf eine starke örtliche oder regionale Bindung nicht ankomme. Fraglich sei, warum der Erfolg in einigen Wahlkreisen die „Parlamentswürdigkeit“ einer Partei begründen könne. (2) Das BVerfG hat sich von der Kritik nicht beeindrucken lassen. Es hält in ständiger Rechtsprechung an der verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit der Grundmandatsklausel fest66. Einen zwingenden Grund im Sinne seiner Rechtsprechung – auch eine gefestigte Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis können dabei Beachtung finden67 – für die durch die Grundmandatsklausel bewirkten Differenzierungen bei der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien sieht das Gericht in „dem Anliegen einer effektiven Integration des Staatsvolkes“68, welches der Gesetzgeber verfassungskonform gegen das gegen63

Zur Entstehung der Grundmandatsklausel s. BVerfGE 95, 408 (409 f.). BVerfGE 95, 408 (410). 65 Sie reichten gem. § 10 Abs. 1 S. 1 GOBT nicht für eine Fraktionsbildung aus. Daran hat BVerfGE 96, 264 (278 ff.), keinen Anstoß genommen. 66 Vgl. BVerfGE 1, 208 (254, 258 f.); 4, 31 (40 f.); 6, 84 (96) f.); 95, 408; 96, 264 (279). 67 BVerfGE 95, 408 (418). 68 BVerfGE 95, 408 (420). 64

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läufige Wahlziel eines funktionsfähigen Parlaments abgewogen habe. Es ist kein Widerspruch, wenn das Gericht sowohl die Sperrklausel als auch die Grundmandatsklausel durch das Integrationsziel motiviert sieht. Denn ein zersplittertes, entscheidungsunfähiges Parlament kann ebenso zur Desintegration beitragen wie die Ausschließung einer Partei, die sich durch den Gewinn dreier Wahlkreise als „bedeutsame politische Meinungsschichtung in der Wählerschaft“69 erweist: der Wahlausgang 1994 dürfte eben dies bestätigt haben. „Der Gesetzgeber kann . . . eine besondere politische Kraft einer Partei . . . auch aus dem Ausmaß ihres Erfolgs in der Mehrheitswahl ableiten . . .“70. Das BVerfG stützt sein Ergebnis wahlrechtsgeschichtlich und rechtsvergleichend ab71. Dass die Sperrklausel durch die Grundmandatsklausel unterlaufen werde, stehe angesichts der seltenen Ausnahmefälle, in denen sie zur Anwendung komme, nicht zu befürchten. Die Zahl der für die Teilnahme am Verhältnisausgleich erforderlichen Wahlkreismandate sei verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Durch die Sperrklauselregelung sei sichergestellt, dass eine höhere Zugangshürde als durch ein 5%-Quorum nicht errichtet werde72. (3) Angesichts der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG erscheinen verfassungsrechtlich begründete Attacken auf die Grundmandatsklausel eher müßig. Auch politisch macht sie Sinn. Ihrem Missbrauch durch ein Huckepackverfahren – eine große Partei überlässt einer kleinen einige sichere Wahlkreise73 – gilt es freilich zu wehren74. Das BVerfG hat früh schon angedeutet, dass es „Manipulationen, die dem Grundgedanken der Privilegierung von Schwerpunktparteien zuwiderlaufen“, nicht tolerieren werde75. Sie sind denn auch seit 1957 nicht mehr versucht worden – die Manipulationen bei der Bundestagswahl 2005 durch Linkspartei und WASG wurden nicht geahndet.

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Ebd., S. 422. Ebd. – Zutreffend betont Wild (Anm. 9), S. 233 ff., die Zulässigkeit des Anliegens, zwischen parlamentswürdigen und parlamentsunwürdigen Parteien zu unterscheiden. Die lokale Verankerung einer Partei sei ein ebenso zulässiges Kriterium für die Annahme der Parlamentswürdigkeit wie die sich in 5 v. H. der Zweitstimmen ausdrückende Stärke einer Partei. 71 Ebd., S. 423 f. 72 So schon BVerfGE 6, 84 (96). – Die Grundmandatsklausel ist entgegen BVerfGE 95, 408 (419, 423) allerdings keine neben der Sperrklausel „alternative“ Hürde, denn ohne sie macht sie keinen Sinn; richtig: Pauly (Anm. 13), S. 259 f. 73 So geschehen 1953 und 1957, als die CDU zuerst der Zentrumspartei und dann der DP Wahlkreise überließ. 74 Dazu: Meyer (Anm. 5), § 46 Rdnr. 44; Schreiber, Handbuch (Anm. 6), § 6 Rdnr. 7 mit Nachw. 75 Vgl. BVerfGE 6, 84 (96 f.). 70

Parteien in den neuen Bundesländern seit 1990 Von Nikolaus Werz 1. Einleitung Nach einer vergleichsweise starken Präsenz in der ersten gesamtdeutschen Regierung 1990 schienen die Politiker aus den neuen Ländern in den folgenden Jahren an Bedeutung zu verlieren. Mittlerweile wird die Bundesrepublik Deutschland von der Kanzlerin Angela Merkel regiert, die seit 2000 Vorsitzende der CDU ist, Matthias Platzeck führte 2005/06 für einige Monate die SPD an, obwohl er erst 1995 in die Partei eintrat. In einem politischen Magazin hieß es dazu: „Die Berliner Republik hat den kulturellen Schwerpunkt unseres Landes ins Nordelbische verschoben. Ins Protestantische, ins Rationale und Kollektive.“1 Gleichwohl: Die vorübergehende Dominanz von Politikern aus Ostdeutschland in Spitzenpositionen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Parteien im Osten Deutschlands erheblich schwächer sind und andere Erscheinungsformen annehmen als im Westen. Mit Blick auf den Forschungsstand kann festgestellt werden: Während vom Transformationsprozess und von Ostdeutschland als „überforschter Landschaft“ gesprochen wird,2 kommen die Parteien nur am Rande vor. Anfang der 1990er Jahre wurde vermutet, die Parteien im Osten würden sich schnell den WestGruppierungen angleichen.3 Ende der 90er Jahre wurde verstärkt auf die Unterschiede zwischen den Parteien in den alten und den neuen Ländern hingewiesen und sogar die vergleichende Methode zu ihrer Analyse vorgeschlagen.4 Es folgten allerdings keine ausführlichen Studien dazu, entsprechende Aufsätze können in den jeweiligen Landeskunden und der auch in dieser Hinsicht sehr ergiebigen „Zeitschrift für Parlamentsfragen“ nachgelesen werden. Aufgrund ihrer relativen Schwäche, dem Fehlen von für die gesamte deutsche Gesellschaft relevanten 1

So: Wolfram Weimer, Lieber Kurt Beck!, in: Cicero, 5/2006, S. 146. Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2004, S. 7. 3 Oskar Niedermeyer/Richard Stöss, DDR-Regimewandel, Bürgerorientierungen und die Entwicklung des gesamtdeutschen Parteiensystems, in: dies. (Hrsg.), Parteien und Wähler im Umbruch: Parteiensystem und Wählerverhalten in der ehemaligen DDR und den neuen Bundesländern, Opladen 1994, S. 11; Klaus von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, 10. Aufl., Wiesbaden 2004, S. 175. 4 Ursula Birsl/Peter Lösche, Parteien in West- und Ostdeutschland: Der gar nicht so feine Unterschied, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29 (1998), S. 8. 2

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Debatten und dem zunächst nicht vorhandenen Spitzenpersonal liegen nur wenige Untersuchungen zu den Parteien in Ostdeutschland vor. In Büchern zum Zustand von Politik und Parteien in Deutschland steht im übrigen die Bundesebene im Vordergrund.5 2. Vorbedingungen, friedliche Revolution 1989/90 und Vereinigung In der DDR waren nach offiziellen Zahlen 2,8 Mio. Personen Mitglied der SED oder einer der Blockparteien. Die Geschichte unabhängiger und freier Parteien setzte erst 1989/90 wieder ein. Beim politischen Umbruch spielten die Bürgerbewegungen und der kirchliche Raum anfangs eine wesentlich wichtigere Rolle als die Parteien, deren Vorgeschichte auf das von der SED beherrschte System der Blockparteien zurückgeht. Die Transformation der (Block-) Parteien und anderer Verbände lässt sich mit dem Satz vom „Transmissionsriemen zur Freiwilligkeit“ umschreiben. Neben den aus der Bürgerbewegung hervorgegangenen Gruppierungen und den aus dem „sozialistischen Mehrparteiensystem“ transformierten Parteien muss als drittes die Gründung von neuen, nicht in der Opposition des Herbstes 1989 verankerten Parteien erwähnt werden.6 Mit der im Verlaufe des Jahres 1990 rasant vollzogenen institutionellen Vereinigung via Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland war für die Parteien der Weg in gewisser Hinsicht vorgezeichnet. Im Unterschied zu osteuropäischen Ländern griffen die oppositionellen Gruppen nicht nach der Macht, und regionale Repräsentanten gelangten zunächst auch in den meisten neuen Ländern nicht an die Regierung, gleichzeitig war der Einfluss „externer“ Kräfte bzw. von Schwesterparteien sehr viel größer.7 Anders als die sozialen Bewegungen sind Parteien stärker in das politische System integriert und unterliegen damit auch den institutionellen Rahmenbedingungen, die in den neu bzw. wieder gegründeten Ländern übernommen wurden. Insofern ergab sich die formale Tendenz zur Vereinheitlichung der Parteiensysteme in Ost- und Westdeutschland neben dem in den Wahlen 1990 manifest gewordenen Wunsch nach schneller Vereinigung aus dem Wahl- bzw. dem Parteienrecht, der Wettbewerbssituation im Parteiensystem sowie schließlich der Regierungsbildungsfunktion.8

5 Für die 1990er Jahre wurde im Parteiensystem eine zentripetale Phase hin zur Mitte konstatiert. Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2000, S. 68 ff. 6 Niedermeyer/Stöss (Anm. 3), S. 18. Ferner: Die Parteien und Organisationen der DDR: Ein Handbuch (hrsg. von Gerd-Rüdiger Stephan), Bonn 2002. 7 Dieter Segert/Zsilla Machos, Parteien in Osteuropa. Kontext und Akteure, Opladen 1995, S. 230. 8 Joseph Schmid/Frank Löbler/Heinrich Tiemann (Hrsg.), Organisationsstrukturen und Probleme von Parteien und Verbänden. Berichte aus den neuen Ländern, Marburg 1994, S. 216.

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Formal entstand in Deutschland ein einheitliches Parteiensystem mit übergreifenden Organisationen, das sich auf den ersten Blick gegenüber der Lage vor 1989, abgesehen von der PDS als ostdeutscher sozialistischer Regionalpartei, wenig unterschied. Erst nach den Wahlen von 1994 wurden die anders gelagerten Einstellungsmuster und Mentalitäten bei den Mitgliedern in Ost und West erkennbar.9 Allerdings weisen die Organisationen sowohl in der Mitgliedschaft als auch bei den Parteistrukturen und den handelnden Personen Unterschiede auf: An erster Stelle sind die niedrigeren Mitgliederzahlen zu nennen. Alle ehemaligen Bockparteien erlebten in Ostdeutschland einen dramatischen Personalschwund, nachdem sie einen Teil ihrer bisherigen Funktionen verloren hatten, die für die Mitglieder mit gewissen gesellschaftlichen Vorteilen oder Erleichterungen verbunden sein konnten.10 Insofern präsentiert sich der Verlauf unter Berücksichtigung der Mitgliederentwicklung als „Weg aus dem Parteienstaat“.11 Während der Anteil ostdeutscher Parteimitglieder an der Gesamtmitgliedschaft 1990 noch bei 22,7 Prozent lag, sank er bis Ende 2004 auf 9,4 Prozent.12 Gerade bei den Kommunalwahlen haben die Parteien Schwierigkeiten, genügend eigene Kandidaten aufzustellen. Insofern ist die vergleichsweise hohe Zahl von Parteilosen auf den Listen weniger ein Indiz für den Willen zur Öffnung, sondern eher ein Zeichen des Mangels.13 Ein weiterer Unterschied liegt in der Sozialisation der Mitglieder. In Ostdeutschland sind andere Biografien und Lebensgeschichten vorhanden, der Parteialltag verläuft anders als in den alten Ländern. Für eine ruhige Entwicklung bleibt keine Zeit. Schnell und ohne Vorbereitung mussten einzelne Personen hohe politische Ämter übernehmen, weshalb für die Zusammensetzung der ersten Parlamente häufig auch die Bezeichnung „Laienschauspielerschar“ bemüht wurde. Und schließlich ist die politische Öffentlichkeit in den neuen Ländern schwach. Selbst im 17. Jahr nach der deutschen Einheit sind in der Regionalpresse bis auf Ausnahmen prononcierte Meinungsartikel selten. Die Zahl der Abonnenten überregionaler Zeitungen liegt deutlich niedriger als im Westen, 9 Ute Schmidt, Sieben Jahre nach der Einheit. Die ostdeutsche Parteienlandschaft im Vorfeld der Bundestagswahl 1998, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1–2/1998, S. 37–53. 10 Markus Gohl, Der Osten ist anders. Zur Struktur der Parteien in den Neuen Ländern, Marburg 2000, S. 65. 11 In Umkehrung und Anspielung an einen Reclam-Titel von Wilhelm Hennis, Auf dem Weg in den Parteienstaat, Stuttgart 1998. 12 Elmar Wiesendahl, Mitgliederparteien am Ende? Eine Kritik der Niedergangsdiskussion, Wiesbaden 2006, S. 42. 13 Ende 2004 hatten die Parteien in Mecklenburg-Vorpommern zusammen noch 18.355 Mitglieder. Der Anglerverband hat mehr als doppelt so viele.

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der Bücherverkauf in der Bundesrepublik zeigt ein markantes Süd-Nord-Gefälle, wenn man einmal von der Hauptstadt Berlin absieht. Die viel beschworene zivile Gesellschaft oder Bürgergesellschaft bleibt auch aus Gründen, die in der Geschichte des geteilten Deutschlands liegen, vergleichsweise klein. Die Tätigkeiten der von politischen oder von kirchlichen Trägern geführten Akademien haben andere Traditionen und Inhalte als im Westen. Dies gilt besonders für die Flächenstaaten mit ihren ländlichen Regionen. 3. Selbstverständnis und Merkmale der Parteien Als Folge der SED-Herrschaft hat das Wort Partei im Osten nach wie vor einen negativen Klang.14 Durch den Traditionsbruch fällt es CDU und SPD in den neuen Ländern schwer, ein eindeutiges Verhältnis zur eigenen Parteigeschichte zu entwickeln. Zwar wurde von den parteinahen Stiftungen und Personen, die in die Bundesrepublik flüchten mussten, der Versuch unternommen, die Geschichte aufzuarbeiten und die Rolle einzelner Demokraten wieder ins Bewusstsein zu bringen; Diese Bemühungen waren jedoch nur teilweise von Erfolg gekrönt. In den verschiedenen Landesverbänden wurde der zehnte oder fünfzehnte Jahrestag von 1990 nur wenig genutzt, um die eigene Geschichte zu beleuchten.15 Die emotionale Identifikation ist möglicherweise bei den Mitgliedern von früheren Blockparteien auch deshalb geringer, weil nicht alle aus freier Entscheidung in eine politische Organisation eintraten. Da im Zuge der Deindustrialisierung und des Transformationsprozesses vor allen Gewerkschaften an Bedeutung verloren, z. B. die Gewerkschaften, ist die Verbindung zwischen den Parteien und gesellschaftlichen Großorganisationen weniger ausgeprägt als im Westen. Die Parteien sind im Rahmen von Strukturhilfeprogrammen auf Zuwendungen aus der alten Bundesrepublik angewiesen. Der Grund liegt in der Mitgliederzahl und dem geringen Mitgliederaufkommen. Wer in Ostdeutschland heutzutage in eine Partei eintritt, weiß zumeist schon, dass er relativ bald mehr als ein Amt zu übernehmen hat. Im Vergleich zu den alten sind die neuen Bun14 Friedrich Schorlemmer, Die Parteien in den neuen Ländern. Zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsorientierung, in: Jochen Buchholz (Hrsg.), Parteien in der Kritik, Bonn 1993, S. 129. 15 Entsprechende Informationen sind einzelnen Kapiteln der jeweiligen Landeskunden zu entnehmen. Zum Beispiel Markus Kiefer, Die politischen Parteien, in: Karl Schmitt (Hrsg.), Thüringen. Eine politische Landeskunde, Köln/Weimar 1996, S. 37– 67; Everhard Holtmann/Bernhard Boll, Sachsen-Anhalt. Eine politische Landeskunde, Magdeburg 1997; Bernhard Boll/Everhard Holtmann (Hrsg.), Parteien und Parteimitglieder in der Region, Wiesbaden 2001; Nikolaus Werz, Politische Parteien, in: Nikolaus Werz/Jochen Schmidt (Hrsg.), Mecklenburg-Vorpommern im Wandel. Bilanz und Ausblick, München 1998, S. 85–100; Nikolaus Werz/Hans-Jörg Hennecke (Hrsg.), Parteien und Politik in Mecklenburg-Vorpommern, München 2000.

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desländer im Bereich des Parteiapparates sogar etwas besser ausgestattet als im Westen. Zu einem erheblichen Teil wird das Parteileben aber auch von diesen Mitarbeitern bzw. den Abgeordneten der Landtage getragen, weshalb von Fraktions- oder Rahmenparteien gesprochen wird. Daher ist der Trend zum Berufspolitiker ausgeprägter als im Westen. Der Typus der Massenintegrationspartei löst sich auf, es geht in Richtung wahl-professionalisierter Verbände. Während in den alten Ländern bei CDU und SPD nach wie vor von Volks- oder Großparteien gesprochen werden kann, ist dies zumindest bei der SPD in den neuen Ländern zum Teil schwierig. „Unter diesen Bedingungen neigen die Strategen in den Parteien mehr dazu, sich auf die kurzfristige und mediengestützte Präsentation aussichtsreicher Kandidaten zu konzentrieren.“16 In erster Linie zählt die Popularität der Spitzenkandidaten, die Parteien könnten sich zu „Kanzleroder Ministerpräsidenten-Wahlvereinen“ entwickeln, die Länder im Osten sozusagen eine Vorreiterrolle für ganz Deutschland einnehmen.17 Der niedrigere Prozentsatz von Ostmitgliedern hat insofern unmittelbare Folgen, als er zu einer geringeren Repräsentanz der Bürger aus den neuen Ländern in den Führungsgremien führt. Dies erfolgt trotz der Tatsache, dass zumindest bei der Regierungsbildung 1990 im Bund ostdeutsche Politiker entsprechend berücksichtigt wurden und auch die Potsdamer Elitestudie eine relativ starke Präsenz von Vertretern der Bürgerbewegung in den neuen Ländern feststellte,18 wobei die ostdeutsche Elite in den Sektoren Wirtschaft, Verwaltung, Justiz und Militär unterrepräsentiert bleibt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass bis 2005 nur wenige ostdeutsche Politiker in der Medienöffentlichkeit präsent waren; als gern gesehener Talkshowgast nahm Gregor Gysi für einige Zeit fast eine Art Monopol in der Außendarstellung ein. Stärker noch als in den alten zeigte sich in den neuen Bundesländern die Tendenz, dass gerade jene Repräsentanten sich großer Beliebtheit erfreuen, die ihre Parteiunabhängigkeit zelebrieren. Anfang der 90er Jahre wurde das Parteileben weitgehend von der Entwicklung im nationalen Rahmen bestimmt. Die CDU besaß als Partei der deutschen Einheit gewisse Vorteile, seit den zweiten Landtagswahlen 1994 zeichnete sich indessen ab, dass die PDS entgegen vorschneller Erwartungen keine Partei des Verschwindens sein würde. Der CDU wurde seit Mitte der 90er Jahre, als die Härten des Transformationsprozesses deutlich wurden, sowohl von der PDS als auch der SPD vorgeworfen, lediglich ein Vollstrecker der Bonner Politik zu sein. Christdemokraten gerieten durch diese Situation etwas in die Defensive, 16 Carsten Grabow, Abschied von der Massenpartei. Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung, Wiesbaden 2000, S. 297. 17 Ebd., S. 305. 18 Wilhelm Bürklin/Hilke Rebenstorf u. a., Eliten in Deutschland. Rekrutierung und Integration, Opladen 1997, S. 213.

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zumal es angesichts der Vorherrschaft sozialistischer bzw. sozialstaatlicher Vorstellungen in den neuen Ländern (zumindest im Norden) ohnehin schwierig für CDU-Mitglieder oder ihre Anhänger war, sich zu der Partei zu bekennen. Einer der wenigen Versuche zur Standortbestimmung bzw. zur Verbesserung der politischen Aussichten der Union war das Rehberg-Papier vom Januar 1996. Der damalige Fraktionsvorsitzende der CDU im Schweriner Landtag hatte seinen Beitrag zur Werte- und Strategiedebatte „CDU 2000“ in Mecklenburg-Vorpommern unter die Überschrift „Identitätsgewinn im Aufbau Ost“ gestellt. Er konstatierte und kritisierte das Ausbleiben einer gesamtdeutschen Werte- und Reformdebatte nach 1989. In Mecklenburg-Vorpommern scheine sich auf längere Zeit ein Drei-Parteiensystem zu festigen, in dem die CDU die einzig berechenbare politische Kraft darstelle. Von einer Zusammenarbeit zwischen SPD und der PDS müsse nach den Landtagswahlen 1998 und in Zukunft ausgegangen werden, allerdings sei das Wählerpotenzial der PDS überwiegend „konservativ“ strukturiert, da es Sicherheit, Stabilität und Kontinuität bevorzuge. Daran gelte es anzuknüpfen und gleichzeitig das „Nichtwählerpotenzial“ zu erschließen, die „regionale Identität der Bevölkerung weiter zu stärken, das soziale Wohlbefinden und das Gemeinschaftsgefühl zu fördern“.19 Diese von einzelnen CDUPolitikern in Ostdeutschland damals ebenfalls vorgetragenen Ansichten zielten nicht zuletzt auf die Wähler- und Anhängerschaft der PDS. Der vor allem in der überregionalen Presse aufgegriffene Denkanstoß stieß innerhalb der Union jedoch auch auf ablehnende Reaktionen. Die SPD war eine Neu- bzw. Wiedergründung in den neuen Ländern. Denn die SED-Diktatur markierte einen Traditionsbruch in der unabhängigen Parteiengeschichte. Während die Sozialdemokraten, die zwischen 1933 und 1945 nicht inhaftiert wurden, als Solidargemeinschaft sozusagen überwintern konnten, war dies nach 1946 nicht mehr möglich: Nun verlief der Riss quer durch das früher homogene Milieu. Waren die einen Anhänger des neuen Systems, so lehnten es andere aus sozialdemokratischen Motiven ab.20 Unter der 40-jährigen SEDHerrschaft konnte das SPD-Milieu nicht überleben. Die Erfahrung freier Gewerkschaften, Konsumgenossenschaften, Arbeitersport- und Bestattungsvereine bis hin zu frei gewählten Betriebsräten ging verloren. Erst im Zuge der Entspannungspolitik kam es ansatzweise zu einer Wiederaufnahme der Beziehungen zur SPD in der Bundesrepublik. Denn in der Spätphase der DDR wurden Kontakte zwischen den nordostdeutschen und westdeutschen Städten geknüpft, wobei SPD-regierte Städte eine Vorreiterfunktion übernahmen.

19 CDU-Fraktion im Landtag Mecklenburg-Vorpommern (Hrsg.), Identitätsgewinn im Aufbau Ost. Diskussionspapier zur Werte- und Strategiedebatte „CDU 2000“ in Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1996, S. 30. 20 Dazu: Franz Walter/Tobias Dürr/Karl Schmittke, Die SPD in Sachsen und Thüringen zwischen Hochburg und Diaspora, Bonn 1993.

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Während ein Teil der ehemaligen Funktionselite der DDR in der PDS und den vormaligen Blockparteien ihre politische Heimat fand, ist die SPD weitgehend eine Partei neuer Kräfte.21 Die Gründung der SDP am 7. Oktober 1989 in der DDR stellte eine Absage an die SED und eine Alternative dar. Zwar sah sich die SDP auch in der Tradition der alten Sozialdemokratie, dieser Aspekt stand jedoch zunächst nicht im Vordergrund, ebenso wenig wie der Wunsch, völlig in die SPD überzugehen. „Wir haben auch Euch nicht gefragt“, sagte Markus Meckel, damals Zweiter Sprecher des Vorstands der SDP beim Programm-Parteitag Ende 1989 in Berlin.22 Um einer befürchteten Inbesitznahme des Parteinamens zumindest durch einen Teil der SED zuvorzukommen, nannten sich z. B. die Rostocker Sozialdemokraten nach einem Besuch von Willy Brandt am 6. Dezember 1989 in der Marienkirche in SPD um.23 Bei den Wahlen 1990 war der Anteil von einheimischen Spitzenkandidaten – mit der Ausnahme von MV – bei der SPD hoch. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass ein Teil der westdeutschen SPD eine zögerliche Rolle gegenüber dem Vereinigungsprozess einnahm. Die Nähe eines Teils der eigenen Wähler zum PDS-Milieu erwies sich indessen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre als ein Problem für die ostdeutschen Sozialdemokraten. Denn die Annäherung und ab 1998 die Koalition zwischen SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern sowie 2002 in Berlin, die in Teilen der Öffentlichkeit der alten Bundesländer als Tabubruch empfunden wurde, erschien der Mehrheit im Osten als eine Normalisierung. Sie hat deshalb vor Ort wesentlich geringere Kontroversen und kaum inhaltliche Diskussionen hervorgerufen. Die Zusammenarbeit von SPD und PDS stellt im übrigen eine Reaktion auf die Tatsache dar, dass die neu gegründete SPD in Ostdeutschland Anfang der 90er Jahre keine Personen mit vorheriger SED-Mitgliedschaft aufnehmen wollte, was das Wachstum der SPD einschränkte und mit zur Stärkung der PDS beitrug. Der Kurs der SPD fällt in den einzelnen Ländern unterschiedlich aus. In Sachsen befindet sie sich mittlerweile in einer Minderheitenposition. Vergleichsweise komfortabel ist dagegen ihre Lage in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich die SPD zwischen der CDU auf der rechten und der PDS auf der linken Seite verortet. In Brandenburg und in Mecklenburg-Vorpommern hat die SPD in jüngster Zeit vor allem Themen wie Abwanderung und demografischen Wandel aufgegriffen. 21 Vgl. E. Schuh/B. M. von der Weiden, Die deutsche Sozialdemokratie 1989/90. SDP und SPD im Einigungsprozess, München 1997. Im Gesamtzusammenhang der Vereinigung: Wolfgang Jäger (in Zusammenarbeit mit Michael Walter), Die Überwindung der deutschen Teilung. Der innerdeutsche Prozess der Vereinigung 1989/90, Stuttgart 1998, S. 141 ff. 22 Markus Meckel, Rede auf dem Programm-Parteitag Berlin, 18.–20.12.1989, Presseservice der SPD, Berlin 18. Dezember 1989, S. 2. 23 Nikolaus Werz, Die SPD in Mecklenburg-Vorpommern, in: ders./Hennecke (Anm. 15), S. 73 f.

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Der PDS gelang es nicht zuletzt aufgrund des Führungspersonals aus ihrer schlechten Situation Anfang der 90er Jahre wieder herauszukommen. Gregor Gysi war nicht unmittelbar komprometiert, im Unterschied zum KleinbürgerImage der DDR wirkte und wirkt er bei seinen Auftritten im Fernsehen eher wie ein Postmaterialist.24 Er verkörperte den Kampf David gegen Goliath, überdeckte die Überalterung der Parteimitglieder durch betont jugendliche Auftritte und stellte seine Person in den Vordergrund.25 Sein Nachfolger Lothar Bisky erschien ein wenig als der gute „Herbergsvater“ seiner Organisation. In Kooperation mit Gysi gelang es ihm, den Höhenflug der Partei fortzusetzen. Der Versuch der PDS zu einem Generationenwechsel im Jahr 2000, der in der Übernahme des Parteivorsitzes durch Gabi Zimmer zum Ausdruck kam, scheiterte. „Zonen-Gabi“ entfaltete keine Ausstrahlungskraft; mit ihrem vergleichsweise angepassten Werdegang war sie in der Mediendemokratie schwer vermittelbar.26 Nachdem Lothar Bisky 2003 erneut den Parteivorsitz übernahm, Gysi seinen selbst gewählten Rücktritt rückgängig machte und die Hartz IV-Maßnahmen im Osten für Unmut sorgen, konnte die PDS wieder Stimmen gewinnen. Mittlerweile ist die PDS, die nach der Fusion mit der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) 2007 als LINKE firmiert, nach den Wahlergebnissen in vier der fünf neuen Länder zur zweiten Kraft geworden. Die Landesverbände der PDS gehören ohnehin zu den mitgliederstärksten Organisationen, obwohl sie eine starke Überalterung aufweisen. Der Umgang mit der PDS ist je nach Land unterschiedlich: In Sachsen-Anhalt wurde sie vom Verfassungsschutz beobachtet und taucht in den entsprechenden Berichten auf, in Schwerin und Berlin war bzw. ist sie an der Regierung beteiligt. Schon Ende der 1990er Jahre war die ehemalige Staats- wieder Regierungspartei in der neuen Bundesrepublik. Das Chemnitzer Programm von 2003 sieht trotz der Kritik am Neoliberalismus eine Mitregierung im Parlamentarismus vor. Nach den ernüchternden Ergebnissen für die PDS bei den Landtagswahlen 2002 bzw. 2006 in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, wo die Partei nach der Beteiligung an der rot-roten Koalition deutlich verlor, ist erneut eine Debatte aufgekommen. Einzelne Autoren vertreten die Ansicht, die Linke könne nur mit einer populistischen Strategie an die Macht kommen.27

24 Mattias Micus, Die Quadratur des Kreises. Parteiführung in der PDS, in: Daniela Forkmann/Michael Schlieben (Hrsg.), Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949–2005, Wiesbaden 2005, S. 268. 25 Eine Vortragsankündigung für den 2. März 2006 in der „Berliner Zeitung“ lautete: „Neu-Helgoland. 19.00: Gregor Gysi: Was Nun? Über Deutschlands Zustand und meinen eigenen. Talk-Show über sein Buch und aktuelle Probleme“. 26 Micus (Anm. 24), S. 294. 27 Jürgen Elsässer, Große Koalition als Herausforderung für linke Opposition, in: Ulrich Maurer/Hans Modrow (Hrsg.), Links oder lahm? Die neue Partei zwischen Auftrag und Anpassung, Berlin 2006, S. 108–117.

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Die kleineren Parteien haben es in diesem Kontext schwer. Sie erzielten allenfalls punktuelle Erfolge, wobei bei den ersten Wahlen die Bekanntheit einzelner Spitzenpolitiker der alten Bundesrepublik, die aus der DDR stammten, eine Rolle spielte. Der prominenteste Fall ist Hans Dietrich Genscher, der 1990 in Halle für ein Direktmandat der FDP gesorgt haben dürfte. Bei den Liberalen lässt sich mittlerweile ein gewisser Anhang bei Menschen jüngeren und mittleren Alters feststellen, die für eine marktwirtschaftliche Orientierung eintreten. Da sie zumeist nicht an der Regierung beteiligt ist, kann die FDP betont unabhängig auftreten und sich als demokratische Opposition im System präsentieren. Die einzelnen Landesverbände der FDP weisen dabei Unterschiede auf. Bündnis 90/Die Grünen konnten in Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen vorübergehend ins Parlament einziehen. In Sachsen ist seit 2004 erneut eine grüne Fraktion im Landtag vorhanden. Dagegen ist in MecklenburgVorpommern, wo die Partei gerade einmal 289 Mitglieder hat, vorerst „kein Land(tag) in Sicht“.28 Dort galten die Grünen bei einigen als „West-Partei“; sie haben wegen ihrer geringen Mitgliederdichte und Einnahmen erhebliche Schwierigkeiten, die Kommunikations- und Sozialisationsfunktion von Parteien zu übernehmen.29 Nach wie vor zeigen sie kein stärkeres Wachstum. Selbst in den Universitätsstädten, wo sich mittlerweile ein postmaterialistisches bzw. alternatives Milieu herausbildet, erzielen sie bei Bundes- und Landtagswahlen in den neuen Ländern selten mehr als 5 Prozent. Das Friedensthema ist sowohl von der PDS als auch der SPD besetzt, die ökonomischen Fragen überwiegen im Osten, und postmaterialistisch eingestellte Jugendliche wandern häufig in Großstädte wie Berlin bzw. in den Westen ab. Rechtsradikalen bzw. rechtsextremen Parteien wurde in den neuen Ländern frühzeitig ein gewisses Potenzial attestiert, es dauerte allerdings bis zum April 1998 als die Deutsche Volksunion (DVU) mit 12,9 Prozent in den Landtag von Sachsen-Anhalt einzog. Dank einer Finanzierung durch den Münchener Verlagsmillionär Gerhard Frey sollen die Wahlkampfausgaben damals doppelt so hoch gewesen sein, wie die von SPD und CDU gemeinsam.30 Dennoch blieb die DVU dort eine Briefkastenpartei, die durch massive Werbung das Prostestwählerpotenzial nutzen konnte. Bei den Wahlen 2006 fiel die DVU in diesem Bundesland mit 3,2 Prozent der Zweitstimmen auf den Status einer Randpartei zurück.31 Dagegen sitzt die DVU in Brandenburg schon in der zweiten Legisla28 Steffen Schoon/Britta Saß/Johannes Saalfeld, Kein Land(tag) in Sicht? – Bündnis 90/Die Grünen in Mecklenburg-Vorpommern, München 2006. 29 Ebd., S. 60 und S. 123. 30 Everhard Holtmann (Hrsg.), Landespolitik in Sachsen-Anhalt. Ein Handbuch, Magdeburg 2006, S. 183. 31 Ders., Die angepassten Provokateure. Aufstieg und Niedergang der rechtsextremen DVU als Protestpartei im polarisierten Parteiensystem Sachsen-Anhalts, Opladen 2002, S. 17.

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turperiode im Landtag, wo sie bisher nicht besonders auffällig wurde. DVU und NPD haben sich in einem „Deutschland-Pakt“ abgesprochen, was Kandidaturen betrifft. Sie profitierten bei der Wahl 2004 vom Protest gegen Hartz IV. Die Erfolge der NPD bei den Landtagswahlen 2004 in Sachsen und 2006 in Mecklenburg-Vorpommern sind darüber hinaus Ergebnis einer mittel- und langfristigen Parteistrategie. Die NPD betrieb zum einen eine gezielte Ansiedlung von Kadern aus dem Westen, zum anderen gingen die Rechtsextremen eine Allianz mit den neonationalsozialistischen Kameradschaften ein. Bei den Parlamentsauftritten der NPD wiederholt sich ein aus den alten Bundesländern bekanntes Bild. Die Fraktion bzw. einzelne Parlamentsmitglieder demontieren sich selber, was bislang aber noch nicht zu einer massiven Abschwächung der Wahlabsicht für die NPD geführt hat. Gerade in ländlichen und kleinstädtischen Gebieten von Flächenstaaten wie MV verfügt die NPD über ein gewisses Milieu. Mit ihrer Kritik am Neoliberalismus und der Globalisierung drängt sie in einen Bereich vor, den bislang teilweise die PDS abdecken konnte. Dort wo die PDS an rot-roten Koalitionen beteiligt war bzw. ist (Mecklenburg-Vorpommern bis zur Landtagswahl 2006 und Berlin), verfolgt sie de facto einen zurückhaltenden Kurs und verliert dadurch einen Teil der Protestwähler. 4. Parteiensysteme und Koalitionen in den Ländern seit 1990 In erstaunlicher Geschwindigkeit haben sich in den neuen Ländern regionale politische Traditionen herausgebildet. Dies unterstreicht, dass die Vorstellung von den Parteien als zentralistische Organisationen und monolithische Gebilde ohne regionale Differenzierung nicht zutrifft.32 Spätestens nach den Landtagswahlen von 1998/99 wurde deutlich, dass sich die neuen Länder „in überraschend kurzer Frist als politischer Handlungsrahmen etabliert haben“.33 Das Regionalbewusstsein nimmt auch in den neuen Ländern zu. Landesspezifische Gegebenheiten scheinen dabei fast eine ebenso wichtige Rolle zu spielen wie die sozialstrukturellen Milieus und Hochburgen der Parteien. Auch in Koalitionsfragen besitzen sie mittlerweile einen relativ großen Spielraum. Der Kurs der Landesparteien und die Regierungsbildungen zeigen seit 1990 eine erhebliche Vielfalt. Dazu zählen schwarz-rote, schwarz-gelbe, rot-grüne, rot-rote Koalitionen, ferner eine Ampel-Koalition sowie Minderheitsregierungen.34 Auch die Zahl der in den Länderparlamenten vertretenen Parteien hat 32 Karl Schmitt, Parteien und regionale politische Traditionen. Eine Einführung, in: Dieter Oberndörfer/Karl Schmitt (Hrsg.), Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 5 f. 33 Karl Schmitt, Umbrüche im Osten. Die Wahllandschaft in Deutschland ist gespalten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Oktober 1999. 34 Eckhard Jesse, Koalitionen in den neuen Bundesländern. Varianten, Veränderungen, Versuchungen, in: Roland Sturm/Sabine Kropp (Hrsg.), Hinter den Kulissen von

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wieder zugenommen. Während sich vorübergehend eine Art Dreiparteiensystem aus CDU, SPD und PDS zu verfestigen schien, bilden diese zwar nach wie vor die dominierenden Parteien, im sächsischen Landtag sind jedoch seit 2004 sechs Gruppierungen vertreten. Nur in Berlin sind mit CDU, SPD, FDP, der Linkspartei.PDS und Bündnis90/Die Grünen dieselben fünf Parteien vorhanden wie auf der Bundesebene. In Thüringen finden wir ein Dreiparteiensystem vor. Im Süden Ostdeutschlands dominiert die CDU. Von 1990 bis 2004 regierte sie unangefochten in Sachsen, danach musste sie eine „Koalition der Verlierer“ mit der SPD eingehen, die in ihrem einstigen Stammland nur 9,8 Prozent der Stimmen erreichte.35 Auch in Thüringen nimmt die CDU eine hegemoniale Position ein. Eine zumindest in Ansätzen ähnliche Dominanz erreichte die SPD lediglich in Brandenburg. Dort amtierte zunächst Ministerpräsident Manfred Stolpe, dann erfolgte wie in Thüringen die Regierungsübergabe an einen jüngeren Politiker. Wechselhafter und schwieriger sind die Koalitionskonstellationen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. In Sachsen-Anhalt löste 2002 eine schwarz-gelbe Koalition unter Ministerpräsident Wolfgang Böhmer das „Magdeburger Modell“ einer von der PDS tolerierten Minderheitsregierung ab, auf die 2006 eine CDU/SPD-Koalition folgte. Und in Mecklenburg-Vorpommern amtierte von 1998 bis 2006 die erste rot-rote Koalition der Bundesrepublik Deutschland. Seit 2006 regiert dort – wie schon von 1990 bis 1994 – eine große Koalition. Besonders bei den Europa-, den Landtags- und Kommunalwahlen sinkt die Wahlbeteiligung weiter. Nachdem zunächst die PDS das Protestpotenzial auffangen konnte, sind seit den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt 1998 auch die DVU bzw. die NPD in Erscheinung getreten. Einiges deutet darauf hin, dass sich die Unzufriedenheit mit der jeweiligen Landesregierung nicht mehr zugunsten der größten Oppositionspartei auswirkt, sondern Gruppierungen zugute kommt, die in Opposition zum System stehen. Deutschland weist innerhalb Westeuropas nach wie vor einen relativ hohen Organisationsgrad der Bürger auf. Allerdings haben sich die politik- und die freizeitbezogenen Mitgliedschaften auseinander entwickelt. Nach dem Ende der Zwangsmitgliedschaften und im Zuge der De-Industrialisierung hat es in Ostdeutschland einen starken Rückgang gegeben, der vor allem zu Lasten der Gewerkschaften ging. So sank der Prozentsatz derjenigen, die in Interessengruppen organisiert waren, zwischen 1992 und 1998 von knapp 40 auf 25 Prozent.36

Regierungsbündnissen. Koalitionspolitik in Bund, Ländern und Gemeinden, Baden-Baden 1999, S. 146–168. 35 Zum Folgenden: Eckhard Jesse, Die Landtagswahlen in den neuen Bundesländern 1990–2004, in: Deutschland Archiv 37 (2004), S. 960 f. 36 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 2004, Wiesbaden 2004, S. 644.

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Während also die traditionelle und auch die unkonventionelle Integration durch soziale Bewegungen in Ostdeutschland sinkt, hat im Bereich des Länderparlamentarismus eine Professionalisierung eingesetzt. Der Anteil der Menschen mit einem akademischen Abschluss in den Länderparlamenten fällt in Ostdeutschland höher aus als in Westdeutschland. Sie bilden damit die Bevölkerung und die Mitglieder ihrer Parteien nicht vollständig ab; insofern kann man auch in Ostdeutschland von Parteimitgliedern neuen Typs sprechen.37 Anders als in der alten Bundesrepublik handelt es sich jedoch nicht um „Lehrer-“ oder gar „Pastorenparlamente“. In sehr viel stärkerem Maße als im Westen waren Absolventen naturwissenschaftlich-technischer Berufe vertreten, dagegen kaum Juristen. Nicht wenige haben vor dem Studium eine Lehre absolviert, die religiöse Bindung spielt eine untergeordnete Rolle, ist jedoch in den Spitzenpositionen der Politik weitaus höher als der Querschnitt der Bevölkerung. Die meisten Landesparlamentarier und auch Landespolitiker kommen aus der jeweiligen Region.38 Die Volatilität liegt zwar teilweise doppelt so hoch wie in den alten Ländern. In dieser Allgemeinheit ist der Befund für den Osten nicht zutreffend. Das mobilere Wählerverhalten wurde teils von dem Abtritt einzelner Gründerväter in den neuen Ländern ausgelöst (Biedenkopf, Stolpe, Vogel) oder hing mit dem Auftauchen von extremistischen Protestbewegungen zusammen (DVU und NPD). Es fällt bei den Landtagswahlen deutlich höher aus als bei den Bundestagswahlen. Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage sozialer Gerechtigkeit und damit indirekt auch wieder um Inhalte.39 Das Bild relativiert sich, wenn man die Zahlen im europäischen Vergleich betrachtet: Italien, Österreich und Spanien weisen eine höhere Volatilität auf als die neuen Länder.40 5. Bilanz und Ausblick Die Bilanz der Parteien in den neuen Ländern fällt auf den ersten Blick ernüchternd aus. Sie sind schwach, nach wie vor abhängig von den Zuwendungen der Parteizentralen und im Urteil der Bevölkerung wenig populär. In den Wahl37 Heiko Biehl, Parteimitglieder neuen Typs? Sozialprofil und Bindungsmotive im Wandel, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 35 (2004), S. 681–699. 38 Vgl. dazu die instruktiven Beiträge in Siegfried Mielke/Werner Reuter (Hrsg.), Länderparlamentarismus in Deutschland, Wiesbaden 2004. 39 Kritisch zur Überbetonung der Volatilität äußern sich aus unterschiedlichen Gründen: Michael Vester, Das Fiasko der ,neuen Mitte‘. Die Bundestagswahl 2005 und die Orientierungen der gesellschaftlichen Milieus, in: Zeitschrift für sozialistische Politik und Wissenschaft (2005), S. 14–20. Siehe auch verschiedene Analysen der Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg, die die Konfliktlinie zwischen sozialstaatlichen bzw. sozialdemokratischen Positionen und neoliberalen Ansätzen im europäischen Vergleich berücksichtigen. 40 Carsten Socke, Zum Stand des Parteiensystems in Ostdeutschland, MA-Arbeit an der Universität Rostock 2006, S. 60.

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kämpfen werden wichtige Themen eher vermieden (z. B. Europa und Fragen der Einwanderung). Der Dokumentarfilm „Herr Wichmann von der CDU“ aus dem Sommer 2002 vermittelt einen Eindruck von den Schwierigkeiten, politische Botschaften z. B. in der Uckermark an den Bürger zu bringen. Zunehmend besteht die Gefahr, dass vor allem Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau sich von den Parteien abwenden und ihre Unzufriedenheit durch Absention oder durch die Wahl rechter antidemokratischer Gruppierungen artikulieren. Alle Parteien haben ihren Auftrag zur politischen Bildung in den neuen Ländern bislang nur begrenzt wahrgenommen. Eine im Februar 2006 für Mecklenburg-Vorpommern veröffentlichte Untersuchung zeigt, dass über 60 Prozent der Bevölkerung kein Interesse an der politischen Bildung haben.41 Bei der Bundestagswahl 2005 verlor die SPD im Vergleich zu der von 2002 Prozentpunkte an Zweitstimmen und damit mehr als die CDU. Die SPD hat im Osten ganze 24.000 Mitglieder, d.h. nur jedes 25. Mitglied kommt von dort. Von „Augenhöhe“ ließe sich erst dann sprechen, wenn die Ost-SPD bei 120.000 Mitgliedern liegen würde. Entscheidend für den starken Mitgliederrückgang waren u. a. der Irak-Krieg 2002 sowie Hartz IV. Die vorgezogene Neuwahl 2005 hatte im Osten so gut wie keine Anhänger.42 Die CDU steht nicht sehr viel besser dar. Programmatisch ist nicht klar auszumachen, in welche Richtung das Grundsatzprogramm und der Kurs der Partei gehen werden. Im Beschluss des XVII. Parteitages der CDU Deutschlands 2003 „Deutschland fair ändern“ war u. a. von den zweiten Gründerjahren der Republik die Rede. Nach dem Regierungswechsel 2005 erfolgte jedoch zunächst keine umfassende Analyse des Wahldebakels, die CDU ist in der großen Koalition zur sozialen Gerechtigkeit zurückgekehrt.43 Im Frühjahr 2006 begannen Grundsatzdebatten in beiden Großparteien nicht zuletzt mit dem Ziel, die eigene Unterscheidbarkeit in der großen Koalition wieder herzustellen. Ende 2007 sollen die neuen Grundsatzprogramme verabschiedet werden. Eine Bilanz der Parteien in den neuen Ländern muss daher zwiespältig ausfallen. Während der tagespolitische Befund gerade nach den Landtagswahlen 2006 in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern eher zu Skepsis oder sogar Besorgnis Anlass gibt, sehen stärker empirische Analysen Chancen für die Entwicklung hin zu modifizierten Volksparteien. So gelangt Bernd Hofmann zu dem Ergebnis, dass sich die Parteien in den neuen Ländern durchaus auf das 41 Die Umfrage wurde im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt. Vgl. Schweriner Volkszeitung vom 23. Februar 2006. 42 Karl-Heinz Baum, Die SPD im Osten, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 52 (2005), S. 37–41. 43 Zur CDU: Corinna Emundts, Partei des „Anything goes“. Das bürgerliche Lager der Union gibt es nicht mehr, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 52 (2005), S. 19–23.

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bisherige Modell der Volksparteien hin bewegen, wobei er dies am Beispiel von Sachsen-Anhalt zumindest bei CDU und SPD feststellt.44 Unter Berücksichtigung des in den letzten siebzehn Jahren Geleisteten, konnten die Parteien einen Teil der hohen Erwartungen, die an sie herangetragen werden, realisieren. In diesem Zusammenhang sei an die vier Funktionen erinnert, die Parteien in westlichen Demokratien generell zugedacht werden: die „Zielfindungsfunktion“ durch Programme bzw. inhaltliche Debatten, die Artikulation und Aggregation gesellschaftlicher Interessen, die Mobilisierung der Bürger sowie die Rekrutierung der politischen Elite und schließlich die Regierungsbildungsfunktion.45 Trotz der in der Öffentlichkeit vorhandenen Kritik haben die Parteien diese „Aufgaben“ wahrgenommen. Schwächen zeigten sich in der Vermittlungsfunktion der Demokratie besonders bei der jüngeren Generation sowie bei der für den Wirtschaftsstandort Deutschland entscheidenden Innovation. Die Personaldecke ist dünn. Damit befinden sich die Parteien in einer komplizierten Lage, denn sie können nur bedingt die Grundlagen für die viel beschworene Zivilgesellschaft schaffen, nachdem ein selbständiger Mittelstand und ein selbstbewusstes Bürgertum durch obrigkeitsstaatliche Tradition und jahrzehntelange autoritäre Herrschaft der SED geschwächt und dezimiert wurden. Eine zusätzliche Schwächung der Parteien und der Zivilgesellschaft resultiert aus der Abwanderung. Untersuchungen bestätigen, dass sich vor allem aktive, Menschen mit hohem Bildungsgrad und junge Frauen auf den Weg machen. Dies gilt insgesamt für den ländlichen Raum sowie für gut qualifizierte Gymnasialabgänger in strukturschwachen Regionen. Da die Wissenschaftslandschaft ab 1990 zunächst nicht gezielt gefördert wurde und darüber hinaus ein Teil der neu besetzten Stellen an den Universitäten bzw. an den Forschungsinstituten von Pendlern eingenommen werden, resultiert auch von den Zuwanderern nur bedingt eine Verstärkung für Zivilgesellschaft und Parteileben. Sind die Unterschiede zwischen den Parteien und den Parteiensystemen in den alten und den neuen Ländern so ausgeprägt, dass sie es rechtfertigen würden, von Parteien im Osten und im Westen zu sprechen? Wird hier nicht in gewisser Weise die Annahme einer ökonomischen Spaltung zwischen einem armen Ost- und reichen Westdeutschland übernommen? Wären die Parteien überhaupt gut beraten, das Thema Ost und West dauerhaft aufzugreifen? Interpretationen der Bundestagswahlen 2005 gelangen zu dem Ergebnis, dass die Linie eher zwischen dem roten Norden und dem schwarzen Süden verläuft,46 auch wenn ohne die neuen Bundesländer ein Wechsel zugunsten einer 44 Bernd Hofmann, Annäherung an die Volkspartei. Eine typologische parteiensoziologische Studie, Wiesbaden 2004, S. 84 und S. 223. 45 Klaus von Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, München 1982, S. 25. 46 Steffen Schoon/Nikolaus Werz, Die Bundestagswahl in den neuen Ländern, in: Deutschland Archiv 38 (2005), S. 972–980.

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schwarz-gelben Regierung erfolgt wäre. Die einzige Partei, die die „Ostkompetenz“ in den Vordergrund rückt, ist die Linkspartei. PDS. Aber auch bei ihr ist der Osten eher ein Gefühl und eine vermeintliche Antwort auf die empfundene Zurücksetzung eines Teils der Bevölkerung. Bei der Frage der sozialen Gerechtigkeit besteht eine Konkurrenzsituation besonders zur SPD. Die SPD versucht in dem „Forum Ostdeutschland“ das Thema inhaltlich zu füllen. Hier geht es aber eher um regionale Probleme wie De-Industrialisierung und Abwanderung. Da es keine einfachen Lösungen für die neuen Länder gibt, ist es unwahrscheinlich, dass die Parteien diese Fragen dauerhaft aufgreifen werden. Die im „stillen Osten“ diskutierten Themen wären kaum von bundespolitischer Relevanz, zumal einzelne Regionen bzw. Metropolen (Berlin, Hamburg, München) eine Zunahme an Bevölkerung und teilweise auch an Wohlstand verzeichnen. Die im Bereich der Politik und im Fußball in Führungspositionen vorgerückten Ostdeutschen sind als „die zweite gründliche Blutauffrischung für die politische Klasse der Bundesrepublik“47 bezeichnet worden. Die Botschaft, die von den beiden ostdeutschen Vorsitzenden der Großparteien ausging, weist sowohl einen generationsspezifischen (89er) als auch einen voluntaristischen Grundzug auf. Matthias Platzeck hatte bereits 2003 festgehalten, die Erfahrung von Zusammenbruch und Transformation berge eine besondere Tugend. „Das ermöglicht eine Haltung der Unverkrampftheit, die experimentelle Veränderung und mutige Erneuerung überhaupt erst möglich macht. Und genau diese Haltung brauchen wir jetzt in Deutschland.“48 Und die Bundeskanzlerin ermunterte uns in der Neujahrsansprache am 31. Dezember 2005 mit der Aufforderung: „Fangen wir einfach an – ab morgen früh.“ Solche Äußerungen sind zwar keine Antwort auf die strukturellen Probleme, deuten aber zumindest auf einen Wandel hin, der sich zugunsten des politischen Betriebsklimas in Deutschland auswirken könnte.

47 So Jürgen Leinemann, Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker, München 2004, S. 388. 48 Matthias Platzeck, Warum der Westen genauer in Richtung Osten schauen sollte, in: Tanja Busse/Tobias Dürr (Hrsg.), Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance, Berlin 2003, S. 54 f. Zur Person jetzt: Michael Mora/Thorsten Metzner, Matthias Platzeck. Die Biografie, München 2006.

Parteien in den alten Bundesländern seit 1990 Von Florian Hartleb

1. Einleitung Parteien auf Landesebene gelten für eingehende Analysen als nachrangig.1 Dieser Umstand erstaunt angesichts ihrer immensen Bedeutung in der Rekrutierung und Mobilisierung.2 Eine landespolitische Laufbahn dient als Karrierevehikel für den Sprung auf die bundespolitische Bühne. Daran hat sich auch in der „Berliner Republik“ wenig geändert – außer vielleicht der Umstand, dass auch Landespolitiker die Berliner Bühne nutzen müssen, um auf der medialen Klaviatur spielen und damit ihre parteiinterne Bedeutung steigern zu können. Aber haben sich nach der Wiedervereinigung Stellung, Bedeutung und Funktion der Landesparteien in den alten Bundesländern wirklich gewandelt? Wie lässt sich ihre Entwicklung beschreiben? Sehen sie sich mit den gleichen Schwierigkeiten wie in Ostdeutschland konfrontiert, wo ihnen die geringe Mitgliederzahl, die Skepsis gegenüber parteipolitischer und gesellschaftlicher Mitwirkung und Mitgestaltung das Leben schwer machen. Der folgende Beitrag will zunächst die besonderen Funktionen von Landesparteien herausstreichen. Anschließend folgt eine knappe Bestandsaufnahme der Landesparteien bis zur Wiedervereinigung, um dann eine systematische Bewertung nach 1990 vornehmen zu können. Hierbei sollen Volksparteien, etablierte Kleinparteien sowie eher ausführlich die Außenseiterparteien separat beleuchtet werden. Am Ende formuliere ich die Ergebnisse thesenartig.

1 Das gilt nicht für eng damit zusammenhängende Aspekte wie Koalitionsbildung in den Ländern oder Länderparlamentarismus. Vgl. Uwe Jun, Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern. Theoretische Betrachtungen, Dokumentationen und Analyse, Opladen 1994 und Siegfried Mielke/Werner Reutter (Hrsg.), Länderparlamentarismus in Deutschland, Wiesbaden 2004. Die Studien zu Parteien in den westdeutschen Ländern sind meist auf einzelne beschränkt. Vgl. nur Michael Eilfort (Hrsg.), Parteien in Baden-Württemberg, Stuttgart 2004; Dirk Berg-Schlosser (Hrsg.), Parteien und Wahlen in Hessen: 1946–1994, Marburg 1994; Ulrich von Alemann (Hrsg.), Parteien und Wahlen in Nordrhein-Westfalen, Köln u. a. 1985. 2 Vgl. Christian Demuth/Jakob Lempp, Einführung: Die Parteien in Sachsen, in: dies. (Hrsg.), Parteien in Sachsen, Dresden/Berlin 2006, S. 9–18, hier S. 14.

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2. Besondere Funktionen von Parteien auf Landesebene Die Landesparteien erweisen sich als identitätsstiftende Elemente, die auf die politische Kultur der jeweiligen Länder3 intensiv eingehen, sogar regionale Konflikte wie in der Vergangenheit in Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen bearbeiten.4 Gerade die Persönlichkeit von Ministerpräsidenten, als Parteiakteur und/oder Landesvater, kann für das Land prägend sein.5 In der Regel sind Landesparteien Teil des Ganzen, als Landesverbände Teilgliederungen des Bundesverbandes,6 Bundesparteitage für sie daher ein wichtiges Instrument der Einflussnahme. Landesparteien dienen in besonderer Weise als „Personaldecke“ für die Bundespolitik. Einfacher ausgedrückt: Über Exekutiverfahrung in der Landespolitik fügt sich ein Wechsel in die Bundespolitik nahtlos an. Siebenmal stellte die jeweils größte Oppositionspartei in den Bundestagswahlen zwischen 1976 und 2005 einen Spitzenkandidaten auf, der Ministerpräsident und Vorsitzender einer Landespartei war. Nur zweimal forderten dezidierte Bundespolitiker den Bundeskanzler heraus – Hans Jochen Vogel im Jahre 1983 sowie Angela Merkel 2005.7 Ihre Regierungsbildungsfunktion kann eine Vorbildfunktion für Koalitionsmuster im Bund darstellen, muss es aber keineswegs. Über eine Koalition zwischen Schwarz und Grün (womöglich mit dem dritten Partner FDP) wird schon seit Jahren spekuliert, zuletzt nach der Bundestagswahl von 2005, doch fehlt ihr bislang die landespolitische „Erprobung“8. Ein weiterer Einfluss auf die Bundespolitik liegt darin, dass Landeswahlen oftmals als Indikator für die bundespolitische Großwetterlage anzusehen sind.9 3 Vgl. zu den jeweiligen historischen Hintergründe und Eigenheiten mit einer Verbindungslinie bis zu den Parteien der Gegenwart Werner Künzel/Werner Rellecke (Hrsg.), Geschichte der deutschen Länder. Entwicklungen und Traditionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Münster 2005. 4 Siegfried Mielke/Werner Reutter, Länderparlamentarismus in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme, in: dies. (Hrsg.), Länderparlamentarismus in Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 19–51, hier S. 28 f. 5 Vgl. dazu mit einer Typologie von Ministerpräsidenten am Beispiel von Bayern sehr anschaulich Peter März: Ministerpräsidenten, in: Herbert Schneider/Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder, Wiesbaden 2006, S. 148–184. 6 Die Programmfunktion erfüllen Landesparteien unter anderem mit eigenen Arbeitskreisen und Tagungen. 7 Vgl. Michael Eilfort, Landes-Parteien: Anders, nicht verschieden, in: Herbert Schneider/Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder, Wiesbaden 2006, S. 207–224, hier S. 211. 8 Als Möglichkeit wurde immer wieder Baden-Württemberg genannt, vor allem im Vorfeld der letzten Landtagswahl von 2006. 9 Erfolge in den Kommunen lassen hingegen weniger Rückschlüsse zu. So sind die in Bayern und Baden-Württemberg erfolgreichen Freien Wähler entweder bei Landtagswahlen nicht angetreten oder an der Fünfprozenthürde gescheitert (zuletzt bei der letzten Landtagswahl in Bayern).

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Die Landes- und Bundesebene vermischen sich dann, wenn der Wähler zu Gratifikationen oder Sanktionen der Bundespolitik greift. Aus Sicht der Zuständigkeiten ist dieses Phänomen – ein mögliches „Büßen der Landespartei“ für bundespolitische Versäumnisse – nicht unproblematisch.10 Diese Auffassung machen sich auch Bundespolitiker zu eigen. Gerhard Schröder musste oder wollte nicht zuletzt deshalb Neuwahlen (über das verfassungsrechtliche Mittel der „getürkten“ Vertrauensfrage) herbeiführen, weil seine Partei, die SPD, bei der Landtagswahl im Mai 2005 in ihrem „Stammland“ Nordrhein-Westfalen eine desaströse Niederlage erlitten hatte. Er sah die Mehrheit der bundespolitischen Bevölkerung für seinen Kurs in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (sowie der eigenen Partei) gefährdet bzw. „überprüfungsbedürftig“. Auf der anderen Seite müssen Landtagswahlergebnisse nicht unbedingt die Machtverhältnisse im Bund präjudizieren. Bleiben wir beim Beispiel SPD: Obwohl die Partei zwischen 1998 bis zum Herbst 2001 alle 17 Landtagswahlen verlor und aus zwei Landesregierungen ausscheiden musste, blieb sie im Bund zum Erstaunen vieler an der Macht.11 Generell haben Landtagswahlen einen experimentiellen Charakter, da der Wähler innovativer als bei den wichtigeren Bundestagswahlen erscheint.12 3. Die Parteien vor der Wiedervereinigung Das Parteiensystem musste sich nach der „Stunde Null“ erst einmal neu formieren, konnte aber auf gewisse Muster der in der Weimarer Republik allerdings verpönten Parteien zurückgreifen.13 In den Westzonen gründete sich als erstes die an dortige Traditionen anknüpfende SPD (auch die ebenfalls dort existente KPD griff darauf zurück) im Mai 1946, die FDP folgte im Dezember 1948. Nachzügler war die CDU, die erst im Herbst 1950 zur Bundespartei wurde. Als Ausgeburt des historisch gewachsenen bayerischen Sonderbewusstseins entstand die Christlich-Soziale Union in Bayern. Das Parteiensystem konsolidierte sich in den 1950er Jahren, auch durch institutionelle Verfahren. Eine

10 Vgl. Frank Decker, Höhere Volatilität bei Landtagswahlen? Die Bedeutung bundespolitischer Zwischenwahlen, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahlen 2005. Voraussetzungen – Ergebnisse – Folgen, Wiesbaden 2006, S. 259–279, hier S. 273. 11 Vgl. Oskar Niedermayer, Das Parteiensystem Deutschlands, in: ders./Richard Stöss/Melanie Haas (Hrsg.), Die Parteiensysteme Westeuropas, Wiesbaden 2006, S. 109–133, hier S. 126. 12 Vgl. Roland Sturm, The Territorial Dimension of the new Party System, in: Stephan Padgett (Hrsg.), Parties and Party Systems in the New Germany, Aldershot u. a. 1993, S. 103–125, hier S. 106. 13 Vgl. zu einer Gesamtdarstellung bis 1990 mit einer ausführlichen Würdigung der Entstehung Eckhard Jesse: Die Parteien im westlichen Deutschland von 1945 bis zur deutschen Einheit 1990, in: Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Opladen 1997, S. 59–83.

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rigide Fünfprozenthürde, deren Berechtigung das Bundesverfassungsgericht mit dem „Gespenst oder Trauma von Weimar“ begründete, sollte eine überschaubare Zahl an Parlamentsparteien gewährleisten.14 Schnell bildete sich im Bund ein Dreiparteiensystem heraus – mit klaren Übersichtlichkeiten. Die Union wurde Regierungspartei unter Bundeskanzler Konrad Adenauer und konnte ihr Konzept der sozialen Marktwirtschaft mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik verknüpfen und damit die sozialdemokratische Konkurrenz in Schach halten. Schnell marginalisierte sie andere bürgerliche Gruppierungen wie die Vertriebenen. Die FDP vermochte sich eine Nische zu sichern. Sie fungierte als Vertreterin der reinen Marktwirtschaftslehre in Abgrenzung zur sozialen Marktwirtschaft, stand für die Trennung zwischen Staat und Kirche und Nationalismus.15 Die Stabilisierung der jungen Bundesrepublik, die eine Sicherung gegen Feinde der Demokratie beinhaltete, hatte höchste Bedeutung: das schärfste Schwert der streitbaren Demokratie, das Parteiverbot, das gleich zweimal, binnen vier Jahren gezückt wurde. Die Gegner des Systems wurden in Gestalt der Sozialistischen Reichspartei und der Kommunistischen Partei Deutschlands 1952 und 1956 verboten. Am Anfang der Parteiendemokratie in der Bundesrepublik, als Allparteienregierungen üblich waren, war die KPD u. a. in Nordrhein-Westfalen und Hamburg kurzzeitig an der Regierung beteiligt. Ein Jahrzehnt später wurde von (allzu) ängstlichen Beobachtern erneut ein Wanken der Demokratie konstatiert, zog die rechtsextremistische NPD kurz nach ihrer Gründung doch zwischen 1966 und 1968 „wellenartig“ in sieben Landesparlamente ein. Kurz nach der Bundestagswahl 1969, als sich die großen Hoffnungen der Partei auf einen Parlamentseinzug nicht erfüllten (4,3 Prozent), versank die Partei wieder in der Bedeutungslosigkeit.16 Ethnische Aspekte kamen im Parteiensystem kaum zum Tragen. Ein Sonderfall hat sich in Schleswig-Holstein herauskristallisiert, das seit jeher eine deutsche und dänische Bevölkerung aufweist. Am 25. Juni 1948 konstituierte sich der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), der von der Fünfprozenthürde befreit ist.17 Ab den 1960er Jahren 14 Vgl. Jan Köhler, Parteien im Wettbewerb. Zu den Wettbewerbschancen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, BadenBaden 2006, S. 124–142. 15 Vgl. Jürgen Dittberner, Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 17 f. 16 Vgl. Harald Schmid, „Man kann wieder wählen!“ Aufstieg und Fall der NPD 1964–1969, in: Deutschland Archiv 40 (2007), S. 122–130. 17 Nach dem Bundeswahlgesetz nimmt eine Minderheitenpartei wie der SSW immer am Verhältnisausgleich teil, könnte daher mit circa 0,2 Prozent der Stimmen in den Bundestag einziehen. 1957 und 1961 verfehlte die Partei, die zwischen 1949 und 1953 dort vertreten war, dieses Ziel und trat seither bundesweit nicht mehr an. Die Regelung, die theoretisch auch die Partei einer sorbischen Minderheit betreffen würde, hat bis heute Bestand Vgl. Jan Köhler, Parteien im Wettbewerb. Zu den Wettbewerbs-

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blieb er auf die Stimmen der dänischen und friesischen Minderheit beschränkt, hatte mindestens ein Landtagsmandat inne. Der Erfolgsgeschichte der beiden Volksparteien schienen in den 1960er und 1970er Jahren keine Grenzen gesetzt, wie an ihrem gemeinsamen Stimmenanteil bis hin über 90 Prozent ablesbar war. Eine besondere Rolle im bundesdeutschen Parteiensystem nimmt die CSU in ihrer Doppelfunktion als bayerische Landespartei und bundesweit agierende Partei ein. Die SPD konnte der bisherigen CDU-Dominanz durch eine Öffnung für den Mittelstand im Bereich der Wirtschaft sowie die neuen sozialen Bewegungen im Zuge der 68er-Revolution Einhalt gewähren. Der Schwenk der FDP zur nun offeneren SPD sorgte für einen Regierungswechsel unter dem Bundeskanzler Willy Brandt. Auch 1982 sorgte der Wechsel der FPD, diesmal zur CDU, für einen Machtwechsel, der bis zur Wiedervereinigung (und darüber hinaus) Bestand hatte. Wiederum wurde die Partei zum „Zünglein an der Waage“. Von den beiden Koalitionswechseln der FDP im Bund (1969 und 1982) blieb die Grundstruktur der sozialen Zusammensetzung ihrer Wählerschaft im Wesentlichen unberührt: deutlich unterrepräsentiert in der Arbeiterschaft, überrepräsentiert dagegen bei den Selbständigen und freien Berufen, den mittleren und höheren Beamten und leitenden Angestellten, bei den Wählern mit hoher formaler Bildung sowie bei nicht-katholischen Wählern.18 Eine Zäsur ergab sich durch das Aufkommen der Grünen, die schon im zweiten Anlauf, 1983, als ursprüngliche „Anti-Partei-Partei“19 in den Bundestag einzogen. Erfolgsursache war ihre Entwicklung aus einer breiten gesellschaftlichen Bewegung, die zur Bildung einer neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie führte. Tatsächlich haben die Grünen ihre stärkste elektorale Unterstützung in den achtziger Jahren gerade unter jüngeren und gebildeten Wählern, in Universitätsstädten und in großstädtischen Milieus erfahren. Werte wie Emanzipation, Umwelt und Frieden fanden nachhaltig Eingang. Zunächst koalitionsunfähig, vollzog sich ein Wandel – vor allem aus Blickrichtung der SPD, die nach einer Erweiterung ihrer Koalitionsoptionen trachtete und sich aus der Abhängigkeit vom Mehrheitsbeschaffer FDP befreien wollte. Trotz oder wegen ihrer Regierungszeit im Bund ging der Anteil der CDU in der Wählerunterstützung stark zurück.20 Gegen Ende der 1980er Jahre konnten

chancen nicht-etablierter politischer Parteien im Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 2006, S. 147–150. 18 Vgl. Hans Vorländer, Freie Demokratische Partei (FDP) in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 276–288. 19 Eine der maßgeblichen Köpfe der Grünen in den 1980er Jahren, Gründungsmitglied Petra Kelly, sprach in einem Interview von der „Anti-Partei-Partei“. Vgl. Petra Kelly, „Wir sind die Antipartei-Partei“. Interview über die politische Strategie der Grünen, in: Der Spiegel vom 14. Juni 1982, S. 47–56. 20 Vgl. Wichard Woyke, Das Parteiensystem im vereinigten Deutschland, in: Politische Bildung 25 (1992) 1, hier S. 23.

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Rechtsaußengruppierungen wieder Erfolge für sich verbuchen. Mit der Deutschen Volksunion, eine Einmannpartei des Münchener Verlegers Gerhard Frey, schaffte 1987 nach fast zwei Jahrzehnten in Bremen erstmals wieder eine rechtsextremistische Partei den Parlamentseinzug. Wiewohl der Erfolg ohne die wahlrechtliche Besonderheit des Stadtstaates21 nicht möglich gewesen wäre, kamen die eigentlich im Süden beheimateten Republikaner mit einem klar ausländerfeindlichen Wahlwerbespot in Berlin auf 7,5 Prozent und wurden vielfach als fünfte Partei in Erwägung gezogen.22 Mit Blick auf die Koalitionskonstellationen nahmen die Länder in den 1960er und 1970er oftmals Entscheidungen im Bund vorweg. Nach einer großen Koalition in Niedersachsen wagte man eine solche auf der nationalstaatlichen Ebene – und später in Baden-Württemberg. Als in Bonn noch die FDP mit der SPD koalierte, gab es ebenfalls in Niedersachsen bereits eine Regierung aus FDP und CDU. Eine neue Option für die SPD wiederum entwickelte sich durch die Etablierung der Grünen, die sie von 1985 an in Hessen, Hamburg, Berlin und Niedersachsen wählte und dadurch im Parteienwettbewerb strategisch flexibler wurde. Konsequenterweise sind Landesparteien gezwungen, die Auswirkung ihrer Entscheidungen auf den Bund zu bedenken.23 4. Die Parteien nach der Wiedervereinigung a) Volksparteien Nach der Wiedervereinigung stellte sich schnell heraus, dass die Volksparteien24 an Integrationskraft eingebüßt haben, obwohl der Organisationsgrad im westeuropäischen Vergleich noch immer hoch ist. Die Volksparteien und damit auch die Landesverbände sehen sich vor allem mit dem Problem des Mitgliederabgangs konfrontiert. Eine Gesamtbilanz der Mitgliederentwicklung seit der deutschen Einheit zielt in erster Linie auf die Schwäche der ostdeutschen Lan21 Die DVU erreichte landesweit lediglich 3,4 Prozent, profitierte aber von der getrennten Einteilung der Wahlbereiche in Bremen und Bremerhaven. In Bremerhaven übersprang sie die Fünfprozenthürde. 22 Vgl. etwa Claus Leggewie, Die Stunde der Populisten. Auf dem Weg ins Fünfparteiensystem, in: Jochen Buchholz (Hrsg.), Parteien in der Kritik, Bonn 1993, S. 52– 83. 23 Vgl. Jürgen Hartmann, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bundesländer, Bonn 1997, S. 9–18, hier S. 11. 24 So genannte Volksparteien wie in Deutschland SPD, CDU und CSU wollen nicht nur eine singuläre sozio-ökonomische Gruppe integrieren, sondern auch möglichst viele Gruppen einer sozio-ökonomisch differenzierten Wählerschaft einschließen. Bei Volksparteien tritt der programmatische Anspruch zugunsten des Ziels der Stimmenmaximierung zurück, und die Interessen werden kumulativ eingebracht. Vgl. grundlegend dazu Otto Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift 6 (1965), S. 20–41.

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desverbände. Rechnet man aber die ostdeutschen Zahlen heraus, ergibt sich allein für Westdeutschland zwischen 1990 und 2003 ein Schwund von 17,6 Prozentpunkten (1.444.742 Parteimitglieder).25 Selbst die Mitgliederzahl der CSU ging von 186.198 (1990) auf 170.084 (2005) zurück.26 Auch die Wahlbeteiligung nahm deutlich ab. Extrem ist das Beispiel Saarland: Gingen bei den Landtagswahlen von 1990 und 1994 noch circa 83 Prozent an die Wahlurne, sank der Anteil der Wähler 1999 auf 68,7 und 2004 gar auf 55,5 Prozent. Eine Ausnahme bildet der Stadtstaat Hamburg, wo die Wahlbeteiligung der vorgezogenen Bürgerschaftswahl von 2004 sogar die der von 1991 übertraf (68,7 zu 66,1 Prozent). Wer die Entwicklung des Parteiensystems in den alten Bundesländern allein unter dem Aspekt des Wahlerfolgs einzelner Parteien betrachtet, erkennt eine durchgehende Hegemonie über den gesamten Zeitraum in Baden-Württemberg und Bremen. Im Südwesten kann die CDU bei allen Wahlen seit Gründung des Landes mit mehr als 30 Prozent Stimmenanteile dominieren. Analoges gilt für die SPD in Bremen. In drei (CDU) bzw. fünf (SPD) Landtagswahlen konnten sie mehr als 50 Prozent der Stimmen erlangen. Am erfolgreichsten ist gleichwohl die CSU, die bei der Landtagswahl von 1950 mit 28 Prozent noch knapp hinter der SPD lag. Nachdem sie die Bayernpartei und die Vertriebenenpartei marginalisierte, konnte sie mit zehn absolut gewonnenen Mehrheiten eine einzigartige Erfolgsgeschichte schreiben und ihren bundespolitischen Anspruch begründen. Auf Seite der Sozialdemokraten ist Hamburg zu nennen, wo sie außer 1953 und 2004 stärkste Partei waren und sechsmal die absolute Mehrheit erreichten.27 In allen anderen Ländern wechselt die Dominanz der einen Volkpartei und die der anderen. Hessen zum Beispiel war bis Mitte der 1970er Jahre „rot“ geprägt und wurde danach von der CDU regiert. Ab 1983 kam es immer wieder zu Wechseln, zuletzt 1999, als ein „ungefilterter“ Regierungswechsel aus rotgrün schwarz-gelb machte (seit 2002 regiert die CDU allein). Auch in Ländern wie Niedersachen, von 1990 bis 2003 SPD-geführt, oder Schleswig-Holstein, von 1987 bis 2005 SPD-geführt, regiert nun die CDU (im letztgenannten Land allerdings mit der SPD). Nordrhein-Westfalen, bis Mitte der 1960er von der CDU beherrscht, konnte die SPD anschließend ihren Stempel aufdrücken (1985 und 1990 gewann sie die Wahlen mit absoluter Mehrheit). Zurück zur CSU: Im Zeitraum seit 1990 hat sie es als einzige Partei in Deutschland auf Länderebene vermocht, alle Landtagswahlen mit absoluter 25 Vgl. Elmar Wiesendahl, Mitgliederparteien am Ende? Eine Kritik der Niedergangsdiskussion, Wiesbaden 2006. 26 Auskunft der Parteizentrale an den Verfasser. 27 Vgl. Sven Leunig, Die Regierungssysteme der deutschen Länder im Vergleich, Opladen/Farmington Hills 2007, S. 114.

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Mehrheit zu gewinnen.28 Bei den Wahlgängen in den Jahren 1990, 1994, 1998 und 2003 konnte die CSU stets über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen erzielen. Bei der Landtagswahl von 2003 erreichte die Partei unter Edmund Stoiber mit über 60 Prozent das zweitbeste Ergebnis in der Geschichte der CSU in Bayern und im Parlament die einzige Zwei-Drittel-Mehrheit einer Regierungsfraktion in Deutschland. Mit der Deutschen Einheit und der Vergrößerung des Wahlgebiets nahm der Anteil der für die CSU abgegebenen Stimmen ab. Lag er in den achtziger Jahren regelmäßig im Zehnprozent-Bereich, so sank er in den neunziger Jahren – mit Ausnahme der Bundestagswahl 2002, als die CSU durch die Spitzenkandidatur Edmund Stoibers für das Amt des Bundeskanzlers („Stoiber-Effekt“) 58,6 Prozent erreichte – auf unter acht Prozent. Bei den Bundestagswahlen davor und danach – 1998 und 2005 – fiel die Partei unter die Fünfzigprozentmarke. Der Erfolg der CSU in Bayern macht vor hausgemachten Problemen nicht halt. Die Partei verwickelte sich zum Jahreswechsel 2006/2007 in einen handfesten Streit, der sich an der Frage, ob Edmund Stoiber auch bei der Landtagswahl von 2008 Spitzenkandidat würde, entzündete. Stoiber selbst erklärte seinen Rücktritt als Parteivorsitzender und Ministerpräsident29. Beide Ämter sollen – wie in der Vergangenheit bereits praktiziert – nun wieder geteilt werden. Ob die Querelen direkt zu einem Verlust der CSU-Hegemonie führen, steht freilich auf einem anderen Blatt. Sollte die CSU bei einer Landtagswahl unter 50 Prozent bleiben, wäre automatisch ihr bundespolitischer Anspruch bedroht. Dieser Umstand erklärt die Panik, die in der CSU nach der so genannten Pauli-Affäre um sich griff und die Partei- und Fraktionsführung erfasste. Die CDU konnte nach 1990 auf Bundesebene zwar weiterhin den Bundeskanzler stellen, verlor aber weiterhin in den Ländern. Skandale (wie die Barschel-Affäre in Schleswig-Holstein 1987, die wahrscheinlich größte in der deutschen Nachkriegsgeschichte) oder Führungskrisen (wie in Rheinland-Pfalz) haben in einigen Fällen zu einer nachhaltigen Verschiebung der Kräfteverhältnisse geführt. In Rheinland-Pfalz musste sie zum ersten Mal seit 44 Jahren in einem Bundesland die Regierungsmacht an die SPD abgeben, obwohl das in diesem Flächenstaat durch die Verankerung bei katholischen und ländlichen Wählern wenig wahrscheinlich schien. Im Jahre 1991 stellte die CDU in den alten Ländern lediglich in Baden-Württemberg den Ministerpräsident.30 Der schlechte Bundestrend der rot-grünen Regierung führte aber dazu, dass die Union ab 28 Nach wie vor grundlegend für das Verständnis des Phänomens „CSU“ sind die Studien von Alf Mintzel. Vgl. u. a. Alf Mintzel, Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg. Gewinner und Verlierer, Passau 1998. 29 Im Mai 1993 wurde Edmund Stoiber Nachfolger von Ministerpräsident Max Streibl, der zuvor im Rahmen der so genannten „Amigo-Affäre“ zurückgetreten war. 30 Vgl. Wichard Woyke, Das Parteiensystem im vereinigten Deutschland, in: Politische Bildung 25 (1992), S. 18–33, hier S. 23.

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Ende der neunziger Jahre bei den Landtagswahlen zahlreiche Wahlsiege errang. Dabei gelang es ihr, auch in solchen Regionen mehrheitsfähig zu werden, die bis dahin Stammländer der Sozialdemokratie gewesen waren (Nordrhein-Westfalen und Hamburg). Die Vorzeichen änderten sich daher für die SPD diametral in der Zeit der rot-grünen Regierung zwischen 1998 und 2005. Ihre Hochburgen Hamburg (2001) und Nordrhein-Westfalen (2005) oder während der 1980er bzw. 1990er von der CDU „eroberte“ musste sie preisgeben (Saarland und Hessen 1999, Niedersachsen 2003 sowie Schleswig-Holstein 2005). Die Hochburgen der SPD liegen im protestantisch geprägten Norden Deutschlands sowie – mit abgeschwächter Tendenz – in den Industrieregionen des Westens, vornehmlich in Nordrhein-Westfalen und im Saarland, während sich der Süden, insbesondere Bayern und Baden-Württemberg, für sie zum Diaspora-Gebiet entwickelt hat. Vielleicht ist es für die Partei ein Manko, dass sie außer in Rheinland-Pfalz keine Koalitionen mit den Liberalen aufgebaut hat. Dann wäre die CDU isoliert worden, da für sie ein Bündnis mit den Grünen (noch) keine Option darstellt.31 Die Linke innerhalb der SPD führt in Landesparteitagen oftmals das Wort, konnte sich aber (mit Ausnahme von Lafontaines Kanzlerkandidatur 1990) weder in der Führungsfrage entscheidend behaupten noch die Mehrheitsfähigkeit der Partei auf der Wählerebene herstellen.32 b) Etablierte Kleinparteien Das Scheitern der Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Wahl (die Vereinigung mit den Grünen im Osten vollzog sich erst nach der Wahl) war für die Partei ein schwerer Schlag. Mit den Sozialdemokraten in Niedersachsen (1990) und Hessen (1991) bildeten sie Landesregierungen. Die Entwicklung der Grünen von einer Anti-Parteien-Partei zu einer etablierten Reformpartei zeigte sich deutlich. Durch diesen Schritt verlor der radikal-ökologische Parteiflügel zudem mehr und mehr an Boden. Eine Konsequenz war, dass die radikalen „Fundamentalisten“ um Jutta Ditfurth aus der Partei austraten. Die innerparteilichen Konfliktlinien spielen fortan keine große Rolle mehr.33 In der ersten Hälfte der 1990er Jahre gelang es zudem erstmals, in die Landtage Schleswig-Holsteins und Nordrhein-Westfalens einzuziehen. Die Grünen haben ihr „Musterländle“34 31 Vgl. Eckhard Jesse, Das deutsche Parteiensystem seit der Europawahl 2004, in: Hans Zehetmair (Hrsg.), Das deutsche Parteiensystem. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 14–27, hier S. 22, Fn. 22. 32 Vgl. Uwe Jun, Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), in: Decker/Neu (Anm. 13), S. 381–400. 33 Vgl. Saskia Richter, Identitätsstifter. Die innerparteilichen Gruppen der deutschen Grünen, in: Patrick Köllner/Matthias Basedau/Gero Erdmann (Hrsg.), Innerparteiliche Machtgruppen, Frankfurt a. M. 2006, S. 131–155. 34 Zahlreiche Köpfe aus dem Südwesten wie Reinhardt Bütikofer und Fritz Kuhn haben bundespolitisches Format. Vgl. Michael Eilfort, Landes-Parteien: Anders, nicht

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in Baden-Württemberg, wo sie stets bessere Ergebnisse als im Bund erzielen. Bei den Landtagswahlen von 1996 und 2006 konnten sie ein zweistelliges Ergebnis (12,1 und 11,7 Prozent) für sich verbuchen, trotzdem aber aufgrund der dortigen Dominanz der CDU keine Regierungspartizipation erreichen. Derzeit sind die Grünen – anders als die FDP – in einer komfortablen Situation: Sie sitzen in allen westdeutschen Parlamenten, die Liberalen wiederum nicht im bayerischen Landtag und in den Parlamenten der Stadtstaaten. Ein anderes Bild ergibt sich mit Blick auf Regierungs- und Oppositionsrolle. Die Grünen tragen zurzeit nirgends Regierungsverantwortung (das war vor einigen Jahren anders, als die Regierungsverantwortung in den Ländern die im Bund förmlich vorwegnahm), die FDP wiederum in den Flächenstaaten Baden-Württemberg, Niedersachen, Nordrhein-Westfalen (jeweils mit der CDU), RheinlandPfalz (mit der SPD). Als Regierungspartner ist die FDP offener als die Grünen: Erstere koalieren mit beiden Volksparteien, während sich die Grünen bislang auf die SPD festlegten. Diese strategische Eindimensionalität der Grünen verstärkte sich dadurch, dass sich die SPD trotz möglicher rot-grüner Mehrheiten gegen die Grünen entschied – wie in Rheinland-Pfalz 1991 (mit der FDP), Bremen 1995 und 1999 (mit der CDU) oder Hamburg 1993 (mit der STATT Partei). Die Landespartei kann – zumindest kurzfristig – den Kurs der Bundespartei vorgeben. Nach dem Verlust der Regierungsbeteiligung im Bund geriet die FDP im Jahr 1999 in eine Existenzkrise. Die Partei musste sich fragen, ob ihre traditionelle Rolle als Funktionspartei, die sie von den 1970er Jahren an eingenommen hatte, noch zukunftsfähig war.35 Als der selbstbewusste Vorsitzende der Landespartei Nordrhein-Westfalen Jürgen W. Möllemann36 bei der dortigen Landtagswahl mit einem auf ihn zugeschnittenen Wahlkampf am 14. Mai 2000 überraschend 9,8 Prozent holte (gegenüber 4,0 Prozent bei der Wahl von 1995), war die Richtung der Partei im Bund vorgegeben. Möllemann war maßgeblich für die Strategie der Bundestagswahl von 2002 verantwortlich, überzog aber die eigene Darstellung („Projekt 18“ mit dem Ziel, eine Volkspartei zu werden37) und das Maß an Provokation. verschieden, in: Herbert Schneider/Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Landespolitik in Deutschland. Grundlagen – Strukturen – Arbeitsfelder, Wiesbaden 2006, S. 207–224, hier S. 223. 35 Vgl. Hans Vorländer, Die Schattenpartei. Mit Erfolg aus dem Scheinwerferlicht verschwunden: Die FDP, in: Zehetmair (Anm. 31) S. 159–171. 36 Möllemann war bereits lange zuvor ein „Schwergewicht“ in der FDP. Als Bundeswirtschaftsminister zwischen 1990 und 1993 hegte er nach dem Lambsdorff-Rücktritt Hoffnungen auf den Parteivorsitz, musste diese aber nach einer Affäre begraben, die ihn zum Rücktritt zwang. Bei vielen innerparteilichen Auseinandersetzungen spielte er eine Schlüsselrolle. 37 Vgl. dazu Hans Vorländer, Die FDP – eine Partei erfindet sich neu, in: Tilman Mayer/Reinhard C. Meier-Walser (Hrsg.), Der Kampf um die politische Mitte. Politische Kultur und Parteiensystem seit 1998, München 2002, S. 102–112.

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In seinem Landesverband sorgte er mit der Aufnahme eines ehemaligen Grünen-Abgeordneten Jamal Karsli für Unruhe. Dieser kam wegen seines Vergleichs des israelischen Vorgehens gegen die Palästinenser mit „Nazi-Methoden“ und der Äußerung, in Deutschland verhindere der Einfluss der „zionistischen Lobby“ jegliche Kritik an Israel, zu zweifelhafter Bekanntheit. Möllemann verteidigte Karslis FDP-Mitgliedschaft öffentlich und ließ gegen Ende des Wahlkampfes einen Flyer verteilen, der neues Öl ins Feuer goss. Nach dem enttäuschenden Abschneiden der FDP bei der Bundestagswahl galt Möllemann selbst als Sündenbock. Nach Bekanntwerden von illegalen Parteispenden an den Landesverband musste er nach dem Rücktritt als stellvertretenden Bundesvorsitzender auch das Amt des Landesvorsitzenden abgeben. Schließlich verließ er im Zuge seines Rauswurfs aus der Bundestagsfraktion die Partei im März 2003. In Folge von Durchsuchungen seiner Büros und Wohnungen sprang der Politiker im Juni 2003 in den Tod. Die unter Schock stehende, gleichsam paralysierte FDP konnte sich aber schnell erholen. Die Abkehr vom ohnehin inhaltsleeren „Projekt 18“ war einhellige Meinung. Bei den nächsten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 musste die Partei aber Stimmeneinbüßen hinnehmen (6,2 Prozent). Das Ergebnis lag dennoch über dem von 1990 und 1995. Der Bundestagswahlkampf 2005 wurde nach den Erfahrungen von 2002 wieder sehr stark von der Bundespartei gesteuert. Auch der SSW in Schleswig-Holstein ist durch seinen ständigen Sitz im Landtag dem Typ einer etablierten, wiewohl regional begrenzten Kleinpartei zuzuordnen. Bei der Landtagswahl von 2000 erzielte die Partei der dänischen Minderheit mit 4,1 Prozent ihr bestes Ergebnis seit 1950 und stellte drei Landtagsabgeordnete. Hintergrund für den Erfolg war, dass der SSW durch die Einführung des Zweitstimmenwahlrechts erstmals im ganzen Land wählbar war. Nach der Landtagswahl von 2005 (3,6 Prozent) sorgte die Partei für bundesweiten Wirbel, da sie die rot-grüne Minderheitsregierung38 tolerieren wollte. Die Einigung über die Einführung einer Einheitsschule nach skandinavischem Vorbild verband sie mit SPD und Grüne und trennte sie von CDU und FDP. Vertreter der CDU empörten sich und warfen dem SSW vor, seine minderheitspolitisch begründete Ausnahmestellung zu missbrauchen.39 Nachdem die Kandidatin für das Amt zum Ministerpräsident, Heide Simonis (SPD), in vier Wahlgängen die Mehrheit für eine Wiederwahl verfehlt hatte, war das Modell gescheitert. Seither regiert eine Große Koalition, unter Führung der CDU.

38 Die in Skandinavien übliche Minderheitsregierung ist in Deutschland eher unpopulär. Zuletzt wurde sie im Zuge der schwierigen Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl von 2005 diskutiert. 39 Vgl. Everhard Holtmann, Dürfen die das, wo sie doch Dänen sind? Über den Umgang mit Macht und Minderheiten in Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 36 (2005), S. 616–629.

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c) Außenseiterparteien aa) Die Linke Nach der Wiedervereinigung konnte sich allen Unkenrufen zum Trotz die Nachfolgepartei der SED, die PDS, erhalten und zu einer bundespolitischen Größe avancieren. Diese Welle des Erfolgs führte dazu, dass die PDS in den ostdeutschen Ländern zu einer erfolgreichen, fest etablierten Kraft wurde, die sich elektoral in Sphären von SPD und CDU aufschwang. Die westdeutschen Landesverbände der PDS hatten stets mit erheblichen Strukturproblemen zu kämpfen, bei den Wahlen erreichte die Partei maximal zwei Prozent der Stimmen.40 Ihre Anhänger reichten über das klassische DKP- und K-Gruppen-Milieu kaum hinaus. Im Westen versuchte die PDS Bündnisse mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) zu schließen, auch in gesellschaftliche Bereiche einzudringen. Kontakte verstärkten sich zu dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac. Ihre Heterogenität ist im Westen durch dieses breite Spektrum, das gegen den Verfassungsstaat gerichtete Strömungen einschließt, besonders groß. Problematisch für die PDS blieb ihre Grundausrichtung als Interessensvertretung des gesamten Ostens, die eine Westausdehnung erschwert. Das Jahr 2005 könnte eine Zäsur in der Entwicklung der PDS bedeuten – bislang war sie eine Regionalpartei des Ostens, die von einer „Wir-Identität“ in Abgrenzung von den westdeutschen Eliten lebte. Vorher war in Westdeutschland die Geschichte einer Partei links der SPD eine Geschichte des Scheiterns (ausgeklammert die Grünen). Durch das Bündnis mit der neu gegründeten „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG), einer stark gewerkschaftlich geprägten Linksabspaltung von der SPD in den alten Bundesländern, schicken sich die Postkommunisten an, ihre bisherige Stigmatisierung im Westen der Republik zu überwinden, wo sie trotz verschiedener Bemühungen eineinhalb Jahrzehnte lang über den Status einer Splitterpartei nicht hinausgekommen waren. Die WASG hatte sich als Protestpartei gegen die Sozial- und Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung (Hartz IV / Agenda 2010) formiert, war aber ohne prominente Überläufer und eine überzeugende Figur an der Spitze bei ihrer Landtagswahlpremiere in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 über 2,2 Prozent der Stimmen nicht hinausgekommen. Vor diesem Hintergrund entpuppte sich das – wahlrechtlich schwierige – Zusammengehen vor der Bundestagswahl als klassische „win-win“-Situation. Für die PDS war das neue Linksbündnis nicht nur eine de facto-Garantie für den Wiedereinzug in den Bundestag; es bedeutete auch, dass sie ihrem lang ersehnten Ziel näher rückte, endlich „im Westen anzukommen“. Die fast nur im Westen präsente WASG konnte wiederum hoffen, von der im Osten fest etablierten 40 Vgl. Meinhard Meuche-Mäker, Die PDS im Westen 1990–2005. Schlussfolgerungen für eine neue Linke, Berlin 2005.

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PDS „Huckepack“ in den Bundestag getragen zu werden, was sie im Alleingang nur schwer geschafft hätte.41 Nun konnte auch der langjährige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine gewonnen werden. Das Ergebnis sprach mit 8,7 Prozent der Stimmen (25,3 in Ostdeutschland; immerhin 4,9 Prozent in Westdeutschland) für sich. Im Saarland katapultierte die Zugkraft des einstigen Ministerpräsidenten des Landes, Oskar Lafontaine, die „erweiterte PDS“ gar auf 18,5 Prozent. Allen Bekundungen der Partei zum Trotz gilt es einige Steine für die „Parteifusion“ zwischen den quantitativ ungleichen Partnern im Juli 2007 aus dem Weg zu räumen. So kam die WASG (die schwachen Landesverbände der PDS in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz waren nach einigem Murren bereit, zugunsten der WASG von einer Wahlteilnahme Abstand zu nehmen)42 bei den Wahlen am 26. März 2005 in Rheinland-Pfalz auf 2,5 Prozent (Linkspartei.PDS bei der Bundestagswahl 5,6 Prozent) sowie in Baden-Württemberg auf 3,1 Prozent (Linkspartei. PDS bei der Bundestagswahl 3,8 Prozent). Bei der Wahl im Stadtstaat Bremen konnte die neu gegründete „Linke“ im Mai 2007 mit 8,4 Prozent deutlich zum ersten Mal in ein westdeutsches Parlament einziehen. bb) Rechtsextremisten und -populisten Bremen entwickelte sich nach dem erstmaligen Einzug 1987 zur festen Bastion der DVU. Nur zwischen 1995 und 1999 fiel sie aus der Bürgerschaft. Abgesehen von der Wahl 1991 verdankte die Phantompartei, diesen allerdings weitgehend ihrer Stärke im strukturschwachen, durch Arbeitslosigkeit geprägten Bremerhaven. Im Jahre 1992 konnte die DVU auch in den Landtag von Schleswig-Holstein einziehen, schied aber vier Jahre später wieder aus. Seither ist Bremen das einzige westdeutsche Parlament, in dem die DVU sitzt. Die Republikaner hatten ihre Schwerpunkte, nachdem sie im vereinigten Berlin aus dem Parlament „flogen“, im Süden der Republik. Während sich in Bayern die CSU der Konkurrenz von „rechtsaußen“ (1990 waren die Republikaner mit 4,9 Prozent fast im Parlament)43 erwehren konnte, zogen sie 1992 mit 10,9 Prozent in 41 Vgl. Frank Decker/Florian Hartleb, Populismus auf schwierigem Terrain. Die rechten und linken Herausfordererparteien in der Bundesrepublik, in: Frank Decker (Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, Wiesbaden 2006, S. 191–215, hier S. 208 f. Vgl. auch den folgenden Beitrag, der aber entgegen dem Titel hauptsächlich die ostdeutschen Landesverbände analysiert: Michael Koß, Durch die Krise zum Erfolg? Die PDS und ihr langer Weg nach Westen, in: Tim Spier/Felix Butzlaff/Matthias Micus/Franz Walter (Hrsg.), Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?, Wiesbaden 2007, S. 117–153. 42 Vgl. zu diesen Entwicklungen Jürgen P. Lang, Die doppelte Linke. Eine Analyse der Kooperation von PDS und WASG, in: Deutschland Archiv 39 (2006), S. 208–216, hier S. 214. 43 So sorgte der Oberbayer Franz Schönhuber, ehemaliger prominenter Fernsehjournalist des Bayerischen Rundfunks, als Redner am Politischen Aschermittwoch und in

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den Landtag von Baden-Württemberg ein. Sie knüpften damit an einzelne Erfolge von vor der Wiedervereinigung an. Geschickt instrumentalisierte die Rechtsaußenpartei das damals auf der bundespolitischen Agenda ganz oben stehende Thema „Asylmissbrauch“ und nutzte die Ressentiments in der Bevölkerung. Damit war die 20-jährige Periode der CDU-Alleinregierung beendet. Der Erfolg wiederholte sich bei den nächsten Landtagswahlen von 1996 (9,1 Prozent), obwohl die Partei nicht in anderen Bundesländern Fuß fassen konnte, der charismatische Parteivorsitzende Franz Schönhuber entmachtet wurde, die parlamentarische Arbeit wenig überzeugend ausfiel und die Asyldebatte beendet war. Erst im Jahre 2001 verfehlte sie mit 4,4 Prozent das Parlament, noch deutlicher 2006 (2,6 Prozent). Der Abschwung von DVU und „Republikanern“ bedeutet bislang aber nicht, dass die rechtsextremistische NPD in Westdeutschland an die Wahlerfolge der sechziger Jahre bzw. an die Erfolge in Ostdeutschland anknüpfen kann. Die bei der Landtagswahl 2004 im Saarland erreichten vier Prozent, bei der die Partei von der niedrigen Wahlbeteiligung profitierte, scheinen eine Ausnahme gewesen zu sein. Die zunehmende Volatilität der Wähler zeigt sich daran, dass nicht nur Rechtsaußengruppierungen, sondern auch neue populistische, erst kurz vor einer Wahl gegründete Parteien – bislang in allerdings sehr überschaubarem Rahmen – in Parlamente gelangen konnten. Besonders die Stadtstaaten Hamburg und Bremen44 erwiesen sich nach der Wiedervereinigung als Nährboden für Erfolge populistischer und extremistischer Parteien, die sich meist aber nicht wiederholten und nicht auf die anderen Bundesländer „ausstrahlten“. Besonders signifikant trat dieser Befund in Hamburg zu Tage. Zur Gründung einer STATT Partei kam es, nachdem das Hamburgische Verfassungsgericht im Mai 1993 die Bürgerschaftswahl von 1991 aufgrund schwerwiegender Demokratieverstöße beim Kandidatenaufstellungsverfahren der CDU für ungültig erklärt und eine Wiederholung der Wahl angeordnet hatte – ein einzigartiger Vorgang in der bundesrepublikanischen Parteiengeschichte. Als unmittelbare Folge des Gerichtsentscheids entstand die STATT Partei als lokale Wählervereinigung.45 Sie verstand sich ohne klares Programm vorwiegend als Forum für bürgerliche Protestwähler. Die Strategie war kurzzeitig von gefüllten Bierzelten für erhebliche Resonanz. Vgl. Stefan Immerfall/Paul Thurner, Die REPs in Bayern. Der kurze Triumph einer rechtspopulistischen Partei, in: Stefan Immerfall/Aline M. Kuntz/Alf Mintzel/Paul Thurner (Hrsg.), Parteien in Bayern. Vier Studien, Passau 1996, S. 48–100. 44 Ein weiteres Beispiel: Die Wählervereinigung „Arbeit für Bremen und Bremerhaven“ (AFB) entstand im Vorfeld der Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft 1995 als rechte Abspaltung der SPD. Das Parteiprogramm der AFB war auf wirtschafts- und finanzpolitische Themen ausgerichtet, um den Stadtstaat als Wirtschaftsstandort zu stärken. Bei den Bürgerschaftswahlen errang die AFB aus dem Stand 10,7 Prozent der Stimmen, die vor allem zu Lasten der SPD gingen. Bei der Bürgerschaftswahl im Juni 1999 fiel sie unter die Fünfprozenthürde, löste sich später auf.

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Erfolg gekrönt: Am 19. September 1993 erhielt die STATT Partei aus dem Stand heraus 5,6 Prozent. Damit hatte die SPD ihre lange währende absolute Mehrheit verloren, so dass der Erste Bürgermeister Henning Voscherau eine Koalition eingehen musste. Als Ergebnis der Sondierungsgespräche ergab sich eine Kooperation der SPD mit der STATT Partei (den Begriff Koalition lehnte die Wählervereinigung ab). Die erstmals ins Parlament eingezogene Partei übernahm somit Mitverantwortung an der Regierung (die STATT Partei nominierte keine eigenen, sondern zwei parteiungebundene Senatoren). Federn musste die neue Partei aber schnell im Regierungsalltag lassen. Die Partei mutierte in der öffentlichen Wahrnehmung zum bloßen Anhängsel der regierungserprobten SPD. Nur ein gutes halbes Jahr nach der Gründung fasste die STATT Partei den vorschnellen Beschluss, sich als Bundespartei zu konstituieren. Damit stand sie vor einer schweren Zerreißprobe. Allerdings wäre die Expansion schwer zu verhindern gewesen, da das Erfolgsmodell „STATT Partei“ interessant klang und Breitenwirkung fand. Die Probleme häuften sich: Aus Protest gegen die Abkehr vom Modell einer lokalen Wählervereinigung trat eine Reihe von Gründungsmitgliedern wieder aus. Die Hamburger Führungsspitze um Markus Wegner erkannte den niedersächsischen Landesverband zunächst nicht an. Dieser hatte wiederum mit einem Trittbrettfahrer von rechtsaußen zu kämpfen, der als NEUE STATT Partei auftrat. Im Juni 1995 verließ Parteigründer Wegner Fraktion und Partei, nachdem er schon im November 1994 den Posten als Fraktionschef räumen musste. Mit Folgen: Die STATT Partei verlor ihren Fraktionsstatus und konnte mit fünf Abgeordneten nur mehr als parlamentarische Gruppe agieren. Die Hamburger STATT Partei konnte sich nach einigen Anstrengungen erst kurz vor der Bürgerschaftswahl von 1997 wieder formieren. Die Bemühungen fanden jedoch keinen Widerhall, die Partei verpasste den Wiedereinzug in das Parlament. Das Modell STATT Partei war damit gescheitert. Eindrucksvoller gestaltete sich der Aufstieg und Fall der Schill-Partei. Bereits 14 Monate nach ihrer Gründung konnte sie im September 2001 bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen 19,4 Prozent der Wählerstimmen gewinnen. Nie zuvor hatte in der Geschichte der Bundesrepublik eine erst neu entstandene Partei einen derart hohen Erfolg erzielt. Um die Entwicklung der Partei Rechtsstaatlicher Offensive angemessen zu beurteilen, bringt ein Blick auf die Vorgeschichte von Ronald B. Schill, der vorher nicht politisch aktiv war. Drakonische Urteile hatten den ehemaligen Strafrichter am Hamburger Amtsgericht in der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die neu gegründete Partei konnte aus mehreren Gründen triumphieren: Erstens gab es für sie in Hamburg durch das Kriminali45 Vgl. Frank Decker, Die Hamburger STATT Partei. Ursprünge und Entwicklung einer bürgerlichen Wählerbewegung, in: Jahrbuch für Politik 4 (1994), S. 249–294, hier S. 250–258.

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tätsthema eine optimale politische Gelegenheitsstruktur, zweitens war ihr Gründer als früherer Amtsrichter im bürgerlichen Lager salonfähig, sodass man ihn also nicht ohne weiteres als Rechtsextremisten in die Ecke stellen konnte, und drittens verfügte Schill über genügend Ausstrahlungskraft und populistische Begabung, um die Nähe zum umworbenen Volk herzustellen.46 Im Anschluss regierte eine von Medien als „Bürgerblock“ bezeichnete Koalition aus CDU, Schill-Partei und FDP unter Führung des Ersten Bürgermeisters Ole von Beust (CDU). Die Schill-Partei stellte drei Senatoren. Bei den Koalitionsverhandlungen musste die Partei einige ihrer illusorischen Wahlversprechen zurücknehmen; ihre öffentliche Wahrnehmung verschlechterte sich durch die Reizfigur Ronald B. Schill und die vorschnellen bundesweiten Expansionspläne. Bereits die erste Kandidatur der Schill-Partei außerhalb Hamburgs endete aber mit einer – wiewohl achtbaren – Niederlage. Bei der Landtagswahl in SachsenAnhalt im April 2002 blieb das Ergebnis mit 4,5 Prozent weit hinter den Erwartungen zurück. Dennoch heizte der nur knapp verpasste Einzug in den Landtag die Spekulationen um eine Teilnahme an der Bundestagswahl an. Gegen die Warnung der Parteispitze um Ronald Schill beschloss die Partei am 22. Juni in Hamburg überraschend, zur Bundestagswahl anzutreten. Das Ergebnis gab den Warnern Recht. Die Schill-Partei erhielt nur 0,8 Prozent der Stimmen und musste ihre Hoffnungen auf eine Bundesausdehnung begraben. Das Dreierbündnis von CDU, Schill-Partei und FDP hielt lediglich etwas mehr als die Hälfte der Legislaturperiode lang. Ronald Schill machte als Innensenator und Zweiter Bürgermeister weniger durch Sachpolitik, als durch öffentliche Kapriolen und tabubrecherische Provokationen von sich reden. Am 19. August 2003 gab Ole von Beust die Entlassung Schills bekannt. Nachdem Schill – gegen seine Zusicherung – nicht davon abließ, die eigene Partei und Fraktion fortwährend zu kritisieren, sagte sich diese endgültig von ihm los und schloss Schill zuerst aus der Fraktion und später auch aus der Partei aus. Die Spaltung der Schill-Fraktion in der Bürgerschaft veranlasste Bürgermeister von Beust, die Koalition zu beenden und vorzeitige Neuwahlen auszurufen. Aus dieser gingen die „Rest-PRO“ mit 0,4 Prozent als klarer Verlierer hervor, während die mit der bis dato unbedeutenden Pro-DM Partei des Düsseldorfer Unternehmers Bolko Hoffmann zusammengeschlossene Schill-Partei auf immerhin noch 3,1 Prozent der Stimmen kam, die aber ebenfalls nicht für den Einzug in die Bürgerschaft reichten. Schill erklärte daraufhin seinen endgültigen Abschied von der Politik, seine einstige Partei konnte sich nicht mehr regenerieren.

46 Vgl. Frank Decker, Rechtspopulismus in der Bundesrepublik Deutschland. Die Schill-Partei, in: Nikolaus Werz (Hrsg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 223–242.

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5. Schlussfolgerungen (1) In der „Berliner Republik“ werden die Landtagswahlen noch stärker als zuvor auf ihre bundespolitische Durchschlagwirkung hin interpretiert. Diese Sichtweise kulminierte nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai 2005, welche der damalige Bundeskanzler selbst zum Anlass genommen hatte, Neuwahlen im Bund herbeizuführen. Dieser Schritt war zudem eine Folge von zahlreichen Wahlniederlagen auf Landesebene, wo indirekt der sozialstaatsreformatorische Kurs der Bundesregierung bestraft wurde. (2) Kleinparteien (die rechten und linken Flügelparteien wie programmatische Nischenparteien) sind offenkundig im Aufstreben, auch wenn Erfolge in Westdeutschland sich bislang vor allem auf die Stadtstaaten beschränkten und – siehe Schill-Partei und STATT Partei – Eintagsfliegen waren. Der Sonderfall SSW als Vertretung der dänischen Minderheit blieb nach der Einheit bestehen. Die PDS hat mit einer Parteifusion mit einer westdeutschen Splittergruppierung ihre Anstrengungen verstärkt, im Westen Fuß zu fassen. Ihr Ziel könnte sie – ein Gesetz, das verallgemeinerbar ist – am ehesten in den Stadtstaaten erreichen. Das konnte die Partei mit dem neuen Namen „Die Linke“ bereits in Bremen zeigen. (3) Relativ zu den ostdeutschen Ländern ist das landespolitisch per se bedeutende Protestmotiv weit weniger ausgeprägt. Es hat sich meist ein Drei- bzw. Vierparteiensystem (die FDP ist in einigen Ländern im Unterschied zu den Grünen parlamentarisch nicht vertreten) herausgebildet. (4) Das derzeitige Übergewicht der Union im Bereich der westdeutschen Landesregierungen bildete sich während der rot-grünen Regierungszeit auf Bundesebene heraus. Eine ähnliche Entwicklung zugunsten der SPD hatte sich in den neunziger Jahren ereignet, als es der noch bis zum Jahr 1998 im Bund in der Opposition stehenden Partei gelang, Regierungsmehrheiten in zuvor von der CDU regierten Ländern zu bilden. Unter der Großen Koalition dürfte sich nach dieser Logik eher ein Ausgleich zwischen den beiden ergeben, was bedeutet, dass die jeweilige Stammbastion (wie die Wahlen im Jahre 2006 in BadenWürttemberg und Rheinland-Pfalz deutlich gezeigt haben) erhalten bleibt. (5) Die bayerische CSU konnte ihre Erfolgsgeschichte auch in der neuen Bundesrepublik fortschreiben. Nach den hausgemachten Querelen zur Jahreswende 2006/2007 spricht vieles dafür, dass sie ihr Ergebnis von 2003 weit nicht mehr erreicht. Eine andere Frage ist, ob sie auch ihre absolute Mehrheit verlieren wird. Damit würde ihr bundespolitischer Anspruch verloren gehen – mit gravierenden Folgen für das unionsinterne Gefüge. (6) Der Mitgliederabgang und die sinkende Wahlbeteiligung wirken sich für die westdeutschen Parteien deutlich aus. Aus diesem Alarmzeichen lässt sich gleichwohl keine Niedergangsthese der Parteien herleiten. Offenkundig müssen

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die Parteien nach neuen, virtuellen Wegen der Rekrutierung suchen. Gleichwohl ist von einer großen Stabilität des westdeutschen Parteiensystems zu sprechen, eine „critical election“ gab und gibt es nicht (sieht man vielleicht von der Bürgerschaftswahl 2001 in Hamburg einmal ab). (7) Die Koalitionsmuster sind seit der Wiedervereinigung vielfältiger geworden, selbst wenn es immer wieder im Unterschied zum Bund zu Alleinregierungen kommt. In Bremen waren die Parteien 1991 angesichts der Mehrheitsverhältnisse gezwungen, Regierungen mit drei Koalitionspartner (Ampelkoalition aus SPD, Grüne und FDP) zu vereinbaren, welche aber nach Schwierigkeiten vorzeitig endete. Auch neue Parteien wurden an der Regierung beteiligt – wie in Hamburg 1993 die STATT Partei von der SPD in der abgeschwächten Form der Kooperation und die Schill-Partei 2001 von der CDU im Verbund mit der FDP. Auch muss die stimmenstärkste Partei – wie im vorherigen Beispiel die Hamburger SPD 2001 – nicht automatisch die Regierung stellen. (8) Vieles ist in den alten Bundesländern im Fluss, die Volatilität nimmt zu. Neue Koalitionskonstellationen wie Schwarz-grün werden daher immer wahrscheinlicher.

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Landesregierungen in den alten Bundesländern seit 1990 Land/ BWÜ Jahr

BAY

BRE

HAM

HES

NDS

NRW

RLP

SAA

SWH

1990 CDU** CSU

SPD*

SPDFDP*

CDUFDP*

SPD

CDUFDP*

SPD

SPD**

1991

SPDB90/ GrüneFDP

SPD

SPDB90/ Grüne

SPDB90/ Grüne

1992 1993

CDUSPD

1994

CSU

1995 1996 1997

SPDCDU

CDUFDP

1998

2002

CDUFDP

2003

CSU

2004

SPDCDU

CDU

2007

CDUFDP

SPDB90/ Grüne

CDU

CDU SPDB90/ Grüne

CDU CDUFDP

SPDB90/ Grüne

* seit 1987; ** seit 1988. Quelle: Eigene Zusammenstellung nach amtlichen Statistiken.

SPDB90/ Grüne

SPDFDP

CDUFDP

2005 2006

SPDFDP

SPD CDUFDP

CDUSchillParteiFDP

SPD

SPD SPDB90/ Grüne

SPDB90/ Grüne

SPDCDU

2000

SPD

SPDB90/ Grüne

CSU

1999

2001

SPDSTATT Partei

SPDFDP

SPD

CDUSPD

Koalitionsaussagen der Parteien vor Bundestagswahlen Von Eckhard Jesse 1. Einleitung Die Bundesbürger konnten bisher an 16 Bundestagswahlen teilnehmen. Davon fanden nur drei – 1972, 1983 und 2005 – vor Ablauf der Legislaturperiode statt. 1972 hatte die sozial-liberale Regierung unter Willy Brandt im Parlament ihre Mehrheit verloren; 1983 wollte Helmut Kohl, der durch ein konstruktives Misstrauensvotum Bundeskanzler geworden war, die Legitimität der neuen christlich-liberalen Koalition durch Bundestagswahlen verstärken; 2005 trat Gerhard Schröder nach den Wahlniederlagen der SPD in den Bundesländern die Flucht nach vorn an und stellte sich dem Wählervotum. Bei Licht besehen gab es nur 1972 keine Mehrheit mehr für die Regierungsparteien. Das ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der ersten deutschen Demokratie ein erstaunliches Zeichen der Stabilität. Dieser Beitrag will die – vernachlässigte – Frage untersuchen, ob diese Stabilität auch ein Ausdruck der Tatsache ist, dass vor den Wahlen bereits Koalitionsaussagen in einer Koalitonsdemokratie wie der Bundesrepublik Deutschland getroffen werden. Wegen des Proportionalwahlrechts sind Koalitionen unvermeidlich. Werden sie nach der Wahl ausgehandelt oder bloß ratifiziert? Die Abhandlung ist folgendermaßen aufgebaut. Nach einem Überblick zum Parteiensystem in Deutschland soll geprüft werden, ob und inwiefern die Parteien vor den Wahlen Koalitionsaussagen getroffen haben. Dabei steht naturgemäß die Rolle der – meistens – dritten Kraft, der FDP, im Vordergrund.1 Durch die letzte Bundestagswahl ist insofern eine neue Situation eingetreten, als es erstmals (nach 1949) nicht zu einem Bündnis einer großen Partei mit einer kleineren gereicht hat. Dieser Sachverhalt dürfte Konsequenzen für die Frage der Koalitionsaussagen haben. Im Beitrag geht es in erster Linie um den Bund und nur am Rande um die Bundesländer.2

1 Vgl. Marco Michel, Die Bundestagswahlkämpfe der FDP 1949–2002, Wiesbaden 2005. 2 Vgl. dazu Uwe Jun, Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern. Theoretische Betrachtungen, Dokumentation und Analyse der Koalitionsbildungen auf Länderebene seit 1949, Opladen 1994.

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2. Kennzeichen des deutschen Parteiensystems Das hiesige Parteiensystem zeichnete sich lange durch ein hohes Maß an Stabilität aus. Wer eine Periodisierung vornimmt, kann dies nach verschiedenen Gesichtspunkten tun. Um einige Beispiele zu nennen: Eine Möglichkeit ist es, danach zu fragen, welche politischen Lager dominierten. Der langen Hegemonie durch die Union (1949–1969) folgte eine kürzere Hegemonie der SPD (1969–1982); zwischen 1982 und 1998 bestimmte erneut die Union lange die Richtlinien der Politik, ehe der SPD diese Machtposition zufiel (1998–2005). Seit 2005 stellt die Union das Amt des Kanzlers, aber in einer Koalition mit der SPD. Die FDP ist allerdings diejenige Partei, die am längsten an den Schalthebeln der Macht vertreten war, wenn auch nur als Juniorpartner. Eine andere Möglichkeit ist es, auf Konzentration und Dekonzentration abzustellen. Bald nach der Bundestagswahl 1949 setzte eine Parteienkonzentration ein, die das traditionell buntscheckige deutsche Parteiensystem homogenisierte.3 Neben der Union und der SPD konnten sich nur die Liberalen, aufgrund ihrer Funktion im Parteiensystem als „Partei der zweiten Wahl“4 apostrophiert, im Wettbewerb der Parteien behaupten. Zwischen 1961 und 1980 gab es lediglich drei Fraktionen im Bundesparlament. Bei der Bundestagswahl 1983 zogen die Grünen das erste Mal in den Bundestag ein. Mit der deutschen Einheit wuchs durch die PDS die Zahl der Bundestagsparteien auf fünf an.5 In den sechziger Jahren betrug der Anteil für die beiden Volksparteien über 80 Prozent. Er stieg in den siebziger Jahren auf über 90 Prozent, fiel in den achtziger Jahren, lag aber über 80 Prozent. Diese Marke wurde bei den drei Bundestagswahlen in den neunziger Jahren unterschritten (zwischen 76,0 und 77,9 Prozent). Nur bei der allerersten Bundestagswahl, die noch Züge des Weimarer Parteiensystem widerspiegelte6, erhielten die beiden großen Parteien (60,2 Prozent) weniger als 3 Vgl. u. a. Peter Lösche, Kleine Geschichte der deutschen Parteien, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1994; Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2000; Oscar W. Gabriel/Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, 2. Aufl., Bonn 2001; Emil Hübner/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parteien und Wahlen in Deutschland, München 2003. Siehe vor allem die politikwissenschaftliche Analyse von Oskar Niedermayer, Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems: eine quantitative Analyse, in: Markus Klein/Wolfgang Jagodzinski/Ekkehard Mochmann/Dieter Ohr (Hrsg.), 50 Jahre empirische Wahlforschung in Deutschland, Opladen 2002, S. 106–125. 4 So Jürgen Dittberner, FDP – Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1987. 5 Die Partei der Grünen war nach der ersten Bundestagswahl im wiedervereinigten Deutschland 1990 nicht im Bundestag vertreten (wohl aber das ostdeutsche Bündnis 90), die PDS nicht nach der Bundestagswahl von 2002 (mit der Ausnahme von zwei weiblichen Abgeordneten, die ihren Wahlkreis direkt gewonnen hatten). 6 Vgl. Jürgen W. Falter, Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn, in: Politische Vierteljahresschrift 22 (1981), S. 236–263.

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2005 (69,5 Prozent). Diese Verluste korrelieren positiv mit schwindender Parteiidentifikation, gesunkener Wahlbeteiligung (sie fiel bei keiner Bundestagswahl noch nie so niedrig aus wie 2005: 77,7 Prozent) und massiven Mitgliederrückgängen. Schließlich kann man nach der Symmetrie des Parteiensystems fragen: Die Asymmetrie des Parteiensystems begünstigte bis Ende der sechziger Jahre die Union. Die kleinen Parteien waren überwiegend bürgerlich ausgerichtet. Die FDP fungierte als eine Art Auffangbecken für die Union. Die Asymmetrie setzte sich fort, zunächst zugunsten der SPD. Die Liberalen schlugen zur Zeit der großen Koalition 1966 bis 1969 einen Kurswechsel ein und koalierten mit der SPD, während die Union ohne Koalitionspartner dastand. Der Regierungswechsel im Herbst 1982, bestätigt durch die Wahl im Frühjahr 1983, führte einerseits die Asymmetrie fort (jetzt wieder zugunsten der Union) und schwächte sie andererseits ab (durch das Aufkommen der zunächst freilich weder koalitionswilligen noch -fähigen Grünen). Diese Doppelfunktion der Bundestagswahl 1983 erlebte, in anderer Weise, im Wiedervereinigungsjahr 1990 eine Neuauflage. Einerseits deutete sich erstmals eine Symmetrie7 des Parteiensystems durch die pragmatischer gewordenen Grünen an, andererseits zog mit der PDS eine fünfte, nicht als koalitionsfähig geltende Partei ins Parlament, welche die sich anbahnende Symmetrie zu konterkarieren schien. In der Folge konnte die PDS zunächst kein Regierungsbündnis auf Bundesebene gefährden: nicht 1994, nicht 1998, nicht 2002. Das Ausscheiden vieler Fundamentalisten bei den Grünen8 führte zu einem rot-grünen „Block“. 1998, also erst nach fast 50 Jahren, fand ein ungefilterter Regierungswechsel statt. Die „asymmetrische Stabilität des Parteiensystems“9 schien damit beendet. Nach der Bundestagswahl 2005 besaß Schwarz-gelb zwar mehr Stimmen als Rot-grün, doch reichte es wegen der Stärke der Linkspartei nicht zu einem Regierungswechsel.

7 Dieser Begriff bedarf freilich einer dreifachen Einschränkung: Erstens propagierte die SPD noch kein Bündnis mit den Grünen; zweitens war der Stimmenabstand zwischen Schwarz-gelb und Rot-grün beträchtlich; drittens schließlich scheiterten die Grünen (im Westen), nicht zuletzt wegen der (sofortigen) Ablehnung der Wiedervereinigung, an der Fünfprozenthürde. 8 Vgl. die Standardwerke von Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1992; Die Zukunft der Grünen. „So kann man nicht regieren“, Frankfurt a. M./New York 2001. 9 In diesem Sinne Richard Stöss, Mehr Kontinuität als Wandel. Das Parteiensystem vor und nach der deutschen Vereinigung, in: Roland Czada/Helmut Wollmann (Hrsg.), Von der Bonner zur Berliner Republik. 10 Jahre Deutsche Einheit (= Sonderheft 19 der Zeitschrift Leviathan), Wiesbaden 2000, S. 313.

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3. Koalitionsaussagen vor der Wahl Bei der ersten Bundestagswahl 1949 waren sich Konrad Adenauer und Kurt Schumacher, die Spitzenkandidaten von Union und SPD, darin einig, keine große Koalition anzustreben, auch wenn es in ihren Reihen andere Positionen gab. Die FDP, die im Frankfurter Wirtschaftsrat gut mit der Union zusammengearbeitet hatte, ließ als antisozialistische Kraft klar ihre Sympathien für ein Bündnis mit der Union erkennen, insbesondere für die Wirtschaftspolitik Ludwigs Erhards. Das galt ebenso für die aus der Niedersächsischen Landespartei hervorgegangne Deutsche Partei. Auch sie hatte positive Erfahrungen im Wirtschaftsrat mit der Union gemacht. Die Union bildete mit beiden Parteien eine Koalition, die zunächst nur über eine hauchdünne Mehrheit im Bundestag verfügte. Daher sah sie sich zu beträchtlichen Konzessionen gegenüber den Koalitionspartnern gezwungen. Die SPD war im Bundestag isoliert. Mit der vom SED-Regime abhängigen KPD wollte sie partout nichts zu tun haben. Vor der zweiten Bundestagswahl 1953 ließ die Union keinen Zweifel daran, die als erfolgreich empfundene Arbeit der Koalition fortzusetzen. So half sie der DP und stellte in einigen Wahlkreisen keinen Kandidaten auf, um den Weg für Direktmandate der DP zu ebnen. Gleiches galt auch für die FDP. Ihr Bundesvorstand fasste Ende Juli folgende Resolution: „Die Freie Demokratische Partei ist entschlossen, die von ihr seit den Tagen des Wirtschaftsrates in Gang gesetzte und in der Folgezeit von ihr wesentlich bestimmte Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik mit ihren überzeugenden Erfolgen nach den Bundestagswahlen fortzusetzen und zu vollenden. Ein Richtungswechsel dieser Politik würde nach dem bisherigen Verhalten der Opposition bedenkliche Folgen für die innen- und außenpolitische Lage Deutschlands haben. Behauptungen, die Freie Demokratische Partei erstrebe eine Koalition mit der SPD, entbehren jeder Grundlage.“10 Diese Deutlichkeit ließ der Gesamtdeutsche Block/ Block der Heimatvertriebenen, der bei den Landtagswahlen zwischen 1950 und 1952 zum Teil große Erfolge erreicht hatte, vermissen, auch wenn er danach mit der FDP und der DP zum Juniorpartner der Union avancierte. Diese hatte mit 45,2 Prozent der Stimmen ganz knapp die absolute Mehrheit der Mandate erreicht. Trotzdem ging sie gleich mit drei Parteien eine „unechte Koalition“11 ein. Der Union war an einer verfassungsändernden Zweidrittel-Mehrheit gelegen (mit Blick auf die Wehrpolitik), sie wollte aber auch aus prinzipiellen Gründen ihre Regierung auf eine breite Basis stellen. Das Wahljahr 1957 stellte insofern eine Ausnahme dar, als zwei der drei Koalitionspartner von 1953 das Bündnis 1955 (GB/BHE) und 1956 (FDP) verlassen hatten. Deswegen lavierten die Koalitionsaussagen dieser beiden Parteien. 10 11

Zitiert nach Michel (Anm. 1), S. 61. So die Terminologie von Jun (Anm. 2), S. 32.

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Die FDP suchte sich im Wahlkampf als eigenständige Kraft zu profilieren. „Das permanente Ausweichen vor einer klaren Beantwortung der Koalitionsfrage entwickelte sich zum großen Problem der Liberalen, die ihren Wahlkampf unabhängig führen wollten.“12 Die DP entfachte vor der Wahl eine Kontroverse mit der Union, sprach sich dann aber doch für eine Fortsetzung der Koalition aus.13 Die DP verdankte ihren Einzug in den Bundestag der CDU, die wiederum in einigen Wahlkreisen auf die Aufstellung eigener Kandidaten verzichtet hatte. Trotz ihrer absoluten Stimmenmehrheit von 50,2 Prozent ging die Union erneut mit der inzwischen entkräfteten DP eine Koalition ein. Im Jahre 1961 legte sich die FDP klar fest, da die Haltung von 1957 als großer Fehler galt. Die neue Linie lautete wie folgt: ein Ja zu einer Koalition mit der Union (jedoch nicht unter den Bedingungen einer absoluten Mehrheit für sie), ein Nein zu einer erneuten Kanzlerschaft Adenauers. Diese Strategie trug Früchte und führte zu einem großen Erfolg (12,8 Prozent), den die Partei jedoch durch ihren Wortbruch verspielte. Sie akzeptierte schließlich eine befristete Kanzlerschaft Adenauers, wobei der Parteivorsitzende Erich Mende nicht bereit war, in das Kabinett einzutreten. Gleichwohl haftete der FDP in der Folge das Stigma der „Umfall“-Partei an. Die DP, die sich ausgerechnet mit dem GB/BHE, der eine ganz andere Wählerklientel ansprach, zur Gesamtdeutschen Partei zusammengeschlossen hatte, vermied eine Koalitionsaussage. Aber dieser Umstand verhinderte das Scheitern der neuen Partei an der Fünfprozenthürde nicht. Die politische Entwicklung der Jahre zuvor erleichterte der FDP 1965 eine Koalitionsaussage zugunsten der Union (unter dem Vorbehalt, diese werde nicht die absolute Mehrheit erringen), anders als 1961. „Erstens befand sie sich im Gegensatz zu 1961 bereits in der Regierung. Zweitens hatte die Zusammenarbeit zwischen den Koalitionsparteien seit dem Amtsantritt Erhards besser funktioniert als in der krisenreichen Zeit vom Herbst 1961 bis zum Herbst 1963. Drittens galt Erhard weithin als ein Politiker ,liberalen‘ Typs. Er schien der ,Wunschkanzler‘ der FDP zu sein. Viertens wurde die Position der FDP durch die inneren Auseinandersetzungen der CDU/CSU gestärkt. So konnte die FDP mit gewisser Berechtigung behaupten, man müsse erst recht FDP wählen, wenn man Erhard und Schröder wolle.“14 Zwar stand die SPD wie bei den Bundestagswahlen zuvor ohne sonderliche Unterstützung da, doch hoffte sie angesichts ihrer starken Annäherung an die Union auf eine Regierungsbeteiligung, zumal sich manche Politiker aus deren Reihen dafür aufgeschlossen zeigten. 12

Michel (Anm. 1), S. 77. Hermann Meyn, Die Deutsche Partei. Entwicklung und Problematik einer national-konservativen Rechtspartei nach 1945, Düsseldorf 1965, S. 58. 14 So Heino Kaack, Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971, S. 289. 13

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Eine Koalitionsaussage für die Zeit nach dem Jahr 1969 war für die FDP ebenso schwierig wie 1957 und 1961, weil sie aufgrund der 1966 gebildeten Großen Koalition die Oppositionsrolle innehatte. Die Partei legte sich zwar nicht fest, doch ließ sie mannigfach ihre Sympathie für eine Neuorientierung erkennen, damit also für ein Bündnis mit der SPD (etwa durch den Wechsel des Vorsitzes: vom national-liberal geprägten Erich Mende zum eher sozial-liberal ausgerichteten Walter Scheel oder durch die Unterstützung Gustav W. Heinemanns bei der Bundespräsidentenwahl im März 1969). Zudem machte Scheel wenige Tage vor der Wahl seine Präferenzen für die SPD deutlich.15 Er ließ sich nach der Wahl von einem großzügigen Koalitionsangebot der Union nicht beirrren. Die Union und die SPD hielten sich bedeckt, schlossen weder die Fortsetzung der großen Koalition noch ein Bündnis mit den Liberalen aus. Die NPD, die sich Hoffnung machte, in den Bundestag einzuziehen, bezog entschieden gegen die „Systemparteien“ Stellung. Nachdem die sozial-liberale Regierung die Jahre zuvor heftig von der Union attackiert wurde und deren Konstruktives Misstrauensvotum gescheitert war, gab es für die FDP keinen Zweifel an ihrem Votum, vehement für die Fortsetzung der sozial-liberalen Koalition einzutreten. Das Wort vom „historischen Bündnis“ (Werner Maihofer) zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus machte die Runde.16 Die Aussage, „die Wähler haben einen Anspruch darauf, vor der Wahl zu erfahren, was die Parteien nach der Wahl anstreben“17, war in dieser Form neu. Wählerinitiativen, die den Liberalen nahe standen, starteten Zweitstimmenkampagnen.18 Die Sozialdemokraten legten sich ebenso, wie auch bei den nächsten beiden Bundestagswahlen, auf den Koalitionspartner fest. Die Union stand im Dreiparteiensystem ohne Unterstützung da, benötigte für die Regierungsbildung eine absolute Mehrheit. 1976 verfehlte die Union diese mit 48,6 Prozent der Stimmen knapp. Der Anspruch Helmut Kohls als der Spitzenkandidat der weitaus stärksten politischen Kraft auf das Kanzleramt war nicht begründet, denn die Liberalen hatten vor der Wahl klar für ein Bündnis mit den Sozialdemokraten unter Helmut Schmidt votiert. Allerdings verhielt sich die FDP im Vergleich zu 1972 weniger konfrontativ gegenüber der Union. Die FDP erklärte, sie sei entschlossen, „unter Verwirklichung eines Höchstmaßes an liberaler Politik die Koalition auch 15

Vgl. Michel (Anm. 1), S. 126. Bis zum Jahre 1977 trat die FDP auf Landesebene in keine von der Union geführte Regierung ein. Die Bundespolitik schlug, anders als früher, voll auf die Landespolitik durch. 17 Zitiert nach Michel (Anm. 1), S, 141. 18 Damit wurde indirekt auf die Unkenntnis der Wähler spekuliert. Denn wer der FDP seine Zweitstimme gab und der SPD seine Erststimme, beging keinen Kompromiss, sondern begünstigte die FDP. Der Hinweis der Liberalen im Zusammenhang mit dem Stimmensplitting auf den mündigen Wähler war eine Farce. 16

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weiterhin zu einem gemeinsamen Erfolg für unser Land zu machen.“19 Bei der Werbung um Zweitstimmen richteten sich die Liberalen nicht nur an Wähler der SPD, sondern auch an solche der Union. Im Jahre 1980 votierte die FDP erneut für ein Bündnis mit der SPD, wenngleich die Koalitionsaussage zurückhaltender ausfiel als zuvor. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten (vor allem in der Wirtschafts- und Außenpolitik) schwand allmählich. In den Bundesländern war es zu ersten Koalitionen der Liberalen nach Ende der sechziger Jahre gekommen. Vereinzelt plädierten FDP-Politiker wie Josef Ertl sogar dafür, die Koalitionspräferenzen für die Bundestagswahl 1980 offen zu halten. Diese Strategie hatte schon deshalb keine Aussichten, weil Franz Josef Strauß, der zur Polarisierung der politischen Lager beitrug, als Spitzenkandidat der Union ins Rennen ging. Obwohl die SPD auf die FDP angewiesen war, schlugen Teile ihres linken Flügels einen Kurs ein, der die Entfremdung zu den Liberalen verstärkte. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 1983, nach dem „fliegenden“ Wechsel der FDP von der Union zur SPD, waren die Liberalen in einer schwierigen Position. Sie sahen ihre Existenz als bedroht an und setzten sich für die Fortsetzung der neuen Koalition mit der Union ein und warben um die Zweitstimmen von Wählern aus den Reihen der Union, die diese Strategie nur zurückhaltend kritisierte, benötigte sie doch die FDP für die Koalition. An einer Alleinregierung konnte jedenfalls die CDU kein gesteigertes Interesse hegen.20 Schließlich warnte die FDP vor einer rot-grünen Koalition, obwohl die Grünen sich eigens als „regierungsunwillig“ bezeichnet hatten. Die SPD strebte daher auch kein Bündnis mit ihnen an, zumal die neue Partei aus SPD-Sicht noch als „regierungsunfähig“ galt. Vier Jahre später, 1987, bestand für die FDP keine Notwendigkeit, die Koalitionsaussage für die Union in Frage zu stellen. Otto Graf Lambsdorff erklärte: „CDU und CSU sind für die FDP politische Konkurrenten – unsere Gegner aber sind SPD und Grüne.“21 Die FDP könne ihre Politik gegenwärtig am besten in einem Bündnis mit der Union verwirklichen. Zu einer solchen Aussage vermochten sich sinngemäß auch die Grünen mit Blick auf die SPD durchzuringen.22 Während die Union die FDP als Koalitionspartner ins Auge fasste, ging

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Zitiert nach Michel (Anm. 1). Für die CSU, die der FDP ferner stand als die CDU, stellte sich dies anders dar. Franz Josef Strauß wäre bei einer Alleinregierung der Union vermutlich Außenminister geworden. 21 Zitiert nach Michel (Anm. 1), S. 197. 22 Vgl. Manfred Knoche/Monika Lindgens, Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere. Die Grünen im Bundestagswahlkampf 1987: Neue Politik, Medienpräsenz und Resonanz in der Wählerschaft, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1987, Opladen 1990, S. 572. 20

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die SPD unter ihrem Kanzlerkandidaten Johannes Rau auf gewisse Distanz zu den Grünen – sei es aus prinzipiellen Gründen, sei es aus wahlstrategischen. Die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen 1990 änderten trotz der sonstigen tiefen Einschnitte an den Koalitionsaussagen der Parteien im Kern nichts. Die FDP bejahte das Bündnis mit der Union, das sich im Zuge der deutschen Einheit bestens bewährt habe, warnte jedoch vor einer absoluten Mehrheit der Union. Damit erinnerte diese Aussage stark an die vor der Bundestagwahl 1983, obwohl die Ausgangslage 1990 für die Liberalen weitaus günstiger war als 1983. Die „koalitionspolitische Flexibilität“23 der FDP auf der Landesebene hatte auf den Bund keine Rückwirkungen. Die SPD machte keine deutliche Aussage für ein Bündnis mit den Grünen, während diese ein solches favorisierte. Die PDS sah sich als reine Oppositionspartei und wurde ebenso gesehen. Auch bei den Bundestagswahlen 1994 blieb die bisherige koalitionspolitische Konstellation erhalten.24 Zwar steuerte die FDP in der Koalitionsfrage zunächst einen „Zick-Zack-Kurs“25, aber später legte sie sich klar zugunsten der Union fest26, diese eindeutig auf die FDP. Beide Parteien warnten vor einem von der PDS propagierten „Magdeburger Modell“ (Tolerierung einer rot-grünen Regierung durch die PDS). Die SPD lehnte erneut einen Koalitionswahlkampf ab, votierte also nicht ohne Umschweife für die Partei der Grünen, während sich diese für ein Zusammengehen mit der SPD aussprach. Eine Kooperation mit der PDS auf Bundesebene fand weder bei der SPD noch beim Bündnis 90/Die Grünen Unterstützung. Im Bundestagswahlkampf 1998 rückte die FDP ein wenig von der Union ab, ohne aber letztlich die Koalitionsaussage für diese in Frage zu stellen, auch wenn der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Jürgen Möllemann vorübergehend eine Koalition mit der SPD ins Spiel zu bringen suchte, weil er die Niederlage der Union antizipierte.27 Die Grünen propagierten ein rot-grünes Projekt, wie auch die Sozialdemokraten, wenngleich Gerhard Schröder sich eine Hintertür offen ließ und, mehr aus strategischen Gründen, einen glasklaren 23 Forschungsgruppe Wahlen, Gesamtdeutsche Bestätigung für die Bonner Regierungskoalitionen. Eine Analyse der Bundestagswahl 1990, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1990, Opladen 1994. S. 663. 24 Vgl. Eckhard Jesse, Die Koalitionsszenarien vor der Bundestagswahl 1994, in: Mut, 10/1994, S. 6–17. 25 Michel (Anm. 1), S. 232. 26 „Die Anpassung der FDP an die Union war 1994 trotz der programmatischen – aber ungeschickten – Profilierungsversuche so weit gediehen, dass die Bundesgeschäftsstelle für den Bundestagswahlkampf Plakate herstellte, in denen aufgefordert wurde, FDP zu wählen, damit Kohl Kanzler bleibe.“ So Jürgen Dittberner, Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 85. 27 Vgl. Michel (Anm. 1), S. 250.

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Koalitionswahlkampf vermied. Damit standen sich zwei Lager gegenüber. Eine Koalition mit der PDS kam für SPD und Grüne nicht in Frage, auch nicht eine Tolerierung durch sie.28 Nachdem es bei der Wahl zuvor zum ersten Mal zu einem ungefilterten Regierungswechsel gekommen war, standen 2002 auf der einen Seite die Oppositionsparteien Union und FDP, auf der anderen Seite die Regierungsparteien SPD und Grüne.29 Während die Union ein klares „Koalitionsbekenntnis“ für die FDP ablegte, tat dies die Partei der Grünen für die SPD. SPD und FDP dachten weniger in Koalitionskategorien. Die SPD hatte, anders als die Grünen, mehrere Optionen. Diese verwarf sie keineswegs kategorisch. Die FDP, die mit Guido Westerwelle einen eigenen Kanzlerkandidaten gekürt hatte, zeigte übermäßiges Selbstbewusstsein („Projekt 18“) und legte sich eigens nicht fest, auch wenn ihre Nähe zur Union augenfällig war. Die PDS diente sich im Wahlkampf der Sozialdemokratie und den Grünen an, obwohl die beiden Parteien eine Kooperation mit ihr ausschlossen. Der Wahlkampf zu den vorgezogenen Wahlen von 2005 wies im Vergleich zu dem vorherigen eine merkwürdige Verkehrung auf. Hatten seinerzeit die Grünen einen Lagerwahlkampf geführt und die Liberalen auf Eigenständigkeit gepocht, so war es diesmal umgekehrt: Der Grund: Die FDP musste die Unglaubwürdigkeit ihrer Strategie nicht erkennen, und die Grünen wollten ihre Verluste durch ein taktisch bedingtes Absetzen von der SPD minimieren. Eine andere Koalitionsoption war damit nicht verbunden. So stand die SPD, die ihrerseits auf gewisse Distanz zu den Grünen ging, ohne Koalitionspartner da, während die Union auf den liberalen Juniorpartner setzte. Die Linkspartei hatte aus ihrem Desaster von 2002 gelernt: Konfrontation zu den Regierungsparteien war angesagt. Wie in den Wahlkämpfen zuvor hatten die beiden großen Parteien eine große Koalition ausgeschlossen. 4. Künftige Koalitionsaussagen Bekanntermaßen gab es 2005 weder eine Mehrheit für Schwarz-gelb noch eine solche für Rot-grün.30 Das gute Ergebnis der Linkspartei verhinderte eine solche Konstellation. Zu einer großen Koalition gab es keine angemessene Alternative. Andere Varianten standen – trotz vielfältiger Diskussionen – nicht 28 Vgl. Eckhard Jesse, Koalitionsveränderungen 1949 bis 1994: Lehrstücke für 1998?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29 (1998), S. 470–477. 29 Vgl. Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002, Opladen 2003; Eckhard Jesse, Die wahrscheinlichen und die sinnvollen Koalitionen (vor) der Bundestagswahl 2002, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 33 (2002), S. 421– 435. 30 Vgl. Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Wiesbaden 2006.

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ernsthaft zur Debatte. Die beiden großen Parteien buhlten zwar um die Gunst von Liberalen und Grünen, weil sie eine große Koalition vermeiden wollten, aber die Aussichten waren von vornherein gering. Rot-gelb-grün verbot sich schon deshalb, weil die FDP im Wahlkampf klar auf eine Koalition mit der Union gesetzt hatte, eine „schwarze Ampel“ wegen der anderen Ausrichtung der Grünen ebenso. Im ersten Fall wären die Liberalen wortbrüchig geworden, im zweiten die Grünen. Ein rot-dunkelrot-grünes Bündnis, das nach außen hin unisono Ablehnung erfuhr, kam erst recht nicht in Frage (ebenso wie eine Tolerierung von Rot-grün). Eine Neuwahl wäre ein Armutszeugnis für die politische Klasse gewesen, eine Minderheitsregierung nicht stabil genug. Es mag manches dafür sprechen, dass herkömmliche Koalitionsmuster (Schwarz-gelb versus Rot-grün) schon deshalb nicht mehr zur Debatte stehen, weil Die Linke, wie sie seit dem Juni 2007 heißt, als eine fünfte Partei eine solche Mehrheitsbildung verhindert. Und eine Fortsetzung der großen Koalition ist für viele wenig verlockend. Das gilt selbst für Repräsentanten aus den Reihen der Regierungsparteien: „Es gibt praktisch kein Interview mit einem Regierungsmitglied, an dem nicht an einer Stelle betont wird, dass die Koalition über die nächste Bundestagswahl hinaus keine Zukunft hat.“31 Eine Zweier-Koalition könnte daher künftig durch eine Dreier-Koalition ersetzt werden. Drei Möglichkeiten bieten sich an: Rot-gelb-grün („Ampel“), Schwarz-gelb-grün („schwarze Ampel“), Rot-grün-dunkelrot („Linksbündnis“). In allen drei Fällen wären die Grünen dabei, in zwei von drei die Liberalen, in einem Fall die Postkommunisten. Welche Optionen besitzen die beiden großen Regierungsparteien? Die Union muss Interesse daran haben, die FDP weiterhin an ihrer Seite zu wissen und zugleich dafür sorgen, dass die Grünen im Fall eines Falles zu einem Bündnis mit der Union und der FDP bereit sind. Alle diese Parteien wollen „weniger Staat“ und begreifen die unaufhaltsame Globalisierung eher als Chance. Gleichwohl ist eine solche Konstellation, die noch keinen „Probelauf“ in einem Bundesland bestanden hat, von stark heterogener Natur. Die SPD hat eine Option mehr als die Union. Sie könnte versuchen, gemeinsam mit den Grünen entweder die Liberalen für sich zu gewinnen oder die Postkommunisten. Die doppelte Option muss nicht unbedingt eine größere Chance bedeuten. Denn das Lavieren zwischen den beiden Optionen könnte dazu führen, dass weder die eine noch die andere Variante zur Geltung kommt. Die SPD steht vor dem folgenden Dilemma: Während die Partei eine Einbeziehung der Liberalen goutiert, sperren sich diese; hingegen würde Die Linke ein Angebot der SPD und der Grünen wohl akzeptieren, aber dies könnte die SPD „zerreißen“. 31

Jan Fleischhauer u. a., In der Hängematte, in: Der Spiegel v. 11. Juni 2007, S. 38.

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Und wie sehen die strategischen Optionen der drei kleinen Oppositionsparteien aus? Im Bundestag ist die Partei der Grünen in der Mitte zwischen der Linkspartei und der FDP angesiedelt. Es besteht die Chance der eigenständigen Profilierung ebenso wie die Gefahr innerparteilicher Konflikte angesichts verschiedener, ja gegensätzlicher Optionen. Heute ist die Partei der Grünen in einer einzigen Landesregierung vertreten (seit 2007 in Bremen), die Linkspartei auch in einer (seit 2002 in Berlin). Diese muss aufpassen, dass ihre Wähler einen möglichen Regierungskurs nicht als Anpassung verstehen und damit als Abkehr von der „reinen Lehre“. In dem Moment, indem sie im Bund an die Regierung käme, wäre sie ihr immer noch teilweise anhaftendes „Schmuddelimage“, das ihr zumal im Westen schadet, weithin los. Die FDP hat in den Ländern die günstigste Ausgangsbasis: In Baden-Württemberg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist sie jeweils Juniorpartner der CDU. Das Trauma der „Umfall“-Partei muss sie zu großer Vorsicht bei einer Umorientierung veranlassen.32 Andernfalls könnten Wähler den Eindruck von Prinzipienlosigkeit gewinnen. Der Ausgang der Bundestagswahl 2005 hat Auflockerungstendenzen begünstigt, Abschottungstendenzen abgeschwächt. Allerdings ist heute noch nicht zu sehen, mit welchen Koalitionsaussagen die Parteien in den nächsten Bundestagswahlkampf gehen werden. Feste Koalitionsaussagen könnten angesichts der ungewissen Lage die Ausnahme bedeuten, aber auch deshalb, weil sich die herkömmlichen Wählermilieus immer mehr auflösen. Die mangelnde Festlegung im Wahlkampf wäre misslich. Denn Wähler müssen in einer Koalitionsdemokratie vor der Wahl wissen, wer mit wem ein Bündnis einzugehen beabsichtigt, immer unter der Voraussetzung der entsprechenden Mehrheitsverhältnisse. Sie votieren damit indirekt zugleich für oder gegen die Regierung. Dieser Vorteil der Mehrheitswahl war auch unter den Bedingungen der Verhältniswahl in der Bundesrepublik erreicht worden. Der Hinweis, mit einer Koalitionsfestlegung vor der Wahl könne nicht mehr auf den Wählerwillen reagiert werden, sticht insofern nicht, als die Parteien nur so lange daran gebunden sind, wie es die politische Arithmetik erlaubt. Die Koalitionsaussagen verstehen sich vor dem Hintergrund, dass die Wähler eine solche Koalitionspräferenz goutieren. 5. Schluss Das deutsche Parteiensystem zeichnet sich durch Kontinuität wie durch Diskontinuität gleichermaßen aus. Die Union und die SPD bestimmen bis heute die Entwicklung. Die Asymmetrie, die für das Parteiensystem lange charakteristisch war, verschwand mit dem Aufkommen der Grünen allmählich. In dem Moment, 32 Bei beiden Regierungswechseln (1969 und 1982/83), die durch die FDP veranlasst waren, geriet die Partei in eine existentielle Krise.

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indem eine Art Symmetrie erreicht war, kam mit der PDS eine fünfte Partei ins Parlament, die die Mehrheitsbildung eines politischen Lagers blockieren könnte oder konnte. Bei den Bundestagswahlen 1994, 1998 und 2002 ließ sich nur knapp die Bildung einer großen Koalition umgehen. Seit einigen Jahren gibt es wieder beachtliche Dekonzentrationstendenzen. Die mangelnde Ununterscheidbarkeit der großen Parteien führt zu großem Verdruss. Dieser Umstand mag feste Koalitionsaussagen erschweren. In der Vergangenheit ließen die Parteien vor einer Wahl meistens erkennen, mit wem sie eine Koalition einzugehen wünschten. Das galt zumal für die Zeit, in der sich zwei politische Lager herauszubilden begannen. Insofern war die FDP wegen ihres Koalitionsvotums nicht das vielbeschworene „Zünglein an der Waage“. Die Wähler honorierten ihre Eigenständigkeit vor der Wahl nicht. Die Ergebnisse von 1957, 1969 und 2002 fielen deutlich unterdurchschnittlich aus. Das Parteiensystem in den neuen Bundesländern unterscheidet sich nach wie vor von dem in den alten. Hier haben wir eine Art Dreiparteiensystem (mit SPD, CDU und Linkspartei), im Westen hingegen ein Vierparteiensystem mit zwei großen (Union und SPD) und zwei kleineren Parteien (Liberale und Grüne). Auf Bundesebene kann diese Kombination dazu führen, dass es weder für die eine noch die andere herkömmliche Variante reicht, wie das 2005 der Fall gewesen ist. Da deshalb und wegen der abnehmenden Integrationskraft der großen Parteien auf Bundesebene eine Mehrheit für eine schwarz-gelbe oder rot-grüne Koalition schwerer zu erreichen sein wird, kommen andere Koalitionskonstellationen ins Spiel, Dreierbündnisse. Allerdings müssen solche Dreierbündnisse keineswegs zwangsläufig sein. Erstens sind Momentaufnahmen nicht zu verabsolutieren, kann doch eine schwarz-gelbe Konstellation (oder auch: rot-grüne) durchaus wieder eine Mehrheit gelangen; zweitens muss das gegenwärtige Fünfparteiensystem nicht „festgeschrieben“ sein. Liberale, Grüne und Die Linke haben große Herausforderungen zu meistern: Ihre Stammwählerschaft liegt keineswegs über fünf Prozent; drittens ist die Zunahme großer Koalitionen möglich; viertens finden aufgrund prinzipieller Unterschiede keine drei Partner zusammen. Wer die Zukunft der deutschen Parteiendemokratie kennt, wäre ein Hellseher. Politikwissenschaftler sind dies nicht. Aber normativ orientierte Politikwissenschaftler haben die Pflicht, vor Missständen zu warnen. Und wenn Parteien vor einer Wahl sich nicht mehr festlegen sollten, so ist das ein Missstand. Die Gefahr, dass vor dem Hintergrund möglicher Dreierkonstellationen Irritation und größere Instabilität einkehren könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Das wiederum dürfte den Verdruss der Wähler weiter steigern. Der Wähler will und soll bei seinem Votum nicht die „Katze im Sack kaufen“.

Moderne Wahlkämpfe unter besonderer Berücksichtigung der Bundestagswahlkämpfe seit 1998 Von Gerd Strohmeier

1. Einleitung „[D]ass nur der erfolgreich ist, der seine Handlungsweise mit dem Zeitgeist in Einklang bringt, wie der erfolglos sein wird, dessen Vorgehen nicht mit den Zeitverhältnissen übereinstimmt“, hat bereits Niccolò Machiavelli1 erkannt. Dies gilt für viele Bereiche der Politik, insbesondere jedoch für den Wahlkampf. Folglich ist der Wahlkampf einem großen Wandel unterworfen. Während George Washington, der erste Präsident der ersten modernen Massendemokratie, die Wähler seines Distrikts noch mit Wein, Bier und Rum zu überzeugen versuchte2, zählen heute weitaus suggestivere und subtilere Methoden zu den Wahlkampfinstrumenten US-amerikanischer Präsidentschaftskandidaten. Die Zeiten haben sich geändert – und mit ihnen der Wahlkampf3: die Wahlkämpfe sind spannender, die Wahlkampagnen professioneller und die Wahlkampftechniken ausgefeilter geworden – und dies nicht nur in den USA, sondern letztlich in allen modernen Demokratien. Gewiss gibt es nicht die Wahlkämpfe oder die Wahlkampagnen oder die Wahlkampftechniken in modernen Demokratien: Wahlkämpfe, Wahlkampagnen und Wahlkampftechniken hängen von diversen Faktoren ab – in erster Linie von der politischen Struktur sowie der politischen Kultur des jeweiligen Wahlkampflandes. Dennoch lassen sich gewisse übergreifende Kennzeichen moderner Wahlkämpfe feststellen. Diese Tendenzen und deren (primäre) Ursache sind Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. Zunächst wird die Struktur der Wählerschaft bzw. der Wandel der Wählerschaft in modernen Demokratien beleuchtet. Schließlich hängt sowohl die Be1 Niccolò Machiavelli, Der Fürst. „Il Principe“, hrsg. von Rudolf Zorn, Stuttgart 1978, S. 103 f. 2 Vgl. Klaus Kamps, Im Wahlkampf nichts Neues. Aufmerksamkeitsstrukturen der Kampagnenberichterstattung in Fernsehnachrichten, in: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Wahlkampf in den Medien – Wahlkampf mit den Medien. Ein Reader zum Wahljahr 1998, Opladen 1999, S. 109. 3 Vgl. Gerd Strohmeier, Moderne Wahlkämpfe – wie sie geplant, geführt und gewonnen werden, Baden-Baden 2002, S. 23 ff.

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deutung des Wahlkampfs als auch die Ausgestaltung der Wahlkampagnen stark von der spezifischen Struktur der Wählerschaft ab. Die Wählerstruktur bzw. deren Wandel wird anhand einer Wählertypologie beschrieben, in der vier (Ideal-) Typen von Wählern – zwei Stammwählertypen und zwei Wechselwählertypen – unterschieden werden. Anschließend werden die Kennzeichen moderner Wahlkämpfe herausgearbeitet, die sich großteils in Abhängigkeit von der (Entwicklung der) Wählerschaft herausgebildet haben und sich in folgenden Bereichen zeigen: der Orientierung der Wahlkampagnen am Wählermarkt, der Wahlkampfkommunikation, dem Angriffs- und dem Internetwahlkampf sowie der Wahlkampforganisation. Dabei werden die spezifischen Kennzeichen moderner Wahlkämpfe unter besonderer Berücksichtigung der Bundestagswahlkämpfe 1998, 2002 und 2005 herausgearbeitet. 2. Wählerstrukturen moderner Demokratien Der Wahlkampf hat sich – wie eben erwähnt – in modernen Demokratien deutlich gewandelt. Dieser Wandel kann auf die veränderten Parteistrukturen oder auch auf die veränderten Medienstrukturen zurückgeführt werden. Er muss allerdings primär auf die veränderten Wählerstrukturen zurückgeführt werden. Schließlich ist der Wahlkampf in erster Linie ein Kampf um die Gunst der Wähler. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass es den Wähler nicht gibt. Den Wähler gibt es genauso wenig wie das Wahlverhalten oder die Wahlentscheidung. Es gibt höchst unterschiedliche Wähler mit höchst unterschiedlichen Verhaltensweisen, die zu höchst unterschiedlichen Entscheidungen führen. An dieser Stelle werden vor dem Hintergrund der Parteibindung und der Rationalität – in Anlehnung an Max Weber (1964) und Russell C. Dalton (1984) – vier (Ideal-)Typen von Wählern unterschieden (vgl. Abbildung 1). Der traditionale Stammwähler weist eine hohe Parteibindung, jedoch eine niedrige Rationalität auf. Im Gegensatz zu allen anderen Wählertypen hängt die Wahlentscheidung der Wähler dieses Typs nicht im Geringsten vom (aktuellen) politischen Angebot ab – nicht von den Parteien und auch nicht von deren Kandidaten oder Programmen: „[T]heir party support should be almost a habitual activity, and political involvement is not likely to extend to areas where party cues are lacking“4. Der traditionale Stammwähler wählt immer die gleiche Partei, ohne zu wissen, warum er dies tut. Infolgedessen lässt sich diesem Wählertypus das von Max Weber beschriebene traditionale Handeln zuschreiben. Tra-

4 Russell J. Dalton, Cognitive Mobilization and Partisan Dealignment in Advanced Industrial Democracies, in: The Journal of Politics 46 (1984), S. 270.

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Quelle: Strohmeier (Anm. 3), S. 72 ff.

Abbildung 1: Wählertypen

ditionales Handeln ist nach Weber5 „sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal gelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize“. Somit orientiert sich die Wahlentscheidung des traditionalen Stammwählers ausschließlich an der Partei, die von ihm jedoch nicht als ein politisches Angebot unter vielen, sondern als „das einzig wahre politische Angebot“ wahrgenommen wird. Der wertrationale Stammwähler weist sowohl eine hohe Parteibindung als auch eine hohe Rationalität auf. Im Gegensatz zum traditionalen Stammwähler ist der Wähler dieses Typs bereit, sein Wahlverhalten zu ändern – allerdings nur, wenn sich „seine“ Partei verändert und nicht mehr die von ihm präferierte politische Wertorientierung bzw. ideologische Grundhaltung vertritt: „Their strong party attachments should stimulate involvement in party-related activities. At the same time, this group is psychologically involved in politics even when party cues are lacking“6. Der wertrationale Stammwähler wählt immer die gleiche Partei, solange diese Partei seine Werte bzw. Ideologie vertritt. Infolgedessen lässt sich diesem Wählertypus das von Max Weber beschriebene wertrationale Handeln zuschreiben. Wertrational handelt nach Weber7, „wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt, im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät oder die Wichtigkeit einer Sache gleichviel welcher Art ihm zu gebieten 5 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1964, S. 17. 6 Dalton (Anm. 4), S. 271. 7 Weber (Anm. 5), S. 18.

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erscheinen“. Somit orientiert sich die Wahlentscheidung des wertrationalen Stammwählers an der politischen Wertorientierung bzw. ideologischen Grundhaltung der Parteien, Programme und Kandidaten. Der zweckrationale Wechselwähler weist eine hohe Rationalität, jedoch eine niedrige Parteibindung auf. Im Gegensatz zum wertrationalen Stammwähler sind die Wähler dieses Typs grundsätzlich nicht an eine Partei gebunden, auch wenn sie aufgrund des individuellen Nutzenvorteils eine gewisse Parteinähe aufweisen (können) sowie (unter Umständen) mehrmals die gleiche Partei wählen: „[They] are not attached to political parties. Nevertheless, they are involved in politics“8. Der zweckrationale Wechselwähler wählt immer die Partei, von der er sich den größten Nutzen verspricht. Infolgedessen lässt sich diesem Wählertypus das von Max Weber beschriebene zweckrationale Handeln zuschreiben. Zweckrational handelt nach Weber, „wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt“9. Somit orientiert sich die Wahlentscheidung des zweckrationalen Wechselwählers primär an den für seine Person relevanten Lösungsangebote und Lösungskompetenzen der Parteien und Kandidaten. Der affektuelle Wechselwähler weist sowohl eine niedrige Rationalität als auch eine niedrige Parteibindung auf. Im Gegensatz zum zweckrationalen Wechselwähler sind die Wähler dieses Typs völlig ungebunden sowie nicht nur ohne feste Parteibindung, sondern auch ohne politisches Interesse: „[They] are neither attached to a political party nor psychologically involved in politics“10. Der affektuelle Wechselwähler wählt immer die Partei, die zu seiner augenblicklichen Laune passt. Infolgedessen lässt sich diesem Wählertypus das von Max Weber beschriebene affektuelle Handeln zuschreiben. Affektuelles Handeln ist nach Weber ein „Bedürfnis nach aktueller Rache, aktuellem Genuss, aktueller Hingabe, aktueller kontemplativer Seligkeit oder nach Abreaktion aktueller Affekte“11. Somit orientiert sich die Wahlentscheidung des affektuellen Wechselwählers primär am Auftreten der Kandidaten sowie unter Umständen auch an besonderen Reizthemen. Die Bedeutung der beschriebenen vier Wählertypen ist höchst unterschiedlich und hat sich in den letzten Jahrzehnten in den meisten modernen Demokratien – vor allem aufgrund sozioökonomischer und kultureller Veränderungen, des Bildungsanstiegs, der Medienexpansion sowie der veränderten politischen Kom-

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Dalton (Anm. 4), S. 271. Weber (Anm. 5), S. 18. 10 Dalton (Anm. 4), S. 270. 11 Weber (Anm. 5), S. 18. 9

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munikation12 – deutlich verändert: Die Bedeutung der Stammwähler hat abgenommen, und zugenommen hat die Bedeutung der Wechselwähler13 – und damit die Bedeutung des Wahlkampfs, der Wahlkampagnen und deren Wahlkampfkonzeption: „Wo die langfristige Bindung an eine Partei fehlt und die Beteiligung an der Wahl weniger selbstverständlich geworden ist, kann die Wahlkampagne etwas bewirken“14. Welche Bedeutung den Wechselwählern in Deutschland zukommt bzw. in den letzten Bundestagswahlen zugekommen ist, lässt sich sehr gut anhand der Gesamtwählerpotenziale deutscher Parteien beschreiben (vgl. Abbildung 2).

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von: Wolfram Brunner/Jutta Graf/Viola Neu, Die Politische Meinungslage in Deutschland 1999–2001, Arbeitspapier Nr. 35/2001 der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2001, S. 11 (grafische Aufbereitung: Kathrin Haimerl).

Abbildung 2: Gesamtwählerpotenziale in Deutschland 2001 (Angaben in Prozent)

Das Gesamtwählerpotenzial einer Partei umfasst alle Wähler, die sich grundsätzlich vorstellen können, diese Partei zu wählen, d.h. deren Stammwähler, Randwähler („übrige“ Wähler der Partei) und (reine) Wechselwähler („Er12

Vgl. Strohmeier (Anm. 3), S. 81. Vgl. Oscar W. Gabriel, „It’s Time for a Change“ – Bestimmungsfaktoren des Wählerverhaltens bei der Bundestagswahl 1998, in: Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Franz Sommer (Hrsg.), Das österreichische Wahlverhalten, Wien 2000, S. 356. 14 Christina Holtz-Bacha: Bundestagswahlkampf 1998 – Modernisierung und Professionalisierung, in: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Wahlkampf in den Medien – Wahlkampf mit den Medien. Ein Reader zum Wahljahr 1998, Opladen 1999, S. 10. 13

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reichbare“). An der Größe der Gesamtwählerpotenziale lässt sich die Größe des Wechselwähleranteils in Deutschland ablesen. Noch deutlicher wird dieser, wenn man die Gesamtwählerpotenziale der Parteien – wie im Folgenden am Beispiel der SPD sowie der CDU/CSU – aufschlüsselt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts können sich in Deutschland 54 Prozent der Wähler grundsätzlich vorstellen, die SPD zu wählen. Davon sind nur 8 Prozent Stammwähler, 22 Prozent Randwähler und 24 Prozent (reine) Wechselwähler (vgl. Abbildung 3).

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Brunner u. a. (Abb. 2), S. 11 (grafische Aufbereitung: Kathrin Haimerl).

Abbildung 3: Aufgeschlüsseltes Gesamtwählerpotenzial der SPD (Angaben in Prozent)

Ein nahezu ähnliches Bild zeigt sich bei der CDU/CSU: 51 Prozent der Wähler können sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts grundsätzlich vorstellen, die CDU/CSU zu wählen. Davon sind nur 10 Prozent Stammwähler, 17 Prozent Randwähler und 24 Prozent (reine) Wechselwähler (vgl. Abbildung 4). In den letzten drei Bundestagswahlkämpfen galt (jeweils) mindestens ein Viertel der Wähler als „unentschieden“15. Dieser Wähleranteil – im Prinzip der 15 Vgl. Christina Holtz-Bacha, Strategien des modernen Wahlkampfes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 7/2006, S. 11.

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Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage von Brunner u. a. (Abb. 2), S. 11 (grafische Aufbereitung: Kathrin Haimerl).

Abbildung 4: Aufgeschlüsseltes Gesamtwählerpotenzial der CDU/CSU (Angaben in Prozent)

Anteil an (reinen) Wechselwählern – ist der Anteil, der letztlich die vergangenen Bundestagswahlen entschieden hat – und der mit größter Wahrscheinlichkeit auch die zukünftigen Bundestagswahlen entscheiden wird. Das bedeutet, dass die Parteien in Deutschland – wie in anderen modernen Demokratien – Wahlkämpfe nicht mehr gewinnen können, indem sie mehr Stammwähler mobilisieren als die politische Konkurrenz. Sie können Wahlkämpfe nur noch gewinnen, indem sie mehr Wechselwähler gewinnen als die politische Konkurrenz.

3. Kennzeichen moderner Wahlkämpfe a) Orientierung der Wahlkampagnen am Wählermarkt: Wechselwähler- und Zielgruppenorientierung Ein wesentliches Kennzeichen moderner Wahlkämpfe besteht in der zunehmenden Orientierung der Wahlkampagnen an den Wechselwählern. In der Folge bestimmen diese zunehmend die Ausgestaltung des „politischen Produkts“ der

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Wahlkampagnen: die Positionierung der Parteien, die Auswahl der Sachthemen sowie das Auftreten der Kandidaten. Die Orientierung der Wahlkampagnen an den zweckrationalen Wechselwählern führt zu einer zunehmenden Entideologisierung der „politischen Produkte“. So wurden beispielsweise in den USA aus den Democrats die „New Democrats“, in Großbritannien aus Labour „New Labour“ und in Deutschland aus der SPD die Partei der „Neuen Mitte“. Zugleich wurden die jeweiligen Spitzenkandidaten als „New Democrat“, „Modernizer“ oder „Kraft des Neuen“ vermittelt. Die Entideologisierung der „politischen Produkte“ ist jedoch nicht nur im „linken“, sondern auch im „rechten“ politischen Spektrum festzustellen. So wurden beispielsweise in den USA George W. Bush als „Compassionate Conservative“ und in Deutschland Edmund Stoiber als eine Art „weichgespülter Konservativer“ vermittelt. Aufgrund der relativ starken Entideologisierung war es in Deutschland während der letzten Bundestagswahlkämpfe zum Teil nur äußerst schwer möglich, signifikante inhaltliche Unterschiede zwischen CDU/CSU und SPD auszumachen. Während die großen Parteien in früheren Bundestagswahlkämpfen, wie z. B. in den Bundestagswahlkämpfen von 1969, 1972 und auch 1983, trotz des Volksparteieneffekts16 deutlich voneinander unterscheidbare Positionen erkennen ließen17, machten sie in den jüngsten Bundestagswahlkämpfen mit wenigen Ausnahmen (z. B. dem Irak-Krieg im Bundestagswahlkampf 2002 oder der Steuerpolitik im Bundestagswahlkampf 2005) keine allzu großen inhaltlichen bzw. ideologischen Unterschiede deutlich. Schließlich bestand das Ziel der großen Volksparteien prinzipiell darin, sich in der „politischen Mitte“ – und die politische Konkurrenz jenseits dieser Mitte – zu positionieren. Dafür stehen der (erfolgreiche) Versuch von Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 1998, die „Neue Mitte“ zu besetzen, sowie der (erfolglose) Versuch von Edmund Stoiber im Bundestagswahlkampf 2002, Schröder wieder davon zu verdrängen. Etwas polarisierter verlief der Bundestagswahlkampf 2005, in dem die SPD aufgrund des innerparteilichen Drucks etwas stärker nach links rücken bzw. „eine rhetorische Re-Sozialdemokratisierung“18 einleiten musste und in dem der CDU/CSU aufgrund ihrer deutlichen und zum Teil unpopulären Vorschläge im Bereich der Steuerpolitik (Ankündigung der Mehrwertsteuererhöhung auf 18 Prozent), insbesondere auch aufgrund der politischen

16 Vgl. Otto Kirchheimer, Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift 6 (1965). 17 Vgl. Peter Glotz, Politisches Wrestling – eine Schlachtbeschreibung. Nachtrag zum Bundestagswahlkampf 1994, hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, Politik überzeugend vermitteln: Wahlkampfstrategien in Deutschland und den USA: Analysen und Bewertungen von Politikern, Journalisten und Experten, Gütersloh 1996, S. 26. 18 Frank Brettschneider, Bundestagswahlkampf und Medienberichterstattung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51–52/2005, S. 23.

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Vorschläge von Paul Kirchhof (die ihr zugerechnet wurden), von verschiedenen Seiten das Image einer „neoliberalen Partei“19 zugeschrieben wurde. Die Orientierung der Wahlkampagnen an den affektuellen Wechselwählern führt zu einer zunehmenden Symbolisierung der „politischen Produkte“, d.h. zu einer zunehmenden Emotionalisierung, Entertainisierung, Simplifizierung und auch Personalisierung sowie Privatisierung – allerdings nicht zwingend zu einer „Amerikanisierung“ – der „politischen Produkte“. Dörner20 hat die unterhaltende Darstellung bzw. Vermittlung des Politischen treffend als „Politainment“ bezeichnet. Auftritte von Spitzenpolitikern in Talk-Shows und (reinen) Unterhaltungssendungen gehören mittlerweile zur „Pflichtübung“ im modernen Wahlkampf. Einen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in Deutschland mit dem „Spaßwahlkampf“ der FDP im Bundestagswahlkampf 2002, der jedoch überwiegend als überzogen und somit negativ wahrgenommen wurde. Mit Blick auf die Personalisierung der Politik ist grundsätzlich festzustellen, dass diese prinzipiell „so alt [ist] wie die Politik selbst“21 – und somit alles andere als eine „modische Amerikanisierung, die von cleveren Werbestrategen jüngst ausgeheckt wurde“22. Allerdings ist die Personalisierung nach wie vor ein fester Bestandteil des Wahlkampfs und die zunehmende Personalisierung ein Signum des modernen Wahlkampfs. Der hohe Personalisierungsgrad deutscher Wahlkämpfe wurde z. B. im Bundestagswahlkampf 2002 in der von Gerhard Schröder ausgegebenen Frage „Er oder ich“ deutlich. Die CDU/CSU reagierte in den letzten beiden Bundstagswahlkämpfen mit einer „Mannschaftsstrategie“ bzw. einem „Kompetenzteam“ auf den äußerst telegenen – und in der massenmedialen Darstellung dem eigenen Kandidaten überlegenen – Gerhard Schröder. Dabei wurden im Bundestagswahlkampf 2002 Lothar Späth und im Bundestagswahlkampf 2005 Paul Kirchhof als „Lichtgestalten“ neben dem jeweiligen Kanzlerkandidaten (mehr oder weniger erfolgreich) zu präsentieren versucht. Ein wesentliches Kennzeichen moderner Wahlkämpfe besteht neben der zunehmenden Wechselwählerorientierung in der zunehmenden Zielgruppenorientierung der Wahlkampagnen, d.h. in der immer ausgefeilteren Orientierung der Wahlkampagnen an geografischen und/oder sozioökonomischen Zielgruppen. Die geografische Zielgruppenorientierung steht primär für eine gezielte Ansprache spezifischer Wahlkreise. Sie hängt somit stark von der Einteilung des 19 Matthias Jung/Andrea Wolf, Der Wählerwille erzwingt die große Koalition, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51–52/2005, S. 6. 20 Andreas Dörner, Politainment, Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a. M. 2001. 21 Peter Radunski, Wahlkämpfe. Moderne Wahlkampfführung als politische Kommunikation, München 1980, S. 15. 22 Ulrich v. Alemann, Der Wahlsieg der SPD von 1998: Politische Achsenverschiebung oder glücklicher Ausreißer?, in: http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de, 23. Juli 1999.

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Wahlgebiets in Wahlkreise bzw. vom Wahlsystem ab und erlangt in Mehrheitswahlsystemen eine entscheidende Bedeutung. In den USA und Großbritannien wird der Wahlkampf mittlerweile nahezu ausschließlich dort geführt, wo der Wahlausgang prinzipiell offen ist bzw. ein politisches „Kopf-an-Kopf-Rennen“ festzustellen ist: in den so genannten „key states“ bzw. „key seats“. Sowohl die eigenen „Hochburgen“ als auch die „Hochburgen“ der politischen Konkurrenz sind im Vergleich zu den „key states“ bzw. „key seats“ von untergeordneter Bedeutung. Schließlich wird der Wahlkampf in den „key states“ oder „key seats“ gewonnen oder verloren. So haben im US-Präsidentschaftswahlkampf 2004 sowohl die Bush-Kampagne als auch die Kerry-Kampagne in den gegnerischen und eigenen „Hochburgen“ einen Wahlkampf nach dem ökonomischen Minimalprinzip und in den „key states“ einen Wahlkampf nach dem ökonomischen Maximalprinzip geführt (vgl. Abbildung 5). Von besonderer Bedeutung waren dabei Florida, Ohio und Pennsylvannia, da diese Staaten die meisten Wahlmännerstimmen aufweisen. Indem es George W. Bush gelang, Florida und Ohio zu gewinnen, konnte er letztlich auch die gesamte Wahl gewinnen. In Deutschland ist eine geografische Zielgruppenorientierung – in dieser Form – nicht feststellbar. Trotz der Existenz der Einerwahlkreise betreiben die deutschen Parteien grundsätzlich einen bundesweiten Wahlkampf. Dies liegt primär daran, dass das deutsche Wahlsystem eindeutig ein Verhältniswahlsystem und kein gemischtes Wahlsystem darstellt, da die gewonnen Direktmandate der Parteien auf deren nach dem Anteil der Listenstimmen zustehenden Mandatsanteil angerechnet werden (und dadurch in gewisser Weise „erfolgsneutral“ sind). Infolgedessen kann eine geografische Zielgruppenstrategie allenfalls dazu benutzt werden, um Überhangmandate zu erzeugen oder den Einzug einer kleinen Partei über die Grundmandatsklausel zu verhindern. Ansonsten fällt die Auswahl von „key seats“ in Deutschland überwiegend in die Kategorie „symbolische Politik“. Ein Beispiel dafür ist die „Aktion 32 Wahlkreise“ der SPD im Bundestagswahlkampf 199823. Dabei definierte die SPD 32 „key seats“ (in denen sie früher mit dem Wahlkampf begann, spezielle Werbemittel einsetzte und prominente SPD-Politiker häufiger auftreten ließ als in anderen Wahlkreisen24). Bei den 32 Wahlkreisen handelte es sich um Wahlkreise, in denen die SPD nur etwa 2 bis 3 Prozent der Stimmen benötigte, um das jeweilige Direktmandat zu gewinnen, prominente Unionspolitiker attackiert oder der PDS Direktmandate abgenommen werden konnten (um deren Einzug in den Bundestag

23 Vgl. Matthias Machnig, Die Kampa als SPD-Wahlkampfzentrale der Bundestagswahl ’98. Organisation, Kampagneformen und Erfolgsfaktoren, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen (1999) 3, S. 27. 24 Vgl. Diana v. Webel, Der Wahlkampf der SPD, in: Elisabeth Noelle-Neumann/ Hans Mathias Kepplinger/Wolfgang Donsbach (Hrsg.), Kampa. Meinungsklima und Medienwirkung im Bundestagswahlkampf 1998, München 1999, S. 22.

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° Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von CNN: US-Presidential Elections 2004, in: http:// www.cnn.com, 30. August 2004 (grafische Aufbereitung: Kathrin Haimerl).

Abbildung 5: Geografischer Zielgruppenwahlkampf in den USA 2004

zu verhindern25). Das primäre Ziel der „Aktion 32 Wahlkreise“ bestand jedoch weder darin, Überhangmandate zu erringen, noch darin, den Einzug der PDS in den Bundestag zu verhindern, sondern einfach nur darin, den Wahlkampf in besonderer Weise zu inszenieren: „[D]ie ,32 Wahlkreise‘ war der Versuch, rechtzeitig den Wahlkampf zu gewinnen, die Partei rechtzeitig sozusagen auf diesen Wahlkampf zu fokussieren und auf die Auseinandersetzung mit der politischen Konkurrenz“26. Abgesehen von der Orientierung an Wahlkreisen kann im Rahmen einer geografischen Zielgruppenorientierung auch eine Orientierung an bestimmten Wahlgebieten erfolgen – sofern diese signifikante Unterschiede aufweisen und deren Wähler einer unterschiedlichen Ansprache bedürfen. Ein Beispiel hierfür 25 Vgl. Matthias Machnig, Leitfadengestütztes Interview im Willy-Brandt-Haus, Berlin 2001. 26 Vgl. ebd.

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ist in Deutschland der Wahlkampf im Osten. Zwar sind die Parteien definitiv nicht in der Lage, einen „Wahlkampf West“ und einen „Wahlkampf Ost“ zu führen, da die beiden Wahlgebiete keine strikt voneinander getrennten Wahlkampföffentlichkeiten aufweisen. Allerdings können die Parteien die Wähler in Ostdeutschland mit einer besonderen Botschaft bzw. mit spezifischen Akzenten innerhalb der Gesamtkampagne bedienen und diese Botschaften bzw. Akzente in „ostdeutschen Medien“ forcieren. Ein Beispiel hierfür liefern z. B. im Bundestagswahlkampf 2005 die regelmäßigen Themenanzeigen der SPD in der „SUPER Illu“, die speziell auf die ostdeutschen Wähler zugeschnitten waren. Eine derartige geografische Zielgruppenorientierung weist eine große Parallele zur sozioökonomischen Zielgruppenorientierung auf. Die sozioökonomische Zielgruppenorientierung steht für eine gezielte Ansprache spezifischer Gruppen innerhalb der Gesamtwählerschaft. Dies bedeutet jedoch weniger, dass nahezu jede Bevölkerungsgruppe mit einer anderen Botschaft angesprochen wird, sondern vielmehr dass die zentrale Wahlkampfbotschaft unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen auf unterschiedliche Weise vermittelt wird. Folglich müssen die Wahlkampagnen Botschaften kreieren, die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Unterschiedliches bedeuten: „[It] must form a strategy that has an overall theme (broadcast message) and maintains momentum but that also effectively targets specialized groups (narrowcast message)“27. Wie höchst unterschiedliche Zielgruppen mit ein und derselben Botschaft gezielt und somit auf unterschiedliche Weise angesprochen werden können, zeigt z. B. das SPD-Wahlprogramm 1998 mit dem Titel „Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit“28: „Mit der Doppelforderung nach sozialer Gerechtigkeit und Innovation wurden die Interessen sowohl von traditionalistischen als auch von modernisierungsorientierten Wählerschichten, die Interessen also der gewerkschaftlichen Arbeitnehmerschaft und der ,Neuen Mitte‘, berücksichtigt“29. b) Wahlkampfkommunikation Integraler Bestandteil des Zielgruppenwahlkampfs im Speziellen sowie des modernen Wahlkampfs im Allgemeinen ist die Wahlkampfkommunikation. Ein wesentliches Kennzeichen moderner Wahlkämpfe besteht in diesem Bereich in der zunehmenden Mediatisierung (und damit in der zunehmenden Bedeutung des Fernsehens). An dieser Stelle werden in Anlehnung an Paletz und Vinson drei Mediatisierungsformen unterschieden: die Voll-Mediatisierung, die Teil27 Denise Baer, Contemporary Strategy and Agenda Setting, in: James A. Thurber/ Candice J. Nelson (Hrsg.), Campaigns and Elections American Style, Boulder 1995, S. 61. 28 Vgl. Alemann (Anm. 22). 29 Richard Stöss/Gero Neugebauer, zit. in Alemann (Anm. 22).

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Mediatisierung und die Nicht-Mediatisierung30, wobei der Begriff der Mediatisierung nicht die massenmediale Vermittlung, sondern den journalistischen Einfluss kennzeichnet (vgl. Abbildung 6).

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von: Paletz/Vinson (Anm. 30), S. 362 (grafische Aufbereitung: Kathrin Haimerl).

Abbildung 6: Mediatierungsformen nach Paletz und Vinson

Die Nicht-Mediatisierung ist durch einen äußerst geringen bzw. nicht vorhandenen journalistischen Einfluss und durch einen äußerst großen parteipolitischen Einfluss gekennzeichnet. Das klassische Beispiel für eine Nicht-Mediatisierung ist die politische Werbung, die ausschließlich von Parteivertretern gestaltet wird. Die Teil-Mediatisierung ist dadurch gekennzeichnet, dass der journalistische Einfluss und der parteipolitische Einfluss in etwa gleich groß sind. Das klassische Beispiel für eine Teil-Mediatisierung ist das Interview, bei dem Parteivertreter und Journalisten gleichermaßen auf die massenmediale Darstellung Einfluss nehmen (können). Die Voll-Mediatisierung ist durch einen sehr großen journalistischen Einfluss und durch einen relativ geringen parteipolitischen Einfluss gekennzeichnet. Das klassische Beispiel für eine Vollmediatisierung ist die massenmediale Berichterstattung (z. B. in Form einer Nachrichtensendung), die – letztlich – ausschließlich von Journalisten gestaltet wird.

30 Vgl. David L. Paletz/Danielle C. Vinson, Mediatisierung von Wahlkampagnen. Zur Rolle der amerikanischen Medien bei Wahlen, in: Media Perspektiven (1994) 7, S. 362.

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Ein wesentliches Kennzeichen moderner Wahlkämpfe besteht nun in der zunehmenden Beachtung der Teil- und Vollmediatisierung durch die Wahlkampagnen, da mit der zunehmenden Mediatisierung nicht nur der journalistische Einfluss, sondern auch die Glaubwürdigkeit beim Wähler zunimmt. Schließlich ist politische Werbung sehr gut geeignet, um Stammwähler zu mobilisieren, jedoch relativ ungeeignet, um Wechselwähler zu überzeugen. Zudem versuchen die Wahlkampagnen den (relativ) geringen parteipolitischen Einfluss bei der Teil- und vor allem der Vollmediatisierung zu kompensieren, indem sie ihre Wahlkampfkommunikation an die journalistischen Selektions- und Transformationsmechanismen adaptieren – und dadurch den journalistischen Einfluss gewissermaßen reduzieren. Das erfolgt im Rahmen eines immer professioneller werdenden Nachrichten-, Themen- und Ereignismanagements. Dabei werden u. a. genuine Ereignisse instrumentalisiert, politische Ereignisse mediatisiert und so genannte Pseudoereignisse inszeniert. Genuine Ereignisse geschehen unabhängig sowie losgelöst von der Berichterstattung in den Massenmedien, können aber von diesen bzw. den Wahlkampagnen der Parteien aufgegriffen und auf der Medienagenda thematisiert werden31. Klassische Beispiele für genuine Ereignisse sind der Irak-Krieg sowie die Flutkatastrophe, die im Bundestagswahlkampf 2002 das „Top-Thema“ Arbeitslosigkeit verdrängten oder zumindest überlagerten und den Verlauf sowie das Ergebnis des Wahlkampfs deutlich beeinflussten – zugunsten der rot-grünen Regierungsparteien. Schließlich konnten diese den sich abzeichnenden Regierungswechsel noch abwenden, indem sie die beiden Ereignisse – unter Ausnutzung des „Amtsbonus“ – zu „ihren Themen“ machten und – weitaus besser als die Oppositionsparteien – in die Wahlkampagne integrierten. Mediatisierte Ereignisse sind Ereignisse, die „auch ohne die zu erwartende Berichterstattung geschehen wären, aufgrund der erwarteten Berichterstattung aber einen spezifischen, mediengerechten Charakter erhalten“32. Ein klassisches Beispiel für ein mediatisiertes Ereignis ist der SPD-Parteitag im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs 1998 in Leipzig, der weniger als seriöse Parteiveranstaltung, sondern mehr als Hollywood-Spektakel organisiert und wahrgenommen wurde: „Boxkampf oder Oskarverleihung? Triumphierend wie ein Champion, bravourös wie ein Filmstar zog Gerhard Schröder in die Leipziger Messehalle zum SPD-Parteitag ein . . . Hollywood lässt grüßen“, kommentierte Alexander Niemetz33 die Parteitagsinszenierung im „heute-journal“. Mit dem Spektakel „sollten keineswegs die Delegierten, Journalisten und Ehrengäste im Saal selbst beeindruckt werden, sondern die Fernsehzuschauer – diejenigen, die live zu31 Vgl. Hans-Mathias Kepplinger, Ereignismanagement. Wirklichkeit und Massenmedien, Osnabrück 1992, S. 52. 32 Ebd., S. 52. 33 Zit. in Holtz-Bacha (Anm. 14), S. 9.

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sahen, oder diejenigen, die das Ergebnis der strikten Regie in den Abendnachrichten zu sehen bekommen würden“34. Schließlich wurden der Parteitag und dessen Bedeutung völlig umfunktioniert: von einer Plattform zur Diskussion zwischen Parteimitgliedern (bzw. Vertretern der Parteibasis und der Parteiführung) zu einem Sprachrohr zur Überzeugung des Fernsehpublikums. Pseudoereignisse sind Ereignisse, die „eigens für die mediale Berichterstattung inszeniert [werden]. Sie nutzen die bekannten journalistischen Auswahlroutinen und steuern so Themen und Zeitpunkt medialer Berichterstattung“35. Ein klassisches Beispiel für ein solches inszeniertes Ereignis liefert der Bundestagswahlkampf 2005, der mit einem Pseudoereignis par excellence eingeleitet wurde. Nach der Niederlage der SPD bei den Landtagswahlen in NordrheinWestfalen am 22. Mai 2005 kündigten der SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering und Bundeskanzler Gerhard Schröder noch am Wahlabend an, Neuwahlen auf Bundesebene herbeizuführen – obwohl sie nicht im Geringsten die Kompetenz dafür hatten. Schließlich hat nur der Bundespräsident das Recht, den Bundestag aufzulösen – auf Vorschlag des Bundeskanzlers nach einer gescheiterten Vertrauensfrage (vgl. Art. 68 Abs. 1 GG). Mit der spontanen Ankündigung von Neuwahlen gelang es jedoch, einen „Befreiungsschlag“36 zu vollziehen und innerhalb kürzester Zeit die Schlagzeile „umzuschreiben“: Diese lautete nicht (mehr), dass die SPD die elfte Landtagswahl in Folge und damit gleichzeitig eine ihrer Hochburgen verloren hatte37, sondern, dass es vorzeitige Neuwahlen auf Bundesebene geben würde. Allerdings ist mit Blick auf den Bundestagswahlkampf 2005 auch zu konstatieren, dass dieser – aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen (der relativ überraschenden vorzeitigen Neuwahl sowie der kurzen Wahlkampfzeit) – insgesamt weniger Inszenierungen hervorbrachte als der Bundestagswahlkampf 2002 oder der Bundestagswahlkampf 1998. Eine besondere Form der Teilmediatisierung stellt ein TV-Duell zwischen den politischen Hauptkontrahenten dar, wie es in den USA erstmals zwischen John F. Kennedy und Richard M. Nixon stattgefunden hat und mittlerweile zum festen Bestandteil des „Wahlkampfprogramms“ zählt. In Deutschland kam es erstmals im Bundestagswahlkampf 2002 zu vergleichbaren TV-Duellen, d.h. zu Fernsehduellen zwischen den Kanzlerkandidaten von SPD und CDU/CSU. In34 Hans Mathias Kepplinger/Marcus Maurer, Der Nutzen erfolgreicher Inszenierungen, in: Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Wahlkampf in den Medien – Wahlkampf mit den Medien. Ein Reader zum Wahljahr 1998, Opladen 1999, S. 24. 35 Christina Holtz-Bacha, Das fragmentierte Medien-Publikum. Folgen für das politische System, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/1997, S. 19. 36 Eckhard Jesse, Parteiensystem im Wandel? Das deutsche Parteiensystem vor und nach der Bundestagswahl 2005, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Wiesbaden 2006, S. 23. 37 Vgl. Brettschneider (Anm. 18), S. 19.

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dem Gerhard Schröder und Edmund Stoiber zwei TV-Duelle bestritten, haben sie für eine zunehmende Personalisierung des deutschen Wahlkampfs gesorgt und diese spezifische Form der Wahlkampfauseinandersetzung als Bestandteil der deutschen Wahlkampfkultur eingeführt. In der Folge konnte sich Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2005 nur schwer einem direkten Schlagabtausch mit Gerhard Schröder entziehen. Allerdings fand im Gegensatz zum Bundestagswahlkampf 2002 nur ein TV-Duell statt; ein zweites wurde von Angela Merkel „aus Termingründen“38 abgelehnt. c) Angriffswahlkampf und Internetwahlkampf Das Argument, moderne Wahlkämpfe seien Angriffswahlkämpfe bzw. Formen des „negative campaigning“ eine Erscheinung des modernen Wahlkampfs, ist grundsätzlich falsch. Zum einen ist der Angriffswahlkampf prinzipiell so alt wie der Wahlkampf selbst. Zum anderen besteht sogar ein wesentliches Kennzeichen moderner Wahlkämpfe darin, dass die Wahlkampagnen zunehmend auf persönlich-polemische Angriffe verzichten, um einen so genannten Bumerangeffekt zu vermeiden. Dieser tritt ein, wenn die Wähler nicht nur gegenüber dem Angegriffenen, sondern auch gegenüber dem Angreifer eine negative Stimmung aufbauen (Double-Impairment-Effekt), oder die politischen Angriffe als unehrlich und unfair wahrnehmen und in der Folge sogar ein positives Verhältnis zu dem Angegriffenen aufbauen (Victim-Syndrome-Effekt).39 Aus diesem Grunde werden politische Angriffe in modernen Wahlkämpfen überwiegend auf einer sachlich-pragmatischen (oder humorvollen) Ebene geführt. Überdies werden sie zumeist weder von den Spitzenkandidaten noch gegen die Spitzenkandidaten der Parteien lanciert. Ein Paradebeispiel für einen derartigen „moderaten Angriffswahlkampf“ liefert der Bundestagswahlkampf 1998, bei dem Helmut Kohl von Gerhard Schröder mit einem „herzlichen Dankeschön“ für die geleistete Arbeit und dezenter Kritik in den Ruhestand „komplimentiert“ wurde. Im Vergleich zu früheren Bundestagswahlkämpfen, z. B. dem Bundestagswahlkampf 1980, waren die Angriffskampagnen „harmlose Laienspiele“40. Diese „harmlosen Laienspiele“ fanden – mit kleineren Ausnahmen – ihre Fortsetzung in den Bundestagswahlkämpfen 2002 und 2005. Während im Bundestagswahlkampf 2002 letztlich beide Seiten bestrebt waren, eine Neuauflage des Bundestagswahlkampfs 1980 zu vermeiden (und dies auch erreichten), war das „Kanzlerduell“ 2005 stark 38

Brettschneider (Anm. 18), S. 22. Vgl. Karen S. Johnson-Cartee/Gary A. Copeland, Manipulation of the American Voter. Political Campaign Commercials, London 1997, S. 24. 40 Albrecht Müller, Von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie: Beobachtungen zum Bundestagswahlkampf 1998 im Spiegel früherer Erfahrungen, Leverkusen 1999, S. 50. 39

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von dem „Geschlechterduell“ geprägt, das zwangsläufig respektvoller, moderater und mittelbarer ausfallen musste. So richteten sich z. B. die Hauptangriffe der SPD nicht gegen Angela Merkel, sondern gegen den Quereinsteiger und Steuerexperten im Kompetenzteam der Union, Paul Kirchhof, bzw. dessen („radikalreformerischen“) Vorschläge, die dieser höchst unsensibel, d.h. ohne mit der Partei bzw. der Wahlkampfführung abzustimmen, nach außen trug: „Mit der Fokussierung auf Kirchhofs steuerpolitische Vorstellungen, die im Übrigen durch das Wahlprogramm der Union nicht gedeckt waren, bot die Union der SPD eine entscheidende Angriffsfläche, die Gerhard Schröder mit all seiner medienwirksamen Fähigkeit für die SPD nutzen konnte“41. So wurde Kirchhof von der SPD und Gerhard Schröder „fortan als Symbol für nicht kalkulierbare Radikalreformen und für soziale Kälte hingestellt“42. Neben dem „moderaten Angriffswahlkampf“ lässt sich der äußerst professionell geführte Konterwahlkampf („rapid rebuttal“ oder „rapid response“) als Kennzeichen moderner Wahlkämpfe begreifen. Das Ziel des Konterwahlkampfs besteht grundsätzlich darin, jeden (bedeutenden) Angriff der politischen Konkurrenz so schnell wie möglich, d.h. möglichst noch im gleichen Nachrichtenzyklus der Massenmedien, zu returnieren und dabei zu entkräften. In erster Linie soll dabei verhindert werden, dass gegnerische Anschuldigungen „im Raum stehen bleiben“ und Anlass für weiterführende Diskussionen und Spekulationen geben. Der reaktionsschnelle und zielgenaue Konterwahlkampf erfordert eine kontinuierliche Observation der Agitationen der politischen Konkurrenz bzw. der Medienberichterstattung43. So wurde z. B. im Bundestagswahlkampf 1998 in der Wahlkampfzentrale der SPD das Spezialressort „Gegnerbeobachtung“ installiert, um auf sämtliche Angriffe der politischen Konkurrenz umgehend reagieren zu können: „Dank genauer Beobachtung und der schnellen Reaktionsfähigkeit [. . .] entstand oftmals der Eindruck, die CDU-Aktionen seien voraussehbar und die SPD habe die Nase vorn“44. Während sich der Konterwahlkampf in den meisten modernen Demokratien, wie z. B. in Deutschland, weitestgehend auf die voll- und teil-mediatisierte Wahlkampfkommunikation beschränkt, findet er beispielsweise in den USA auch verstärkt im Rahmen der nicht-mediatisierten Wahlkampfkommunikation, d.h. im Rahmen der Wahlkampfwerbung, statt. So gibt es in den USA TV-Werbespots, die sich aufeinander beziehen, d.h. einen regelrechten Wahlkampfdialog darstellen. Im Rahmen des Angriffs- und Konterwahlkampfs zeigt sich häufig, dass eine (große) Partei überwiegend offensiv und die andere (große) Partei überwiegend 41

Jung/Wolf (Anm. 19), S. 5. Brettschneider (Anm. 18), S. 26. 43 Vgl. Frank Esser/Carsten Reinemann, Mit Zuckerbrot und Peitsche. Wie deutsche und britische Journalisten auf das News Management politischer Spin Doctors reagieren, in: Holtz-Bacha (Anm. 2), S. 45. 44 Webel (Anm. 24), S. 35. 42

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defensiv agiert. In der Regel ist die Partei, die überwiegend offensiv agiert, die Oppositionspartei und die Partei, die überwiegend defensiv agiert, die Regierungspartei. Gewisse Entwicklungen, wie z. B. das Abschneiden der Parteien in den Meinungsumfragen, sowie spezifische Strategien der Wahlkampagnen können jedoch dazu führen, dass die Regierungs- und die Oppositionspartei gewissermaßen die Rollen vertauschen. Dies zeigte z. B. der Bundestagswahlkampf 1998: „Es gab so etwas wie vertauschte Rollen. Nicht die Opposition, sondern die Regierungskoalition griff an, wenn auch aus einer insgesamt defensiven Grundposition“45. Dieser Rollentausch war das Ergebnis der relativ deutlichen Dominanz der SPD in den Meinungsumfragen sowie der Strategie der SPD, einen „Regierungswahlkampf“ zu führen – „von der Attitüde her“46. Ein ähnliches Bild (allerdings mit umgekehrten Vorzeichen) zeigte sich bei der Bundestagswahl 2005: „Die Regierungsparteien gerierten sich mit ihren Angriffen gegen die Vorschläge von Scharz-Gelb als Opposition und warnten vor einer ,schwarzen Republik‘, die Oppositionsparteien präsentierten sich eher als Regierung und gaben konkrete Reformmaßnahmen bekannt“47. Vor allem die Union wurde „als vermutete unvermeidliche Siegerin in die Rolle einer Regierungspartei gedrängt und sah sich einer sehr intensiven Debatte über ihr Regierungsprogramm ausgesetzt, ohne dass Gleiches von der SPD verlangt wurde“48. Zu dem Rollentausch hat die Union letztlich jedoch auch selbst beigetragen, indem sie sich im Verlauf des Wahlkampfs immer stärker in die Defensive abdrängen ließ: „[S]tatt die rot-grüne Bilanz konsequent zu attackieren, entschied sich die Wahlkampfführung der Union für einen gouvernementalen Wahlkampf. Damit hat sie sich [zum Teil] selbst in die Rolle desjenigen begeben, der sich verteidigen muss“49. Auch das Argument, moderne Wahlkämpfe seien „Internetwahlkämpfe“, d.h. Wahlkämpfe die im Internet entschieden werden, ist grundsätzlich falsch. Entscheidend ist, dass moderne Wahlkämpfe nach wie vor nicht im Internet entschieden werden. Die Besonderheit des Internets für den Wahlkampf im Speziellen sowie für die politische Kommunikation im Allgemeinen liegt darin, dass es eine unmittelbare und unverzerrte Kommunikation ermöglicht: Über die Wahlkampfmodi des Internets haben Parteien die Möglichkeit, unmittelbar und unverzerrt mit Wählern zu kommunizieren. Die Wirkung dieser Kommunikation darf jedoch nicht überschätzt werden: Nicht jeder Wähler nutzt das Internet, nicht jeder Internet-Nutzer ist politisch interessiert und nicht jeder politisch interessierte Internet-Nutzer nutzt die Internet-Angebote der Parteien (im Wahl-

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Müller (Anm. 40), S. 26. Machnig (Anm. 25). Jesse (Anm. 36), S. 24. Jung/Wolf (Anm. 19), S. 5. Brettschneider (Anm. 18), S. 22.

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kampf). Dennoch sind diese wichtig: zum einen als Teil der politischen Kommunikation innerhalb der gesamten Wahlkampagne, vor allem zur Etablierung von Netzwerken, zur Mobilisierung von Stammwählern sowie zur Instrumentalisierung von Meinungsführern; zum anderen zur symbolischen Kommunikation bzw. Metakommunikation über die gesamte Wahlkampagne, d.h. zur Demonstration von Modernität, Zukunftsfähigkeit und Zukunftskompetenz – vor allem über die klassischen Massenmedien. Der Wahlkampf im Internet entfaltet also nicht nur eine unmittelbare, sondern auch eine mittelbare Medienwirkung: über die Thematisierung der Webangebote der Parteien in den klassischen Massenmedien. Diese mittelbare Wirkung war das wichtigste Ziel im ersten deutschen „Internetwahlkampf“, d.h. im ersten Bundestagswahlkampf, der auch im Internet ausgetragen wurde: im Bundestagswahlkampf 1998. In diesem Wahlkampf haben nahezu alle nennenswerten Parteien ein eigenes politisches Angebot im Internet präsentiert50. Obwohl die Online-Kampagnen der Parteien die spezifischen Vorteile der Internet-Kommunikation zum Teil bereits sehr gut nutzten51, steckte der Wahlkampf im Internet noch „in den Kinderschuhen“. Zu Recht lässt sich feststellen, „dass 1998 im Hinblick auf das cyber-campaigning nicht von einer Strategie gesprochen werden kann“52. Schließlich hatten zur Zeit des Bundestagswahlkampfs 1998 auch nur knapp 8 Prozent der Bundesbürger Zugang zum Internet53. Dennoch waren die Online-Kampagnen für die Parteien wichtig: um über die Kompetenz zur Nutzung der Internet-Kommunikation ihre Zukunftskompetenz zu demonstrieren. Mit der Anzahl der Internet-Nutzer ist in Deutschland die Bedeutung sowie die Qualität des Wahlkampfs im Internet gestiegen. Im Bundestagswahlkampf 2002 nutzten alle Bundestagsparteien das Internet „gezielt als Wahlkampfmedium, wobei Intensivierung und Professionalisierung sowohl inhaltlich als auch technisch zu Buche schlugen“54. Im Bundestagswahlkampf 2005 ist eine weitere Steigerung der Qualität des Wahlkampfs im Internet auszumachen. Einen neuen Trend stellten hierbei die so genannten Weblogs (kurz: Blogs) dar. Doch obwohl die Parteien 2005 das Potenzial des Internets bereits weitaus besser genutzt haben als 2002 oder gar 1998, werden deutsche Wahlkämpfe längst nicht im Internet gewonnen. Sie können allenfalls im Internet verloren werden. Schließlich gilt für jede Wahlkampagne: „Wir 50 Vgl. Detlev Clemens, Wahlkampf im Internet, in: Winand Gellner/Fritz v. Korff (Hrsg.), Demokratie und Internet, Baden-Baden 1998, S. 155. 51 Vgl. Clemens (Anm. 50), S. 150. 52 Armin Glatzmeier, Kommunikationspotenziale des Internet. Zur wirksamen Integration von Online-Strategien in die Wahlkampagne, in: Die Zukunft des Political Consultings, hrsg. vom Forum.Medien.Politik, Trends der politischen Kommunikation. Beiträge aus Theorie und Praxis, Münster 2004, S. 177. 53 Vgl. die ARD/ZDF-Online-Studie 1998: Onlinemedien gewinnen an Bedeutung, Nutzung von Internet und Onlineangeboten elektronischer Medien in Deutschland, in: Media Perspektiven (1998) Nr. 8, S. 423. 54 Glatzmeier (Anm. 52), S. 178.

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holen keine zwei Prozent über das Internet [. . .], aber eine Partei, die dieses Medium nicht beherrscht, zeigt, dass ihr eine gewisse Modernität abgeht“55. d) Wahlkampforganisation Die Wahlkampfkonzeption und Wahlkampfkommunikation bedarf einer entsprechenden Wahlkampforganisation. Ein wesentliches Kennzeichen moderner Wahlkämpfe besteht in diesem Bereich in der zunehmenden Professionalisierung, Kommerzialisierung und Externalisierung des Wahlkampfmanagements: An die Stelle des „parteipolitischen Herzbluts“ treten zunehmend professionelle bzw. kommerzielle Strategien, an die Stelle parteiinterner bzw. parteinaher „Laien“ externe Spezialisten und an die Stelle parteiinterner Wahlkampfbüros externe Wahlkampfhauptquartiere, regelrechte Kommunikationszentralen. Eine derartige Kommunikationszentrale stellte im Bundestagswahlkampf 1998 die Wahlkampfzentrale der SPD dar: die „Kampa“. Die „Kampa“ wurde aus dem Parteihaus ausgelagert, mit einer modernen Infrastruktur sowie einer zentralen Organisationsgewalt ausgestattet und mit acht externen Agenturen, u. a. einer „Leadagentur“, vernetzt. Zwar stand die „Kampa“ unter der Leitung des SPD-Bundesgeschäftsführers Matthias Machnig, doch war dieser weniger ein typischer Parteifunktionär, sondern vielmehr der typische moderne Wahlkämpfer bzw. Kommunikationsberater – was auch durch seinen späteren Wechsel zur „BBDO Consulting“ deutlich wird. Grundsätzlich lässt sich argumentieren, dass weniger die „Kampa“ unter dem Einfluss der SPD, sondern vielmehr die SPD bzw. der SPD-Wahlkampf unter dem Einfluss der „Kampa“ stand: „Sie lieferte eine Vielzahl von Dienstleistungen für die Parteiorganisation, die ausgesprochen erfolgsorientiert im Austausch dafür einen recht kurzen Zügel akzeptierte“56. Nach dem Vorbild der „Kampa“ im Bundestagswahlkampf 1998 schuf die SPD die „Kampa 02“ im Bundestagswahlkampf 2002 sowie die „Kampa 2005“ im Bundestagswahlkampf 2005, die allerdings nicht mehr unter der Leitung von Matthias Machnig stand (an seine Stelle trat der neue SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel), nicht mehr aus dem Parteihaus ausgelagert wurde und nicht mehr mit einer so genannten „Leadagentur“ zusammenarbeitete. Dieser Wandel ist jedoch weniger auf ein Umdenken in der Kampagneführung, sondern vielmehr auf die spezifischen Rahmenbedingungen des Bundestagswahlkampfs 2005 zurückzuführen: „Der Wahlkampf 2005 war [. . .] zu kurz, um eine ausgeklügelte und sich langfristig entwickelnde Strategie zu entwerfen“57. 55 Heiner Lueg, zit. in: Gerd Strohmeier, Mit modernen Medien und ohne traditionelle Gatekeeper . . . – Wie das Cybercampaigning den Wahlkampf verändert, in: Klemens Joos/Alexander Bilgeri/Dorothea Lamatsch (Hrsg.), Mit Mouse und Tastatur – Wie das Internet die Politik verändert, München 2001, S. 73. 56 Ristau, zit. in: Alemann (Anm. 22).

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Die Union hat sich im Gegensatz zur SPD nie für eine derart von der Partei losgelöste Wahlkampforganisation entschieden. Im Bundestagswahlkampf 2002 versuchte Edmund Stoiber jedoch wesentliche Bereiche des Wahlkampfgeschäfts in professionelle Hände zu legen, indem er Michael Spreng, den ehemaligen Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, als persönlichen Berater engagierte. Spreng fehlten jedoch – wie manche Beratungsfehler dokumentieren – sowohl die Erfahrung als auch das einschlägige Wissen im „Wahlkampfgeschäft“. Gleichwohl: Seine persönlichen Medienauftritte waren äußerst professionell und erzeugten zum Teil eine massenmediale Metakommunikation über die (vermeintlichen) „Strippenzieher“ im Bundestagswahlkampf 2002. 4. Fazit Mit der Zunahme der Anzahl und damit der Bedeutung der Wechselwähler hat in modernen Demokratien auch die Bedeutung des Wahlkampfs, der Wahlkampagnen und deren Wahlkampfkonzeption zugenommen: Parteien, die bei Wahlen erfolgreich sein wollen, Parteien, die Wahlen gewinnen wollen, müssen in erster Linie Wechselwähler gewinnen. Mit anderen Worten: Wechselwähler entscheiden moderne Wahlkämpfe. Dies hat natürlich einen großen Einfluss auf die Ausgestaltung der Wahlkampagnen. Mit Blick auf die Orientierung der Wahlkampagnen am Wählermarkt lässt sich feststellen, dass sich die Kampagnen zunehmend auf die Wechselwähler konzentrieren und die Wechselwähler in der Folge zunehmend die Ausgestaltung der „politischen Produkte“ determinieren. Während die Orientierung an den zweckrationalen Wechselwählern zu einer zunehmenden Entideologisierung der „politischen Produkte“ führt, bewirkt die Orientierung an den affektuellen Wechselwählern eine zunehmende Emotionalisierung, Entertainisierung, Simplifizierung und auch Personalisierung sowie Privatisierung der „politischen Produkte“. Zudem lässt sich mit Blick auf die Orientierung der Wahlkampagnen am Wählermarkt feststellen, dass sich die Kampagnen zunehmend auf Zielgruppen konzentrieren. Während bei der sozioökonomischen Zielgruppenorientierung die zentrale Wahlkampfbotschaft unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen auf unterschiedliche Weise vermittelt wird, erfolgt bei der geografischen Zielgruppenorientierung – die in Mehrheitswahlsystemen eine entscheidende Bedeutung hat – eine gezielte Ansprache „unentschlossener“ bzw. „wahlentscheidender“ Wahlkreise. Im Bereich der Wahlkampfkommunikation ist eine zunehmende Mediatisierung (und damit auch eine zunehmende Bedeutung des Fernsehens) zu beobachten. Zudem zeigt sich, dass die Wahlkampagnen Formen der Teil- und Vollmediatisierung zunehmend Beachtung schenken, da diese bei der Ansprache der 57

Holtz-Bacha (Anm. 15), S. 19.

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Wechselwähler eine relativ hohe Glaubwürdigkeit erzielen. Ferner ist zu beobachten, dass die Wahlkampfkommunikation – im Rahmen eines immer professioneller werdenden Nachrichten-, Themen- und Ereignismanagements – bestmöglich auf die Erfordernisse der massenmedialen Kommunikation abgestimmt wird. Mit Blick auf den Angriffswahlkampf lässt sich feststellen, dass die Wahlkampagnen zunehmend einen „moderaten Angriffswahlkampf“ führen, d.h. auf persönlich-polemische Angriffe verzichten, um einen so genannten Bumerangeffekt zu vermeiden. Zudem ist die Entwicklung eines äußerst professionell geführten Konterwahlkampfs („rapid rebuttal“ oder „rapid response“) zu beobachten. Der Internetwahlkampf entfaltet zwar keine wahlentscheidende, jedoch eine wichtige – unmittelbare und mittelbare – Wirkung: Während die unmittelbare Wirkung in der Etablierung von Netzwerken, Mobilisierung von Stammwählern sowie Instrumentalisierung von Meinungsführern besteht, zeigt sich die mittelbare Wirkung in der Demonstration von Modernität, Zukunftsfähigkeit und Zukunftskompetenz – vor allem über die klassischen Massenmedien. Im Bereich der Wahlkampforganisation ist eine zunehmende Professionalisierung, Kommerzialisierung und Externalisierung des Wahlkampfmanagements zu beobachten. So werden professionelle bzw. kommerzielle Strategien, externe Spezialisten sowie externe Wahlkampfhauptquartiere, regelrechte Kommunikationszentralen, zunehmend zum Signum moderner Wahlkämpfe. Die beschriebenen Kennzeichen moderner Wahlkämpfe lassen sich sehr gut am Beispiel der Bundestagswahlkämpfe 1998, 2002 und 2005 illustrieren. Es ist davon auszugehen, dass diese Tendenzen auch für die nächsten (Bundestags-) Wahlkämpfe bestimmend sein werden. Da jedoch – wie eingangs bereits festgestellt – „nur der erfolgreich ist, der seine Handlungsweise mit dem Zeitgeist in Einklang bringt“58, wird sich langfristig auch der Wahlkampf verändern – wenn sich die Umstände bzw. Rahmenbedingungen für den Wahlkampf verändern.

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Machiavelli (Anm. 1), S. 103 f.

Große Koalitionen in Deutschland Von Peter März 1. Ausgangskonstellationen „Große Koalitionen“ gelten als das ungewöhnliche, von der Norm abweichende parlamentarische Regierungsmodell. Sie entsprechen nicht der Schulweisheit von der Konfrontation insbesondere quantitativ starker Oppositionen mit den Regierungsmehrheiten; sie scheinen dem Bild einer alles dominierenden, langweiligen Konformität zu genügen – und ihr Entstehen folgt gemeinhin jenem Muster, das in der römischen Kriegsgeschichte die Formel „res ad triarios iit“ ausdrückt – in kritischer Lage müsse die dritte Linie der erfahrenen Veteranen Stabilität und Erfolgsaussicht wiederherstellen, wenn das „Normalpersonal“ nachzugeben drohe. Negativ gewendet gelten Große Koalitionen als so etwas wie die großen „Plattmacher“, die dem Publikum das rhetorische Schauspiel tatsächlicher oder inszenierter Auseinandersetzungen im Parlament vorenthalten, eine Art Spielverderber also, bei dem im Hinterzimmer alles geregelt und durch übergroße Mehrheiten abgenickt wird. Umgekehrt gibt es freilich auch die These, dass Große Koalitionen vor allem die kreativen Außenseiter, die – im positiven Sinne – Querulanten und Spinner zur Geltung kommen lassen: Denn parlamentarische Mehrheiten von etwa zwei Dritteln der Abgeordneten aufwärts können sich wenigstens quantitativ, wenn vielleicht auch nicht kommunikativ und disziplinarisch, bröckelnde Ränder leisten, ja sogar ihre politische und kulturelle Pluralität dadurch unter Beweis stellen, dass sie ihre jeweiligen Querdenker bzw. um Profilierung bemühten Nachwuchskapazitäten sich durchaus exponieren lassen. In Zeiten knappster Mehrheiten geht so etwas nicht, muss disziplinierender Druck ausgeübt werden, wie in der Endphase der ersten Legislaturperiode der sozialliberalen Koalition 1972, als SPD und FDP einige Abgeordnete „von der Fahne“ gegangen waren und ins Oppositionslager wechselten,1 wie in den vier Jahren von 1976 bis 1980, als die von Helmut 1 Vgl. für das personelle Abschmelzen der Regierungsfraktionen im Zeichen der neuen Ostpolitik bis 1972 Andreas Grau, Gegen den Strom. Die Reaktion der CDU/ CSU-Fraktion auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition 1969– 1973, Düsseldorf 2005. Für die Legislaturperiode des Bundestages von 1976–1980 Wolfgang Jäger, Die Innenpolitik der sozialliberalen Koalition 1974–1982, in: ders./ Werner Link, Republik im Wandel 1974–1982. Die Ära Schmidt, in: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5/II, Stuttgart 1987, S. 46 ff. Die Gefährdung einer knappen Regierungsmehrheit signalisiert nicht zuletzt die Stellung der Vertrauensfrage

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Kohl geführte CDU/CSU bei der Bundestagswahl 1976 fast den Pegel von SPD und FDP erreicht hatte und schließlich wie in den letzten vier Jahren der Amtszeit von Helmut Kohl 1994 bis 1998, als ähnliche quantitative Verhältnisse herrschten. Unter welchen Bedingungen formiert man eigentlich eine Große Koalition, was kann und was soll sie leisten? Grundsätzlich gibt es wohl zwei Ausgangskonstellationen, um ein derartiges, von einer angenommenen parlamentarischen Norm abweichendes Bündnis zu formen: Das eine sind vorausgegangene bzw. unmittelbar absehbare grundstürzende, in aller Regel bedrohliche historische Veränderungen bzw. nach eingetretenen Katastrophen der tatsächliche oder vermeintliche Zwang, Kräfte zu bündeln und auf einer breiten, das demokratische Lehrbuch erst einmal negierenden Plattform zu agieren. Das andere ist der Zwang der Arithmetik oder, einfach ausgedrückt: Wenn sich rechnerisch keine andere Möglichkeit ergibt, es sei denn, die großen Parteien, die ansonsten den jeweils gegensätzlichen Lagern angehören bzw. aus unterschiedlichen Milieus gespeist werden, ließen sich auf eine Koalition ein. Große Koalitionen sind bzw. waren eine häufige Erscheinung bei Kriegsbeginn bzw. nach einer militärischen Niederlage, zumal dann, wenn sie mit Okkupation, Systemwechsel und gegebenenfalls ökonomischem, ideologischem und moralischem Kollaps verbunden war. Allerdings finden wir dann auch häufig nicht unmittelbar Große Koalitionen, d. h. das Bündnis mindestens der beiden größten, zugleich namhafte Milieus repräsentierenden Kräfte vor, sondern Allparteienkoalitionen bzw. doch breit gelagerte Parteikartelle. Letztere pflegen sich vielfach im Laufe der Zeit von einer derartigen Bandbreite durch das Ausscheiden von Koalitionspartnern, die an den Rändern des Spektrums beheimatet sind, zu reduzieren bzw. zu normalisieren. Allparteienregierungen bzw. breite Parteienbündnisse werden in aller Regel dann formiert, wenn, insbesondere durch Kriegsausbruch, eine besondere nationale Gefährdung entsteht, die innenpolitische Integration, möglichst einvernehmliche Kriegszielprogramme – zumindest was die Außenwirkung anlangt – und Wahrung der nationalen Kampfbereitschaft erfordert: Solche Regierungen bildete Frankreich bei Beginn des Ersten Weltkrieges („union sacrée“)2 wie bei nach Art. 68 GG durch den Bundeskanzler, wenn er damit nicht die Intention verbindet, über eine selbst gewünschte negative Mehrheit zu Neuwahlen zu gelangen, wie Willy Brandt 1972, Helmut Kohl 1983, Gerhard Schröder 2005, sondern das Votum über die Vertrauensfrage in ganz unmittelbarem Sinne disziplinierend gedacht ist, wie zuletzt am 16. November 2001 durch Gerhard Schröder. 2 Zur Herbeiführung des nationalen Konsenses in Frankreich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges Thomas Raithel, Das Wunder der Inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996. Entscheidender Schritt war der Eintritt von zwei Sozialisten in die französische Regierung Viviani am 26. August 1914. Die französische „union sacrée“ war nie im formalen Sinne eine Allparteienkoalition, sondern stand in erster Linie für eine Art parla-

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Beginn des Zweiten Weltkrieges, Großbritannien während des Ersten Weltkrieges im Verlauf der militärischen Auseinandersetzungen wie wieder im Zweiten Weltkrieg. Im französischen Fall ergab sich zugleich bei Beginn des Zweiten Weltkrieges die Besonderheit, dass ein spezielles Ereignis zum Ausschluss einer Partei aus der Regierungskonstellation wie sogar zu deren Verbot geführt hatte: Der von der kommunistischen Partei Frankreichs begrüßte Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vom 23. August 1939 hatte zur plausiblen Konsequenz, dass die Kommunisten nun nicht mehr lediglich im Blick auf ihre Willfährigkeit gegenüber der stalinistischen Sowjetunion, sondern auch im Hinblick auf den Kriegsgegner seit dem 3. September 1939, das Deutsche Reich, nunmehr in Partnerschaft dem „Vaterland aller Werktätigen“ verbunden, als unter keinen Umständen mehr loyal angesehen werden konnten und Repressionen unterworfen wurden. Am 26. September 1939, nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen, wurde die KPF verboten, mit ihr zugleich jene kommunistische Partei, die noch weniger als drei Jahre zuvor Bündnispartner der französischen Volksfrontregierung unter Léon Blum gewesen war, wenn auch nicht mit eigenen Ministern. Nach dem Ende der Feindseligkeiten lösen sich derlei Milieugrenzen überspannende, umfassende Regierungskonstellationen naturgemäß wieder auf, das betreffende Land kehrt zu seiner Tradition innenpolitischer Konfliktlinien zurück: Das kann sich durchaus länger hinziehen, wie in Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, als die Konservativen noch bis 1922 im Koalitionskabinett des britischen Premiers Lloyd George verharrten, aber ebenso sehr schnell und abrupt vonstatten gehen. Auch dafür liefert Großbritannien das klassische Beispiel: Am Ende des Zweiten Weltkrieges, kurz vor der Kapitulation Japans, wurde der konservative Kriegspremier Winston Churchill im Juli 1945 – für ihn wie für die Öffentlichkeit überraschend – durch einen Wahlsieg der Labour Party in die Opposition verbannt, das Kriegskabinett war zerbrochen. Labour gewann die Unterhauswahlen vom 25. Juli 1945 mit unerwarteter Deutlichkeit, Winston Churchills Konservative verloren 193 Mandate.3 Sein Nimbus des Vorkämpfers mentarisch-exekutiven Konsens, die Kriegsanstrengungen zu vereinen. Insbesondere die legitimistisch-royalistische Rechte, für die französischen Republikaner habituell inakzeptabel, blieb von der formalen Regierungsbeteiligung während des gesamten Ersten Weltkrieges ausgegrenzt. Vgl. Jean-Jacques Becker, Frankreich, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u. a. 2003, S. 31–43. In Großbritannien beteiligten sich die Konservativen 1916 am vom liberalen Premier Lloyd George geführten Kriegskabinett. Auch im weiteren Verlauf der 20er Jahre gab es im Zeichen schwerer ökonomischer Verwerfungen breite Regierungsbündnisse wie unter dem Labourpremier Ramsay Mc Donald 1931–1935 unter Einschluss liberaler und konservativer Minister. Vgl. Michael Maurer, Kleine Geschichte Englands, Stuttgart 2002, S. 444. 3 Zur Wahlniederlage der britischen Konservativen im Juli 1945 Roy Jenkins, Churchill. A Biography, New York 2001, S. 773 ff. („Victory in Europe and defeat in Britain“).

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eines imperialen britischen Anspruches, seit den Zeiten der Erfolge über die Mahdisten im Sudan und im Burenkrieg vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begründet, wie die frische Reputation des Kriegspremiers, der 1940 das einsam gewordene Großbritannien vor dem Fußfall vor dem Dritten Reich bewahrt hatte, wog nun nichts oder doch wenig gegen jenen Paradigmenwechsel, den die britische Linke versprach, nämlich weg von den Mühen des Kriegsalltages und hin zu einer sozialistisch-wohlfahrtsstaatlichen Zukunft. Und dieser Effekt trat ein, obwohl auch die Konservativen mancherlei Programme in der Sozial- und Bildungspolitik mitentwickelt hatten. Der Wechsel vom Primat der Außen- zum Primat der Innenpolitik scheint typisch für Zäsuren, weg von nationalen Überlebensfragen, sogar in einem unmittelbar physischen Sinne, hin zu mehr oder weniger innenpolitischem business us usual, das dann auch – wieder – das Wechselspiel von Regierung und – starker – Opposition erleichtert. 2. Das Beispiel Weimar In der deutschen zeitgeschichtlichen und mit ihr auch politikwissenschaftlichen Sehweise verbindet sich der Begriff der Großen Koalition zunächst mit den Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik. Ausgangspunkt ist die um Parlamentarisierung und Demokratisierung bemühte Bündelung der politischen Kräfte aus der linken Mitte gegen die in Staatsapparat und Armee dominierenden administrativen Eliten in der Zeit des Kaiserreiches und zumal des Ersten Weltkrieges. Man kann diese Linie bis in die Phase der Parteienbündnisse wie Kartellbildungen seit der späten Bismarckzeit ziehen. Gewiss hat es im Kaiserreich bis zum Herbst 1918 oder zumindest bis zum Herbst 1917, dem Sturz von Reichskanzler Michaelis und der Bestellung von Reichskanzler Graf Hertling, mit dem Vizekanzler von Payer4 auf Druck der Reichstagsmehrheit, keine parlamentarischen Regierungen gegeben. Dies schloss schon die Reichsverfassung von 1871 aus. Das Kaiserreich kannte keine parlamentarische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, keine Minister auf Reichsebene und einen autonomen militärischen Kommandostrang ohne politische Verantwortung. Bei Gesetzgebung und Billigung des Haushalts war aber die Zustimmung durch das Parlament notwendig, und immer weniger konnte gegen dominante Strömungen in politischen Milieus und medialer Öffentlichkeit regiert werden. Daher sahen sich die Kanzler veranlasst, ja gezwungen, sich um Zustimmung und parlamentarische Mehrheiten zu bemühen. Zugleich veranlasste das Reichstagswahlrecht – ein Direktwahlrecht mit zweiten Wahlgängen, wenn im ersten Wahlgang kein Bewerber 4 Vgl. Peter März, Der Erste Weltkrieg. Deutschland zwischen dem langen 19. Jahrhundert und dem kurzen 20. Jahrhundert, München 2003, S. 175 ff. Ernst-Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V. Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart u. a. 1978, S. 398.

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die absolute Mehrheit erreicht hatte –, die Parteien zu Stichwahlbündnissen. Zwar hatte es bei verschiedenen Reichstagswahlen auch solche Bündnisse gegeben, bei denen die dem jeweiligen Reichskanzler gegenüber sympathisierenden Parteien der Rechten und der rechten Mitte (1907 auch Linksliberale) sich für die zweiten Wahlgänge verbündet und dann auch parlamentarische Mehrheiten gewonnen hatten – u. a. 1887 das Bismarck-Kartell, 1907 das Bülow-Kartell. Schließlich hatte sich analog eine Kooperation der linken Mitte, besonders erfolgreich bei der Reichstagswahl 1912, ergeben – über den ideologischen Graben zwischen weitgehend marxistisch orientierter Sozialdemokratie und Linksliberalen hinweg. Die vielfach als „Reichsfeinde“ qualifizierten Milieus und politischen Kräfte aus Sozialdemokratie, Linksliberalismus und politischem Katholizismus hatten in der Konsequenz spätestens seit Sommer 1917 in einer engeren Kooperation zusammengefunden: Es ging dabei um einen Verständigungsfrieden „ohne Annexionen und Kontributionen“ und um die Parlamentarisierung der Reichsverfassung. Im sogenannten „Interfraktionellen Ausschuss“ des Reichstages wurden diese Überlegungen, bei den innenpolitischen Reformthemen weitgehend unter Einschluss der Nationalliberalen, vorangetrieben. Damit waren bereits die späteren Großen Koalitionen der Weimarer Republik 1923 und 1928–30 samt deren Eigenheiten präformiert:5 Bei ihnen handelte es sich dann um asymmetrische Parteienbündnisse: Einem großen Partner, der Sozialdemokratie, standen drei kleine bürgerliche gegenüber: die Deutsche Demokratische Partei (Linksliberale), die Nationalliberalen sowie das Zentrum, letzteres das katholische Milieu repräsentierend. Diese Asymmetrie unterschied die beiden Großen Koalitionen der Weimarer Republik auffällig von den vergleichbaren Nachkriegsbündnissen in Deutschland. Sie resultierte aus den Fragmentierungen der parteipolitischen Kräfte, die sich während des 19. Jahrhunderts durch den Kulturkampf gegen die katholische Kirche und durch die Teilung des liberalen Lagers nach 1866 in ein bismarckfreundliches (Nationalliberale) und ein prinzipiell linksliberales ergeben hatten. Umgekehrt formuliert: Die Hegemonialposition der SPD als weitaus stärkster Partei in den Großen Koalitionen auf nationaler Ebene in Deutschland war nur solange prinzipiell gesichert, solange das „bürgerliche“ Lager sich nicht in zumindest wesentlichen Teilen in einer „Volkspartei“ zusammenfand, wie es nach 1945 mit der Unionsgründung gelang. Das zweite Moment war der Zerfall der Sozialdemokratie während des Ersten Weltkrieges in zwei, schließlich – seit Anfang 1919 – sogar drei Richtungen: Mehrheitssozialdemokratie, Unabhängige Sozialdemokraten und Kommunisten. Der ursprünglich mit Proklamation der Republik am 9. November 1918 in der 5 Vgl. Wilhelm Ribhegge, Frieden für Europa. Die Politik der deutschen Reichstagsmehrheit 1917/18, Essen 1988.

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exekutiven Führung stehende „Rat der Volksbeauftragten“ hatte nur aus Sozialdemokraten von MSPD und USPD bestanden. Eine erfolgreiche Fortsetzung dieser Linie hätte sehr schnell in eine Konfrontation zwischen sozialistischem und bürgerlichem Lager und damit in einen ähnlichen Antagonismus wie im Österreich der Zwischenkriegszeit führen können. In Deutschland kam es aber anders: Die Mehrheitssozialdemokraten fanden nach den Wahlen zur Nationalversammlung Ende Januar 1919 mit Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei zu einer Vernunftregierung der linken Mitte („Weimarer Koalition“) zusammen. Die Politik einer Sicherung der parlamentarisch-demokratischen Entwicklung gegen linksrevolutionäre Ambitionen durch die MSPD-Führung hatte die USPD veranlasst, sich aus der exekutiven Mitverantwortung auf nationaler Ebene zurückzuziehen. Diese neue Weimarer Koalition trug, sozusagen über die in Ansätzen sozialistische Revolution des November 1918 hinweg, die konstitutiven Anstrengungen aus der Kriegszeit weiter, gründete auf sie die Weimarer Reichsverfassung und akzeptierte zugleich in weiten Teilen – ohne die DDP – den Versailler Vertrag.6 Bereits im Folgejahr 1920 wurde der Weimarer Koalition allerdings für die restliche Lebenszeit der Republik die Geschäftsgrundlage entzogen: Nicht zuletzt die tiefe Enttäuschung über die Ausgestaltung des Versailler Vertrages mündete zunächst in den Kapp-Putsch gegen die Republik 1920, sodann bei der ersten Reichstagswahl im selben Jahr in eine parteipolitische Polarisierung und für die weitere Folgezeit in zunächst rein bürgerliche Kabinette ohne sozialdemokratische Mitwirkung. 1920 gewann zudem die USPD deutlich auf Kosten der SPD hinzu – die nach der Niederschlagung von kommunistischen Aufständen vielfach bemühte Parole von den „Arbeiterverrätern“ Ebert und Noske hatte im linken Lager gezündet. Auf der anderen Seite gab es eine deutliche Stärkung der rechten Mitte in Gestalt der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) wie des nationalistisch-monarchistischen Spektrums in Gestalt der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Die erste Große Koalition auf nationaler Ebene in Deutschland war dann der Reflex einer absoluten Krisenlage. Man kann ihre Bestellung wie ihr Wirken mit dem Einsatz eines Teams in der Notfallchirurgie vergleichen, das gleichzeitig Aorten abbinden, das Herz am Schlagen und die Hirnströme am weiteren Fließen halten muss: Wenige Monate nach der französischen und belgischen Ruhrintervention im Januar 19237 hatte das bürgerliche Kabinett so genannter Fachleute unter 6 Vgl. Heinrich-August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918–1924, Berlin/Bonn 1985; Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982. 7 Die Dramatik der Ruhrintervention für die innere Stabilität Frankreichs und Deutschlands – im deutschen Falle ging es um den Fortbestand des Nationalstaates überhaupt – schildert der Sammelband von Gerd Krumeich/Joachim Schröder (Hrsg.), Der Schatten des Weltkrieges: Die Ruhrbesetzung 1923, Essen 2004. Aus einer sehr

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Reichskanzler Cuno kapitulieren müssen. Die nunmehr bestellte erste Große Koalition unter Gustav Stresemann (DVP), also parteipolitisch gesehen einem Flügelmann der neuen Regierungskonstellation, hatte bei insbesondere durch die Finanzierung des passiven Widerstandes gegen die Okkupation im Ruhrgebiet extrem schwindenden Devisenreserven eine sich mittlerweile überschlagende Inflation einzudämmen, die vom französischen Kabinett Poincaré betriebene Abtrennung des Rheinlandes zu verhindern, das explosive Gemisch aus reaktionärem Separatismus mit chauvinistischem Rassismus, das sich in Bayern auf den Weg eines antirepublikanischen Staatsstreiches gemacht hatte, wirksam zu bekämpfen und schließlich den Volksfrontregierungen in Sachsen und Thüringen Einhalt zu gebieten. Die Hundert-Tage-Regierung Stresemann hat dieses erdrückende Gebirge an Aufgaben in einer erstaunlichen Weise bewältigt: In Gestalt der Rentenmark gelang die Stabilisierung der Währung, der Hitlerputsch in Bayern brach am 9. November 1923 zusammen, freilich weniger, weil eine Reichsintervention bevorstand, sondern im Ergebnis der innerbayerischen Kräftekonstellation (Hitler war – noch – zu schwach gegen das traditionalistische Lager), eine Reichsexekution entmachtete die linksradikalen Regierungen in Mitteldeutschland, und im Westen blieb die territoriale Integrität der Republik gewahrt.8 Die Große Koalition des Jahres 1923 gelangte an ihr Ende, als die SPD, gegen den Widerstand von Reichspräsident Ebert, am 3. November das Bündnis verließ. Die SPD glaubte nicht akzeptieren zu können, dass die Regierung, gestützt auf den Notverordnungsartikel 48 der Reichsverfassung und damit auf die Zustimmung des Reichspräsidenten, mit Wirkung vom 29. Oktober 1923 eine „Exekution“ gegen die von der KPD mitgetragene sächsische Regierung durchführte, die nahezu gleichzeitigen rechtsextremistischen Staatsstreichentwicklungen in Bayern hingegen einer sozusagen internen Klärung anheim stellte. Die hier gegebene Ambivalenz einer unter den vorhandenen Bedingungen prinzipiellen Ungleichbehandlung, die zugleich verantwortungsethisch akzeptabel erscheinen mochte, führte auch zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Reichspräsident Ebert, der sich hier als Anwalt pragmatischer Staatsräson sah, und der eigenen Partei.9 Wie fragil die Regierungsverhältnisse jener Monate waren, tradierten, nationalen bis nationalistischen Position: Ludwig Zimmermann, Frankreichs Ruhrpolitik. Von Versailles bis zum Dawesplan, Zürich/Frankfurt am Main 1971. 8 Zur Leistung Stresemanns 1923 John P. Birkelund, Gustav Stresemann. Patriot und Staatsmann, Hamburg/Wien 2003, S. 281 ff.; Jonathan Wright, Gustav Stresemann 1878–1929. Weimars größter Staatsmann, München 2006, S. 216 ff. 9 Walter Mühlhausen, Reichspräsident und Sozialdemokratie: Friedrich Ebert und seine Partei 1919–1925, in: Eberhard Kolb (Hrsg.), Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, München 1997, S. 259–310, hier: S. 296 f. und Ludwig Richter: Das präsidiale Notverordnungsrecht in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Friedrich Ebert und die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung, S. 207–257; Walter Mühlhausen, Friedrich Ebert 1871–1925.

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zeigt im Übrigen die Tatsache, dass die gesamte Amtszeit jener ersten „Großen Koalition“ vom 13. August bis 3. November 1923 – Stresemann selbst amtierte bis zum 30. November – in zwei Hälften zerfiel: Da SPD und DVP über die Verlängerung des Acht-Stunden-Tages uneins waren, kam es Anfang Oktober zu einer ersten Regierungskrise mit neuer Regierungsbildung am 6. des Monats. Die zweite Große Koalition auf nationaler Ebene in der Zwischenkriegszeit amtierte von 1928 bis 1930. Sie zeichnete sich zum einen dadurch aus, dass sie schlichtweg durch Wahlarithmetik begründet war: Bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 verlor das bürgerliche Kabinett Marx, das knapp eineinhalb Jahre unter Einschluss der DNVP amtiert hatte, die Mehrheit. Die Wähler hatten insgesamt eine Linksverschiebung zugunsten der SPD wie der KPD vorgenommen. Ein Stück koalitionspolitischer Normalisierung trat auch dadurch ein, dass der Vorsitzende der mit Abstand stärksten Partei, der SPD, Hermann Müller, als Reichsaußenminister 1919 Unterzeichner des Versailler Vertrages, nunmehr zum Regierungschef avancierte. Aber einstweilen war es noch lange nicht soweit: Zwar wurde die Regierungsbeteiligung der SPD zumindest in Teilen der Umgebung des Reichspräsidenten von Hindenburg und der Reichswehr als akzeptabel angesehen – insbesondere vor dem Hintergrund, dass zumindest in manchen Bereichen der Armee nach dem Ausscheiden des Chefs der Heeresleitung, General von Seeckt, eine stärkere Verankerung der bewaffneten Macht in Politik und Gesellschaft vertreten wurde. Das bedeutete keineswegs eine schlichte oder gar vorbehaltlose Demokratiebejahung. Aber zum einen trat in jenen Jahren die Bindung an die Monarchie als Prinzip und an die Dynastie Hohenzollern unmittelbar in der Reichswehr zunehmend zurück. Zum anderen standen nun mehr und mehr Offiziere in Planungs- und Konzipierungsfunktionen, die aus dem Ersten Weltkrieg gelernt hatten, ein moderner Industriestaat könne einen umfassenden Konflikt nur bestehen, wenn durch einen Kurs innenpolitischer Integration sichergestellt war, dass die großen gesellschaftlichen Segmente nicht in Distanz oder gar Opposition gegenüber der militärischen wie der politischen Führung verharrten. Widerstand gegen eine „Große Koalition“ gab es freilich in der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei. Funktionärskörper und Abgeordnete der DVP wollten sich auf ein solches Bündnis nur einlassen, wenn die Partei auch parallel in Preußen in die Regierung einbezogen würde. Im größten deutschen Land bestand aber die auf nationaler Ebene 1920 an ihr Ende gelangte „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und DDP fort. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Otto Braun, eine der personellen Konstanten der Weimarer Republik, zeigte wenig Neigung, aus rein taktischen Gründen die der Großindustrie ver-

Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006, S. 615 ff.; Winkler (Anm. 6), S. 605 ff.

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bundene DVP in seine Regierung aufzunehmen.10 In dieser kritischen Situation riss der DVP-Vorsitzende Gustav Stresemann die Initiative an sich: Stresemann, im Ersten Weltkrieg als Imperialist in Erscheinung getreten, in den Anfängen der Republik nach der Revolution zunächst bestenfalls Vernunftrepublikaner, war längst über die Rolle eines Parteivorsitzenden hinausgewachsen. Seine Person stand mittlerweile im Schnittpunkt von drei unterschiedlichen Funktionskreisen: dem des rechtsliberalen Parteivorsitzenden, der bei der Reichspräsidentenwahl 1925 im Ergebnis für Generalfeldmarschall Hindenburg und nicht für den republikanischen Kandidaten Wilhelm Marx gestanden hatte, zugleich dem des parteiübergreifenden Zusammenhalts in der Mitte des politischen Spektrums und schließlich dem einer kooperativen, nicht konfrontativen Außenpolitik. Mit dieser Strategie war die Zielvorstellung einer Wiederbefestigung der deutschen Großmachtposition verbunden.11 Stresemann, damals bereits gesundheitlich stark angeschlagen, kurte im renommierten Hotel „Bühlerhöhe“ auf dem Kamm des Schwarzwaldes, von dem der Blick über den Rheingraben bis auf die Vogesen reicht. Von hier aus übte er auf die eigene Parteiführung starken Druck aus, drohte mit einem völlig eigenständigen Vorgehen und „feuerte“ in Gestalt des „Schusses von der Bühlerhöhe“ ein spektakuläres Telegramm nach Berlin ab. Die entscheidenden Sätze lauteten: „Ich halte die so genannte Große Koalition für die beste praktische Möglichkeit, um einigermaßen stabile Regierungsverhältnisse in Deutschland zu schaffen [. . .]. Ich glaube nach wie vor, dass ein Zusammenwirken von Sozialdemokraten bis Volkspartei notwendig und möglich ist.“12 Schwachpunkt dieser zweiten Großen Koalition der Weimarer Republik um die beiden Führungsfiguren Hermann Müller und Gustav Stresemann (bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929) war freilich, dass die Minister nicht in unmittelbarer Anbindung an ihre Partei bzw. Fraktion amtierten. So nur konnte jenes Paradox möglich werden, dass die der SPD angehörenden Reichsminister zwar im Kabinett für die Bewilligung der Haushaltsmittel zur Finanzierung des schon im Wahlkampf 1928 hoch emotionalisierten Themas Bau des Panzerkreuzers A votierten, als Abgeordnete im Plenum des Reichstages aber dagegen stimmten. Der weitere Weg der Großen Koalition war durch die Auseinandersetzungen um das letzte Reparationsabkommen der Zwischenkriegszeit, den „Young-Plan“, und, im Zeichen der anhebenden Weltwirtschaftskrise, um die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung geprägt. Die Konflikte um eine Erhöhung der Beiträge 10 Vgl. Ludwig Richter, Die Deutsche Volkspartei 1918–1933, Düsseldorf 2002, S. 517 ff. Für die Ablehnung des Ansinnens der DVP, in die preußische Regierung zu gelangen, Vgl. Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt am Main u. a. 1977, S. 539 ff. 11 Vgl. den Sammelband Wolfgang Michalka/Marshall M. Lee (Hrsg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982. Ferner Wright (Anm. 8), S. 419 ff. 12 Zit. nach Richter (Anm. 10), S. 492.

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brachten schließlich im Frühjahr 1930 das Ende dieses Regierungsbündnisses. Von ihm hatten sich die SPD auf der einen Seite, die Reichswehr und die Umgebung des Reichspräsidenten auf der anderen freilich bereits seit längerem – wieder – innerlich verabschiedet. Sozialdemokratische Prinzipienpolitik stand nun wieder forciert gegen den Willen der Kräfte um das Staatsoberhaupt, Sozialstaat und Demokratisierung zurückzufahren. 3. Regierungsbündnisse im Deutschland der Nachkriegszeit Analog zum Fall Österreich waren nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten innerdeutschen Landesregierungen, zunächst noch von den Alliierten ohne Legitimation durch Parlamente oder durch Verfassunggebende Versammlungen dekretiert, Allparteienregierungen. In der sowjetischen Besatzungszone blieb es unter dem Diktat der Besatzungsmacht und der Hegemonie der zur Staatspartei mutierenden SED bei dieser Struktur. Das galt für die Länder in diesem Bereich bis zu deren faktischer Aufhebung 1952 wie für die diversen „Volkskongresse“ ab 1947 und die DDR selbst seit ihrer Konstituierung 1949. Schon ihre Verfassung sah, nach demokratisch-pluralen Gesichtspunkten ein Unding, die Bildung von Regierungen jeweils unter einem Ministerpräsidenten aus der stärksten Fraktion vor. Regierungsbildungen gegen die stärkste Fraktion durch Bündnisse der weiteren Kräfte, wie etwa in der sozialliberalen Koalition 1969 bis 1972 und 1976 bis 1982 gegen die CDU/CSU im Falle Bayerns in der so genannten Viererkoalition 1954 bis 1957 gegen die CSU, waren schon formal gar nicht mehr zulässig. Im Resultat ist die Frage nach Großen oder Kleinen Koalitionen wie absoluten Mehrheiten im Blick auf die DDR ohnehin nicht ernsthaft zu diskutieren. Schließlich handelte es sich um eine monolithisch strukturierte, außengesteuerte Diktatur, bei der an der Spitze der Staatspartei die reale Macht konzentriert war und dem Parlament, ohne Legitimation durch wirkliche Wahlen, wie der Regierung lediglich Ausführungs- bzw. Beurkundungsfunktionen13 zukamen. Ähnlich wie in Österreich schieden die Kommunisten aus den westdeutschen Länderregierungen mit Beginn des Kalten Krieges aus. Gegen Ende der 40er bzw. zu Beginn der 50er Jahre erfolgte in der Regel der Übergang zu parlamentarischen Strukturen mit knapperen Regierungsmehrheiten und starken Oppositionen. In Bayern14 verließ die SPD 1947 die Regierung mit der CSU. Letztere hatte zwar in dem am 1. Dezember 1946 gewählten ersten Nachkriegslandtag 13 Zur Realstruktur der DDR Klaus Schroeder unter Mitarbeit von Steffen Alisch, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1945–1990, München 1998. 14 Zum „Fall“ Bayern Karl-Ulrich Gelberg, Kap. VII. Vom Kriegsende bis zum Ausgang der Ära Goppel (1945–1978), in: Max Spindler (Hrsg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. IV. Das neue Bayern von 1800 bis zur Gegenwart, München2 2003, S. 666 ff.

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eine parlamentarische Mehrheit errungen, sie aber wegen innerparteilicher Streitigkeiten nicht ausspielen können. Darüber hinaus hatte das damals noch herrschende Grundverständnis einer Bündelung der politischen Kräfte, trotz der eindeutigen Mehrheitsposition einer Partei, die Fortsetzung der Großen Koalition nahegelegt. Die beiden kommunistischen Vertreter in der Staatsregierung waren in München bereits im Sommer 1946 aus dem Kabinett ausgeschieden. Ordnungspolitischer Hintergrund war wohl, dass es im Land nicht – im Gegensatz zur sowjetischen Besatzungszone mit den dortigen Zwangsmaßnahmen – zu einer Bodenreform mit Enteignung größeren Grundbesitzes kam. Hier manifestierten sich somit schon sehr früh die Konfrontationslinien des Kalten Krieges. 1947 glaubte die SPD in Bayern, eine scharfe Parteitagsrede von Ministerpräsident Ehard zum Anlass für den Wechsel in die Opposition nehmen zu sollen, von der sie sich mehr Bewegungsfreiheit versprach. Große Teile der Partei sahen in diesem Schritt freilich bald einen Irrtum. Die zweite Phase einer Großen Koalition in Nachkriegsbayern, 1950 bis 1954, resultierte dann aus anderen, gewissermaßen rein arithmetischen Bedingungen. Die Landtagswahl 1950 hatte der CSU im Zeichen des Auftretens neuer Wettbewerber, der Bayernpartei für das dezidiert föderal-separatistische Lager im Freistaat wie des BHE für das politisch-kulturell entgegengesetzte Lager der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, eine herbe Niederlage beschert. Bis 1954 musste die CSU nun mit der SPD und dem BHE als drittem Partner regieren. Im Bund hatte Konrad Adenauer bei dem berühmten Treffen in seinem Rhöndorfer Haus vom 21. August 1949 die Weichen für die Kleine und gegen die Große Koalition gestellt.15 Das war damals nicht selbstverständlich – der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold galt als Verfechter wie potentieller Kanzlerkandidat einer Großen Koalition im Bund. Nun kam es aber anders: Der 1949 vom ersten Bundeskanzler vorgedachte und determinierte Antagonismus von bürgerlicher kleiner Koalition und starker linker Opposition prägte die Entwicklungslinien der Republik für gut eineinhalb Jahrzehnte. Er gewährleistete nicht nur die Integration von zumeist dezidiert konservativen Kleinparteien in das Spektrum der demokratischen bürgerlichen Mitte, die Durchsetzung des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft und – gegen die „nationale“ Opposi-

15 Zur Rhöndorfer Konferenz wie Adenauers mit dem Bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard einen Tag zuvor am 20. August 1949 Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg 1876–1952, Stuttgart 1986, S. 622 ff. Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt am Main/Berlin 1994, S. 520 ff. Adenauer hatte die Konferenz offenkundig mit Bedacht so strukturiert, dass der Hauptbefürworter einer Großen Koalition, der Düsseldorfer Regierungschef Karl Arnold, zwar fehlte, dieses Lager aber etwa durch die Ministerpräsidenten Gebhard Müller und Peter Altmeier durchaus vertreten war. In der Minderheitenposition konnte es sich zwar artikulieren, aber nicht durchsetzen.

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tion der SPD – die Entscheidung für Integration und Wiederbewaffnung im Rahmen der westlichen Allianz. Dieser Antagonismus prägte, auch wenn er zu Beginn vielfach nicht nachvollzogen, sondern aus spezifisch deutschen Traditionen eines Parteien überwölbenden Staatsganzen abgelehnt wurde, die politische Bildung des Elektorats hin zur Annahme der Auseinandersetzung von Regierung und Opposition als Konstituens parlamentarischer Demokratie. Dass in Westdeutschland zu Beginn der fünfziger Jahre die Zeit der großen Regierungsbündnisse bereits vorbei war, zeigte auch das Beispiel des Landes Baden-Württemberg: Seine Bildung aus mehreren südwestdeutschen Teilstaaten in der französischen wie in der amerikanischen Besatzungszone erfolgte erst 1952. Bei der Regierungsbildung kam es zum Bündnis der zweitstärksten (SPD) und der drittstärksten (FDP/DVP) Partei unter Ministerpräsident Reinhold Maier (FDP/ DVP), ergänzt um GB/BHE. Die stärkste Partei, die CDU, war einstweilen, wenn auch nur für rund ein Jahr, in die Opposition verbannt. 4. Der Beginn der Großen Koalition von 1966 Die Herbeiführung der von 1966 bis 1969 amtierenden ersten Großen Koalition in der deutschen Nachkriegsgeschichte auf Gesamtstaatsebene kann aus einzelnen Abläufen und mit ihnen den Vorstellungen und Vorgehensweisen einzelner Akteure erklärt, also im Wesentlichen ereignisgeschichtlich beschrieben werden; zugleich erscheint es aber auch möglich, von einem Zusammenhang auszugehen, der gewissermaßen in die Logik eines größeren Prozesses eingepasst war. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren in Deutschland auf Länderebene Allparteien- bzw. Große Koalitionen die Regel. Die Entscheidung für eine bürgerliche Koalition in der ersten Legislaturperiode des Bundestages zeitigte einen zwar im ersten Ansehen überraschenden, gleichwohl plausiblen Paradigmenwechsel in der Frage der Regierungsstruktur. Die nun verfolgte Politik einer bürgerlichen Modernisierung und Anpassung Westdeutschlands an neue internationale Bedingungen – Wiederbewaffnung und Westintegration, soziale Marktwirtschaft – wäre mit einer Großen Koalition kaum realisierbar gewesen, eine Große Koalition wäre vielmehr, diese Spekulation sei erlaubt, über verschiedene Formelkompromisse kaum hinausgelangt. Zwischen dem „Karolinger“ Konrad Adenauer und dem national orientierten SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher konnte, von unterschiedlichen Temperamenten und mit Sicherheit ausbrechenden Rivalitätskämpfen abgesehen, eine konzeptionell mittlere Linie kaum entwickeln. So musste die „Ära Adenauer“ als eine Zeit bürgerlicher Reformen erst ihren Zenit überschreiten, an Faszinationskraft einbüßen und verebben, damit das Vorhaben einer Großen Koalition überhaupt wieder wettbewerbsfähig werden konnte. Wie in einem Verhältnis kommunizierender Röhren kamen zwei Faktoren zusammen: das nachlassende Leistungsprofil des ersten Bundeskanzlers und

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seiner Regierungen wie eine sich bürgerlich zeigende, nicht mehr auf Konfrontation und Ideologie, sondern auf Reform setzende SPD. Die erste große innenpolitische Zäsur für die Union war ihre Präsidentschaftskrise 1959 um Konrad Adenauer. Er hatte zunächst seine Kandidatur für das protokollarisch höchste Staatsamt angemeldet und sie sodann angesichts einer drohenden Nachfolge des ungeliebten Ludwig Erhard im Palais Schaumburg wieder zurückgenommen. Dazu wurde ihm erst im Nachhinein bewusst, dass das Staatsoberhaupt in der Bundesrepublik von der operativen Politik sehr weitgehend ausgeschlossen ist. Ein nur repräsentierender Bundespräsident Adenauer war dem Alten aus Rhöndorf nicht zumutbar. Der mit der Preisgabe der Kandidatur verbundene Autoritätsverlust wurde nie mehr wettgemacht.16 Die zweite Zäsur war der Bau der Mauer in Berlin am 13. August 1961. Er schien nicht nur der Deutschlandpolitik des Kanzlers Grundlage wie operative Perspektiven zu entziehen. Er gab, nach einer Art Schrecksekunde, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, die Gelegenheit, sich als Mann mit Zukunft, als Gegenspieler Konrad Adenauers und als nationale Figur schlechthin zu etablieren. Und obwohl der Bau der Mauer den Kalten Krieg vermeintlich auf einen neuen Höhepunkt führte, machte sich doch zugleich in Deutschland wie in Europa Überdruss an einer anhaltenden Konfrontation breit, und es begann sich jene Disposition zu entwickeln, die schließlich zur Entspannungspolitik führen sollte. Noch bei der Bundestagswahl 1957 schien die SPD auf den ersten Blick eine der schlimmsten Stunden ihrer Geschichte erlebt zu haben. Doch tatsächlich verhielt es sich nur dem Eindruck nach so: Gewiss hatte die Union die absolute Mehrheit an Mandaten wie an Stimmen erreicht. Wer genauer hinsah, konnte bemerken, dass die sie tragenden Milieus, insbesondere das katholische in West- und Süddeutschland, erste Erosionstendenzen zeigten.17 Im Folgejahr 1958 gelang es der SPD auf ihrem Stuttgarter Parteitag, sich aus den Fängen ihres alten Funktionärsapparates, der noch ganz auf Klassenkampfdoktrinen eingeschworen war, zu lösen. Der Parteitag von Bad Godesberg 1959 stand für die programmatische Erneuerung der Partei, die berühmte Rede Herbert Wehners im Folgejahr im Deutschen Bundestag für ihre Übernahme der außenpolitischen Koordinaten, die im Jahrzehnt zuvor bestimmt worden waren.18 16 Zur „Präsidentschaftskrise“ Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 502 ff.; Daniel Koerfer, Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987, S. 227 ff. 17 Zu den Erfahrungen des nordrhein-westfälischen CDU-Politikers und ab 1958 Ministerpräsidenten Franz Meyers vgl. Stefan Marx, Franz Meyers 1908–2002. Eine politische Biographie, Essen 2003, S. 152 ff. 18 Vgl. zur „Abhalfterung“ des alten SPD-Funktionärssegments die Biographie von Stefan Appelius, Heine. Die SPD und der lange Weg zur Macht, Essen 1999, S. 299 ff. und zur strategischen Rolle Herbert Wehners Christoph Meyer, Herbert Wehner. Biographie, München 2006, S. 213 ff.

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Nicht nur ging die SPD daran, Grenzen ihres herkömmlichen Milieus zu sprengen, förmlich demonstrativ schon mit der Bestimmung des kosmopolitisch und zukunftsorientiert anmutenden Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 1961. Auch kamen Milieus und Zeitgeist gewissermaßen auf sie zu: 1958 endete das Pontifikat von Papst Pius XII.; sein Nachfolger Johannes XXIII., sozial aufgeschlossen und offen für den Dialog auch mit linken Strömungen, erregte von vornherein das Misstrauen Konrad Adenauers. Umgekehrt setzte der stellvertretende SPD-Vorsitzende und strategische Kopf Herbert Wehner alles daran, mit den Kirchen ins Gespräch zu kommen. Auf Vermittlung der Unionspolitiker Heinrich von Brentano und Richard Jäger konnte Wehner 1958 und 1963 bei der Katholischen Akademie in München auftreten.19 Im Übrigen zeigten sich in dieser Phase Bezüge zur Großen Koalition auf Reichsebene von 1928 bis 1930: Hier spielte der CDU-Politiker Heinrich Krone eine prominente Rolle. Krone, von 1955 bis 1961 Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, mit dem Leiter des Kanzleramtes, Staatssekretär Globke, engster Berater des ersten Kanzlers, von 1961 bis 1966 Bundesminister für besondere Aufgaben, verkörperte wie wenige Akteure personelle Kontinuitäten zwischen der demokratischen Mitte in der Zwischenkriegszeit und der frühen Bundesrepublik. Für das Zentrum hatte er von 1925 bis 1933 dem Reichstag angehört und war über lange Zeit stellvertretender Generalsekretär der Partei gewesen. Krone war schon nach diesen historischen Erfahrungen für eine Kooperation mit der SPD zu haben. Gleiches galt für den zweiten Bundespräsidenten, Heinrich Lübke, seit 1959 amtierend. Auch Lübke20 war ursprünglich Zentrumspolitiker gewesen und, über seine Aktivitäten im agrarischen Genossenschaftswesen dem kleinbäuerlichen Element verbunden, ähnlich Krone frühzeitig zu einer Öffnung gegenüber der SPD bereit. Lübke hatte bereits nach dem Mauerbau 1961 für eine Allparteienregierung bzw. -koalition, gewissermaßen eine Art „Kriegskabinett“ im bedrohten Frieden, plädiert. Unionspolitiker, die sich schon habituellrhetorisch gegenüber der SPD abgrenzten, wie Bundesaußenminister Gerhard Schröder (1961–1966), fanden sein deutliches Missfallen. Dass Lübkes Wieder19 Die zumindest partielle Annäherung zwischen SPD und katholischer Kirche wurde auch dadurch begünstigt, dass es, unter dem Druck von sowjetischem BerlinUltimatum und Kaltem Krieg, Willy Brandt als Regierendem Bürgermeister in Berlin 1958 gelang, einen Faden zum an der Spree amtierenden Kardinal Döpfner zu knüpfen. Vgl. grundsätzlich zu dieser Thematik Thomas M. Gauly, Katholiken. Machtanspruch und Machtverlust, Bonn/Berlin 1952; Thomas Brehm, SPD und Katholizismus – 1957 bis 1966. Jahre der Annäherung, Frankfurt am Main u. a. 1989; Rudolf Morsey, Die Vorbereitung der Großen Koalition von 1966. Unionspolitiker im Zusammenspiel mit Herbert Wehner seit 1962, in: Ulrich von Hehl/Hans-Günter Hockerts/Horst Möller/Martin Schumacher (Hrsg.), Von Windthorst bis Adenauer, Paderborn u. a. 1997, S. 553–570. 20 Vgl. Rudolf Morsey, Heinrich Lübke. Eine politische Biographie, Paderborn 1996.

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wahl zum Bundespräsidenten 1964 ohne Gegenkandidaten von Seiten der SPD vonstatten ging – lediglich die FDP nominierte gegen ihn Bundesjustizminister Lothar Bucher –, ließ bereits erkennen, wie sehr Herbert Wehners strategischer Impetus ganz auf Lübke als Promotor einer künftigen Großen Koalition zielte. Besonders spektakulär war das Umdenken von Bundeskanzler Adenauer in dieser Frage. Nachdem die „Spiegel-Krise“ 1962 fürs Erste zum Zerbrechen der Koalition von Union und FDP geführt hatte, nahm er selbst, insbesondere um die Liberalen zu disziplinieren, Koalitionsverhandlungen mit der SPD auf. Wichtiger noch als ihr schließliches Scheitern – das primäre taktische Ziel, die FDP so zum Einlenken zu zwingen, wurde erreicht – scheint der damit langfristig erzielte Tabubruch.21 Freilich schien die Bundestagswahl 1965 dieser Entwicklung ein jähes Ende zu setzen: Ludwig Erhard, die Wahlkampflokomotive der 50er Jahre und der ordoliberale Vorzeigekanzler wie ungeliebte Nachfolger Adenauers, wurde mit 47,6 Prozent für die CDU/CSU glänzend bestätigt; Willy Brandt, wiederum Kanzlerkandidat der SPD, stand als Wahlverlierer da und erlebte eine der für seine Biographie so typischen melancholischen Schwächephasen.22 Es ist historisch bemerkenswert, dass sich der nun anscheinend gebrochene Trend zur Großen Koalition ein Jahr später dann doch durchsetzte. Die Gründe waren struktureller wie personeller Natur: Dass die hohen Wachstumsraten in Westdeutschland mit einem Mal der Vergangenheit angehörten und insbesondere die Montanindustrie an Rhein, Ruhr und Saar in eine Krise geriet, verstörte die an ein immerwährendes „Wirtschaftswunder“ glaubende Bevölkerung sowie die politische und publizistische Klasse mehr, als es die reine nationalökonomische Datenlage eigentlich erfordert hätte. Hinzu kamen der politische Umbruch in Nordrhein-Westfalen, dem Herzland der frühen Bundesrepublik, und eine neue Verdichtung von Kontakten und Kommunikation zwischen Union und SPD. Diese Entwicklung wurde flankiert durch die Erosion der Kanzlerschaft Ludwig Erhards, die vor allem führende Politiker seiner Formation vorantrieben. Mit diesem Viereck an Ereignissen und Wandlungsprozessen lässt sich die Herbeiführung einer Großen Koalition einigermaßen vollständig erklären. Von 1966 retrospektiv gesehen war dieses Projekt gewissermaßen ein Jahrfünft „in der Luft“ gelegen.

21 Vgl. Klaus Gotto, Der Versuch einer Großen Koalition, in: Dieter Blumenwitz/ Klaus Gotto/Hans Maier/Konrad Repken/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Bd. II: Beiträge der Wissenschaft, Stuttgart 1976, S. 316–338; Hans-Peter Schwarz, Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957–1963, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1983, S. 273 ff. 22 Vgl. Peter Merseburger, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart, München 2002, S. 480 ff.

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„Historisch“ plausibel wäre eine Große Koalition vielen publizistischen Stichwortgebern in der Wiedervereinigungsphase 1989/90 erschienen. Sie war damals auch aus den Reihen der größten Oppositionspartei SPD angemahnt worden, in einer Art Analogie zu Kriegskabinetten, um einer singulären nationalen Herausforderung durch einen möglichst breiten innenpolitischen Integrationskurs begegnen zu können. Helmut Kohl agierte 1989/90 freilich ähnlich wie Konrad Adenauer im Spätsommer 1949: Er wollte die historisch einmalige Wiedervereinigungsphase, lediglich auf sein „bürgerliches“ Koalitionskabinett mit der FDP gestützt, bewältigen und die SPD nur dann an den Entscheidungen beteiligen, wenn dies, etwa bei notwendig werdenden Verfassungsmehrheiten in Bundestag und Bundesrat, nicht anders ging. Das galt insbesondere für die Abstimmungen über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion wie über den innerdeutschen Einigungsvertrag. Weiter konnte Kohl darauf vertrauen, dass die SPD selbst in der Wiedervereinigungsfrage habituell gespalten war zwischen einem „nationalen“ Lager vor allem um ihre älteren Exponenten Willy Brandt, Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel oder Klaus von Dohnanyi und den jüngeren, postnationalen Exponenten. Letztere hatten zudem bei der Kommunikation mit der SED-Führung vielfach die staatliche innerdeutsche Kooperation aus der Zeit der Anfänge der neuen Ostpolitik durch eine immer intimer anmutende Parteienkooperation ergänzt. Zu diesem Segment zählten u. a. der Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 1990 Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Jürgen Schmude oder Heidemarie Wieczorek-Zeul.23 1966 wurde weder gewählt, noch gab es eine historische Ausnahmesituation. Die Bundestagswahl lag bei Ausbruch der Krise der Regierung Erhard erst rund ein Jahr zurück, und diese Wahl hatte für vermeintlich sehr fest gefügte Verhältnisse gesorgt. Freilich wurden nunmehr auch für die Öffentlichkeit, die Insider hatten das schon länger gewusst, die administrativen Unzulänglichkeiten Ludwig Erhards offenkundig. Hinzu kommt der große Misserfolg seiner Washingtonreise vom September 1966: Sein vermeintlicher Freund, US-Präsident Lyndon B. Johnson, setzt den Kanzler massiv unter Druck, verlangt von Deutschland ein deutliches Engagement in Vietnam und Rüstungskäufe in den USA, um deren sich aus dem Krieg in Indochina ergebende Devisenschwäche zu kompensieren, und dies in einer Dimension, die den Bundeshaushalt sprengen müsste.24 Hinter den Kulissen haben längst Verhandlungen zwischen einzel23 Zur Trennung der SPD 1989 in nationale und postnationale Strömungen vgl. jetzt Daniel-Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006. Zu den hier maßgebenden politischen Abläufen insgesamt Wolfgang Jäger, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozess der Vereinigung 1989/90. Geschichte der deutschen Einheit, Bd. 3, Stuttgart 1998; Helmut Kohl: „Ich wollte Deutschlands Einheit“. Dargestellt von Kai Dieckmann und Ralf-Georg Reuth, Berlin 1996. 24 Grundsätzlich zu dieser Phase Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1984;

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nen Unionspolitikern und namentlich Herbert Wehner über die Begründung einer Großen Koalition begonnen. In der ersten Linie stehen für die CDU Paul Lücke, für die CSU Freiherr von und zu Guttenberg, habituell förmlicher Antipode zu Herbert Wehner. Aber genau dieser Gegensatz zieht beide an bzw. verführt Guttenberg, einen sensiblen Aristokraten mit Traditionen, die ins Alteuropäische reichen, dazu, so etwas wie den historischen Kompromiss mit dem ehemals führenden KPD-Politiker aus proletarischem und anarchistischem Milieu anzustreben. Aus Guttenbergs Sicht entsteht zwischen beiden fast so etwas wie ein Freundschaftsband nach Art des deutschen Idealismus. Die ungelösten Haushaltsfragen veranlassen die FDP-Minister im Bundeskabinett am 27. Oktober 1966 zum Rücktritt. Zwei Wochen später kommt es in Düsseldorf wie Bonn zu parlamentarischen Schlüsselszenen: Am 8. November 1966 stürzt die bis 2005 letzte CDU-Regierung in Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Meyers. Sie hatte seit Juli des Jahres im Bündnis mit der FDP über nur noch 101 von 200 Mandaten verfügt. Ein konstruktives Misstrauensvotum besiegelt ihr Ende. Im Schlüsselland der Republik wird unter dem Sozialdemokraten Heinz Kühn eine Regierung aus SPD und FDP gebildet. Sie weist schon auf die Zeit nach der Großen Koalition auch im Bund hin. Gleichzeitig hat im Bundestag ein verkapptes Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler stattgefunden: SPD und FDP stimmen mit ihrer knappen Mehrheit für einen Antrag, Ludwig Erhard möge die Vertrauensfrage nach Art. 68 Grundgesetz stellen. Erhard muss das nicht tun, aber dass er sich nun in einer parlamentarischen Minderheitenposition befindet, ist ganz offenkundig geworden.25 Das „Pseudomisstrauensvotum“ vom 8. November 1966 hatte im Übrigen gezeigt, dass es im Bundestag rein arithmetisch auch eine Mehrheit für eine sozialliberale Koalition, wie jetzt in Düsseldorf bereits vorhanden, gegeben hätte. Inhaltlich war klar, dass die beiden Großen nach ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen besser zueinander passten als SPD und FDP – was die Bereitschaft anbelangte, ostpolitischen Ballast über Bord zu werfen, hätten Sozialund Freidemokraten gewiss eher harmoniert. Aber zum einen scheint, zumal im Blick auf die seit ihrem 1961 dann doch vollzogenen Eintritt in ein Kabinett Adenauer als Wackelkandidat geltende FDP, der Vorsprung von sechs MandaAlfred C. Mierzejewski, Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, München 2005, S. 308 ff.; Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München/Landsberg am Lech 1996, S. 588 ff. Vgl. auch das Resümee des von Adenauer übernommenen Leiters des außenpolitischen Büros im Bundeskanzleramt Horst Osterheld, Außenpolitik unter Bundeskanzler Ludwig Erhard 1963–1966. Ein dokumentarischer Bericht aus dem Kanzleramt, Düsseldorf 1992, S. 388 f.: „Die Hauptkritik entzündete sich allerdings an Erhards Führungsschwäche und seinem vertrackten Verhältnis zur Macht. [. . .] Er war in der Partei nicht verwurzelt [. . .]. Erhard fand Macht „öde, gefährlich und im Letzten dumm“. Sie auszuüben, wollte er anscheinend nicht einmal lernen!“ 25 Philipp Gassert, Kurt-Georg Kiesinger 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten, München 2006, S. 294.

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ten gegenüber der Unionsfraktion zu gering, zum anderen ist es Herbert Wehner nicht um ein kurzfristiges Abenteuer zu tun, sondern um so etwas wie einen „historischen Kompromiss“, der eine langfristige Verschiebung der Gewichte in der Republik begründen soll. Willy Brandt freilich hätte gerne bereits 1965 ein Bündnis mit der FDP riskiert. Am 10. November 1966 entscheidet die Unionsfraktion über ihren Kandidaten für die Nachfolge Ludwig Erhards: Im Wettbewerb gegeneinander stehen der Kommissionspräsident der Europäischen Gemeinschaften, Walter Hallstein, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, Bundesaußenminister Gerhard Schröder, der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel sowie schließlich auch der Stuttgarter Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger.26 Kiesinger, in den Bonner Anfängen vor allem parlamentarisches Sprachrohr Konrad Adenauers in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, ist 1958 als Ministerpräsident nach Baden-Württemberg gewechselt und hat sich dort den Ruf eines reformorientierten, aktiven Landesvaters erworben. Beispielhaft wirkt die Gründung der „Reformuniversität“ Konstanz. Schon seit rund zwei Jahren ist seine Rückkehr nach Bonn im Gespräch. Gewiss ist Kiesinger durch seine Mitgliedschaft in der NSDAP während des so genannten Dritten Reiches und seinen Aufstieg während des Krieges, wenn auch im Status eines Angestellten, zum stellvertretenden Abteilungsleiter im Reichsaußenministerium für die Rundfunktätigkeit im Ausland belastet. Aber rechtzeitig vor seiner Kür taucht ein Dossier vom Herbst 1944 aus dem Reichssicherheitshauptamt auf. In ihm wird Kiesinger die rechte nationalsozialistische Gesinnung abgesprochen; er zeige keine wirklich zuverlässig antisemitische Haltung. Für die Kolportierung dieses Dossiers zum passenden Zeitpunkt sorgt Conrad Ahlers, als Verfasser des Artikels „Bedingt abwehrbereit“ Schlüsselperson der „Spiegel-Krise“ von 1962 und von Kiesinger damals, gegen den Trend in der eigenen Partei, unterstützt. Gewiss weiß die heutige historische Forschung, dass es sich bei dem Dossier von 1944 um ein übereifriges Denunziantenpapier handelte, dessen Bedeutung man durchaus relativieren mag. Gleichwohl: Im Spätherbst 1966 tut es seine, 22 Jahre zuvor unmöglich zu erahnende Wirkung, und zwischen Kiesinger und Ahlers ergibt sich eine Partnerschaft, die zu einer der tragenden Verbindungen der Großen Koalition werden wird.27 26 Zu den Abläufen Gassert (Anm. 25), S. 495 ff. Dirk Kroegel, Einen Anfang finden! Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition, München 1997, S. 19 ff. – Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier nahm seine Kandidatur bereits vor der Abstimmung am 8. November 1966 in der Unionsfraktion zurück, nachdem ihm die CSU signalisiert hatte, dass es für ihn keine bayerische Unterstützung geben werde. Vgl. Daniela Kniss, Der Politiker Eugen Gerstenmaier 1906– 1986, Düsseldorf 2005, S. 432. 27 Zur Dramaturgie bei der Relativierung von Kiesingers Aktivitäten während des so genannten Dritten Reiches und zur Bewertung des Dossiers vom Herbst 1944 Gassert (Anm. 25), S. 492 ff.

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Bei der Abstimmung in der Unionsfraktion ist Walter Hallstein chancenlos. Auffällig ist die Schwäche des Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel. Sie geht vor allem auf das Konto der bayerischen CSU. Deren Vorsitzender Franz Josef Strauß möchte sich die Option auf eine spätere Kanzlerschaft wahren und daher unter allen Umständen vermeiden, dass ein Gleichaltriger oder Jüngerer mit der Aussicht auf eine lange Regierungszeit zum Bundeskanzler aufsteigt. Die Schwäche Barzels – er erhält im dritten Wahlgang 26 Stimmen – weist zugleich schon auf seine Schwäche als künftiger Parteivorsitzender der CDU und Kanzlerkandidat 1972 gegen Willy Brandt hin. Kiesinger selbst obsiegt vor allem deshalb mit 137 Stimmen, weil er als Süddeutscher und an Jahren Älterer die Stimmen der CSU erhält. Ansonsten hätte der evangelische, habituell norddeutsche und konservativ-etatistische Gerhard Schröder durchaus Aussichten auf die Nominierung zum Kanzler gehabt.28 Dies freilich wäre zur Provokation für die SPD geworden. Ihr ist Kiesinger hingegen durchaus vermittelbar. Denn obwohl einer der großen Rhetoriker in den heftigen Auseinandersetzungen der 50er Jahre um Westintegration und Wiederbewaffnung, hat er sich doch stets um ein menschlich faires, kommunikativ erträgliches und möglichst inhaltliche Divergenzen überbrückendes Verhältnis zur SPD bemüht. Verklausuliert hat er mehrfach anklingen lassen, dass er – das wird eine der großen Streitfragen der kommenden Jahre sein – bereit sei, die Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze zu akzeptieren, und dass er im Übrigen auch nicht die NATO als Bezugspunkt jeglicher deutscher Außenpolitik betrachte. Am 29. November 1966 steht das erste Kabinett einer Großen Koalition der Nachkriegszeit, zwei Tage später wird Kiesinger zum Bundeskanzler gewählt und folgt seine erste Regierungserklärung. Diese Regierung hat eine umfassende thematische Agenda, und zugleich handelt es sich, über das neue Parteienbündnis hinaus, um so etwas wie eine Vereinigung der nationalen Sammlung. Dazu schreibt der Historiker Axel Schildt: „Das neue Kabinett symbolisierte zugleich einen Aspekt gesellschaftlicher Versöhnung nicht nur der großen politischen Widerlager, wie sie etwa Franz Josef Strauß (CSU) und Karl Schiller (SPD) als ,Plisch und Plum‘ der Wirtschafts- und Finanzpolitik inszenierten, sondern vor allem konträre Biographien. Gemeinsam saßen auf der Regierungsbank das ,Märzveilchen‘, der im März 1933 der NSDAP beigetretene Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, als Ex-PG aber auch der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Karl Schiller, der frühere kommunistische Spitzenfunktionär

28 Vgl. zu den Ambitionen und Chancen von Gerhard Schröder Torsten Oppelland, Gerhard Schröder (1910–1989). Politik zwischen Staat, Partei und Konfession, Düsseldorf 2002, S. 677 ff. und zur Aussichtslosigkeit der Bewerbung Rainer Barzels ders., Ein gewagtes Leben. Erinnerungen, Stuttgart/Leipzig 2001, S. 231. Barzel und Schröder stammten beide aus Nordrhein-Westfalen. Dieser Umstand trug zusätzlich dazu bei, dass am Ende keiner von beiden siegte.

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Herbert Wehner und Willy Brandt, der als sozialistischer Remigrant in norwegischer Uniform viele Schmähungen hatte über sich ergehen lassen müssen.“29 Hinzuweisen ist aber auch noch auf die spezifische Rolle Gustav Heinemanns, des neuen Justizministers. Heinemann hatte bis 1950 im Kabinett Adenauer als Bundesinnenminister fungiert, sich dann wegen des deutschen Angebotes einer Wiederbewaffnung ohne Konsultation der Regierung mit dem Bundeskanzler überworfen, war zurückgetreten, hatte schließlich dann 1952 die CDU verlassen, wurde zum spiritus rector der bürgerlich-neutralistischen Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), trat mit deren führenden Exponenten 1957 zur SPD über und gehörte neben Thomas Dehler 1958 zu den unnachsichtigsten Kritikern der Wiedervereinigungspolitik Adenauers im Bundestag. Schon in Gestus und Sprache wirkte der dem evangelisch-gesinnungsethischen Moment verbundene Heinemann, wie er es interpretierte, geradezu als Antipode zum barock süddeutschen Profil, das Franz Josef Strauß physisch und phonetisch vorführte. Nach der zeithistorischen Vorgeschichte der 50er Jahre stand er ganz im Gegensatz zur katholisch-westdeutschen Grundierung, wie sie für die frühe Bundesrepublik gerne behauptet wurde. Mehr als Brandt und noch mehr als Wehner war Heinemann eine „Kröte“, die die Union schlucken bzw. am Kabinettstisch dulden musste. Umgekehrt galt dies nicht nur für Franz Josef Strauß, dessen exekutive Auszeit nach der „Spiegel-Krise“ beendet war, sondern auch für Gerhard Schröder. Sein kühler, großbürgerlicher Stil und seine etatistische Grundhaltung vor allem in Fragen der Notstandsverfassung, die er in den 50er Jahren als Bundesinnenminister bereits, wenn wiewohl vergeblich, durchzusetzen versucht hatte, wirkten auf die SPD geradezu provozierend. Am Beginn der Großen Koalition von 1966 stand nicht wie am Beginn der Großen Koalition von 2005 ein Koalitionsvertrag. Entscheidend war die Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966. Sie war ein Gemeinschaftswerk der führenden Exponenten beider Partner, enthielt somit tatsächlich die materiellen Zielsetzungen des neuen Bündnisses. Das „Vorspiel auf dem Theater“ in diesem Dokument war allerdings eine Art rhetorischer Canossagang der Union im Blick auf die zurückliegenden Jahre: Der Bildung dieser Regierung sei eine „lange, schwebende Krise“30 vorausgegangen. Ein vergleichbares Verdikt gegen RotGrün hat es in der Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel 29 Axel Schildt, Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik, in: Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, ders./Detlev Siegfried/Karl-Christian Lammers (Hrsg.), Hamburg 2000, S. 21–53, hier S. 47. 30 Vgl. Gassert (Anm. 25), S. 515: „Sie [die Regierungserklärung] wurde von vielen Unionsabgeordneten als schmerzlicher und nicht wirklich wünschenswerter Offenbarungseid gelesen.“ Vgl. auch die Debatte im CDU-Bundesvorstand vom 29.11.1966, bei der eine solche Stimmung allerdings noch kaum greifbar war. Günter Buchstab (Hrsg.), Kiesinger: „Wir leben in einer veränderten Welt“. Die Protokolle des CDUBundesvorstands 1965–1969, Düsseldorf 2005, S. 375 ff.

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2005 nicht gegeben. Umso bemerkenswerter mutet dieses Eingeständnis an. Seine Formulierung drückte in der gegebenen Lage wohl die Positionen von drei Akteursgruppen aus: zum ersten das verständliche Anliegen der SPD, sich als neuer, modernisierender „Beweger“ und geradezu Retter aus einer verfahrenen Situation zu profilieren,31 zum zweiten die Ausgangslage des neuen Kanzlers, der sich zuvor über eine Reihe von Jahren vom Bonner Betrieb ferngehalten hatte und nun seinerseits als „deus ex machina“ darstellen konnte, zum dritten die Auffassungen jener in der Union, die dem ordoliberalen Kurs Ludwig Erhards skeptisch gegenübergestanden hatten und nun auf die neue Linie von Gesamtplanung in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen einschwenkten, eine Strategie, die damals ganz Westeuropa und die USA erfasste – von der planification in Frankreich bis zur Sozialpolitik Präsident Johnsons in den USA. Obwohl „objektiv“ das Unionslager beim Eingehen der Großen Koalition wohl das größere Opfer bringen musste, denn es hatte sich vom Regierungsmodell einer ganzen zeitgeschichtlichen Epoche zu verabschieden, in der es die nationalen Agenden hatte prägen können, tat sich das sozialdemokratische Milieu offenkundig mit dem neuen Bündnis schwerer. Wahrscheinlich hat diese Diskrepanz auch mit einem gewissen Auszehrungs- und Erschöpfungsprozess zu tun, der die Union seit Ende der 50er Jahre, zunächst kaum wahrnehmbar, ergriffen hatte, während im SPD-Umfeld nun eben nicht jener Triumph empfunden wurde, dem man nach so langem Verharren in der Opposition entgegengedürstet hatte, der Triumph einer dominanten Regierungsübernahme. Das Kalkül, die exekutive Hegemonie nicht schlagartig, sondern über einen langen Prozess mittels vor allem für das deutsche Publikum homöopathischer Dosen zu gewinnen, mochte zwar Herbert Wehner und einige andere Strategen in der SPD bestimmen, kaum aber konnte es den sozialdemokratischen emotionalen Grundbedürfnissen entsprechen. Immerhin machte auf SPD-Bezirksebene die Tatsache Eindruck, dass Willy Brandt und der bereits erkrankte Fraktionsvorsitzende Fritz Erler, die schon 1966 eine sozialliberale Koalition befürwortet hatten, nun einvernehmlich mit Herbert Wehner und Helmut Schmidt die neue Konstellation verteidigten. Nach langen Sitzungen in der Bundestagsfraktion am 26. wie 27. November und vom 30. November bis zum 1. Dezember 1966 wurde hier zumindest eine Zwei-Drittel-Mehrheit für das neue Bündnis erreicht. Gleichwohl verstärkte sich, wie bei Koalitionsbildungen dieser Struktur wohl üblich, 31 Vgl. Klaus Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966–1969, Bonn 2004, S. 66. Hier wird wohl zutreffend geschildert, dass die inhaltlichen Vorgaben in den Koalitionsgesprächen überwiegend von der SPD kamen, S. 66: „Als Ausgangsbasis der Verhandlungen diente der Acht-Punkte-Katalog der SPD, den diese in einer erweiterten und präzisierten Fassung der CDU/CSU am 10. November in der ersten Gesprächsrunde vorlegte. Bereits zu diesem Zeitpunkt betonte Kiesinger, er habe in diesem Katalog ,keine unüberwindlichen Probleme‘ entdeckt.“

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im eigenen Parteimilieu der Eindruck, die Führungsgruppe handele abgehoben, intransparent und, gemessen an der eigenen Programmatik, dem Koalitionspartner gegenüber unnötig entgegenkommend. Wie für die Große Koalition Merkel/Müntefering heute wurde in beiden Lagern immer wieder auch schon damals, wiewohl mit anderer Begrifflichkeit, die Vermutung geäußert, die eigene Mannschaft erledige unpopuläre Arbeiten im Maschinenraum, die Mannschaft des Gegenspielers lasse sich auf Deck besonnen. Einen fast kongenialen Reflex findet dieser Mechanismus im Stimmungsbericht des SPD-Ortsverbandes im badischen Langenbrand von Ende Mai 1967: „Wir haben den Eindruck, dass die SPD-Minister die Arbeit tun und Bundeskanzler Kiesinger repräsentiert. Wir wehren uns mit Entschiedenheit dagegen, nach dem Adenauer- und Erhard-Mythos nun auch noch einen KiesingerMythos schlucken zu müssen. Die Parteiführung tut zu wenig, das zu verhindern.“32 Im weiteren Verlauf des Jahres forderten immer mehr Bezirksverbände der SPD die Einberufung eines außerordentlichen Parteitages. Kompromiss war dann, dass sich die Parteiführung der SPD im Herbst 1967 40 Regionalkonferenzen stellen musste. Sie waren bis ins Detail geplant, wurden von Mitgliedern des Erich-Ollenhauer-Hauses genau verfolgt und waren taktisch so durchgestylt, dass der jeweils anwesende Exponent aus der Parteiführung durch lange, z. T. überlange (Herbert Wehner) Redezeiten den freien Korridor für Kritik einzuengen versuchte. Darüber hinaus wurde der für Herbst 1968 vorgesehene reguläre Parteitag um ein halbes Jahr vorgezogen. Das in der CDU/CSU vorhandene Unbehagen über die Große Koalition spiegelt sich vor allem in den ausführlichen Protokollen des CDU-Bundesvorstandes. Auch hier ist die Sorge um den Verlust der eigenen Identität erkennbar, aber sie greift offenkundig nicht so weit in das Parteivolk über wie im Falle der SPD. Dies mag, jedenfalls bis 1968, nicht zuletzt daran gelegen haben, dass die Union nach wie vor den Kanzler (und in Personalunion bald den CDU-Vorsitzenden) stellte, was nicht nur zu Beißhemmungen insbesondere im Parteivorstand führte, sondern auch die Aura vermittelte, weiterhin der politisch bestimmende Faktor zu sein. Zugleich war sich die Partei mit ihrem Vorsitzenden der Tatsache bewusst, dass sie bloß durch das schmerzhafte Bündnis mit der SPD im exekutiven Spiel hatte verbleiben können.33 32

Zit. nach Schönhoven (Anm. 31), S. 201. Vgl. Kurt Georg Kiesinger im CDU-Parteivorstand vom 9.10.1967: „Sie wissen, dass im letzten Herbst nur die Alternative bestand, diese Koalition zu gründen oder in die Opposition zu gehen, und dass es eine lange Zeit sehr nahe daran war, dass eine Koalition zwischen der SPD und der FDP, die so genannte Mini-Koalition zustande kam. [. . .] Ich bin davon überzeugt, wenn es zu dieser kleinen Koalition zwischen SPD und FDP gekommen wäre, wären die Dinge schlimm gelaufen. Diejenigen unter uns, die z. B. in der Frage der Deutschlandpolitik und der Ostpolitik Sorgen haben, sollten bedenken, welchen Weg diese Politik wohl genommen hätte, wenn die SPD und die FDP – die ja uns immer wieder mahnte, sehr viel weiter zu gehen, sehr viel 33

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Noch mehr als in der Großen Koalition seit Herbst 2005 spielten die Fraktionsvorsitzenden für die Statik der Großen Koalition von 1966–1969 eine zentrale Rolle, jedenfalls soweit bislang erkennbar. Das Verhältnis Kanzler/Vizekanzler hingegen, das in der Regierung Merkel/Müntefering und auch in deren Koalitionsausschuss erhebliche Bedeutung besitzt, war in der ersten Großen Koalition der Nachkriegszeit seltsam unterkühlt und distanziert. Günter Diehl, zunächst Chef des Planungsstabes im Auswärtigen Amt, dann unmittelbar unter Kiesinger Leiter des Bundespresse- und Informationsamtes, führt dies zwar anekdotisch auf grundsätzlich schlechte Morgenlaunen Brandts während der Kabinettssitzungen an den Vormittagen zurück. Tatsächlich aber scheinen Kiesinger und Brandt einander habituell missachtet zu haben. Kiesinger kehrte gegenüber Brandt den akademisch ausgewiesenen Bildungsbürger heraus, Brandt, honoriger Emigrant, sprachenkundig und Vorsitzender der ältesten deutschen Partei, wollte sich nicht als Außenminister in den verschiedensten Korrespondenzen schulmeistern lassen.34 Die beiden Fraktionsvorsitzenden am Ende der 60er Jahre, Rainer Barzel für die Union und, nach dem Tode Fritz Erlers Anfang 1967, Helmut Schmidt auch offiziell für die SPD, bildeten zwar kein Tandem, das in einem unmittelbar dichten Verhältnis zum Bundeskanzler gestanden hätte, wirkten für sich aber als die Regierung disziplinierendes Team. Kiesinger selbst konzentrierte sich vor allem auf sein Verhältnis zu Herbert Wehner, während Barzel und Schmidt relativ unabhängig vom Regierungschef die parlamentarische Maschinerie ölten.35 Die Konstituierungsphase des Kressbronner Kreises im Spätsommer 1967, in dem sich die Koalitionsspitzen fortan abstimmten und der zu so etwas wie eientschlusskräftiger auf diesen beiden Gebieten zu werden – zusammen gegangen wären.“ Protokolle (Anm. 30), S. 659. 34 Vgl. Günter Diehl, Zwischen Politik und Presse. Bonner Erinnerungen 1949– 1969, Frankfurt am Main 1994, S. 401: „Meiner Meinung nach war die Ursache für Brandts meist mürrisches Gebaren, dass die Kabinettssitzungen in der Regel vormittags stattfanden und vormittags war Brandt immer schlecht aufgelegt.“ Ursprünglich hatte Brandt lange gezögert, von Berlin nach Bonn zu gehen und dann mit der vor allem aus der Perspektive der eigenen Partei nachgerade absurden Überlegung kokettiert, das damals zwar modische, für den Vizekanzler aber gänzlich inadäquate Amt des Wissenschaftsministers zu übernehmen. Hingegen Merseburger (Anm. 22), S. 499, grundsätzlich zur Antipathie zwischen Kiesinger und Brandt: „Umgekehrt erscheint der klassisch geölte bildungsbürgerliche Habitus des Tocqueville-Liebhabers Kiesinger seinem Außenminister bis zur Aufgeblasenheit redselig, ja geschwätzig. Wenn der Kanzler, den man spöttisch, ,König Silberzunge‘, tauft, und sein Minister Carlo Schmid am Kabinettstisch ins Philosophieren geraten [. . .], schaut Brandt gelangweilt in die mitgebrachten Akten.“ 35 Vgl. Andrea H. Schneider, Die Kunst des Kompromisses, Helmut Schmidt und die Große Koalition 1966–1969, München u. a. 1999; Hartmut Soell, Helmut Schmidt 1918–1969. Vernunft und Leidenschaft, München 2003. Aus beiden Untersuchungen wird deutlich, dass es vor allem zwischen Schmidt und Kiesinger eine deutliche Distanz gab: Kiesinger hielt Schmidt für vorlaut und wichtigtuerisch, Schmidt den Bundeskanzler für abgehoben-selbstverliebt und zu sehr seiner Rhetorik ergeben.

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nem Ersatz des förmlich nicht vorhandenen Koalitionsausschusses wurde, zeigt bereits an, wie bei Kiesinger die Präferenzen verteilt wurden: Zunächst traf er sich am 29. August 1967 mit dem CDU-Generalsekretär und Familienminister Bruno Heck sowie mit Willy Brandt und Herbert Wehner, drei Tage später mit Franz Josef Strauß, Rainer Barzel und Richard Stücklen (für die CSU-Landesgruppe) und schließlich am 2. September mit Helmut Schmidt, das erste Gespräch „unter vier Augen während der immerhin schon 9 Monate dauernden Zusammenarbeit“.36 Vielleicht zeigt sich im Vergleich mit der heute amtierenden Bundesregierung hier der Umstand, dass der Regierungschef, der auch schon in den fünfziger Jahren als Bundestagsabgeordneter gerne das Moment des über den Parteien Ausgleichenden für sich in Anspruch genommen hatte, nun von außerhalb nach Bonn gelangt war und ihm eben die unmittelbare Anbindung an die Fraktionen einigermaßen fremd geworden war, während Bundeskanzlerin Merkel zuvor als Fraktionschefin amtiert und fraktionsintern ihre „Netzwerke“ installiert hatte. Kiesinger hingegen baute viel stärker nicht nur auf eine präsidiale Rolle, sondern auch auf die Beziehung zu einzelnen, ausgewählten Akteuren, mit denen er sich sozusagen kulturell gut verstand, Herbert Wehner und Conrad Ahlers auf der SPD-Seite an erster Stelle, im eigenen Lager vor allem Günter Diehl, den er noch aus der Zeit im Auswärtigen Amt kannte, und der CSU-Abgeordnete Freiherr von und zu Guttenberg, der bald Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeskanzleramt wurde. Der Kanzler hatte sich mit ihm einen der Architekten des neuen Regierungsbündnisses gewünscht. Guttenberg, der vor allem die Verbindung zur eigenen CSU herstellen sollte, hatte sich im Nachklang zur „Spiegel-Affäre“ 1962 mit seinem Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß überworfen und im weiteren Unionsumfeld galt er, mit gutem Grund, als Gaullist, nicht als Atlantiker, somit als eindeutiger Parteigänger eines Zusammengehens der Bundesrepublik mit Frankreich. In dieser Rolle stand er allerdings im strikten Gegensatz zum bisherigen Bundesaußenminister Schröder (bis 1966), zu dessen Umfeld und der gesamten nordwestdeutschen CDU. Beamteter Staatssekretär bei Kiesinger und unmittelbarer Leiter des Kanzleramtes wurde hingegen Ende 1967 ein enger Mitarbeiter Schröders, Karl Carstens, Staatssekretär bei Schröder bis 1966 im Auswärtigen Amt, dann zunächst mit ihm ins Bundesverteidigungsministerium umgezogen. Für viele Beobachter überraschend fanden Guttenberg und Carstens sehr bald zu einem guten Verhältnis. Die hier skizzierte Gruppierung mischte Akteure auf der politischen Ebene mit jenen der operativ planenden und der für Außendarstellung zuständigen. In einer solchen Konfiguration, die Politik, Politikreflexion und Politikplanung in sich vereinte, scheint Kiesinger sich am relativ wohlsten gefühlt zu haben. „Der bevorzugte 36 Soell (Anm. 35), S. 621. Zur strukturellen Entwicklung des Kressbronner Kreises Gassert (Anm. 25), S. 576 ff.

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Gesprächskreis Kiesingers aus Mitarbeitern des ihm zugeordneten Bundeskanzleramtes und des Bundespresseamtes bestand aus dem Parlamentarischen Staatssekretär Guttenberg, dem Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung von Hase, später Diehl, sowie dessen Stellvertreter Ahlers, der eine Sonderstellung innehatte, weil er dem Koalitionspartner angehörte. Von Zeitzeugen wurden als weitere Teilnehmer genannt: Karl Carstens, der zweite Chef des Bundeskanzleramtes unter Kiesinger, der Persönliche Referent des Bundeskanzlers, Neusel, und in wechselnder Besetzung der eine oder andere Beamte des Bundeskanzleramtes.“37 Im Gegensatz zur Großen Koalition seit 2005, bei der die personalen Strukturen an der Spitze offenkundig sehr funktional geordnet sind und jeweils die politischen Spitzen untereinander die zentralen Kommunikationen austragen, prägte die informellen Führungszirkel der Großen Koalition von 1966–1969 noch ein stark männerbündisches Moment, welches der Dimension des geschäftsmäßig Professionellen eine Dimension fast feudaler chemischer Bindungen hinzufügte, auf welchen Seiten der „Front“ man während des Krieges und unmittelbar danach auch immer gestanden hatte. In jedem Fall war es wohl die gemeinsame Erfahrung existenzieller, unmittelbar physischer Bedrohung Jahrzehnte zuvor, die um diese Gruppe mit ihren Herkünften eine eigene Kohärenz wob: Kiesinger und Diehl mit ihren Erfahrungen aus der Wilhelmstraße, dem alten Auswärtigen Amt, Barzel, Strauß und Schmidt als junge Offiziere, zugleich mit schnellen, auf baldigen Aufstieg gerichteten Studiengängen, Wehner als kommunistischer Funktionär mit konspirativen Erfahrungen, Brandt als in Norwegen bedrohter Emigrant, Guttenberg als junger Offizier, der dann auf britischer Seite über den „Sender Calais“ zum Widerstand aufgerufen hatte.38 Für diese inoffiziellen Strukturen gab gerade die Ost- und Deutschlandpolitik, das wohl existenziell wie mental bewegendste Thema der Nachkriegszeit überhaupt, den thematischen Boden ab. Und hier bestanden eigene Bezüge, die die parteipolitischen Grenzen auf der zweiten Linie hinter Kiesinger und Brandt verschwimmen ließen. Brandt brachte aus Berlin seinen Pressesprecher und ostpolitischen Vordenker Egon Bahr mit. Dieser hatte sich der Sozialdemokratie nicht aus klassisch-ideologischen Gründen angeschlossen, sondern weil er aus der Berliner Perspektive, verstärkt nach dem Mauerbau von 1961, gegen den Adenauerschen Integrationskurs den Primat von nationaler Einheit und Blocküberwindung verfocht, eine

37 Thomas Knoll, Das Bundeskanzleramt. Organisation und Funktionieren von 1949–1999, Wiesbaden 2004, S. 43. 38 Vgl. Diehl (Anm. 34), S. 403: „Eine Besonderheit der Großen Koalition bestand in der für sie typischen Struktur eines Männerbundes. Es gab eine gewisse freundliche Grundstimmung für den Umgang miteinander, einen Anflug von Kameraderie.“

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Konstante, die schließlich seine gesamte politische Biographie prägen sollte.39 Zunächst war Bahr im Auswärtigen Amt neben dem zunächst noch weiter amtierenden Leiter des Planungsstabes, Günter Diehl, eine Art frei schwebende Größe. Beide kamen aber konzeptionell gut miteinander zurecht, formulierten gewissermaßen jene Protophase der späteren Neuen Ostpolitik, die die Anfänge der Kanzlerschaft Kiesingers prägten. Im November 1967 wechselte Diehl als Leiter des Presse- und Informationsamtes in den unmittelbaren Bereich Kiesingers, als Nachfolger Karl-Günter von Hases, der stets als strammer Unionsmann gegolten hatte. Diehl ging dieser Ruf keineswegs voraus, was zu vielerlei Stirnrunzeln in Unionsfraktion und CDU-Führung gegenüber dem Bundeskanzler führte – eine jener Entscheidungen, die Kiesinger in der eigenen Partei den Ruf des übermäßig weichen und nicht hinreichend parteipolitisch sattelfesten Akteurs einbrachten. Die nächste personelle Delikatesse betraf das Dreiecksverhältnis Kiesinger, Wehner und Brandt. Dass Wehner mit seiner proletarisch-anarchischen Jugendsozialisation so sehr den Draht zum aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden, bemühten Großbürger Kiesinger suchte und fand, verblüfft auf den ersten Blick, lässt sich aber wohl einigermaßen schlüssig begründen. Verglichen mit Willy Brandt waren sie nicht nur härtere Arbeiter, sondern unterschieden sich von ihm vor allem durch problematischere, gebrochene Biographien: Brandt konnte für sich in diesen Jahren den Nimbus der allen Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts gegenüber unangefochtenen, freiheitlich-sozialistischen, antitotalitären Figur in Anspruch nehmen. Vor den Nationalsozialisten nach Skandinavien emigriert, hatte er in Norwegen im gefahrvollen Untergrund gewirkt und sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre als personifiziertes antikommunistisches Bollwerk in Westberlin profiliert. Wehner hing hingegen seine exponierte kommunistische Vergangenheit mit den vielfachen Verdachtsmomenten hinsichtlich seines Wirkens während der späten dreißiger Jahre in Moskau an; Kiesinger konnte, was seine Jahre während des so genannten Dritten Reiches, insbesondere die Kriegszeit, anbelangte, bestenfalls als hoch gebildeter bürgerlicher Opportunist durchgehen. Hier sind mental, wenn nicht tiefenpsychologisch Punkte berührt, die über die schon geschilderten persönlichen Animositäten zwischen Kiesinger und Brandt hinausgehen. Wehner auf der einen Seite, Bahr auf der anderen, versuchten Kiesinger ostpolitisch stärker für sich zu gewinnen, als dies die bisherige Programmatik der Union hergab. Dabei vertraten Bahr und Brandt einen Ansatz, der vor allem auf die Kommunikation mit der sowjetischen Führung setzte, Wehner war es, wenn wir hier der Forschung folgen dürfen, in erster Linie darum zu tun, die DDR als 39 Zur Rolle Bahrs in der Großen Koalition Andreas Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Wiedervereinigung, Bonn 1996, S. 96 ff.

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eigenen Faktor der deutschen Entwicklung aufzuwerten und mittels einer innerdeutschen Konföderation auch eine Linksverschiebung in der Bundesrepublik zu erzielen.40 Die ostpolitischen Entwicklungen, die am Ende in heftige Auseinandersetzungen unter den Partnern münden sollten, waren wenn nicht das, so doch ein Herzstück der Großen Koalition. 5. Große Koalition und Ostpolitik Im zeitgeschichtlichen Rückblick erscheint die Große Koalition von 1966 bis 1969 für zwei zentrale Themenbereiche vielfach wie eine Art Vorbereitungsteam, das die (west)deutsche Gesellschaft auf die dann nachfolgende große Operation, in der Deutschland- und Ostpolitik wie bei den innenpolitischen Reformagenden, hingeführt habe. In beiden Bereichen ergibt sich so ein Trugbild, für die Innenpolitik wohl noch mehr als für die Deutschland- und Ostpolitik. Denn im Ergebnis war schon die Regierung von 1966 bis 1969 nicht nur „Amuse Gueule“, sondern bereits auch echte Mahlzeit. Im Grunde ging es bereits damals um die Aufgabe der bisherigen deutschlandpolitischen Kernpositionen: Nichtanerkennung der DDR, Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Linie und Festhalten an der Hallstein-Doktrin, das heißt spürbare Konsequenzen, in der Regel Abbruch der diplomatischen Beziehungen, sofern ein Drittstaat seinerseits die DDR anerkannte.41 Der Trend gegen diese Positionen war weltpolitisch seit dem Verebben der zweiten Berlinkrise – sowjetische Forderung nach Installierung Westberlins als „Freie Stadt“ und Mauerbau – 1962/63 offenkundig. Mancherlei Überlegungen Egon Bahrs in Berlin, die freilich noch weitergehen mochten, waren mit den bereits vor seiner Zeit im Planungsstab des Auswärtigen Amtes angestellten 40

Vgl. dazu Kroegel (Anm. 26), S. 115 ff. Vgl. Werner Kilian, Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973, Bonn 2001; Oliver Bange, Kiesingers Ost- und Deutschlandpolitik von 1966–1969, in: Günter Buchstab/Philipp Gassert/Peter Thaddäus Lang (Hrsg.), Kurt Georg Kiesinger von 1904–1988. Von Ebingen ins Kanzleramt, Freiburg/Basel/Wien 2005, S. 455–498. Im Gegensatz zur Ost- und Deutschlandpolitik kam der westeuropäischen Integrationspolitik, bei aller sachlichen Bedeutung, während der gesamten Zeitstrecke der Regierung Kiesinger ein deutlich geringerer emotionaler Stellenwert zu. Hier ging es vor allem um ein pflegliches Verhältnis zu Frankreichs Präsident Charles de Gaulle, insbesondere nach der Entfremdung zwischen Ludwig Erhard und ihm zuvor, und um die Frage einer Erweiterung der EWG, vor allem um Großbritannien bzw. der Ausgestaltung eines harten Kerns um Bonn und Paris. Grundsätzlich war Bundeskanzler Kiesinger in erster Linie „stark geprägt von seiner langfristigen Vision eines politisch-militärisch starken Europas, wohingegen Brandt ganz auf die EWG als Verständigungsinstrument nach Osteuropa abzielte“. Henning Türk, Die Europapolitik der Großen Koalition 1966–1969, München 2006, S. 237. Allerdings muss man bei Brandt wohl auch zugleich Präferenzen für London (Nähe zur Labour Partei) wie zum Pariser Elysee hinzunehmen – eine Konfliktlage, die sich nicht grundlegend lösen, sondern nur „händeln“ ließ. 41

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durchaus kongruent gewesen. Dies zeigte sich etwa bei der im Laufe des Jahres 1967 vereinbarten Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Jugoslawien. Diese Beziehungen waren 1957 abgebrochen worden, nachdem Jugoslawien die DDR völkerrechtlich anerkannt hatte. Nun hatten Günter Diehl und Egon Bahr im Planungsstab des Auswärtigen Amtes eine subtile Konzeption entwickelt, „Alleinvertretung und Alleinpräsenz zu trennen.“42 Freilich zeigte die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien schon so etwas wie den äußersten Punkt von Kiesingers Kompromissbereitschaft. Sie wurde gegen den in den Adenauerschen Traditionen stehenden Flügel der Union durchgesetzt, aber wirklich innerlich bereit für solche Zugeständnisse war die CDU/CSU in weiten Teilen keineswegs. Ein ähnliches Bild ergab sich für den Briefwechsel Kiesingers mit DDR-Ministerpräsidenten Stoph im Verlauf des Jahres 1967. Stoph hatte am 10. Mai des Jahres im Bundeskanzleramt ein Schreiben überreichen lassen. Bis dahin war es üblich gewesen, solche Korrespondenzen von Seiten einer Regierung, die es aus westdeutscher Sicht überhaupt nicht gab, offiziell gar nicht anzunehmen. Erstmals wurde in Bonn anders agiert: Gut einen Monat später folgte eine maßgeblich von Herbert Wehner beeinflusste briefliche Antwort nach Ostberlin.43 Inhaltliche Schnittstellen zwischen den Briefen gab es freilich kaum: Stoph war nicht nur typischer Hardliner der Ostberliner Führung, wie sich später für das westdeutsche Publikum eindrucksvoll bei seinen beiden Begegnungen mit Bundeskanzler Brandt 1970 in Erfurt und Kassel zeigen sollte; er hatte vor allem auch den ganzen Maximalkatalog der WarschauerPakt-Staaten gegenüber der Bundesrepublik aufgelistet, garniert um die üblichen Vorwürfe, in Westdeutschland gebe es unfriedliche, mehr oder weniger faschistische Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund musste der ganze Briefwechsel bald versanden. In Kiesingers Antwort vom 13. Juni 1967 waren die zentralen Themen Gewaltverzicht und Erörterung praktischer Fragen zur Linderung der Teilung. Wehner und Bahr nahmen daran Anstoß, dass der Bundeskanzler über den ganzen Text die Bezeichnung DDR vermied. Hier wurden schon terminologische Grenzen zwischen den Koalitionspartnern deutlich. Gleichwohl ging das durchaus nicht perspektivlose Ringen um eine konzeptionell gemeinsame Plattform in der Ost- und Deutschlandpolitik weiter. So weisen die Protokolle einer Regierungsklausur vom 2. und 3. Mai 1968 einen bemerkenswerten Konsens bei konzeptionellen Hintergrundüberlegungen aus. Bundesaußenminister Brandt fand keinen Widerspruch, als er Grundpositionen so beschrieb: „Um in der Gewaltverzichtsfrage gegenüber Osteuropa weiter zu 42 Gassert (Anm. 25), S. 587. Vgl. ebd.: „Jugoslawien war ein harter Brocken für die Union, weil die Normalisierung des Verhältnisses zu Belgrad eine weitere Bastion altehrwürdiger deutschlandpolitischer Grundsätze schliff.“ 43 Zur Abstimmung zwischen Kiesinger und Wehner bei der Beantwortung des Stoph-Briefes Kroegel (Anm. 32), S. 141 ff.

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kommen, könnten wir an drei Dinge denken: Andeutungen machen, dass wir die Grenzfragen faktisch als erledigt betrachten, ohne die Ansprüche aufzugeben. Verbindliche Abmachungen mit der DDR gegen völkerrechtliche Anerkennung. Mobilisierung des osteuropäischen Interesses gegen das Veto der DDR für die Normalisierung der Beziehungen zu uns.“44 Andererseits weckte die immer deutlicher werdende Bereitschaft der SPDFührung, die Oder-Neiße-Grenze als politisch endgültig zu akzeptieren – nicht zuletzt der Nürnberger Parteitag vom März 1968 machte dies deutlich –, zunehmend Vorbehalte in jenen Teilen der CDU/CSU, die nicht so sehr an interner konzeptioneller Arbeit als an politisch-ostentativer beteiligt waren. Im sowjetischen Machtbereich selbst bestand zum einen offenkundig die Sorge, die neue, flexibler gewordene westdeutsche Politik könne vor allem darauf ausgehen, den eigenen Siegespreis auf deutschem Boden, die DDR, zu isolieren, ihre Stabilität wie ihre Verankerung im sozialistischen Lager allmählich zu unterhöhlen. So ganz falsch waren diese Erwartungen nicht. Positiv gewendet ging es aus westdeutscher Sicht um eine Auflockerung erstarrter Konfrontationsmuster, ob gegen oder – wie der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen Wehner das vor allem wollte – unter Einschluss einer irgendwie in eine gesamtdeutsche Konföderation einzubringenden DDR.45 Bedenken gegen ein Eingehen auf westdeutsche Vorstöße hat dann Walter Ulbricht naturgemäß selbst vielfach Ausdruck verliehen. Hinzu kam auf Seiten der SED Irritation über die SPD, die sich aus Moskauer wie Ostberliner Sicht in die Große Koalition hatte locken lassen und damit als Partner für eigene Bündnisse mit ihr für lange Zeit ausfiel. Schon die Karlsbader Beschlüsse des Warschauer Paktes vom 24. bis 26. April 1967, also knapp ein halbes Jahr nach Bildung der Großen Koalition, formulierten gegenüber der Bundesrepublik einen apodiktischen Katalog an Maximalforderungen, garniert mit einem typisch „antifaschistischen“ propagandistischen Dekor, das die Legitimation der Bundesrepublik selbst in Frage stellte. „Die Vereinbarung der Außenminister legt fest, dass die Bundesrepublik für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen folgende Bedingungen erfüllen müsse [. . .]: Erstens die Anerkennung der gegenwärtigen Lage in Europa, namentlich 44 Zit. nach Werner Link, Die Entstehung des Moskauer Vertrages 1970, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 2/2001, S. 295–315, hier S. 299. 45 Dies ist vor allem die Position von Kroegel (Anm. 32). Wehners Biograf Meyer, dessen Darstellung von hagiographischen Zügen nicht frei ist, betont hingegen, es habe keine isolierte Fixierung Wehners auf eine sozusagen paritätische Berücksichtigung der DDR gegeben. Vgl. Meyer (Anm. 23), S. 307 f.: „Auch für Willy Brandt war schon 1966 klar, dass der Schlüssel zur Deutschlandpolitik nicht nur in Moskau liege [. . .]. Brandts Berater Egon Bahr verantwortete im März 1967 ein Thesenpapier zur Deutschlandpolitik [. . .], das in erster Linie auf die Schaffung eines Amts für innerdeutsche Beziehungen, die Bildung eines „deutschen Rates“ aus Vertretern von Bundesrepublik und DDR sowie verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden deutschen Teilstaaten setzte.“

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der Grenzen an Oder und Neiße sowie zwischen der Bundesrepublik und der DDR; zweitens die Anerkennung der Nichtigkeit des Münchner Abkommens von Anfang an; drittens die Anerkennung der Tatsache des Bestehens zweier deutscher Staaten und den Verzicht auf die ,Alleinvertretungsanmaßung‘; viertens den Verzicht auf alle Versuche, in irgendeiner Form Zugang zu Kernwaffen zu erlangen; und schließlich fünftens die Aufgabe des ,rechtswidrigen‘ Anspruchs auf Westberlin. In einem gesonderten Absatz beharrten die sozialistischen Staaten auf der ,Verwirklichung der demokratischen Rechte des westdeutschen Volkes‘ und auf ,Maßnahmen gegen das Anwachsen der neonazistischen Gefahr‘.“46 Nicht nur die sowjetischen wie die Ostberliner Maximalkataloge ließen die Blüten einer ersten flexiblen Bonner Außenpolitik wie in einer Kältekammer erstarren, bevor sie sich erst wirklich hatten entfalten können. Unter innenpolitisch wahltaktischen Gesichtspunkten war man von vornherein in der SPD bestrebt, ein Übermaß an Konsens mit der Union erst gar nicht entstehen zu lassen. „Durch Offenlegung koalitionsinternen Dissenses wurde die Führungsfähigkeit des amtierenden Kanzlers in Zweifel gezogen und das eigene Profil geschärft. Die SPD stellte sich selbst als den progressiven und drängenden, die CDU/CSU als den konservativen und hemmenden Teil der Koalition dar, was ihr, dank der Unterstützung der Kalten Krieger in der Unionsfraktion, auf dem Feld der Ostpolitik glänzend gelang.“47 Zusätzliche Munition auf dem Wege einer so vor allem innenpolitisch intendierten wechselseitigen Abgrenzung lieferte das Bekanntwerden von Kontakten der SPD-Führungsspitze mit der Kommunistischen Partei Italiens an der Jahreswende 1967/68. Sie stellten vor allem einen indirekten Dialog mit der SED dar. Es ging dabei u. a. um die Wiederzulassung einer kommunistischen Partei in Westdeutschland – kurz darauf ließ Bundesjustizminister Gustav Heinemann sozusagen offiziös erkennen, dass eine Neugründung, zu der es dann am 26. September 1968 in Gestalt der DKP kam, nicht mit einer Verbotsdrohung rechnen müsse. Am weitesten bei diesen Kontakten ging wohl Egon Bahr bei einem Weißwurstessen im Münchner Hotel Bayerischer Hof am 31. Januar 1968 mit Spitzen der KPI. Hier wurde das Programm der späteren sozialliberalen Koalition – weitgehende Hinnahme der Forderungen des Warschauer Paktes, allerdings auf einer politischen, nicht völkerrechtlichen Ebene – in hohem Maße vorweggenommen. Das Bundeskanzleramt war über diese Sondierungen sehr bald durch den BND wie durch Franz Josef Strauß recht eingehend informiert. Und auch wenn Kiesinger mit diesem Wissen, schon um die Koalition insgesamt nicht zu gefährden, sehr diskret um-

46 Zit. nach Karl Heinz Schmidt, Dialog über Deutschland. Studien zur Deutschlandpolitik von KPdSU und SED (1960–1979), Baden-Baden 1998, S. 140. Zur Rolle Walter Ulbrichts bei diesen Festlegungen des Warschauer Paktes auch Mario Frank, Walter Ulbricht. Eine deutsche Biographie, Berlin 2001. 47 Gassert (Anm. 25), S. 593.

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ging, zeichnete sich hier eine erhebliche Gefährdung der Vertrauensgrundlage ab.48 Eine weitere und massive Zäsur bedeutete die Aggression von Streitkräften des Warschauer Paktes am 21. August 1968 gegen die Tschechoslowakei. Kiesinger selbst reagierte auf eigentümliche Weise weich und defensiv. Vom sowjetischen Botschafter Zarapkin ließ er sich zehn Tage später, am 2. September 1968, die massivsten Propagandatiraden gefallen, die Bundesrepublik sei für die „konterrevolutionären“ Vorgänge („Prager Frühling“) in der Tschechoslowakei mitverantwortlich. Wenig später kam es zu heftigen Auseinandersetzungen im CDU-Vorstand über die Formulierung einer Presseerklärung zum Geschehen in Prag. Der Bundeskanzler setzte sich zwar nochmals mit einer moderat-differenzierten Position durch („Ich kann nur noch einmal sagen, was die am meisten befürchten, ist nicht eine harte Sprache, sondern eine differenzierte Politik, die sie in die Gefahr bringt, dass sie tatsächlich die Kontrolle über ihr Imperium verlieren“49), aber insgesamt hatte sich in der Union der Wind gedreht. Das 48 Zu den Kontakten im Dreieck SPD, KPI, SED Kroegel (Anm. 26), S. 212 ff. Deutlich mehr in die Tiefe gehend Gassert (Anm. 25), S. 595 ff. Zu den Zugeständnissen, die Bahr in Aussicht stellte, vgl. ebd. S. 589: „Am Ende eines langwierigen Verhandlungsprozesses [. . .], zu dem auch die Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages durch die Bundesrepublik gehörte, hätte die westdeutsche Regierung drei der vier Karlsbader Hauptforderungen entsprochen, nämlich: Anerkennung der europäischen Grenzen, Anerkennung des Bestehens zweier deutscher Staaten, Verzicht auf Kernwaffen. Auf die DDR bezogen, sah Bahr in der Unterzeichnung zweiseitiger Abkommen und in einem Gewaltverzicht den Anfang zur ,Lösung der Frage der Anerkennung der DDR‘“. Geschichtspolitisch ist auffallend, dass in der Monographie von Schönhoven über die SPD in der Zeit der Großen Koalition diese Kommunikation nicht wirklich aufscheint. Vgl. Schönhoven (Anm. 31). Zu Gründung und Geschichte der DKP jetzt Michael Roik, Die DKP und die demokratischen Parteien 1968–1984, Paderborn 2006, insbesondere S. 73 ff. mit dem Kalkül Walter Ulbrichts, zu einem Bündnis von orthodoxen Kommunisten und 68ern zu gelangen. 49 Protokolle (Anm. 30), Sitzung vom 2. September 1968, S. 1040. Vgl. auch die heftige Äußerung von Eugen Gerstenmaier, ebd. S. 1046 f.: „Herr Bundeskanzler! Ich muss anmelden, dass ich unter keinen Umständen damit einverstanden bin! Ich finde, dass das jetzt zur Charakterfrage der Führung der größten Partei Deutschlands wird. [. . .] Wir können unmöglich das, was wir besprechen wollen als Bundesvorstand der CDU in letzter Instanz, dem Maßstab unterwerfen: Werden die Russen darin eine Provokation sehen, ja oder nein? [. . .] Wir begeben uns unserer Freiheit! Wir begeben uns unserer Spontaneität, unserer moralischen Äußerung!“ So beeindruckt auch der offenkundig verängstigte Bundeskanzler, vgl. Gassert (Anm. 25), und große Teile des Bonner Führungspersonals von sowjetischer Rhetorik – u. a. Anwendung der UNO-Feindstaatenklausel gegen die Bundesrepublik – erschienen, bot sich zugleich ein regional anderes Bild: Die Bayerische Staatsregierung hielt schon am 21. August 1968 eine Sondersitzung ab. In den Erinnerungen des für diesen Raum zuständigen Kommandeurs des II. Korps der Bundeswehr, Karl-Wilhelm Thilo, heißt es: Ich „flog [. . .] im Hubschrauber die Ostgrenze von Passau bis Marktredwitz ab, besuchte meine Soldaten in ihren Garnisonen, auch einige zivile Behörden. Stimmung und Haltung waren ausgezeichnet. Vom Offizier bis zum Wehrpflichtigen war man zur Grenzverteidigung eindeutig bereit. Ostwärts des Standortes Freyung hatten die Soldaten aus eigenem Antrieb Stellungen ausgehoben, befestigt und verdrahtet. ,Die Russen sollen nur kom-

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galt nicht zuletzt für den Bundesfinanzminister und CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß. Strauß sprach sich im CSU-Führungskreis am 16. September 1968 für eine „neue Haltung“ ohne „Duckmäuserei“ aus, hielt dem Kanzler „Laschheit“ vor und plädierte – innenpolitisch gesehen – insbesondere deshalb für ein Ende von Konzessionen, damit nicht bei den Landtagswahlen die immer stärker werdende NPD zum Nutznießer werden könne. Ein Lackmustest, an dem die Wege nun deutlich auseinander gingen, war die Frage der deutschen Unterzeichnung des Kernwaffensperrvertrages. Bis zur Okkupation der Tschechoslowakei durch den Warschauer Pakt hatte auch die Unionsseite eine Unterzeichnung prinzipiell nicht ausgeschlossen. Nun verhärtete sich, insbesondere unter der Wortführung von Franz Josef Strauß, ihre Haltung. Für beide Seiten – CDU/CSU und SPD – wurde die Frage der Unterzeichnung bis zum Ende der Koalition 1969 zu einem Thema, das in klassischer Weise Profilierung durch Konflikte bedeutete. 6. Innenpolitische Reformen In der Erinnerung der Deutschen erscheint die Regierung Kiesinger vor allem als innenpolitisches Reformbündnis. Als solches dürfte sie in der Rückschau die folgende sozialliberale Koalition mittlerweile sogar weitgehend abgelöst haben; hingegen ist die Große Koalition als ostpolitisches Reformbündnis nahezu in Vergessenheit geraten. Das mag mit den von Mythen umrankten Bildern Willy Brandts vom 19. März 1970 beim Besuch in Erfurt, als ihm von den Thüringern akklamiert wurde, und beim Kniefall vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes am 7. Dezember 1970 zusammenhängen. Die Regierung Kiesinger erledigte ein stattliches innenpolitisches Reformbündel; sie war dabei parteienübergreifend auch mit einigen Tropfen von der Hybris jener gesalbt, die glaubten, über unfehlbare Rezepte zur Optimierung von Sozialstaat und Wirtschaftsordnung zu verfügen. Dass sich die Erfolge von damals als nur relativ und in Teilen bemerkenswert kurzatmig erwiesen, mag zur

men, wir werden sie empfangen‘ – sagten die Landser. Für mich, als Kommandeur, waren es gute Stunden. Ich erlebte Verbundenheit in bester Form.“ Karl-Wilhelm Thilo, Die Tschechenkrise 1968. Wie der Kommandierende General des II. Korps diese erlebt hat, in: Bruno Thoß im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (Hrsg.), Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit. Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte 1952–1995, München 1995, S. 179–185, hier S. 183. Im Protokoll zur Ministerratssitzung vom 21. August 1968 in München heißt es: „Der Ministerrat ist der Auffassung, dass angemessene und disziplinierte Protestaktionen gegen die russische Aggression [. . .] zu begrüßen sind“. Niederschrift über die Sondersitzung des Bayerischen Ministerrats vom 21. August 1968, BayHStA StK 13193 (Auszug), in: Quellen zur politischen Geschichte Bayerns in der Nachkriegszeit, Bd. 2 (1957–1978), Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 2005, Dok. 42, S. 367.

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heutigen Skepsis hinsichtlich politischer Gestaltungsmöglichkeiten überhaupt beigetragen haben. Die keynesianische Grundströmung jener Zeit führte zu Planungs- und Gestaltungsoptimismus in SPD wie CDU, im Wirtschafts- wie Finanzministerium. Möglichst alles sollte mit allem verbunden werden: Subsidiarität und Autonomie kleiner Einheiten waren dem technokratischen Zeitgeist, der von der Politik längst Besitz ergriffen hatte, verpönt. Die neue holistische Gestaltungslehre gewann schon deshalb sehr schnell Anklang, weil die konjunkturelle Delle in der Bundesrepublik nach verblüffend kurzer Zeit überwunden wurde: Die Wachstumsraten erreichten wieder die Größenordnungen der frühen sechziger Jahre, die Arbeitslosigkeit sank auf nur mehr arithmetisch wahrnehmbare Restbestände, im Bundeshaushalt wurde die Neuverschuldung wieder zurückgeführt. War das Bruttosozialprodukt zu Preisen von 1962 im Jahr 1967 noch um 0,2 Prozent gesunken, so gab es bereits im Folgejahr ein – nach heutigen Maßstäben – fast boomartiges Wachstum um 7,3 Prozent, das sich im Wahljahr 1969 sogar auf 8,2 Prozent beschleunigte. Die Arbeitslosenquote, 1967 auf aus heutiger Sicht „harmlose“ 2,1 Prozent gestiegen, betrug im Jahr 1969 nur 0,9 Prozent bzw. in absoluten Zahlen knapp 250.000.50 Vielleicht waren gerade diese vermeintlich schnellen Erfolge, die tatsächlich wohl wesentlich in der immanenten Logik einer wieder anziehenden Konjunktur begründet, auf Dauer von Nachteil, denn sie verführten dazu, mit dem Planen und Ebenenverbinden forciert weiter zu machen. Ausgebaut wurde das Modell eines so genannten kooperativen Föderalismus, von dem wir heute zu wissen glauben, dass er dem Gedanken der Eigenverantwortung massiv abträglich war. Der Bund erhielt wesentliche Zuständigkeiten im Beamtenrecht und bei den Hochschulen. Küstenschutz, Hochschulen und regionale Wirtschaftsstrukturen wurden als so genannte Gemeinschaftsaufgaben im Grundgesetz verankert (Art. 91a GG)51 – zugleich mit einer gemeinschaftlichen Finanzierung, die die betroffenen Länder naturgemäß dazu verführen musste, auch jenseits ihres unmittelbaren Bedarfes und ihrer unmittelbaren Finanzierbarkeit, vor allem hin-

50 Vgl. die Angaben bei Alois Oberhauser, Geld- und Kreditpolitik bei weitgehender Vollbeschäftigung und mäßigem Preisanstieg (1958 bis 1968) und Norbert Kloten, Erfolg und Misserfolg der Stabilisierungspolitik (1969–1974), in: Deutsche Bundesbank (Hrsg.), Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876–1975, S. 609–642 und S. 643–690. Auffällig ist immerhin, das gehört zu den Anfängen der heutigen öffentlichen Verschuldungssituation in Deutschland, dass sich die Defizite der Gebietskörperschaften in Relation zu den öffentlichen Ausgaben – also noch nicht das MaastrichtKriterium Bruttoinlandsprodukt von heute – zwischen dem ersten Jahrfünft der 60er Jahre und dem zweiten Jahrfünft dieser Dekade verdoppelten, von 2,4 auf 4,8 Prozent. Damit lag man zwar noch weit unter Maastricht, aber negative Anfänge waren geschaffen. 51 Der neue Art. 91a des Grundgesetzes war Bestandteil des Finanzreformgesetzes von 1969.

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sichtlich der Folgekosten, irgendwie die lockende Prämie gesamtstaatlicher Leistungen an Land zu ziehen. Als der bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel – als Föderalist hier Gegenspieler „seines“ Bundesfinanzministers Franz Josef Strauß aus Bayern – als Gast im CDU-Vorstand darauf aufmerksam machte, dass zwischen Bund und Ländern keine einzige Gemeinschaftsaufgabe vereinbart werde, die der ursprünglichen sachlichen Zuständigkeit des Bundes entstamme, erntete er nicht nur Kopfschütteln, sondern, wie bei seinem schleswig-holsteinischen Kollegen Lemke, sogar deutlichen Widerspruch. Die Strukturfehler des deutschen Föderalismus einschließlich mangelnder staatlicher Leistungsfähigkeit seiner kleineren Länder waren hier schon mit Händen zu greifen.52 Die Finanzverfassungsreform brachte neben den Gemeinschaftsaufgaben insbesondere ein Verbundsystem – proportionale Zuweisung – bei den Steuereinkünften auf die Gebietskörperschaften. Im Länderfinanzausgleich – hier waren damals vor allem SPD-regierte Länder noch Geberländer und sträubten sich gegen stärkere Einbußen – wurden die Instrumente des horizontalen Länderfinanzausgleichs wie der Bundesergänzungszuweisungen deutlich ausgebaut. Bereits am 14. Februar 1967 trat erstmals unter dem Vorsitz von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller die „Konzertierte Aktion“ zusammen, jenes informelle Gremium, von dem eine Art ökonomisch-sozialer Gesamtsteuerung ausgehen sollte. Schon wegen ihres quantitativen Wachstums, das typisch für Gremien ist, die entweder Erfolg oder Außenwirkung versprechen, nahm sie zwar bald eine nicht mehr wirklich arbeitsfähige Größenordnung an, behielt aber gleichwohl soviel Prestige, dass Karl Schiller als ihr geschickt vermarkteter Dirigent zum eigentlichen sozialdemokratischen Star in der Regierung avancieren konnte. Diese Statusaufwertung sollte noch die Kampagne der SPD für die Bundestagswahl 1969 prägen.53 Eine zweite „Baustelle“ der Koalition betraf die 52 Vgl. in der Diskussion des CDU-Bundesvorstandes vom 29. Januar 1968 Ministerpräsident Helmut Lemke, Protokolle (Anm. 30), S. 833: „Wenn sich der Bund an diesen drei Sachen beteiligt, dann hat er eben auch ein Mitplanungsrecht. Das ist völlig klar, und keiner von uns macht hierbei Schwierigkeiten.“ Als Gast in derselben Diskussion der Bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel, ebd., S. 837: „Ich muss von Hause aus einen Föderalismus vertreten, der kein zweckmäßiger, kein opportunistischer und kein funktionalistischer ist, sondern ich muss den Staatsgrundsatz vertreten, den unser Grundgesetz aufrecht erhält. Nach unserem Grundgesetz sind diese elf Länder Staaten in ihrer Staatlichkeit mit abgegebenen Subsidiaritätsrechten, aber nichts anderes.“ 53 Die Konzertierte Aktion begann unter der Leitung von Karl Schiller mit Spitzengesprächen der Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern am 14. Februar und 1. März 1967. Diskutiert wurden Orientierungsdaten für die wirtschaftliche Entwicklung (Wachstum, Preisanstieg). Im Mai 1967 verabschiedete der Bundestag das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“. Mit ihm wurde das gesamte keynesianische Arsenal von staatlich gesteuerter Konjunktur (magisches Viereck von Preisstabilität, Vollbeschäftigung, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum) konstitutiv verankert, die Vorlage eines Jahreswirtschaftsbe-

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Rechts- und Innenpolitik. Hier drückte sich jene Zeittendenz aus, die sich als liberal empfand und im Staat nach seinem bisherigen Erscheinungsbild einen rigide strafenden Übervater sah, der zumal das Privatleben auf einen eng definierten legitimen Sektor reduzierte. Das erste und zweite Strafrechtsreformgesetz von 1968 schafften das Zuchthaus ab, stellten den Resozialisierungsgedanken in den Vordergrund und strichen Strafrechtsvorschriften unter anderem bei Ehebruch und Homosexualität zwischen Erwachsenen. Das Gesetz über die rechtliche Stellung der nicht-ehelichen Kinder besserte deren rechtliche und materielle Position gegenüber ehelichen Kindern beträchtlich auf. Eines der beiden großen innenpolitischen Reformvorhaben, die nicht einen unmittelbar ökonomischen Hintergrund hatten, war die Notstandsverfassung, das andere die Wahlrechtsreform. Die Auseinandersetzungen um die Notstandsverfassung bündelten die Konfliktebenen inner- wie außerhalb des politischen Systems: An dieser Auseinandersetzung entzündeten sich paradigmatisch die Aufgeregtheiten der Studentenbewegung, welche ohnehin seit 1967 – Schah-Besuch und Tod von Benno Ohnesorg in Berlin – für das Klima in Universitätsstädten wie in Feuilletons und Medien tonangebend geworden waren. Für die Konfliktlage muss man von insgesamt vier großen, bestimmenden Kräften ausgehen: Einmal von der CDU/CSU, die seit den fünfziger Jahren Regelungen zur normativen Bewältigung von Ausnahmezuständen als notwendige Ergänzung des Grundgesetzes in seiner Fassung von 1949 wie als Schlussstein der Souveränität der Bundesrepublik interpretierte. Denn nur mit einer solchen „Notstandsverfassung“ konnte verhindert werden, dass in Krisenfällen altes Besatzungsrecht der Alliierten wieder auflebte. Die zweite „Partei“ bildete der etatistische Flügel der SPD in der Tradition von Kurt Schumacher, den in der Zeit der Großen Koalition Helmut Schmidt, aber auch Herbert Wehner vertraten: Sie bejahten eine – moderate – Notstandsverfassung; der sozialdemokratisch mitgeprägte Staat bedürfe demnach demokratisch legitimierter Vorkehrungen gegen Usurpationen von extrem links und rechts. Hier machten sich Erinnerungen bemerkbar an die kommunistischen Aufstände auch und gerade gegen sozialdemokratische Regierungen im Preußen der Weimarer Republik – z. B. die sog. Rote-Ruhr-Armee 1920 – als auch gegen Übergriffe von rechts, wie etwa der Papensche Staatsstreich gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung in Preußen vom 31. Juli 1932. Die dritte „Partei“ war der linke Flügel der SPD in Verbindung mit großen Teilen der Gewerkschaften. Hier dominierte die Sorge vor einem autoritären Staat, der insbesondere der Arbeiterbewegung ihren Manövrierraum nehmen könne, vor allem in Gestalt einer Außerkraftsetzung des Arbeitskampfrechtes und von Dienstverpflichtungen nach dem Muster des so genannten Hindenburgrichts festgelegt und ein Weg etatistischer Planungseuphorie bestritten. Vgl. Schönhoven (Anm. 31), S. 139 ff.

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programmes im Ersten Weltkrieg. Die vierte „Partei“ schließlich war die so genannte „außerparlamentarische Opposition“. Sie deutete das ganze Unternehmen weitgehend ohnehin nur als Bestandteil der von ihr herbeiinterpretierten Faschisierung des reaktionären Nachkriegsstaates. Was die hier skizzierte Gemengelage anlangt, wird man den SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, durchaus kennzeichnend für seine politischen Standortwahlen, im Übergang zwischen der zweiten und der dritten „Partei“ vermuten können – auch zum ausgesprochenen Verdruss von Helmut Schmidt.54 Schon der Wahlkampf zur Landtagswahl in Baden-Württemberg vom 28. April 1968 zeigte, wie sehr vor allem in den Universitätsstädten lautstarker Protest der studentischen Opposition gegen die „etablierte“ Politik das Bild der Auseinandersetzung prägte. Die endgültige parlamentarische Verabschiedung der Notstandsgesetze folgte am 30. Mai 1968. Sachlich war es der SPD gelungen, eine Fülle von enormen Relativierungen durchzusetzen, so dass auf der anderen Seite, in der CDU/CSU, die Brauchbarkeit des ganzen Instrumentariums in einem tatsächlichen Krisenfall zunehmend bezweifelt wurde. Der historische Bruch der Notstandsgesetze mit der bis 1933 in Deutschland geltenden Tradition der Regelung von Ausnahmetatbeständen bestand im Wesentlichen darin, dass die „Kompetenzkompetenz“, also die letzte Entscheidungszuständigkeit, nicht auf das Staatsoberhaupt, ob Deutscher Kaiser und Preußischer König oder Reichspräsident, jeweils ausgestattet mit dem militärischen Oberbefehl, verlagert wurde. Sie verblieb vielmehr im Gehäuse des parlamentarischen Regierens. Dafür wurde als Notverfassungsorgan ein Gemeinsamer Ausschuss aus Bundestag und Bundesrat eingerichtet (Art. 53a, 115a Grundgesetz). Helmut Schmidt selbst, Vorsitzender der SPD-Fraktion, hatte sich als Kompensation an die Gewerkschaften für eine Neugestaltung der Mitbestimmung stark gemacht. Das Thema wurde bereits in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 13. Dezember 1966 angesprochen. Die nach ihrem Vorsitzenden dann so benannte „Biedenkopf-Kommission“ nahm gleichwohl erst gegen Ende 1967 ihre Tätigkeit auf, so dass sie ihren wissenschaftlichen Bericht zur künftigen Gestaltung der betrieblichen Mitbestimmung auch erst nach dem Ende der Legislaturperiode, 1970, vorlegen konnte. Im Kern ging es den Gewerkschaftsführungen und großen Teilen der SPD darum, die sog. „Montanbestimmung“ vom Beginn der fünfziger Jahre, also die 54 Vgl. Soell (Anm. 35), S. 722 ff. Schmidts Eintreten für die Notstandsverfassung in einem zähen Ringen mit den Gewerkschaften resultierte nicht zuletzt auch aus seinen Erfahrungen beim improvisiert-autoritären Handeln als Hamburger Innensenator 1962 angesichts der Flutkatastrophe, die die Elbe-Stadt bedrohte. Hinsichtlich des Verhältnisses zu Brandt Soell (Anm. 35), S. 738: Er „fühlte sich von ihm vor allem in der Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften im Stich gelassen.“

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paritätische Position der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten der Kohleund Stahlunternehmen, auf die großen Aktiengesellschaften insgesamt zu übertragen. Dies sollte zum zentralen Element einer wirtschaftsdemokratischen Gestaltung der westdeutschen Gesellschaftsordnung werden. Rund ein halbes Jahr vor dem Ende der Großen Koalition, im Frühjahr 1969, waren sich die beiden Partner allerdings nur darin einig nicht übereinzustimmen („to agree to disagree“). So wenig die SPD bei der Mitbestimmung in den Großunternehmen vorankam, so wenig gelang dies der Union mit der Einführung des Mehrheitswahlrechts nach britischem Vorbild für den Bundestag. In den Koalitionsverhandlungen war abgestimmt worden, erstmals bei der übernächsten Bundestagswahl, 1973, das Mehrheitswahlrecht nach einer entsprechenden Wahlrechtsänderung zu praktizieren, 1969 aber eventuell noch nach einem Übergangswahlrecht wählen zu lassen. Hinter dem ganzen Vorhaben stand die Überzeugung, die Eliminierung kleinerer Parteien und die Überwindung von Koalitionszwängen würden zu eindeutigen Regierungsbildungen und Gestaltungsmöglichkeiten führen. Beide Seiten agierten hier freilich nicht mit offenem Visier und begannen sehr bald, auf die FDP als denkbaren künftigen Koalitionspartner zu schielen. Umgekehrt gab es allerdings auch einen Faktor, der den Trend zum Mehrheitswahlrecht beschleunigen konnte, das Erstarken der NPD seit 1966. Ihrer etwaigen parlamentarischen Repräsentanz konnte naturgemäß der Boden entzogen werden, wenn sich nur mehr jeweils der stimmenstärkste Kandidat in einem Wahlkreis durchsetzte und ein Mandat errang. Trotzdem obsiegten endgültig ab 1968 die taktischen Überlegungen gegenüber den grundlegend-normativen: Der SPDBundesvorstand musste sich 1968 in einer INFAS-Studie vorrechnen lassen, „dass die Chancen für einen Machtwechsel an der Regierungsspitze nach der Einführung des Mehrheitswahlrechtes eher kleiner als größer seien.“55 Selbst im CDU-Bundesvorstand wurde konstatiert, dass ein direktes Wahlrecht zu einer mehr oder weniger Nullrepräsentanz der SPD z. B. aus Bayern im Bundestag, bei einer Anpassung des bayerischen Landtagswahlrechts auch im Münchner Maximilianeum, führen müsse – es sei kaum zu erwarten, dass sich die SPD für ein solches Wahlrecht gewinnen lasse. Im Übrigen scheint damals kaum die Frage diskutiert worden zu sein, ob die Wahlrechtsordnungen auf der Ebene der Länder einem geänderten Wahlrecht zum Bundestag folgen sollten. Konstitutiv zwingen konnte man die Länder naturgemäß nicht. Entstanden aber gravierende Divergenzen in den Wahlsystemen mit logischen Konsequenzen für die Repräsentanz der Parteien in den Parlamenten – vor allem Kleinparteien noch in den Landtagen, nicht mehr im Bundestag –, dann mussten sich auf Dauer politische Legitimationsfragen stellen. Der SPD-Parteitag vom März 1968 brachte de facto das Ende der sozialdemokratischen Bereitschaft, in Deutschland ein völlig 55

Schönhoven (Anm. 31), S. 251.

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neues Wahlrecht einzuführen – kurz darauf trat Bundesinnenminister Lücke, der mit einer sogar den eigenen Parteivorstand mitunter enervierenden Verbissenheit diesen Weg verfochten hatte, zurück. Auffallend ist, dass die Union diesen Rückzug ihres Partners aus einem, wenn auch etwas nebulös formulierten Koalitionsziel völlig ungeahndet durchgehen ließ, so als sei ihr selbst das darin liegende, fast revolutionäre Potenzial unheimlich geworden. 7. Die Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse Das klassische Fieberthermometer von Landtagswahlergebnissen als Zwischenresultaten für die politische Performance zeigte für die SPD 1966 bis 1969 fast durchweg ungünstige Werte an, so dass es in ihr zu vielerlei Unruhe kam. Umgekehrt formuliert: Der Kanzlerbonus von Kurt Georg Kiesinger schien die Union nahezu überall nach oben zu tragen. In Niedersachsen legte sie am 4. Juni 1967 um genau vier Prozent von 37,7 Prozent auf 41,7 Prozent zu und erreichte nahezu die SPD mit dort 43,1 Prozent. In Bremen ging die SPD am 1. Oktober 1967 von 54,7 Prozent auf 46,0 Prozent zurück. Auch hier war, wie schon in Schleswig-Holstein am 23. April 1967, die NPD der große Nutznießer mit aus dem Stand 8,8 Prozent. Schon am 23. April 1967 war die SPD in Rheinland-Pfalz von 40,7 Prozent auf 36,8 Prozent abgesunken, die CDU von 44,4 Prozent auf 46,7 Prozent angestiegen, trotz des Einstiegserfolges der NPD mit hier 6,9 Prozent. Zum eigentlichen, auch psychologischen Desaster für die SPD wurde aber die Landtagswahl vom 28. April 1968 in BadenWürttemberg, eineinhalb Monate nach ihrem Nürnberger Parteitag: Hier verloren die Sozialdemokraten glatt über 8 Prozentpunkte und sanken von 37,3 Prozent auf 29,0 Prozent, die Union büßte 2 Prozentpunkte ein, von 46,2 Prozent auf 44,2 Prozent, die NPD erreichte ihren bisheriges Spitzenwert mit 9,8 Prozent. Dieses Wahlergebnis wurde für die Große Koalition, neben dem sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei ein Vierteljahr später, zu einer der tiefen Zäsuren, allerdings nicht insofern, als es in der CDU-Führung zu einer Art Hybris geführt hätte. Die Protokolle der ersten Sitzung des CDU-Vorstandes nach dieser Wahl verraten eher Besorgnis über die Stabilität des eigenen Koalitionspartners. Vor allem aber ging es darum, dass in der SPD Absetz- und Profilierungsbemühungen gegenüber dem Regierungsbündnis forciert wurden.56 56 Die Daten bei Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlen in Deutschland 1946– 1991. Ein Handbuch, München 1991. Vgl. Sitzung des CDU-Vorstandes vom 10. Mai 1968, Protokolle (Anm. 30), Ausführungen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger S. 855: „In Wirklichkeit hat die SPD verloren wegen des gespannten, gespaltenen, unsicheren Bildes, das sie nach außen hin dargestellt hat. Die SPD hat meines Erachtens verloren wegen des Nürnberger Parteitags und was sich dort manifestiert hat, nämlich die Prügel, die die Oberen bezogen haben aus dem jungen Volk der Partei [. . .]. Die Zeiten, in denen die CDU bewundernd auf die geschlossene Disziplin der so straff geführten SPD geschaut hat, sind wirklich vorbei.“

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Der Siegeszug der NPD bei den Landtagswahlen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre hatte offensichtlich mehrere Gründe: Ängste und Sorgen, die sich mit den konjunkturellen Einbußen seit 1965 verbanden, im Segment von Heimatvertriebenen und mehr oder weniger Deutschnationalen die Sorge, es komme in Gestalt einer grundlegend veränderten Ostpolitik zur rechtswirksamen Preisgabe von Ostgebieten und Wiedervereinigungsanspruch, nicht zuletzt „law and order“-Anwandlungen gegenüber den in Gang gekommenen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, von sexuellen Verhaltensmustern und länger werdenden Haaren bis zu den ideologischen Postulaten der 68er, und schließlich eine Phase relativer Geschlossenheit und Schlagkraft früherer Exponenten von Nationalsozialismus und Deutschnationalen, die sich, nach dem Grundsatz „der Erfolg nährt den Erfolg“, wohl in ihrer Biographie ein letztes Mal auf der Erfolgsspur sahen und zumindest zeitweise frühere Fragmentierungen im rechtsextremen Lager überwunden hatten. Im Abstimmungskalender der Republik stand als nächstes wichtiges Datum die Bundespräsidentenwahl vom 5. März 1969. Dabei ging es um zwei Fragen, einmal um die Bestimmung des nächsten Staatsoberhauptes, zum anderen um den Ort der Wahl. Vorausgegangen war jene vom SED-Apparat unter Einschluss der Stasikapazitäten gesteuerte Kampagne gegen den noch amtierenden, gesundheitlich aber immer angeschlageneren Bundespräsidenten Heinrich Lübke: Er habe während des Zweiten Weltkrieges als „KZ-Baumeister“ firmiert. Obwohl die Bonner Regierungsparteien einigermaßen loyal zu Lübke standen, drängte sich doch immer stärker der Eindruck auf, man wolle seine Präsidentschaft, die stetig ungeschickter verwaltet wurde, möglichst bald und ohne Aufhebens zu einem Ende bringen. Aus heutiger Sicht war dieses Ende für die Demokratie der Bundesrepublik schon deswegen alles andere als ein Ruhmesblatt, weil immer größere Teile der veröffentlichten Meinung und der Kulturwelt Hohn und Spott über Lübkes sprachliche Ungeschicklichkeiten ausgossen, ohne zu bedenken, was sie mit derlei wohlfeilen Kampagnen eigentlich anrichteten, und dass in Deutschland schon einmal ein demokratisch legitimiertes Staatsoberhaupt – Friedrich Ebert – Opfer von Kampagnen geworden war, die am Ende nicht nur die Person, sondern auch den Staat beschädigten. Es kam hinzu, dass Magazine wie insbesondere „Der Stern“ unter seinem Chefredakteur Henri Nannen gegen Lübke Material zum Einsatz brachten, das aus Ostberliner Quellen stammte.57 Für die Wahl des jetzt dritten Bundespräsidenten machte die SPD geltend, dass sie nun – nach Theodor Heuss für die FDP und Heinrich Lübke für die

57 Zu den Kampagnen gegen Bundespräsident Lübke Morsey (Anm. 20), S. 508 ff. und, unter Auswertung von DDR-Quellen, Jochen Staadt, Die Lübke-Legende, wie ein Bundespräsident zum „KZ-Baumeister“ wurde – Teil II, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (ZdF), Ausgabe 19/2006, S. 107–124.

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CDU/CSU – einen Anspruch darauf habe, das Amt des Staatsoberhauptes zu besetzen. Schon 1967 hatte die SPD dem Kanzler signalisiert, sie könne sich Bundesverkehrsminister Georg Leber – zuvor an der Spitze der IG Bau-SteineErden, Exponent des rechten Gewerkschaftsflügels und zugleich Aushängeschild der Partei gegenüber der Katholischen Kirche – als einen Konsenskandidaten vorstellen. Für den Fall einer Perpetuierung der Großen Koalition über 1969 hinaus war Leber insbesondere aus der Sicht Herbert Wehners der geeignete Mann. Willy Brandt hingegen favorisierte von Anfang an Bundesjustizminister Gustav Heinemann, dessen Kandidatur allerdings für die Union eine offene Kampfansage darstellen musste. Auch in deren Reihen zirkulierten zwei Namen: der des politisch noch nicht sonderlich profilierten, medial aber gut vermittelbaren Präsidenten des Evangelischen Kirchentages, Richard von Weizsäcker, und der des langjährigen Bundesinnen-, Bundesaußen- und amtierenden Bundesverteidigungsministers Gerhard Schröder, Urgestein der Partei aus der Adenauerzeit. Wie Heinemann nach seiner ganzen biografischen Vorgeschichte als eine Provokation für die Union gelten mochte, galt dies umgekehrt im Verhältnis Schröders zur SPD.58 Das Paradoxe an der ganzen Entwicklung war nun, dass Weizsäcker, dessen Kandidatur im CDU-Vorstand insbesondere von Helmut Kohl mit vielerlei klugen taktischen Argumenten forciert wurde und hinter der auch der Bundeskanzler selbst stand, am Widerstand der CDU/CSU-Bundestagsfraktion scheiterte. Dies vor allem signalisierte, wie zugleich mehrere vorausgegangene Parteitage, einen Autoritätsverlust des Kanzlers im eigenen Lager. Am schlechtesten war es Kiesinger beim CDU-Parteitag vom 4. November 1968 ergangen. Der Kanzler wurde ausgezischt, als er von der Möglichkeit sprach, das Regierungsbündnis könne die anstehende Bundestagswahl 1969 überleben und bis 1973 fortgesetzt werden („Zuruf: Schrecklich!“).59 Trotz der guten Wahlergebnisse in den vorangegangenen Jahren war die Große Koalition im Parteivolk der Union verbraucht; man sehnte sich danach, die Ketten wieder loszuwerden, in denen man sich gefangen wähnte. Insbesondere Franz Josef Strauß drängte nun darauf, von der SPD wieder loszukommen. Vor allem unter derartigen politischpsychologischen und atmosphärischen Bedingungen war Richard von Weizsäcker unionsintern nicht durchzusetzen. Uneinig war man sich in der Union aber auch über die rein taktische Erwägung, welcher ihrer beiden Protagonisten mehr Aussichten besitze, in der Bundesversammlung die Stimmen der FDP zu gewinnen: Weizsäcker als der Exponent einer kommunikativ-liberalen neuen Zeit oder Schröder als Exponent, der dem alten nationalliberalen Lager in der 58 Zur personalpolitischen Vorgeschichte der Bundespräsidentenwahl 1969 Schönhoven (Anm. 31), S. 429 ff.; Gassert (Anm. 25), S. 681 ff.; Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 44 ff. 59 Zu Kiesingers Misserfolg auf dem Berliner Parteitag vom 4. November 1968 Gassert (Anm. 25), S. 683.

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FDP näher zu stehen schien und ihr als Minister aus langen Koalitionszeiten vertraut war. Die Rechnung, letztlich mit Schröder mehr FDP-Stimmen zu gewinnen, konnte dann aber unter anderem auch deshalb nicht aufgehen, weil in der Union der zwischenzeitlich eingetretene, wenn auch noch keineswegs verlässliche Schwenk der Mehrheit der Partei in das linksliberale Lager offenkundig noch nicht recht wahrgenommen worden war. Durch die Festlegung auf Gerhard Schröder verbaute sich die Union im Übrigen die Aussicht auf eine Kompromisskandidatur nach dem ersten Wahlgang, sofern sich – womit man getrost rechnen konnte – zunächst keine ausreichende Mehrheit für einen Kandidaten ergeben sollte. Der Bundeskanzler hatte der sowjetischen Seite signalisiert, die Durchführung der Bundesversammlung in Berlin stelle für ihn durchaus kein Dogma dar – es müsse allerdings wirklich substantielle Erleichterungen für die Westberliner geben, also eben nicht nur die avisierten Passierscheine für Ostern 1969, sondern eine langfristige Regelung für den Besuch des Ostsektors der Stadt. Das nun folgende hektische Tauziehen schien am Ende zum Erfolg für die westdeutsche Seite zu werden, als die sowjetische Botschaft dem Bundeskanzler vertraulich ein Einlenken auf die Linie der Bundesregierung signalisierte. Walter Ulbricht wohl selbst verhinderte einen derartigen Kompromiss, als er öffentlich erklärte: „Aber auf solche schlechten Geschäfte geht in der DDR doch kein vernünftiger Mensch ein. Wir haben unsere Bereitschaft erklärt, Verwandtenbesuche aus Westberlin in der Hauptstadt der DDR für Ostern 1969 zu genehmigen, wenn die Bonner Regierung ihre Bundesversammlung auf westdeutschem Boden durchführt. Als die Bonner Regierung das erfuhr, hat sie sofort die höchsten Forderungen gestellt.“60 Bei einer abschließenden nächtlichen Krisensitzung vom 2. auf den 3. März 1969 kam es zum Dissens zwischen Kiesinger und Wehner. Der Kanzler bestand nun auf der Durchführung der Bundesversammlung in Berlin, der Minister für Gesamtdeutsche Fragen war jetzt auch bei sehr geringen, zeitlich gebundenen Konzessionen zum Verzicht auf diesen Veranstaltungsort bereit. Dieser Dissens aber wirkte über den Tag hinaus wie eine Art Lackmustest, der deutlich machte, dass die Partner nun ostpolitisch klar getrennte Wege gingen. Nicht nur die Wahl Gustav Heinemanns im schließlich dritten Wahlgang, von letzterem mit dem bekannten Wort von einem „Stück Machtwechsel“ etikettiert, verdeutlichte, dass die Regierungspartner jetzt antagonistische Positionen gegeneinander aufbauten. Die erste Große Koalition auf der Gesamtstaatsebene endete politisch mit der Bundestagswahl vom 28. September 1969 und formal mit der Wahl Willy Brandts zum vierten Bundeskanzler an der Spitze einer jetzt sozialliberalen klei60

Zit. nach Gassert (Anm. 25), S. 695.

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nen Koalition am 21. Oktober 1969. Auf geradezu idealtypische Weise zeigt das Resultat dieser Tage, dass Entwicklungen auf einen bestimmten, sich mehr und mehr abzeichnenden Punkt zulaufen und doch am Ende situative Faktoren zu ganz anderen Resultaten hätten führen können: Die Bahn zur sozialliberalen Koalition war mit der Bundespräsidentenwahl vom 5. März 1969 geebnet, auch wenn der Bundeskanzler selbst sich an erster Stelle dieser Erkenntnis verschloss. Bei der abschließenden Fernsehdiskussion der Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien, drei Tage vor der Bundestagswahl, zeichnete sich schon klar ab, wer mit wem gehen wollte, wenn es denn gehe. Brandt sprach sich für Scheel und seine FDP aus. Aber das Diktat der Zahlen hätte zu einem ganz anderen Resultat führen können. Dazu hätte es nur eines von drei Faktoren bedurft: Hätte die NPD nur 0,7 Prozent mehr erreicht, wäre sie in Fraktionsstärke im Bundestag erschienen und die Akteure hätten sich zu einer neuen Großen Koalition zusammenfinden müssen. Es hätte sich ein Lagebild ergeben wie bei einem Ehepaar, das bereits die Scheidung beschlossen hat und nun durch äußere Umstände wider Willen gezwungen wird, die Verbindung doch aufrechtzuerhalten. Hätte die FDP nur 0,8 Prozent-Punkte weniger erreicht – mit 5,8 Prozent schnitt sie so schlecht ab wie nie bei einer anderen Bundestagswahl in der Nachkriegszeit –, dann wäre der Effekt der angestrebten, 1968 dann doch gescheiterten Wahlrechtsreform eingetreten: Die um ein Geringes stärkere Fraktion, die der CDU/CSU, hätte eine Alleinregierung bilden können. Und die dritte, am Wahlabend bis circa 21 Uhr realistisch anmutende Variante wäre eine, wenn auch sehr knappe Mehrheit an Mandaten für die Unionsparteien gegen SPD und FDP gewesen. Dann hätte sich die Frage einer Koalitionsbildung auch gar nicht mehr gestellt. Es kam aber umgekehrt. Es war zwar knapp, aber doch ausreichend für eine sozialliberale Koalition – und darum für das von Willy Brandt seit langem favorisierte, von Herbert Wehner, wenn schon nicht abgelehnte, so doch eher zurückhaltend beurteilte Modell, dessen Verwirklichung er nun aber mittrug.61 Der Wahlkampf hatte zuvor an Profil und Stärke durch eine gesteigerte Intensität bei der Auseinandersetzung über mehrere Schlüsselthemen gewonnen, über die die Koalitionspartner sich geradezu mustergültig zerstritten. Es war, als suche man wie bei zwei mittelalterlichen Heeren, die Kampfplatz und 61 Die bemerkenswert schnellen Abläufe schon in der Wahlnacht, als Willy Brandt sich initiativ zeigte, bei Baring (Anm. 58), S. 174 ff. und Merseburger (Anm. 22), S. 575. Kiesinger wirkte in den entscheidenden oder vielleicht schon gar nicht mehr entscheidenden Stunden des späten Wahlabends trotz aller Appelle des im Kanzlerbungalow anwesenden Helmut Kohl, es doch nun schnell und glaubwürdig mit der FDP zu versuchen, wie paralysiert. Er gab zwar Kohls Angebot, zu Hans-Dietrich Genscher Kontakt aufzunehmen, nach, überwand sich aber nicht dazu, in dieser kritischen Stunde eine wirklich große Geste zu zeigen.

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Kampfzeit miteinander vereinbaren, nach Konfrontationsagenden. Eine eigentliche Auseinandersetzung über Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik fand kaum statt, ebenso wenig über die Studentenproteste, das Phänomen der 68er und die Frage einer so genannten gesellschaftlichen Demokratisierung. In der kulturhistorischen Rückschau mag das alles eine Rolle spielen, tatsächlich aber verhielt es sich im Sommer 1969 deutlich anders. Die Themen waren – auf neudeutsch handelte es sich um „agenda setting“ – die Frage des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zu Kambodscha, die Frage der Unterzeichnung des Kernwaffensperrvertrages und die Frage einer Aufwertung der D-Mark angesichts immer deutlicher steigender Exportüberschüsse der deutschen Volkswirtschaft. Bemerkenswert ist an dieser Reihung zunächst, dass es sich fast ausschließlich um außenpolitische bzw. außenhandelspolitische Fragen handelt. Diesen von beiden Seiten geradezu kunstvoll inszenierten Sollbruchstellen steht jene bemerkenswerte Liste an innenpolitischen, insbesondere sozialpolitischen Projekten gegenüber, die in den zurückliegenden Jahren einvernehmlich verabschiedet worden waren: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitsförderungsgesetz, Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög), Stabilitätsgesetz, Anfänge der Strafreform und Reform der Finanzverfassung im Bundesstaat.62 Bemerkenswert ist, in der Bilanz, der hohe Konsens bei Gesetzgebungsprojekten im gesellschaftspolitischen Bereich – nur die sozusagen an den Extremen der Koalitionspartner angesiedelten Vorhaben „Notstandsverfassung“, von der SPD überwiegend nur hingenommen, und „paritätische Mitbestimmung“, von der Union mit Ausnahme ihres Gewerkschaftslagers habituell abgelehnt, entsprachen nicht dem von CDU/CSU und SPD weitgehend gemeinsam getragenen mainstream eines deutlich sozialpolitisch abgefederten, in hohem Maße korporatistischen Kapitalismus. Oder anders formuliert: Der so genannte „Rheinische Kapitalismus“ fand wohl nie in der Geschichte der Bundesrepublik ein solches Maß an Akzeptanz und Übersetzung in politische Projekte wie in den knapp drei Jahren der ersten Großen Koalition auf Gesamtstaatsebene nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Sollbruchstellen waren somit andere: Nach der Anerkennung Kambodschas durch die DDR stellte sich die Frage, ob und in welchem Maße die sog. Hallstein-Doktrin – noch einmal – praktiziert werden solle. Kambodscha war kein Objekt von Rang für die deutsche Politik. Der Bundeskanzler selbst hatte bei einem Asienbesuch im Jahr 1967 insbesondere in Indien die Zusage erhalten, dass dieses in der internationalen Politik ungleich wichtigere Land die DDR nicht anerkennen werde, sofern nicht geänderte Umstände einträten. Hinter der Kambodschafrage ging es somit um ganz anderes: um die Frage der Anerken62 Diese eindrucksvolle Zusammenschau der innenpolitischen Reformmaßnahmen bei Gassert (Anm. 25) S. 712. Hinzuzunehmen wäre noch die Notstandsverfassung.

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nung der Oder-Neiße-Linie und der Akzeptanz des Staatsbegriffes für die DDR, somit also grundsätzlich um die zumindest politische Hinnahme der europäischen Nachkriegstopographie. Im konkreten Fall wurde Anfang Juni 1969 entschieden, dass die Beziehungen zu Kambodscha nicht abgebrochen, wohl aber eingefroren wurden. Ähnlich wie bei der Frage, ob die Bundesversammlung am 5. März 1969 in Berlin stattfinden solle, fand ein erbittertes Tauziehen zwischen dem Bundeskanzler auf der einen Seite, Willy Brandt und Herbert Wehner auf der anderen statt. Brandt und Wehner wussten, dass sie bei der Frage einer Akzeptanz der europäischen Nachkriegsrealitäten zunehmend eine Mehrheit in Westdeutschland hinter sich hatten, insbesondere in den meinungsbildenden Bereichen von Kirchen, Medien, Sozialwissenschaften, bei Lehrerschaft, Studenten und Oberschülern sowieso. Kiesinger aber konnte, wenn er auch mit dem Staatsbegriff für die DDR verbal spielte, letztlich soweit nicht gehen. Ihm wäre die gesamte deutschlandpolitische Traditionspflege des Unionslagers abhanden gekommen. In der Frage der Unterzeichnung des Kernwaffensperrvertrages wurde die Konfrontation zwischen beiden Lagern im Laufe der letzten Monate vor der Bundestagswahl immer härter. Insbesondere Franz Josef Strauß verstand eine Bereitschaft zur Unterzeichnung als endgültige Hinnahme der Zweitrangigkeit deutscher Staatlichkeit und auch als eine wesentliche Zäsur gegenüber den Traditionen des von Konrad Adenauer und von ihm selbst als Atom- und Bundesverteidigungsminister in den 50er und frühen 60er Jahren vertretenen Kurses.63 Für Willy Brandt hingegen schuf eine Unterzeichnung die Voraussetzung für ein Manövrieren deutscher Außenpolitik in einem viel freieren Raum als bislang. Auch wenn der Begriff damals wohl noch nicht praktiziert wurde, eignet dieser Position des Vertrauens auf spezifisch zivile Aktionsmöglichkeiten in der internationalen Politik die Bezeichnung einer „soft-power“, die, da militärisch minder bedrohlich, besonderes Vertrauenskapital für sich in Anspruch nehmen könne. In der Aufwertungsfrage schließlich standen einander Prestigepolitik und ordnungspolitisch reine Lehre gegenüber – und das Fatale für die Union war, dass letztere Position vom sozialdemokratischen Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller im Sommer 1969 eingenommen wurde. Zunächst hatten sich Finanzminister Strauß und Schiller gemeinsam gegen eine Aufwertung der D-Mark vor dem Hintergrund wachsender westdeutscher Exportüberschüsse gesträubt. So kam es im November 1968 zum Beschluss des Bundeskabinetts, zur außenhandelspolitischen Dämpfung auf Exporte eine vierprozentige Sonderabgabe

63 Vgl. bei Bruno Thoß, Nato-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952–1960, München 2006, das Kap. Zweiter Teil, III/5 „Atomwaffen in deutscher Hand?“, S. 482 ff.

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und eine ebenso hohe Steuervergünstigung auf Importe einzuführen.64 Auf Dauer ließ sich aber mit solchen Ersatzkuren der Zustrom von spekulativem Kapital nicht bremsen. Stützungskäufe der Bundesbank genügten immer weniger, um einen Fall von Pfund und Franc zu verhindern und dem schwachen Dollar aufzuhelfen. Inhaltlich änderte Schiller seine Position etwa an der Jahreswende 1968/69: Für eine Aufwertung sprachen die mit ihr verbundene Eindämmung der Inflationsgefahr und der vollständige oder doch weitgehende Wegfall des Zwangs für die Bundesbank, durch Stützungskäufe die Paritäten der Fremdwährungen zu verteidigen. Gegen eine Aufwertung sprach vor allem, dass sie wenigstens tendenziell konjunkturdämpfend wirken musste. Wie bei der Entscheidung über den Kernwaffensperrvertrag setzte sich auch hier die Union gegen innen- und außenpolitische Widerstände insofern – negativ – durch, als es nicht zu dem von der Gegenseite verlangten Schritt kam, sondern zu einem verbissenen Verteidigen stetig mehr unter Druck geratender Positionen. In beiden Fällen handelte es sich dann um Maßnahmen, die die neue sozialliberale Regierung – positiv – sehr schnell traf. Allerdings führte gerade die Auseinandersetzung über eine Aufwertung der D-Mark trotz der Heftigkeit, mit der sie insbesondere von Franz Josef Strauß und Karl Schiller geführt wurde, nicht zum Bruch der Koalition. Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass Aufwertungen gerade auch von Gewerkschafts- und Arbeitnehmerseite immer sehr kritisch gesehen wurden und vor allem aber Schiller selbst zunehmend auch für die sozialdemokratische Bank der Bundesregierung zum Problem wurde. Schiller war zweifellos eitel und trat gerne professoral-belehrend auf. Zugleich aber wurde er 1969 zur unverzichtbaren Wahllokomotive in jenen Bereichen von Mittelstand und Angestellten, die nicht zu den sozialdemokratischen Traditionsmilieus gehörten, für eine neue Mehrheit aber unverzichtbar waren. Es war insofern auch die Person Schiller selbst, die lange verhinderte, dass Brandt offiziell zum Kanzlerkandidaten der SPD proklamiert wurde. „Bereits unmittelbar nach der Präsidiumssitzung [vom 6. März 1969] tauchten in der Presse Spekulationen auf, in der SPD würden Überlegungen angestellt, nicht mit Brandt, sondern mit Schiller als Kanzlerkandidaten in den Wahlkampf zu ziehen. Der wortgewandte Wirtschaftsminister habe bei Meinungsumfragen ähnlich hohe Popularitätswerte wie Bundeskanzler Kiesinger erzielt und er werde von den Wählern als Repräsentant einer modernen SPD wahrgenommen, während Brandt eher die traditionelle Partei verkörpere“.65 Am Ende wurde Brandt gerade aber deshalb als künftiger Bundeskanzler nominiert. Der Begriff „Kanzlerkandidat“ wurde dabei allerdings nach den für die SPD negativen Erfahrungen von 1965 bewusst vermieden. Aber Schiller war erkennbar zugleich die nicht hinter, sondern neben Brandt stehende, zweite 64 65

Vgl. Schönhoven (Anm. 31), S. 476. Ebd., S. 595.

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Figur, welche mit einer Art „Sonderwahlkampf“ in andere als klassisch-sozialdemokratische Milieus hineinzuwirken hatte. Für die Union war genau dies gefährlich, denn Kiesinger selbst blieb bis zum Wahltag, was das reine Personenduell anbelangt, mit einem deutlichen Vorsprung gegenüber Willy Brandt ausgestattet, hatte es nun aber mit einem weiteren Akteur zu tun. Auch wenn viele der von der Regierung Kiesinger verabschiedeten Maßnahmen langfristig problematische Wirkungen entfaltet haben mögen, bleibt doch der Befund, dass die knapp drei Jahre von 1966 bis 1969 eine Zeit spannender Entscheidungen und Prozesse in fast allen Politikbereichen waren. Und auch da, wo ihr Übergangscharakter hervorsticht, wie insbesondere im Bereich der Deutschland- und Ostpolitik, bedeutet dies eben keineswegs, dass es sich um eine politisch mediokre Zeit gehandelt habe. Insofern handelte es sich tendenziell auch eher um ein Regierungsbündnis von historischer Tiefendimension, nicht von situativem Zufallscharakter, mögen die Jahre von 1966 bis 1969 auch ohne die Dramatik von Kriegszeiten und existentiellen Herausforderungen regiert worden sein. Und zugleich lässt sich mit gutem Grund die These vertreten, dass gerade Übergangsphasen von besonderem gestalterischem und kommunikativem Reiz sind. Umso mehr mag es verwundern, dass die Akteure von damals in der Retrospektive diese Zeit vielfach als eine Phase politischer Armut bzw. nur eines Notbehelfs abbuchen. Das Moment des habituell Abgelehnten, vielleicht sogar Kontaminierten, das Großen Koalitionen in Deutschland, zumindest auf der Gesamtstaatsebene, wenigstens lange attestiert wurde, verbindet sich mit solchen Betrachtungsweisen a posteriori, die zumindest einer Differenzierung, de facto sogar einer Korrektur bedürften.66 8. Die großkoalitionäre Landschaft im Deutschland der Gegenwart Große Koalitionen sind im wiedervereinigten Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts gar keine so rare Spezies. Gegenwärtig – Anfang 2007 – amtierten Große Koalitionen auch im weiteren Sinn auf Länderebene in Bremen, Schles66 Gewiss ist das Schlussurteil von Günter Diehl als Zeitzeuge und Mitakteur der zweiten Ebene euphemistisch überhöht, zumal es die langfristigen negativen Konsequenzen von strukturpolitischen Entwicklungen in der Zeit der Großen Koalition Kiesinger ausblendet. Trotzdem verdient es als eine Betrachtungsweise mit Ehrenrettungscharakter Erwähnung. Diehl (Anm. 34), S. 404 f.: „Die Regierung der Großen Koalition hat Probleme gelöst und Krisen gemeistert, die zu der Meinung verführen könnten, eine Große Koalition sei die Antwort auf große Herausforderungen. Die Koalition hat tatsächlich keinen gravierenden außenpolitischen und sicherheitspolitischen Fehler gemacht. Auch in der Innenpolitik kann man ihr gute Noten geben. Ihre Wirtschaftspolitik war beispielhaft und höchst erfolgreich. Die Große Koalition hat nicht lange genug gedauert, um den ihr zukommenden Platz im Gedächtnis der Deutschen zu bewahren.“

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wig-Holstein, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Diese Verteilung zeigt schon, dass dieses Muster eher in den neuen Ländern Anwendung findet – dort in vier von fünf, in Westdeutschland in zwei von elf. Hinzu kommt, dass, nimmt man allein quantitative Faktoren, auch Berlin Regierungsbündnisse mit jeweils zwei starken Partnern hatte bzw. hat, also nicht nach dem über lange Zeitstrecken in der alten Bundesrepublik zumeist geltenden Muster, ein großer und ein kleiner (FDP, ab den 80er Jahren Grüne) Partner gegen eine starke Oppositionspartei: In Berlin rangiert die PDS respektive Linkspartei (wie zuvor auch in Mecklenburg-Vorpommern im Bündnis mit der SPD) auf dem Niveau einer starken Mittelpartei. Nach den Wahlen vom 18. September 2006 zeigte sich dieser spezifische Typus Koalition – ein Großer und ein Mittelgroßer – jeweils weiterhin prinzipiell bestandsfähig, aber in Richtung „Normalkoalition“ reduziert: in Berlin durch starke Einbrüche des kleineren Partners Linkspartei respektive PDS, in Schwerin durch deutliche Rückgänge der SPD. Im nordöstlichen Land der Republik, durch besondere Strukturschwächen wie NPD-Vernetzungen auf dem flachen Land sozioökonomisch und politisch-kulturell weit überdurchschnittlich angeschlagen, wurde danach eine „echte“ Große Koalition aus SPD und CDU gebildet, mit in der Summe gut 60 Prozent der Stimmen allerdings nicht (mehr) allzu groß. Für Sachsen und Brandenburg ergibt sich ein quantitativ ähnliches Bild: Hier koalieren jeweils die stärkste und die drittstärkste Partei im Landtag miteinander, in Dresden CDU und SPD, in Potsdam SPD und CDU, während die PDS respektive „Die Linke“ dort jeweils die zweite Stelle einnimmt. Von „Großer Koalition“ kann in diesen ostdeutschen Fällen also nur insofern gesprochen werden, als die beiden klassischen großen parteipolitischen Vertretungen der Milieus von linker und rechter Mitte, wie sie sich auf nationaler Ebene im Verlauf der Nachkriegsgeschichte herausgebildet haben, dort im Bündnis miteinander stehen. Die Stärke der PDS bzw. der „Linken“, die mit ihr verbundene relative Schwäche von CDU und SPD, dazu auch das wiederholte Auftreten rechtsextremistischer Parteien, NPD und DVU, in den Landtagen, ferner die insgesamt weiterhin unterdurchschnittliche Repräsentanz von FDP und Grünen als gewissermaßen geborenen „kleinen“ Koalitionspartnern und die anhaltend hohe Volatilität der Wählerschaft, all diese Faktoren haben in Ostdeutschland dazu geführt, dass die beiden in der Tradition der „alten“ Bundesrepublik Großen die hier relativ Kleinen sind und mehr als in Westdeutschland Regierungsbündnisse mit Partnern in ähnlicher Größenordnung eingehen müssen. Die seit langem in Bremen regierende Große Koalition von SPD und CDU verdankte ihre Existenz offenkundig nicht nur dem Zwang arithmetischer Bedingungen, sondern vor allem dem überparteilichen Existenzinteresse des kleinsten deutschen Landes, als Stadtstaat und damit Land zu überleben. Die Abstützung dieses „Abwehrkampfes“ auf eine breite parteipolitische Grundlage schien stra-

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tegisch sinnvoll, verhinderte aber nach dem Ausscheiden des als eine Art Stadtpräsident fast schon parteiübergreifend integrierenden Bürgermeisters Henning Scherf im Jahr 2005 nicht, dass ein Ende des Bündnisses von SPD und CDU an der Weser allmählich wieder vorstellbar schien und hier dann im Frühjahr 2007 ein rot-grüner Senat installiert wurde. Die Koalition Ministerpräsident Carstensen (CDU)/Innenminister Stegner (SPD) wurde in Kiel im Jahr 2005 nur deshalb kreiert, weil ein Bündnis von SPD, Grünen und SSW (Südschleswigscher Wählerverband) zwar vereinbart, aber parlamentarisch nicht bestätigt wurde. Da in der Tradition des Landes seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts SPD und CDU in einem überdurchschnittlich konfrontativen Verhältnis zueinander stehen, ideologisch aufgeladen durch eine deutlich besitzbürgerliche, in ihrer Tradition nationale CDU und eine in Teilen klassisch-sozialistische SPD, scheint die konsensuale Basis für diese Verbindung eher schwach ausgeprägt, und es spricht viel dafür, dass diese Koalition entweder bei der nächsten regulären Landtagswahl, wenn die Daten dies nur irgend erlauben, abgelöst wird oder auch während der laufenden Legislaturperiode Neuwahlen herbeigeführt werden. 9. Der Beginn der Regierung Merkel/Müntefering In der Ausgangskonstellation gibt es mancherlei Parallelen zwischen der Entstehung der derzeitigen Schleswig-Holsteinischen Landesregierung und der mit der Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin am 22. November 2005 begründeten neuen Bundesregierung: Beide wurden „nur“ deshalb realisiert, weil andere, arithmetisch denkbare Regierungsbündnisse ohne hinreichende Kohärenz geblieben wären bzw. eine Realisierung – „Fall“ Schleswig-Holstein – scheiterte oder weil dies, wie in Berlin, nach diversen Sondierungen gar nicht erst ernsthaft versucht wurde: Dabei hatte es in Berlin an sich zwei Optionen gegeben: die so genannte Jamaika-Verbindung aus Union, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sowie eine Kombination aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Eine Einbeziehung der „Linkspartei“ wurde zum damaligen Zeitpunkt zwar von wenigen Strategen auf dem linken SPD-Flügel erwogen. Sie schied aber schon aus emotionalen bzw. politisch-„hygienischen“ Gründen aus: Denn sie hätte vorausgesetzt, dass die SPD sich unter das kaudinische Joch ihres ehemaligen Vorsitzenden und 1998/99 zeitweiligen Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine begeben hätte. Lafontaine aber hatte den in der Parteigeschichte seit ihren Anfängen unter Wilhelm Liebknecht und August Bebel einmaligen Schritt getan, alle Loyalitäten zu kündigen, eine antagonistische Position zum Regierungschef und nach ihm zeitweiligen Parteivorsitzenden Gerhard Schröder wie zu dessen Nachfolger Franz Müntefering einzunehmen und schließlich bei der Kandidatur für den Bundestag auf den Listen von PDS und WASG eine Erklärung abzugeben, die durchaus an die Grotewohl-Bekenntnisse bei der Fusion

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von SPD und KPD im April 1946 erinnerte. Es gehe, so der Tenor, um eine Überwindung jener historischen Spaltung, unter der die deutsche Arbeiterbewegung bzw. Linke seit den Anfängen der Weimarer Republik leide. Gerade der in diesem Zusammenhang geäußerte Respekt vor dem früheren hohen SED-Funktionär und letzten nicht demokratisch legitimierten DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow macht deutlich, wie weit bei Oskar Lafontaine der Prozess einer Preisgabe antitotalitärer, freiheitlich-sozialdemokratischer Grundlagen gediehen war. Die FDP, die sich konsequent als ordoliberales Additiv der Union verstand und für letztere eindeutige Koalitionszusagen gegeben hatte, zugleich aber von ihrem Einzug in das Kabinett Adenauer 1961 an gerne als „Umfallerpartei“ apostrophiert wurde (die FDP hatte zunächst apodiktisch eine weitere Kanzlerschaft Konrad Adenauers abgelehnt, sie dann aber doch für zwei Jahre akzeptiert), war außerstande, sich jetzt mit der SPD zu verbinden. Ein analoges Lagebild galt für Bündnis 90/Die Grünen im Blick auf gemeinsame Plätze am Kabinettstisch mit der Union. Gewiss hat es seit längerem insbesondere in so genannten „postmateriellen“ Milieus Annäherungen zwischen Union und Grünen gegeben, vor allem in einer Reihe von Großstädten wie zuletzt auf kommunaler Basis ein Bündnis in Frankfurt am Main und auf Landesebene mit tastenden, freilich nicht positiv abgeschlossenen Versuchen in Baden-Württemberg. Als gemeinsame Nenner einer derartigen Verbindung wurden Wertekonservativismus, Vertrauen auf die Effizienz basisnaher, subsidiärer Einheiten gegenüber breit angelegten korporatistisch-etatistischen Strukturen und ein, wenn auch sehr verschieden definiertes Freiheitsdenken in Anspruch genommen. Allerdings wagten beide Seiten nicht, über diese ideologisch sehr anspruchsvolle und ihren jeweiligen Milieus schwer vermittelbare Brücke zu gehen. Plausibler und näher liegend erschien da im Ergebnis schon ein Zusammengehen der beiden Großen. Sie wussten bzw. ahnten aus vielerlei komplexen Abstimmungsprozessen im Bundesstaat, zwischen unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, ferner aus langjähriger Kommunikation über Verbändestrukturen mit großen, reflexartig aufeinander eingespielten Apparaten, was sie voneinander zu halten hatten und haben. Ob damit, aus der späteren historischen Retrospektive, der zunächst leichtere, aber vergleichbar unkreative und weniger innovative Weg beschritten wurde, lässt sich derzeit noch nicht übersehen; dies ist einstweilen erst einmal als Hypothese zu formulieren. Zunächst hatte die SPD, vertreten durch einen sich bereits am Abend des Wahltages, des 18. Septembers, im Fernsehen medial überoffensiv präsentierenden Bundeskanzler, die Position formuliert, selbst bei einem marginal ungünstigeren Ergebnis als dem der Union komme ihr, insbesondere angesichts der für sie so schwierigen Ausgangsbedingungen, weiterhin das Amt des Regierungschefs zu. Zwar setzte die Union dann ihren Anspruch auf diese Funktion durch, aber es spricht doch viel dafür, dass sie für diese eher selbstverständliche Fest-

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legung an Ämtern und programmatischen Festlegungen schließlich mehr zahlte als adäquat gewesen wäre. Insofern ging möglicherweise ein letztes innenpolitisches Kalkül von Gerhard Schröder auf. Die Formierung dieser zweiten Großen Koalition auf Gesamtstaatsebene in der deutschen Nachkriegsgeschichte unterschied sich in vielfacher Hinsicht von der der ersten: Die Regierungsbildung vollzog sich diesmal zu Beginn der Legislaturperiode. Es wurde, wie mittlerweile in Deutschland bei Parteibündnissen üblich, am 11. November 2005 ein ausführlicher Koalitionsvertrag mit zahlreichen Anlagen geschlossen. Sein enzyklopädischer Ansatz macht es schwer, Prioritäten ausfindig zu machen. Fast genau auf den Tag einen Monat zuvor, und damit gut drei Wochen nach der Bundestagswahl, war die „Grundsatzentscheidung für eine Große Koalition mit Angela Merkel als Kanzlerin“67 gefallen. Die Kernverhandlungen wurden nunmehr von den drei Parteivorsitzenden Angela Merkel, Edmund Stoiber und Franz Müntefering sowie dem noch amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder geführt, obwohl bereits absehbar war, dass letzterer nach der Installierung seiner Nachfolgerin aus der aktiven Politik ausschiede. Aber es ging ihm offenkundig darum, durch physische und kommunikative Präsenz die schließlich nicht zu verhindernde zentrale Konzession der SPD – den Übergang der Kanzlerschaft an die Union – in möglichst hohem Maße inhaltlich-konzeptionell zu konterkarieren. Schröder behauptet heute, dies sei ihm auch sehr weitgehend gelungen. „Herausgekommen ist ein gemäßigt sozialdemokratisches Programm [. . .]. So ist es doch eine sozialdemokratische Ära geworden, die wir 1998 eingeleitet haben.“68 Freilich kann erst die Zukunft erweisen, ob dies für Politikagenden und Politikvollzug der Regierung Merkel/Müntefering tatsächlich zutrifft, oder ob hier nicht eine Mischung von Nostalgie nach dem Amtsverlust, Interesse, die Nachfolger zu verunsichern, und Überbetonung der eigenen Rolle die Feder führte. Darüber hinaus stellt sich die grundsätzliche Frage, ob heute programmatische Grundierungen von Regierungspolitik über ein Jahrzehnt grundsätzlich möglich sind. So hätte Schröder bei seinem Amtsantritt 1998 eine Agenda 2010 gewiss weit von sich gewiesen. Im zeitlichen Ablauf wurde zunächst die Verteilung der Ressorts auf die drei Parteien CDU, CSU und SPD bestimmt, sodann erst in der Sache verhandelt. Vordergründige Kritik sah darin die Priorität von Postenschacher. Umgekehrt kann man aber auch die These vertreten, dass nach geschaffener Klarheit in den exekutiven Spitzen um so funktionaler über Sachbereiche gesprochen werden konnte. Allerdings war von Anfang an auffallend, wie komplex dieser Prozess 67 Roland Sturm, Übergang oder Aufbruch? Die Perspektiven des neuen Regierungsbündnisses, in: Eckhard Jesse/Roland Sturm (Koordination), Bilanz der Bundestagswahl 2005. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 2006, S. 323–341, hier S. 328. 68 Gerhard Schröder, Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2006, S. 505.

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organisiert wurde: Neben der Gesprächsrunde der „Großen Vier“ agierte eine Steuerungsgruppe aus CDU-Generalsekretär Volker Kauder, dem Leiter der Bayerischen Staatskanzlei Erwin Huber, dem SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel und dem Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion Olaf Scholz. Und darunter verhandelten 17 Arbeitsgruppen, 14 bezogen auf die Zuständigkeiten der Bundesministerien, drei mit den weiteren Aufgaben Kulturpolitik, Aufbau Ost und Reform des Föderalismus.69 Dieser Prozess war so umfassend organisiert, dass er, insbesondere auf Unionsseite, weit in die Landeskabinette hineinragte und über Wochen die Terminkalender vieler Landesminister bestimmte. Als so etwas wie ein großer Runder Tisch agierte schließlich eine Verhandlungsrunde von etwa 20 Personen, insbesondere unter Einschluss einer Reihe von Ministerpräsidenten der Union wie der SPD. 10. Personale Konstellationen der neuen Großen Koalition Eine Dramatisierung des Initiationsprozesses für die neue Große Koalition ergab sich durch den Rücktritt Franz Münteferings vom Amt des SPD-Vorsitzenden, nachdem es ihm im Parteivorstand nicht gelungen war, seinen Kandidaten Kajo Wasserhövel als Generalsekretär gegen ein Netzwerk der parteiinternen Linken durchzubringen. Müntefering blieb aber als Arbeits- und Sozialminister wie Vizekanzler in der neuen Regierung und konnte augenscheinlich seine Position SPD-intern wieder stabilisieren. Sein Nachfolger Matthias Platzeck, Ministerpräsident in Brandenburg, musste, physisch und mental augenscheinlich erschöpft, nach wenigen Monaten im Frühjahr 2006 dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck Platz machen. Beck, der sowohl populistisch nach links als auch mit patriarchalischem Habitus ins bürgerliche Lager zu integrieren versteht und dabei gewiss mehr Managementkompetenzen besitzt als vielfach vermutet, ließ schon sehr bald erkennen, dass er sich sowohl als Garant der Koalition bis zur nächsten Bundestagswahl wie als potentieller Herausforderer der Bundeskanzlerin für den nächsten Urnengang sieht. Damit zeichnet sich zugleich ab, dass, anders als nach der ersten Großen Koalition 1969, die Auseinandersetzung um das Kanzleramt nicht zwischen bisherigem Inhaber respektive Inhaberin und Vizekanzler im Kabinett, sondern zwischen der Berliner Regierungsspitze und einem Länderministerpräsidenten als Herausforderer geführt werden könnte – und damit nach der seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik gängigen Regel. Sowohl die Regierungserklärung als auch der Koalitionsvertrag (erster Satz: „Deutschland steht vor großen Herausforderungen“) enthalten nicht eine Art Schuld- bzw. Versäumniseingeständnis, wie es die Union im Falle der Regierungserklärung von Bundeskanzler Kiesinger 1966 (s. o.) hatte eingehen müssen. Jetzt ist nur von themenbezogenen Herausforde69

Vgl. Sturm (Anm. 67), S. 331.

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rungen, ohne Rekurs auf Vorgeschichte und Vorverantwortlichkeiten, die Rede.70 Hatte die Große Koalition von 1966 in Gestalt des „Kressbonner Kreises“ erst nach einem Zeitverzug von einem knappen Jahr zu einem Führungsorgan gefunden, so wurde diesmal gleich zu Beginn ein Koalitionsausschuss installiert.71 Ihm gehören Kanzlerin, Vizekanzler, die beiden Fraktionsvorsitzenden, bei der Union auch der erste stellvertretende Fraktionsvorsitzende, damit Landesgruppenvorsitzender der CSU, und die Parteivorsitzenden an. Konkret sind dies derzeit die Bundeskanzlerin und in Personalunion CDU-Vorsitzende Angela Merkel, der CSU-Vorsitzende und Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (aller Wahrscheinlichkeit nach bis zu seinem Ausscheiden als CSU-Vorsitzender Ende September 2007), der Vorsitzende der Unionsfraktion Volker Kauder und sein erster Stellvertreter Peter Ramsauer (CSU), für die SPD Vizekanzler Franz Müntefering, Parteivorsitzender und rheinland-pfälzischer Ministerpräsident Kurt Beck und Fraktionsvorsitzender Peter Struck. Nach seiner „Papierform“ ist dieses Gremium zweifellos die zentrale Arbeitsagentur des gesamten Regierungsbündnisses. Freilich muss die Praxis zeigen, ob es zum einen diese Rolle auch tatsächlich so ausfüllen wird, in welchem Maße – diese Diskussion wurde im Herbst 2005 lebhaft geführt – dadurch die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin tangiert ist und wie sehr die nicht stetig in Berlin präsenten Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Beck und Stoiber den Koalitionsprozess gestalten und prägen können. Andererseits hat sich bei hochstrittigen Themen wie der im Laufe des Jahres 2006 prioritär gewordenen Frage der Gesundheitsreform ein engster Kreis der drei Parteivorsitzenden mit dem SPD-Vizekanzler Müntefering als höchstes informelles Gremium gebildet. Ob sich diese Struktur etablieren wird, bleibt abzuwarten. Eine regierungsinterne, auch menschlich spannende „Beziehungsgeschichte“ wie zwischen Kurt Georg Kiesinger und Herbert Wehner scheint es im jetzigen Bündnis nicht zu geben. Offenkundig ist eine weitere Differenz in den Machtstrukturen: Die forcierende, vielfach gegenüber der eigenen Regierung auch kritische, zudem auf beiden Seiten von Eitelkeiten nicht freie Rolle der beiden Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Schmidt füllen die jetzigen Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder und Peter Struck nicht aus. Dafür gibt es

70 „Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, demografischer Wandel und der Veränderungsdruck der Globalisierung verlangen große politische Anstrengungen, um heutigen und künftigen Generationen ein Leben in Wohlstand zu sichern. CDU, CSU und SPD stellen sich diesen Aufgaben. In gemeinsamer Verantwortung wollen wir das Land voranbringen. Wir werden unsere parlamentarische Mehrheit für strukturelle Reformen in Deutschland nutzen, Mut machen zur Anstrengung und das Vertrauen der Menschen in die Zukunftsfähigkeit des Landes stärken“. Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005, S. 10. 71 Koalitionsvertrag, S. 141.

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plausible Gründe: Zum einen sind beide keineswegs jene dynamischen Nachwuchskräfte wie ehedem, die sich erkennbar profilieren, um Optionen für spätere Spitzenfunktionen zu gewinnen. Beide zeichnen sich auch nicht dadurch aus, dass sie sich besonders forciert bestimmter Materien annehmen, um so Eigenprofil zu gewinnen, wie etwa Helmut Schmidt in der Frage der Mitbestimmung und durch einen spektakulären Besuch im Sommer 1969 bei der sowjetischen Führung in Moskau, durch den er ostpolitisch an Gewicht gewann, mögen auch seine damaligen Gespräche mit Außenminister Gromyko und Funktionären der KPdSU in der Sache kaum etwas gebracht haben. Die jetzigen Fraktionsvorsitzenden Kauder und Struck sind zwar gewiss keine politischen Leichtgewichte, aber ihre Interessenlagen sind andere als die ihrer Vorgänger in den sechziger Jahren. Sie sind stärker auf die Regierung und deren unmittelbares Funktionieren hin fixiert, Struck als alter, nicht weiteren Karrierehöhepunkten entgegenstrebender Fahrensmann der SPD, Kauder als über seine früheren Funktionen Parlamentarischer Geschäftsführer und Generalsekretär der Partei enger Mitarbeiter und Vertrauter der jetzigen Bundeskanzlerin.72 Zugleich praktizieren die beiden Fraktionsvorsitzenden ein recht geschicktes Zusammenspiel, konzedieren einander limitierte, öffentlichkeitswirksame Konflikte, dosieren den Grad der wechselseitigen Zustimmung im Bundestagsplenum und stimmen sich in Abläufen wie Terminierungen funktional ab. Grund für die heute andere Position der Fraktionsspitzen dürfte vor allem sein, dass in den beiden parteipolitischen Lagern die formalen Führungen auf Regierungsund Parteiebenen zugleich die zentralen Machtfaktoren überhaupt sind: Das gilt für die seit 1999 amtierende CDU-Vorsitzende Angela Merkel wie auf der anderen Seite für den Parteivorsitzenden Kurt Beck und den Vizekanzler Franz Müntefering. Angela Merkel wird mit gutem Grund die besondere Fähigkeit attestiert, potentiellen Rivalen frühzeitig ihre Bedrohlichkeit zu nehmen – der weitgehende, für 2009 als vollständig angekündigte Rückzug des zeitweiligen Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz ist dafür der wohl beste Beleg. Gerade nach solchen Erfahrungen erscheint der jetzige Fraktionsvorsitzende Volker Kauder als loyaler Gefolgsmann der Bundeskanzlerin. Auf der anderen Seite dürfte, neben den eigenen Perspektiven von Kurt Beck, Franz Müntefering ein innerhalb der Bundesregierung viel stärkerer Vizekanzler sein, als es Willy Brandt 1966 bis 1969 war. Dies liegt nicht nur an Faktoren, die in Brandts Person begründet waren, vor allem zeitweilige Frustrations- und Melancholieanwandlungen, sondern an der apparativen Ausstattung Franz Münteferings wie an der zentralen Bedeutung seines Ressorts für den sozialpolitischen, also materiellen Umbaubedarf der Re-

72

Vgl. den instruktiven Artikel „Die Ausputzer“, in: Capital, 19/2006, S. 14 ff.

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publik. Hinsichtlich der apparativen Strukturen ergibt sich eine verblüffende Parallele zwischen beiden Großen Koalitionen: In beiden Fällen hatten der SPD angehörende, parteipolitisch profilierte Staatssekretäre die Aufgabe, die Konturierung des eigenen Lagers durch einen mehr oder weniger limitierten regierungsinternen Konfliktkurs sicherzustellen. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre kam damals diese Funktion dem späteren Leiter des Bundeskanzleramtes, Horst Ehmke, zu, Staatssekretär im Bundesjustizministerium und nach der Wahl von Gustav Heinemann zum dritten Bundespräsidenten kurzfristig selbst Bundesjustizminister. In der derzeitigen Bundesregierung teilen sich mindestens zwei Staatssekretäre diese Rolle: Matthias Machnig, Organisator und Inspirator der beiden Bundestagswahlkämpfe 1998 („Kampa“) und 2002, jetzt im Bundesumweltministerium unter dem gleichfalls erkennbar primär auf parteipolitisches wie persönliches Profil bedachten Minister Sigmar Gabriel und Kajo Wasserhövel im Sozialministerium unter Vizekanzler Franz Müntefering. Während es bei Machnig, entsprechend seinem Naturell wie seinen spezifischen Kompetenzen, vor allem um die mediale Darstellung geht, hat Wasserhövel primär die Aufgabe, das eigene Lager innerhalb des Regierungslagers zu organisieren. Plausible Konsequenz dieser Entwicklung war, dass die Union einen analogen Prozess für sich installierte: „Gleich zu Beginn der Zusammenarbeit führte Franz Müntefering (als Vizekanzler) ein regelmäßiges Treffen der SPD-Minister vor Kabinettssitzungen ein. Sein Staatssekretär Wasserhövel und andere Mitarbeiter des Sozialministeriums erhielten Aufgaben, als ob es ein „Vizekanzleramt“ gäbe. Rasch zog die Unionsseite nach, um ebenso vorbereitet und abgestimmt in den Sitzungen des Bundeskabinetts aufzutreten. So beraten mittwochs vor dessen Sitzungen zunächst je intern die Minister der beiden Seiten, und es ist üblich geworden, dass maßgebliche Vertreter der [. . .] Fraktionsführungen dabei sind – was auf Dauer die Bedeutung anderer Führungsgremien der Parteien und Fraktionen mindern könnte.“73 Im Einzelnen haben sich für die genannten Abläufe folgende Mechanismen eingespielt: Nach der internen Abstimmung beider Seiten, jeweils Minister und Fraktionsvorsitzende, gegen 8.15 Uhr, kommt es vor Beginn der Kabinettssitzung um 9.30 Uhr zu einer sehr vertraulichen Abstimmung zwischen Kanzlerin und Vizekanzler. Angeblich wird dabei auch festgelegt, welche öffentliche Kritik von Ministern an der jeweils anderen Seite akzeptabel ist.74 Was den sich anschließenden Verlauf der Kabinettssitzungen selbst anbelangt, wird dieser von Insidern als bemerkenswert sachlich-diskursiv, auch und vor allem jenseits der Parteigrenzen, dazu problembezogen und um 73 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. März 2006, S. 4, „Wenn es auf Gesichtswahrung ankommt. Thomas de Maizière ist Minister im Kanzleramt – aber Machtzentren gibt es viele in der Großen Koalition.“ 74 Capital (Anm. 72), S. 19.

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Effizienz bemüht beschrieben. Die Kalamitäten liegen danach eher in den parteipolitischen Instrumentalisierungen um die Kabinettssitzungen, nicht in letzteren selbst. Allerdings sei hier zugleich vor der Blauäugigkeit des publizistischen Richterstuhls aus sicherer Distanz gewarnt: Wettbewerbsdemokratien werden – und dürfen – nie als bonum commune-orientierte Gleichschrittvorführungen veranstaltet werden.75 Im Hinblick auf die derzeitigen Machtstrukturen im deutschen Bundesstaat hat die Donnerstagsbesprechung vor Bundesratsterminen zwischen Kanzlerin und Unionsministerpräsidenten besondere Bedeutung. Denn auf dieser Ebene verfügt die CDU/CSU derzeit über eine Phalanx mit potentieller Vetoposition, der die SPD quantitativ wenig entgegensetzen kann. Um so mehr neigt letztere naturgemäß dazu, auf eine Hierarchisierung der Unionsministerpräsidenten unter das Kanzleramt bzw. die Bundesregierung zu drängen – oder ein gegenüber Koalitionskompromissen dissidentes Verhalten von Unionslandesregierungen als koalitionsschädlich zu brandmarken. Naturgemäß wird es aber dabei bleiben, dass die Ministerpräsidenten im deutschen Beteiligungsföderalismus – Mitwirkung der Länderexekutiven an der Politik des Gesamtstaates – eine herausgehobene Position behalten. Analog gilt dies für die Rolle von Länderpremiers als potentielle Reserve für oberste Führungspositionen. Die Große Koalition der späten 60er Jahre realisierte ohne Zweifel mehrere gravierende Reformprojekte, wie immer diese in den Folgewirkungen heute auch beurteilt werden mögen. Im Vergleich dazu erscheinen die Agenden der gegenwärtigen Regierung stärker auf ökonomische Themen hin fixiert und zumindest in der kurz- und mittelfristigen Gestaltung kleiner dimensioniert. Vergröbert könnte man von mehr Mikro- statt Makropolitik sprechen. Die Bundeskanzlerin erklärte mehrfach, nur so und damit auch im Gegensatz zu ihrem eher ordnungspolitisch stringent angelegten Wahlkampf 2005, Veränderungen durchsetzen zu können. Die im Sommer 2006 avisierte, Anfang 2007 verabschiedete sogenannte „Gesundheitsreform“ kann jedenfalls für sich gewiss schwerlich in Anspruch nehmen, ein, in welche Richtung auch immer, ordnungspolitisch geschlossenes und auf längere Sicht tragfähiges Werk zu sein. Die Föderalismusreform vom Herbst 2006 bringt zwar eine partielle Auflösung der Verschlingungen in der Gesetzgebung zwischen Bundes- und Länderebene. Die materiell entscheidenden Durchbrüche, Neuregelung des Länderfinanzausgleichs, Wettbewerbföderalismus und Länderneugliederung, scheinen aber Anfang 2007 tatsächlich ungemein schwer erreichbar. Die Einsetzung einer Kommission zur Neuregelung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen garantiert keineswegs einen

75 Vgl. die Kritik in „Der Spiegel“, Nr. 44/30.10.2006 „Koalition der Kraftlosen“, S. 20 ff. Wenn, wie hier, Praxis und „reine Lehre“, zumal wirtschaftspolitisch aus stringent-ordoliberaler Sicht, miteinander konfrontiert werden, wird die Praxis stets das Nachsehen haben.

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durchgreifenden Erfolg, Bremen, Saarbrücken und Schwerin dürften noch lange Landeshauptstädte bleiben. Zudem hatte sich bereits rund ein dreiviertel Jahr seit Bestehen der zweiten Großen Koalition eine Atmosphäre des gegeneinander Nörgelns und sich gegeneinander medial In-Stellung-Bringens aufgebaut, die zu einem vergleichbaren Zeitraum der ersten Großen Koalition – Frühjahr bzw. Sommer 1967 – noch keineswegs gegeben war.76 Damals war man etwa in der bedeutsamen Frage einer Neujustierung der Ostpolitik noch bemerkenswert nahe beieinander. 11. Schluss: Von Kiesinger zu Merkel Diese letzte Überlegung führt uns beim Vergleich der beiden Regierungsbündnisse zu den eigentlichen historischen Schlüsselkonfigurationen. Zum einen haben wir es mit ganz unterschiedlichen Ausgangsproportionen zu tun: Beide Formationen, die das Kabinett Merkel/Müntefering tragen, sind nahezu gleich stark bzw., mit rund 35 Prozent, gleich schwach. 1966 lag, nach dem Ergebnis der Bundestagswahl von 1965, die Union nahezu 10 Prozent vor der SPD. Und beide Kräfte zusammen vereinigten über 90 Prozent der Mandate im Bundestag auf sich. Sie hatten es in Gestalt der FDP mit einer schwachen, in sich zwischen sozialliberalem und wirtschafts- bzw. nationalliberalem Flügel gespaltenen parlamentarischen Opposition zu tun, darüber hinaus mit dem Phänomen der Außerparlamentarischen Opposition wie mit der Perspektive eines Einzugs der NPD 1969 in den Bundestag. Koordinaten der Republik wurden somit von zwei Seiten aus in Frage gestellt, wenn auch auf ganz unterschiedlichen intellektuellen Niveaus und mit gänzlich verschiedenen Intentionen. Die zweite Große Koalition ist hingegen mit drei – parlamentsinternen – Oppositionsparteien konfrontiert, die gegenwärtig sämtlich einen durchaus vitalen Eindruck machen und das einen Kurs der Mitte steuernde Regierungsbündnis aus mehreren Richtungen attackieren bzw. von links und rechts in die Zange nehmen: „Die Linke“ mit einem auf staatliche Patronage, radikale Umverteilung und sozialistische Wohlfahrt setzenden populistischen Kurs, dazu für die SPD gefährlich weit in Gewerkschaftsbastionen einbrechend, die FDP auf der anderen Seite des Spektrums als ordoliberales Gewissen der Union, das deren Kompromisslinie in der Sozial- und Wirtschaftspolitik angreift und damit vor allem im Spektrum der so genannten „Besserverdienenden“ Punkte macht, Bündnis 90/Die Grünen 76 Vgl. auch für die weitere Entwicklung: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. Februar 2007, S. 10: „Unzufriedenheit mit den Kompromisszwängen“. Hier geht es vor allem um Frustrationen in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die latente Ablehnung der Gesundheitsreform in ihren Reihen und eine Art Neid gegenüber bzw. Bewunderung für Friedrich Merz, weil dieser das politische Spiel ganz aufzugeben angekündigt hatte. Umgekehrt war und blieb freilich auch in der Union die Auffassung manifest, man dürfe nicht angesichts bedrängender Umstände fahnenflüchtig werden.

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schließlich als relativ klientelfreie Größe, sieht man einmal von Spezifika wie den präferierten alternativen Energien ab, und daher in der Lage, vorzuführen, was idealtypisch aus ihrer Sicht gemeinwohlorientierte Politik sein könnte. Der zweite kardinale Unterschied ergibt sich, vergleicht man das jeweilige Regierungspersonal nach historischen Erfahrungen und Sozialisationen wie habitueller Präsenz: Im Falle der Koalition von 1966 bis 1969 eine durch Krieg und Diktaturen geprägte Regierungsmannschaft, gewohnt, in historischen Epochen und Zäsuren zu denken, physiognomisch geprägt durch Kriegs- und Nachkriegszeit wie durch die sich anschließenden Wohlstandsjahre, nach den eigenen Erfahrungen auf große historische Kompromisse wie weit reichende Strategien hin kodiert. Dagegen jetzt eine in den Techniken des Regierens wohl erfahrenere Spitzenadministration, damit zugleich in ihren persönlichen wie politischen Sozialisationen eher durch Kontinuitäten als durch Diskontinuitäten geformt, gewiss aber weniger mit historisch langem Atem ausgestattet. Man vergleiche nur einmal die jeweiligen Teams im Kanzleramt bzw. die Vernetzungen der Regierungschefs: Im Falle Kiesingers mit von Guttenberg, Diehl, Carstens und als Ansprechpartner auf der Gegenseite Wehner und Ahlers ein Personal, das um die Jahre 1933 bis 1945, in welchen Rollen auch immer, buchstäblich dem Tod ins Auge geblickt hatte und zugleich um die Dimension dessen wusste, was der Neuaufbau einer Demokratie eigentlich war. Im Falle der Bundeskanzlerin mit den Staatsministerinnen Hildegard Müller und Maria Böhmer wie mit Franz Müntefering auf der Gegenseite eine zweifellos hochprofessionelle Vernetzung, die aber, um Fußballmetaphorik in Anspruch zu nehmen, mehr das Kurzpassspiel gewohnt ist und nicht die langen Pässe in die freien Räume. Eine deutlich andere Schattierung könnte dem Bild freilich der Chef des Bundeskanzleramtes, Thomas de Maizière, hinzufügen, durch administrative Spitzenverwendungen in den Jahren nach der Wiedervereinigung77 mit der Aura der historischen Herausforderung in besonderer Weise konfrontiert, dazu, als Sohn eines früheren Generalinspekteurs der Bundeswehr wie Cousin des ersten Ministerpräsidenten der DDR nach der Wende, in einer heute fast singulären Weise familiär gesamtdeutsch mit historischer Tiefenschärfe sozialisiert. Fragt man nach Rahmenbedingungen, dann liegen die Hauptunterschiede in der völlig veränderten Welt, in der jeweils Politik gemacht wird: Die zentrale Konfliktstruktur des Kalten Krieges und mit ihr der ungelösten nationalen Frage 77 Thomas de Maizière, 1954 in Bonn geboren, 1990 Staatssekretär im Kultusministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern und dort ab 1994 Leiter der Staatskanzlei. Nach dem Ende der CDU-Regierungszeit in Schwerin wurde er 1999 Leiter der Sächsischen Staatskanzlei, sodann in Dresden 2001 Sächsischer Finanzminister, 2002 Sächsischer Justizminister und 2004 Sächsischer Innenminister. Er entstammt einer im 17. Jahrhundert nach Brandenburg emigrierten Hugenottenfamilie. Sein Vater war der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Ulrich de Maizière. Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, ist sein Cousin.

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schweißte die politischen Eliten in der Bundesrepublik zusammen, polarisierte sie aber auch und begründete zugleich, jenseits aller Pragmatik, eine besondere Atmosphäre des Historischen, ja des Existentiellen. Noch die Protokolle des CDU-Vorstandes aus jener Zeit enthalten für fast jede Sitzung Einlassungen, die die verschiedensten Entwicklungen mit der lebensgefährlichen Bedrohung durch den Kommunismus in Verbindung bringen. Die Große Koalition von 1966 bis 1969 begegnet uns vor diesem Hintergrund sowohl als antikommunistisches westdeutsches Bündnis als auch intern, zumindest ansatzweise, historisch fragmentiert, damit den großen Auseinandersetzungen um die neue Ostpolitik in den frühen 70er Jahren vorausgehend. Zugleich haben wir es mit einer Bundesrepublik zu tun, die von großem strukturellem Optimismus erfüllt ist: Hohes Wirtschaftswachstum gilt weiterhin als das gegebene Paradigma. Zwar ist es kurzfristig nicht mehr gegeben, aber Akteure wie Publikum in der Republik sind von seiner Machbarkeit wie baldigen Wiederherstellbarkeit fest überzeugt. Ein Begriff wie „Globalisierung“ liegt in weiter Ferne. Die strukturpolitischen Probleme der 60er Jahre – Krise im Steinkohlebergbau und Subventionsbedarf der Landwirtschaft – muten zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Relation mit den neuen strukturellen Herausforderungen der Zeit wie marginale Themen aus weiter Ferne an. Noch ahnte damals wohl niemand in Bonn den in mittelfristiger Zukunft bevorstehenden Angriff der japanischen Konsumgüterindustrien, Unterhaltungselektronik und Fahrzeugbau auf die Unternehmen Westdeutschlands. Auch dass demnächst der Computer die Schreibmaschine verdrängen wird, ahnte noch fast niemand. Dass einmal, nach einem kaum antizipierbaren Ende des Kalten Krieges, osteuropäische Arbeitnehmer ihre deutschen Kollegen am Arbeitsmarkt mit viel niedrigeren Lohn- und vor allem Lohnzusatzkosten unterbieten werden, war ebenso noch undenkbar wie eine künftige Konkurrenz aus Indien und China, welche selbst den Rivalen der 80er Jahre, Japan, in den Hintergrund drängen wird. So erscheinen die ökonomischen Welten der 60er Jahre und die des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert wie fast völlig getrennte Aggregatszustände. Das gilt auch für andere gesellschaftspolitische Bereiche. Eine demografische Frage gab es in der Amtszeit von Bundeskanzler Kiesinger nicht. Um 1965/66 erreichte die Bundesrepublik die höchsten Geburtenziffern der Nachkriegszeit und auch deren danach eintretendes allmähliches Sinken wurde von der Politik zunächst noch gar nicht wahrgenommen. Ebenso wenig behandelt wurden die Fragen nach Ein- wie auch Auswanderung, nach Migration und Integration. Das Lagebild der Gegenwart ist hier ein völlig anderes: Die zentrale ideologische und machtpolitische Konfliktstruktur des Kalten Krieges ist Geschichte; der zeitweise, in der Publizistik nicht selten so bezeichnete Neowilhelminismus des Bundeskanzlers Schröder, der auf eine Art Kontinentalallianz von Paris über Berlin und Moskau bis Peking gegen Washington setzte, ob mehr imaginiert oder mehr real sei hier dahingestellt, mutet, in der Relation zu den Heraus-

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forderungen des Kalten Krieges, zwar kühn, wenn nicht verwegen, aber eben doch auch als historische Fußnote an. Dagegen erscheinen sozioökonomische Standfestigkeit wie demografische Vitalität als heute existentielle Desiderate. Oder anders formuliert: Der Unterschied in den Agenden selbst liegt darin, dass die Republik – trotz terroristischer Bedrohung – als solche nicht mehr von außen bedroht ist bzw. sich nicht mehr von außen bedroht wähnt, dafür innerlich um vieles strukturell schwächer anmutet als vier Jahrzehnte zuvor. Große Koalitionen sind weder des Teufels noch sind sie Offenbarungen zur Lösung zentraler Probleme. Sofern es um Lösungen geht, die verfassungsändernde Mehrheiten voraussetzen, dürften sie sich überdurchschnittlich erfolgreich zeigen. Der Vorwurf, ihre rechnerisch so beeindruckenden Majoritäten lähmten, ja erstickten das parlamentarische Leben, geht weitgehend in die Irre. Breite Mehrheiten erlauben einzelnen Flügeln wie Individualisten und intellektuellen Sonderlingen, zugleich aber auch innovativen Kräften, ihre abweichenden Voten häufiger und weiterreichend vorzutragen als in Zeiten von Abstimmungszwängen unter dem Diktat knappster Mehrheiten. Die Opposition in der SPD gegen die Notstandsverfassung in der Regierung Kiesinger gibt dafür ein gutes Beispiel. Von einer Lähmung des gesamten politisch-publizistischen Lebens kann ohnehin keine Rede sein. Im Gegenteil mögen Große Koalitionen die intellektuellen Zirkel motivieren, sich als Opposition eigener Art besonders in Szene zu setzen; die Zeit der Regierung Kiesinger gibt dafür mancherlei Beispiele, im breiten Bogen von Günter Grass über Ralf Dahrendorf bis zu Rudi Dutschke. Und schon die derzeitige Struktur von drei durchaus vitalen Oppositionsparteien lässt es ohnehin ausgeschlossen erscheinen, dass die beiden gar nicht so sehr Großen alle anderen inner- und außerparlamentarischen Faktoren in den Schatten stellen. Am Ende bleibt der Befund, dass Große Koalitionen insbesondere dann, wenn nicht Kriege oder nationale Katastrophen das große nationale Bündnis ohnehin nahe legen, nicht so sehr viel besser oder schlechter sind als anders strukturierte Regierungsbündnisse. Sie eröffnen Gestaltungsoptionen, über ihnen schwebt aber auch in besonderer Weise das Damoklesschwert der wechselseitigen Paralyse. Analysiert man sie, dann sollte man im Übrigen vor allem neben der Suche nach Funktionsweisen und Gesetzmäßigkeiten dem Aspekt der jeweiligen situativen Voraussetzungen besondere Aufmerksamkeit schenken – schließlich ist auch jede Regierung ein „Ding an sich“.

Parteien in der Kritik Von Hans Herbert von Arnim 1. Einleitung Macht und Einfluss der politischen Parteien sind in Deutschland besonders ausgeprägt. Das hat verschiedene Gründe, tatsächliche und rechtliche, die sich teilweise gegenseitig bedingen. In der Stunde Null nach dem Zusammenbruch von 1945 stießen die demokratischen Parteien – auch angesichts der politischen Vorbelastung fast aller konkurrierenden Einflussgruppen – in ein Vakuum. Über sechs Jahrzehnte hinweg haben die Parteien dann ihre Stellung etabliert und ihre Macht in praktisch alle politisch relevanten Bereiche hinein auszudehnen gewusst. Damit einher ging zunächst ein Konzentrationsprozess unter den Parteien, der auch durch Rechtsregeln wie die Fünfprozentklausel und durch das Verbot der SRP und der KPD in den fünfziger Jahren gefördert wurde und bei dem schließlich nur drei Parteien von Gewicht übrigblieben, die sich weitgehend als „Volksparteien“ im Sinne Otto Kirchheimers verstanden,1 die CDU/ CSU, die SPD und – mit Einschränkungen – die FDP. Seit zweieinhalb Jahrzehnten wurde der Konzentrationsprozess allerdings wieder umgedreht. Neue Parteien sind hinzugekommen: zunächst Die Grünen, nach der Vereinigung auch die PDS, die sich nunmehr Neue Linke-PDS nennt. In den Landtagen von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ist neuerdings auch die NPD, im Landtag Brandenburg die DVU vertreten. Die Rolle der Parteien ist zwiespältig. Einerseits sind sie in einer parlamentarischen Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland unerlässlich. Andererseits ist im Laufe der Jahrzehnte aber auch immer deutlicher geworden, dass von der zunehmenden Machtfülle der Parteien – und ihrer Eroberung fast sämtlicher Bereiche des Staates und allmählich auch der Gesellschaft – Gefährdungen unserer Demokratie ausgehen können. Diese zu orten ist erste Voraussetzung dafür, sie einzudämmen, auch wenn Skepsis hinsichtlich der reale Chancen für solche Eingrenzungen bleibt. Die Rolle der Parteien markiert eine Verfassungsfrage par excellence, neben der Rolle der Interessenverbände und der Medien, heute vielleicht die Verfas1 Otto Kirchheimer, Der Wandel des westdeutschen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift 1965, S. 20 (27 ff.).

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sungsfrage überhaupt. Letztlich geht es um die uralte Frage nach der Kontrolle der Mächtigen. Wenn der Satz stimmt, dass Macht, soll sie nicht korrumpieren, der Kontrolle bedarf, ist von vornherein zu vermuten, dass hinsichtlich der Parteien ein besonders ausgeprägter Kontrollbedarf besteht. Bei der Entwicklung von Kriterien und Maßstäben für diese Kontrolle tun sich Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft allerdings immer noch schwer. Ein Grund dürfte darin liegen, dass in Deutschland die Kritik an demokratischen Parteien aus historischen Gründen lange allzu leicht missverstanden wurde. Die Erinnerung an Weimar wirkte noch nach. Kritik an bestimmten Defiziten der Parteien wurde kurzschlüssig – teilweise auch von interessierter Seite gelenkt – immer wieder mit Kritik an der Existenz der Parteien und an der Staatsform der Demokratie schlechthin gleichgesetzt. Ich werde in meiner Darstellung aus dem riesigen Gesamtbereich, den das Thema umfasst, folgende Gesichtspunkte herausgreifen: Vorab möchte ich klarstellen, was ich in diesem Vortrag unter „Parteien“ verstehe. Sodann werde ich kurz auf die Funktionen der Parteien und des Parteienwettbewerbs in der bundesrepublikanischen Demokratie eingehen. Im Hauptteil meines Vortrags werde ich Probleme, Gefahren und Defizite im bundesdeutschen Parteienstaat behandeln. Dabei werde ich weniger auf Einzelfragen eingehen. Stattdessen möchte ich die besonders wichtigen sogenannten Regeln des Machterwerbs in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen. Es geht dabei um Wahlrecht und direkte Demokratie, um Parteienfinanzierung (einschließlich der Finanzierung von Abgeordneten, Regierungsmitgliedern und anderen Inhabern von öffentlichen Ämtern), um Ämterpatronage sowie um Föderalismus. Daraufhin werde ich auf die ambivalente Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Kontrollorgan des in eigener Sache entscheidenden Gesetzgebers eingehen – und zum Schluss über mögliche Abhilfen nachdenken. Bei allem werde ich einschlägige sozialwissenschaftliche Theorien mit heran ziehen. Theorien sind schließlich die Brille, mit deren Hilfe der Wissenschaftler das Wesentliche der komplexen Wirklichkeit in den Blick zu bekommen und handhabbar zu machen versucht. Zugleich müssen die Institutionen im Auge behalten werden. Parteien kann man nun mal nicht im luftleeren Raum beurteilen. Ohne Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Strukturen, in die die Parteien eingebettet sind und die sie zum Teil selbst geschaffen haben, lässt sich ihr Wirken nicht analysieren.

2. Begriff der politischen Parteien und deren Funktionen Nach der Definition des Parteiengesetzes (§ 2) sind Parteien – knapp zusammengefasst – Vereinigungen von Bürgern, die sich an Parlamentswahlen beteiligen. Neben diese enge staatsrechtliche Definition möchte ich aber noch einen weiten politikwissenschaftlichen Begriff stellen, wie ihn beispielsweise Peter

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Lösche verwendet.2 Dieser weite Partei-Begriff umfasst auch die Amtsträger der Parteien in Regierungen und Parlamenten sowie verwandte Organisationen wie die Fraktionen (in den Volksvertretungen) und die Parteistiftungen. Dem Staatsrechtler mögen sich bei diesem weiten Parteibegriff zwar die Haare sträuben. Denn das Staatsrecht zieht eine scharfe Grenze zwischen Staat und Gesellschaft und ordnet die Parteien der Gesellschaft, Regierungsmitglieder und Abgeordnete sowie die Fraktionen dagegen dem Staat zu. Beide Parteien-Begriffe haben aber durchaus ihren Sinn, weshalb ich sie hier nebeneinander stellen und aufeinander beziehen möchte: Der enge staatsrechtliche Begriff will mit Recht nicht auf die normative Verpflichtung aller Amtsträger auf das Gemeinwohl3 verzichten. Der weite politikwissenschaftliche Begriff betont dagegen, gleichfalls mit Recht, die enge faktische Zusammengehörigkeit von Parteien und den von ihnen gestellten Amtsträgern.4 Unter „Demokratie“ verstehe ich, mit den berühmten Worten des früheren amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln, Regieren des Volkes, durch das Volk und für das Volk.5 Die Lincolnsche Formel setzt voraus, dass überhaupt ein Volk vorhanden ist. Dessen Fehlen ist etwa in der Europäischen Union das zentrale Demokratieproblem.6 In Deutschland geht es einerseites – im Sinne des Politik-Output – darum, für möglichst gute Politik im Interesse der Bürger, und zwar aller Bürger, zu sorgen. Anderseits müssen die Bürger – im Sinne des Politik-Input – bestimmenden Einfluss auf die Politik haben. 3. Regieren für das Volk? Doch wie steht es damit? Was den Output anlangt, stehen die Parteien vielfach in der Kritik. Traurige Berühmtheit erlangte die gezielt zugespitzte Kritik des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, Parteien seien „machtvergessen“ und gleichzeitig „machtversessen“. Mit „Machtvergessenheit“ meint Weizsäcker die mangelnde „Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen Führungsaufgabe“,7 eine Kritik, die der Nachfolger Weizsäckers, Ro2 Peter Lösche, in: ders. (Hrsg.), Zur Lage des deutschen Regierungs- und Parteiensystems, Berlin 2002, S. 60 und 111 f. 3 Dazu statt vieler Otto Depenheuer, Das öffentliche Amt, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl., Heidelberg 2005, S. 87 ff. 4 Hans Herbert von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, 2. Aufl., München 1996, S. 30. 5 Abraham Lincoln, Gettysburger Address, übersetzt und kommentiert von Ekkehard Krippendorff, Hamburg 1994. 6 Hans Herbert von Arnim, Das Europa-Komplott, München u. a. 2006, S. 42 f., S. 65 ff. mit weiteren Nachweisen. 7 Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, Frankfurt a. M. 1992, S. 164.

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man Herzog, in seiner legendären Berliner Ruck-Rede groß herausstellte: die mangelnde Handlungsfähigkeit der Politik bei der Durchsetzung der notwendigen Reformen.8 Beide Staatsoberhäupter beschränkten sich allerdings auf Appelle an den guten Willen von Parteien und Politikern. Die eigentlich brisante Frage ließen sie dagegen außen vor, die Frage nämlich, ob der Rahmen, innerhalb dessen Politik in Deutschland gemacht werden muss, also die Verfassung (im formellen und im materiellen Sinne), nicht das eigentliche Reformhindernis darstellt.9 Das Problem wurde etwas später am bundesdeutschen Föderalismus10 deutlich und hier vor allem an der parteipolitischen Instrumentalisierung des Bundesrats zur Blockade. Der Bundesrat war in der Vergangenheit meist in der Hand der Bundestags-Opposition. Da er fast allen wichtigen Gesetzen zustimmen muss, waren die Oppositionsparteien versucht, Blockade zu üben, um politische Erfolge der Regierung zu verhindern. Das Föderalismusproblem ist inzwischen erkannt und hat dazu geführt, dass die sogenannte Föderalismusreform jetzt ganz oben auf der politischen Agenda steht. Plötzlich spricht auch die etablierte Politik (wie die CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch und Jürgen Rüttgers in einem gemeinsamen Diskussionspapier und der kürzlich verstorbene ehemalige SPD-Bundespräsident Johannes Rau in seiner Abschiedsrede) von der „organisierter Unverantwortlichkeit“, die unser Föderalismus bewirkt, ein Wort, das noch vor wenigen Jahren denjenigen, der es gebrauchte,11 an den Rand der politischen Diskussion verdammte. 4. „Machtversessenheit“? Mit dem Begriff der „Machtversessenheit auf den Wahlsieg“ meint Weizsäcker, dass die Parteien und ihre Repräsentanten dem Ziel des Machterwerbs und Machterhalts alles andere unterordneten. Nun braucht das Streben nach Macht nicht unbedingt etwas Schlechtes zu sein. Ohne Macht können Parteien schließlich auch ihre politischen Ziele nicht verwirklichen. Was Weizsäcker kritisierte, war eine Umkehrung der postulierten Verhältnisse: Macht werde nicht als Mittel zur Verwirklichung eines politischen Programms erstrebt, sondern sei zum Selbstzweck geworden. Die Parteien, so sagte er, vergäßen ihre „dienende Funktion gegenüber den Problemen“ und instrumentalisierten umgekehrt die Probleme, „um die Ziele einer Partei gegen eine andere besser erreichen zu können.“12

8 Roman Herzog, Aufbruch ins 21. Jahrhundert Rede im Hotel Adlon in Berlin am 26.4.1997, Bulletin der Bundesregierung 1997, S. 353 (354). 9 Hans Herbert von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, München 1997, S. 11 ff. 10 Ders., Vom schönen Schein der Demokratie, München 2000, Teil 2 (S. 47 ff). 11 Z. B. von Arnim (Anm. 7), S. 147 ff. 12 Richard von Weizsäcker (Anm. 9), S. 155.

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So sehr neu ist diese Erkenntnis allerdings nicht. Der große Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter hatte schon vor über sechzig Jahren in seinem Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ die These aufgestellt, Politiker (und ihre Parteien) strebten nicht unbedingt nach Gemeinwohl, sondern folgten im Zweifel typischerweise ihren eigenen Interessen.13 Das Werk von Schumpeter ist auch heute noch von bleibender Aktualität, wie etwa ErnstWolfgang Böckenförde soeben in der Neuauflage des Handbuchs des Staatsrechts bestätigt hat. „Das erste und höchste Ziel jeder politischen Partei“ sei es, schreibt Schumpeter, „über die anderen den Sieg davon zu tragen, um zur Macht zu gelangen oder an der Macht zu bleiben“.14 Wie die politischen Probleme behandelt und die anstehenden Fragen entschieden würden, also die Politikinhalte, seien „vom Standpunkt des Politikers aus nicht das Ziel, sondern das Material der politischen Tätigkeit“.15 Ganz vorrangig sei der Kampf um Macht und Amt.16 Die Vorstellung vom homo oeconomicus, der primär seinen eigenen Nutzen zu maximieren sucht, die Schumpeters Ansatz zu Grunde liegt, gehört inzwischen zu den selbstverständlichen Grundannahmen eines ganzen Wissenschaftszweigs, der Neuen Politischen Ökonomie.17 Auch in dieser Vorstellung bleibt allerdings noch ein Weg, zum Gemeinwohl zu gelangen, eröffnet. Ich meine den Wettbewerb als Steuerungsinstrument. Denn idealerweise stehen die Parteien und Politiker, was auch Schumpeter betont, im Wettbewerb um die Macht, den die Wähler mit ihren Stimmen entscheiden. Selbst wenn Berufspolitiker ihren eigenen Interessen – bei Kollision mit dem Gemeinwohl – Vorrang geben, kann die Summe der Egoismen durchaus zur allgemeinen Wohlfahrt führen, wenn der Wettbewerb funktioniert. Dieses Konzept liegt seit Adam Smith bekanntlich der Marktwirtschaft zugrunde. Von dort hat es die Neue Politische Ökonomie auch auf die Politik übertragen. Funktionierenden politischen Wettbewerb aber wirklich zu gewährleisten ist das Problem. Erforderlich ist ein adäquater institutioneller Rahmen – die Politikwissenschaft spricht von den schon erwähnten „Regeln des Erwerbs von Macht, Posten und Geld“.18 Doch hier stellt sich das „Odysseus-Problem“. Ein 13 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Stuttgart 1950, S. 427 ff. 14 Ebd., S. 443. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ein weiterer „Gründungsvater“ neben Schumpeter ist Anthony Downs mit seinem Buch „Ökonomische Theorie der Demokratie“, Tübingen 1968. 18 Rudolf Wildenmann, Regeln der Machtbewerbung (1963), in: ders., Gutachten zur Frage der Subventionierung politischer Parteien aus öffentlichen Mitteln, Meisenheim a.G. 1968, S. 70 ff.; Michael Greven, Die Parteien in der politischen Gesellschaft sowie eine Einleitung zur Diskussion über die „allgemeine Parteientheorie“, in: Oskar

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solcher Rahmen ist ja keineswegs automatisch vorhanden. Er unterliegt vielmehr der Gestaltung durch – die Parteien und ihre Politiker. Diese sitzen ja selbst mitten im Staat an den Schalthebeln der Macht und befinden damit letztlich selbst über den Inhalt der Verfassung, der Gesetze, der öffentlichen Haushalte und damit eben auch über die Schlüsselregeln des Machterwerbs.19 Die Akteure müssten sich also selbst Grenzen setzen. Sie müssten sich wie Odysseus an den Mastbaum binden lassen, um dem Gesang der Sirenen nicht zu verfallen, sprich: den Verführungen der Macht, des Einflusses und des Geldes nicht zu erliegen. Kann man das wirklich erwarten? Aus der Wirtschaft kennen wir das Streben von Unternehmen, wettbewerbsbeschränkende Absprachen zu schließen, also Kartelle so bilden, um gemeinsam die Marktgegenseite auszubeuten. Das sucht der Staat durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und das Kartellamt zu verhindern. Aber auch die politischen Akteure, die den Staat beherrschen, haben ein starkes gemeinsames Interesse daran, den politischen Wettbewerb außer Funktion zu setzen. Und warum sollten sie ausgerechnet dann nicht ihren Eigeninteressen folgen, wenn es um das in ihren Augen Wichtigste geht, den Machterhalt? Was liegt deshalb für sie näher, als (auch und gerade) jene Schlüsselregeln zu ihren Gunsten zu gestalten? 5. Beispiel Parteienfinanzierung Wir stehen vor der Situation, dass zur Ausschaltung des Wettbewerbs Parteien und Politiker – über die Parteigrenzen hinweg – vielfach politische Kartelle bilden. Am anschaulichsten werden die Probleme bei der üppigen Ausstattung der Parteien mit öffentlichen Mitteln, die auch Weizsäcker heftig kritisiert. Die Parteien lebten, so sagt er, „bei uns im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien . . . im Schlaraffenland.“20 Im gleichen Atemzug wären eigentlich auch überzogene Versorgungen von Politikern zu nennen – die Weizsäcker selbst allerdings schlecht kritisieren konnte. Denn ehemalige Bundespräsidenten beziehen auch im Ruhestand weiterhin ihr volles Aktivengehalt.21 Geht es um höhere Zuwendungen aus der Staatskasse oder um die Sicherung eigener Privilegien, waren sich die Parteien auch in der Vergangenheit meist schnell einig, sobald erst einmal gewisse überkommene Hemmschwellen überwunden waren. Hier wird einmal mehr das zentrale Dilemma deutlich. Die poli-

Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland, Opladen 1993, S. 277 (290). 19 von Arnim (Anm. 9), S. 43 ff. mit weiteren Nachweisen. 20 von Weizsäcker (Anm. 7), S. 152. 21 Hans Herbert von Arnim, Der Staat als Beute, 1992, S. 204 ff.

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tische Klasse, die von den Regelungen profitiert, entscheidet auch selbst darüber und entschärft überdies mittels ihres „langen Arms“ mögliche Kontrollinstanzen. In Sachen staatliche Parteienfinanzierung nimmt die Bundesrepublik seit Ende der fünfziger Jahre eine Vorreiterstellung ein. Die 1959 eingeführte Subventionierung der Parlamentsparteien war eine europäische Premiere und wäre sogar eine Weltpremiere gewesen, hätten nicht Argentinien und Puerto Rico schon vorher eine staatliche Parteienfinanzierung gehabt. Die Väter des Grundgesetzes hatten sich Derartiges noch nicht vorstellen können.22 Und es gibt ja auch heute noch Länder ohne staatliche Parteienfinanzierung wie Großbritannien und die Schweiz. Nachdem die Staatsfinanzierung in der Bundesrepublik erst einmal eingeführt war, kannten die Regierungsparteien kein Halten mehr. (Die SPD hatte zunächst heftigen Widerstand gegen die Staatsfinanzierung geleistet, schwenkte dann aber in der Zeit der ersten Großen Koalition auf die Regierungslinie ein): In kürzester Zeit vervielfachte sich der Umfang der „Staatsknete“. Das Gesetz über die politischen Parteien, das Art. 21 Grundgesetz eigentlich zwingend verlangt, ließ allerdings 18 Jahre lang auf sich warten. Als man es im Jahre 1967 schließlich erließ, weil das Bundesverfassungsgericht ein Jahr vorher eine Fortführung der Subventionen ohne Gesetz für verfassungswidrig erklärt hatte,23 war die staatliche Parteienfinanzierung bereits so aufgebläht, dass die Parteien, um sie zu rechtfertigen, die Aufgaben der Parteien in § 1 Parteiengesetz extensivst umschrieben. Das Hochschießen der Parteiensubvention hatte das Bundesverfassungsgericht, das die Entwicklung 1958 durch ein obiter dictum selbst ausgelöst hatte,24 endlich veranlasst, die Notbremse zu ziehen und der staatlichen Parteienfinanzierung ab 1966 Grenzen zu setzen.25 Doch diese umgingen die Parteien, indem sie die staatlichen Geldquellen nun auf verwandte Organisationen umleiteten. Die „Parteistiftungen“ und die Fraktionen wurden im Laufe der Jahre und Jahrzehnte mit Staatsgeldern nur so überhäuft.26 Ihre Finanzierung erwies sich dadurch quasi als funktionale Äquivalente zur Finanzierung der eigentlichen Parteien. Die Stiftungen und Fraktionen erhalten inzwischen sehr viel mehr Geld aus der Staatskasse als die Parteien im engeren Sinne. Die staatlichen Subventionen an die Fraktionen und die Parteistiftungen haben sich in den vergangenen 35 Jahren mehr als vervierzigfacht. Nachdem ich in den achtziger Jahren das Hochschießen der Subventionierung durch die Hintertür in

22 23 24 25 26

von Arnim (Anm. 4), S. 46 ff. BVerfGE 20, 56. BVerfGE 8, 51 (63). BVerfGE 20, 56; 24, 300. Hans Herbert von Arnim, Das System, München 2001, S. 112 ff.

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mehreren Anläufen zum öffentlichen Thema gemacht hatte,27 verlangsamte sich das Wachstum allerdings. Seit kurzem werden europäische Parteibünde zusätzlich aus dem Haushalt der Europäischen Union subventioniert.28 Es fängt zwar klein an. Schon jetzt aber sind jährlich 100 Millionen EUR im Gespräch. Das Geld teilen die Parteibünde der etablierten Parteien unter sich auf. Die nationale Parteienfinanzierung wird nicht entsprechend gekürzt, sondern das EU-Geld kommt noch oben drauf. Zugrunde liegt eine europäische Parteienverordnung von 2003, die allerdings fast keinen der Grundsätze übernommen hat, die das Bundesverfassungsgericht zur Domestizierung der staatlichen Parteienfinanzierung in Deutschland aufgestellt hat. Vor wenigen Tagen wurde in Brüssel ein Bericht über die europäischen Parteibünde vorgestellt. Darin fordert der Berichterstatter Jo Leinen jetzt auch öffentlich finanzierte Parteistiftungen auf EU-Ebene. Die staatliche Parteienfinanzierung war bei ihrer Einführung offiziell mit dem Argument begründet worden, dann wäre es möglich, zumindest Großspenden, die stets „im Dunstkreis der Korruption stehen“ (Theodor Eschenburg), zu verbieten. Doch dieses Argument wurde später „vergessen“. Tatsächlich bestehen in der Bundesrepublik jetzt beide Übel nebeneinander: übermäßige Staatsfinanzierung und Spenden in unbeschränkter Höhe. Beiträge und Spenden sind zudem steuerbegünstigt, und zwar in dreimal so großer Höhe wie das Bundesverfassungsgericht erlaubt.29 Und dies nur, um auch die – ihrerseits verfassungsrechtlich zweifelhaften30 – sogenannten Parteisteuern, die Abgeordnete und andere Amts- und Mandatsträger an ihre Partei entrichten müssen, steuerlich zu prämieren.31 Zusätzlich werden die Parteisteuern – wie alle Zuwendungen an Parteien – auch noch durch einen Staatszuschuss von 38 Prozent belohnt (§ 18 Abs. 3 Nr. 3 PartG). Die hoch problematischen Parteisteuern werden also auch noch zweifach staatlich gefördert, durch Steuerbegünstigung und Staatszuschuss.32 Die bestehenden Regelungen fordern auch sonst zu einer Fülle von Manipulationen heraus, besonders auf örtlicher und regionaler Ebene, weil es dort an jeder wirksamen Kontrolle fehlt. Die einzige Überwachungsinstanz sind Wirt-

27 Ders., Parteienfinanzierung, Wiesbaden 1982; ders., Staatliche Fraktionsfinanzierung ohne Kontrolle?, Wiesbaden 1987. 28 Hans Herbert von Arnim/Martin Schurig, Die EU-Verordnung über die Parteienfinanzierung, Münster 2004; Hans Herbert von Arnim, Die neue EU-Parteienfinanzierung, in: Neue Juristische Wochenschrift 2005, S. 247 ff. 29 von Arnim (Anm. 4), S. 73 f. 30 Ebd., S. 314 ff. 31 Hans Herbert von Arnim, Die neue Parteienfinanzierung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 2002, S. 1065 (S. 1070 f.). 32 Ebd. S. 1071 f.

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schaftsprüfer. Diese haben aber nach § 29 Abs. 1 Parteiengesetz nur 10 Parteigliederungen unterhalb der Landesebene zu prüfen. Das ist bei der CDU und SPD, die mehr als 10.000 derartige Gliederungen haben, weniger als 1 Promille. Faktisch gibt es also keine Prüfung auf den unteren Ebenen, obwohl hier über viele Millionen öffentliche Mittel entschieden wird.33 6. Beispiel Ämterpatronage Eine andere Form des Missbrauchs der Parteienmacht ist Ämterpatronage, im Volksmund „Parteibuchwirtschaft“ geheißen.34 Richard von Weizsäcker sprach schon früh ganz offen davon, die Parteien drohten sich den Staat allmählich zur Beute zu machen, wie sich besonders bei der Besetzung staatlicher Ämter zeigt. Die Parteien stellen nicht nur das Parlament und die Regierung (was in der parlamentarische Demokratie völlig in Ordnung ist), sondern nehmen auch da Einfluss, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben. Sie durchsetzen alle möglichen Kontrollinstanzen mit ihren Parteigängern und suchen sie dadurch bis zu einem gewissen Grad gleich zu schalten. Betroffen sind hohe Gerichte, insbesondere Verfassungsgerichte, die Spitzen der Rechnungshöfe, wichtige Positionen in den öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehanstalten, Führungspositionen in öffentlichen Unternehmen, Spitzenpositionen in Schulen und allmählich auch in Universitäten, Sachverständigenkommission und sonstige Einrichtungen der wissenschaftlichen Politikberatung. Nehmen wir als Beispiel die Spitzen der 17 Rechnungshöfe des Bundes und der Länder: Der Präsident gehört regelmäßig der einen und der Vizepräsident der anderen großen Partei an. Ein anderes Feld für Parteipatronage ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Fritz Schenk, der legendäre Moderator des ZDF-Magazins, stöhnte schon vor Jahren, es sei nicht zutreffend, dass öffentlich-rechtliche Anstalten von den Parteien dominiert würden, sie gehörten ihnen. Besonders ausgeprägt ist die Patronage bei öffentlichen Unternehmen. Ein fatales Beispiel bietet das Land Berlin. Dort hat die Unfähigkeit politisch infiltrierter Unternehmensführungen zig Milliardenverluste verursacht und das Land finanziell ruiniert. Dass die öffentliche Hand überhaupt Unternehmen hält, wird regelmäßig mit hehren Zielen gerechtfertigt, die in der Praxis aber kaum je erfüllt, oft nicht einmal formuliert werden. Um so nachhaltiger ist der „Run“ sogenannter „verdienter“ Parteipolitiker auf die lukrativen Posten. Auch in den Schulen reden die Parteien ein gewichtiges Wort mit. Ohne Parteibuch Leiter(in) einer größeren Schule zu werden ist oft nur noch schwer möglich. Doch der Gedanke, dass die Parteipolitisierung der Spitzen unserer Schule etwas mit deren schwachen Leistungen zu tun haben könnte, ist bisher offenbar noch niemandem gekommen. 33 34

Ebd., S. 1075. Ders. (Anm. 9), S. 234 ff.

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Generell gilt: Wenn das Parteibuch im öffentlichen Dienst immer wichtiger wird, sehen sich immer mehr Beamte aus Karrieregründen genötigt, einer etablierten Partei beizutreten. Umgekehrt liegt darin eine Diskriminierung aller Nicht-Parteimitglieder – und, soweit Parteinähe vor Leistung geht, eine Schwächung der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Verwaltung insgesamt. Zudem: Wenn parteipolitische Machtorientierung dominiert, herrscht ein anderer Geist. Interessentenorientierung geht dann leicht vor Sachorientierung. Fast unmerklich droht die geistige Korrumpierung des ganzen Bereichs.35 Die Überrepräsentation von öffentlichen Bediensteten in den Parteien hat Konsequenzen auch für die Zusammensetzung der Parlamente. Beamte haben nämlich besonders gute Chancen, innerhalb der Parteien voranzukommen und für Parlamentsmandate nominiert zu werden. Das liegt nicht zuletzt an ihrem „Zeitreichtum“. Um in den beiden großen Parteien etwas zu werden, muss man nämlich regelmäßig eine langjährige parteiinterne Ochsentour durchlaufen.36 Das verlangt vor allem eines: die Möglichkeit, über die eigene Zeit zu disponieren.37 Und das können viele Beamte, vor allem Lehrer, die in Deutschland üblicherweise nur am Vormittag Unterricht zu geben haben. Die Folge ist eine Verbeamtung der Parteien und eine noch viel stärkere Verbeamtung der Parlamente. Fast die Hälfte der 2800 deutschen Parlamentarier des Bundestags, der 16 Landesparlamente und des Europäischen Parlaments kommt aus dem öffentlichen Dienst, darunter eben viele – in Deutschland ja verbeamtete – Lehrer.

35 So am Beispiel der Justiz: Werner Schmidt-Hieber/Ekkehard Kiesswetter, Parteigeist und politischer Geist in der Justiz, in: Neue Juristische Wochenschrift 1992, S. 1790 ff. Siehe auch von Arnim (Anm. 26), S. 170 f. 36 Zum „Prinzip der ,Ochsentour‘“ Wolfgang Schäuble, Das personale Element in repräsentativen Demokratien, in: Eckart Klein (Hrsg.), Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Festschrift für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1995, S. 221 (S. 228): „Was die Politik anlangt, so steht dem Elitenaustausch in höchst gewichtiger Weise das Prinzip der ,Ochsentour‘ im Wege. Die Karriere eines Berufspolitikers ist heute bestimmt von ,schrittweisem Aufstieg und sukzessiver Bewährung‘ (Dietrich Herzog), und die Parteibasis achtet streng darauf, dass die Reihenfolge eingehalten wird. Seiteneinsteigern, die keine jahrelange Kernerarbeit vorzuweisen haben, die nicht durch die Kandidatur in einem Wahlkreis legitimiert sind, zu einer aussichtsreichen Listenposition zu verhelfen, das ist ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Jahrelange Kernerarbeit zu leisten, das wird man aber von einem Unternehmer, einem Wissenschaftler, einem Publizisten, der einen bestimmten beruflichen Status erreicht hat, nicht mehr ohne weiteres erwarten dürfen.“ Zur Ochsentour siehe auch Ralf Paprotny, Der Alltag der niedersächsischen Landtagsabgeordneten, Hannover 1995, S. 105 f.; von Arnim (Anm. 9), S. 111 ff.; Wolfgang Klages, Republik in guten Händen?, Würzburg u. a. 2001, S. 34 ff., S. 50 ff. 37 Ulrich Pfeiffer, Eine Partei der Zeitreichen und Immobilen, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1997, S. 392 ff.; Anton-Andreas Gucha, Seiteneinsteiger oder die ungenutzte Chance der Parteien zur Regeneration, in: Vorgänge 1998, S. 54 ff.; Wolfgang Klages, Republik in guten Händen? Leistungsschwächen des politischen Personals in Deutschland, Würzburg u. a. 2001.

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Wie aber sollen verbeamtete Parlamente noch die nötige Distanz aufbringen, die Verwaltung und den öffentlichen Dienst grundlegend zu reformieren? Wie sollen Lehrer-Parlamente die Schulen, also quasi sich selbst, reformieren, so notwendig solche Reformen in Deutschland auch sind, wie international vergleichende Schüler-Tests gezeigt haben? 7. Beispiel Wahlrecht Besonders virulent sind die Eigeninteressen der politischen Akteure bei Gestaltung des Wahlrechts. Dies war klar zu beobachten in den – strukturell noch wenig verfestigten – ersten Jahren nach 1945, als in einigen Ländern die jeweilige Mehrheit das Landtagswahlrecht ziemlich hemmungslos nach ihren machtpolitischen Gesichtspunkten formte.38 Da die Freien Wählergemeinschaften in den Kommunen überaus stark waren, wurden sie in einigen Bundesländern kurzerhand gesetzlich verboten. Wäre nicht schließlich das Bundesverfassungsgericht eingeschritten, wären die kommunalen Wählergemeinschaften längst völlig von der Bildfläche der Bundesrepublik verschwunden. Von dem jahrelangen Verbot, etwa in Nordrhein-Westfalen, haben sie sich allerdings nie wirklich erholt.39 Auch das inzwischen in Deutschland übliche Zweistimmen-Wahlrecht ist von den Interessen der politischen Klasse geprägt. Bekanntlich dominiert dabei – entgegen dem äußeren Anschein – die Verhältniswahl. Das stärkt die Rolle der Parteien. Die Wahl von Kandidaten im Wahlkreis mit der Erststimme erweckt zwar den Eindruck, der Wähler könnte darüber entscheiden, welche Personen ihn im Parlament vertreten. Doch die Wahlkreiskandidaten der beiden großen Parteien sind regelmäßig auf den von den Wählern nicht zu verändernden Listen ihrer Parteien abgesichert, die mit der Zweitstimme gewählt wird. Aufgrund der starren Listen kommen die Kandidaten selbst dann ins Parlament, wenn sie im Wahlkreis unterliegen. Damit entscheiden Parteigremien und nicht die Wähler darüber, wer ins Parlament kommt und wer nicht. Wen sie in einem sicheren Wahlkreis oder auf einem sicheren Listenplatz platzieren, der ist seines Mandats schon lange vor dem eigentlichen Wahltag sicher. Ob diese Praxis überhaupt noch mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der unmittelbaren Wahl der Abgeordneten durch das Volk (und nicht durch Parteien) in Einklang steht (Art. 38 Abs. 1, 28 Abs. 1 Grundgesetz), erscheint fraglich. Ich bin dem Problem kürzlich in einer Abhandlung in der Juristenzeitung nachgegangen.40

38

von Arnim (Anm. 26), S. 134 f. mit weiteren Nachweisen. Ebd., S. 129 ff. mit weiteren Nachweisen. 40 Ders., Wählen wir unsere Abgeordneten unmittelbar?, in: Juristenzeitung 2002, S. 578 ff. 39

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8. Beschränkung des politischen Wettbewerbs durch die politische Klasse Ämterpatronage, Parteienfinanzierung und Wahlrecht sind Beispiele für Bereiche, in denen Regierungs- und Oppositionsparteien den Wettbewerb ausschalten, Kartelle bilden und so gemeinsam ihre Interessen sichern. Die sozialwissenschaftliche Auswertung dieser Entwicklung hat die beiden Politikwissenschaftler Richard Katz und Peter Mair in einer viel beachteten Publikation von 1995 zu der These veranlasst, in Deutschland und anderen stark parteienstaatlich geprägten Ländern sei ein Übergang von den bisherigen Volksparteien zu, wie die beiden Wissenschaftler es nennen, Kartellparteien zu beobachten.41 Katz und Mair führen vor allem staatliche Parteienfinanzierung und Ämterpatronage als Kennzeichen dieser Entwicklung an.42 Sie greifen damit – unausgesprochen – Erkenntnisse auf, die ich seit Jahrzehnten publiziert habe.43 Bloß können Katz und Mair in positivistischem Affirmatismus nichts wirklich Problematisches an der Entwicklung erkennen. Man müsse lediglich, so empfehlen sie, die „materielle Demokratietheorie“ ändern und sie dem Parteienkartell anpassen.44 Im übrigen würden neue Parteien auftreten, die die parteiliche Selbstbedienung anprangerten und die etablierten Parteien daran hindern, es allzu schlimm zu treiben.45 Parallel zur Kartellparteien-These hat sich – wohl auch nicht unbeeinflusst von meinen Veröffentlichungen – seit einem guten Jahrzehnt eine weitere politikwissenschaftliche Forschungsrichtung etabliert. In ihrem Mittelpunkt steht die Renaissance des Begriffs „politische Klasse“. Diesen Ansatz hat vor allem der wohl prominenteste deutsche Politikwissenschaftler, Klaus von Beyme, 1993 in seinem Buch „Die politische Klasse im Parteienstaat“ ausgearbeitet.46 Zentral ist die Entwicklung und das schließlich Vorherrschen des Berufspolitikers. Dieser Typus ist dadurch gekennzeichnet, dass er von der Politik lebt und – über die Parteigrenzen hinweg – gemeinsame Sache mit anderen Berufspolitikern macht, wenn es um die eigenen Berufsinteressen geht. Dabei profitieren sie von ihrer privilegierten Stellung an den Schalthebeln der Macht, weil sie über ihren rechtlichen Status weitgehend selbst entscheiden. Auch dieser Ansatz unterstellt Eigennützigkeit der Politiker, wie wieder vor allem an den Beispielen staatliche Politikfinanzierung und Ämterpatronage demonstriert wird. Ähnlich wie Katz

41 Richard S. Katz/Peter Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics 1995, S. 5 ff. 42 Ebd., S. 15. 43 Z. B. von Arnim (Anm. 21). 44 Katz/Mair (Anm. 41), S. 21. 45 Ebd., S. 24. 46 Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a. M. 1993.

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und Mair geht auch von Beyme davon aus, die bestehenden Kontrollen reichten aus, um allzu schlimme Auswüchse zu verhindern.47 Das Neue dieses Ansatzes ist die Differenzierung innerhalb der Parteien. Herausgearbeitet wird vor allem die Sonderrolle der Berufspolitiker als der eigentlichen Akteure bei der Bildung von politischen Kartellen – und zugleich deren Hauptnutznießer. Nicht Parteien sind Kern des politischen Klasse, sondern Berufspolitiker. Das kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass Berufspolitiker dazu neigen, den Wettbewerb um Mandate auch innerhalb der Parteien – etwa durch Erlass bestimmter Regelungen – zu ihren Gunsten und zu Lasten innerparteilicher Herausforderer einzuschränken. Von Beyme betont aber auch die Unterscheidung zwischen politischer Klasse – das ist die Summe aller Berufspolitiker, die von der Politik leben – und der zahlenmäßig sehr viel kleineren politischen Elite.48 Mit politischer Elite sind die Führungspersonen in den Parteien gemeint, also vor allem der Spitzenkandidat und seine Regierung oder, in der Opposition, der Herausforderer und sein Schattenkabinett. Für sie ist der Wahlsieg – oder jedenfalls die Verhinderung einer Wahlniederlage – von entscheidender Bedeutung, weil nur dies ihnen den Zugang zu den Regierungsämtern eröffnet. Dagegen macht der Ausgang von Wahlen und Koalitionsverhandlungen für die Masse der politischen Klasse keinen großen Unterschied, wenn sie nur überhaupt den Status eines Parlamentariers erlangen. Die politische Elite steht im Wettbewerb, weil es nur eine Regierung gibt. Die politische Klasse arrangiert sich dagegen, weil im Parlament Platz auch für Berufspolitiker der Opposition ist. Der Unterschied zwischen politischer Klasse und politische Elite wurde etwa deutlich, als – in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts – Ministerpräsidenten und Parteiführer von Regierung und Opposition im Wettbewerb miteinander die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte durchsetzten und dabei den massiven Widerstand ihrer politischen Klasse brachen. Ich habe diesen Prozess in der Zeitschrift „Die Öffentliche Verwaltung“ im Einzelnen analysiert.49 Alle diese Differenzierungen versäumte Richard von Weizsäcker, als er 1992 pauschal „die Parteien“ kritisierte. Das gab Bundeskanzler Helmut Kohl, der sich von Weizsäckers Kritik persönlich getroffen fühlte, vordergründig die Möglichkeit zur Verteidigung, indem er die Hunderttausende von Mitgliedern zu Zeugen rief, die sich vor Ort ehrenamtlich und aufopferungsvoll für die Belange ihrer Parteien einsetzen.50 Doch die waren mit dem berechtigten Kern der 47

Ebd., S. 194. Dazu von Arnim (Anm. 9), S. 45 f. mit Fußnoten 46 und 47. von Beyme (Anm. 46), S. 30 ff. 49 Hans Herbert von Arnim, Die politische Durchsetzung der Kommunalverfassungsreform der neunziger Jahre, in: Die Öffentliche Verwaltung 2002, S. 585 ff. 50 Helmut Kohl, in: Gunter Hofmann/Werner A. Perger (Hrsg.), Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, Frankfurt a. M. 1992, S. 240 (S. 242 f.). 48

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Weizsäckerschen Kritik gar nicht gemeint und haben ja auch in den Parteien – trotz des grundgesetzlichen Demokratiegebots (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG) – wenig zu sagen. Das gilt erst recht, seitdem sich neuerdings Spitzenpolitiker in zunehmendem Maße über die Medien, besonders das Fernsehen, direkt an die Bevölkerung wenden, noch bevor die Parteibasis, das Parlament und oft auch die Mitglieder der eigenen Regierung informiert sind – und auf diese Weise vollendete Tatsachen schaffen. Besonders Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte diesen Politikstil gepflegt. Beide politikwissenschaftlichen Ansätze, der von Katz/Mair und der von von Beyme, gehen davon aus, dass die Parteien bzw. die politische Klasse Kartelle bilden, vor allem, wenn es um Parteienfinanzierung, Ämterpatronage und Wahlrecht geht. Lassen sich die Kartelle aber wirklich auf diese drei Bereiche beschränken? Wirken ähnliche Mechanismen nicht auch sonst? Spiegeln sich hier nicht charakteristische Fehlentwicklungen unseres ganzen politischen Systems wider, die eben nur bei Ämterpatronage, Politikfinanzierung und Wahlrecht besonders deutlich in Erscheinung treten? Spielen Eigeninteressen der politischen Klasse nicht auch bei anderen Gesetzen und Verfassungsnormen eine zentrale Rolle, bei denen dieser Zusammenhang indirekter und deshalb sehr viel schwerer zu durchschauen ist? Und: Könnten Deformationen des Systems nicht ein Grund dafür sein, dass „die Politik“ ihre Aufgaben nicht mehr befriedigend erfüllt?51 9. Reformstau durch mangelhaften politischen Wettbewerb Wenn unsere These zutrifft, dass die Mängel des Systems ihrerseits ganz wesentlich auf Eigeninteressen der politischen Klasse beruhen, dann widersetzen sich diese vermutlich auch wirksamen Systemreformen. Deshalb wird, so meine weitere These, der Kern der Problematik auch nicht offen diskutiert. Wir haben nicht nur einen Reformstau in Deutschland, sondern auch einen „Wahrheitstau“. Insofern muss Roman Herzogs vielzitierter Ausspruch relativiert werden, wir hätten, was Reformen anlangt, kein Erkenntnisproblem mehr, sondern „nur“ ein Durchsetzungsproblem. Dass die Eigeninteressen der politischen Klasse zentralen Reformen im Wege stehen, ist noch lange nicht allen klar. Als jüngsten Beleg für die Richtigkeit dieser These, lässt sich die sogenannte Föderalismusreform anführen. Obwohl zentrale Fragen von vornherein ausgeklammert blieben, wie die Neugliederung der Bundesländer, scheiterte sie Ende 2004 zunächst kläglich, und zwar genau an dem Problem, dass sie beheben wollte, der Blockade der Politik aus Eigeninteresse der politischen Klasse. Hier wurden die gemeinschaftsschädlichen Auswirkungen des ungebremsten Egoismus der politischen Klasse für jedermann deutlich, wie etwa auch „Der Spie51

von Arnim (Anm. 26).

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gel“ und „Die Zeit“ übereinstimmend titelten. Die Große Koalition brachte die Föderalismusreform im Jahre 2006 zwar schließlich durch, allerdings in einer Fassung, die keine wirkliche Besserung verspricht. Von Anfang an waren es die politischen Akteure, die die Weichen für den bundesdeutschen Föderalismus in ihrem Interesse stellten. Das Bundesratsprinzip, das es in keinem anderen westlichen Bundesstaat gibt, setzte sich im Parlamentarischen Rat durch, nachdem sich der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard und der nordrhein-westfälische Innenminister Walter Menzel bei einem Abendessen am 26. Oktober 1948 darauf geeinigt hatten.52 Und in den folgenden Jahrzehnten erfolgte die ständige Ausweitung der (Blockade-)Macht des Bundesrats auf Drängen der Ministerpräsidenten, die für die Zunahme der Kompetenzen des Bundes vermehrte Zustimmungsrechte des Bundesrats einforderten – alles auf Kosten der Landesparlamente und der Wähler, die nicht mehr durchblicken. Die Landesparlamente wurden für ihren massiven Aufgabenverlust – paradoxerweise – mit einer gewaltigen Aufwertung ihres finanziellen Status, einschließlich üppiger Versorgung, entschädigt.53 10. Das Bundesverfassungsgericht als Kontrolleur? Bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache ist – neben der Öffentlichkeit54 – die Verfassungsrechtsprechung die einzige wirksame Kontrolle. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht, jedenfalls streckenweise, eine derart aktive Rolle gespielt, dass ihm judicial activism vorgeworfen wurde. Das gilt zum Beispiel für das Diätenurteil von 197555 und für die Errichtung einer „absoluten Obergrenze“ der staatlichen Parteienfinanzierung im Urteil von 1992.56 Überhaupt ist das ganze Parteiengesetz, das nicht umsonst als „Parteienfinanzierungsgesetz“ apostrophiert wird, ganz wesentlich durch die Entscheidungen des Gerichts geprägt.57 Man hat das Gericht gelegentlich auch als „Kartellamt der Parteien“ bezeichnet. Doch der erste Eindruck trügt. Langfristig scheint die Rechtsprechung die Politikfinanzierung eher beflügelt zu haben. Das begann bereits damit, dass das Gericht 1958 – wohl unter dem Eindruck der unseligen Parteienstaatsdoktrin von Gerhard Leibholz – überraschend die Staatsfinanzierung der Parteien für zulässig erklärte und der Politik damit die scheinbare Rechtfertigung für ihre 52

Ders. (Anm. 10), S. 90. Ders., Die Mär vom Landtagsmandat als Fulltimejob, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2005, S. 77. 54 BVerfGE 40, 296 (327). 55 BVerfGE 40, 296. 56 BVerfGE 85, 264 (288 ff.). 57 von Arnim (Anm. 22), S. 393 ff. mit weiteren Nachweisen. 53

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Einführung lieferte.58 Es setzte sich darin fort, dass das Gericht zwar die Subventionierung der Parteien im engeren Sinne begrenzte, nicht aber die der Parlamentsfraktionen und Parteistiftungen, die förmlich ins Kraut schossen. Das Gericht steuerte zudem einen ausgesprochenen Zickzack-Kurs, der es den Parteien erleichterte, die Urteile nicht immer ernst zu nehmen und auf künftige günstigere Entscheidungen zu hoffen.59 Das hinderte das Gericht daran, seinen Entscheidungen rückwirkende Kraft beizulegen. Stattdessen segnete das Gericht das von den Parteien in eigener Sache hochgepuschte Finanzierungsniveau regelmäßig ab.60 Über die Auswahl der Richter haben die Bundestagsparteien eben einen gewissen Einfluss auf die große Linie der Rechtsprechung, wenn auch der „Beckett-Effekt“ hier nicht zu unterschätzen ist.61 Zudem kann das Gericht – anders als das Kartellamt, das von Amts wegen einschreitet – regelmäßig nur von den Betroffenen selbst angerufen werden, die aber auch hier ein Kartell bilden.62 Deshalb ist zum Beispiel die verfassungswidrige steuerfreie Kostenpauschale von derzeit 3647 Euro, die Bundestagsabgeordnete ohne Rücksicht auf ihre tatsächlichen Mandatskosten – zusätzlich zu ihrem Gehalt, ihrer Versorgung und der Finanzierung von Mitarbeitern – erhalten, noch nie Gegenstand eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts geworden, genauso wenig wie die überhöhte steuerliche Förderung von Spenden an Parteien (einschließlich der Parteisteuern). Im Wahlrecht gab das Gericht den starren Parteilisten seinen Segen,63 obwohl sie dazu führen, dass nicht der Wähler die Abgeordneten auswählt, sondern die Parteien.64 Die Fünfprozentklausel wurde selbst für Europawahlen für zulässig erklärt,65 obwohl – angesichts der rund 150 Parteien, die ohnehin im Straßburger Parlament vertreten sind – das Zersplitterungsargument keine Kraft mehr besitzt und ausgeschlossene kleine deutsche Parteien oft sehr viel mehr Wähler haben als Parteien anderer Mitgliedstaaten mit Sitzen im Europäische Parlament.66 Im Diätenurteil von 1975 ersetzte das Gericht den Begriff „Entschädigung“, der in Art. 48 Abs. 3 Grundgesetz niedergelegt ist, im Wege freier, von Leibholz beeinflusster Rechtsschöpfung durch den Begriff der für alle gleichen 58

BVerfGE 8, 51 (63). von Arnim (Anm. 22), S. 403 f. 60 Ebd., S. 400. 61 Ebd., S. 404. 62 Ebd., S. 35 und öfter. 63 BVerfGE 7, 63. 64 Hans Herbert von Arnim, Wahl ohne Auswahl. Die Parteien und nicht die Bürger bestimmen die Abgeordnete, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 2004, S. 115 ff. 65 BVerfGE 51, 222 (233 ff.). 66 von Arnim (Anm. 6), S. 246 ff. mit weiteren Nachweisen. 59

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„Vollalimentation“67 – und prämierte dadurch finanziell die Kandidatur von mittleren Beamten, zum Beispiel Lehrern, die ihr Einkommen im Parlament verdoppeln, und schreckte gleichzeitig „Besserverdienende“ ab, für die die Übernahme eines Mandats eine finanzielle Einbuße bedeutet.68 Zugleich formulierte das Gericht so undeutlich, dass selbst die (ihrer Aufgaben entleerten) Landesparlamente sich – unter Berufung auf das Urteil –„Vollalimentation“ und Überversorgung bewilligten.69 Gegen parteipolitische Ämterpatronage vorzugehen und entsprechende organisatorisch-verfahrensmäßige Vorkehrungen zu verlangen, traute sich das Gericht offenbar nicht – zu sehr sitzt es selbst im Glashaus. 11. Mögliche Abhilfen Zum Schluss stellt sich nun für den Wissenschaftler die Frage, was gegen die geschilderten Fehlentwicklungen unternommen werden könnte und – vorneweg –, ob es sich überhaupt um Fehlentwicklungen handelt. Der Kartellparteien-Ansatz von Katz und Mair und der Politische Klasse-Ansatz von Klaus von Beyme gehen davon aus, die Lage sei eben so, wie sie sei. Sie brauche nicht geändert zu werden, sie könne wohl auch gar nicht beeinflusst werden und korrigiere sich im Übrigen selbst. Die Autoren können also Fehlentwicklungen nicht wirklich erkennen. Sie erliegen damit, wie ich behaupte, einem „naturalistischen Fehlschluss“ (Andreas Suchanek). 67

BVerfGE 40, 296 (315 ff.). Die Verfassung spricht keineswegs von „Alimentation“, sondern von einem Anspruch der Abgeordneten auf „eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung“ (Artikel 48 Absatz 3 Grundgesetz). Würden Abgeordnete für den Verlust an Einkommen entschädigt, den sie durch Wahrnehmung ihres Mandats erleiden, erhielten sie – je nach der Höhe ihres bisherigen Einkommens – unterschiedlich hohe Zahlungen, wobei es natürlich Mindest- und Höchstgrenzen geben müsste. Die Einheitsalimentation lockt dagegen die Falschen an: Für Kandidaten mit hohem Einkommen bedeutet das Mandat eine finanzielle Einbuße, während Personen mit niedrigem oder mittleren Einkommen einen „Reibach machen“. Auch die zeitliche Koinzidenz mehrerer einschlägiger, unabhängig voneinander entstandener Abhandlungen aus rechtswissenschaftlicher, politikökonomischer und wirtschaftsethischer Perspektive, die alle für eine Abwendung vom Alimentationsprinzip und eine Rückkehr zum Entschädigungsprinzip streiten, indiziert die Überprüfungsbedürftigkeit der derzeitigen Einheitsalimentation nachdrücklich: Lothar Determann, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Entschädigung von Abgeordneten, in: Bayrische Verwaltungsblätter 1997, S. 375 ff.; Dirk Meyer, Abgeordnetenentschädigung – ein Beitrag zur Rationalisierung der Diskussion aus ökonomischer Sicht, in: Politische Vierteljahresschrift 1998, S. 329 ff.; Werner Lachmann, in: Gaertner (Hrsg.), Wirtschaftsethische Perspektiven, Bd. 4, 1998, S. 307 ff.; Stephan Holthoff-Pförtner, Landesparlamentarismus und Abgeordnetenentschädigung, Baden-Baden 2000, S. 122 ff. Siehe auch schon Hans Herbert von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, Mainz 1991, S. 159; vgl. ferner ders., Reform der Abgeordnetenbezahlung, in: Politische Vierteljahresschrift 1998, S. 345 ff. 69 Hans Herbert von Arnim, Zweitbearbeitung des Art. 48 GG im Bonner Kommentar (1980), Rdnrn. S. 110 ff. 68

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Ist es etwa keine Fehlentwicklung, wenn die politische Willensbildung nicht von unten nach oben verläuft, sondern umgekehrt von oben nach unten? Ist es keine Fehlentwicklung, wenn die politische Handlungs- und Reformfähigkeit bis zur Lähmung beschränkt erscheint. Und das in einer Lage, in der Globalisierung, Demographie, mangelndes Wirtschaftswachstum, Massenarbeitslosigkeit und hohe Transfers in die Neuen Bundesländer eine Anpassung etwa aller unserer Sozialsysteme an die neuen Herausforderungen zwingend verlangen? Kann hier noch von Regierung durch das Volk und für das Volk die Rede sein? Staatsrechtler wie Josef Isensee und Otto Depenheuer verweisen auf die Bindung aller Amtsträger an das Gemeinwohl und appellieren an die Amtsträger, dieser Verpflichtung auch nachzukommen. Beide Autoren erkennen zwar durchaus, dass die Realität ganz anders aussieht und geißeln dies auch vehement.70 Sie verzichten aber auf die Analyse der Kräfte, auf denen die Abweichung der Wirklichkeit von der Norm beruht. Damit erliegen sie, wie ich meine, einem „normativistischen Fehlschluss“.71 Stattdessen beschränkt sich etwa Depenheuer auf Hoffnung auf die allgemeine Auffassung der Menschen, die von ihren Politikern Gemeinwohlorientierung verlangen und die die Politiker deshalb dazu nötigen, ihre wahren Motive und Ziele zu verbergen und sich öffentlich als gemeinwohlbezogen darzustellen, also so zu tun, als ob.72 Läge es, statt bloßer Appelle und Hoffnungen, nicht näher, den Auffassungen der Menschen, der Bürger, auch institutionell die nötige Durchsetzungskraft zu verleihen? In der Tat dürfte letztlich das Volk als wichtigstes Gegengewicht gegen Machtmissbräuche der Parteien infrage kommen. Müsste man, um Volkes Stimme die nötige Wirksamkeit zu verleihen, nicht die Institutionen so ergänzen, dass das Volk der politischen Klasse notfalls in den Arm fallen kann? Und dies vor allem, um zu verhindern, dass die politische Klasse die Regeln des Machterwerbs nach ihren eigenen Interessen gestaltet – statt nach den Interessen des Volkes. Hier kommen dann Volksbegehren und Volksentscheid ins Spiel. Aufschlussreich ist, dass auch Staatsrechtslehrer, die ansonsten wenig von direkter Demokratie halten (wie z. B. Ernst-Wolfgang Böckenförde,73 Peter

70 Depenheuer (Anm. 2), S. 87 ff.; Josef Isensee, Das Amt als Medium des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Gemeinwohl auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002, S. 241 ff. 71 Andreas Suchanek, Erfolgreiche Therapie ohne gute Diagnose? Zum Zusammenhang von normativer und positiver Analyse in der Ökonomik, in: Martin Held (Hrsg.), Normative Grundfragen der Ökonomik. Folgen für die Theoriebildung, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 189 (S. 192 f.). 72 So z. B. Depenheuer (Anm. 2), S. 129. 73 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: Festschrift für Kurt Eichenberger, Basel u. a. 1982, S. 301 (S. 316).

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Lerche74 und Klaus Vogel75), direkte Demokratie als einziges wirksames „Gegengift“ gegen Machtmissbrauch der Parteien durchaus in Betracht ziehen. Allerdings stellt sich auch hier das Odysseus-Problem: Die politische Klasse muss die institutionellen Instrumente zu ihrer eigenen Beschränkung ja selbst beschließen. Ein großer Teil des Widerstandes gegen die Einführung wirksamer direkter Demokratie in Deutschland dürfte genau darin seinen Grund haben. Der Entwurf der rot-grünen Koalition in der vergangenen Legislaturperiode schloss zum Beispiel den finanziellen Status von Abgeordneten als Gegenstand der Volksgesetzgebung ausdrücklich aus. Dennoch brauchen wir, so meine ich, nicht alle Hoffnung fahren zu lassen: Der alte Erfahrungssatz, dass die Menschen zu schlecht und zu leidenschaftlich sind, um ohne Gesetze auszukommen, dass sie aber klug und besonnen genug sind, um sich die nötigen Gesetze zu geben, trifft ja möglicherweise auch auf den Erlass der nötigen Verfassungsregeln durch die politische Klasse zu und dürfte erst recht für die politischen Eliten gelten, die sich vielleicht vorstellen könnten, mit derartigen Vorschlägen Wahlen zu gewinnen. Und in den Bundesländern, wo bereits die Möglichkeit direkter Demokratie eröffnet ist, könnte man – sogar an der politischen Klasse vorbei – eine durchgreifende Verfassungsreform von unten her durchsetzen. So wurde vor kurzem z. B. ein bürgernahes Wahlrecht in Hamburg durchgesetzt. Zu diesem Thema ist gerade eine Speyerer Dissertation erschienen.76 Erste Voraussetzung ist allerdings die ungeschminkte Darstellung der Lage und ihre Beurteilung anhand der Werte, die unserer Verfassung zugrunde liegen. Und das ist in meinen Augen die Aufgabe der Wissenschaft, der Staatsrechtslehre ebenso wie der Politikwissenschaft. Die seinswissenschaftliche und die normwissenschaftliche Sicht müssen endlich wieder zusammengeführt werden und zu einer – den Herausforderungen unserer Gemeinschaft adäquaten – Einheit finden.

74 Peter Lerche, Grundfragen repräsentativer plebiszitärer Demokratie, in: Huber/ Mößle/Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, Tübingen 1995, S. 179 (S. 186 f.). 75 Klaus Vogel, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Vortrag auf der katholischen Akademie in Bayern am 25. September 1992 in München, Typoskript, S. 18. 76 Jan Backmann, Direktwahl der Ministerpräsidenten. Als Kern einer Reform der Landesverfassungen, Berlin 2006.

Herausgeber und Autoren Arnim, Hans Herbert von, Dr., em. Professor im Fach Rechtswissenschaft an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Breuer, Marten, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Rechtswissenschaft an der Universität Potsdam. Hartleb, Florian, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Politikwissenschaft an der TU Chemnitz. Jesse, Eckhard, Dr., Professor im Fach Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz. Klein, Eckart, Dr., Professor im Fach Rechtswissenschaft an der Universität Potsdam. Klein, Hans Hugo, Dr., em. Professor im Fach Rechtswissenschaft an der Universität Göttingen und ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht. März, Peter, Dr., Direktor der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Strohmeier, Gerd, Dr., Privatdozent im Fach Politikwissenschaft an der Universität Passau. Werz, Nikolaus, Dr., Professor im Fach Politikwissenschaft an der Universität Rostock.