Vorbilder: Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland 9783412217624, 9783412223656

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Vorbilder: Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland
 9783412217624, 9783412223656

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Jost Hermand

Vorbilder

Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Mehr als tausend Atomkraftgegner nahmen am 24.06.1979 in Gundelfingen an einer Kundgebung teil, bei der gegen den Weiterbau des Kernkraftwerks Grund­remmingen protestiert wurde. Prominentester Redner dieser Kundgebung war der Buchautor Robert Jungk. © picture alliance / Fotograf: Norbert Försterling

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22365-6

Inhalt 7 Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte Ein Abriß 31

Richard Hamann (1879–1961) Kunsthistoriker

57

Werner Krauss (1900–1976) Romanist

77

Jürgen Kuczynski (1904–1997) Gesellschafts- und Wirtschaftshistoriker

99

Wolfgang Abendroth (1906–1985) Politik- und Rechtswissenschaftler

1 19

Georg Knepler (1906–2003) Musikhistoriker

1 41

Hans Mayer (1907–2001) Literaturwissenschaftler

1 69

Helmut Gollwitzer (1908–1993) Protestantischer Theologe

1 91

Robert Jungk (1913–1994) Zukunftsforscher

2 13

Walter Grab (1919–2005) Historiker

2 33

Hans Heinz Holz (1927–2011) Philosoph

2 55

Werner Mittenzwei (1927–2014) Literatur- und Theaterwissenschaftler

277 Schlußwort 279 Anmerkungen 299 Bildnachweise 300 Personenregister

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte Ein Abriß

I Worin sahen bestimmte Berufsgruppen oder gar größere Bevölkerungsschichten ihre gesellschaftspolitischen „Vorbilder“? Wann tauchten diese erstmals auf? Wer propagierte sie? Wem nützten sie? Warum büßten sie inzwischen viele ihrer bisherigen Charakteristika ein? Nur wer sich derartige Fragen stellt, kann hoffen, etwas historisch Begründetes, ja vielleicht sogar Relevantes über den tieferen Sinn derartiger Vorbilder auszusagen. In jenem geographischen Bereich, der sich seit einigen Jahrhunderten als „Deutschland“ versteht, entstanden sie wahrscheinlich erst, als sich in grauer Vorzeit einige germanische Bevölkerungsgruppen zu Stammesverbänden zusammenschlossen, die sich zur Stärkung ihrer inneren Verbundenheit – neben kriegerisch-wehrhaften Vorstellungen – zugleich auf mythologisch überhöhte Herrschaftskonzepte zu stützen versuchten. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei sicher auch vorbildliche Gestalten der jüngsten Vergangenheit, an denen sich die führende Kriegerkaste ein Beispiel nehmen sollte. Dies änderte sich erst, als die germanischen Stämme im Zuge der Völkerwanderung des 4. bis 6. Jahrhunderts in den Einflußbereich spätantiker Religionsvorstellungen gerieten und ihnen dort das Vorbild jenes Heilands gepredigt wurde, der allen Menschen – ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit und Sprache – die Verpflichtung auferlegt habe, sich im Gefolge einer Imitatio Christi zu Friedfertigkeit und Bescheidenheit zu bekennen. Und daraus ergaben sich im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitischen Vorbilder folgende Auswirkungen. Einer-

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

seits führte diese ideologische Umorientierung im Zuge der angestrebten Christianisierung des sogenannten Abendlandes von seiten der römisch-katholischen Kirche zu einer schnell anwachsenden Verkultung jener Heiligen, ob nun Männer oder Frauen, die bei der Durchsetzung des neuen Glaubens selbst vor dem Märtyrertod nicht zurückgeschreckt waren. Andererseits wurden von ihr all jene Anhänger Jesu als Vorbilder hingestellt, die sich danach als Eremiten, Klausner oder Mönche aus dem weltlichen Getriebe in eine bedürfnislose Einsamkeit zurückgezogen hatten. Doch mit solchen Leitbildern allein war kein Staat zu machen. Also mußten bei der Gründung neuer Königreiche auch gewisse vorchristliche Herrscher- und Heldenvorstellungen reaktiviert werden, denen nach germanischer oder antiker Tradition weiterhin die nötige Verehrung gezollt werden sollte, um so die in der Lehre Jesu enthaltenen Gleichheitsvorstellungen aller Menschen zu verhindern, mit denen sich keine staatlichen Ordnungsprinzipien durchsetzen ließen. Schließlich waren die inzwischen entstandenen, zumeist germanisch regierten Staaten wegen der noch unterentwickelten materiellen Produktionsverhältnisse auf eine klare Gewaltentrennung angewiesen, mit der sie die Gefahr eines räuberischen Anarchismus vermeiden wollten. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist allen Sozialhistorikern bekannt. Den unteren Bevölkerungsschichten, das heißt den Bauern, Handwerkern und Mönchen, wurde fast das gesamte Mittelalter hindurch das christliche Ideal der Friedfertigkeit und Bescheidenheit gepredigt, um innerhalb dieser Stände keinen rebellischen Geist aufkommen zu lassen, während sich die Herrschenden gern als christlich-großmütige Könige oder edle Ritter verklären ließen. Ja, manche Herrscher verstanden sich – neben dem Papst – sogar als Stellvertreter Jesu, so wie manche Ritter – in Anlehnung an die Parzival-Legende – auf literarischer Ebene gern als Hüter des Heiligen Grals hingestellt wurden, um auch sie mit dem Nimbus heilsgeweihter Gestalten zu umgeben. Diese Ständeordnung sowie das ihm zugrundeliegende Vorbildsystem blie8

Ein Abriß

ben in Deutschland bis weit in das 14., ja zum Teil noch bis in das 15. Jahrhundert erhalten. Das belegt unter anderen der erste Catalogus illustriam vivorum germaniam, den Johannes Trittenheim, der sich als Abt des Benediktinerklosters Sponheim Trithenius nannte, in den Jahren 1491 bis 1495 zusammenstellte und in den er rund 500 geistliche und weltliche Gestalten aufnahm, die sich entweder in der Nachfolge Christi oder wegen ihrer Herrscherqualitäten ausgezeichnet hätten. Doch zu diesem Zeitpunkt bahnten sich im gesellschaftlichen Gefüge jenes Staates, der sich als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ausgab,1 bereits sozioökonomische Änderungen an, die notwendigerweise zu einem Wandel innerhalb der klassenbedingten Vorbilder führten. Ausgelöst wurde diese Entwicklung vor allem durch die sich unaufhaltsam vollziehende Verstädterung und die damit verbundene Entstehung jenes Dritten Standes, der sich als freies Bürgertum verstand und sich aufgrund seiner Bildung und allmählich anwachsenden Vermögensverhältnisse nicht mehr in die mittelalterliche Ständeordnung, die nur Fürsten, Adlige, Bauern, Handwerker und Mönche gekannt hatte, einpassen wollte. Auch die von Martin Luther ausgehende Reformation, das Auftreten der deutschbewußten Humanisten sowie die ersten Bauernaufstände zu Beginn des 16. Jahrhunderts taten ein übriges, die älteren gesellschaftlichen Leitbilder des edlen Ritters und des sich der Imitatio Christi hingebenden Klosterbruders in den Hintergrund zu drängen. Das erstmals mit einem steigenden Selbstbewußtsein auftretende Bürgertum, das mehrheitlich nicht mit den aufständischen Bauern sympathisierte, suchte plötzlich nach neuen gesellschaftlichen Vorbildern, um sich als eine über das „niedere Volk“ erhebende Kaste zu qualifizieren. Und die sah es weitgehend in Reformatoren, Künstlern und Gelehrten, die zwar noch keine politische Macht besaßen, aber dafür wenigstens im Bereich des Geistes einen nicht mehr zu unterdrückenden Führungsanspruch anzumelden versuchten. Ein gutes Beispiel dieser Gesinnung ist das 1566 erschienene Teutscher Nation Heldenbuch des Baseler Professors 9

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

Heinrich Bantlin. Zwar reichte es im Sinne der mittelalterlichen genealogischen Vorstellungen bis zu Adam, als dem Urahn der gesamten Menschheit, zurück, präsentierte aber zugleich dem bürgerlichen Lesepublikum dieser Jahre auch vorbildliche Gestalten wie Martin Luther, Johannes Gutenberg, Sebastian Münster, Albrecht Dürer und Erasmus von Rotterdam, die sich durch ihre Taten und ihr Leben, durch ihre Tugenden und ihre große Autorität, wie es mehrfach heißt, ausgezeichnet hätten. Doch die nur mangelhaft ausgebildeten materiellen Produktionsverhältnisse innerhalb der bürgerlichen Handels- und Handwerkergesellschaft reichten zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs aus, um diesen Vorbildern eine in die politische Praxis eingreifende Wirkung zu verleihen. Dazu war die Macht der über große Ländereien und Steuereinkommen verfügenden fürstlichen und geistlichen Feudalherren, die im Zuge der Gegenreformation und dann in Nachahmung des französischen Sonnenkönigs immer absolutistischer auftraten, weiterhin viel zu erdrückend. Dementsprechend mußte sich das Bürgertum im sogenannten Barockzeitalter zwangsläufig neue gesellschaftspolitische Vorbilder schaffen. Statt nach wie vor die aufrührerischen Reformatoren und Humanisten des frühen 16. Jahrhunderts zu verklären, begnügte es sich jetzt zusehends mit der liebedienerischen Herausstellung jener Hofbeamten, deren Ehrgeiz sich weitgehend in den eigenen Karriereabsichten erschöpfte. Zugegeben, im Gefolge der beginnenden Aufklärung des 18. Jahrhunderts kam es dabei auch zum Leitbild des „redlichen Mannes am Hofe“, der sich bemüht, seinen Fürst von unnötigen Exzessen abzuhalten und ihm lieber gewisse Reformen im Steuer- und Verwaltungswesen nahezulegen. Aber letztlich erwiesen sich solche vereinzelt auftretenden Gestalten nicht als allgemeingültige Vorbilder für das sich selbst in vielen deutschen Staaten zu einem allmählich immer größeren Selbstwertgefühl durchringenden Bürgertum. Da jedoch der absolutistische Gegendruck nicht nachließ, beschränkten sich in der Folgezeit viele bürgerliche Autoren bei ihrer Suche nach 10

Ein Abriß

neuen sozialen Fixpunkten zunehmend auf den Innenbereich der alltäglichen Lebensführung, statt sich auf das Glatteis in die Tagespolitik eingreifender Forderungen zu begeben. Ihre gesellschaftspolitischen Vorbilder blieben demzufolge bis weit in das 18.  Jahrhundert hinein, ja zum Teil sogar noch darüber hinaus, recht bescheiden. Im Sinne der weitverbreiteten Maxime „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ stellten sie gern als neues Leitbild den „guten Hausvater“ hin, der sich aus allen politischen Wirren heraushält und sich vornehmlich um sein Geschäft und seine Familie kümmert. In ihren Schriften begegnet man daher immer wieder der Forderung, daß jeder „vor seiner eigenen Türe kehren solle“, statt sich in die politischen Machenschaften der Fürsten einzumischen. Die Forderungen der Französischen Revolution von 1789 fanden, obwohl sie fast ausschließlich vom Dritten Stand ausgingen, deshalb selbst in den mittelständischen Schichten der meisten deutschen Staaten keinen großen Widerhall, zumal sich sogar von ihrem Herzog in den Adelsstand erhobene bürgerliche Geistesgrößen wie Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller im Laufe der neunziger Jahre unmißverständlich von ihnen distanzierten. An welchen Vorbildern sollten sich daher die anderen Intellektuellen unter den deutschen Bürgern in dieser Ära orientieren? Da sie keine fanden und in den gegenrevolutionären Propagandaorganen lediglich lasen, zu welchen gewaltsamen Ausschreitungen die jakobinische Herrschaft in Paris geführt habe, schwiegen sie lieber und blieben bei ihrer hausväterlichen Gesinnung, die ihnen in den von den Fürsten angezettelten Koalitionskriegen gegen die angeblich „skrupellosen Wüstlinge“ jenseits des Rheins als die ihrem Stande einzig gemäße Haltung erschien. Doch dieser Zustand sollte nicht lange währen. Schließlich erwies sich der ihnen anfangs als „Bändiger der Französischen Revolution“ angepriesene Napoleon ab 1806 als ein skrupelloser Imperialist, der nicht nur das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu Fall brachte, sondern es auch schamlos auszubeuten begann. Und das 11

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

empörte selbst große Teile der bis dahin in Engelsgeduld dahinlebenden deutschen Bürgerklasse. Als sich darum 1812 die preußischen, sächsischen und österreichischen Herrscher entschlossen, die französische Grande armée mit der Hilfe der Russen aus Deutschland zu vertreiben, folgten ihnen viele ihrer Untertanen mit „vaterländischer“ Begeisterung, ja voller Hoffnung, daß dieser Krieg nicht nur zur Befreiung von den Franzosen, sondern auch zur Befreiung von der absolutistischen Willkür vieler deutscher Fürsten führen würde. Ihre gesellschaftspolitischen Vorbilder waren daher nicht nur Friedrich Wilhelm III. von Preußen oder Franz I. von Österreich, sondern auch die in der Germania des Tacitus oder im Nibelungenlied beschworenen freiheitsliebenden germanischen Recken sowie jene Lützower Jäger, die im Gefolge Theodor Körners im Kampf gegen die französischen Eindringlinge den Heldentod erlitten hatten. Doch alle daran geknüpften Hoffnungen machten die auf dem Wiener Kongreß von 1815 von den Fürsten durchgesetzten reaktionären Beschlüsse, die keinen Zweifel an der Aufrechterhaltung der älteren absolutistischen Verhältnisse ließen, wieder zunichte. Wer deshalb in der Folgezeit weiterhin irgendwelchen nationaldemokratischen Idealen anhing, wurde entweder bespitzelt, eingekerkert oder mußte ins Ausland fliehen. Neue politische Hoffnungen und damit auch neue gesellschaftsverändernde Vorbilder ergaben sich für das deutsche Bürgertum erst wieder nach der Französischen Revolution von 1830, deren progressive Zielsetzungen vor allem von den Jungdeutschen und dann den Vormärzlern aufgegriffen wurden, die sich wie Heinrich Heine als saintsimonistisch gesinnte „Männer der Moderne“ oder wie Karl Marx als „Kommunisten“ ausgaben, jedoch bei den durch die Metternichsche Restauration eingeschüchterten biedermeierlich gesinnten Hausvätern nicht den genügenden Widerhall fanden. Selbst die anfangs recht vielversprechende Achtundvierziger-Revolution verlief demzufolge in Deutschland im Sande. Als deshalb Ludwig Bechstein 1854 sein Buch Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen 12

Ein Abriß

herausbrachte, nahm er darin vor allem Schriftsteller, Komponisten, Maler und Gelehrte auf, um somit den in rund 30 autonomen Fürstentümern lebenden Deutschen – wenn schon nicht in politischer Hinsicht, so doch wenigstens auf dem Gebiet der Kultur und Wissenschaft – einige nationalbetonte Vorbilder zu geben. Doch schon in den folgenden Jahren schworen große Teile der bürgerlichen Intelligenz, selbst viele von jenen, die sich 1848 noch für die Durchsetzung der Volkssouveränität eingesetzt hatten, sogar derartigen Vorbildern ab und versprachen sich eine Veränderung der innenpolitischen Verhältnisse nur noch von der preußischen Führungsmacht unter Otto von Bismarck. Und dieser nutzte als Realpolitiker die ihm gegebene Chance, indem er 1871 – nach einem von ihm provozierten Krieg gegen Frankreich – jenes Zweite Deutsche Kaiserreich gründete, in dem zwar auch einige Vertreter des bürgerlichen Geistes- und Besitzadels als vorbildlich hingestellt wurden, jedoch die eigentliche Macht weiterhin in den Händen der Fürsten und der mit ihnen verbundenen Hochadligen blieb. Die Folge davon war, daß sich die wilhelminische Bourgeoisie in zwei ideologische Lager spaltete. Die einen schworen blindlings auf Kaiser und Reich, die anderen zogen sich in den Bereich der von Thomas Mann apostrophierten „machtgeschützten Innerlichkeit“ zurück und sahen ihre Vorbilder lediglich in Künstlern, Ästheten und anderen „Geistigen“, die sich von jedem tagespolitischen Engagement distanzierten. Während die Sozialdemokraten zur gleichen Zeit erstmals das Leitbild des klassenbewußten Arbeiters aufstellten, fanden die bildungsbetonten Intellektuellen dieser Ära sowohl die geschäftstüchtigen Raffkes unter den Industriellen als auch den Pöbel der unteren Klassen lediglich degoutant. Ohne jedes Verständnis für die imperialistische Stimmungsmache der wilhelminischen Führungsschichten stolperten daher viele von ihnen 1914 geradezu bewußtlos in jenen Ersten Weltkrieg hinein, den sie als eine „Kulturmission des deutschen Geistes“ empfanden. 13

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

Als dieser Krieg verloren ging, stand deshalb fast das gesamte deutsche Bürgertum ohne progressiv gestimmte Vorbilder da. Es war zwar froh, daß die inzwischen revisionistisch eingestellten Sozialdemokraten die von den Spartakisten angestrebte „Bolschewisierung“ der Weimarer Republik verhindert hatten, schwankte aber weiterhin unschlüssig zwischen wilhelminisch gefärbten Nostalgiegefühlen und gewissen liberaldemokratischen Vorstellungen hin und her. Ja, als es 1929 zu einer auch sie bedrohenden Wirtschaftskrise kam, schloß sich die Mehrheit des bürgerlichen Mittelstands, der sich inzwischen von den Sozialdemokraten abgewandt hatte, jener Allianz aus Deutschnationaler Volkspartei (DNVP) und Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei (NSDAP) an, von der sich die Vertreter dieser Klasse die einzig mögliche Rettung vor einer abermals drohenden „Bolschewisierung“ von seiten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) versprachen. Demzufolge huldigten sie von Jahr zu Jahr, ja von Monat zu Monat immer williger jenen gesellschaftspolitischen Vorbildern, die ihnen diese zwei zutiefst republikfeindlichen Parteien als die wichtigsten Leitfiguren einer erfolgversprechenden Zukunft vorgaukelten. Und das waren vor allem die deutschbewußten Arbeiter der Stirn und die ebenso deutschbewußten Arbeiter der Faust, die nicht länger dulden würden, sich von irgendwelchen undeutschen Elementen, seien es nun Kommunisten oder Juden, ausbeuten oder hinters Licht führen zu lassen, sondern allen „wahren Deutschen“ wieder ein neues nationales und kulturbewußtes Selbstwertgefühl einflößen würden. Die innenpolitischen, rassistischen und imperialistischen Auswirkungen dieser propagandistisch aufgebauschten Ideologiekonzepte, ob nun die am 30.  Januar 1933 von Paul von Hindenburg vollzogene Machtübergabe an Adolf Hitler, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, das Leitbild der arischen Volksgemeinschaft, die Nürnberger Rassengesetze, der Zweite Weltkrieg, die Judenvernichtung, die Bombardierung der deutschen Städte, die bedingungslose Kapitulation am 14

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8. Mai 1945 und die Vertreibung von über 10 Millionen Deutscher aus Ost- und Südosteuropa, sind nur allzu bekannt und brauchen hier nicht weiter ausgeführt zu werden. II Wie sollte es danach zu neuen gesellschaftspolitischen Leit- oder Vorbildern kommen? Und wer sollte sie aufrichten? Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung verhielt sich nach den grauenvollen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs erst einmal wie gelähmt. Selbst die überlebenden Nazifaschisten, die an dieser Misere schuld waren, hatten keine Chance, weiterhin für ihre Ideale Propaganda zu treiben. Daran hinderten sie nicht nur die Entnazifizierungsmaßnahmen der vier Besatzungsmächte, sondern auch jene Vertreter der Inneren Emigration, die sich bereits im Dritten Reich, wenn auch nicht offen, so doch privat von den rassistischen und wehrbetonten Ideologiekonzepten der Nazis abgestoßen gefühlt hatten. Das Nein zu Hitler und seinen Satrapen war daher allgemein. Aber das Ja zu neuen gesellschaftspolitischen Vorbildern blieb weitgehend aus. Wer sich überhaupt um solche Vorstellungen bemühte, gehörte fast ausschließlich zu jenen Deutschen, die aus den Gefängnissen bzw. Konzentrationslagern befreit worden waren oder aus dem Exil zurückkehrten. Während die meisten Vertreter der Inneren Emigration dem Nazifaschismus lediglich halbwegs geduldete religiöse oder bürgerlich-liberale Leitbilder entgegengesetzt hatten, bekannten sich viele der aus den Kerkern der Nazis Befreiten sowie der aus dem Exil Zurückkehrenden eher zu jenen im Dritten Reich brutal unterdrückten linksorientierten Ideologien, von denen sie sich ein friedliebendes, auf demokratischen und zugleich sozialistischen Grundsätzen beruhendes Deutschland versprachen. Und das wurde anfangs selbst von den Westmächten geduldet, die schließlich den Nazifaschismus gemeinsam mit der Sowjetunion besiegt hatten. Daher blieb die ideologische Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit erst einmal relativ pluralistisch. 15

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

Das änderte sich erst, als in den Jahren 1946/47 die außenpolitische Situation immer frostiger wurde und der lang anhaltende Kalte Krieg zwischen den USA und der UdSSR begann. Dieser Wandel führte notwendig dazu, daß es in der Folgezeit nicht zu einem wiedervereinigten selbständigen Deutschland kam, sondern aus den vier Besatzungszonen zwei von diesen beiden Supermächten abhängige Satellitenstaaten wurden. Damit waren die ideologischen Parameter diesseits und jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs von vornherein klar. Wer sich diesseits der Elbe befand, mußte dem American Way of Life folgen, wer sich jenseits der Elbe befand, mußte sich entscheiden, entweder den marktwirtschaftlichen Verlockungen des Westens nachzugeben und dorthin überzusiedeln oder sich zu den antikapitalistischen Ideologiekonzepten der sowjetorientierten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu bekennen. Während also kurz nach der oft beschworenen „Stunde Null“ noch eine gewisse weltanschauliche Offenheit geherrscht hatte, trat danach eine politische Polarisierung ein, die im Spätherbst 1949 schließlich zur endgültigen Spaltung Deutschlands in zwei voneinander unabhängige Staaten, die Bundesrepublik Deutschland (BRD) sowie die Deutsche Demokratische Republik (DDR), führte. Innerhalb dieser beiden Staaten waren vor allem zu Anfang die gesellschaftspolitischen Idealvorstellungen geradezu überdeutlich. Im Westen war es das bürgerlich-liberale Leitbild des auf keine klar umrissene Ideologie festgelegten Individuums, für das es keinen höheren Wert als die einzelpersönliche Freiheit in politischer, beruflicher, sozialer, künstlerischer oder geistiger Hinsicht gab. Das klang auf Anhieb, vor allem nach den vielen Einschränkungen der Subjektivität innerhalb des Dritten Reichs, recht vielversprechend. Deshalb hatte diese Vorstellung – gekoppelt mit finanziellen Hilfeleistungen der USA, die in der Bundesrepublik vor allem ein Bollwerk gegen den östlichen Kommunismus sahen – innerhalb breiter Schichten der westdeutschen Bevölkerung eine nicht zu leugnende Wirkung. Viele Bundes16

Ein Abriß

bürger und Bundesbürgerinnen setzten fortan Freiheit fast durchgehend mit Wohlstandssteigerung gleich, was der marktwirtschaftlich orientierten Partei der Christlich-Demokratischen Union (CDU) gegen Ende der fünfziger Jahre zu später nicht wieder überbotenen Wahlerfolgen verhalf. Irgendwelche systemverändernden Ideologien, ob nun von rechts oder links, wurden in den mittelständisch ausgerichteten Massenmedien dieses Staats von vornherein als „totalitaristisch“ abgestempelt. „Wir brauchen keine Ideologien“, erklärte damals der von der CDU eingesetzte Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und konnte sich dabei der Zustimmung weiter Kreise sicher sein. Die wichtigste Funktion dieses Staates sei es, verkündete er immer wieder, sich allein darauf zu beschränken, „dem persönlichen Bereicherungsdrang des Einzelnen so wenige Schranken wie nur möglich entgegen zu stellen“.2 Falls demzufolge in der frühen Bundesrepublik überhaupt noch ideologisch polemisiert wurde, dann nicht mehr gegen den antikommunistisch eingestellten Nazifaschismus, sondern nur noch gegen die antikapitalistisch ausgerichtete Sowjetunion sowie die ihr angegliederte „Sowjetzone“ oder die „sogenannte DDR“, wo man ein Sklavenregime aufgerichtet habe, in dem es keine persönliche Freiheit und damit keine Menschenwürde mehr gebe. Hingegen war das Leitbild eines nur seinem „persönlichen Bereicherungsdrang“ folgenden freiheitlichen Individuums in Ostdeutschland von vornherein verpönt. In diesem Staat galt als wegweisend anfangs fast ausschließlich jenes oft beschworene Kollektiv sozialistisch gesinnter Politiker, Arbeiter, Bauern und Junger Pioniere, das sich im Rahmen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) für den Aufbau eines antifaschistischen, friedliebenden Staates einsetzen würde. Als wichtigste gesellschaftspolitische Vorbilder wurden deshalb hierzulande fast ausschließlich jene „positiven Helden“ herausgestrichen, die sich um eine Sozialisierung der Gesamtgesellschaft bemühten und dafür mit Nationalpreisen, diversen Orden oder Aktivistenprämien ausgezeichnet wurden. Da diese Gruppe zu Anfang relativ klein war, ja die Mehrheit 17

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

der ostdeutschen Bevölkerung weiterhin bürgerlich-konservativen oder gar antikommunistischen Ideologien anhing und demzufolge den Parolen der SED nur höchst widerwillig folgte, sah sich die dortige Regierung – zumal es aufgrund des Rohstoffmangels sowie der sowjetischen Demontagen häufig zu ökonomischen Engpässen kam – immer wieder zu drakonischen Zensur- und Unterdrückungsmaßnahmen gezwungen. Deshalb wurde der angestrebte Sozialismus von vielen Bewohnern dieses Staates nicht als demokratisierend, sondern als totalitaristisch empfunden. Selbst manche der anfangs hoffnungsvoll gestimmten DDR-Bürger, die in der Durchsetzung des Sozialismus ihr höchstes Lebensziel gesehen hatten, bekamen daher im Laufe der Jahre Skrupel, ob sich in ihrem unter so ungünstigen Bedingungen begonnenen Staat wirklich eine alle Lebensbereiche durchdringende Sozialisierung erreichen lasse, die ihnen neben der Verstaatlichung der Produktionsstätten und der beruflichen Absicherung aller Menschen zugleich jene persönliche Selbstrealisierung erlauben würde, wie sie einstmals dem jungen Karl Marx in seinen Pariser Manuskripten vorgeschwebt hatte. Und es waren nicht die Schlechtesten unter den Sozialisten in der DDR, die solchen Vorstellungen anhingen. III So weit, so einsichtig. Aber welche anderen gesellschaftspolitischen Vorbilder hätte man im Laufe der fünfziger Jahre den sich dogmatisch verhärtenden Leitbildern in West- und Ostdeutschland, ob nun dem geschäftstüchtigen Emporkömmling oder dem gesellschaftsbezogenen Aktivisten der Arbeit, entgegensetzen sollen? Da sowohl die CDU als auch die SED bis weit in die sechziger Jahre an ihrem zu Beginn des Kalten Kriegs eingeschlagenen ideologischen Kurs festhielten, waren es lediglich einige politisch unangepaßte Außenseiter unter den Künstlern, Professoren oder anderen Intellektuellen, die sich bemühten, Auswege aus dieser festgefahrenen Situation aufzuzeigen. Zugegeben, es kam auch innerhalb des Parteigefüges der BRD und der DDR zu eini18

Ein Abriß

gen ideologischen Kursschwankungen. So wandte sich etwa in der Bundesrepublik die Führungsspitze der Sozialdemokraten ab 1960 unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ sowohl gegen den autoritären Regierungsstil Konrad Adenauers als auch gegen die Nachteile der vorwiegend monopolkapitalistischen Interessen dienenden Erhardschen Wirtschaftspolitik, entschloß sich aber, als sie endlich um 1970 an die Macht kam, ebenfalls kein Aufkommen irgendwelcher rebellischen Gesinnungen zu dulden und bekannte sich weitgehend zu den von den Christdemokraten durchgesetzten marktwirtschaftlichen Prinzipien. Und auch in der DDR kam es zwar gegen Ende der fünfziger Jahre zu einer durch die antistalinistischen Reden Nikita Chruschtschows eingeleiteten „Tauwetter“-Phase und einer damit verbundenen Meinungspluralität, die jedoch nur von kurzer Dauer war, da die SED in ihr lediglich eine revisionistische Abweichung von ihren vorher festgelegten Prinzipien sah. In beiden Staaten bekamen daher neben einer Reihe von Künstlern auch einige widersetzliche Geisteswissenschaftler unter den Professoren die Folgen dieser Maßnahmen – ob nun der antikommunistischen Politik im Westen oder des sich verschärfenden Dogmatismus im Osten – zu spüren. Kein Wunder, daß sich manche darauf entweder anpaßten oder Selbstkritik übten, das heißt sich in die Masse der systemkonformen Karrieristen einreihten. Aber es gab auch andere, die nicht von vornherein klein beigaben und inzwischen wegen ihrer kritisch-engagierten Haltung als Außenseiter, Unangepaßte oder als „Partisanenprofessoren im Lande der Mitläufer“, wie sie Jürgen Habermas 1966 in der Wochenschrift Die Zeit bezeichnete,3 in die Geschichte eingegangen sind. Ihnen, die uns – wegen ihrer ideologischen Widersetzlichkeit, mit der sie bestimmten parteipolitischen Verbohrtheiten diesseits und jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs entgegenzutreten versuchten – vor einer klischeeartigen Betrachtung der deutschen Ideologiegeschichte des hier ins Auge gefaßten Zeitraums bewahren könnten, sei daher der Hauptteil dieses Buchs gewidmet. 19

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

Erst einmal einige Bemerkungen zur Charakteristik dieser auf den ersten Blick höchst disparaten Gruppe von geisteswissenschaftlich und zugleich politisch orientierten Professoren. Fast alle dieser Außenseiter hatten wegen ihrer nonkonformistischen Anschauungen schon zu Beginn ihrer akademischen Laufbahn viele Anfeindungen erlebt. Das begann bereits gegen Ende der Weimarer Republik, als sie sich gegen das plutokratische Gebaren der tonangebenden Großbourgeoisie sowie die mit Brachialgewalt auftretenden Nazifaschisten wandten und dadurch zwangsläufig zu Sympathisanten linksgerichteter Ideologien wurden. Die meisten von ihnen mußten deshalb im Jahr 1933 – nach der von den Großindustriellen bewirkten Machtübergabe an den antisemitisch eingestellten Kommunistenhasser Adolf Hitler und seine NSDAP, der diesen Kreisen versichert hatte, alle linkskritischen Tendenzen unbarmherzig „auszumerzen“ – als Kommunisten und/oder Juden ins Exil ausweichen. Doch auch dort waren sie, ob nun in Frankreich, England, Österreich oder der Schweiz, wo in den mittdreißiger Jahren eine weitgehende Appeasement-Politik vorherrschte, ja wo manche der dortigen Politiker im Dritten Reich kein Terrorregime, sondern eher ein effektives Bollwerk gegen die Sowjetunion sahen, wegen ihrer linken Gesinnungen vielfach drangsaliert worden. Und wer von ihnen als Nichtjude nach 1933 in Deutschland blieb, wurde von den NS-Behörden verhaftet und dann zu langjährigen Haftstrafen verurteilt oder sah sich zumindest einschneidenden beruflichen Behinderungen gegenüber. Diese Professoren waren also schon vor 1945 keine Mitläufer gewesen und wollten es auch nach 1945 nicht werden. Aus diesem Grund bemühten sie sich nach ihrer Befreiung aus den NS-Gefängnissen, ihrer Militärdienstzeit oder ihrer Rückkehr aus dem Exil sofort um die Durchsetzung politischer, sozioökonomischer, juristischer oder pädagogischer Reformen in den vier Besatzungszonen, indem sie entweder Mitglieder der jetzt wieder zugelassenen Kommunistischen Partei Deutschlands wurden oder dem bereits im Sommer 1945 gegründeten 20

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Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands beitraten, um so erneute Machtbestrebungen von seiten der Großindustriellen und ihrer politischen Handlanger zu verhindern, ein rechtsstaatliches Justizsystem aufzubauen, sich für die Aufwertung linkshumanistischer Kulturtraditionen einzusetzen, eine antifaschistische Reorientierung des deutschen Presse- und Verlagswesens einzuleiten und zugleich an einer Umgestaltung des deutschen Schul- und Universitätssystems im Sinne einer antibürgerlichen, das heißt auch den Unterschichten zugänglichen Bildung mitzuarbeiten. Daß es sich bei diesen Professoren ausschließlich um Männer handelte, sollte bei der frauenfeindlichen Universitätspolitik der Weimarer Republik und dann in verstärktem Maße des Dritten Reichs, wegen der es während dieses Zeitraums in den Geisteswissenschaften kaum Habilitandinnen gegeben hatte, niemanden verwundern. Der gute Wille, sich um die Durchführung derartiger Bestrebungen zu bemühen, war bei fast allen Vertretern dieser Gruppe gleich stark. Selbst die westlichen Besatzungsmächte ließen sie demzufolge, falls sie sich in den Rahmen ihrer Democratic-Re-Education-Programme einfügten, anfangs durchaus gewähren. Als jedoch 1947 der von den USA ausgelöste Kalte Krieg gegen die UdSSR einsetzte, sahen sich manche von ihnen wegen ihrer linken Anschauungen diesseits der Elbe plötzlich gefährdet und wechselten zeitweilig oder für immer in den östlichen Teil Deutschlands über. Doch auch dort stießen sie zum Teil auf Schwierigkeiten, da sie sich nicht blindlings den mit dogmatischer Härte auftretenden Mitläufern der sowjetisch orientierten Funktionäre der SED anschließen wollten. Was ihnen sogar in Ostdeutschland vorschwebte, war – bei aller Ablehnung des rein auf Profit bedachten kapitalistischen Systems – entweder ein Dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, um neben der sozialen Gleichheit auch der einzelpersönlichen Freiheit zu ihrem Recht zu verhelfen, oder eine Aufweichung jenes ideologischen Dogmatismus zu erreichen, den sie als spezifisch „stalinistisch“ empfanden. 21

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

Das gesellschaftspolitische Vorbild dieser Professorengruppe war deshalb weder der weltanschaulich freischwebende Individualist westlicher Prägung noch der linientreue, allen Beschlüssen des Zentralkomitees der SED folgende Parteigenosse, sondern ein kritisch eingestellter Aufklärer, der trotz seines Engagements für eine politische und sozioökonomische Umgestaltung des gesamten Staatsgefüges keineswegs auf jene freiheitlichen und kulturellen Errungenschaften verzichten wollte, für die sich die progressiv eingestellten Bürger seit dem 18. Jahrhundert eingesetzt hatten. Und mit dieser Haltung eckten fast alle Vertreter dieser Richtung, die bald darauf als „Nichtkonformisten“, „Grenzgänger“ oder „Partisanenprofessoren“ galten, sowohl im Osten als auch im Westen an.4 Das führte dazu, daß ihnen die staatlichen Behörden in beiden Teilen Deutschlands mißtrauten, während sie von sozial engagierten Künstlern und Intellektuellen in Ost und West in steigendem Maße als vorbildlich empfunden wurden. Trotz ihres Außenseiterstatus blieben sie deshalb in diesen Kreisen keine Unbekannten, sondern erfreuten sich – vor allem während der kurzlebigen Tauwetterphase in der DDR um 1956/57 sowie der sogenannten linken Welle in der BRD um 1970, die zum Teil noch bis in die frühen achtziger Jahre anhielt – eines beträchtlichen Ansehens. Allmählich vergessen wurden sie erst nach der Wende von 1989, als im Zeichen eines forcierten Ideologieverdachts alle kritisch auftretenden Bekennernaturen plötzlich dem Verdikt verfielen, im Rahmen der endlich allgemein gewordenen westlichen Wohlstandsgesellschaft keine Relevanz mehr zu haben. Was deshalb nach diesem Zeitpunkt in den systemkonformen Verlautbarungen der sich als Berliner Republik ausgebenden BRD vorherrschend wurde, war jener Neoliberalismus, der nicht nur wirtschaftspolitisch zur ungehemmten Durchsetzung der angeblich Freien Marktwirtschaft führte, sondern auch gesellschaftspolitisch zu jener Gesinnung beitrug, im Gefolge sogenannter postmoderner Anschauungen auf irgendwelche weltanschaulichen oder gar sozioökonomischen Veränderungsvorschläge zu verzichten und den 22

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weltweiten Triumphzug des sich globalisierenden Finanzkapitalismus einfach als das „Ende der Geschichte“ hinzunehmen. IV Der Anspruch, als Geisteswissenschaftler zu gesellschaftspolitischen Fragen Stellung zu beziehen, nahm daher im neoliberalen Klima der Nachwendezeit schnell ab. Wer als Akademiker weiterhin auf Reizvokabeln wie „Solidarität“ oder gar „Sozialismus“ zurückgriff, wurde fortan von der Mehrheit der anderen Geisteswissenschaftler entweder totgeschwiegen oder als hoffnungslos veraltet belächelt. Manche der in diesem Buch herausgestellten Partisanenprofessoren, die inzwischen bereits das Rentenalter erreichten hatten, schrieben deshalb seit der Mitte der neunziger Jahre nur noch „Erinnerungen“ oder verstummten allmählich, statt in ihrem Fach weiterhin ein eingreifendes Denken zu propagieren, welches sich dem Anspruch einer „Theoria cum praxi“ verpflichtet fühlte. Schließlich sahen sie, wie sich unter ihren Kollegen mehrheitlich ein Denken verbreitete, das zwar in seinen besseren Ausprägungen in einem liberalen Sinne reformbetont blieb, aber – trotz aller politischen, sozioökonomischen und ökologischen Krisen – keine Alternativvorstellungen zu den herrschenden Gesellschaftsverhältnissen mehr ins Auge zu fassen wagte, sondern sich mit systemkonformen Status-quo-Vorstellungen begnügte. Als Rechtfertigung für diese Geisteshaltung wurde dabei in der neuen Bundesrepublik meist das Versagen jener älteren Ideologiebemühungen ins Feld geführt, die geglaubt hätten, der kapitalistischen Produktions- und Konsumgesellschaft mit irgendwelchen staatlichen Planungskonzepten entgegentreten zu können, ohne zu erkennen, daß sich solche Versuche in der gesellschaftlichen Praxis lediglich als „totalitäre“ Unterdrückungsmaschinerie auswirken würden. Ergo, hieß es häufig, sei es eher geboten, bei jenem System zu bleiben, welches sich in den Auseinandersetzungen des Kalten Kriegs geradezu zwangsläufig als das bessere und damit siegreiche herausgestellt habe. Sich nach 23

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

andersgearteten gesellschaftspolitischen Leitbildern umzuschauen, schien daher in der Folgezeit den meisten Geisteswissenschaftlern nicht mehr der „Forderung des Tages“ zu entsprechen und wurde dementsprechend ad acta gelegt. Vor allem in den sogenannten Neuen Bundesländern setzte in dieser Hinsicht eine tiefgreifende Ernüchterung ein. Sich weiterhin für gesellschaftspolitische Vorbilder zu engagieren oder gegen sie auf die Barrikaden zu steigen, erschien vielen der dortigen Intellektuellen nach dem 1989 erfolgten Mauerfall in der auf irgendwelche Alternativvorstellungen verzichtenden und damit ideologisch weithin folgenlosen Medienwelt des wiedervereinigten Deutschlands von vornherein unzeitgemäß, wenn nicht gar sinnlos. So schrieb etwa der ostdeutsche Lyriker Durs Grünbein damals verbittert über die vor der sogenannten Wende gehegte Illusion, im Gefolge irgendwelcher vorbildlichen Gestalten in das politische Geschehen eingreifen zu können: „Erst hängt das Vorbild über dem Schreibtisch, dann auf der Toilettenwand, und schließlich wirft man es bei Einbruch der Dunkelheit in den nächsten Müllcontainer. Vorbilder schreien danach, beseitigt zu werden.“5 Doch auch in den alten Bundesländern kam es nach diesem Zeitpunkt unter den meisten Geisteswissenschaftlern und anderen Intellektuellen im Rückblick auf die einst so hoffnungsvollen Erwartungen der Achtundsechziger Bewegung zu ähnlichen Absagen an irgendwelche gesellschaftspolitischen Vorbilder. Während um 1970 an den Wänden der Studentenbuden noch Bilder von Ernst Bloch, Rudi Dutschke, Che Guevara und Ho Chi Minh gehangen hätten, wie es 2001 in einem der letzten, in den späten sechziger Jahren gegründeten Kursbücher hieß, sehe man heute an den Wänden der Nachneunundachtziger – im Zuge einer allgemeinen „Heldendämmerung“ – fast nur noch Posters von irgendwelchen Beautiful People mit zum Selbstgenuß aufreizenden Gesichtern.6 Und der sich darin manifestierende Wandel wurde von den meisten Autorinnen und Autoren dieses Bandes fast durchweg als Ausdruck der neuen Status-quo-Gesinnung einfach resig24

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nativ hingenommen. Ja, Reinhard K. Sprenger schrieb in seinem Beitrag Abschied vom Leithammel im selben Band, daß es heute keine „wertsetzenden Autoritäten“ mehr gebe. Die älteren „Moralathleten“, wie er zynischerweise erklärte, habe man längst „mental emeritiert“. Was jetzt zähle, sei lediglich „die Besonderheit jedes Einzelnen“.7 Von irgendwelchen älteren gesellschaftspolitischen Vorbildern war daher im Deutschland der Nachwendezeit kaum noch die Rede – weder in den Künsten noch in den Geisteswissenschaften. Und wo man in diesen Bereichen weiterhin über derartige Begriffe reflektierte, nahmen sie meist unverbindliche Bedeutungen an. So wurden zwar im Rahmen einer informationsorientierten, das heißt ins Ziellose ausufernden Medien- und Bildwissenschaft, wie etwa in dem im Jahr 2011 erschienenen Buch Vorbilder von Thomas Macho, weiterhin vereinzelte Rückblicke auf frühere Vorbilderkonzepte geworfen, aber zugleich ausdrücklich betont, daß der „bunte Optimismus vielgestaltiger Fortschrittserwartungen, der noch in den sechziger Jahren dominierte“, inzwischen einer eher „pessimistischen“ Einschätzung der Weltlage gewichen sei,8 in der es keine gesellschaftspolitischen „Gewißheiten“ mehr gebe.9 Und wie Macho erklärten auch andere Kulturund Geisteswissenschaftler, daß alle ehemaligen Leitvorstellungen für die heutige Situation keine Relevanz mehr besäßen, zumal sich – unter globalisierender Perspektive betrachtet – die spezifisch deutschen Beispiele dieser Art weitgehend negativ ausgewirkt hätten. Ebenso unverbindlich blieben all jene demoskopischen Erhebungen, wie die Stern­ Umfrage von 2003 oder die Meinungserkundungen des Allensbacher Instituts von 2013, in denen Tausende von Deutschen nach ihren „Idealen“ oder „Vorbildern“ befragt wurden. Auf ihren Listen erschienen meist jene gerade in den Massenmedien herausgestellten „Promis“, das heißt neben Jesus und John F. Kennedy vor allem Dieter Bohlen, Sean Connery, Prinzessin Diana, Bill Gates, Günther Jauch, Kurt Schumacher und Mutter Teresa, während sich frühere Geistes- und Kulturgrößen wie Karl Marx, Thomas Mann oder Bertolt Brecht, falls sie über25

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

haupt auftauchten, in der üblichen Rangfolge mit Platz 104, 111 und 150 begnügen mußten. Nicht minder beliebig wirkt die Auswahl jener Prominenten, die Dana Horáková in ihrem 2007 erschienenen Buch Vorbilder. Berühmte Deutsche erzählen, was ihnen wichtig ist vorgenommen hat. Auch in ihm herrscht das gleiche bewußt entideologisierte Nebeneinander von Politikern, Künstlern, Filmstars, Unternehmern, Spitzensportlern und TV-Ansagern, das auf alle weltanschaulichen Verbindlichkeiten verzichtet.10 Fast das gleiche gilt für die eher anspruchsvolle Umfrage der Wochenzeitschrift Die Zeit unter dem Titel Vordenker, Vorbilder, Visionäre. 50  Deutsche von gestern für die Welt von morgen aus dem Jahr 2009. In ihr wurde zwar ausdrücklich das als „kurios“ hingestellte Wort „zukunftsträchtig“ als weltanschauliche Meßlatte angelegt,11 aber auch hier fehlte es neben Politikern und Künstlern keineswegs an Filmstars wie Marlene Dietrich und Romy Schneider, Fußballspielern wie Jan Libuda und Fernsehgrößen wie Hans-Joachim Kulenkampff, während von den 1966 von Jürgen Habermas apostrophierten „Partisanenprofessoren im Lande der Mitläufer“12 kein einziger in die Reihe der illustren Deutschen aufgenommen wurde. Doch letztlich war von solchen Umfragen oder Erhebungen in der Nachwendezeit nichts anderes zu erwarten. Wo es keine von avantgardistisch auftretenden Künstlern, bekennerhaften Geisteswissenschaftlern oder anderen kritischen Intellektuellen propagierten alternativen Zielvorstellungen für bestimmte Berufsgruppen, größere Bevölkerungsschichten oder gar die Gesamtheit aller in einem Staate lebenden Menschen mehr gibt, kann es auch keine gesellschaftspolitischen Vorbilder mehr geben. Wenn darum auf diesem Gebiet im Rahmen der heutigen, weitgehend ins Eindimensionale verflachten Sehweisen überhaupt noch Vorbildtheorien aufgestellt werden, haben diese zumeist einen psychologischen oder karrierebetonten Charakter, um so allen ins Systemkritische tendierenden Vorstellungen von vornherein aus dem Wege zu gehen. Im Bereich der individualpsychologischen 26

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Untersuchungen spielen dabei noch immer jene bereits von Sigmund Freud aufgestellten Theorien eine wichtige Rolle, nach denen sich jedes Kind erst einmal seine Eltern als Vorbilder nimmt.13 Doch derartige Konzepte werden in neueren, eher sozialpsychologisch ausgerichteten Studien zusehends von der Bedeutung jener Role Models überlagert, welche Sportsasse, Schlagersänger, TV-Stars oder andere „Promis“ für die Bewußtseinsbildung der sogenannten Teens und Twens bilden. Doch das läuft letztlich auf das gleiche hinaus. Schließlich geht es in beiden Konzepten um intersubjektive Sehweisen, die entweder vom Konzept der Kleinfamilie oder von jener ständig größer werdenden Medieneinwirkung auf die persönlichen Wunsch- und Erwartungsvorstellungen heranwachsender Menschen ausgehen, während den bewußt verdrängten oder gar nicht mehr wahrgenommenen gesellschaftspolitischen bzw. bildungsbetonten Vorbildmöglichkeiten kaum noch Beachtung geschenkt wird. Und diese Wandlungsprozesse spiegeln sich in ähnlicher Form auch auf der Ebene der universitären Geisteswissenschaften wider. Während dort – ob nun in positiver oder negativer Form – früher neben den üblichen Lehrprogrammen auch weltanschauliche Zielvorstellungen eine bedeutsame Rolle spielten, ist heute – im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ausrichtung der Gesamtgesellschaft – an die Stelle von all dem, was man einstmals als „Bildung“ verstand, weitgehend die auf einen einträglichen Job hinzielende „Ausbildung“ getreten. Wer bemüht sich gegenwärtig noch, was schon in der Vergangenheit eine Seltenheit war, in seinem Fach als „Professor“, das heißt als „Bekenner“ aufzutreten? Noch stärker als je zuvor hat dieses Leitbild heutzutage jener bereits 1984 von Pierre Bourdieu kritisierte Homo academicus verdrängt, der sich vornehmlich als systemimmanenter Sachverwalter bestimmter, sorgfältig eingegrenzter Teilgebiete seiner Disziplin versteht, die zwar innerhalb der sich von älteren Bildungskonzepten ablösenden Vorstellungen zusehends unwichtiger werden, sich aber im Rahmen einer von technokratischen Konzepten überformten Gesell27

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte

schaft weiterhin als Resterscheinungen einer obsolet gewordenen Geisteswelt zu behaupten versuchen. Und das hat notwendig zu einer fortschreitenden Ökonomisierung des gesamten Bildungswesens geführt, das sich immer stärker den herrschenden Arbeitsmarktverhältnissen anzupassen versucht. Im Jahr 2001 schrieb daher ein Philosophieprofessor wie Konrad Paul Liessmann im Hinblick auf die ehemaligen Geistesgrößen unter den „akademischen Ziehvätern“ resignierend: „Wir sprechen von vergangenen Zeiten. Es gibt sie nicht mehr. Die smarten Typen, die sich als jobhoppende Wissenschaftsmanager und als habituelle Junior-Professoren flink zwischen Geist und Geld, zwischen Philosophie und Politik hin und her bewegen, haben weder die Muße noch den langen Atem, jemandes Ziehvater zu sein. An der Massenuniversität trifft man seinen Professor in der Regel ohnehin bei der Diplomprüfung zum ersten Mal. Die Frage, bei wem man studiert habe, hat längst, den Gesetzen der Globalisierung folgend, in die Frage transferiert, wo man studiert habe.“ Aus diesen Einsichten zog Liessmann die Folgerung, daß es in dem „entpersonalisierten Wissenschaftsbetrieb“ von heute selbst unter den Ordinarien keine wahrhaften „Vorbilder“ mehr gebe. Nicht mehr der allgemein anerkannte „Doktorvater“, fuhr er fort, sondern irgendeine „Auslandsqualifizierung“ gelte derzeit im Zuge der ökonomischen Globalisierung als das entscheidende Kriterium für eine erfolgversprechende akademische Laufbahn.14 Und dadurch hätten die Universitäten ein beträchtliches „Stück Humanität“ verloren, wie er abschließend erklärte.15 Im Gefolge dieser Entwicklung, an deren Ende ein international vernetztes System von digitalisierten Online-Universitäten stehen könnte,16 droht sowohl der gesamte klassische Bildungskanon als auch das politische Einspruchsrecht kritischer Geisteswissenschaftler außer Kurs zu geraten. Um dem entgegenzuwirken, sollten daher die gefährdeten „Humanities“, die von Fächern wie medienorientierte Journalistik, Wirtschaftswissenschaft, Informatik, Computer Science und Inge28

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nieurwesen immer stärker an den Rand gedrängt werden,17 sich nicht mit dem zweifelhaften Rang von ins Positivistische abgleitenden Informationswissenschaften begnügen oder glauben, ihren Fächern durch pseudophilosophische Spekulationen ein neues, wenn auch ins Abstrakte verdünntes Ansehen zu geben, sondern sich – trotz aller systemimmanenten Widrigkeiten – wieder stärker zu einem „eingreifenden“ Denken bekennen. Schließlich haben wir durch die Verdrängung oder Ausschaltung aller Alternativvorstellungen zu den gegenwärtig herrschenden Verhältnissen keineswegs jene „beste aller Welten“ erreicht, die uns die Gründer der marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung einstmals versprochen haben. Auf fast allen Gebieten kommt es, ob nun in politischer, sozioökonomischer oder ökologischer Form, ständig zu neuen Krisen, die mit den Mitteln der momentan herrschenden Status-quo-Vorstellungen nicht zu bewältigen sind. Darum sollten sich gerade die Geisteswissenschaftler wieder zu jenem Bekennermut durchringen, durch den sie sich als wahre „Professoren“ auszeichnen würden, und schon heute – im Rahmen der ihnen gegebenen Möglichkeiten – auf all jene Gefahren hinweisen, die, wie uns einige ernstzunehmende Zukunftsforscher unter den Naturwissenschaftlern versichern, das Überleben der Gesamtmenschheit immer stärker in Frage stellen. Zugegeben, Rückbezüge auf einige der älteren Partisanenprofessoren, wie die in diesem Buch herausgestellten, reichen dabei keineswegs aus. Schließlich leben wir in einer sich rasant verändernden Welt, in der manche ihrer Fragestellungen und angebotenen Problemlösungen notwendig obsolet geworden sind. Was jedoch nicht veraltet sein sollte, ist die kritische „Haltung“, die diese Geisteswissenschaftler selbst in politisch schwierigen Situationen eingenommen haben. Die müßte auch weiterhin vorbildlich bleiben.

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Richard Hamann (1879–1961) Kunsthistoriker

I Wegen der dramatischen Umbrüche in der deutschen Geschichte des 20.  Jahrhunderts hatte der politisch linksengagierte Kunsthistoriker Richard Hamann immer wieder mit neuen Widersetzlichkeiten zu kämpfen. Wie er sie meisterte, gehört zu den vorbildlichsten Leistungen innerhalb seines Fachbereichs. Während sich viele seiner Kollegen  – angesichts der herrschenden politischen Systeme – entweder dem jeweils heraufziehenden „Zeitgeist“ anpaßten oder ins rein Fachbezogene auswichen, blieb er zeitlebens seinen auf soziale Gerechtigkeit drängenden Vorstellungen treu, die er auch seinen Kunstanschauungen zugrunde legte. Ob in der Spätphase des wilhelminischen Kaiserreichs, im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik, unterm Nazifaschismus sowie in dem nach 1949 geteilten Deutschland: stets engagierte er sich innerhalb dieser von vielen Widersprüchen gezeichneten Jahrzehnte für die jeweils progressiven oder kritischen Tendenzen, wobei er auch obrigkeitliche Behinderungen nicht scheute. Und er tat das mit einem erstaunlichen Geschick, das ihm erlaubte, selbst in schwierigen Situationen nicht völlig ausgeschaltet oder gar eingekerkert zu werden. Wie Bertolt Brecht, einer seiner Lieblingsautoren, war er davon überzeugt, daß es wichtiger sei, sich außerhalb der Gefängnisse „nützlich“ zu machen, als in den Verliesen der jeweils Herrschenden heroisch unterzugehen. Was ihm dabei half, war sein bereits in den zwanziger Jahren errungenes internationales Prestige innerhalb seines Fachs sowie das von ihm gegründete Bildarchiv Photo Marburg, das für die Kunsthistoriker aus aller Welt ein bis dahin kaum bekanntes Forschungsmaterial

Richard Hamann (1879–1961)

bereitstellte. Obwohl Hamann nicht gern hörte, daß man ihn vor allem als Photographen und nicht auch als einen auf vielen Gebieten wegweisenden Kunsthistoriker und Kulturtheoretiker einschätzte, war er letztlich doch stolz darauf, damit das lange Zeit größte Bildarchiv dieser Art aufgebaut zu haben. In unzähligen Exkursionen hatte er in halb Europa – vor allem in Frankreich, Italien und Deutschland – immer wieder versucht, all jene Bauwerke, Statuen und Gemälde aufzunehmen, in denen er Monumente einer gesamteuropäischen Entwicklungsgeschichte der Kunst sah. Ihm ging es weniger um das Photographieren an sich, obwohl er auch darin ein bahnbrechender Meister war, sondern eher um den gesellschaftsbezogenen Sinn der jeweils aufgenommenen Kunstwerke, mit denen er in universalgeschichtlicher Perspektive die in der Kunst widergespiegelten sozialen Veränderungen herauszustellen versuchte. All das drängte ihn schließlich zu jener Gesamtdarstellung der künstlerischen Entwicklung von der Steinzeit bis zur Gegenwart, deren erster Band 1932 und deren zweiter Band 1959 herauskam. Aufgrund des von ihm gesammelten Bildmaterials, der Anschaulichkeit der Beschreibung und des ihm zugrundeliegenden sozialgeschichtlichen Engagements gehörten diese zwei Bände in Deutschland zu den erfolgreichsten kunstwissenschaftlichen Büchern des zwanzigsten Jahrhunderts, die in Hunderttausenden von Exemplaren erschienen. Es gab zwar viele Neidhammel unter seinen Kollegen, die über dieses gewaltige Unternehmen die Nase rümpften und sich lieber auf ikonographische Detailstudien beschränkten, aber die breite Masse der Leser und Leserinnen begrüßte diese beiden Bände als die instruktivste Einführung in den Verlauf der vorderasiatischen und europäischen Kunst, die man ihr bis dahin geboten hatte. Und dieser Leistung sollte man nach wie vor den gebührenden Respekt erweisen. Schließlich war Hamann kein Bestsellerautor, dem es primär um den finanziellen Gewinn oder um ein rangbetontes Promibewußtsein ging, sondern jemand, der sich in erster Linie als ein auf die Gesamtgesellschaft bezogener Wissen32

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schaftler verstand, dem die politästhetische Wirkung seiner vielfältigen Aktivitäten als Kunsthistoriker, Kultursoziologe, Wissenschaftsorganisator, Photograph und Werkbund-Anhänger wesentlich wichtiger erschien als irgendwelche persönlichen Eitelkeiten. So gesehen, war er ein „Sozialist“ im besten Sinne des Wortes. II Geboren wurde Richard Hamann am 29.  Mai 1879 als Sohn eines Landbriefträgers in Seehausen bei Wanzleben in der Magdeburger Börde. Kurz nach seiner Geburt erhielt sein Vater eine Stelle als kleiner Postschaffner in Magdeburg. Da sich sein Sohn durch überragende schulische Leistungen auszeichnete, konnte er dort – aufgrund eines Stipendiums – als Oberschüler das Pädagogium zum Kloster Unser lieben Frauen besuchen, wo er sich mit Georg Kaiser und Wilhelm Waetzoldt anfreundete.1 Als er dort als „Primus omnium“ seines Jahrgangs das Reifezeugnis erhielt, gelang es seinen Eltern, ihm ein weiteres Stipendium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zu verschaffen. Dort versuchte er wegen der geringen Geldmittel, die ihm zur Verfügung standen, so schnell wie möglich den Titel eines Dr. phil. zu erringen. Und das gelang ihm auch, da ihn Wilhelm Dilthey, der damals wohl berühmteste deutsche Philosoph, schon nach vier bis fünf Semestern, in denen er unter anderem auch die Vorlesungen Georg Simmels und Heinrich Wölfflins besuchte, als vielversprechenden Doktoranden annahm. Daher konnte Hamann schon im Frühjahr 1902 seine kurze, aber gehaltreiche Dissertation Das Symbol verteidigen. In den nächsten beiden Jahren, in denen er finanziell offenbar vor dem Nichts stand, völlig unterernährt war und in der rangbetonten wilhelminischen Gesellschaft als Kleinbürgersohn keinerlei Berufsaussichten hatte, litt er an einer schweren Krankheit, die ihm weder das Lesen von Büchern noch das Betrachten von Bildern erlaubte.2 Danach schlug er sich kurze Zeit als Hauslehrer durch, bis er 1905 ein kleines 33

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Forschungsstipendium erhielt und erstmals an kunstphilosophischen Publikationen arbeiten konnte. Doch das allein genügte ihm nicht. Aufgrund seiner inneren Fronde gegen die neupreußische Großmannssucht auf allen Gebieten wurde er zugleich in Berliner Arbeiterbildungsvereinen tätig und veranstaltete obendrein eine Reihe kunsthistorischer Vortragsreihen allgemeinbildender Art für mittel- bis kleinbürgerliche Schichten. Seine besondere Vorliebe galt dabei Rembrandt, der wie er ebenfalls aus niederen Verhältnissen aufgestiegen war und mit geradezu naturalistischer Schärfe gegen die Rubenssche Protzeneitelkeit opponiert hatte.3 Da diese Form eines kritischen Realismus in den achtziger und frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland unter der Bezeichnung „Naturalismus“ eine kurze Blütezeit erlebt hatte, aber im Gefolge des danach einsetzenden wirtschaftlichen Booms durch unkritische, ja betont ästhetisierende Strömungen wieder in den Hintergrund getreten war, wagte es der achtundzwanzigjährige Hamann, diesem Modewechsel im Jahr 1907 mit seinem Buch Impressionismus in Leben und Kunst entgegenzutreten, das in seiner kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise in vieler Hinsicht eine Pionierleistung war. Schließlich ging es in diesem Buch nicht nur um Malerei, Musik und Literatur, sondern auch um das in dieser Kunst widergespiegelte „Leben“. Unter dem Einfluß Georg Simmels und Karl Lamprechts akzentuierte Hamann dabei in der von ihm beschriebenen Kunst- und Lebensauffassung vor allem die Haltung jenes sich als „liberal“ ausgebenden großstädtischen Händlertums, für das alles nur noch „Ware“, nur noch „Kapital“, nur noch flüchtige „Durchgangsprodukte“ zur Steigerung des eigenen Besitz- und Genußverlangens sei.4 Im Gegensatz zu modisch ausgerichteten Kunstjournalisten, wie Julius MeierGraefe, Richard Muther und Karl Scheffler, die seit den späten neunziger Jahren einer Verklärung alles Subjektivistisch-Neuartigen gehuldigt hatten, beschloß er daher dieses Buch mit dem Motto „Mehr Hegel!“, um somit die Abkehr von einem bloß erlebnishaften Verhältnis zu 34

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Kunst und Leben zu befördern und zugleich eine stärkere philosophische Durchdringung der sogenannten Geisteswissenschaften in Gang zu setzen.5 Da sich Hamann mit seinem aufsehenerregenden ImpressionismusBuch einen „Namen“ verschafft hatte, wie man damals sagte, war es für ihn plötzlich möglich, auch weitere seiner Schriften bei angesehenen Verlagen und Zeitschriften unterzubringen. Dafür sprechen vor allem seine kunst- und kulturhistorischen Aufsätze zum Altersstil Rembrandts, Goethes und Beethovens, zum Wesen des Plastischen und zur Ästhetik der Landschaft, in denen er ein für die damalige Zeit ungewöhnlich breites kunst- und kultursoziologisches Wissen demonstrierte. Doch das meiste Aufsehen erregte zweifellos sein Essay Gleiches Recht für alle, der im Februar 1909 in der Zeitschrift Die Tat erschien, in dem er sich gegen die immer noch existierende Form der herrschenden Klassenjustiz aussprach, der ein längst hinfälliges Rangbewußtsein zugrunde liege, das endlich von einer demokratischen Rechtsprechung abgelöst werden müsse. Neben diesen kunsttheoretischen und journalistischen Arbeiten, mit denen sich Hamann finanziell über Wasser zu halten versuchte, setzte er sich zugleich für die Bestrebungen des 1907 gegründeten Deutschen Werkbunds ein, dessen Hauptbestreben darin bestand, endlich jenen genußbetonten und zugleich vielfältig zersplitterten Oberklassensubjektivismus zu überwinden, der ihm als ein Haupthindernis zu einer sozialverantwortlichen deutschen Kultur erschien. Statt im Bereich der Künste weiterhin lediglich auf sezessionistische Weise die relativ kleine Schicht der ästhetisch gebildeten Bourgeoisie ins Auge zu fassen, propagierte der Werkbund auf sämtlichen Gebieten der industriellen und handwerklichen Produktion eine Wendung ins Qualitätvolle, die auch den bisher von den Erzeugnissen der höheren Kultur Ausgeschlossenen – bis hinunter zu den Kleinbürgern und Arbeitern – zugute kommen sollte. Und zwar schloß sich Hamann dabei der ins bewußt „Sachliche“ tendierenden Richtung dieser Bewe35

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gung an, wobei er auch vor brüskierenden Konfrontationen mit den Vertretern der auf ein gesellschaftliches Rangbewußtsein pochenden „Personalkultur“ nicht zurückschreckte. Dennoch hatte er das Glück, daß ihm der berühmte, wenn auch aus dem Rahmen fallende Berliner Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin die Erlaubnis erteilte, sich bei ihm im Jahr 1911 mit einer Schrift über die Kapitelle im Magdeburger Dom zu habilitieren. Bei Dilthey promoviert und bei Wölfflin habilitiert: eine bessere Empfehlung konnte es für einen jungen Kunsthistoriker – trotz seiner sozialkritischen Anschauungen – zu diesem Zeitpunkt kaum geben. Was folgte, waren daher ein dreimonatiges Forschungsstipendium, eine Berufung an die Posener Akademie sowie das Angebot, beim Teubner Verlag eine Ästhetik sowie eine Geschichte der deutschen Malerei im 19. Jahrhundert herauszubringen, worauf er im Jahr 1913 eine Berufung als ordentlicher Professor an die Marburger Universität erhielt, wo er das Fach Kunstgeschichte begründen sollte. Schon sein erstes Auftreten wurde dort als sensationell empfunden. Vor allem sein Praktikum „Photographie und Kunst“ sowie seine Vorlesung „Sachkultur und Personalkultur als Hauptproblem der Kulturphilosophie“ erschienen vielen der älteren Kollegen in den anderen geisteswissenschaftlichen Fächern als akademisch „unziemlich“. Doch das störte Hamann nicht im geringsten. Besonders seine Thesen zu einer sozialbetonten „Sachkultur“, mit denen er sich gegen alles Herrschaftsbetonte, Überspitzt-Individuelle, Unproduktiv-Genußorientierte und damit Ausbeuterische der herrschenden „Personalkultur“ wandte, erregten viel Unwillen unter den hohenzollernfrommen Professoren. Nicht minder empört waren die meisten seiner Marburger Kollegen, als sich Hamann in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 – inmitten des allgemein umjubelten Kriegsbeginns – zu einer betont pazifistischen Haltung bekannte. Ja, er wandte sich 1917 in seinem Büchlein Krieg, Kunst und Gegenwart in aller Offenheit gegen jene Sucht, auch in der Kunst „mit dabei sein zu wollen“, die geradezu ans 36

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Blasphemische grenze, und stellte derartigen Tendenzen das Sachliche, Konstruktivistische und Sozialbezogene in den Arbeiten von Werkbund-Architekten wie Peter Behrens, Walter Gropius und Bruno Taut entgegen. Außerdem unterrichtete er in den Jahren zwischen 1914 und 1918 fast ausschließlich französische Kunst, was allgemein als unpatriotisch aufgefaßt wurde. III Als ebenso spannungsreich erwiesen sich für Hamann die folgenden Jahre der Weimarer Republik. Schließlich war Marburg seit wilhelminischer Zeit eine Stadt, in der vor allem die konservativ gesinnten Schichten des gehobenen Bürgertums den Ton angaben. Hier gab es in den zwanziger Jahren noch kaum Industriebezirke und daher auch keine sozialdemokratisch gesinnte Arbeiterschaft. Nicht nur die Bürgerschaft, selbst die meisten Studenten huldigten nationalgesinnten Anschauungen, was sie von vornherein für reaktionäre, ja präfaschistische Vorstellungen anfällig machte.6 Hamann galt daher in den Augen dieser Schichten – schon wegen seiner Vorliebe für Frankreich und seiner antimilitaristischen Einstellung – allgemein als „Internationalist“, wenn nicht gar „Kommunist“. Dennoch strebte er das jeweils Mögliche an, allerdings ohne dabei irgendwelche Kompromisse mit der in Marburg herrschenden Gesamtstimmung einzugehen. Trotz seines ständig angegriffenen Gesundheitszustands ließ er keineswegs nach, sich mit einem geradezu atemberaubenden Einsatz für eine sozialhistorisch ausgerichtete Kunstgeschichte und zugleich für eine volksbildnerische Vermittlung dieser Wissenschaft an möglichst breite Schichten der Bevölkerung einzusetzen. Er gründete einen kunsthistorisch ausgerichteten Verlag, setzte seine Photoreisen in mehrere europäische Länder fort, gab unzählige Vorträge in Volkshochschulen, veranstaltete Ausstellungen gesellschaftskritischer Künstler, nahm Kontakte zum Bauhaus auf, schrieb 1922 eine Broschüre unter dem Titel Kunst und Kultur der Gegenwart, in der er sich – entgegen der bürgerlichen 37

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„Pensionistenläßlichkeit“, die sich lediglich mit einem ästhetisierenden Auskosten von Kunst begnüge – mit den novembristisch-revolutionären Impulsen des Expressionismus auseinandersetzte, und faßte schließlich den Plan ins Auge, eine umfangreiche und reichbebilderte Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart zu schreiben, worin er sich – im Gegensatz zu allen gesellschaftlichen Rangvorstellungen und nationalistischen Vorurteilen – in einem linksliberalen Sinne zu einer fortschreitenden Demokratisierung und kosmopolitischen Toleranz bekennen wollte. Obendrein gelang es ihm, mit Hilfe des preußischen Wissenschaftsministeriums in den Jahren 1928/29 jenes Marburger Kunsthistorische Lehr- und Forschungszentrum, das spätere Ernst von Hülsen-Haus, zu errichten, an dessen Eingangstür er einen Arbeiter und einen Angestellten anbringen ließ, um damit gegen die „hochmütige Überschätzung der Kopfarbeit gegenüber der Handarbeit“ zu protestieren.7 In diesem Bau ließ er sowohl ein Museum, einen Konzertsaal, ein Archäologisches Institut und eine allen Interessierten zugängliche Präsenzbibliothek als auch seinen Verlag „Kunstbücher für jedermann“, das ständig wachsende Photoarchiv, welches damals bereits 25.000 großformatige Glasplattenaufnahmen besaß, sowie das Kunsthistorische Seminar unterbringen, um damit neben der wissenschaftlichen Forschung und Lehre zugleich die „volksbildnerische“ Absicht des Ganzen herauszustreichen. Als dieses Gebäude am 15. Januar 1930 – in Anwesenheit des sozialdemokratischen Kulturministers Carl Heinrich Becker – eingeweiht wurde, kam es zwar zu heftigen Krawallen von seiten jener präfaschistischen Studenten, die bereits in den frühen zwanziger Jahren vor Brandstiftungen und Ermordungen kommunistisch eingestellter Arbeiter in Thüringen nicht zurückgeschreckt waren, aber Hamann ließ sich dadurch in seinem Einsatz für eine erweiterte Volksbildung keineswegs beirren. Entschlossen, gegen den braunen Ungeist anzukämpfen, gründete er sogar im Marburger Steinweg eine Ladengalerie, 38

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in der er in den Abendstunden den Angehörigen der Unterklasse den revolutionären Sinn der expressionistischen sowie linkskritischen Kunst der zwanziger Jahre zu erläutern versuchte. Doch all das erwies sich letzten Endes als umsonst. Die Mehrheit der Marburger Bürger und Studenten schloß sich in der letzten Phase der Weimarer Republik den Nazifaschisten an und stimmte 1932 bei den Reichstagswahlen mit über 50 Prozent für Hitler und seine Satrapen. Ja, die SA zertrümmerte schließlich in diesem Jahr Hamanns Ladengalerie, mit der er selbst auf dieser Ebene gehofft hatte, sich der zunehmenden Rechtsradikalisierung entgegenstemmen zu können. IV Doch wirklich brisant sollte es für Hamann erst nach der am 30. Januar 1933 erfolgten Machtübergabe an die Nazifaschisten werden. Da er sich im März dieses Jahres in einem öffentlichen Vortrag gegen den vehement aufflackernden Antisemitismus ausgesprochen hatte, wurde er von einer Gruppe rechtsradikaler Studenten auf die unflätigste Weise angepöbelt. Einige Mitglieder des Nationalsozialistischen Studentenbunds, dem über 50 Prozent der in Marburg Studierenden angehörten, verlangten sogar seine sofortige Beurlaubung. Was ihm diese Studenten vor allem vorwarfen, war sein nachdrückliches Bekenntnis zu den angeblich „kulturbolschewistischen“ Tendenzen des Expressionismus und des Bauhauses, mit dem er seine im Oktober 1932 beim „jüdischen“ Th. Knaur Verlag erschienene Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis Gegenwart abgeschlossen hatte. Die schärfste Attacke gegen dieses Buch erschien am 28. März 1933 im Goebbelsschen Angriff, in der ihn Harald Busch, einer seiner ehemaligen Schüler, als einen „Handlanger des Kommunismus“ bloßzustellen versuchte. Was Busch besonders empörte, war Hamanns „antideutsche Wendung“ zu einer „sachlichen Weltzivilisation“, in der Begriffe wie „Vaterland und Ehre“ keine Bedeutung mehr hätten. „Die akademische Jugend lehne es ab“, beschloß er seinen haßerfüllten Artikel, „sich von derartigen 39

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Skribenten unterrichten zu lassen.“ Hamann wehrte sich zwar in einem Brief an den preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung gegen solche Unterstellungen, erhielt aber keine Antwort. Noch bedrohlicher wurde seine Situation, als sein kunsthistorischer Kollege Carl Horst, der sich in aller Offenheit zur NSDAP bekannte, Ende März 1933 eine „Denkschrift“ an die Marburger Universitätsverwaltung schickte, in der er Hamann vorwarf, nicht nur eine regimefeindliche Haltung einzunehmen, sondern auch staatliche Gelder veruntreut zu haben. Hamann versuchte sich gegen diese Anschuldigungen mit einem 28  Seiten umfassenden „Memorandum“ zu wehren, wodurch es vor dem Marburger Universitätsgericht zu hochnotpeinlichen Verhandlungen kam, die sich monatelang hinzogen. Ob Hamann damals für kurze Zeit erwog, sich nach Frankreich ins Exil zu begeben, läßt sich nicht genau nachweisen.8 Wahrscheinlich war ihm sein Kunsthistorisches Institut doch inzwischen zu wichtig geworden. Also blieb er vorerst in Marburg. Daß ihm das im Jahr 1933 erlaubt wurde, hatte er offenbar dem „völkisch“ gesinnten Kunsthistoriker Wilhelm Pinder zu verdanken, der bei Joseph Goebbels, dem damals allgewaltigen Propagandaminister, ein gutes Wort für ihn einlegte. Die deutsche Kunstgeschichte sei durch die Ausschaltung vieler Juden, erklärte Pinder dem weiterhin mit Teilen des Expressionismus sympathisierenden Goebbels, in personaler Hinsicht so bedrohlich zusammengeschrumpft, daß sie es sich nicht leisten könne, auch einen hochbedeutenden Wissenschaftler wie Hamann zu verlieren. Darauf bestellte Goebbels Hamann zu einem Klärungsgespräch nach Berlin, wo er ihm die Frage stellte: „Wie stellen Sie sich, Herr Professor, eigentlich die Zukunft der deutschen Kunstgeschichte vor?“ Hamann soll darauf mit äußerstem Freimut geantwortet haben: „Wie ich die Lage beurteile, Herr Minister, steuert ihr Regime ja wohl auf einen neuen Krieg zu. Und da in Kriegen stets viele Kunstwerke zerstört werden, möchte ich Sie bitten, mich finanziell beim Ausbau meiner groß angelegten Photosammlung in Marburg zu unterstützen, damit wir in Zukunft ein möglichst vollstän40

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diges Archiv aller deutschen Kunstschätze haben.“ Goebbels soll von diesem Argument so beeindruckt gewesen sein, daß er Hamann darauf mit einem Scheck von über 100.000 Reichsmark nach Marburg zurückfahren ließ.9 Doch als sich die neuen Herrscher im Jahr 1934 endlich im Vollbesitz ihrer Macht fühlten, sollte es für Hamann noch einmal gefährlich werden. Obwohl er sich keine öffentlichen Widersetzlichkeiten erlaubte, wurde er im Frühjahr dieses Jahres von der neuen Regierung auf unbefristete Zeit „beurlaubt“. Außerdem erhielt er die Anweisung, Marburg nie länger als drei Tage zu verlassen. Doch nach einer nochmaligen gerichtlichen Überprüfung der von Horst verfaßten „Denkschrift“ und Hamanns „Memorandum“ wurde er schließlich, zumal sich der Unterschlagungsvorwurf als unbegründet erwies, am 21. August 1934 wieder in seinem Amt als Direktor des Kunsthistorischen Instituts bestätigt. Dennoch sprachen sich einige NSDAP-Vertreter, wie der Staatskommissar Hans Hinkel, auch weiterhin gegen das „zersetzende und volksschädigende Wirken dieses Mannes“ aus. Da jedoch der von ihnen favorisierte Carl Horst am 7. November 1934 starb, verlief die von ihm eingeleitete „Affäre Hamann“ erst einmal im Sande. Trotz alledem hatte Hamann auch in der Folgezeit an der überwiegend nazifaschistisch durchorganisierten Marburger Universität keinen leichten Stand. Die Gestapo öffnete seine Briefe und hörte seine Telephongespräche ab, seine Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart wurde in die Liste der „nicht zu fördernden Bücher“ aufgenommen, die Teilnahme an internationalen Konferenzen wurde ihm untersagt, seinen hochqualifizierten jüdischen Kollegen Otto Homburger und Richard Krautheimer wurde die Venia legendi entzogen und anderes mehr. Dennoch versuchte Hamann sein Menschenmöglichstes, an seinem Institut das bisherige wissenschaftliche Niveau in Forschung und Lehre aufrechtzuerhalten. Wie im Ersten Weltkrieg bot er weiterhin Vorlesungen und Seminare zu der von den Nazifaschisten geringgeschätzten französischen Kunst an und arbeitete sich 41

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zugleich in die vorderasiatische, griechische und römische Kunst ein, um seiner Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart später einen ebenso umfangreichen und mit vielen Abbildungen ausgestatteten Band über die Geschichte der Kunst von der Vorgeschichte bis zur Spätantike folgen zu lassen. Größere Werke publizierte Hamann während der NS-Zeit kaum, sondern beschränkte sich vornehmlich auf eine Reihe weniger beachteter Aufsätze und Essays, die er zum Teil in englischen, französischen und amerikanischen Zeitschriften unterbrachte. Worin Hamann auch in diesen Jahren weiterhin seine wichtigste Publikation sah, war die Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart. Der inzwischen „arisierte“ Th. Knaur Verlag war aus Profitgründen an Neuauflagen dieses höchst erfolgreichen Buchs selbstverständlich sehr interessiert. Aber das ging nur, indem Hamann die Schlußabschnitte des Ganzen, in denen er ein Loblied auf den von den Nazifaschisten als „kulturbolschewistisch“ diffamierten Bauhaus-Sozialismus angestimmt hatte, etwas abschwächte. Ein paar kleine Kompromisse erschienen ihm in dieser Hinsicht keineswegs ehrenrührig. Allerdings blieb er dabei seinen bisherigen Anschauungen durchaus treu. So ließ er etwa 1938 bei der 4. Auflage dieses Buchs keineswegs davon ab, auf die entwicklungsgeschichtlich bedeutsame Wirkung des Expressionismus hinzuweisen, ja scheute nicht einmal davor zurück, in diesem Abschnitt nach wie vor Gemälde von Franz Marc und Lyonel Feininger abzubilden, um so seine These zu erhärten, daß sich in dieser Kunst der Wille zu einer revolutionär zertrümmernden Produktivität manifestiere, der eine allen personenkultischen Tendenzen entgegengesetzte Sachkultur ins Auge gefaßt habe. Auch nach Beginn des Zweiten Weltkriegs bot Hamann weiterhin seine Standardvorlesungen und Seminare an. Neu war lediglich, daß er sich im Hinblick auf den zweiten Band seiner großen Kunstgeschichte auch mit ägyptischer Kunst zu beschäftigen begann und 1944 ein dementsprechendes Buch herausbrachte. Als Hilfskraft zog er dabei 42

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den stellungslosen „Halbjuden“ Helmuth Jakobsohn heran, der 1938 in München im Fach Ägyptologie promoviert hatte, und setzte diese Entscheidung bei der NSDAP mit dem Argument durch, daß er bei seinen weiteren Forschungen nicht auf einen Ägyptologen verzichten könne. Jakobsohn erklärte nach Kriegsende in Bezug auf Hamann: „Der setzte alles durch, was er durchsetzen wollte. Er war geschickt und mutig im Umgang mit den Nazis. Hamann war in Marburg unter den Professoren bekannt als ein ganz Linker.“ Auf die Frage, wie sich Hamann das habe leisten können, antwortete Jakobsohn: „Hamann hatte in ganz Europa einen Namen, man traute sich nicht, ihn wegzuholen.“ Und diese Chance habe Hamann auch genutzt. In dieser Beziehung sei er „mit allen Wassern gewaschen“ gewesen. Deshalb sei sein Institut, erklärte Jakobsohn abschließend, während der ganzen NS-Zeit geradezu eine linksorientierte „Insel“ innerhalb des Nazifaschismus geblieben.10 Es gelang Hamann sogar, während des Kriegs weitere Geldsummen von den staatlichen Stellen zu ergattern, um eine sechzehnköpfige Equipe jüngerer Kunsthistoriker zu größeren Photokampagnen nach Frankreich, Belgien, Böhmen, Mähren und ins Baltikum zu entsenden, die dort weitere 30.000 Aufnahmen für das Marburger Bildarchiv machten. Manche seiner Mitarbeiter nannten ihn darauf einen Mitläufer des Nazifaschismus, denen er jedoch entgegenhielt, daß zwar auch er dafür eintrete, daß Gemeinnutz vor Eigennutz gehe,11 aber nie übersehen habe, wie vordergründig die sozialistischen Parolen der NSRegierung letztlich seien, mit denen sie den diktatorischen und prokapitalistischen Charakter ihres Systems zu übertünchen versuchten. Und daran hielt er bis zum Ende des Wintersemesters 1944/45 fest, als die Vorlesungen und Seminare schließlich eingestellt wurden und die amerikanischen Besatzungstruppen in Marburg einrückten.

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V Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs am 8. Mai 1945 nahm Hamann sofort jede Gelegenheit wahr, sich erneut in die politische Öffentlichkeit einzumischen. Endlich von der „dunklen Last“ der unmittelbaren Vergangenheit befreit, hielt er schon am 26. August dieses Jahrs einen Rundfunkvortrag zum Thema „Nationalsozialismus und bildende Kunst“, in dem er die „falschmünzerische Heroenverklärung“ in der Nazimalerei als eine Pseudokunst angriff, in der stets „Gewalt vor Recht“ geherrscht habe. Die gleiche antifaschistische Tendenz lag all jenen Essays zugrunde, die er kurz darauf in der Neuen Zeitung, dem Tagesspiegel, der Rheinischen Zeitung und der Rhein-Ruhr-Zeitung abdrucken ließ. In seiner ersten Vorlesung nach dem Krieg im Wintersemester 1945/46 wandte er sich mit demselben Engagement erneut seinem Lieblingsthema „Sachkultur und Personenkult“ zu, um die Studenten und Studentinnen mit seiner betont antifaschistischen Ethik bekannt zu machen. Die gleiche Absicht lag seiner Vorlesung „Humanität und Bildung“ zugrunde, die er im folgenden Sommersemester hielt. Danach trat plötzlich eine weitreichende Wende in Hamanns Leben ein. Im Frühjahr 1947 besuchte ihn nämlich der junge Ostberliner Philosoph Wolfgang Heise, um ihn im Namen von Johannes Stroux, dem Rektor der Humboldt-Universität und zugleich Vizepräsidenten des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, zu bitten, doch in Berlin den verwaisten Lehrstuhl Wilhelm Pinders für das Fach Kunstgeschichte zu übernehmen. Und Hamann, selbst als Achtundsechzigjähriger immer noch „rüstig“, wie man damals sagte, nahm dieses Angebot auch unverzüglich an, da er in der Viermächtestadt Berlin – weit über Marburg hinaus – bei der ideologischen Neuorientierung Deutschlands eine mitbestimmende Rolle zu spielen hoffte. Allerdings bat er sich aus, neben seiner neuen Tätigkeit in Berlin auch weiterhin Vorlesungen in Marburg abzuhalten und alle 14  Tage – als offizieller „Grenzgänger“ – den Alliiertenzug zwischen Marburg und Berlin benutzen zu können. 44

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Welche politischen Hoffnungen er damit verband, äußerte sich am deutlichsten in seinen Reden vor dem Kulturbund, wo er sich für eine Aufwertung des Expressionismus einsetzte, sowie in seinem Essay zur Kunst des produktiven Sehens, der am 27. Juni 1947 in der Ostberliner Täglichen Rundschau erschien, in dem er sich gegen die Darstellung „verehrenswürdiger Personen und menschlich rührender Begebenheiten“ wandte, um so – jenseits aller bürgerlichen Gepflogenheiten – zu einer „Neubewertung der Arbeit und des Arbeiters“ beizutragen.12 Die gleiche Tendenz lag seiner Rembrandt-Monographie von 1948 zugrunde, in der er diesen Maler als einen gesellschaftlichen Aufsteiger charakterisierte, der sich mit deutlicher „Opposition gegen höfisches Leben und höfische Kunst“ stets an „alle Menschen“ gewandt habe.13 Auf seinen 600 Gemälden und 300 Radierungen, die „Zeugnisse jenes unermeßlichen Kunstfleißes“ seien, wie er schrieb, der für jedes „echte Genie“ bezeichnend sei, werde man fast durchgehend mit dem „Nächsten und scheinbar Allervertrautesten“ konfrontiert.14 Hier arbeite ein Künstler aus „niederem Stand“, der es in seiner Jugend nicht verschmäht habe, sich aus „Ressentiment gegen die gute Gesellschaft“ als „struppiger Kerl“ mit einem „echten Plebejergesicht“ abzubilden.15 Trotz des Erfolgs, den dieses Buch hatte, war das Jahr 1948 für Hamann eher ein bedrückendes. Nicht nur das beschwerliche Hin­und Herreisen zwischen Marburg und Berlin sowie der Mangel an Nahrungsmitteln, auch die im Zuge des Kalten Kriegs einsetzenden politischen Spannungen machten ihm zu schaffen. Dennoch raffte er sich immer wieder auf und setzte nach wie vor, so gut er es vermochte, allen drohenden Spaltungstendenzen die Forderung einer ungeteilten deutschen Kultur entgegen. Von dieser ideologischen Hartnäckigkeit, mit der Hamann an seiner gesamtdeutschen Gesinnung festhielt, waren die Ostberliner Behörden so beeindruckt, daß sie ihn 1949 als einzigen Repräsentanten der deutschen Kunstgeschichte als volles Mitglied in die von ihnen 1947 gegründete Deutsche Akademie der Wissenschaften aufnahmen und ihn zugleich am 29.  Mai des gleichen Jahres, 45

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anläßlich seines 70.  Geburtstags, zum Ehrensenator der HumboldtUniversität ernannten. Wie sehr Hamann dies als eine Verpflichtung empfand, sich im Sinne „volksbildnerischer“ Bemühungen für den Erhalt der kulturellen Einheit Deutschlands einzusetzen, geht vor allem aus seiner Antrittsrede an der Akademie hervor, in der er sich von aller ins Zünftige verengten „Gelahrtheit“ distanzierte und sich zum Leitbild jenes unermüdlichen „Geistesarbeiters“ bekannte, das er von Anfang an als zielbestimmend empfunden habe. In dieser Rede – wohl eine der politisch wichtigsten seines Lebens – erklärte er seinen sicher verdutzten Zuhörern unter anderem: „Wie komme ich überhaupt in die Akademie? Ich habe nie ein Buch geschrieben, das zu zwei Dritteln aus Anmerkungen bestanden hat, nie ein Buch, das in seiner Geheimsprache nur den Eingeweihten und den nächsten Fachgelehrten verständlich war, sondern mich stets bemüht, mich an ein großes Publikum zu wenden und der Masse verständlich zu sein. Ich habe viele Aufsätze für Tageszeitungen geschrieben und war der Meinung, daß die Tagespresse davon nur gewinnen könne, wenn die Professoren aus der vornehmen Zurückhaltung ihr gegenüber herausträten. Ich habe an einer Universität eine Fabrik von photografischen Erzeugnissen gegründet und in dieser Fabrik als photografierender Arbeiter mitgewirkt. Dazu eine Art HO-Geschäft aufgetan, mit dessen Einnahmen ein Universitätsinstitut mitfinanziert wurde.“ Und er beschloß diese Rede mit den Sätzen: „Während die Arbeiter meist als die Niedrigen, die Dienenden, die Sklaven und Unfreien angesehen wurden, haben es die Gelehrten lange Zeit vorgezogen, als große Kanonen bezeichnet zu werden, ja kannten früher keinen höheren Ehrgeiz, als mit dem Titel ‚Geheimrat‘ ausgezeichnet zu werden, statt sich mit den Arbeitern auf eine Stufe zu stellen. Es ist daher mehr als nur ein Scherz, wenn ich mich jetzt als den Adolf Hennecke der Kunstgeschichte ausgebe.“16 Und in dieser Haltung ließ sich Hamann auch nicht beirren, als er am 25. August von der sowjetzonalen Regierung mit einem der ersten 46

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Nationalpreise ausgezeichnet wurde, obwohl er genau wußte, daß ihm das jene westdeutschen Zeitungen, die ihn schon seit 1948 wegen seiner Vorlesungstätigkeit an der Ostberliner Humboldt-Universität der „Korruption und Charakterlosigkeit“ bezichtigt hatten,17 höchstwahrscheinlich mit hämischen Ausfällen verübeln würden. Die mit diesem Preis verbundene Geldsumme von 50.000  Mark stellte er daraufhin dem Ostberliner Kunsthistorischen Institut zum Ankauf von Bildmaterialien zur Verfügung. Zugleich ließ er keineswegs davon ab, sich wie Thomas Mann in seiner gleichzeitig gehaltenen Weimarer GoetheRede weiterhin zur kulturellen Einheit Deutschlands zu bekennen, obwohl das durch die kurz danach erfolgte Spaltung der vier Besatzungszonen in zwei voneinander unabhängige Staaten, die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die Bundesrepublik Deutschland (BRD), immer schwieriger wurde. Eins der wenigen Hoffnungszeichen in der sich rapide verändernden politischen Situation sah Hamann damals in der am 12. September 1949 erfolgten Wahl des Liberaldemokraten Theodor Heuss zum ersten westdeutschen Bundespräsidenten, den er als einen Befürworter der älteren Werkbund-Tendenzen schätzte und der sich in seiner Antrittsrede ebenfalls für die kulturelle Einheit Deutschlands eingesetzt hatte. Ihm gratulierte er schon am folgenden Tag mit einem Glückwunschschreiben, in dem er Heuss aufforderte, seine Wahl zum Bundespräsidenten nicht als Rangerhöhung, sondern als Verpflichtung zu sachlicher Arbeit zu empfinden. Ja, er erklärte in diesem Brief sogar: „Ich saß neulich bei der Verteilung der Nationalpreise neben dem Helden der Arbeit Adolf Hennecke und etwas weniger im Zentrum als dieser. Ich habe mich dadurch nicht herabgesetzt gefühlt, da ich annehme, daß er seine Sache gut gemacht hat wie ich die meine. Ebenso glaube ich, daß auch Sie sich nicht heraufgesetzt fühlen, sondern vor eine Aufgabe gestellt, die nicht durch Rangerhöhung, sondern nur durch eine Persönlichkeit bewältigt werden kann, die immer war, was sie ist.“18 47

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VI Nach der im September/Oktober 1949 erfolgten Spaltung Deutschlands sah sich Hamann einer völlig neuen Situation gegenüber. Er war jetzt kein „Grenzgänger“ zwischen zwei Besatzungszonen mehr, den man wegen seiner kritischen Haltung dem Dritten Reich gegenüber anfangs in Ost und West durchaus respektiert hatte, sondern wurde in der BRD, obwohl er auch in Marburg weiter zu unterrichten versuchte, wie Thomas Mann immer schärfer als ein „Handlanger des Kommunismus“ angegriffen.19 Doch trotz dieser Attacken blieb er bei seinem einmal eingeschlagenen ideologischen Kurs, da er in der rabiaten antikommunistischen Propaganda der BRD eine fatale Kontinuität mit dem antikommunistischen Kurs des Hitler-Regimes sah. Allerdings wurden seine Überzeugungen schon im Juli 1950 auf eine harte Probe gestellt, als nämlich Walter Ulbricht entschied, das im Krieg beschädigte Berliner Stadtschloß, welches er als eine „Zwingburg des preußischen Militarismus“ bezeichnete, abreißen zu lassen. Gegen diesen Entschluß setzte sich Hamann mit längeren Briefen sowohl an Ulbricht als auch an Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck zur Wehr, in denen er auf die kunsthistorische Bedeutsamkeit dieses Baus hinwies und zugleich erklärte, daß selbst die Rebellen der Französischen Revolution den Pariser Louvre und die Bolschewiki den Moskauer Kreml keineswegs abgerissen hätten. Ja, er forderte sie sogar auf, diesen Bau, der noch zu zwei Dritteln erhalten sei, wieder herzustellen und von dort aus, wie die Sowjets im Kreml, zu regieren.20 Doch mit solchen Vorschlägen stieß er lediglich auf taube Ohren. Hamann war über die Ablehnung seiner Vorstellungen so erbittert, daß er sich am 6. September 1950, dem Tag der ersten Sprengung, auf den Berliner Schloßplatz begab und sich mit den Worten „Sprengt mich mit in die Luft“ in den noch unzerstörten Flügel der sogenannten Schloßfreiheit Einlaß zu verschaffen suchte. Daran wurde er jedoch von den umstehenden Volkspolizisten gehindert und mußte schließlich mit ansehen, wie die ersten Baumassen des Schlosses in sich zusam48

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menstürzten.21 Über diese Aktion war er so erzürnt, daß er sich anschließend ein Semester schmollend nach Marburg zurückzog und erst auf Drängen seiner Ostberliner Assistenten und Studenten, die sich durch seinen Weggang weitgehend „verwaist“ fühlten, im Jahr 1951 seine Lehrtätigkeit an der Humboldt-Universität wieder aufnahm. Während Hamann in der Westpresse wegen seiner Protestaktion gegen den Abriß des Berliner Schlosses vorübergehend als ein rühmenswerter „Dissident“ galt, herrschte dagegen in der gleichen Presse danach ein allgemeines Schweigen über ihn. Doch davon ließ er sich nicht beirren und konzentrierte sich in der Folgezeit auf den Abschluß seiner Arbeit an dem Band Geschichte der Kunst von der Vorzeit bis zur Spätantike, der sowohl in der Droemerschen Verlagsanstalt in München als auch im Ostberliner Akademie-Verlag herauskam. Was ihn zu diesem Zeitpunkt besonders empörte, war nicht nur, daß 1951 der einflußreiche Münchner Lehrstuhl für Kunstgeschichte mit dem Wiener Exnazi Hans Sedlmayr besetzt wurde, sondern auch frühere Nazisympathisanten wie Kurt Bauch, Hans Jantzen und Hubert Schrade weiterhin ungestört an westdeutschen Universitäten unterrichten durften, worin er eine schleichende „Renazifizierung“ der BRD sah.22 Doch auch die Entwicklung des Fachs Kunstgeschichte in der DDR, die sich im gleichen Zeitraum mancherlei Restriktionen ausgesetzt sah, beunruhigte ihn, da es im Zuge der dogmatisch überspitzten Formalismusdebatte einige der dortigen Kunsthistoriker, wie Heinz Ladendorf, Georg Friedrich Koch und Wilhelm Worringer, vorzogen, sich in den Westen abzusetzen. Und so fühlte sich Hamann – als der einzige nennenswerte Vertreter dieses Fachs – im Osten zusehends einsamer. Lediglich der Ostberliner Kulturphilosoph Wolfgang Heise, der Leipziger Romanist Werner Krauss und der Leiter des Akademie-Verlags Rudolf Koven hielten weiter fest zu ihm. Schließlich begannen schon zu diesem Zeitpunkt einige SED-Theoretiker an Hamanns politischen Anschauungen herumzumäkeln. Vor 49

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allem seine Bekenntnisse zum Bauhaus-Sozialismus stießen zusehends auf Widerstand, da sich Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, wie ihm entgegengehalten wurde, im Exil zu „Handlangern des amerikanischen Monopolkapitalismus“ gemausert hätten. Ebenso sehr schadete es ihm, daß ihn der maßgebliche sowjetische Kunsthistoriker Michail Wladimirowitsch Alpatow wegen Hamanns Ablehnung der antikisierenden Elemente in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts als einen „bürgerlichen Wissenschaftler“ angriff, der keinen Sinn für den „humanistischen“ Geist dieser Epoche aufbringe.23 Obendrein verübelte es ihm die SED, daß ihn Wolfgang Harich, der kurz darauf in Ungnade fiel, am 14. Juli 1953 in der Berliner Zeitung als einen bedeutenden Geisteswissenschaftler charakterisierte, mit dem sich die Partei, wie mit Ernst Bloch und Bertolt Brecht, nie in einen konstruktiven Dialog eingelassen habe. Doch all das nahm Hamann eher gelassen hin, ja schmiedete weiter an größeren Publikationsvorhaben. So wollte er einerseits beim Akademie-Verlag seinen Band Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus neu herausbringen, was jedoch am Widerspruch zweier SED-Gutachter scheiterte, andererseits sein seit langem geplantes Buch Die Abteikirche St. Gilles und ihre künstlerische Nachfolge abschließen, wogegen die Parteiführung – wegen der entlegenen Thematik dieses Bands – keinen Widerspruch erhob, so daß er 1955 ungehindert erscheinen konnte. Inzwischen bereits etwas gebrechlich geworden, aber unentwegt darauf bedacht, die Summe seiner Kenntnisse doch noch publizieren zu können, faßte er darauf den Plan, eine fünfbändige Kulturgeschichte des wilhelminischen Reichs zu schreiben. Als ihm dabei, mitten im ersten Band zur Kunst und Kultur der Gründerzeit, die Kräfte ausgingen, bat er mich, der ich gerade im Sommer 1955 in Marburg meine Dissertation über die Malerei und Literatur der Biedermeierzeit verteidigt hatte, ihm hierbei zur Hand zu gehen und die folgenden Bände – anhand einiger von ihm verfaßten Stichwörter – selbst zu schreiben. Ich sagte „Ja“ und machte mich im März 1956 – 50

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von Marburg nach Ostberlin umziehend – sofort an die Arbeit an dem zweiten Band dieser Reihe, der den Titel Naturalismus tragen sollte. Als ich das Manuskript dazu abgeschlossen hatte, ging es Anfang 1957 an den Akademie-Verlag und wurde auch, trotz mehrerer negativ ausfallender Parteigutachten, von Ludolf Koven angenommen, der sich dabei auf ein positives Sondergutachten von Hans Mayer stützen konnte.24 Und so nahm ich schon wenige Tage später die Arbeit an dem folgenden Impressionismus-Band auf, der, wie ich später erfuhr,25 einigen SED-Genossen, darunter Alfred Kurella, als ein „Partisanenunternehmen aus dem Westen“ noch weniger linientreu erschien als der Naturalismus-Band, aber von Koven dennoch ins Verlagsprogramm aufgenommen wurde. Wegen all dieser Vorgänge beschloß Wilhelm Girnus, der allgewaltige Staatssekretär für das Hochschulwesen, im Sommer 1957 Hamann zu emeritieren und ihn durch den parteifrommen Kunsthistoriker Gerhard Strauss zu ersetzen, der 1950 den Abriß des Berliner Schlosses befürwortet hatte und zu den schärfsten Widersachern Hamanns gehörte. Den endgültigen Bescheid seiner Emeritierung erhielt Hamann am 3. September 1957. Er wußte, daß er gegen eine solche Entscheidung machtlos war. Um jedoch nicht sang- und klanglos abzutreten, verfaßte er in wenigen Minuten ein Protestschreiben, das mit dem Satz begann: „Es gibt keinen Sozialismus des Parteibuchs, es gibt nur einen Sozialismus der Leistung“, und das mit den Worten schloß: „Denn das erscheint mir als der wahre Sozialismus, daß Arbeit und Arbeiter allen Werten vorangehen, getreu meinem Motto: Gesinnung kann man heucheln, Können muß man beweisen. Hamann.“26 Anschließend übertrug ich dieses Schreiben auf die Rückseite eines Plakats und hing es als Wandzeitung in der Eingangshalle der Universität – schräg gegenüber der Marxschen 11.  Feuerbach-These – auf. Schon nach kurzer Zeit bildete sich eine lebhaft diskutierende Gruppe von Studenten vor diesem Schreiben. Als sie auf 30 bis 40 Studenten angewachsen war, kamen drei Parteifunktionäre, rissen die Wandzei51

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tung ab, stopften sie in einen halbvollen Papierkorb, den sie auf dem Steinweg vor dem Haupteingang entleerten und dessen Inhalt sie darauf kurzerhand in Brand steckten, während Hamann und ich – etwa 10  Schritte entfernt – diesen Vorgang wie ein politisches Lehrstück betrachteten.27 Zwei Tage später erhielt ich von der SED-Bezirksleitung einen Brief, in dem lediglich stand, daß ich doch „gefälligst in den nächsten 48 Stunden“ die DDR verlassen solle. Darauf fuhren Hamann und ich am nächsten Morgen zum Akademie-Verlag, um mit Koven das weitere Schicksal „unserer Reihe“ zu besprechen. Koven bat mich inständig, mich nicht von irgendwelchen „unbelehrbaren Fanatikern“ beirren zu lassen und die einmal begonnene Reihe auf jeden Fall fortzusetzen, ja erklärte sich sogar bereit, mir nach dem Verlassen der DDR – aus einem Geheimfond – ein monatliches Fixum in Westgeld nach Marburg zu überweisen. Hamann sah ich in der Folgezeit nur dann, wenn er vorübergehend nach Marburg kam, wo ich nicht nur den Impressionismus-Band abschloß, sondern auch sein Manuskript zur Gründerzeit pietätvoll überarbeitete und erweiterte. Er selbst war in dieser Zeit weiterhin an der Forschungsstelle für Kunstgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ostberlin tätig, deren Direktion ihm Girnus offenbar nicht streitig machen konnte. Daß sogar seine dortige Stellung von Monat zu Monat zusehends schwieriger wurde, war ihm durchaus bewußt. Selbst als ihn manche der führenden Parteigenossen als einen westlichen „Paradiesvogel“ bezeichneten, blieb er seinen einmal gefaßten Überzeugungen treu. Wie Ernst Bloch hoffte er nach wie vor, sein Sozialismuskonzept, dem eine an Bauhaus-Vorstellungen anknüpfende gesamtgesellschaftliche Leistungsethik zugrunde lag, auch weiterhin in die ideologischen Diskussionen der DDR einbringen zu können. Doch wie sehr sich inzwischen der Wind gedreht hatte, mußte Hamann schon im Jahr 1959 erfahren, als er Koven das Manuskript eines längeren, programmatisch abgefaßten Aufsatzes unter dem Titel 52

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Christentum und europäische Kultur übergab und ihn bat, es möglichst bald mit einem reichen Abbildungsmaterial als Broschüre herauszubringen. Koven, der bisher fast alles von Hamann drucken ließ, konnte sich jedoch diesmal, obwohl sich auch Werner Krauss für den Druck dieser Schrift aussprach, nicht zu einer sofortigen Veröffentlichung entschließen, da ihm die in diesem Manuskript vertretene These von der im Sozialismus kulminierenden Verweltlichung des Christentums nicht nur problematisch, sondern geradezu aufreizend erschien. Als die Hauptcharakteristika der seit der Spätantike eingetretenen Säkularisierungsprozesse hatte Hamann in diesem Manuskript folgende ins Positive mündende Tendenzen hingestellt: 1. die „Höflichkeit als christianisierte Form des aristokratischen Gemeinschaftswesens“ im Rahmen der ritterlichen Welt des hohen Mittelalters, 2. das „Naturgefühl“ und die „Sympathie vom Verkehr zwischen Menschen bürgerlichen Standes“ von der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sowie 3. die moderne „Sachlichkeit“ als „Pflicht und Freiwilligkeit des Dienstes im künstlerischen Sinn produktiver Arbeit für das Gemeinwohl der Gesellschaft“ seit der letzten Jahrhundertwende.28 Als Endphase dieser fortschreitenden Verweltlichung des Christentums charakterisierte Hamann am Schluß seines weit ausgreifenden Traktats die von ihm erhoffte nachbürgerliche „Vergesellschaftung der Menschen auf der Grundlage der Arbeit und ihrer Organisation“. Und zwar wandte er sich an dieser Stelle nachdrücklich gegen jenen „patriarchalischen Sozialismus“, der dem Arbeiter lediglich „ein menschenwürdiges Dasein in Freizeit, Wohnkultur, Altersversorgung und ausreichender Entlohnung“ verschaffen wolle. In einer derartigen Form der „Sozialisierung“ sah er zwar eine Befreiung der Arbeiter, aber keine Befreiung der Arbeit, das heißt einer Arbeit, in der jeder Mensch seine berufliche Tätigkeit im Dienste eines „Allgemeineren, der Gemeinschaft der Menschen zuliebe“ leiste und dabei auch „seine Person der Arbeit zum Opfer bringe und in ihr selbst sein Genügen finde.“ Diesem Anspruch solle zudem eine Kunst entsprechen, wie er schrieb, die 53

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jedem Menschen zugänglich sei, indem sie sich von der älteren Kastengebundenheit distanziere und eine der Gesamtgesellschaft dienliche Produktivität in Gang setze. Ja, fast im Sinne der Marxschen Vorstellung der „Freien Assoziation der freien Produzenten“ hatte Hamann gegen Ende dieser Schrift ein Konzept „lebendiger Produktionsstätten“ entworfen, in denen alle in ihr Arbeitenden das Gefühl einer künstlerisch-qualitätsvollen Produktion haben würden, um so die bisherige, von ihm als verhängnisvoll empfundene Spaltung in Kopf- und Handarbeit zu überwinden.29 Auf eine Formel gebracht, bekannte sich dieser Aufsatz zu einem „Sozialismus der Leistung“, in dem statt der älteren personenkultischen Rangvorstellungen das im Dienst an der Allgemeinheit beruhende „Können“ vorherrschen solle. Wie Hamann schon der Personenkult der wilhelminischen Ära zuwider war und er deshalb 1914 als fünfunddreißigjähriger Ordinarius seiner ersten Marburger Vorlesung aus Affront gegen Wilhelm II. den Titel „Sachkultur und Personalkultur als Hauptproblem der Kulturphilosophie“ gegeben hatte, ja wie er auch im Führerkult des Dritten Reichs einen Rückfall in archaische Herrschaftsformen gesehen hatte, lehnte er deshalb mit der gleichen Konsequenz auch den Personenkult mancher sozialistischen Parteiführer der fünfziger Jahre ab. Und das führte notwendig zu weltanschaulichen Kollisionen zwischen ihm und einigen weiterhin stalinistisch orientierten Kulturtheoretikern der DDR, die sowohl sein Bekenntnis zur modernistisch-werkbetonten Kunst des Bauhauses als auch seine abfälligen Äußerungen über alle Formen des Personenkults als Affront gegen die herrschende Parteilinie empfanden. Und so wurde er in Ostberlin immer stärker an den Rand gedrängt. Hamanns 80. Geburtstag im Jahr 1959 erregte daher bei weitem nicht mehr das gleiche „offizielle“ Aufsehen wie sein 70. oder 75. Geburtstag. Er bekam jetzt in aller Deutlichkeit zu spüren, daß er wegen seiner kunst- und sozialideologischen Anschauungen immer stärker zwischen die Fronten des Kalten Kriegs in ein politisches Niemandsland geraten 54

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war und man ihm daher weder im Osten noch im Westen besonders wohlwollend entgegenkam. Doch all das hielt ihn, immer gebrechlicher werdend, nicht von seiner „Arbeit“ ab. So ließ er sich im Frühjahr 1960 sogar noch einmal nach Frankreich fahren, um im Hinblick auf ein Buch zur romanischen Plastik seine Forschungsergebnisse ein letztes Mal angesichts der Originale überprüfen zu können. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt in Ostberlin und einer Genesungskur im Allgäu starb er schließlich – von der Presse kaum beachtet – am 9. Januar 1961. Seine letzte Genugtuung war, daß er kurz vor seinem Tod noch das Erscheinen des Impressionismus-Bandes beim AkademieVerlag erlebte. Die weiteren Bände dieser Reihe, wie die von mir bearbeitete Gründerzeit sowie die von mir verfaßten Bände Stilkunst um 1900 und Expressionismus, die in der DDR unter der Bezeichnung „der Hamand“ kursierten,30 erschienen dann im gleichen Verlag in den Jahren 1965, 1967 und 1977. Als der Kalte Krieg in der Willy-Brandtund Helmut-Schmidt-Ära vorübergehend abflaute, konnten sie sogar als Paperbacks bei der Nymphenburger Verlagshandlung und beim S. Fischer Verlag herauskommen. Und damit ging auch manchen westdeutschen Geisteswissenschaftlern endlich wieder ein Licht dafür auf, welche bahnbrechende Rolle Hamann bei der Begründung einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung von Kunst gespielt hatte.

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Werner Krauss (1900–1976) Romanist

I Von allen deutschen Romanisten hat sich keiner wissenschaftspolitisch so engagiert wie Werner Krauss. Eine solche Aussage klingt auf Anhieb etwas hochtrabend, läßt sich aber bei einer genaueren Kenntnis seines Werdegangs und seiner Publikationen kaum widerlegen. Von Anfang an empfand Krauss die großen Werke der Literatur als etwas, was nicht in sich selber ruhe, sondern weit darüber hinausweise. Ob nun in der französischen, spanischen oder deutschen Literatur: in all ihren Dichtungen sah er erregende Manifestationen einer geschichtlichen Entwicklung, die nie zum Stillstand gekommen sei und bis in die Gegenwart hineinwirke. Daher erschien es ihm wichtig, auch sich selber im Rahmen dieser Prozesse zu sehen und die in ihnen weiterwirkenden Tendenzen als einen geschichtlichen Auftrag zu empfinden, dem er sich als Homo politicus zu stellen habe. Schon den meisten seiner frühen Schriften merkt man an, daß es ihm bei der Interpretation von Literatur in erster Linie um sozialhistorische Positionierungen ging. Krauss genügten weder irgendwelche positivistischen Kleinkrämereien noch ebenso nichtssagende Ausflüchte ins Geistesgeschichtlich-Verblasene, Ästhetisierende oder Existentialistische. Er wollte den Dingen auf den Grund gehen. Und das schien ihm nur im Rahmen gesellschaftsgeschichtlicher Fragestellungen möglich, welche sich nicht auf die Erhellung individueller Besonderheiten beschränken, sondern auch und vor allem die jeweiligen politischen und sozioökonomischen Umstände in Betracht ziehen, unter denen Literatur entsteht. Daß er dabei, ob nun im Hinblick auf die Figurendarstellungen oder die Genrewahl, auch auf die klassenbe-

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dingten Voraussetzungen von Literatur stieß, war geradezu unvermeidlich. Und so geriet sein Interesse an sozialhistorischen Fragen – vor allem im Ankämpfen gegen den Nazifaschismus – immer stärker ins Fahrwasser einer marxistischen Theoriebildung, der er dann in der unmittelbaren Nachkriegszeit an der Marburger Universität und anschließend in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) einen wirkungsmächtigen Nachdruck zu verleihen suchte. Allerdings bewahrte ihn seine breite Kenntnis der vielfältig ausdifferenzierten literaturmethodologischen Theoriebildungen seit dem späten 19.  Jahrhundert davor, sich hierbei mit vulgärmaterialistischen Ableitungen zu begnügen. Platte Nachweise einer bestimmten Klassenzugehörigkeit reichten ihm nicht aus. Er dachte stets prozeßhaft und war deshalb weit davon entfernt, irgendwelche abfälligen Schlagwörter wie „feudalistisch“, „bürgerlich“ oder gar „dekadent“ zu verwenden, wenn es ihm um die Interpretation älterer Literaturwerke ging. Der Rang eines bestimmten Dramas oder Romans bestand für Krauss stets darin, ob das jeweilige Werk – trotz seiner klassengebundenen Ausdrucksform – in seinen Tiefenschichten nicht zugleich Gefühle des Ungenügens, der Sehnsucht nach einem besseren Gesellschaftszustand, ja vielleicht sogar eines Vorscheins auf utopisch erhoffte Zustände enthält. Und er versuchte das gegen Ende seines Lebens vor allem an der aufklärerisch eingestellten französischen und deutschen Literatur des 18.  Jahrhunderts nachzuweisen, die ihm für eine derartige Sehweise besonders ergiebig erschien. Was er dabei akzentuierte, war stets der kritische, auf einen gesellschaftlichen Fortschritt und damit ins Prozeßhafte drängende Charakter der jeweils ins Auge gefaßten Werke dieser Literatur, während er all das, was sich als eine Erhebung ins Überzeitliche oder gar Normhafte verstand, als irrelevant hinstellte, um sich nicht einer Verklärung sogenannter Meisterwerke ins „Klassische“ schuldig zu machen, wie das bisher vor allem in der geisteswissenschaftlichen oder werkimmanenten Interpretationsweise von Literatur üblich gewesen sei. 58

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II Geboren wurde Werner Krauss am 7. Juni 1900 in Stuttgart als Sohn des Geheimen Archivrats Rudolf Krauss und seiner Frau Ottilie, die beide aus jenen „Kreisen der schwäbischen Intelligenz entstammten, in der noch die liberalen Traditionen des deutschen Bürgertums der Achtundvierziger Generation lebendig waren“, wie Manfred Naumann später schrieb.1 Im Juni 1918 legte er am dortigen EberhardLudwigs-Gymnasium das Abitur ab und wurde kurz darauf als Kanonier bei der Ersatzbatterie eines Artillerieregiments zum Wehrdienst eingezogen. Nach Kriegsende studierte er bis 1921 an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und dann ein weiteres Jahr an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Rechts- und Staatswissenschaften, Romanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Da Krauss kein Freund autobiographischen Schreibens war,2 sind wir über die Eindrücke, die er dort empfing, nicht genauer unterrichtet. Wir wissen nur, daß er es sich danach mit Hilfe seiner Eltern leisten konnte, von 1922 bis 1926 in Madrid Hispanistik zu studieren. Dort lernte er unter anderem José Ortega y Gasset, Ramón Gómez de la Serna und Claudio Sánchez-Albornos kennen, von denen ihn der letztere mit den historisch-materialistischen Grundzügen des spanischen Mittelalters bekannt machte.3 Ja, es gelang Krauss sogar, 1923 seinen ersten auf spanisch geschriebenen Aufsatz über Un moderno dramaturgo alemán Georg Kaiser in der Zeitschrift La Pluma unterzubringen.4 Da er in Madrid – neben seinem Studium – zugleich Kontakte zu anarchistisch gesinnten Literaten aufnahm, die von den Behörden der herrschenden Militärdiktatur unter Primo de Rivera scharf observiert wurden, wurde er Ende April 1926 verhaftet, aber auf Fürsprache seiner Mutter, welche umgehend nach Madrid angereist kam und bei den für solche Fälle zuständigen Ämtern für ihren Sohn vorstellig wurde, nach drei Wochen wieder freigesetzt. Von 1927 bis 1929 studierte Krauss an der Münchner Universität und promovierte bei dem bekannten Romanisten Karl Vossler im Spät59

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herbst 1929 mit einer Arbeit zum Thema Das tätige Leben und die Literatur im mittelalterlichen Spanien. Was folgte, war ein längerer Studienaufenthalt in Paris, wo Krauss an einer Studie unter dem Titel Die Tragödie eines Bürgers aus dem 19. Jahrhundert arbeitete, in der er sich mit der damals viel gelesenen Autobiographie des Genfer Literaturkritikers Henri Frédéric Amiel auseinandersetzte. Aufgrund dieser zwei Schriften stellte ihn der Marburger Romanist Erich Auerbach, der ebenfalls an sozialgeschichtlichen Problemstellungen interessiert war und die von Benedetto Croce vorgenommene Trennung von „reiner Dichtung“ und „zweckgebundener Literatur“ strikt ablehnte, 1931 als seinen Assistenten an. Nach seiner Ankunft in Marburg schrieb Krauss seine Studie Über die ästhetischen Grundlagen des spanischen Schäferromans, mit der er sich ein Jahr später bei Auerbach habilitierte. Seine öffentliche Antrittsrede, nach der ihm die Venia legendi verliehen wurde, hielt er am 30. April 1932 zum Thema „Idee und Entwicklung des Heldischen in der spanischen Literatur“. All das – außer der dramatischen Episode im Jahr 1926 in Spanien – entsprach durchaus der üblichen Laufbahn eines damaligen Jungakademikers aus gutbürgerlichem Hause. Auch sein immer stärker werdendes sozialhistorisches Interesse, das schon von Karl Vossler und dann von Erich Auerbach gutgeheißen wurde, hielt sich noch weitgehend im Rahmen des damals Erlaubten. Erst die Machtübergabe an die Nazifaschisten am 30. Januar 1933 führte zum ersten entscheidenden Einschnitt in seinem Leben. Schließlich erlebte Krauss in den folgenden Wochen und Monaten, wie in Marburg der antimarxistisch und antisemitisch eingestellte Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund, der schon seit 1931 die Mehrheit der dortigen Studenten für sich gewonnen hatte,5 alle sogenannten Systemgegner aufs schärfste attackierte und am 10. Mai sämtliche ihm als „undeutsch“ erscheinenden Bücher ins Feuer warf. Einige Professoren, wie der jüdische Indogermanist Hermann Jakobsohn, erhielten bereits am 7.  April 1933 Lehrverbot. Ebenso erging es kurz darauf dem Staatsrechtler Wilhelm 60

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Röpke und dem Assistenten am philosophischen Seminar Karl Löwith. Lediglich der linksorientierte Kunsthistoriker Richard Hamann wurde, nachdem man ihn vorübergehend „beurlaubt“ hatte, 1934 wieder eingestellt.6 Erich Auerbach, obwohl bereits abgesetzt, blieb noch bis 1935 in Marburg und wich erst dann – aufgrund der Nürnberger Rassengesetze – in die Türkei aus, wo er in Istanbul eine Professur erhielt.7 Krauss selber wurde zwar anschließend zum kommissarischen Leiter des Romanischen Seminars ernannt, erhielt aber keine Professur, da die NS-Behörden in ihm einen unsicheren Kantonisten sahen. Wegen eines negativen Gutachtens von seiten der NSDAP, in dem ihm vorgeworfen wurde, „kein wahrhaftes Verständnis für die Bedeutung und Bewegung des Nationalsozialismus“ gewonnen zu haben, ja „ständig eine kritische Grundeinstellung gegenüber dieser Bewegung zum Ausdruck zu bringen“,8 kam deshalb im Jahr 1937 auch eine mögliche Berufung an die Universität Rostock nicht zustande. Und so mußte sich Krauss weiterhin mit einer Assistentenstelle in Marburg begnügen. Irgendeinen Widerstand gegen derartige Maßnahmen gab es in Marburg kaum. Lediglich Rudolf Bultmann, der dortige protestantische Theologe, äußerte als Sympathisant der Bekennenden Kirche vorübergehend seinen Unwillen über allzu drastische Veränderungen im Lehrangebot. Unter den Studenten existierte zwar eine kleine kommunistische Zelle, deren Hauptvertreter jedoch nach einer Flugblattaktion im Sommer 1933 sofort verhaftet und damit ausgeschaltet wurden.9 Ob auch Krauss mit dieser Gruppe in Verbindung stand, läßt sich nicht mehr ermitteln. Wir wissen nur, daß er 1937 vorübergehend mit einer antifaschistischen Organisation in Zürich um John Rittmeister, einem seiner Münchner Studienfreunde, Kontakte aufnahm. Während all dieser Zeit unterrichtete er weiter in Marburg und schrieb dort eine Studie unter dem Titel Corneille als politischer Dichter, die 1936 sogar in den von ihm herausgegebenen Marburger Beiträgen zur romanischen Philologie als Buch herauskommen konnte. Obwohl er in ihr – unter Heranziehung zeitgenössischer Flugschriften und politischer 61

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Traktate – vor allem die Rolle dieses Autors zwischen Hof und Bürgertum herausstellte, also im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Romanisten, die sich weiterhin philologischer bzw. positivistischer Interpretationsweisen befleißigten,10 an seiner sozialhistorischen Sehweise festhielt, erregte dieser Band kein besonderes Aufsehen. Die NSBehörden, welche die Germanistik ohnehin für wichtiger als die Romanistik hielten, ließen deshalb dieses Buch als ideologisch unerheblich einfach durchgehen. Eine Professorenstelle blieb Krauss jedoch weiterhin versagt. Auch als sich 1940 die Freiburger Universität für ihn zu interessieren begann, scheiterte eine mögliche Berufung dorthin wiederum am Einspruch der NS-Behörden. Was diese Ämter zuließen, war lediglich, daß im gleichen Jahr seine Marburger Assistentenstelle in eine Privatdozentur umgewandelt wurde. Doch diese Stelle konnte Krauss nur ein Semester lang wahrnehmen, da er bereits am 9. August 1940 seinen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht erhielt und als Gefreiter in Berlin einer Dolmetscher-Lehrkompanie zugeteilt wurde. Dieser Gruppe gehörten 300 Dolmetscher an, zu denen im Jahr 1940 – in Vorbereitung des im Sommer 1941 erfolgenden Überfalls auf die Sowjetunion – noch 1.100 Lehrkräfte folgten, die Russisch unterrichten sollten.11 Während dieser Zeit traf Krauss 1941 wieder auf seinen inzwischen aus der Schweiz nach Deutschland zurückgekehrten Freund John Rittmeister, der ihn mit der Widerstandsorganisation Rote Kapelle bekannt machte, wobei er sich vor allem der Gruppe um Harro Schulze-Boysen anschloß.12 Mit seiner Freundin, der Studentin Ursula Goetze, die ebenfalls zu dieser Gruppe gehörte, nahm er darauf in der Nacht vom 17. zum 18. Mai 1942 in Berlin-Schöneberg an einer Zettelklebeaktion der Roten Kapelle teil, die sich gegen die von den Nazifaschisten veranstaltete Ausstellung „Das Sowjetparadies“ richtete und deren Anschläge die provozierende Aufschrift trugen: „Ständige Ausstellung / Das Naziparadies / Krieg Hunger Lüge Gestapo / Wie lange noch?“ Da die NSBehörden von seiner Teilnahme an dieser Aktion anfangs nichts wuß62

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ten, wurde Krauss am 15.  Juli 1942 nachträglich in Marburg zum außerordentlichen Professor ernannt. Arretiert wurde er erst – im Zuge der Verhaftung aller führenden Mitglieder der Roten Kapelle – am 24. November des gleichen Jahres. Am 14./15. Januar 1943 erfolgte dann der erste Prozeß vor dem Reichskriegsgericht gegen ihn.13 Dort wurde er wegen „Beihilfe zur Vorbereitung des Hochverrats und zum Kriegsverrat“ zum Tode verurteilt. Während sein Freund John Rittmeister und seine Freundin Ursula Goetze kurz darauf, wie so viele Vertreter der Roten Kapelle, in Plötzensee gehenkt wurden, kam es in seinem Fall nicht zu einer sofortigen Hinrichtung. Statt dessen wurde er erst einmal in Plötzensee und dann in Moabit interniert. Dort gelang es ihm – trotz strengster Überwachung – einen Schlüsselroman über die Schulze-Boysen-Gruppe unter dem Titel PLN. Die Passionen der halykonischen Seele sowie eine Studie über Graciáns Lebenslehre zu schreiben, ja diese beiden Texte sogar aus dem Gefängnis herauszuschmuggeln. Aufgrund psychiatrischer Gutachten von Hans von Hattenberg, eines Bittgesuchs seiner Schwester Hilde an Adolf Hitler sowie zahlreicher Stellungnahmen aus seinem Kollegenkreis, darunter von Ernst-Robert Curtius, Julius Ebbinghaus, Hans-Georg Gadamer, Max Kommerell und Karl Vossler, wurde darauf am 30. Dezember 1943 in seinem Fall ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet und er in das Wehrmachtsgefängnis Torgau, den Sitz des damaligen Reichskriegsgerichts, überführt, jedoch die Verhandlung wegen der körperlichen Schwäche des Angeklagten am 18.  Januar 1944 wieder abgebrochen. Die folgenden zwei Monate verbrachte Krauss im Gefangenenlazarett in Berlin-Buch, wo ihn der dortige Oberstarzt, ein gewisser Dr. Schmidt, als eine „Intelligenzbestie“ mit einem „verdorrten Gefühlsleben“ charakterisierte, die jedoch für ihre Handlungen „voll verantwortlich“ sei. Danach wurde er im Mai 1944 in das Wehrmachtsgefängnis in der Berliner Lehrter Straße gebracht, wo weitere psychiatrische Gutachten über ihn erstellt werden sollten. Am 14. September 1944 kam es schließlich in Torgau zur entscheiden63

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den Hauptverhandlung seines Falls vor dem Reichskriegsgericht, bei der das anderthalb Jahre zuvor ausgesprochene Todesurteil in eine fünfjährige Zuchthausstrafe abgewandelt wurde. Als ihn die Gestapo darauf im März 1945 zum Arbeitseinsatz in einem Konzentrationslager abholen wollte, erklärte ihn ein Torgauer Stabsarzt wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes als nicht transportfähig. Anschließend brachte man ihn im April 1945 mit einem Lazarettzug nach Karlsbad. Das Kriegsende erlebte er in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Eger. Dort wurde er jedoch schon am 16. Juni 1945 entlassen und kehrte „halb erschlagen“ nach Marburg zurück. III Aufgrund all dieser Erfahrungen unterm Nazifaschismus, der in der Sowjetunion seinen ideologischen Hauptgegner gesehen hatte, trat Krauss bereits Ende Juni 1945 in die hessische Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ein und versuchte zugleich, Kontakte zu Georg Lukács aufzunehmen, den er in der „gegenwärtigen Weltdeutung“ für den „profundesten Geist“ hielt, wie er am 16.  Dezember 1945 in einem Brief an Hermann Brügelmann schrieb. Auf Betreiben des Philosophen Julius Ebbinghaus, den die amerikanischen Besatzungsbehörden wegen seiner untadeligen politischen Vergangenheit als Rektor der Marburger Universität eingesetzt hatten, wurde er dort am 24. Oktober – zu Beginn des ersten Nachkriegssemesters – zum außerordentlichen Professor ernannt. Als erstes trat er mit Unterstützung von Richard Hamann, Fritz Schalk und Leo Spitzer dafür ein, Erich Auerbach wieder nach Marburg zurückzuberufen, was sich jedoch nicht durchsetzen ließ. In den folgenden Monaten sah Krauss – neben seiner Vorlesungs- und Seminartätigkeit – sein Hauptanliegen vor allem in einer demokratischen Reorganisation der inzwischen wieder eröffneten Universitäten.14 Im Sinne der KPD forderte er dabei in mehreren Reden und Aufsätzen, das Universitätsstudium nicht weiterhin als ein „Bildungsmonopol der bevorrechtigten Klasse“ zu betrachten, sondern 64

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auch den Arbeitern „eine Teilnahme an der höheren Bildung zu ermöglichen“.15 Dafür sprechen unter anderem seine Aufsätze Der Auftrag unserer Hochschule für die Marburger Presse vom 28.  Oktober 1945 sowie Nationalismus und Chauvinismus, den er für den ersten Jahrgang der vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands herausgegebenen Zeitschrift Aufbau verfaßte.16 In ihnen erklärte er, daß man sich – nach der Verfälschung der freiheitlich-demokratischen Nationalvorstellungen der Vormärzler und Achtundvierziger im Bismarck-Reich und dann unter den Nazifaschisten – endlich dafür einsetzen müsse, bei einer politischen Neuordnung der Gesellschaftsverhältnisse nicht nur von den Wünschen und Forderungen der Bourgeoisie auszugehen, sondern auch die Ansprüche der noch immer unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiterklasse zu berücksichtigen, um so eine durchgreifende Umformung des nationalen Lebens in Deutschland zu erreichen.17 Die gleiche Anschauung vertrat Krauss in seinem Vortrag „Das Gesicht der deutschen Universitäten“, den er auf Einladung Johannes R. Bechers am 7. Juli 1946 bei einer Kundgebung des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in Berlin hielt. Eine Zeitlang sah Krauss für derartige Bestrebungen ein geeignetes Sprachrohr in der von ihm sowie Karl Jaspers, Dolf Sternberger und Alfred Weber im Herbst 1945 gegründeten Zeitschrift Die Wandlung, die in einer stattlichen Auflage herauskam. In ihr trat er dafür ein, im Lehrangebot der wiedereröffneten Universitäten Politik nicht einfach mit „nazistisch“ gleichzusetzen und aus Abscheu vor den kurz zuvor erlebten Depravierungen gesamtgesellschaftlicher Vorstellungen in eine zeitabgewandte Bildungsreligion auszuweichen, sondern in allen Geisteswissenschaften in erster Linie eine kritische Gesellschaftsanalyse anzustreben. Selbst die hehre Philosophie, schrieb er, müsse endlich mit politischen Erneuerungskonzepten durchdrungen werden, ja kein Wissenschaftler dürfe davor zurückschrecken, zugleich als Politiker aufzutreten.18 Als das Endergebnis dieser Umbesinnung faßte er dabei 65

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eine „soziale Republik“ ins Auge, in der selbst an den Universitäten ein klassenübergreifender Geist einziehen würde. Solche Anschauungen wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die aus den Gefängnissen befreiten Linken noch als die „Heroen der ersten Stunde“ gefeiert wurden, selbst in den drei Westzonen durchaus geduldet. Ja, Krauss konnte sich 1946 sogar als Deputierter der KPD an den Diskussionen des hessischen Vorparlaments beteiligen. Allerdings wehrten sich schon damals viele der die Nazizeit überstandenen „Geistigen“, wie sie sich immer noch nannten, gegen eine allzu starke Betonung sozialkritischer Vorstellungen, zumal das Fach Soziologie an den Universitäten fast ausgestorben war.19 Von den meisten der sich jetzt als „liberal“ ausgebenden geisteswissenschaftlichen Professoren wurde die von den Linken aufgeworfene „Schuldfrage“ damals entweder ausgeblendet oder als ein lediglich individuell zu lösendes Gewissensproblem hingestellt. Im Gegensatz zu solchen Anschauungen drang Krauss dagegen immer wieder auf eine gesellschaftspolitische Vergangenheitsbewältigung, die sich nicht mit einer „geistigen“ Umorientierung begnügen würde. Das kommt besonders deutlich in seiner Auseinandersetzung mit Karl Jaspers zum Ausdruck, der seine „philosophische Lehre“, wie Krauss schrieb, weit über der im Nazifaschismus „chaotisch niedergebrochenen Lebensordnung“ zu etablieren versuche und dadurch – im Sinne eines Rückzugs ins Existentialistische – lediglich eine Abwehrhaltung gegen Politik schlechthin unterstütze.20 Am 21. Juli 1946 verlangte er deshalb von Jaspers eine grundlegende „Aussprache über die Marxismusprobleme“,21 auf die jedoch dieser nicht einging. Darauf erlahmte das Interesse, das Krauss bisher für die Wandlung aufgebracht hatte, allmählich. Und auch sonst, obwohl er am 2. Mai 1946 in Marburg endlich zum Ordinarius für Romanische Philologie ernannt wurde, zog er sich zeitweilig aus der Öffentlichkeit zurück, ja ließ sich im Sommersemester 1946 und dann nochmals im Wintersemester 1946/47 aus gesundheitlichen Gründen beurlauben. 66

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Den Beginn des Kalten Kriegs markierte in den drei Westzonen Anfang 1947 die bekannte Stuttgarter Rede des amerikanischen Außenministers James F. Byrnes, wodurch es selbst unter manchen bisher linksorientierten „Geistigen“ zu einem ideologischen Umschwung ins Konservativ-Christliche bzw. Modernistisch-Elitäre kam. Demzufolge sah sich Krauss als Gesellschaftspolitiker immer stärker in eine Außenseiterposition gedrängt. Er richtete daher wie auch andere seiner westdeutschen Gesinnungsgenossen – ob nun Stephan Hermlin, Stefan Heym, Wolfgang Langhoff oder Hans Mayer – seine Augen zusehends ostwärts, wo innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) der Marxismus eine neue Heimstatt gefunden hatte. Schließlich war dort nicht nur der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, dem Krauss sofort beigetreten war, sondern auch Anfang 1946 die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) gegründet worden, in denen Linke wie Krauss – nach der Niederlage des Nazifaschismus – die wichtigsten Hoffnungsträger eines politischen, sozioökonomischen und kulturellen Neubeginns sahen. Und war nicht auch die Mehrheit der aus dem Exil zurückkehrenden antifaschistischen Politiker und Künstler lieber in die SBZ als in eine der drei Westzonen gegangen?22 Daher gab auch Krauss im Jahr 1947 – nach dem Ende des Sommersemesters – seine Marburger Professur auf und nahm eine Ernennung zum ordentlichen Professor der Romanischen Philologie und Direktor des Romanischen Instituts der Universität Leipzig an. IV Sein Umzug nach Leipzig erfolgte am 20.  September 1947. Danach gab Krauss seine publizistische Tätigkeit in den drei Westzonen sowie seine Mitarbeit an der Zeitschrift Die Wandlung auf. Wie in Marburg trat er auch in Leipzig erst einmal für eine Reorganisation der dortigen Universität ein. Dafür spricht, daß er bereits 1948 mit den Historikern Walter Markov und Albert Schreiner sowie den Wirtschaftswissenschaftlern Friedrich Behrens und Gerhard Harig, das heißt bewährten 67

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Altsozialisten, eine Marxistische Arbeitsgruppe gründete, um so auch in Leipzig die immer noch weiter bestehenden „bürgerlichen“ Universitätsstrukturen aufzubrechen. Zugleich setzte er sich energisch dafür ein, weitere Marxisten an die dortige Universität zu berufen. Zuerst versuchte er, Herbert Marcuse, der ihm am 28. August 1947 geschrieben hatte, daß in den USA durch den propagandistisch aufgezogenen Kalten Krieg ein „Rückfall in die Barbarei“ drohe, eine Professur an der Leipziger Universität zu verschaffen.23 Als dieser absagte, bemühte er sich, Ernst Bloch für die offenstehende Professur in Philosophie zu gewinnen. Und dieser sagte auch zu, da „in den Hörsälen der Westzone“, wie er schrieb, „unter den gegebenen Umständen in Ökonomie, Kulturwissenschaften, Philosophie ohnehin nichts Wahres“ gelehrt werden könne.24 Dagegen gelang es Krauss nicht, auch seinem hochverehrten früheren Mentor Erich Auerbach, der noch in Istanbul festsaß, sowie dem im Londoner Exil lebenden marxistischen Kunsthistoriker Max Raphael eine Professur in Leipzig oder an einer anderen Universität der Sowjetischen Besatzungszone zu verschaffen. Um so enger freundete er sich dafür mit dem 1948 von Frankfurt nach Leipzig berufenen Germanisten Hans Mayer an. Alle diese Bemühungen wurden von der Universitätsverwaltung in Leipzig sowie dem Staatssekretariat für das Hochschulwesen in Ostberlin durchaus gutgeheißen, ja Krauss konnte als Repräsentant des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands sogar an Tagungen des Parteivorstands der SED mit beratender Stimme teilnehmen. Auch an ehrenvollen Auszeichnungen von seiten der SBZ-Behörden fehlte es ihm in der Folgezeit nicht. So wurde er am 14. Februar 1949 zum ordentlichen Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und am 19. Juli des gleichen Jahrs zum ordentlichen Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Ostberlin ernannt. Kurz darauf erhielt er am 25.  September – neben Richard Hamann – in Weimar sogar einen der ersten, damals noch gesamtdeutsch gemeinten Nationalpreise. Als er am 7. Juni 1950, nun schon 68

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in der DDR, 50  Jahre alt wurde, gratulierten ihm sowohl Wilhelm Pieck als auch Otto Grotewohl und verliehen ihm im Neuen Deutschland den Titel „Antifaschist und bedeutender Gelehrter“. Als sein Hauptwerk empfand Krauss in diesem Zeitraum seinen umfassenden Aufsatz Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, der 1950 im zweiten Jahrgang der in ihren Anfängen höchst bedeutsamen Zeitschrift Sinn und Form erschien.25 In ihm ließ er in einem weit ausholenden Rückblick all jene literaturwissenschaftlichen Methodenlehren seit dem späten 19. Jahrhundert Revue passieren, die sich von einer materialistisch grundierten Betrachtungsweise von Literatur zu distanzieren versucht hätten. Ob nun im Positivismus, der sogenannten Geistesgeschichte, im Historismus, in der Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys, dem Psychologismus, der von Josef Nadler vertretenen Stammeskunde, den Mythologisierungsversuchen Ernst Bertrams, der Ideengeschichte Rudolf Ungers, dem vulgärmaterialistischen Soziologismus, den ästhetischen Autonomieerklärungen Benedetto Croces, der Form- und Genreforschung: in all diesen Richtungen konstatierte Krauss lediglich das Bemühen, die Literatur aus ihren historischen Zusammenhängen herauszureißen und ihr eine sich über die „reale Welt“ erhebende Bedeutung zu verleihen. Selbst die vielberufene „Humanität“, schrieb er, bleibe in fast allen dieser Schulen ein „Vorrecht der Betrachtung“ bürgerlicher Eliten, statt zugleich anzudeuten, wie sich diese Humanität „in der Praxis“ verwirklichen lasse.26 Als positiven Gegenpol dazu hob er lediglich die nationalliberale Sehweise eines Georg Gottfried Gervinus und das sozialdemokratische Engagement Franz Mehrings hervor. Krauss schloß daher diese Abhandlung, um sich zu einer dialektischen Aneignung des literarischen Erbes zu bekennen, folgerichtig mit einem Marx-Zitat aus dessen Pariser Manuskripten von 1844, in dem dieser das menschliche Individuum als ein „gesellschaftliches Wesen“ bezeichnet hatte, das zugleich individuell und sozial definiert sei. Und daraus zog Krauss die Folgerung, daß der geschichtliche Auftrag eines jeden Literaturwissenschaftlers darin 69

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bestehe, die methodologischen Fehlentwicklungen der unmittelbaren Vergangenheit zu überwinden und innerhalb der anstehenden politischen, sozialen und ökonomischen Gesamtprozesse gegen die Engstirnigkeiten einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft anzukämpfen. In den folgenden Jahren beschäftigte sich Krauss in Forschung und Lehre vor allem mit der Literatur und Philosophie der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, in denen er – wegen ihrer kritischen und dann revolutionären Grundstimmung – eine der wichtigsten Voraussetzungen der späteren politischen und kulturellen Entwicklung sah. In diesem Zusammenhang verfaßte er 1952 die didaktisch gemeinte Einleitung zu einem Lesebuch der französischen Literatur, in der er erklärte, daß damals trotz aller weltbürgerlichen Ambitionen der Widerspruch „zwischen dem Egoismus der individuellen Interessen und dem Interesse der Gemeinschaft an einer gerechten Gesellschaftsordnung“ auf der Grundlage des „unentwickelten Bürgertums“ noch unlösbar gewesen sei und erst die „sozialistische Erkenntnis der natürlichen Angewiesenheit aller Menschen auf solidarische Arbeit“ die „Möglichkeit einer klassenlosen Gesellschaft“ geschaffen habe.27 Dennoch verfiel er dabei keineswegs einer vulgärmaterialistischen Sehweise. Im Gegenteil. Krauss betonte ausdrücklich, daß erst durch die „Schwungkraft“ der Französischen Revolution von 1789 jene Bewegung in Gang gekommen sei, die dann im 19. Jahrhundert durch den wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels eine konkrete Form angenommen habe. Daß deren Anschauungen während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland nicht Fuß gefaßt hätten, erklärte er, hänge vor allem damit zusammen, weil eine „so entscheidende literarische Menschheitsepoche wie die Aufklärung in diesem Land weitgehend geschmäht und verkannt“ worden sei. Demzufolge sei es in Deutschland nicht nur zu Bismarck und dem Nazifaschismus, sondern auch zu einer „formalistischen Verkümmerung der Literaturgeschichte an den deutschen Universitäten und den deutschen Schulen“ gekommen,28 wo man entweder einem chauvinistischen 70

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Nationaldünkel oder einer weltenthobenen Ästhetisierung gehuldigt habe. Doch auch sonst entfaltete Krauss in diesen Jahren eine geradezu hektische Aktivität. Er unterrichtete nicht nur in Leipzig, sondern auch an der Ostberliner Humboldt-Universität, gab ab 1954 mit Hans Mayer die Neuen Beiträge zur Literaturwissenschaft heraus, machte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften von sich reden, schrieb Beiträge für die von Peter Huchel herausgegebene Zeitschrift Sinn und Form, gründete 1955 die Arbeitsgruppe zur Geschichte der deutschen und der französischen Aufklärung, sorgte dafür, daß Hans Mayer, den man nicht in die Sächsische Akademie aufgenommen hatte, in Ostberlin Mitglied der Akademie der Künste wurde, und hielt sogar Kontakte zu als progressiv geltenden Romanisten in der BRD, wie Hugo Friedrich, Hans Robert Jauß, Erich Köhler, Hans Rheinfelder, Fritz Schalk und Karl Vossler, aufrecht, die er entweder zu Vorträgen nach Leipzig einlud oder deren Aufsätze er wiederholt zum Abdruck in Sinn und Form empfahl. Wegen dieser vielfältigen Aktivitäten gab er seine Professur in Leipzig schließlich schrittweise auf und siedelte im Sommer 1961 endgültig nach Berlin-Hessenwinkel über, um sich ganz seinen Forschungsvorhaben an der Ostberliner Akademie widmen zu können, wo er 1962 die Leitung des Instituts für Romanische Sprachen und Kultur übernahm, das durch die Zusammenlegung seiner bisherigen Arbeitsgruppe und des Instituts für Romanische Sprachwissenschaft entstand. Sein Hauptinteresse galt dabei in der Folgezeit einer genaueren Auseinandersetzung mit all jenen ins Utopische ausgreifenden Werken, die seit dem späten 17. Jahrhundert im Zuge der französischen Aufklärung publiziert worden waren. Das Ergebnis dieser Studien faßte er 1964 in dem Band Reise nach Utopia. Französische Utopien aus drei Jahrhunderten zusammen. Darin wies er einerseits – in Anlehnung an die Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft von Friedrich Engels – auf den unkonkreten Idealismus dieser Utopien hin, 71

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stellte jedoch andererseits zugleich den ideologischen Elan dieser Schriften heraus, der selbst viele Hoffnungen der späteren Arbeiterbewegung beflügelt habe. Überhaupt kam es Krauss jetzt immer stärker darauf an, neben dem vordergründig Bekennerhaften innerhalb aller bedeutsamen Traktate, Dramen und Romane aus diesem Zeitraum zugleich auf jene Tiefendimensionen hinzuweisen, in denen sich sogar in scheinbar konservativen oder idealistisch gemeinten Literaturwerken – im Sinne Ernst Blochs oder Walter Benjamins – ein Ungenügen an den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen bemerkbar mache, das man keineswegs übersehen solle. Statt also lediglich einem Kanon angeblich ideologisch einwandfreier Werke zu huldigen und damit den literarischen Horizont unnötig einzuschränken, versuchte Krauss damit auch jenen Werken wieder einen gewichtigen Stellenwert einzuräumen, die man bisher aus dogmatischen Gründen einfach rechts liegen gelassen habe. Während ihn im Frühjahr 1962 eine Reise nach China in derartigen Hoffnungen durchaus bestärkte, kehrte er Anfang Dezember 1963 von einem vierwöchigen Besuch in Kuba eher enttäuscht zurück. Ja, die dort gewonnenen Erfahrungen ließen ihn sogar an seiner Aufwertung älterer Utopieprojekte zweifeln. Diese Enttäuschung kommt am deutlichsten in jenem nicht zur Veröffentlichung gedachten Kurzroman zum Ausdruck, an dem Krauss im folgenden Jahr zu arbeiten begann und dem er den seltsamen Titel Die nabellose Welt gab. Anstatt dabei seine in Kuba gewonnenen Eindrücke zu verarbeiten, ging es ihm in diesem Werk eher darum, sich grundsätzlich mit der Möglichkeit jener von Marx angedeuteten, aber nie ausführlich beschriebenen Utopie einer befreiten, klassenlosen Gesellschaft auseinanderzusetzen, in der alle Menschen – durch die fortschreitende Automatisierung der Industrie – in einer wesentlich erweiterten Freizeit fast ausschließlich ihren persönlichen Interessen nachgehen könnten. Während er in der Einleitung zu seinem 1964 erschienenen Band Reise nach Utopia noch hoffnungsvoll beteuert hatte, daß „unsere Erwartung einer besseren 72

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Zukunft in der machtvollen Bewegung unserer eigenen Gegenwart hinlänglich gesichert“ sei,29 betonte er dagegen in dem Roman Die nabellose Welt, der erst im Jahr 2001 im Druck erschien, überraschenderweise eher die dystopischen Aspekte einer derartigen Sehweise. Im Hinblick auf die von Walter Ulbricht zu diesem Zeitpunkt – aufgrund kybernetischer Überlegungen – verkündete wissenschaftlichtechnische Revolution, die in der DDR zu einer mit allen Konsumgütern ausgestatteten „sozialistischen Menschengemeinschaft“ führen sollte, stellte zwar Krauss in diesem Werk ebenfalls eine klassenlose und obendrein mit sämtlichen nur denkbaren Warenangeboten versehene Gesellschaft, also das Endziel aller sozialistischen Hoffnungen, dar, verhehlte aber dabei keineswegs, welche neuen Problemstellungen und ideologischen Defizite sich daraus ergeben könnten. Im Gefolge von Aldous Huxleys Roman Brave New World von 1932 ist zwar in der von Krauss geschilderten sozialistischen Weltunion Planaterra alles technisch perfektioniert, das heißt die „völlige Freisetzung aller durch die automatisierte Arbeit“ erreicht worden,30 aber die dort lebenden Thamaner wissen nicht, was sie in ihrer Freizeit anstellen sollen. Sie haben sowohl jedes Geschichtsbewußtsein als auch jeden Fortschrittsoptimismus eingebüßt und ziehen sich demzufolge in „modellhafter Isolierung“ in idyllische Familienverhältnisse oder in übersteigerte Geschlechtsbeziehungen, kurzum: in „sklerotische Dauergemeinschaften zur wechselseitigen Abnützung der Partner und ihrer Organe“ zurück.31 Während sie bisher ihre Sinnerfüllung im Dienste der gesellschaftlichen Arbeit fanden, sind sie jetzt nicht mehr fähig, „den Sinn ihres Daseins selbstmächtig zu bestimmen“.32 Am Schluß kommt es daher in dieser Welt zu einer gewaltigen Katastrophe, indem Banden von Jugendlichen all jene Atomreaktoren in die Luft sprengen, welche die bisherige Vollautomatisierung der Fabrikanlagen ermöglicht hatten, und sich entscheiden, wieder selbstgenügsame Handarbeiter zu werden. Um hierbei nicht völlig im Bereich des Dystopischen zu bleiben, heißt es gegen Schluß des Ganzen lediglich, daß darauf allmorgendlich größere 73

Werner Krauss (1900–1976)

Kolonnen mit „fröhlichem Gesang zur Arbeit“ gezogen wären.33 Aber wird damit die Frage nach der Möglichkeit einer sozialistischen Utopie wirklich beantwortet? Oder ist das Ganze lediglich eine Satire auf falsche Formen kommunistischer Praxis und Zukunftserwartungen? So viele Fragen, so wenige Antworten. Auch in den folgenden Jahren findet sich bei Krauss keine sinnvolle Antwort auf derartige Problemstellungen. Nachdem er am 7. Juni 1965 von den DDR-Behörden unter Verleihung des Titels „Hervorragender Wissenschaftler“ emeritiert wurde, zog er sich zusehends ins Private zurück.34 Für seine damalige Stimmung spricht vor allem jener Tagebucheintrag, den er am 23. August 1966 vornahm, wo es heißt: „Der Sozialismus bleibt die einzige Lösung, trotz seiner Diskreditierung durch eine Praxis, die manche Ansprüche erfüllt, aber den Anspruch, der der Mensch ist, geflissentlich überhört und verleugnet.“35 Krauss setzte sich zwar anschließend weiterhin mit Grundproblemen der Literaturwissenschaft sowie Aspekten der französischen und spanischen Literatur auseinander, diskutierte mit Westberliner Romanistik-Studenten in seinem Haus in Berlin-Hessenwinkel über inhärente Widersprüche der sogenannten Achtundsechziger Bewegung, fand den Einfluß der bildungshumanistischen Ansichten in Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie (1970) auf die westdeutschen Studenten geradezu „verheerend“, nahm an mehreren Kongressen teil und gönnte sich zugleich einige „Rentnerreisen“ zu Vorträgen in Tübingen, München und Konstanz. Aber der progressive Elan, den er in der unmittelbaren Nachkriegszeit an den Tag gelegt hatte, ließ allmählich nach. Während er sich 1963 noch empört über Ernst Blochs Angriffe auf die DDR geäußert hatte,36 mit denen der Westberliner RIAS mit an der Mauer aufgestellten Funkwagen auf die Ostberliner Bevölkerung einzuwirken versuchte, kam es 1972 bei einem Aufenthalt in Tübingen sogar zu versöhnlich gestimmten Gesprächen zwischen Bloch und ihm. Doch trotz aller Zweifel an einer möglichen Realisierung einer sozialistischen Utopie, die sich bei ihm in der Honecker-Ära noch verstärk74

Romanist

ten, blieb Krauss weiterhin in der DDR, und zwar nicht nur wegen seines Rentnergehalts und seiner umfangreichen Bibliothek,37 sondern auch aus ideologischer Gesinnungstreue. Das in Westdeutschland immer stärker zu sich selbst kommende marktwirtschaftliche System erschien ihm im Hinblick auf die Zukunft noch weniger wünschenswert als der „realexistierende Sozialismus“ in der DDR. Diese Haltung honorierte die SED, indem sie ihm im Oktober 1975 den Vaterländischen Verdienstorden in Gold verlieh. Ja, ein Jahr später bekam er von der Leipziger Karl-Marx-Universität sogar ein Ehrendoktorat. Und Krauss nahm diese Würdigungen durchaus mit innerer Genugtuung an. Doch viel Zeit verblieb ihm danach nicht. Er starb am 28. August 1976 in Berlin-Hessenwinkel und wurde – wie so viele seiner Gesinnungsgenossen, darunter Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hanns Eisler und Arnold Zweig – auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte beigesetzt. Damit verlor die deutsche Romanistik einen ihrer bedeutendsten Vertreter, der sich nicht nur durch seine vielfältigen und häufig bahnbrechenden Forschungen ausgezeichnet hatte, sondern zugleich ihr politisch und wissenschaftstheoretisch engagiertester Repräsentant war. Wer unter seinen Kollegen hat sich so entschieden gegen den Nazifaschismus aufgelehnt und wer hat sich danach so hoffnungsvoll für einen alle bürgerlichen Vorrechte ablehnenden Gemeinschaftssinn eingesetzt wie er? Sich weiterhin Krauss zum Vorbild zu nehmen, sollte daher nicht nur für Romanisten, sondern für alle anderen in seinem Sinne forschenden und publizierenden Geisteswissenschaftler ein Ansporn sein. Mögen sich auch die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse inzwischen drastisch geändert haben, seine Forderung, jede wissenschaftliche Tätigkeit weiterhin als einen gesellschaftskritischen Auftrag zu empfinden, ist dagegen keineswegs veraltet.

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Jürgen Kuczynski (1904–1997) Gesellschafts- und Wirtschaftshistoriker

I Wie fast alle bedeutsamen Geisteswissenschaftler hat Jürgen Kuczynski zeit seines Lebens – in strengster Arbeitsdisziplin – ein Buch, einen Aufsatz, einen Essay und einen Zeitungsartikel nach dem anderen geschrieben. Als er 1997 als Dreiundneunzigjähriger starb, waren es insgesamt 4.543 Publikationen.1 Das mag eher behutsam forschenden Fachgelehrten, die sich in ihren Interessensrichtungen von vornherein auf ein akademisch eng begrenztes Gebiet beschränken, als reichlich „exzessiv“ erscheinen. Aber Kuczynski war nun einmal kein reiner Fachgelehrter, sondern versuchte sich als Homo universalis älterer Prägung – neben seinen wirtschaftswissenschaftlichen Studien – auch in die theoretischen Auseinandersetzungen anderer Disziplinen einzumischen, da er der Überzeugung war, daß letztlich alle politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Fragestellungen aufs engste miteinander vernetzt sind und nicht separat betrachtet werden sollten. Ein solches Bemühen ist stets bewundernswert, selbst wenn es der Gefahr des Dilettantismus ausgesetzt ist. Und Kuczynski war sich dieser Gefahr durchaus bewußt. Aus diesem Grund schrieb er nicht nur unentwegt, sondern erwarb und las auch so viele wissenschaftliche Studien, Romane und Biographien, wie er vermochte, was dazu führte, daß er gegen Ende seines langen Lebens eine Privatbibliothek von rund 75.000 Büchern besaß.2 Nun, all das sagt noch nichts über den Wert seiner geradezu unüberschaubaren Flut an Publikationen aus. Schließlich gibt es auch Vielschreiber, die sich zwar zeitweilig einen Namen machen, aber schon kurz darauf der Vergessenheit anheimfallen. Doch in die Kategorie

Jürgen Kuczynski (1904–1997)

solcher Autoren gehört Kuczynski keineswegs. Wer immer sich ernsthaft mit der Geschichte der Wirtschaftswissenschaft, den theoretischen Zwistigkeiten innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sowie den politischen Debatten im wiedervereinigten Deutschland nach der sogenannten Wende von 1989 beschäftigt, wird um seinen Namen und sein Werk kaum herumkommen. Schließlich war er nicht nur ein Wissenschaftler, sondern zugleich ein sozialistisch eingestellter Parteipolitiker, der stets sich aufs Neue bemühte, im Brechtschen Sinne in den höchst dramatisch verlaufenden Gang der deutschen Geschichte zwischen 1930 und 1997 „einzugreifen“. Daß ihm dabei auch Fehler unterlaufen sind, hat er gegen Ende seines Lebens freimütig zugegeben.3 Doch wer wäre frei davon? Wohl nur solche Wissenschaftler, die in kleinlicher Ängstlichkeit allen wichtigen Zeitfragen aus dem Wege gehen und lediglich das Wohlbefinden ihrer eigenen Person im Auge behalten. Eine solche Einstellung lag jedoch Kuczynski völlig fern. Er wollte sich stets in einem sozialpolitischen Sinne „nützlich“ machen, ob nun durch seine Publikationen wie auch seine unzähligen Vorträge und Diskussionsbeiträge, bei denen er selbst vor einer Kritik an den jeweils Herrschenden, falls ihm diese geboten erschien, keineswegs zurückschreckte. Was daher an seinen Publikationen und Vorträgen weiterhin „vorbildlich“ ist, sind nicht nur die darin enthaltenen Anschauungen, sondern auch und vor allem die hinter ihnen stehenden „Haltungen“.4 Er gab sich nicht mit den jeweils errungenen Zuständen – ob nun denen der angeblich „Goldenen Jahre“ der Weimarer Republik oder denen des „realexistierenden Sozialismus“ in der Spätphase der DDR – zufrieden, sondern drang immer wieder darauf, den einmal eingeschlagenen Weg zu einer wahrhaft „humanen“ Gesellschaft so energisch wie möglich weiterzuverfolgen, statt den Gegnern des Sozialismus durch nicht wiedergutzumachende Halbheiten das Feld zu überlassen. Er hatte zwar – im Gegensatz zu anderen seiner Gesinnungsgenossen – ein bereits in frühen Jahren errungenes internationales Prestige, das ihm 78

Gesellschafts- und Wirtschaftshistoriker

gestattete, sich eine derart kritische Haltung leisten zu können. Aber nicht jeder „Promi“ hat sich innerhalb der sozialistischen Bewegung derart für die ihm wichtig erscheinenden Überzeugungen eingesetzt wie er. Und das sollte im Rückblick auf ihn, den manche seiner Kritiker als aufdringlich, wenn nicht gar anmaßend empfanden, nicht unterschlagen werden. II Geboren wurde Jürgen Kuczynski am 17. September 1904 in Elberfeld als Sohn des jüdischen Statistikers René Kuczynski und der Malerin Bertha Kuczynski, geb. Gradenwitz, deren politische Haltung er im ersten seiner Memoiren-Bände als „linksbürgerlich radikal“ charakterisierte.5 Neben dem normalen Schulunterricht erhielt er zugleich Privatstunden von einer gewissen E. Schmidtke, die sich – im Gegensatz zum wilhelminischen Obrigkeitsstaat – als eine „rabiate Demokratin“ bezeichnete.6 1913 zogen seine Eltern nach Berlin-Schlachtensee um, wo sie sich von dem Werkbund-Architekten Hermann Muthesius ein weiträumiges Haus bauen ließen. Dort besuchte der junge Kuczynski mit anderen Oberklassenschülern das Gymnasium. Sein ihm stets als Vorbild erscheinender Vater beschäftigte sich damals vor allem mit statistischen Erhebungen über die Lage der Arbeiterklasse, besonders mit ihren Lohn- und Arbeitsverhältnissen.7 Als 1917 die russische Oktoberrevolution erfolgte, kam es zu einer verstärkten Linkspolitisierung der Familie, so daß später von seinen sechs Geschwistern fünf Kommunisten wurden. Sein Studium begann Jürgen Kuczynski 1921 mit siebzehneinhalb Jahren in Erlangen. Er wohnte dort anfangs bei dem entfernt aus der Moses-Mendelssohn-Familie stammenden Philosophieprofessor Paul Hensel, der als Schüler von Wilhelm Windelband der neukantianischen Schule angehörte. Obwohl sich Kuczynski als Stud. rer. pol. eintragen ließ, interessierten ihn vor allem philosophische Vorlesungen. Da die meisten Erlanger Studenten weitgehend politisch rechtsorien79

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tiert waren und sich zugleich antisemitisch verhielten, blieb er ein Einzelgänger. 1922/23 wechselte er für ein Semester an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, die ihn jedoch so enttäuschte, daß er darauf nach Heidelberg ging. Als bildungsbetonten Neunzehnjährigen beeindruckten ihn hier vor allem der Philosoph Heinrich Rickert, der Germanist Friedrich Gundolf und der Kunsthistoriker Carl Neumann. Bereits im fünften Semester, kaum zwanzig Jahre alt und noch ganz „in der Begriffswelt der deutschen idealistischen Philosophie“ befangen, wie er später schrieb,8 verfaßte er eine Dissertation zum Thema Der ökonomische Wert. Eine wirtschaftstheoretische, soziologische und geschichtsphilosophische Betrachtung. Mit dieser Arbeit promovierte er 1924 bei Paul Hensel in Erlangen. Die erste Einführung in materialistisch fundierte Gedankengänge verdankte er kurz darauf dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Max Quark, der zu diesem Zeitpunkt gerade eine Untersuchung über Die erste deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte der Arbeiterverbrüderung1848/49 schrieb. Darauf begann auch der junge Kuczynski an einem linksorientierten Buch zu arbeiteten, das er Zurück zu Marx. Antikritische Studien zur Theorie des Marxismus nannte und in dem er eine Synthese zwischen Philosophie und politischer Ökonomie anstrebte. Um sein Marx-Buch abschließen zu können, blieb er – trotz des dort herrschenden Antisemitismus – noch ein Jahr in Erlangen. Auf Empfehlung von Max Quark erschien dieses Buch dann 1926 beim Kohlhammer Verlag in Stuttgart. Welchen Beruf er danach einschlagen sollte, war Kuczynski zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Weil ihm eine Universitätslaufbahn aus politischen und rassischen Gründen wenig aussichtsreich erschien, begann er erst einmal für die von seinem Vater herausgegebene Finanzpolitische Korrespondenz eine Reihe wirtschaftspolitischer Artikel zu schreiben, die vor allem in der sozialdemokratischen Arbeiterpresse viel Beachtung fanden. Zugleich nahm er auf Rat seines Vaters im Oktober 1925 bei der Berliner Bank Bett, Simon & Co. eine Stelle als Volontär an, welche ihm wichtige 80

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Einblicke in die damals herrschenden Finanzgeschäfte erlaubte. Außerdem zögerte er nicht, im gleichen Jahr die Schriftleitung der Zeitschrift Liga für Menschenrechte zu übernehmen, deren Anhänger er später als „bürgerlich-radikal“ bezeichnete.9 Doch noch wichtiger als diese Aktivitäten erwies sich 1925 die Begegnung mit dem sowjetischen Ökonomieprofessor Eugen Varga, den er in seinem Elternhaus kennenlernte und der für ihn als Sozialist und Wissenschaftler ein maßstabsetzendes Vorbild bleiben sollte. Über ihn schrieb er noch 1983 hochachtungsvoll, ja geradezu verklärend, daß er ihn zeit seines Lebens als den „eigentlichen Meister“ der Wirtschaftswissenschaft empfunden habe, da er in „seiner Analyse der kapitalistischen Wirtschaft“ stets von der „festen Grundlage von Marx, Engels und Lenin“ ausgegangen sei.10 Durch Varga angeregt, begann Kuczynski darauf – neben seiner Arbeit in der Bank und den Beiträgen für die Finanzpolitische Korrespondenz seines Vaters – als Einundzwanzigjähriger an einem Lehrbuch der Finanzen zu arbeiten, das 1927 unter dem Titel Der Staatshaushalt bei der Laubschen Verlagsbuchhandlung, einem der USPD nahestehenden Verlag, erschien und von dem KPD-Mitglied Günter Reimann in der Zeitschrift Die Internationale als durchaus marxistisch gelobt wurde. Doch bevor dieses Buch herauskommen konnte, war Kuczynski im Frühsommer 1926 – auf Vermittlung seines Vaters – bereits als Forschungsstipendiat an die als sozialpolitisch progressiv geltende Brookings School in Washington, DC gegangen, wo er die Elsässerin Marguerite Steinfeld, die ein ähnliches Stipendium erhalten hatte, kennenlernte und zwei Jahre später heiratete. Die Brookings School war eine Art Spezialuniversität für 20 bis 30  Stipendiaten, die ihm die Gelegenheit gab, möglichst genaue Statistiken über die Reallöhne der amerikanischen Arbeiter in den verschiedenen Industrien anzulegen, wobei er den Index der Produktivität stets mit dem Index der Reallöhne verglich, um so die „relative Verelendung“ der Arbeiter herauszustellen. Mit Hilfe von Florence C. Thorne ergaben sich dadurch schnell 81

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Kontakte zur American Federation of Labor (AFL) und zum American Federationist, dem Monatsorgan der damit verbundenen Gewerkschaftszentrale. Trotz der ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der AFL zwischen den gemäßigten Liberalen sowie jenen „wilden Antibolschewisten“,11 die selbst vor einem rabiaten Gangstertum nicht zurückschreckten, konnte er dennoch zum Statistiker der AFL werden. In seinem Buch Organized Labor’s Modern Wage Policy (1927) versuchte er sogar, deren Lohnpolitik in agitatorischer Absicht zu radikalisieren. Zugleich engagierte er sich in der weltweites Aufsehen erregenden Sacco-Vanzetti-Affäre, bei der es um einen Justizmord an zwei unschuldigen Arbeitern ging. Allerdings schreckte er trotz all dieser Aktivitäten davor zurück, Mitglied der Kommunistischen Partei der Vereinigten Staaten (KPdUSA) zu werden, was zwangsläufig zu seinem Ausschluß aus der AFL geführt hätte. Statt dessen schrieb er weiterhin Wirtschaftsstatistiken für den American Federationist, vor allem eine laufende Statistik der Arbeitslosigkeit in den USA, die damals zwischen 10 bis 15 Prozent betrug, und wurde zugleich Ghostwriter für William Green, den Vorsitzenden der AFL. Im gleichen Zeitraum arbeitete Kuczynski mit Marguerite an Büchern und Broschüren über Löhne und Konjunktur in Amerika (1928) sowie Der Fabrikarbeiter in der amerikanischen Wirtschaft (1930), welche selbst in der Sowjetunion wahrgenommen wurden, was dazu führte, daß er bereits 1928 eine erste Einladung in die UdSSR erhielt. Nachdem er sich von der AFL getrennt hatte, verließ er am 4. Juli 1929 die USA und kehrte nach Deutschland zurück, um sich dort – bereits als Fünfundzwanzigjähriger in Deutschland, den USA und der Sowjetunion hinreichend bekannt – endlich „parteipolitisch zu organisieren“ und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) beizutreten.12 Kurz nach seiner Ankunft in Berlin machte ihn die sowjetische Wirtschaftszeitung Industrialisazia zu ihrem Chefkorrespondenten für die Vereinigten Staaten, während er in der Finanzpolitischen Korrespondenz seines Vaters vor allem gegen das Bündnis des 82

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Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds mit den führenden Industriellen zur Hebung der Arbeitsproduktivität zu Felde zog. Unermüdlich wie immer begann er zugleich mit Marguerite ein Buch zur Lage der deutschen Industriearbeiter (1930) zu schreiben und nahm erste Kontakte zur Roten Fahne auf. Nachdem er im Frühjahr 1930 Erich Kunik, den Leiter der Informationsabteilung des Zentralkomitees der KPD, kennenlernte, entschloß er sich am 14. Juli 1930, Mitglied dieser Partei zu werden und für Willi Münzenbergs Zeitschrift Der Rote Aufbau zu arbeiten. Im November 1930 fuhr er erstmals mit Hanns Eisler, Paul Friedländer und Ernst Toller in die Sowjetunion und besuchte mit Alexander Abusch, Albert Norden, Wilhelm Pieck und Hermann Remmele die neuen Fabrikanlagen in Magnitogorsk, die ihn tief beeindruckten. Ab 1931 war er wieder in Berlin, wo er Bertolt Brecht und Sergej Tretjakow begegnete und weiterhin jeden Monat einen Beitrag für die Finanzpolitische Korrespondenz schrieb. Zugleich verfaßte er laufend Artikel für die Hamburger Volkszeitung, das Ruhr-Echo und vor allem für den Roten Aufbau und beteiligte sich – auf Wunsch der Partei – aktiv an den Bestrebungen der Revolutionären Gewerkschaftsopposition. Außerdem nahm er enge Beziehungen zu Alfred Kemény (Durus), dem Kulturredakteur der Roten Fahne, auf. Kurzum, er betätigte sich in den Jahren zwischen 1930 und 1933 fast ausschließlich als Parteijournalist,13 wobei sein Schreibstil immer einfacher und zugleich agitatorischer wurde. Dafür spricht vor allem das Buch Rote Arbeit. Der neue Arbeiter in der Sowjetunion, das er 1931 in Zusammenarbeit mit Arthur Holitscher, Karl Radek, Anna Seghers und Sergej Tretjakow als Kampfschrift gegen die reaktionäre Denunzierung der Arbeitsverhältnisse in der Sowjetunion herausbrachte. III Als es am 30. Januar 1933 – wegen der in den herrschenden Kreisen weitverbreiteten Angst vor einer schleichenden „Bolschewisierung“ der Weimarer Republik – zu einer legal vollzogenen Machtübergabe an die 83

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von Adolf Hitler angeführten Nazifaschisten und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) unter Alfred Hugenberg kam, sah sich Kuczynski vor die Alternative „Exil oder Arbeit im Untergrund“ gestellt. Obwohl die Polizei, die SA und die Gestapo bereits kurz darauf bei ihm Hausdurchsuchungen vornahmen und er vorübergehend verhaftet wurde, entschied er sich, erst einmal in Deutschland zu bleiben. Anfänglich schrieb er weiterhin Artikel für die Finanzpolitische Korrespondenz. Als dieses Blatt im Januar 1934 eingestellt wurde, gründete er wenige Monate später in der Schweiz eine Zeitschrift, die er Konjunkturstatistische Korrespondenz nannte, und versuchte zugleich, wirtschaftspolitische Analysen in sowjetischen Blättern sowie im Manchester Guardian herauszubringen. 1934 wagte er sogar, seinen Freund Eugen Varga in Moskau zu besuchen, wo er auch Unterredungen mit Karl Radek und Walter Ulbricht führte. Erst im Januar 1936 entschied sich Kuczynski, nach England ins Exil auszuweichen. Dort nahm er sofort Kontakte zu deutschen und englischen KP-Genossen auf und ging wieder ans Bücherschreiben. Zu seinen Freunden in London gehörten vor allem der Hanns-Eisler-Schüler Ernst Hermann Meyer, der Historiker Alfred Meusel und der Parteipolitiker Kurt Hager, die wie er auf den Sieg des Kommunismus vertrauten und – nach dem Zusammenbruch des Nazifaschismus – sofort „in ein fortschrittliches Deutschland“ zurückkehren wollten.14 Im Oktober 1936 übernahm Kuczynski die Parteileitung der KPD in England und traf sich vierteljährlich mit anderen Parteiführern, vor allem mit Franz Dahlem, Gerhart Eisler, Paul Merker und Walter Ulbricht in Paris zu Strategiegesprächen im Rahmen der seit 1935 von der Sowjetunion befürworteten Volksfrontpolitik. Nachdem er 1937 bzw. 1938 seine Bücher Labour Conditions in Western Europe. 1820 to 1945, Hitler and the Empire, New Fashions in Wage Theory sowie Hunger and Work. Statistical Studies abgeschlossen hatte, wurde er am 1.  März 1939 Mitbegründer des Freien Deutschen Kulturbunds in England, in dem eine linksorientierte Volksfrontgesinnung herrschte 84

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und der rund 1.000 Mitglieder hatte. Außerdem wurde er für den antifaschistischen Freiheitssender  29,8 tätig, arbeitete von Ende März 1936 bis Ende 1944 in der Redaktion des Labour Monthly, gründete in London den Initiativausschuß für die Einheit der deutschen Emigration und unternahm zugleich zahlreiche Vortragsreisen im Auftrag des Left Book Club, für den er in diesen Jahren bei 350 Versammlungen vor englischen Zuhörern und bei 150 Versammlungen vor deutschen Zuhörern als Redner auftrat. Im Januar 1940 wurde er, wie viele deutsche Exilanten, von der englischen Polizei interniert, aber bereits nach drei Monaten wieder freigelassen. Danach begann er im Frühjahr 1940 an einer Geschichte der Arbeiter unter dem Kapitalismus zu arbeiten und schrieb zugleich sein Buch Germany under Fascism (1944), wohl die ausführlichste theoretische, historische und statistische Untersuchung der Wirtschaftslage in Nazideutschland, die bis dahin erschienen war und später Band  III, Teil  II seiner wesentlich umfangreicheren Geschichte der Lage der Arbeiter im Kapitalismus wurde. All das machte ihn nicht nur in der Sowjetunion immer bekannter, sondern beeindruckte durch seine Faktenkenntnisse auch die Führungskräfte innerhalb der englischen und amerikanischen Militärbehörden. Die Wirtschaftsabteilung der amerikanischen Botschaft in London begann sich aus diesem Grund immer stärker für ihn zu interessieren und forderte Kuczynski im Rahmen ihres United States Strategic Bombing Survey auf, genaue statistische Studien über die Auswirkungen des Bombenkriegs auf die faschistische Wirtschaft durchzuführen. Zudem stellte ihn die Organization of Strategic Services (OSS), eine Ursprungsorganisation der Central Intelligence Agency (CIA), im Rang eines Colonels sogar in ihre Dienste, um ihr exakte Materialien für ihre Pinpoint-Bombing-Strategie zu liefern, mit der sie die deutsche Wirtschaft lahmlegen wollte. Aufgrund dieser besonderen Stellung konnte Kuczynski bereits gegen Ende des Krieges mit den amerikanischen Besatzungsbehörden nach Deutschland zurückkehren, um dort statistische Materialien über die Auswirkungen der Bombardierungen zu 85

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sammeln. Nachdem er im August 1945 seinen Dienst in der amerikanischen Armee quittiert hatte, kam er erstmals nach Berlin zurück, wo er sich sofort mit Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht traf. Allerdings dauerte es noch bis zum November, bis er endlich wieder sein Haus in Berlin-Schlachtensee beziehen konnte. IV Von nun an war es sein Hauptziel, sich am Aufbau einer „fortschrittlichen“ Gesellschaft in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zu beteiligen, zumal er hoffte, daß ihn die dortigen Militärbehörden als Präsidenten der Zentralverwaltung für Finanzen einsetzen würden. Doch dazu kam es nicht. Also übersetzte Kuczynski erst einmal seine auf englisch erschienenen Schriften ins Deutsche und nahm im Januar 1946 eine Berufung als Wirtschaftshistoriker an der Ostberliner Humboldt-Universität an. Dort hielt er ab 18. März seine erste Vorlesung unter dem Titel „Die Bewegungen der deutschen Wirtschaft von 1800 bis 1946“ und schrieb zugleich mehrere Beiträge für die Tägliche Rundschau, das Neue Deutschland sowie die vom Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands herausgegebene Zeitschrift Aufbau. Neben Politbüromitgliedern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), wie Anton Ackermann, Hermann Axen, Franz Dahlem, Paul Merker und Albert Norden, wurde er in seinen Aktivitäten vor allem von Sergej Iwanowitsch Tulpanow, dem führenden Propagandafunktionär in der Sowjetischen Besatzungszone, unterstützt, der sich dafür einsetzte, ihm den Posten des Präsidenten der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion anzutragen, was er als eine besondere Ehre empfand. Die Hauptaufgabe dieser Gesellschaft sah Kuczynski darin, die ostdeutsche Bevölkerung, die weitgehend „wild antisowjetisch“ und nur zum „winzigen Teil antifaschistisch“ eingestellt war,15 von ihren bisherigen ideologischen Vorurteilen zu befreien, wobei er sich wohl bewußt war, wie klein die Gruppe jener älteren Genossen war, die sich derartige Ziele setzte. Dennoch ließ er 86

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sich nicht entmutigen, an seinen im sozialistischen Sinne „fortschrittlichen“ Zielsetzungen festzuhalten. Selbst die Tatsache, daß er 1948 auf Drängen des antisemitisch eingestellten Sowjetfunktionärs Wladimir Semjenowitsch Semjonow seinen Posten als Präsident der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion aufgeben mußte, verunsicherte ihn keineswegs in seinen prosowjetischen, wenn nicht gar stalinistischen Anschauungen. Ja, er fuhr noch im gleichen Jahr mit Eduard Claudius, Wolfgang Harich, Bernhard Kellermann, Wolfgang Langhoff und Anna Seghers in die UdSSR, um sich dort wieder mit Eugen Varga zu treffen, in dem er nach wie vor den „bedeutendsten Wirtschaftswissenschaftler des 20.  Jahrhunderts“ sah.16 Aufgrund dieser Haltung wurde er ein Jahr später in Ostberlin zum Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsgeschichte ernannt und zugleich als Abgeordneter in die dortige Volkskammer aufgenommen. Wissenschaftlich arbeitete er in diesen Jahren vor allem an seiner Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, die später auf 40 Bände anwachsen sollte. Um sich voll und ganz zu der im Spätherbst 1949 gegründeten DDR zu bekennen, zog er 1950 von dem Westberliner Stadtteil Schlachtensee in den Ostberliner Stadtteil Weißensee um und stellte sich eindeutig hinter die Parteibeschlüsse der SED. Sogar die Unruhen am 17. Juni 1953 ließen ihn nicht von der Parteilinie abweichen. Erst die antistalinistischen Ausführungen Nikita Sergejewitsch Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 machten ihm bewußt, wie sehr auch „seine“ SED noch immer dem „Kommandosystem“ der stalinistischen Ära und dem damit verbundenen „Personenkult“ verpflichtet war, was zu einer „beginnenden Entstalinisierung“ seines Denkens führte.17 Wie Bertolt Brecht, mit dem er damals freundschaftlich verkehrte, begrüßte er daher Mao Tse-Tungs Bemühen, unter dem Motto „Laßt tausend Blumen blühen“ einen Dialog mit den breiten Massen anzustreben und somit eine Renaissance des leninistischen „Meinungspluralismus“ herbeizuführen. Ja, er machte in 87

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diesem Jahr sogar eine Reise nach China, um sich einen genaueren Einblick in die dortigen Verhältnisse zu verschaffen. In seinen kurz danach erschienenen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln begrüßte deshalb Kuczynski den durch Chruschtschow herbeigeführten „offiziellen Sieg über den Dogmatismus“, während er die bisherige „Schönfärberei“ der weiterhin im Ostblock herrschenden Mißstände mit äußerster Freimütigkeit attackierte.18 Durch die Schärfe seiner Kritik geriet er dabei notwendig in Konflikt mit jenen Führungskräften innerhalb der SED, die schon nach dem im Herbst 1956 erfolgten Ungarnaufstand, der nur mit Hilfe sowjetischer Truppen niedergeschlagen werden konnte, wieder auf einen strengeren „Zentralismus“ drängten. Während Kuczynski, wie auch Friedrich Behrens, Ernst Bloch, Wolfgang Harich, Walter Janka und Hermann Klenner, solche Bemühungen als stalinistischen „Dogmatismus“ angriff, bezeichneten einige SED-Genossen seine Haltung als „Revisionismus“. Vor allem Kurt Hager, mit dem er schon im englischen Exil aneinandergeraten war, wandte sich in aller Schärfe gegen ihn, ja versuchte sogar, Kuczynski nicht nur aus seinen Positionen als Akademiemitglied und Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte zu entfernen, sondern ihm sogar seine Parteimitgliedschaft abzuerkennen.19 Doch dazu kam es aufgrund seines inzwischen erworbenen internationalen Prestiges nicht. Man warf ihm zwar vor, in seinem 1957 erschienenen Buch Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie den historischen Materialismus durch eine „bürgerliche Soziologie“ ersetzt zu haben,20 begnügte sich aber – auf Drängen seines sowjetischen Freundes Arkadi Samsonowitsch Jerussalimski – mit einer gelinde ausfallenden Parteirüge. Um seine Stellung innerhalb der SED nicht noch mehr zu gefährden, beschränkte sich Kuczynski darum in der Folgezeit zusehends auf seine wissenschaftliche Tätigkeit und gab das Kritisieren, wenn nicht gar Polemisieren erst einmal auf. Das Ergebnis dieser vorübergehenden „Wende“ waren jene 14 und dann 40 Bände seiner Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapita88

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lismus, die zwischen 1960 und 1972 herauskamen. 22  Bände dieses Mammutunternehmens waren der Situation in Deutschland gewidmet. Weitere acht beschäftigten sich mit Großbritannien und je drei mit Frankreich und den USA, auf die sich dann noch Registerbände und Literaturübersichten anschlossen. Wie in den meisten seiner Publikationen arbeitete Kuczynski auch hier viel mit Statistiken und Archivmaterialien, ja baute obendrein zahlreiche längere Zitate aus jenen rund 1.000 Autobiographien ein, die er im Hinblick auf dieses Werk gelesen bzw. durchgeblättert hatte. Im gleichen Zeitraum verstärkte er seine Kontakte zu DDR-Schriftstellern und Schriftstellerinnen wie Willi Bredel, Stephan Hermlin, Anna Seghers und Erwin Strittmatter, deren Werke ihm in ihrer „engen Verbindung mit Politik und Ökonomie“ für die Entwicklung eines sozialistischen Bewußtseins innerhalb der DDR zum Teil bedeutsamer erschienen als manche der parteipolitischen Propagandaschriften.21 Den mit äußerster Härte durchgeführten Beschlüssen des 11. Plenums der SED im Jahr 1965 gegen einige DDR-Autoren stand Kuczynski deshalb höchst kritisch gegenüber, da er sah, wie sehr sich „seine“ Partei immer stärker von der ihm als unabdingbar erscheinenden leninistischen Meinungsfreiheit entfernte und sich somit zusehends von den Künstlern und der wissenschaftlichen Intelligenz isolierte. Daher begrüßte er 1968 den von der SED scharf verurteilten sogenannten Prager Frühling durchaus als eine positive Reformbewegung, die keineswegs an einer Einführung kapitalistischer Verhältnisse interessiert sei, sondern lediglich auf eine „Demokratisierung“ des Sozialismus dränge. Aus diesem Grund ließ es sich Kuczynski nicht nehmen, auf seinen Vortragsreisen nach Ungarn, Polen, der Sowjetunion und der ehemaligen Bundesrepublik immer wieder versteckt oder auch offen auf die „Entfremdung zwischen Parteispitze und Volk“, den zunehmenden „Bürokratismus“ sowie das „Eindringen des Karrierismus“ innerhalb der Staaten des sogenannten Ostblocks hinzuweisen.22 Obwohl er sich mit Walter Ulbricht nicht schlecht gestanden hatte, entwickelte Kuczynski zu Erich Honecker, der sich bereits in den sech89

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ziger Jahren wiederholt für ihn eingesetzt hatte und 1971 das Amt des Generalsekretärs der SED übernahm, ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Es war ihm zwar bewußt, daß Honecker „kein tieferes Verständnis für Kultur und Wissenschaft“ besaß,23 aber dafür etwas mehr Meinungsfreiheit als Ulbricht gelten ließ. Er zögerte deshalb nicht, Honecker in wirtschaftspolitischer Hinsicht zu beraten und sich ihm sogar als Ghostwriter zur Verfügung zu stellen, indem er ihm Manuskripte für wirtschaftspolitische Reden zuschickte. Aufgrund dieses Arrangements konnte sich Kuczynski auch wieder als Journalist betätigen, ja sogar für das Neue Deutschland schreiben. Lediglich sein Verhältnis zu Kurt Hager blieb weiterhin gespannt, was er vor allem zu spüren bekam, als er Wolfgang Heise eine Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften der DDR zu verschaffen suchte, wogegen sich Hager mehrere Jahre erfolgreich sperrte. Ja, Hager setzte sogar durch, daß Kuczynskis 1977 geschriebenes Buch Dialog mit meinem Urenkel, in dem er sich höchst kritisch mit den weiterhin bestehenden Mißständen in der DDR auseinandergesetzt hatte, erst 1983 erscheinen konnte. Trotz aller Kritik an dem von Erich Honecker praktizierten „realexistierenden Sozialismus“ bekannte sich Kuczynski in diesem Buch erst einmal zur „Großartigkeit der sozialistischen Gesellschaft“ und beteuerte seinem Urenkel gegenüber schon im Vorwort, daß „alles, was Dir an Ärgerlichkeiten und Mängeln begegnet, nichts mit unserem sozialistischen Gesellschaftssystem zu tun hat, sondern mit den Schwächen und Fehlern von Menschen, deren übergroße Mehrheit sich ehrlich bemüht, unser Land – trotz aller Bemühungen aus der Welt des Kapitals, uns dabei zu stören – immer schöner aufzubauen“.24 Anschließend schrieb er in betont „einfacher“ Formulierung, um möglichst viele Menschen in der DDR anzusprechen, als Antwort auf die erste Frage seines Urenkels, ob er sich den Sozialismus in seiner Jugend so vorgestellt habe, wie er heute praktiziert werde: „Natürlich, genau so – allgemein! Die Produktionsmittel sind vergesellschaftet, daher ohne dauernde Krisen verschiedenster Art, ohne Arbeitslosigkeit, ohne alle 90

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die Grundübel des Kapitalismus.“25 Doch dann versicherte er ihm, daß es noch eine weitere Antwort auf diese Frage gebe, nämlich daß sich Marx, Engels, Lenin und in ihrem Gefolge auch er den wahren Sozialismus ganz anders vorgestellt hätten. Daß er so ausgefallen wäre, wie er nun einmal sei, führte Kuczynski danach vor allem auf folgende Phänomene zurück: 1. auf den Einfluß, den die „Welt des Monopolkapitalismus noch heute auf die sozialistischen Länder“ ausübe, welcher auch in der DDR einen unsinnig schnellen westlichen Modewechsel verursacht habe, der unnötige „Millionenausgaben“ verursache, 2. auf die „gewaltigen Rüstungsausgaben, die uns das Monopolkapital zu unserer Verteidigung“ aufzwinge, und 3. auf die „ständigen Störaktionen“ von seiten des Westens, die eine „straffe Zentralisierung unseres Staates“ nötig gemacht hätten, was zu einer unsozialistischen „Bürokratisierung“ und damit Verhinderung einer „Demokratie von unten“ geführt habe.26 „Wir haben zwar die zyklischen Überproduktionskrisen, die Arbeitslosigkeit und die sinkenden Reallöhne“ abgeschafft,27 schrieb Kuczynski anschließend, würden aber durch alle diese uns aufgezwungenen Maßnahmen an der Durchsetzung des von Marx und Lenin erhofften Sozialismus gehindert. Und das stimme die meisten Menschen in „unserem Land unzufrieden“. Trotzdem, beteuerte er, dürfe man sich keinem Defätismus hingeben, sondern müsse sich weiterhin für die Utopie des Sozialismus einsetzen. Das gehe jedoch nur, wenn man Kritik übe, Widersprüche aufzeige und auf die nicht zu übersehenden „objektiven Schwierigkeiten“ hinweise, statt die herrschenden Zustände als „erreichten Sozialismus“ zu bezeichnen und somit einer harmonisierenden „Zuckerbäckerei“ zu huldigen.28 Das verärgere die in der DDR lebende Bevölkerung lediglich, erklärte er nachdrücklich. Statt dessen solle man den Sozialismus als etwas viel Besseres, Größeres, Schöneres hinstellen und somit die unzufriedene Jugend aus ihrer weltanschaulichen Apathie herausreißen und sie zu einem neuen Engagement anstacheln. Schließlich sei der Sozialismus keine Freizeitideologie, sondern 91

Jürgen Kuczynski (1904–1997)

die vielversprechende Hoffnung darauf, daß einmal jedem Menschen die Arbeit für das Wohl aller zum wichtigsten Lebensbedürfnis werde. Dazu gehöre allerdings, daß man der westlichen Konsum- und Wegwerfgesellschaft das Ideal einer neuen Bescheidenheit entgegensetze, indem man ein „geregeltes Leben“ führe, das heißt abends nicht viel ausgehe, morgens früh aufstehe und sich im Brechtschen Sinne für die Gesamtgesellschaft „nützlich“ mache. Im Sinne der von Marx ausgegebenen Parole „Sozialismus oder Barbarei“, heißt es weiterhin, müsse jeder an den „Sieg des Sozialismus“ auch in Zukunft unerschütterlich „glauben“.29 Die SED solle daher nicht nur theoretische Beschlüsse fassen, sondern zugleich von den Bedürfnissen der Mehrheit der Menschen ausgehen, um nicht den Bezug zur gesellschaftlichen Realität zu verlieren. Nur dann könnten aus den „vorfristigen“ Sozialisten von heute eines Tages die wahren Kommunisten von morgen werden.30 Daß ein solches Buch in der DDR ein gewaltiges Aufsehen erregen würde, war vorherzusehen, so daß sich von ihm – nach einigen Verzögerungen – insgesamt 260.000 Exemplare absetzen ließen. Seine tagespolitische Wirkung war allerdings recht zwiespältig. Viele fühlten sich durch diesen Dialog in ihrer nörgelnden Kritik am herrschenden System lediglich bestätigt, während andere, wie Wolfgang Heise und Werner Mittenzwei, die weiterhin auf die Durchsetzung eines besseren Sozialismus drängten, Kuczynskis Anschauungen durchaus begrüßten. Nach wie vor „stalinistisch“ eingestellte SED-Funktionäre wie Kurt Hager, die dafür sorgten, daß dieses Buch nicht im Neuen Deutschland besprochen wurde, lehnten es selbstverständlich ab. Ja, ein einflußreiches Politbüromitglied wie Konrad Naumann nannte es in einer Studentenversammlung der Humboldt-Universität das „republikfeindlichste Buch, das je bei uns erschienen ist“.31 Aber trotz solcher Angriffe genoß Kuczynski auch nach dem Erscheinen dieses Buchs weiterhin das Wohlwollen Erich Honeckers, der in einem Gespräch mit Manfred Wekwerth sogar erklärte, daß das, was man mit Kuczynski „gemacht habe, eine Schweinerei gewesen 92

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sei“.32 Deshalb ließ sich Kuczynski durch derartige Ausfälle, wie sie unter anderem auch in der Zeitschrift für Philosophie erschienen, in denen ihm eine „antagonistische Haltung dem Sozialismus gegenüber“ vorgeworfen wurde,33 nicht beirren und beklagte weiterhin das in der DDR herrschende „kleinbürgerliche Streben nach Harmonie und das entsprechende Bedürfnis nach Behaglichkeit und Ausruhen“, das ohne jeden konkreten Realitätsbezug zu „unkritischer Berichterstattung in der Presse“, zu „Karrierismus“, zur „Verschulung der Universitäten“ sowie einer unnötigen „Anbetung der Kontinuität“ geführt habe, denen man mit einer „nur im harten Kampf durchzusetzenden Diskontinuität“ entgegentreten müsse.34 Eine derartige Haltung, schrieb er, finde sich leider eher unter jenen Schriftstellern der DDR, die sich um eine „realistische Darstellung unserer Gegenwart und ihrer Probleme“ bemühten, als unter den meisten Politikern und Wissenschaftlern der DDR.35 Doch alle diese Auseinandersetzungen hielten Kuczynski keineswegs davon ab, weiterhin unermüdlich an einer sechsbändigen Geschichte des Alltags des Deutschen Volkes. 1660–1945 zu arbeiten und zugleich 10  Bände unter dem Titel Studien einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften herauszugeben. Ab 1985 setzte er seine Hoffnungen auf eine basisdemokratisch ausgerichtete Weiterentwicklung des Sozialismus vor allem auf Michail Gorbatschow, der mit seinen Parolen „Glasnost“ und „Perestroika“ wieder an den „Leninschen Geist“ innerhalb der kommunistischen Parteien anzuknüpfen versuche,36 um so die inzwischen entstandene Kluft zwischen dem Politbüro und dem Volk zu überwinden. Doch zu Kuczynskis Enttäuschung wurden diese Maximen von der SED-Führungsspitze kaum aufgegriffen. Sie habe sich weiterhin, wie er später erklärte, mit der Losung „Vorwärts ohne Kritik“ begnügt.37 Um dieser verhängnisvollen Selbstzufriedenheit entgegenzuwirken, schrieb er daher immer mehr aufmüpfige Zeitungsartikel: 1987 waren es 17, 1988 28 und 1989 44. Doch dann kam es, wie er befürchtet hatte: die SED brachte weiterhin vornehmlich „Erfolgsmeldungen“, während 93

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die „Unzufriedenheit in der Bevölkerung“ ständig zunahm.38 Als ihn daher Erich Honecker zu der am 8.  Oktober 1989 stattfindenden 40Jahr-Feier der DDR einlud, notierte er sich in sein Tagebuch: „Gestern nicht zum Empfang. Man soll nicht auf dem Vulkan tanzen.“ Ja, kurz darauf heißt es in dem gleichen Tagebuch: „Zahlreiche kleine Demonstrationen im Lande für mehr Demokratie mit Rufen ‚Gorbi‘ und ‚Wir wollen im Lande bleiben.‘ Der Vulkan beginnt Feuer zu speien.“39 V Wie sich Kuczynski zu der anschließend erfolgten „Wende“ verhielt, erfahren wir am besten aus seinem Memoirenband über die Jahre nach dem Mauerfall, der 1994 unter dem Titel Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus? beim Aufbau Verlag erschien. Trotz aller Enttäuschungen vertraute er in ihm weiterhin auf die Durchsetzung der von Marx, Engels und Lenin anvisierten sozialistischen Utopie, nämlich einem „kulturreichen Leben in einer wahren Demokratie mit einem Ende der Ausbeutung“.40 Das werde „zwar noch lange dauern“, schrieb er jetzt, „aber wir dürfen schon heute Vorfreude auf jene Zeit empfinden“, falls wir als echte Kommunisten unseren „Glauben an all jene Utopien der Menschheit behalten, die einmal in der Durchsetzung des Sozialismus ihre Erfüllung finden werden“.41 Obwohl Kuczynski 1989 inzwischen 85 Jahre alt geworden war, trat er darum nach wie vor für die Zielutopie des Sozialismus ein, das heißt ging jeden Tag um 17:00 Uhr schlafen, um am nächsten Morgen arbeiten zu können, gab unzählige Vorträge und Interviews, schrieb Jahr für Jahr ein neues Buch und verfaßte zugleich Hunderte von Zeitungsartikeln, in denen er sich für eine neue „Wendezeit“ einsetzte.42 Was ihn mit besonderem Zorn erfüllte, war die steigende Arbeitslosigkeit in den sogenannten neuen Bundesländern, wie die ehemalige DDR nach der am 3. Oktober 1990 vollzogenen Wiedervereinigung hieß, die sowohl durch den Kahlschlag in der Industrie und Landwirtschaft als auch durch die Abwicklungsverfah94

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ren auf kulturellem und wissenschaftlichem Sektor eingetreten sei. „Wir werden beschimpft, isoliert, ad acta gelegt“, schrieb er empört.43 Überall komme es zu Mietsteigerungen, zum Verlust von Renten und Ersparnissen, zur Schließung der Kulturhäuser und Akademien, wodurch sich unter den „armen Ossis“, wie man sie jetzt nenne, eine allgemeine Ratlosigkeit verbreite.44 Doch Kuczynski machte für diese Entwicklung nicht nur die erfolgslüsternen „Wessis“, sondern in seinem Buch Kurze Bilanz eines langen Lebens. Große Fehler und kleine Nützlichkeiten, das 1991 im Verlag der Westberliner Elefanten Press erschien, auch die nicht zu leugnenden Fehler der SED sowie seine eigenen politischen Fehleinschätzungen verantwortlich. Um das wiedergutzumachen und zugleich seiner Partei, die sich aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in die Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) gewandelt hatte, Hinweise für eine neue ideologische Ausrichtung zu geben, schrieb er in den folgenden Jahren fast jeden Tag für das Neue Deutschland, die Junge Welt, die Weltbühne, Konkret, Unsere Zeit, horizont, die Berliner Linke und ähnliche Blätter dieser Couleur eine Fülle von wirtschaftspolitischen Glossen, politischen Kommentaren, Arbeitslosenstatistiken sowie Angriffen auf sogenannte Wendehälse, um so jener aus dem Westen in die neuen Bundesländer eindringenden „Ellbogengesellschaft“ entgegenzutreten, die zu einer wachsenden Zahl von Arbeitslosen, Drogenabhängigen, Kleinkriminellen, Obdachlosen und Sozialfürsorgeabhängigen geführt habe. Um sich weiterhin nützlich zu machen, hielt er daher – neben seiner unablässigen Schreiberei – nach wie vor 50 bis 80 Vorträge im Jahr, in denen er nicht nur die steigende Arbeitslosigkeit in Gesamteuropa, die sich 1994 auf 10,4  Prozent erhöht hatte, sondern auch das Versagen Gorbatschows beklagte, das zum Zusammenbruch des Kommunismus in der UdSSR geführt habe. Doch, dennoch, trotz alledem hielt Kuczynski weiterhin ungebrochen an seiner Hoffnung auf einen späteren Sieg des Sozialismus fest. Dafür spricht unter anderem jenes Fernsehinterview, das 1994 anläß95

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lich seines 90. Geburtstags ausgestrahlt wurde. Sein Gesicht – mit den Tränensäcken unter den Augen – wirkte zwar greisenhaft, aber sein Geist war so lebendig wie eh und je. Nach kurzen Abstechern ins Lebensgeschichtliche ging er dabei mit seinem Gesprächspartner Gregor Gysi ständig auf Fragen der aktuellen Politik ein. Ungebrochen von all dem, was nach der sogenannten Wende geschehen war, hielt er nach wie vor an seinem Glauben an die Durchsetzungskraft des Sozialismus fest. „Der Kapitalismus hat auch 400  Jahre gebraucht, um an die Macht zu kommen“, erklärte er parteipolitisch und ökologisch unbekümmert, „geben wir daher den Vertretern des Sozialismus noch einmal 250 Jahre und sie werden die Welt sicher nach ihren Vorstellungen neu zu ordnen wissen.“ Seine letzten Worte waren daher: „Vorwärts zu Lenin!“, um damit allem kleinmütigen Good-bye-Lenin-Gerede in der ehemaligen DDR entgegenzutreten. Und ähnlich Gesinnte, die ihm zu seinem 90. Geburtstag 250 Gratulationsbriefe schickten, wußten das durchaus zu schätzen. Ja, Thomas Heubner gab im gleichen Jahr unter dem Titel ZeitGenosse Jürgen Kuczynski sogar einen ihn ehrenden Sammelband heraus, in dem unter anderem Hilde Eisler, Georg Fülberth, Wolfgang Fritz Haug, Hermann Kant, Hermann Klenner, Werner Mittenzwei und Ruth Werner seine Zivilcourage, sein Konfliktbewußtsein, sein Eingestehen von Fehlern, seinen pessimistischen Optimismus, seine Interdisziplinarität, seine Kritiklust und seinen Blick nach unten herausstrichen.45 Die gleiche Haltung liegt seinem letzten Memoirenband zugrunde, der die Jahre 1994 bis 1997 umfaßt und nach seinem am 6.  August 1997 erfolgten Tod ein Jahr später unter dem Titel Ein treuer Rebell beim Aufbau Verlag herauskam. In ihm distanzierte sich Kuczynski zwar noch schärfer als zuvor vom „realexistierenden Sozialismus“ in den früheren Ostblockstaaten, wo der weiterwirkende Stalinismus eine Wendung ins Basisdemokratische verhindert habe, bezeichnete aber das neoliberale System der sogenannten Freien Marktwirtschaft mit seinen Abermillionen Arbeitslosen und Hungernden, die nicht nur in der 96

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Dritten Welt, sondern auch in hochindustrialisierten Ländern wie Japan, Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Kanada und den USA, den immer selbstbewußter auftretenden Großen Sieben, ein erbärmliches Leben fristen müßten, nach wie vor als unakzeptabel. Aufgrund dieser Einschätzung der globalen Situation, schrieb er daher 1994: „Voller Pessimismus für die nächsten Jahre, voller Optimismus für die spätere Zukunft.“46 Mögliche Schritte in eine bessere Gesellschaftsverfassung sah er zu diesem Zeitpunkt vornehmlich in einer „stufenweisen Einführung der 30Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Gehaltsausgleich“,47 um so die steigende Arbeitslosigkeit zu verringern und den vielen beschäftigungslosen Menschen wieder ein sie bestärkendes Selbstwertgefühl zurückzugeben. Da es jedoch nirgends zu Reformbestrebungen dieser Art kam, ja die Zustände unter dem sich globalisierenden Finanzkapitalismus mit all seinen plutokratischen Auswüchsen immer stärker ins Undemokratische tendierten, wie er es nannte, zwang er sich sogar als Neunzigjähriger nach wie vor zu journalistischen Hochleistungen. Selbst als ihn im August 1997 der Tod einholte, bedauerte er lediglich, sich nicht weiter „nützlich“ machen zu können, um so zu jenem Umschwung beizutragen, der die Menschheit vor dem Weg in die von Marx vorhergesehene „Barbarei“ bewahren könne. Und damit verlor die aus der PDS hervorgegangene Partei Die Linke einen ihrer wichtigsten marxistischen Querdenker, der sich in den letzten 30 Jahren seines Lebens geradezu unermüdlich für eine ins Basisdemokratische tendierende Wendung jener sozialistischen Parteien eingesetzt hatte, die sich nicht von ihren stalinistischen Vorstellungen lösen konnten. Und zwar tat er das, ohne dabei ein Renegat zu werden, sondern stets im Hinblick auf die von ihm als unabdingbar hingestellten Grundvoraussetzung einer Gesellschaftsordnung, bei der es zwischen der Partei und der Masse des Volkes keine Kluft mehr geben würde. Nur dann, hoffte er als ein zutiefst fortschrittsgläubiger Universalwissenschaftler, würden sich endlich wahrhaft menschenwürdige Zustände einstellen. 97

Wolfgang Abendroth (1906–1985) Politik- und Rechtswissenschaftler

I Als Jürgen Habermas, der sich 1961 mit seiner Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit bei Wolfgang Abendroth habilitiert hatte, am 29.  April 1966 aus Anlaß des 60.  Geburtstags seines hochverehrten Lehrers in dem Wochenblatt Die Zeit eine Würdigung Abendroths veröffentlichte, gab er ihr den Titel Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer.1 Nun, eine solche Ehrenbezeichnung trifft auf fast alle der in diesem Buch vorgestellten Professoren zu. Aber im Unterschied zu ihnen hat sich Abendroth – fast von Kindesbeinen an – noch entschiedener als sie an die Maxime „Theoria cum praxi“ gehalten. Er war nicht nur ein theoretisierender Intellektueller, der neben seiner universitären Lehrtätigkeit das Bücherschreiben und gelegentliche öffentliche Vorträge für das Wichtigste hielt, er wollte zugleich auf die gesellschaftliche Basis, auf die Arbeitermassen einwirken, indem er sich auch parteipolitisch und vor allem gewerkschaftlich engagierte. Zugegeben, selbst Abendroth war ein bürgerlicher Akademiker, ein höchst eminenter sogar. Aber er sah darin nicht seine eigentliche Erfüllung. Er wollte mehr sein als ein gesellschaftskritisch eingestellter Professor, der mit seinen Schriften und Reden lediglich auf andere, ihm gleichgesinnte Akademiker einzuwirken versuchte. Abendroth ging es stets ums Ganze. Wenn er Sozialkritik betrieb, hoffte er – weit über seine Kollegen und Studenten hinaus – auch die gesellschaftlichen Unterschichten anzusprechen, sofern ihm das in den höchst dramatisch verlaufenden Zeitabschnitten seines Lebens möglich war. Um sich für derartige Bemühungen den nötigen Wirkungsraum zu verschaffen, nahm er in den frühen zwanziger Jahren zuerst Kontakte

Wolfgang Abendroth (1906–1985)

zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und dann vor 1933 zur Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) auf, wofür er im Dritten Reich ins Gefängnis wanderte und während des Zweiten Weltkriegs in einem Strafbataillon dienen mußte. Nach 1945 schloß er sich in der Hoffnung, erneut linkspolitisch aktiv zu werden, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an, die ihn jedoch nach ihrem ideologischen Rechtsschwenk in den späten fünfziger Jahren als unbotmäßigen Marxisten aus ihren Reihen verstieß. Erst der von ihm unterstützte Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und dann die Außerparlamentarische Opposition (APO) der späten sechziger Jahre eröffneten Abendroth neue Möglichkeiten, auch außerhalb seiner universitären Tätigkeit erneut in die gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit einzugreifen. Statt im Rahmen dieser Aktivitäten einen blinden Aktionismus zu propagieren, den schon Lenin als eine „Kinderkrankheit des Kommunismus“ verurteilt hatte, behielt er dabei stets die breiten Massen der Arbeiter und Niedriglohnempfänger im Auge, die es für einen politischen und zugleich sozialen Wandel zu mobilisieren gelte, während er das elitäre Gehabe von sich zwar „links“ gebenden, aber letztlich anarchisch gesinnten Salonbolschewisten unter den Akademikern entschieden ablehnte. In all diesen Fragen blieb Abendroth zeit seines Lebens ein basisdemokratisch orientierter Sozialist, dem die Deutsche Demokratische Republik (DDR) nicht „demokratisch“ genug und die Bundesrepublik Deutschland (BRD) nicht „sozialistisch“ genug erschien. Er ließ daher nie von der Forderung ab, diese beiden Konzepte zur Deckung zu bringen, um so einer wahrhaft menschenwürdigen Gesellschaft den Weg zu bereiten, die allen Bürgern und Bürgerinnen eines bestimmten Landes nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen politischen Eingriffsmöglichkeiten garantieren würde. Nur dann, erklärte er immer wieder, könnten aus einer stalinistisch überformten Kommandogesellschaft wie der DDR sowie einer lediglich formal existierenden 100

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Demokratie wie der BRD endlich Staaten werden, die sich im besten Sinne des Wortes als „Volksrepubliken“ bezeichnen ließen. II Geboren wurde Wolfgang Abendroth am 2. Mai 1906 als Sohn eines Mittelschullehrers und einer Realschullehrerin im rheinländischen Elberfeld. Beide Eltern waren Sozialdemokraten, und sein Großvater mütterlicherseits, der noch die Zeit der Sozialistengesetze Bismarcks zwischen 1878 und 1890 erlebt hatte und als politisch aktiver Sozialdemokrat vorübergehend verhaftet worden war, ermahnte ihn schon als Kind, im Kampf gegen die Bourgeoisie nicht nur eine „politische, sondern zugleich eine moralische Position“ zu beziehen, das heißt „nicht von der Bewegung, sondern für die Bewegung zu leben“.2 Nachdem seine Eltern, die inzwischen mit ihm nach Frankfurt umgezogen waren, Anfang August 1914 erst einmal, wie selbst viele Sozialdemokraten, in die allgemeine Kriegsbegeisterung eingestimmt hatten, schlossen sich sein Großvater und seine Mutter im Jahr 1917 – als Karl-Liebknecht-Anhänger – der USPD an. In Frankfurt besuchte der junge Abendroth das dortige Helmholtz-Gymnasium und dann das Realgymnasium Musterschule. Als Zwölfjähriger erlebte er die Novemberrevolution und kurz darauf den Spartakus-Aufstand. Beide Schulen waren während des Ersten Weltkriegs deutschnational und nach 1918 antirepublikanisch eingestellt. Unter dem Einfluß der Eltern, die sowohl die Freiheit, die Zeitung der USPD, als auch die Rote Fahne, die Zeitung der KPD, bezogen, trat der junge Abendroth schon 1920 in den Kommunistischen Jugendverband (KJV) ein, worauf er von den anderen Schülern angepöbelt und sogar verprügelt wurde. Bei einer Schulbesetzung wurde er als Vierzehnjähriger von der Polizei sogar für kurze Zeit eingesperrt. Aber auch danach blieb er weiterhin im KJV aktiv, las die Schriften von Franz Mehring und versuchte auch andere Jungen seines Alters mit marxistischen Ideen vertraut zu machen. 101

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Als im Herbst 1923, nach den kommunistischen Aufstandsversuchen in Hamburg, im Ruhrgebiet sowie in Sachsen und Thüringen, sowohl die KPD als auch der KJV zeitweilig verboten wurden, bezog er als Siebzehnjähriger bei den ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der KPD eher die Haltung der auf eine Einheitsfront mit der SPD drängenden Gruppe um Heinrich Brandler und August Thalheimer, statt weiterhin die Gruppe um Ruth Fischer, Karl Korsch und Arkadij Maslow zu unterstützen, die nach wie vor eine revolutionäre Offensivstrategie befürwortete und auf eine sofortige Diktatur des Proletariats hindrängte, ohne sich erst einmal den dazu nötigen Massenrückhalt bei der Arbeiterklasse zu verschaffen – eine Strategie, die Abendroth auch in späteren Jahren stets abgelehnt hat. Nachdem er 1924 als Achtzehnjähriger das Abitur abgelegt hatte, begann er in Frankfurt, Tübingen und Münster Jura und Volkswirtschaftslehre zu studieren, wobei sein Hauptinteresse dem Arbeits- und Strafrecht sowie dem Öffentlichen Recht galt. An allen drei Universitäten nahm er umgehend Kontakte zu den dort bestehenden kommunistisch orientierten Freien Vereinigungen Sozialistischer Studenten auf, in denen die Mehrheit der deutschnational eingestellten Studenten lediglich „Vaterlandsverräter“ sah. In Frankfurt schloß er sich vor allem Karl Korsch und dem Austro-Marxisten Carl Grünberg an, die ihm eine vertieftere Kenntnis des historischen Materialismus und eine marxistische Analyse des Monopolkapitalismus vermittelten. Als die KPD 1925 ihren ultralinken Kurs aufgab, der lediglich von Niederlage zu Niederlage geführt hatte, wurde er wieder aktiv in dieser Partei und betätigte sich zugleich in der Roten Hilfe. Auch im Rahmen der Kampagne für die Entlassung des zu Unrecht verurteilten kommunistischen Freischärlers Max Hölz, an der sich auch andere linksgerichtete Gruppen beteiligten, engagierte er sich, so gut er es vermochte. Als sich dagegen die KPD im Jahr 1928 – entgegen ihrer kurzlebigen Einheitsfrontstrategie – erneut für einen ultralinken Kurs entschied, rückte Abendroth zusehends von ihr ab. Was ihn besonders empörte, war, daß die KPD am 1. Mai 1928 102

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das Berliner Proletariat aufforderte, an unbewilligten Demonstrationen teilzunehmen, worauf fast 300 Arbeiter von der Polizei „umgelegt“ wurden. Ebenso unsinnig fand er die blauäugige Hoffnung innerhalb der KPD-Parteispitze, daß bei einer ökonomischen Krise die KPD durch einen revolutionären Putsch ohne weiteres die Macht erringen könne. Schließlich waren zu diesem Zeitpunkt die meisten gewerkschaftlich organisierten Arbeiter noch Anhänger der alle gewaltsamen Verstöße gegen die gesellschaftliche Ordnung ablehnenden SPD. Daher würde jeder Aufstandsversuch, so befürchtete Abendroth, lediglich zu einer weiteren Niederlage der von der KPD angeführten Gruppen führen. Aufgrund dieser Einsichten schloß er sich 1929 der Kommunistischen Partei-Opposition unter Brandler und Thalheimer an, das heißt unterstützte deren Einheitsfrontbemühungen und wurde zugleich in der von Willi Münzenberg gegründeten Internationalen Arbeiterhilfe aktiv. Nachdem er Anfang 1930 seine erste juristische Staatsprüfung mit „voll befriedigend“ bestanden hatte, begann Abendroth seine dreijährige Referendarausbildung am Amtsgericht im schwäbischen Hechingen. Dort versuchte er – gegen die Brüningschen Notverordnungen und den wachsenden Einfluß der NSDAP ankämpfend – im Sinne der KPO bei Wahlversammlungen für eine „Aktionseinheit der Arbeiter“ einzutreten,3 ohne daß es ihm gelang, dadurch die politische Haltung der dortigen Bevölkerung beeinflussen zu können. Nach Ablauf seiner Referendarzeit wurde er 1932 als Gerichtsreferendar am Oberlandesgericht in Frankfurt angestellt und erlebte dort erbittert, wie am 30. Januar 1933 die NSDAP unter Adolf Hitler mit finanzieller Hilfe der Industriemagnaten und Großagrarier sowie der von ihnen propagandistisch eingelullten Bourgeoisie an die Macht kam. III Ende März 1933 wurde Abendroth – kurz vor seinem Assessorexamen – von den neuen Herren im Staate vom Dienst suspendiert und am 1. April von der SA verhaftet. Wieder auf freien Fuß gesetzt, nahm 103

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er, enttäuscht vom ultralinken Kurs der KPD, der abermals zu einer schmählichen Niederlage geführt hatte, Kontakte zu den illegal operierenden Gruppen der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) unter Paul Frölich auf und arbeitete bis Oktober 1933 für einen geheimen linken Pressedienst, der sich mit Unterstützung der Gruppe Neu Beginnen weiterhin für eine Einheitsfront aller Arbeiter einsetzte. Da er seine unter Hugo Sinzheimer angefangene Dissertation unter den gewandelten Umständen nicht abschließen konnte, ging Abendroth 1934 in die Schweiz, um dort zum Dr. jur. zu promovieren. Zuerst versuchte er es in Basel, wurde jedoch als Linker abgelehnt, worauf er sich nach Bern begab, da es dort keine Immatrikulationssperre gab. Hier promovierte er im Februar 1935 bei Walther Burghardt mit einer Arbeit über Die völkerrechtliche Stellung der B- und C-Mandate, die 1936 sogar in Breslau als Buch erscheinen konnte, aber kurz darauf von der Gestapo beschlagnahmt wurde. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland arbeitete Abendroth vorübergehend als Jurist an einer kleinen Berliner Bank. Politisch sympathisierte er weiterhin mit den untergetauchten Vertretern der KPO, die sich ab 1935 – wie auch die Exilgruppe der KPD unter Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht – für eine möglichst umfassende Volksfrontstrategie gegen den Nazifaschismus einsetzte. Im Zuge dieser Bemühungen betätigte er sich mehrfach als geheimer Kurier zwischen den verschiedenen KPO-Zellen in Berlin, Köln und Frankfurt. Als Anfang 1937 ein Gestapo-Agent die KPO-Aktivitäten durch einen Zufall aufdeckte, wurde Abendroth am 22. Februar 1937 verhaftet und kam ins Gefängnis des Reichssicherheitsamtes in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße. Nach übelsten Mißhandlungen überführte man ihn darauf zu hochnotpeinlichen Verhören in das Polizeigefängnis am Alexanderplatz. Anschließend wurde er vom Oberlandesgericht Kassel wegen „Hochverrats“ zu vier Jahren Haftstrafe verurteilt, die er ab November 1937 im Zuchthaus Luckau in der Niederlausitz absaß. Die dort Inhaftierten waren, wie in vielen NS-Zuchthäusern dieser Jahre, zu einem Drittel 104

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Kriminelle und zu zwei Dritteln Politische. Von den 1.000 politischen Gefangenen hatten die meisten vor 1933 der KPD angehört. Unter ihnen kam es daher wiederholt zu lebhaften Diskussionen über die damaligen Ereignisse in der Sowjetunion, wobei Abendroth eher zu jenen gehörte, welche die dortigen Schauprozesse sowie den hierauf folgenden Nichtangriffspakt zwischen Moskau und Berlin einer scharfen Kritik unterzogen, ohne sich allerdings dabei von ihrer sozialistischen Gesinnung zu distanzieren. Am 30. Mai 1941 – kurz vor dem Überfall der Nazifaschisten auf die UdSSR – wurde Abendroth aus dem Luckauer Gefängnis entlassen. Anschließend wurde ihm von der Gestapo eine Stellung als juristische Hilfskraft bei einem Berliner Steuerberater vermittelt. Darauf kam er vorübergehend bei einer Gesellschaft für Außenhandelsbeziehungen unter, mußte sich jedoch jede Woche bei der Gestapo in Potsdam melden. Am 3. Februar 1943 wurde er schließlich, wie viele der politischen Regimegegner mit Zuchthausstrafen, denen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt worden waren und die deshalb als „wehrunwürdig“ galten, zum Strafbataillon 999 eingezogen. Auch hier gab es wiederum ein Drittel Kriminelle und zwei Drittel Politische, wobei die ersteren von den kommandierenden Offizieren wesentlich besser behandelt wurden als die „Linken“ und sogar zeitweilig Urlaub erhielten. Nach einer äußerst harten Ausbildungszeit in Heuberg auf der Schwäbischen Alb wurde das Bataillon, dem Abendroth angehörte, erst in Jugoslawien und dann in Griechenland zur Guerillabekämpfung eingesetzt. Die letzte Phase der Kriegszeit verbrachte er auf der Insel Lemnos, wo er nicht nur Beziehungen zur dortigen kommunistischen Untergrundbewegung aufnahm, sondern sogar die von den Nazifaschisten angeordnete Sprengung des lokalen Elektrizitätswerks verhinderte. Im Frühjahr 1945 nahmen ihn die Engländer fest und brachten ihn in ein Prisoner of War Camp in Ägypten. Als er dort begann, mit anderen antifaschistisch eingestellten Gefangenen marxistische Schulungskurse vorzunehmen, steckten ihn die Briten für kurze Zeit in ein 105

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Lagergefängnis. Danach überführte man ihn in ein Umerziehungslager in Wilton Park in Südengland. Dort, wo er sich zur SPD bekannte, mußte er erleben, wie die britischen Behörden dafür sorgten, daß die „Linken“ unter den Gefangenen, darunter „mehrere Hundert erfahrene Funktionäre aus der deutschen Arbeiterbewegung“,4 bis 1946 festgehalten wurden, um sie von einer möglichen Einflußnahme auf die Neugestaltung des politischen Lebens im Nachkriegsdeutschland auszuschließen. IV Nach seiner Entlassung aus der britischen Kriegsgefangenschaft im November 1946 kehrte Abendroth umgehend nach Deutschland zurück und begab sich nach Marburg, um dort sein zweites juristisches Staatsexamen abzulegen. Da dies aus bürokratischen Gründen nicht möglich war, wandte er sich in dieser Angelegenheit an den hessischen SPD-Justizminister Georg August Zinn in Wiesbaden, der ihm jedoch riet, sich lieber nach Ostberlin zu begeben, da er dort sein Assessorexamen sicher sofort ablegen könne. Zinn empfahl ihm, sich in dieser Sache an Eugen Schiffer, den Leiter der Justizverwaltung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), zu wenden. Darauf fuhr Abendroth mit seiner Frau Lisa Weihnachten 1946 illegal über die Grenze und suchte seine Eltern in Potsdam auf, wo sein Vater im Schuldienst tätig war. Eugen Schiffer und Hilde Benjamin, die er bereits in den zwanziger Jahren kennengelernt hatte, empfahlen ihm, wegen der nachzuholenden Examensformalie beim Justizminister des Landes Brandenburg vorstellig zu werden. Der stellte ihn bereits am 10. Januar 1947 als Richter ein und forderte ihn zugleich auf, in der Gesetzgebungsabteilung des Landes Brandenburg mitzuwirken. Dort arbeitete Abendroth vorübergehend mit Wilhelm Pieck, dem Fraktionsvorsitzenden der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im brandenburgischen Landtag, zusammen. Zugleich legte er im Mai 1947 sein Assessorexamen ab und habilitierte sich kurz darauf 106

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mit seiner 1936 in Bern geschriebenen Dissertation an der Universität Halle-Wittenberg. Da sich Abendroth ein Jahr zuvor aus Abneigung gegen den Stalinismus zur SPD bekannt hatte, war seine Situation in der SBZ – trotz aller Unterstützung, die er dort erfuhr – von Anfang an etwas prekär. Weil es jedoch in Ostdeutschland nur wenige linksorientierte Juristen gab, wurde er 1947 von der Sowjetischen Militäradministration in die Justizverwaltung der SBZ berufen, die damals immer noch hoffte, daß sich „Deutschland in ein demokratisch organisiertes, aber die legale Transformation zum Sozialismus erlaubendes System“ umwandeln lasse,5 wie Abendroth später erklärte. Und zwar bekam er die Aufgabe zugeteilt, Lehrpläne für das juristische Studium zu erarbeiten und zugleich Lehrer für die Volksrichterausbildung zu gewinnen.6 Diesen beiden Aufgaben widmete sich Abendroth zeitweilig mit großer Intensität und nahm nebenher sogar noch eine Dozentur an der Universität Halle-Wittenberg wahr. Wenn es zu Konflikten mit allzu dogmatisch eingestellten SED-Genossen kam, unterstützten ihn sowohl Hilde Benjamin, die spätere Justizministerin der DDR, als auch Harald Poelchau, der frühere Gefängnispfarrer in Berlin-Plötzensee, der versucht hatte, vielen von den Nazirichtern zum Tode verurteilten Regimegegnern in ihrer letzten Stunde beizustehen. Besonders scharf geführte Debatten entzündeten sich meist an der Frage einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands, bei denen Abendroth am Konzept der nationalen Einheit festhielt, während andere bereits auf eine staatliche Sonderentwicklung der SBZ hindrängten. Da die letztere Gruppe – angesichts des einsetzenden Kalten Kriegs – schließlich das Übergewicht bekam, wurde Abendroths Position, der sich nicht zu einer Mitgliedschaft in der SED bewegen ließ, sondern weiterhin an der in der SBZ nicht mehr existierenden SPD festhielt, von Monat zu Monat immer schwieriger. Aus diesem Grund gab er seine Tätigkeit in der Justizverwaltung zusehends auf und widmete sich vor allem seiner Arbeit an der Universität Halle-Wittenberg. Weil diese Tätigkeit von 107

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den SBZ-Behörden durchaus geschätzt wurde, erhielt er Ende 1947 eine Berufung an die Universität Leipzig, wo er am 1. April 1948 zum Professor für Völkerrecht ernannt wurde. Doch schon im Oktober 1948 gab er diese Stelle wieder auf und wechselte nach Jena über, wo man ihm an der Friedrich-Schiller-Universität eine Professur für Öffentliches Recht angeboten hatte. Da jedoch Abendroth die politische Entwicklung in der SBZ nach der im Sommer 1948 durchgeführten Währungsspaltung, die zu einer fortschreitenden Dogmatisierung innerhalb der SED geführt hatte, immer weniger zusagte, verließ er Jena im Dezember 1948 und begab sich mit seiner Frau nach Bremen, wo sie bei ihren Eltern eine erste Unterkunft fanden. Wohlwissend, daß auch die westdeutsche SPD keineswegs seinen marxistischen Hoffnungen entsprach, vertraute er dennoch darauf, sich in den drei Westzonen stärker für die Forderungen der früheren Arbeiterbewegung einsetzen zu können als in der sich immer stärker stalinistisch gebenden SBZ. Um wegen dieser Entscheidung in den Augen seiner ostdeutschen Freunde nicht als Renegat dazustehen, schrieb er in Bremen sofort einen langen Brief an Hilde Benjamin, in dem er ihr versprach, „auf keinen Fall irgendeiner antisowjetischen oder antikommunistischen Position Handlangerdienste zu leisten und keinesfalls gegen den sozialistischen Aufbau in der Sowjetischen Besatzungszone Stellung zu beziehen“.7 V Nach seiner Ankunft in der britischen Besatzungszone suchte Abendroth umgehend Adolf Grimme auf, den er aus seiner frühen Berliner Zeit kannte und der inzwischen SPD-Kultusminister in Niedersachsen geworden war, um von ihm zu erfahren, ob er ihn irgendwo beruflich „unterbringen“ könne. Grimme erklärte ihm, daß er gerade das Projekt einer neuen Hochschule in Wilhelmshaven ins Auge gefaßt habe. Was ihm dabei vorschwebe, sei eine Akademie der Arbeit, wo auch Studenten ohne Abitur ein sozialwissenschaftliches Studium absolvieren 108

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könnten, das sie zu einem Beruf im öffentlichen Dienst befähigen würde. Weil derartige Pläne in manchem der von Abendroth kurz zuvor unterstützten Volksrichterausbildung sowie den Arbeiter- und Bauernfakultäten an den Universitäten der SBZ ähnelten, erklärte er sich – ohne groß zu zögern – sofort bereit, an einem derartigen Projekt mitzuarbeiten. Darauf bekam er den Auftrag, am 1. April 1949 in Wilhelmshaven eine Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft zu gründen und mit sechs weiteren Professoren ein damals noch ungewöhnliches sozialwissenschaftliches Studium aufzubauen. Da Abendroth auch in Wilhelmshaven weiterhin marxistische Positionen vertrat, kam es von Anfang an zu ideologischen Auseinandersetzungen mit seinen Kollegen und Studenten, die weitgehend konservative Positionen vertraten. Es gab zwar auch einige sich progressiv gebende Studenten aus der Arbeiterklasse, die nach drei Semestern ein Abschlußexamen machen konnten, das als gleichrangig mit dem Abitur an höheren Schulen anerkannt wurde. Aber die Mehrheit der anderen Studenten war eher nationalistisch oder gar reaktionär eingestellt. Wie ihre Professoren bekannten sich die meisten von ihnen als karrierebetonte Mitläufer zu einem „veräußerlichten Christentum und der sozialen Marktwirtschaft“,8 das heißt stimmten mit den Anschauungen der von Konrad Adenauer angeführten Christlich-Demokratischen Union (CDU) überein. Obwohl Abendroth in Wilhelmshaven auch „einige Arbeiterstudenten ausbilden konnte, die später teils in den Gewerkschaften Funktionen übernahmen, teils weiterstudierten“,9 blieb er auch hier, wie schon in der SBZ, ein Außenseiter. Die gleiche Erfahrung machte er, als er sich an der Gründung einer Vereinigung für Politische Wissenschaft sowie einer Vereinigung der Deutschen Staatsrechtler beteiligte, wo er sich wiederum einer Mehrheit konservativ eingestellter Professoren gegenübersah, von denen die meisten ihre wissenschaftliche Laufbahn im Dritten Reich begonnen hatten. Abendroth schrieb daher später über diese Erfahrungen: „Die politische Atmosphäre in den fünfziger 109

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Jahren kann man sich gar nicht reaktionär genug vorstellen.“10 Wie wir heute wissen, wurden damals – schon lange vor dem Verbot der KPD im Jahr 1956 – viele „Kommunisten wegen angeblichen Verstoßes gegen das Erste Strafrechtsänderungsgesetz auf Jahre hinaus ins Gefängnis geschickt“,11 darunter selbst solche, die vorher in den nazifaschistischen Konzentrationslagern unsägliche Qualen ausgestanden hatten.12 Abendroth sah deshalb schon nach kurzer Zeit in Wilhelmshaven keine der von ihm erhofften Wirkungsmöglichkeiten mehr und nahm demzufolge bereits 1951 eine durch Vermittlung Georg August Zinns angeregte Berufung auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Marburger Universität an. Doch seine Hoffnungen wurden auch hier anfangs bitter enttäuscht. Während er in Halle, Leipzig und Jena, ja selbst noch in Wilhelmshaven in vollen, wenn nicht gar überfüllten Hörsälen unterrichtet hatte, waren die ihm zugewiesenen Hörsäle in Marburg bis weit in die fünfziger Jahre hinein gähnend leer. Hier saßen in seiner ersten Vorlesung lediglich sieben Hörer. Die Marburger Studentenschaft wurde damals noch weitgehend von standesbewußten Korporationen beherrscht, während der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) nur fünf bis zehn Mitglieder hatte. Eine erste politische Chance sah Abendroth lediglich darin, sich an den Protesten gegen die von der CDU in Gang gesetzte Wiederbewaffnung zu beteiligen. Den Auftakt dazu bildete ein von ihm arrangiertes Streitgespräch zu dieser Frage zwischen Eugen Kogon, einem Befürworter der Wiederbewaffnung, und Gustav Heinemann, einem Gegner der Adenauerschen Militärpolitik. Was Abendroth damals besonders empörte, war die Tatsache, daß sich die SPD, also „seine“ Partei, in dieser Frage nicht zu einem klaren „Nein“, sondern nur zu einem unklaren „Jein“ durchringen konnte. Da er sich wegen seiner radikalen „Nein“-Haltung selbst innerhalb der SPD isoliert vorkam, versuchte er wenigstens Teile der Gewerkschaften für seine Anschauungen zu gewinnen. Obwohl die SPD solche abweichlerischen Aktionen vielfach „sabotierte“,13 unternahm Abend110

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roth trotz alledem unzählige Vortragsreisen quer durch ganz Westdeutschland, wobei ihn vor allem Viktor Agartz, der „Linksaußen“ der damaligen Sozialdemokraten, unterstützte. Doch diese Bemühungen erwiesen sich als umsonst. Ja, im Jahr 1956 mußte Abendroth erleben, daß die SPD-Fraktion im Bundestag sogar der von Adenauer eingebrachten Wehrverfassung mehrheitlich zustimmte. Ebenso „niederträchtig“ fand er, daß sich die SPD-Führungsspitze immer schärfer von Agartz distanzierte, der innerhalb der Gewerkschaften gegen den von der CDU befürworteten Monopolkapitalismus auftrat und ab 1956 in der von ihm herausgegebenen WISO-Korrespondenz zum Kampf gegen die von der SPD unterstützte Adenauersche Restaurationspolitik aufrief. Für diese Haltung wurde Agartz schließlich verhaftet und ein Prozeß gegen ihn angestrengt. Als es zu einem Hauptverfahren vor dem politischen Senat des Bundesgerichtshofs gegen Agartz kam, zogen seine beiden Verteidiger, nämlich Gustav Heinemann und der spätere nordrhein-westfälische Justizminister Diether Prosser, Abendroth als ihren wichtigsten Entlastungszeugen heran. Sie erreichten zwar mit seiner Hilfe einen Freispruch für Agartz, konnten jedoch damit den zunehmenden Rechtskurs der SPD nicht aufhalten, die sich immer entschiedener von der 1956 verbotenen KPD distanzierte, ja schon damals keinen Einspruch gegen dieses Verbot unternommen hatte. Angesichts dieser Entwicklung wurde Abendroths Verhältnis zur SPD zusehends ambivalenter. Hinzu kam, daß er sich anschließend in jenem Amnestieausschuß betätigte, der sich für die Freilassung kommunistischer Gefangener einsetzte, wobei er sowohl am Bremer Staatsgerichtshof als auch am westdeutschen Verfassungsgerichtshof als Entlastungszeuge für aus politischen Gründen inhaftierte CDU-Gegner auftrat. Außerdem betätigte er sich mit Ossip K. Flechtheim in der linksorientierten Vereinigung für Politische Wissenschaft, die sich als Gegenorganisation zur konservativen Vereinigung der Staatsrechtslehrer verstand. Unter seinen Marburger Studenten hatte Abendroth in diesen Jahren nur wenige Anhänger. Es gab zwar den SDS, aber der war zu die111

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sem Zeitpunkt noch weitgehend sozialdemokratisch eingestellt. Die meisten seiner Mitglieder wollten lediglich in den von der SPD regierten Ländern Karriere machen. Und die anderen Studenten? Von ihnen gehörten, wie schon in den zwanziger Jahren, fast 80  Prozent den rechtsstehenden Landsmannschaften, Corps und Burschenschaften an. Auch zu Kontakten zum Frankfurter Institut für Sozialforschung kam es nicht, da man dort meist im Bereich abstrakter Spekulationen blieb, wie Abendroth später erklärte, statt an der ursprünglichen Aufgabe dieses Instituts festzuhalten, nämlich „die Geschichte der Arbeiterbewegung zu erforschen und die Theorie des Marxismus weiterzuentwickeln“.14 Im Gefolge dieser ideologischen Umorientierung sahen selbst Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die zwar ihre Theorien weiterhin als „kritisch“ ausgaben, in Abendroth lediglich einen „Outcast“.15 Eine neue Hoffnung, sich aktiv in die Politik der BRD einzumischen, sah Abendroth erst wieder, als es 1957/58 zur Anti-Atomkampagne kam, die jedoch von der SPD, welche sich keine kämpferische Agitation gegen den amerikanischen Imperialismus leisten wollte, nur halbherzig unterstützt wurde. Selbst in der Ostermarsch-Bewegung, die 1960/61 einsetzte, verhielt sich die SPD ebenso halbherzig, ja sprach sich – im Einklang mit der CDU/CSU – teilweise sogar für eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr aus. Doch was Abendroth am meisten empörte, war, daß sich die SPD-Führungsspitze 1959 in ihrem Godesberger Programm ausdrücklich von all jenen marxistischen Restelementen, die sie bisher wenigstens in Form nichtssagender Lippenbekenntnisse beibehalten hatte, distanzierte. Danach war in ihren Reihen von Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel, Karl Liebknecht und Paul Singer kaum noch die Rede. Abendroth entschloß sich deshalb, ein Alternativkonzept zum Godesberger Programm zu entwerfen, das er allerdings nur als Broschüre der Frankfurter Jungsozialisten publizieren konnte. In ihr wandte er sich gegen das in den systemkonformen Massenmedien üblich gewordene Gerede von der „Sozialen Markt112

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wirtschaft“ und der angeblichen „Sozialpartnerschaft“, mit dem man die „Bildung von Klassenbewußtsein unter den abhängig Arbeitenden zu verhindern“ suche.16 Doch dieser Alternativentwurf wurde von der SPD-Parteispitze kaum beachtet. Selbst die Sozialdemokraten machten sich anschließend, wie er später schrieb, „zu Verfechtern der NATO und der Außenpolitik Adenauers“,17 wovon sie sich größere Wahlerfolge versprachen als von einer kritischen Haltung gegenüber der Militärbereitschaft und der Wirtschaftswundergesinnung innerhalb breiter Schichten der westdeutschen Bevölkerung. Daß Agartz und Abendroth gegen diese Tendenzwende anzukämpfen versuchten, empfanden die meisten Vertreter der SPD-Führung um 1960 zusehends als veraltet, wenn nicht gar lächerlich. Als daher einige Gruppen des SDS gegen diese ideologische Kehrtwendung der SPD zu opponieren begannen, entschied der Parteivorstand der Sozialdemokraten, daß eine Mitgliedschaft im SDS mit der Mitgliedschaft in der SPD „unvereinbar“ sei.18 Weil Abendroth nach wie vor an den Forderungen des SDS festhielt, wurde er mit einigen anderen weiterhin marxistisch argumentierenden Sozialtheoretikern aufgrund dieses Unvereinbarkeitsbeschlusses aus der SPD ausgeschlossen. Als Antwort auf diesen Ausschluß brachte Abendroth 1964 eine Broschüre unter dem Titel Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie. Das Problem der Zweckentfremdung einer politischen Partei durch die Anpassungstendenz von Institutionen an vorgegebene Machtverhältnisse heraus, in der er nochmals den schrittweisen Rückzug der SPD von ihren anfänglich marxistischen Positionen kritisierte. Anschließend konzentrierte sich Abendroth erst einmal auf seine bis dahin vernachlässigte wissenschaftliche Arbeit. Dafür sprechen die Bände Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung sowie Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie in der Bundesrepublik, die beide 1965 herauskamen. Ihnen ließ er ein Jahr später noch das Buch Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme folgen, in dem er vor allem auf die bisherige Nichtbefolgung der Artikel  3.3 113

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(„Niemand darf wegen seiner politischen Anschauungen benachteiligt werden“), Artikel 5.1 („Jeder hat das Recht, seine Meinung zu verbreiten“) und Artikel  14.2 („Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich zum Wohle der Allgemeinheit dienen“) einging. Was Abendroth besonders bedauerlich fand, war, daß sich nach seinem Parteiausschluß nicht nur seine Wirkung im Rahmen der SPD, sondern auch seine Aktionsmöglichkeiten innerhalb der Gewerkschaften deutlich verringerten. Um so lebhafter begrüßte er deshalb, daß sich in den Jahren 1966/67 ein deutlicher Stimmungsumschwung unter den Studenten bemerkbar machte, die plötzlich nicht nur die nazifaschistische Vergangenheit ihrer akademischen Lehrer entdeckten, sondern zugleich eine wesentlich kritischere Haltung gegenüber den restaurativen Tendenzen innerhalb der BRD einnahmen. Das hatte zur Folge, daß er, der lange Zeit kaum Hörer gehabt hatte, plötzlich an der Marburger Universität von Studenten geradezu „überrannt“ wurde. Nicht nur die Anhänger des SDS, sondern auch all jene, die sich kurz darauf als die Achtundsechziger ausgaben, wollten mit einem Mal Abendroth hören, in dem sie einen der Hauptvertreter der Außerparlamentarischen Opposition sahen. Vor allem die geplante Notstandsgesetzgebung, der Sturz Ludwig Erhards und dann die Bildung einer Großen Koalition von CDU/CSU und SPD unter dem Altnazi Kurt Georg Kiesinger und dem früheren SAP-Anhänger Willy Brandt19 lösten bei vielen Studenten einen bis dahin kaum vorhandenen politischen Unmut aus, der sie sogar für marxistische Gedankengänge aufnahmebereit machte. Und damit schlug für Abendroth in Marburg mit einem Mal die große Stunde. Seine Hörsäle und Seminarräume waren plötzlich randvoll. Ja, manche dieser Studenten ließen sich sogar dazu hinreißen, schlichtweg zu erklären, Abendroth habe Marburg geradezu über Nacht in Marxburg verwandelt. All das gab Abendroth selbstverständlich einen neuen Auftrieb. Allerdings erkannte er, genau wie der mit ihm befreundete Marburger Philosoph Hans Heinz Holz, von Anfang an, daß die studentische 114

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Achtundsechziger Bewegung keine wirkliche Massenbewegung war, die auch auf die Arbeiterschichten übergreifen würde. Dennoch unterstützte er sie, zu der sich in Marburg um 1970 über 50 Prozent der dort Studierenden bekannten, so gut er es vermochte und trat in den frühen siebziger Jahren gegen alle Versuche der SPD-Regierung auf, ihr mit dem berüchtigten Radikalenerlaß sowie den darauf folgenden Berufsverboten und einem neuen Hochschulrahmengesetz entgegenzutreten. Doch die hiermit verbundenen Maßnahmen blieben nicht ohne Wirkung. Ab Mitte der siebziger Jahre ließ demzufolge die durch die Achtundsechziger Bewegung in Gang gekommene, ja geradezu überschäumende „linke Welle“ unter den Jungakademikern wieder merklich nach. Dennoch hörte Abendroth auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1972 keineswegs auf, mit seinen Schülern Frank Deppe, Georg Fülberth und Reinhard Kühnl weiterhin an seiner These festzuhalten,20 daß sich angesichts möglicher ökonomischer Krisen in der BRD ein autoritärer Obrigkeitsstaat nur durch eine sozialistisch orientierte Demokratie verhindern lasse. Es verbitterte ihn daher sehr, daß die SPD, in der nach 1968 wenigstens ein paar Rebellen aufgetreten waren, im Herbst 1975 auf ihrem Mannheimer Parteitag wieder zu ihrem von ihm als reaktionär empfundenen Godesberger Programm zurückkehrte. Damit erweise sich diese Partei, wie er 1977 erklärte, „wieder einmal erfolgreich als ‚Arzt am Krankenbett des Kapitalismus‘.“ „In der weiteren Entwicklung der Bundesrepublik“, betonte er im Folgenden, „wird alles davon abhängen, ob es gelingt, die SPD zu zwingen, zumindest als halbreformistische und die Demokratie stabilisierende Partei zu agieren.“21 Und bei dieser Einschätzung der politgesellschaftlichen Situation in der Bundesrepublik blieb Abendroth bis zum Ende seines Lebens. Er mußte zwar noch erleben, daß Anfang der achtziger Jahre die CDU/ CSU mit Helmut Kohl wieder ans Ruder kam und sich dadurch im Zuge einer erneuten Tendenzwende der antiöstliche Kurs der Regierungskreise erheblich verstärkte. Zugleich sah er, daß in den geistes115

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und sozialwissenschaftlichen Disziplinen der westdeutschen Universitäten – im Gefolge der schnell überhandnehmenden Theorien des Poststrukturalismus bzw. Postmodernismus – das Interesse an basisdemokratischen Vorstellungen zusehends zurückging und plötzlich wieder viel vom bürgerlichen Selbstrealisierungsdrang die Rede war. Aber sogar das bewegte ihn nicht zum ideologischen Einlenken. Er blieb auch weiterhin, was er immer war: ein kämpferischer Realist, der weder den Widerstand mancher linken Gruppen noch die Wirkung seiner eigenen Aktivitäten überschätzte.22 Selbst bei einer 1982 im Marburger Erwin-Piscator-Theater veranstalteten Gedächtnisfeier für den kurz zuvor verstorbenen Peter Weiss, dem er für dessen Ästhetik des Widerstands wichtige Materialien bereitgestellt hatte, reagierte er auf provokant geäußerte Fragen postmodernistisch eingestellter Studenten mit äußerster Gelassenheit,23 statt sich die Pose eines großväterlichen Besserwissers zu geben. Er hatte in seinem langen Leben genug politische und ökonomische Umbrüche erlebt, um sich durch solche Provokationen beirren zu lassen. Vielmehr setzte sich Abendroth auch weiterhin für die Verwirklichung einer sozialen Demokratie in Deutschland ein, erklärte aber zugleich immer wieder höchst nüchtern: „Meine kritischen Überlegungen geben kein Endziel an, das, einmal verwirklicht, ein vollendetes Paradies auf Erden schaffen könnte.“245 Statt sich irgendeiner Schwarmgeisterei hinzugeben, blieb er stets ein mit den breiten Massen sympathisierender Pragmatiker, der sich sowohl von den diktatorischen Ausprägungen stalinistischer Kommandogesellschaften als auch von den utopischen Träumen linksintellektueller Phantasten distanzierte. Was er ins Auge faßte, war eine „soziale Demokratie“, in der auch die Arbeiterschaft ein politisches Mitbestimmungsrecht haben würde. Dafür trat er allerdings mit aller Entschiedenheit ein. Und das wußten auch andere mit seiner Gesinnung Sympathisierende zu schätzen. Als er im September 1985 starb, kamen daher die Vertreter jener drei Gruppen zu seiner Grablegung auf den Frankfurter Hauptfriedhof, die ihm besonders 116

Politik- und Rechtswissenschaftler

nahegestanden hatten: die linken Intellektuellen, von denen der Sozialphilosoph Jürgen Habermas die Grabrede hielt, eine Blaskapelle der dortigen Gewerkschaftsbewegung sowie all jene „kleinen Leute“ aus der Straße, in welcher er in Frankfurt gewohnt hatte und die ihn als einen der Ihren empfunden hatten. Noch angemessener hätte man ihn kaum ehren können. Auch als sich im Jahr 2006 sein hundertster Geburtstag jährte, waren es wiederum die gleichen Gruppen, nämlich der Bund demokratischer Wissenschaftler, der IG Metall-Vorstand und einige Arbeitervertreter, die unter dem Titel „Arbeiterbewegung – Wissenschaft – Demokratie“ in Frankfurt eine ihn ehrende Tagung veranstalteten, bei der Professoren wie Jürgen Habermas, Frank Deppe, Lothar Peter, Joachim Perels und Arno Klönne, maßgebliche Vertreter von der IG Metall wie Jürgen Peter, Jakob Moneta und Hans Jürgen Urban sowie Detlev Hensche von der IG Medien und Sybille Stamm von der Gewerkschaft ver.di die wichtigsten Reden hielten. Abendroths Schüler Georg Fülberth nannte ihn im selben Jahr, wie schon Jürgen Habermas zuvor, im Freitag abermals einen „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer“, dessen praxisorientierte Impulse „auch heute noch wichtig sein könnten“. Ja, er schloß seinen Beitrag mit den provokant verwirrenden Worten: „Denkt man nur an die eigene Gegenwart, nicht aber an Vergangenheit und Zukunft, dann ist Wolfgang Abendroth nicht nur aktuell, sondern zugleich im besten Sinn unzeitgemäß.“25

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Georg Knepler (1906–2003) Musikhistoriker

I Im Gegensatz zu den anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen fällt es im Hinblick auf die Musikwissenschaft in den Jahren nach 1945 nicht so leicht, wahre Bekennernaturen oder gar mutig auftretende Partisanenprofessoren auszumachen. Auf diesem Gebiet dominierten zu Anfang fast ausschließlich jene Traditionalisten, die sich weiterhin mit den Hochleistungen der deutschen Musik seit dem 18. Jahrhundert beschäftigten und sich dabei lediglich von jenen nationalistischen oder gar rassistischen Überheblichkeitsgefühlen distanzierten, wie sie im Zeitalter des Wilhelminismus und dann verstärkt im Dritten Reich vorgeherrscht hatten. Doch ein ideologischer Kurswechsel trat auf diesem Gebiet nur in den seltensten Fällen ein. Statt auch der nichtdeutschen, ja vielleicht sogar der Popularmusik eine größere Beachtung zu schenken, galt ihr Hauptinteresse nach wie vor jener großen, inzwischen zur Weltgeltung aufgestiegenen deutschen Musik von Johann Sebastian Bach über Franz Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms und Anton Bruckner bis hin zu Richard Strauss, in der viele von ihnen – neben den literarischen Werken der sogenannten Goethe­ Zeit – die bedeutsamsten deutschen Kulturleistungen sahen, welche es weiterhin pietätvoll zu interpretieren gelte. Die wenigen Ausnahmen, die dabei ins Auge stechen, sind deshalb um so bemerkenswerter. Im Westen Deutschlands gehörte dazu vor allem der unermüdliche Einsatz für eine angeblich „Neue Musik“ des aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt zurückgekehrten Theodor W. Adorno, der in den frühen fünfziger Jahren die Front der ledig-

Georg Knepler (1906–2003)

lich auf Klassik und Romantik eingeschworenen Traditionalisten zu durchbrechen versuchte. Indem er jedoch bei diesen Bemühungen die modernistisch-elitäre Kompositionsweise Arnold Schönbergs zum allein gültigen Maßstab erhob, blieb er in einer Musikkonzeption befangen, die in ihrer radikalen Ablehnung jeglicher sozialbetonten Tendenzen keine neue gesamtgesellschaftliche Funktionsbestimmung von Musik erlaubte. Damit trug er maßgeblich zum Konzept jener „absoluten Musik“ bei, in der sich die damals vielbeschworene „ideologische Unbehaustheit des modernen Menschen“ manifestiere, für den es – im Sinne seiner Negativen Dialektik – keine fortschrittsbetonten Zielvorstellungen mehr gebe.1 Auch im Osten Deutschlands gab es im offiziellen Konzertbetrieb anfänglich viel Klassik-Verkultung. Was dagegen als „Neue Musik“ ausgegeben wurde, hatte hier eine völlig andere Note. Im Rahmen jener von den sowjetischen Kulturtheoretikern übernommenen Musikkonzepte, nämlich daß Kunst in ihren Inhalten sozialistisch und in ihrer Formgebung national eingestellt sein solle, herrschte in diesen Breiten erst einmal die Forderung, vor allem Werke zu komponieren, die sich – trotz ihrer traditionellen Melodik und Tonalität – in ihren inhaltlichen Aussagen zu den sozialistischen Aufbauprogrammen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bekennen würden. Neben der offiziell geförderten Bach-, Händel- und Beethoven-Pflege bemühten sich daher viele der dortigen Komponisten in ihren Vokalwerken vor allem um eine vorbildlich gemeinte Verklärung sozialistisch gesinnter Kämpfer der zwanziger Jahre und des Exils sowie um die Beschwörung positiver Helden des sozialistischen Aufbaus in der DDR, während sie sowohl die modernistisch-elitäre als auch die populäre Musik des Westens, wie in Ernst Hermann Meyers Buch Musik im Zeitgeschehen von 1952 nachzulesen ist, einerseits als formalistisch, andererseits als volksverdummend ablehnten. Erst in den sechziger und siebziger Jahren erfolgte in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) eine gewisse Lockerung derartiger 120

Musikhistoriker

Forderungen, die zusehends als „dogmatisch“ empfunden wurden. Dabei kam es nicht nur zu einer allmählichen Annäherung an westliche Musikvorstellungen, sondern bei manchen musikwissenschaftlichen Bekennernaturen auch zu einer Rückbesinnung auf wesentlich kompromißlosere Anschauungen. Anstatt lediglich mit dem Westen mitzuhalten, das heißt auch modernistisch-elitäre Werke Schönbergs und seiner Schule aufzuführen und zugleich die Rockmusik der Beatles zu dulden, drangen derart eingestellte Musikwissenschaftler darauf, sich im Hinblick auf die in allen westlichen Klassengesellschaften und selbst in der DDR weiterhin bestehende Spaltung in höhere und niedere Musikformen erneut auf die sozialistische Grundforderung einer die Gesamtgesellschaft durchdringenden Kulturvorstellung zu besinnen, die es auch und gerade in der Musik als einer alle Menschen betreffenden Kunstgattung durchzusetzen gelte. Einer der entschiedensten Vertreter dieser Richtung war Georg Knepler, der sich stets mit dem nötigen Bekennermut gegen die nicht nur im Westen, sondern auch im Osten weiterexistierende Spaltung in eine E-Musik für die Gebildeten sowie eine U-Musik für die ungebildeten „breiten Massen“ ausgesprochen hat. Da diese Forderung bis heute unerfüllt geblieben ist, sind seine Überlegungen nach wie vor bedenkenswert. Schließlich hat sich diese Spaltung inzwischen sogar noch weiter verschärft. Noch immer gibt es jene Musikinteressierten, die nur die sogenannte „klassische Musik“ als ernstzunehmend gelten lassen oder sich beim Anhören sogenannter modernistisch-elitärer Musik, die kaum noch jemand hören will,2 lediglich in ihrem Außenseitertum bestätigt fühlen wollen. Und noch immer gibt es jene „breiten Massen“, die sich mit dem Gedudel der massenmedial erzeugten Unterhaltungsmusik begnügen. Wer gegen diese Spaltung anzukämpfen versucht, sollte daher die Ansichten Georg Kneplers nach wie vor als vorbildlich empfinden.

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Georg Knepler (1906–2003)

II Geboren wurde Georg Knepler am 21. Dezember 1906 in Wien als Sohn des jüdischen Komponisten und Musikverlegers Paul Knepler sowie dessen Frau Elise, geb. Cohn. Nach bestandenem Abitur studierte er ab 1926 bei Guido Adler, Wilhelm Fischer, Egon Wellesz, Rudolf von Ficker und Robert Lach an der Wiener Universität Musikwissenschaft und promovierte dort 1931 mit einer Dissertation über Die Form in den Instrumentalwerken von Johannes Brahms zum Dr. phil.3 Doch nicht nur das. Er vervollkommnete zugleich sein Klavierspiel unter Anleitung von Eduard Steuermann und ließ sich von Hans Gál in die Kunst des Dirigierens einführen.4 Das befähigte ihn, erst als Korrepetitor und Orchesterleiter an der Wiener Volksoper und dem Wiener Stadttheater sowie danach an den Opernhäusern in Mannheim und Wiesbaden tätig zu werden. Außerdem begleitete er von 1928 und 1931 Karl Kraus bei seinen „Vorlesungen“ der Opern von Jacques Offenbach in Wien, Prag, München, Berlin und weiteren Städten am Klavier. Dabei kam er immer stärker mit linksgerichteten Künstlern in Kontakt, ja übernahm schließlich sogar die Leitung von Arbeiterchören. Ab 1932 hielt er sich vorwiegend in Berlin auf, wo er Hanns Eisler und Bertolt Brecht kennenlernte, die einen maßgeblichen Einfluß auf seine politischen Anschauungen ausübten. Dafür spricht nicht nur, daß er als pianistischer Begleiter von Helene Weigel auftrat, wenn sie bei Arbeiterversammlungen Eislers Wiegenlieder einer proletarischen Mutter vortrug, sondern auch sein Beitrag Einstimmiger oder mehrstimmiger Chorgesang? für die Zeitschrift der revolutionären Arbeitersänger und -musiker Kampfmusik, in dem er sich unter dem Einfluß Eislers dafür einsetzte, bei aller agitatorischen Absicht im Sinne der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) keineswegs auf den nötigen Kunstcharakter zu verzichten, um nicht ins allzu Platte abzugleiten.5 Da ihm als Juden und Kommunisten 1933 jede weitere Tätigkeit in Berlin untersagt wurde, kehrte Knepler nach Wien zurück. Dort trat er 1934 in die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) ein und ver122

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trieb linke Zeitungen, was dazu führte, daß er kurzzeitig verhaftet wurde und noch im gleichen Jahr nach England emigrierte. Hier war er nicht nur als Dirigent, Chorleiter, Klavierlehrer und Direktor des österreichischen Emigrantentheaters „Laterndl“ tätig, sondern vertiefte zugleich seine Kenntnis der marxistischen Klassiker, deren Werke fortan die theoretische Grundlage seiner musikwissenschaftlichen Arbeiten wurden.6 1946 kehrte er nach Wien zurück, erhielt wieder seine österreichische Staatsbürgerschaft, die er wie Bertolt Brecht und Helene Weigel bis zu seinem Lebensende beibehielt, und betätigte sich hauptsächlich als Kulturreferent der neugegründeten KPÖ. Wie vor ihm Hanns Eisler siedelte er im November 1949 nach Ostberlin über, um sich dort im Rahmen der Kulturvorstellungen der SED, deren Mitglied er wurde, für die Herausbildung einer marxistisch fundierten Musikwissenschaft einzusetzen. In den fünfziger Jahren bestand seine Haupttätigkeit in Ostberlin erst einmal darin, kurz nach seiner Ankunft die Deutsche Hochschule für Musik zu gründen, der er bis 1959 als Rektor vorstand. Knepler faßte dabei vornehmlich die Ausbildung von Musikern und Sängern ins Auge, die sich als Vertreter des „neuen Typus“ neben ihrer fachlichen Qualifikation auch aktiv am gesellschaftlichen Leben, sprich: am Aufbau einer sozialistischen Kultur in der DDR, beteiligen sollten. Nachdem er dieses Amt 1959 aufgegeben hatte, leitete er bis 1970 als Ordinarius das Musikwissenschaftliche Institut an der Humboldt-Universität in Ostberlin und konzentrierte sich dort – neben Ernst Hermann Meyer – auf die Herausbildung einer marxistisch ausgerichteten Forschung und Lehre, die ein Gegenbild zu der weitgehend positivistisch oder formalistisch ausgerichteten Musikwissenschaft im „Westen“ sein sollte. Dafür erhielt er 1960 den Vaterländischen Verdienstorden und 1964 den Nationalpreis der DDR. Außerdem wurde er in den gleichen Jahren als volles Mitglied in die Akademie der Wissenschaften der DDR und die Ostberliner Akademie der Künste aufgenommen, wo er mit dem Romanisten Werner Krauss, dem Germanisten Werner 123

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Mittenzwei sowie den Historikern Ernst Engelbert und Walter Markov häufig über marxistische Grundsatzprobleme diskutierte. In seinen musikwissenschaftlichen Publikationen ging es Knepler in diesem Zeitraum vor allem um eine scharfe Ablehnung der in Westdeutschland zur herrschenden Theorie aufgestiegenen Anschauung, daß Musik letztlich eine inhaltslose, sprich: „absolute“ Kunstform sei sowie um eine vorbildliche Darstellung des bedeutenden und zugleich widersprüchlichen bürgerlichen Musikwesens seit dem späten 18. Jahrhundert. Dafür zwei Beispiele. So warf er etwa den BRD-Musikkritikern in einer Rezension des 1957 erschienenen Büchleins Glanz und Elend der Musikkritik von H. H. Stuckenschmidt, die 1960 in den von ihm und Harry Goldschmidt herausgegebenen Beiträgen zur Musikwissenschaft erschien, vor,7 sich nicht für eine Überwindung der bestehenden Spaltung in eine E- und eine U-Musik einzusetzen. Vielmehr würden sie lediglich geschmäcklerisch behaupten, „daß es für die Beurteilung des Wertes einer Musik und eines Kunstwerkes völlig belanglos sei, ob die betreffende Manifestation zu zwölf Menschen, zu 12.000 oder zu zwölf Millionen, das heißt zu einer Gemeinde von Jüngern, zu einem großstädtischen Opernpublikum oder zu den zahlreichen Liebhabern des letzten Schlagers“ spreche.8 Besonders empörte ihn die Forderung Stuckenschmidts, daß die in die Geheimnisse der „Neuen Musik eingeweihten Eliten“ sich lieber in „elfenbeinerne Türme“ zurückziehen sollten, als auf die Interessen der sogenannten breiten Massen einzugehen.9 Es nehme daher nicht wunder, daß Stuckenschmidt jeden Versuch, diese Spaltung zu vermindern oder gar aufzuheben, von vornherein im Sinne des Kalten Krieges als „totalitär gelenkt“ hinstelle und dementsprechend auf dem Niveau der „Boulevard-Presse“ selbst die Musik eines Schostakowitsch, Chatschaturian und Prokofjew ablehne. In solchen Urteilen, schrieb er, komme eine „Prinzipien- und Perspektivelosigkeit“ zum Ausdruck, wie sie „für die offizielle Kulturpolitik kapitalistischer Länder überhaupt charakteristisch sei“.10 124

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Im nächsten Heft derselben Beiträge holte Knepler dann unter der Überschrift Reaktionäre Tendenzen in der westdeutschen Musikwissenschaft noch einmal grundsätzlich gegen die in der BRD vertretenen musiktheoretischen Ansichten aus, in denen derartige Tendenzen – verbunden „mit einer blinden Wut gegen alles, was im ‚Osten‘ geschieht“ – immer stärker die Oberhand gewännen.11 Dabei stellte er als besonders verwerflich folgende vier Richtungen heraus: 1. die politischen Sympathieerklärungen im Sinne der revanchistisch gesinnten Vereinigung der Heimatvertriebenen, für die sich vor allem der Altnazi Hans-Joachim Moser stark mache, 2. die klerikale Richtung, welche den geistlichen Kompositionen wesentlich mehr Beachtung schenke als den weltlichen Werken, was sich beispielweise an dem seit 1949 von Friedrich Blume herausgegebenen Lexikon Musik in Geschichte und Gegenwart ablesen lasse, 3. die positivistisch-agnostizistische Musikforschung, die sich ausschließlich auf die Sammeltätigkeit „nachweisbarer Tatsachen“ beschränke, und schließlich 4. die „nihilistisch-dekadente“ Ästhetik eines Theodor W. Adorno, der sich streckenweise – in seinem Haß auf den Sozialismus – wie H. H. Stuckenschmidt ebenfalls auf das Niveau der Boulevard-Presse begebe, indem er von „totalitären Staaten“ und „östlichen Kulturvögten“ spreche, die jeden Komponisten „an die Kandare nähmen“.12 Um solchen verschleiernd oder offen vorgebrachten antisozialistischen Konzepten, mit denen man im Westen „Millionen von Musikhörern hilf- und schutzlos den kapitalistischen Profithyänen“ ausliefere,13 entgegenzutreten, forderte Knepler daher gegen Ende dieses Aufsatzes für die DDR eine völlig andersgeartete „Konzeption von der Geschichte der Musik, derzufolge sie Teil und Mitgestalter der Universalgeschichte der Menschheit ist, sowie eine konsequent materialistische Ästhetik, zu deren Ausarbeitung auch naturwissenschaftliche und psychologische Untersuchungen notwendig sind“. Und diese Umorientierung müsse endlich „in neuen Darstellungen der Weltgeschichte der Musik, Lehrbüchern, Handbüchern, Monographien, Lexika und 125

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anderen Publikationen ihren Ausdruck finden“, um so auch der Musikwissenschaft eine in die Gesamtgesellschaft eingreifende Wirkung zu verleihen. Das lasse sich allerdings nur auf einer marxistischen Grundlage bewerkstelligen, wie er abschließend betonte.14 Mit Blick auf die anzustrebende Musikgeschichtsschreibung bemühte sich Knepler, mit seiner 1961 im Ostberliner Henschel Verlag erschienenen zweibändigen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts ein vorbildliches Beispiel zu geben. Statt sich in ihr – wie die meisten „Westler“ dieser Jahre – sorgfältig von allem „Außermusikalischen“ abzugrenzen, erklärte Knepler gleich zu Beginn mit programmatischer Eindeutigkeit, daß sich „Funktion und Zielsetzung von Kunst sowie der Wandel des künstlerischen Stils nur erkennen lasse, wenn man sie auch mit der Sphäre der materiellen Produktion und der politischen Klassenkämpfe verbinde“.15 Und das gehe nur, fuhr er fort, falls man im Hinblick auf den hier behandelten Zeitraum nie die historischen Zäsuren, die sozioökonomischen Voraussetzungen, die Entstehung des kapitalistischen Musikbetriebs, die Korrumpierung der volkstümlichen Musik ins Profiteinträgliche sowie die dagegen opponierenden Arbeiterlieder aus dem Auge verliere. Im ersten Band dieser Musikgeschichte versuchte er das an der Musikentwicklung in Frankreich und England, im zweiten Band an der Musikentwicklung in Österreich und Deutschland darzustellen. Trotz aller Ausweitungen ins Politische, Soziale, Ökonomische und Allgemein-Kulturelle, durch die das Ganze schließlich auf über 1.000 Seiten anwuchs, schenkte Knepler dabei auch den wahrhaft „großen“ Komponisten dieser Ära die gebührende Achtung. Vor allem den Werken Mozarts und Beethoven billigte er sowohl kompositorisch als auch ideologisch eine herausragende Bedeutung zu, während er an den Komponisten der Zeit nach 1848, ob nun Wagner, Brahms oder Bruckner, trotz vieler musikalischer Hochleistungen eher ihre Verstricktheit in die widersprüchlichen „Halbheiten“ der herrschenden Bourgeoisie herauszustellen versuchte.16 Als politisch korrekt charakterisierte er daher in diesem Zeitraum lediglich die sozialdemokratischen Arbeiterlieder. 126

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Schließlich sei „eine widerspruchslose Haltung damals nur möglich gewesen sei, wenn man die Bürgerwelt gedanklich überwand, bevor sie politisch überwunden werden konnte“, wie es im letzten Satz des zweiten Bandes heißt.17 Indem Knepler in seiner Darstellung der Musik des 19.  Jahrhunderts sowohl das wertvolle kulturelle Erbe dieser Ära herausstrich als auch den bürgerlichen Klassencharakter der damaligen Komponisten betonte, gelang ihm in diesen zwei Bänden eine überzeugende Synthese spezifisch musikwissenschaftlicher und zugleich kulturpolitischer Sehweisen, die es bisher im Hinblick auf die Musik dieser Ära noch nicht gegeben hatte. Das Lob seiner östlichen Kollegen war daher allgemein. Im Westen wurde dagegen Knepler im Hinblick auf dieses Buch – wie zu erwarten – vor allem dessen linkspolitische Orientierung übelgenommen. So bemängelte etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, der amerikanische Musikwissenschaftler Rey M. Longyear 1965 in seiner Rezension im Journal of the American Musicological Society, daß Knepler im Rahmen seiner sozial orientierten Sehweise der Popularmusik – im Gegensatz zu den religiösen Werken dieses Zeitraums – viel zu viel Aufmerksamkeit gewidmet habe, ja er fand die Betonung klassenspezifischer Gesichtspunkte für einen „seriösen“ Musikwissenschaftler geradezu unakzeptabel.18 Doch durch solche und andere Kritiken ließ sich Knepler nicht beirren. Im Gegenteil. Er konzentrierte sich auch in der Folgezeit immer stärker auf eine grundlegende Auseinandersetzung mit jener nichtmarxistischen Musikwissenschaft des Westens, die keinen ideologischen Bekennermut mehr aufbringe, sich auch in der Musik mit spezifisch progressiven Tendenzen in der Vergangenheit auseinanderzusetzen und diese für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Statt dessen weiche man dort allenthalben in rein formale Betrachtungsweisen aus, um nur ja nicht bei den systemimmanenten Vertretern des bürgerlichen Status quo anzuecken. Und das habe dazu geführt, daß die gebildeten Gesellschaftsschichten weiterhin den funktionslosen Ohrenschmaus der klas127

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sisch-romantischen Musik sowie die ebenso funktionslosen Werke der modernistisch-elitären Werke goutierten, während sich die als ungebildet abqualifizierten „breiten Massen“ – unterhalb dieser beiden Musikformen – nach wie vor mit dem Gedudel einer sogenannten U-Musik, sprich: Unterhaltungsmusik begnügten, die weder irgendwelche bildungsbetonten noch sozial fortschrittlichen Qualitäten aufweise. Auf über 600 Seiten hat Knepler diese Anschauungen dann in seinem Buch Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung zusammengefaßt, das 1977 in einer als Massenauflage gedachten Form beim Leipziger Reclam Verlag herauskam und dann 1982 noch einmal in überarbeiteter Form erschien. Ohne dabei in allzu dogmatische Vorstellungen marxistischer Musikpraktiken zurückzufallen, für die sich in der DDR zu Anfang der fünfziger Jahre – in Anlehnung an den sowjetischen Kulturtheoretiker Andrej Shdanow – vor allem Ernst Hermann Meyer eingesetzt hatte,19 vertrat Knepler in diesem Buch ein Musikverständnis, das trotz aller marxistischen Grundierung einen geradezu universalistischen Anstrich hat. Was er hier – getreu seinem Motto „Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts“ – unter Musikwissenschaft charakterisierte, war vor allem eine tiefere „Erkenntnis vom Wesen menschlicher Kommunikation“,20 das heißt eine „Aneignung von Welt“, der sowohl „emotive“ als auch „kognitive“ Prozesse zugrunde liegen, welche sich bis auf die musikalischen Ausdrucksformen in grauer Vorzeit zurückführen ließen und aus dem Improvisieren allmählich ins Komponieren übergegangen seien.21 Im Gegensatz zu westlichen Musikkonzepten einer im Prinzip „begriffslosen Musik“, wie sie etwa Carl Dahlhaus 1971 in seiner Einführung in die systematische Musikwissenschaft vertreten habe,22 strich Knepler dabei unter Berufung auf Georg Lukács vor allem die semantischen und mimetischen Qualitäten von Musik heraus,23 was er nicht nur an der bürgerlichen Konzertmusik des 19. Jahrhunderts, sondern auch an den verschiedenen Formen der sogenannten Popularmusik nachzuweisen versuchte. 128

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Dabei ging er als Marxist sowohl auf die soziale Funktion als auch auf den historischen Wandel aller Formen von Musik ein, während er eine formalistische oder rein stiltypologische Periodisierung von Musik strikt ablehnte.24 Ebenso scharf verwarf er jede Musikkonzeption, die sich bemühe, den Wandel musikalischer Ausdrucksformen à la Theodor W. Adorno allein auf eine immanente „Revolution des musikalischen Materials“ zurückzuführen. Seine Argumentationsweise lief daher zwangsläufig auf eine Kritik an einem ausschließlich formalästhetisch aufgefaßten Begriff von „Fortschritt“ hinaus, wie er sich im Bereich jener „autonomen“ Musikgeschichtsschreibung verbreitet habe, in welcher eine alle Klassenkonflikte verschleiernde Ideologie der Ideologielosigkeit vorherrsche, mit der man von allen wahrhaft progressiv gestimmten Konzepten politischer oder sozioökonomischer Art abzulenken versuche. Während die Aufklärung des 18. Jahrhunderts – wenn auch in utopischer Verallgemeinerung – noch weltbürgerliche Vorstellungen vertreten habe, hätten sich im Rahmen der bürgerlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts, wie er erklärte, weitgehend jene Saturiertheitsanschauungen durchgesetzt, mit denen man direkt oder indirekt der inzwischen entstandenen „proletarischen Theorie der Veränderung der Welt“ entgegengetreten sei.25 Und dadurch habe sich die sogenannte E-Musik immer stärker vom „Alltagsleben“ entfernt und sei – gesamtgesellschaftlich gesehen – „funktionslos“ geworden.26 Knepler schloß daher dieses Buch durchaus kämpferisch, indem er nicht nur gegen die westlichen Verfälschungen der ehemals ins Progressive tendierenden Ideen der Aufklärung ins Bürgerlich-Konsumbetonte polemisierte und zugleich auf die imperialistische Kehrseite dieser Politik hinwies, die im Zuge kriegerischer Eingriffe und sogenannter Entwicklungshilfen zu einer Neokolonialisierung vieler Länder der Dritten Welt geführt habe, sondern auch, indem er nochmals auf den reaktionären Charakter jener sich von jeder sozialbetonten Engagiertheit distanzierenden Form der westlichen Musikwissenschaft hinwies. 129

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Als Beispiele dafür dienten ihm dabei vor allem jene 15 Bände über Die Ausbreitung des Historismus in der Musik, die der ehemalige Nationalsozialist Walter Wiora 1969 mit Hilfe der westdeutschen Fritz-ThyssenStiftung herausgebracht habe, denen weitgehend Prinzipien wie „Relativierung“ oder „Urteilsverzicht“ zugrunde lägen,27 anstatt auch den Aspekt einer humanisierenden und damit fortschrittsbetonten Musik ins Auge zu fassen. Auf höchster Ebene wurde dieser Streit zwischen Georg Knepler und dem Westberliner Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus ausgetragen.28 Dahlhaus hatte vor dem Erscheinen von Kneplers Buch Geschichte als Weg zum Musikverständnis neben dem Band Klassizismus, Romantik, Modernität. Zur Philosophie der Musikgeschichte im 19. Jahrhundert in der von Wiora herausgegebenen Historismus-Reihe, auf die sich Knepler immer wieder direkt oder indirekt bezog, bereits folgende Bücher veröffentlicht: Musikästhetik (1967) und Einführung in die systematische Musikwissenschaft (1971). Im gleichen Jahr wie Kneplers Geschichte als Weg zum Musikverständnis war dann sein Buch Grundlagen der Musikgeschichte erschienen, das sich in vielen Abschnitten wie eine „anti­ marxistische Polemik“ liest.29 Während Knepler stets darauf bestand, daß eine Musikgeschichte – bei aller Berücksichtigung der auch von Brecht und Eisler immer wieder betonten relativen Autonomie von Kunst – nie ohne eine Beachtung der materiellen Voraussetzungen der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse geschrieben werden könne, hatte Dahlhaus behauptet, daß den stilistischen Veränderungen innerhalb des musikalischen Periodenverlaufs lediglich das „Prinzip der Neuheit“ zugrunde liege.30 Wie René Wellek in seiner einflußreichen Theory of Literature (1949), der maßgeblichen Programmschrift des westlichen „New Criticism“, in der alle außerliterarischen Deutungsversuche von Dichtung nachdrücklich verworfen werden, war Dahlhaus dabei stets von innermusikalischen Veränderungen ausgegangen, während er den außermusikalischen Faktoren nur eine untergeordnete Rolle zugemessen hatte, was Knepler in seiner Rezension der Grundla130

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gen der Musikgeschichte von Dahlhaus als das „Prinzip der Prinzipienlosigkeit“ zurückwies.31 Statt also wie dieser zu behaupten, daß Musik in erster Linie Musik sei und sich nicht als ein „Dokument des ‚Zeitgeistes‘“ oder des „geschichtlichen ‚Bewußtseinszustandes‘“ erklären lasse, wie in den Grundlagen immer wieder erklärt werde,32 betonte Knepler stets, daß auch Musik selbst in ihren wortlosen Manifestationen nur in ihren „jeweils konkreten gesellschaftlichen Systemen und historischen Situationen zu begreifen sei,33 da sie keinen autarken Charakter habe, sondern sich – trotz aller relativen Autonomie ihrer kompositorischen Entstehung – schon durch die jeweilige Aufführungspraxis lediglich als eine Form der gesellschaftlichen Kommunikation verstehen lasse. Wer sich also mit Musikgeschichte beschäftige, betonte er bewußt bekennerisch, betreibe zugleich „Menschheitsgeschichte“.34 Und an diesen Anschauungen hielt Knepler auch in der Folgezeit unverändert fest. Dafür spricht unter anderem sein Band Gedanken über Musik, in den er eine Reihe seiner bisherigen Reden, Aufsätze und Kritiken aufnahm und der 1980 beim Ostberliner Henschel Verlag erschien. Neben Studien zu musikalischen Einzelwerken oder Werkgruppen Beethovens, Schuberts, Webers, Mendelssohns, Wagners und Eislers sind dabei vor allem seine Bemerkungen zur zeitgenössischen Musik, zu den Bemühungen der von ihm lange Zeit geleiteten Ostberliner Hochschule für Musik, zur westdeutschen Musikwissenschaft und zur Popmusik von Bedeutung, die in ihrem Engagement für „Musiker vom neuen Typus“ nach wie vor eine tiefe Verbundenheit mit den sozialistischen Hoffnungen der frühen DDR verraten.35 Das kommt besonders in der in diesem Band abgedruckten Rede zum Ausdruck, die er 1975 anläßlich des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums jenes staatlichen Konservatoriums hielt, aus dem dann die Deutsche Hochschule für Musik und schließlich die Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ wurde. In ihr wies Knepler weiterhin auf die Vorbildlichkeit des sowjetischen Musiklebens hin,36 in dem an die Stelle des bürgerlichen Konzertwesens zwischen den musikalisch Ausführenden 131

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und dem breit gestreuten Publikum bereits jene „Sozialpartnerschaft“ getreten sei,37 die es auch in der DDR durch die staatliche Unterstützung von Laienspielgruppen und fortschrittsbetonten Konzerteinführungen anzustreben gelte. Ja, Knepler erklärte erneut, daß eine solche Entwicklung nur unter „sozialistischen Verhältnissen“ möglich sei,38 während man im Westen unter Musik – ohne irgendwelche menschheitlichen Hoffnungen – weiterhin lediglich einen unverbindlichen Ohrenschmaus oder eine ablenkende Unterhaltung verstehe. Deshalb forderte er, daß man in der DDR sowohl dem traditionellen KlassikKult als auch den Gefahren jener rein gefühlsmäßig einstimmenden Popmusik entgegentreten müsse, die sich in ihren Texten weitgehend auf das Genre der Silly Love Songs beschränke. Statt dessen solle man sich in Zukunft bemühen, auch in allen Formen der Musik eine die Gesamtbevölkerung eingreifende Wirkung anzustreben, die ihr das Gefühl eines Übertritts in eine neue Menschheitsphase vermitteln würde. Ebenso kritisch, ja kämpferisch wirkt das, was Knepler gegen Ende dieses Bandes über jene westdeutschen Studien zur Musikgeschichte des 19.  Jahrhunderts zu sagen hatte, von denen seit 1969 annähernd 50 Bände erschienen waren, deren positivistisch zusammengetragene Materialfülle zwar zu loben sei, denen jedoch jeder Sinn für den nur gesamtgesellschaftlich zu erklärenden Geschichtsverlauf fehle. Statt der Frage nachzugehen, auf welcher Seite der politischen Auseinandersetzungen der jeweilige Komponist oder Musikkritiker gestanden habe, und damit die Relevanz seiner Ansichten im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts herauszuarbeiten, werde immer wieder nur von den Fortschritten der musikalischen Materialentwicklung gesprochen. Daher gebe es in fast allen Bänden dieser Reihe – von einem linksliberalen Autor wie Tibor Kneif einmal abgesehen – weder das Phänomen des Sozialismus noch das Phänomen des Kapitalismus. Alle Akteure der Musikgeschichte dieses Zeitraums, die in diesen Bänden behandelt würden, seien offenbar nur „vom reinen Geist beseelt“ gewesen.39 Und 132

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das führe notwendig zu jener vordergründigen „Konzeptionslosigkeit“, die für weite Bereiche der westlichen Wissenschaftsbemühungen symptomatisch sei.40 Doch „keine Konzeption zu haben, ist auch eine“,41 wie Knepler ironischerweise erklärte, weil man damit indirekt jene ideologischen Taktiken unterstütze, mit denen der Kapitalismus die weiterhin bestehenden Klassengegensätze zu verschleiern oder zu übertünchen versuche. Auch nach dem Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks von 1989 wurde Knepler kein Wendehals, sondern blieb – nun schon über 80 Jahre alt – seinen bisherigen Anschauungen treu. Das belegt unter anderem seine mit verehrungsvoller Hingabe geschriebene Monographie Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen, die 1991 – anläßlich des 250. Geburtstags dieses Komponisten – wiederum beim Henschel Verlag erschien. In ihr wird Mozart – entgegen allen ideologischen Verharmlosungen dieses angeblichen Rokoko-Komponisten – durchweg als ein entschiedener Vertreter der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts charakterisiert, der sich nach seiner affektbetonten Abwendung vom Salzburger Hofzeremoniell in Wien der von Ignaz von Born geförderten Freimaurergesinnung angeschlossen habe,42 was nicht nur in seiner Adelskritik, sondern auch in seiner weltbürgerlich-humanistischen Oper Die Zauberflöte zum Ausdruck komme. Und das gebe seiner Musik, wie es immer wieder heißt, jene „mimetisch“ anfeuernde Qualität, die – für historisch geschulte Zuhörer – selbst in seinen Instrumentalwerken zu erkennen sei.43 Konsequenterweise beschloß Knepler diesen Band mit einem längeren Abschnitt über einige der bisherigen, von ihm als abwegig empfundenen Mozart-Deutungen, die aufgrund ihrer konservativen Gesinnung – seit der 1901 erschienenen Philosophie der Musik von Paul Moos – kein Verständnis für den aufklärerischen Grundzug in Mozarts Denken und Werken aufgebracht hätten. Das gelte selbst für Theodor W. Adorno, der – im Gegensatz zu einem DDRPhilosophen wie Wolfgang Heise – im Rahmen seiner Entfremdungstheorien jeden Rückbezug auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und 133

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damit irgendwelche spezifisch realistischen Ausdrucksformen innerhalb der Künste geleugnet habe, in denen ein fortschrittsbetontes Potential gegen die Widrigkeit der herrschenden politischen und sozioökonomischen Verhältnisse zum Ausdruck komme.44 Und diese Gesinnung sei nach 1989 sogar im Bereich der ehemaligen DDR dominierend geworden, wo man alle sozialistischen Hoffnungen, wie es abschließend heißt, durch das inzwischen eingeführte System der sogenannten Freien Marktwirtschaft brutal unterdrückt habe. Trotz oder vielmehr wegen dieser Entwicklung hielt Knepler auch in diesem Buch an seinen seit Jahrzehnten vertretenen Anschauungen fest und erklärte weiterhin: „Den Konjunktiv der Zukunftsvision in den Indikativ realer Menschheitsbeziehung umzusetzen, ist auch zweihundert Jahre nach Mozarts Tod die Aufgabe geblieben: bestünde Lieb und Brüderlichkeit.“45 Als Knepler 1996 90 Jahre alt wurde, entschlossen sich einige weiterhin linksgebliebene europäische Musikhistoriker – darunter neben überzeugten Sozialisten auch Anhänger der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie – unter Anleitung von Hanns-Werner Heister, ihn mit einer dreibändigen Festschrift zu ehren, der sie den provozierenden Titel Musik/Revolution gaben. Obwohl in diesen Bänden ein nicht zu übersehender Methodenpluralismus herrscht, der vom dialektischen Determinismus im Sinne einer prinzipiellen Bedingtheit und zugleich relativen Autonomie von Kunst à la Günter Mayer über das Konzept eines pluralen Marxismus à la Wolfgang Fritz Haug bis hin zu Anschauungsformen des sogenannten Linksliberalismus reicht, waren sich alle Beiträger und Beiträgerinnen grundsätzlich einig, daß man im Ankampf gegen die ideologische Ausdünnung der gegenwärtigen E-Musik sowie die gleichzeitigen verblödenden Tendenzen innerhalb der Unterhaltungsmusik weiterhin im Sinne Kneplers für eine diese Spaltung überbrückende A-Musik oder Allgemein-Musik eintreten müsse, um so die Erinnerung an eine kritisch-engagierte „Ästhetik des Widerstands“ gegen das Verschwinden aller möglichen Fortschrittskonzepte in der Musik wachzuhalten.46 134

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III Eine letzte Zusammenfassung seiner weltanschaulichen Konzepte strebte der inzwischen über 90  Jahre alt gewordene Knepler nach Beginn des 21. Jahrhunderts in seinem Buch Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit an, dessen halbvollendete Niederschrift Stefan Huth mit Hilfe von Hanns-Werner Heister, John Knepler, Günter Mayer, Werner Mittenzwei, Manfred Wekwerth und Peter Wicke bearbeitete und das darauf im Jahr 2004, ein Jahr nach Kneplers Tod, im Homilius Verlag in Berlin erschien. Statt sich resignierend auf die Interpretation von ihm besonders geschätzter Kompositionen zu beschränken, bemühte sich Knepler in diesem Band – unter Kapitelüberschriften wie „Darwins Evolutionstheorie“, „Marx’ Theorie von der Assoziation freier Produzenten“, „Menschwerdung“, „Die Herausbildung ethischer und ästhetischer Wertkriterien“, „Die Herausbildung von Herrschaftsformen“, „Der Kapitalismus“, „Gleichberechtigung“ sowie „Die Situation heute und die nächsten Schritte“ – fast ausschließlich um eine historisch-kritische Analyse der politischen Entwicklung von 1789 bis in die jüngste Gegenwart.47 Während Knepler bisher unter „Geschichte“ vor allem einen Weg zum Musikverständnis gesehen hatte, sah er jetzt im Eingehen auf Geschichtliches eher einen Weg zum Weltverständnis. Dieses Grundanliegen formulierte er bereits im ersten Absatz des Vorworts, wo es heißt: „Menschen sind auf diesem Planeten die einzigen Lebewesen, die Verhältnisse herbeigeführt haben, unter denen ein bis zwei Prozent der Gesamtpopulation die Macht haben, über alle anderen zu verfügen. Das Thema dieses Buches ist der Nachweis, daß diese barbarischen Verhältnisse überwindbar sind, die Methode des Buches ist, der Entstehungsgeschichte der Barbarei und der Menschlichkeit nachzugehen.“ Daraus folgerte Knepler – im Sinne der anderen in diesem Buch herausgestellten Partisanenprofessoren – auch und gerade für die Vertreter seiner Disziplin: „Wir müssen uns der Politik zuwenden. Wenn die theoretisch befähigten Musikwissenschaftler sich qualifiziert mit der Politik beschäftigen, 135

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werden sie auch ihr Fach besser begreifen, nicht zuletzt ihre Mitverantwortung für die Sicherung eines menschenwürdigen Lebens auf diesem Planeten.“48 Das war zwar höchst lapidar formuliert, drückte aber nochmals sein Verlangen aus, wenigstens mit seinen Schriften weiterhin ein Bekenntnis zu einem gesellschaftspolitisch „eingreifenden“ Denken abzulegen, statt im Zusammenbruch des osteuropäischen Staatssozialismus ein endgültiges Ende aller systemverändernden Tendenzen zu sehen. Und den Beweis seiner durch nichts gebrochenen Hoffnungen sah Knepler nach wie vor in der von Marx aufgestellten Theorie des historischen und zugleich dialektisch ausgerichteten Materialismus. Wobei es ihm hier vor allem ankam, war Folgendes. Während in den Schriften der meisten Historiker stets die „kriegerischen Konfrontationen eine ausführliche Darstellung“ gefunden hätten, wollte er in diesem Buch zeigen, daß es daneben zugleich auch viele „auf Kooperation gerichtete Entwicklungen“ gegeben habe,49 die von den Konservativen bisher gern unterschlagen oder negativ beschrieben worden seien. Ein Großteil seines Buchs beschäftigt sich deshalb mit den ständig erfolgten Aufständen, Revolten und Revolutionen innerhalb der Menschheitsgeschichte. Den Hauptnachdruck legte Knepler in diesem Zusammenhang auf die Amerikanische Revolution von 1775, die Französische Revolution von 1789 und die Sowjetische Oktoberrevolution von 1917, die mit vorbildlichem Elan gegen die älteren Herrschaftssysteme aufbegehrt hätten. Als das Endziel der von Knepler erhofften Geschichtsentwicklung wird dabei stets das von Marx anvisierte Ideal der „Freien Assoziation der freien Produzenten“ beschworen, das sich nur in einer sozialistischen Gesellschaft verwirklichen lasse,50 was jedoch bisher alle feudalistisch oder kapitalistisch orientierten Staaten immer wieder unterdrückt hätten. Der wichtigste Kapitelentwurf des Ganzen ist daher der Schlußabschnitt dieses Buchs, in dem Knepler über „Die Situation heute und die nächsten Schritte“ nachzusinnen versuchte. Als Hauptgegner der 136

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gegenwärtig auf eine stärkere Kooperation drängenden Staaten und Bevölkerungsschichten wird dabei durchgehend die „amerikanische Großbourgeoisie“ angeprangert, die seit den zwei Weltkriegen, aus denen sie wirtschaftlich gestärkt hervorgegangen sei, über eine „militärische, industrielle, diplomatische und geheimdienstliche Macht“ verfüge, welche sie in die Lage versetzt habe, „das Weltgeschehen weitgehend in ihrem Sinne zu bestimmen“.51 Eine Änderung dieser weltpolitischen Situation erhoffte sich Knepler bei der Niederschrift dieses Buchs, mit der er in den späten neunziger Jahren begonnen hatte, vor allem von China, Indien und Rußland, sprich: den drei menschenreichsten Ländern der Erde, in denen rund 45 Prozent der Weltbevölkerung lebten, die sich zwar „die Errungenschaften der kapitalistischen Produktion“ angeeignet hätten, ohne jedoch, wie er damals mit progressionsbetonter Naivität annahm, die damit verbundenen „kapitalistischen Verfahrensweisen und ihre unmenschlichen Auswirkungen zu übernehmen“.52 Dieser Umwandlungsprozeß, schrieb er, vollziehe sich seit 1959 vor allem in Kuba, seit 1992 in China, seit 1999 in Rußland und seit 2002 in Venezuela. In diesen Ländern schimmere endlich die Hoffnung auf, fuhr er fort, daß auch in anderen Teilen der Welt ähnliche Entwicklungen eintreten könnten. Nur so würde es – im Zuge solcher Umwandlungsprozesse – in einem Land nach dem anderen zu einer „Macht ohne Herrschaft“ kommen und damit die „drohenden Kriegsgefahren, die Zerstörung der Natur und all jenes Elend, in dem unzählige Menschen gezwungen wären zu leben“, endlich aufhören.53 Was einer solchen Entwicklung jedoch noch immer entgegenstehe, erklärte er mit beschwörender Geste, sei die ökonomische Machtposition und zugleich das Informationsmonopol der profitgierigen Großbourgeoisie in den Vereinigten Staaten, in Japan sowie in den Ländern West- und Mitteleuropas. Dieser Allianz entgegenzutreten, stellte daher Knepler als die wichtigste Aufgabe der Zukunft hin, um so jene ständig gefährlicher werdenden sozioökonomischen und ökologischen 137

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Auswirkungen der neoliberalen Globalisierungsstrategien zu verhindern, die durchaus, falls sie nicht aufgehalten würden, zum Untergang der Gesamtbevölkerung der Erde führen könnten. Die vorerst wichtigsten Mittel im Kampf gegen diese Gefahr sah er dabei auf ideologischer Ebene sowohl in einer verstärkten Rückbesinnung auf die kooperativen Bemühungen in der Vergangenheit als auch in dem Versuch, sich aller modernen Kommunikationsmittel zu bedienen, um so nicht nur die linksorientierten oder zumindest reformwilligen Intellektuellen, sondern auch und vor allem die ausgebeuteten und verelendeten Schichten in den Ländern der Dritten Welt zu erreichen und in ihnen die Hoffnung auf eine grundsätzliche Änderung ihrer Lage zu erwecken. Kurzum: trotz aller Widerspruchserfahrungen und Enttäuschungen gab sich also Knepler bis zu seinem Tode nie der Hoffnungslosigkeit oder gar dem Zynismus hin. Was ihn in seinem langen Leben immer wieder aufrechterhalten hatte, war weiterhin die Hoffnung auf die Realisierbarkeit wahrhaft menschenwürdiger Kultur- und Gesellschaftsverhältnisse, für die sich jeder verantwortungsbewußte Mensch, wie er immer wieder erklärte, bis zum Ende der Welt einsetzen solle. Er starb – nach wie vor denkend, planend und schreibend – am 14. Januar 2003 im Krankenhaus Köpenick im östlichen Teil Berlins. Wie gesagt, für einige seiner früheren Schüler und Sympathisanten, die inzwischen ebenfalls nicht mehr zu den Jüngsten gehörten, blieb Knepler auch in der Folgezeit ein Vorbild. Doch wer interessierte sich sonst noch für seine im besten Sinne „demokratisch“ ausgerichteten Musiktheorien, welche der Überwindung der weiterbestehenden Spaltung in eine massenbezogene U-Musik und eine bildungsbetonte E-Musik dienen sollten? Derartige Fragestellungen scheint der Gang der Geschichte – im Zuge seiner kulturellen Nivellierungstendenzen – inzwischen bedauerlicherweise hinter sich gelassen zu haben. Akut geblieben sind dagegen weiterhin Kneplers wirtschaftspolitische und ökologische Warnungen, die wesentlich dringlicher wirken. Auf seriöse 138

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Musik kann man notfalls verzichten, aber nicht auf Wasser, Brot und Luft, was sich nur durch die Einführung einer „sanfteren“ Industrie ermöglichen ließe, in der nicht mehr allein das kapitalistische Profitverlangen im Vordergrund stehen würde.

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Hans Mayer (1907–2001) Literaturwissenschaftler

I Wie soll man Hans Mayer charakterisieren? War er nicht ein Phänomen, das sich jeder eindeutigen Schilderung entzieht? Trotz der unleugbaren Brillanz seines Stils, die ihn von fast allen anderen Literaturwissenschaftlern unterscheidet, ist man beim Lesen seiner Schriften dennoch immer wieder frappiert, nicht einem, sondern vielen Mayers zu begegnen, die sich im vielstimmigen Gewirr ihrer Ansichten scheinbar zu widersprechen scheinen. Eine der ersten, welche diese Widersprüche aus dem wechselvollen Lebensgang Hans Mayers abzuleiten versuchte, war Inge Jens. Sie beschrieb ihn 1977 im Vorwort ihres Sammelbandes Über Hans Mayer folgendermaßen: „Ein Sohn des jüdischen Großbürgertums, der im Namen eines Karl Marx die Bourgeoisie, vor allem die Besitz- und Bildungsfronde, attackiert. Ein Jurist aus der Schule Hans Kelsens, der nicht nur auf dem Feld der belles lettres, sondern vor allem, als Theoretiker so gut wie als ausübender Künstler, auf dem Gebiet der Musikwissenschaft brilliert. Ein Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung, der in dem legendären Sammelband Autorität und Familie das Generalthema unter dem Aspekt des Anarchismus analysiert. Ein Anwalt der republikanischen Linken, der im Schweizer Exil, im Umkreis des konservativen Patriziers Carl Jacob Burckhardt, die Arbeit an einer Monographie über Georg Büchner beginnt. Ein Journalist, der, nach der Befreiung vom Faschismus, am Frankfurter Sender Konrad Adenauer interviewt und einige Jahre darauf an der Leipziger Universität, Seite an Seite mit Ernst Bloch und Werner Krauss, vor Studenten aus Halle und Moskau, aus Peking und Budapest Kollegs über europäische Geistesgeschichte hält. Ein Wissen-

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schaftler, der, mitten im Stalinismus, die verpönten Dekadenten vom Schlage der Kafka, Proust und Joyce verteidigt. Ein Immigrant von West nach Ost, ein Remigrant von Ost nach West, der nie zum Konvertiten wird, sondern, in Leipzig so gut wie in Hannover, in Chicago und in Tübingen, Literatur nur unter einem einzigen Gesichtspunkt befragt: ob sie geeignet sei, die Humanität zu befördern. Hans Mayer, ein Wissenschaftler und Schriftsteller zwischen den Fronten, dessen wichtigste Werke nicht zufällig dem Unbotmäßigen, den offenen und geheimen Aufrührern gelten: den Außenseitern und den Rebellen.“1 Besser läßt es sich auf knappem Raum kaum sagen. Ein Mann also, dessen Ideologie sich – bei aller humanitären Grundeinstellung – nicht auf einen allein gültigen Nenner bringen läßt, ja dessen verschiedene Engagementsformen einer wesentlich differenzierteren Analyse bedürfen als die Haltungen anderer Partisanenprofessoren aus der Zeit des Kalten Kriegs zwischen Ost und West. Schließlich hat sich Mayer nie einer eindeutig festgelegten Parteilinie angeschlossen, sondern ist – bei allem Eingehen auf bestimmte politische Situationen – stets seiner eigenen Überzeugung gefolgt. Und damit ist er bei den jeweils Herrschenden immer wieder angeeckt. Doch zugleich hat ihm diese Haltung in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts das Lob aller sogenannten linksliberalen Intellektuellen in Ost- und Westdeutschland eingebracht. Mögen ihn auch verhärtete Dogmatiker in der DDR sowie einige Reaktionäre in der BRD – ob versteckt oder offen – als „unzuverlässiges Chamäleon“ abgelehnt haben, die nonkonformistischen Professoren, Schriftsteller und geisteswissenschaftlich orientierten Studenten sahen in Hans Mayer lange Zeit eine der vorbildlichsten Gestalten jener Geisteshaltung, deren Vertreter trotz ihres Engagements für alles Humanitäre und Hochkulturelle jede direkte Parteilichkeit vermieden hätten, um sich nicht in ihrem eigenen geistigen Spielraum einengen zu lassen. Ja, für manche unter ihnen ist Hans Mayer bis heute der einzige wahrhaft „liberale“ Geist dieser Ära geblieben, der ihnen weiterhin eine uneingeschränkte Bewunderung abnötigt. 142

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II Als Hans Mayer am 19.  März 1907 als Sohn von Rudolf und Ida Mayer in Köln geboren wurde, schien die Welt für seine Eltern noch weitgehend in Ordnung zu sein. Sie waren zwar Juden, aber gehörten zu jener assimilierten, gutverdienenden bürgerlichen Mittelschicht, die es sich leisten konnte, in dem eleganten Vorort Neu-Ehrenfeld eine Jugendstilvilla zu kaufen und dort ein ihrer Vermögenslage entsprechendes „standesgemäßes“ Leben zu führen.2 Der Vater legte sich nicht nur eine kleine Gemäldesammlung mit Bildern von Oswald Achenbach, Franz Defregger und Franz von Lenbach an, also dem, was damals als „gut und teuer“ galt, sondern schickte seinen Sohn auch auf das renommierte Schiller-Gymnasium und ließ ihn zugleich zum Pianisten ausbilden. Als „gute deutsche Juden“ teilten seine Eltern im Herbst 1914 zudem die allgemeine Kriegsbegeisterung und hofften bis 1917, daß es zu einem „Siegfrieden“ kommen würde. In den ersten Nachkriegsjahren konnte Mayers Vater als Kaufmann im ExportImport-Gewerbe höchst lukrative Geschäfte machen. Nachdem sein Sohn 1924 sein Abitur bestanden hatte, legte er ihm nahe, Jura zu studieren. Und der junge Mayer folgte diesem Ratschlag. Nach seinem ersten Semester in Köln ging er vorübergehend nach Berlin und dann wieder zurück nach Köln. Als Sohn reicher Eltern konnte er sich in diesen Jahren im Bereich des Kulturlebens geradezu alles gönnen: die Kölner Gürzenich-Konzerte mit Otto Klemperer, das Piscator-Theater am Berliner Nollendorfplatz, die dortige Kroll-Oper, die Reinhardtschen Klassiker-Aufführungen sowie die Lektüre vieler literarischer Neuerscheinungen. Ja, selbst ein in linkskritischen Kreisen vieldiskutiertes Buch wie Geschichte und Klassenbewußtsein von Georg Lukács, das 1923 erschienen war, kaufte sich Mayer, welches ihn nicht nur als angehenden Juristen und Staatsrechtler ansprach, sondern auch seiner sozialpolitischen Orientierung eine neue Richtung gab. Aufgrund dieser „Wende“ schloß er sich im Herbst 1927 in Köln einer marxistischen Studentengruppe an, die sich im Gefolge Hein143

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rich Brandlers und August Thalheimers vor allem mit Fragen des Historischen Materialismus auseinandersetzte. Im Sommer 1930 legte Mayer sein erstes juristisches Staatsexamen ab und erhielt aufgrund einer Arbeit über Die Krise der deutschen Staatslehre und die Staatsauffassung Rudolf Smends den Titel eines Dr. jur. Wegen des überwältigenden Erfolgs der NSDAP bei den Septemberwahlen des gleichen Jahres verschrieb er sich danach immer stärker marxistischen Anschauungen, in denen er, wie er später erklärte, die einzige „Gegenposition zur bürgerlichen Umwelt“ sah.3 Und damit begann für ihn ein seltsames Doppelleben. Während er am Kölner Oberlandesgericht als Referendar arbeitete, wurde er zugleich Mitbegründer einer marxistisch orientierten Arbeiterzeitung mit dem Titel Der Rote Kämpfer, die einen Kurs links der SPD vertrat und sich bald darauf in den Dienst der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) stellte, deren Kölner Gruppe sich unter dem Einfluß Fritz Sternbergs mit antistalinistischer Ausrichtung zu leninistischen und trotzkistischen Gesinnungen bekannte.4 Im Jahr 1931 ging Mayer von der SAP zur KPDOpposition (KPO) über, die wie manche Nationalbolschewisten innerhalb der KPD einen deutschen Sozialismus befürwortete und angesichts der nazifaschistischen Bedrohung zu einer Einheitsfront von SPD und KPD aufrief. Als er Anfang 1932 als Referendar an einem Prozeß gegen Robert Ley, den späteren NS-Reichsarbeitsfrontführer, teilnahm, wurde er in Köln von SA-Männern auf offener Straße zusammengeschlagen. Trotz seines „marxistischen Rigorismus“ blieb Mayer jedoch auch in der Folgezeit ein „promovierter Bürgersohn“,5 der im Herbst 1932 wieder nach Berlin zurückkehrte, um sich dort auf das juristische Abschlußexamen vorzubereiten, das er am 4. Juli 1933 mit der Note „Voll befriedigend“ bestand, jedoch als Jude bereits sechs Tage später – aufgrund der antisemitischen Gesetze zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums – eine von Roland Freisler unterzeichnete Entlassungsurkunde aus dem deutschen Gerichtswesen erhielt. 144

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Nachdem er anschließend noch einige Wochen illegal für die KPO zu arbeiten versuchte, gelang es ihm im Spätherbst 1933 – kurz vor einer möglichen Verhaftung – mit Hilfe Brandlers nach Belgien zu entkommen, von wo aus er über Luxemburg nach Straßburg fuhr, um sich dort als Journalist für die KPO zu betätigen, da mit der Juristerei im Exil nicht viel anzufangen war und auch sein musikalisches Talent – aufgrund seiner kleinen Finger – nicht zu einer pianistischen Karriere ausgereicht hätte. In Straßburg angelangt, wandte sich Mayer umgehend an den ihm von Brandler empfohlenen Bürgermeister Charles Hueber, der ein linksorientierter Sozialdemokrat war. Hueber ermöglichte Mayer, die Redaktion der KPO-Zeitung Neue Welt zu übernehmen und dort jede Woche einen Leitartikel von Thalheimer abzudrucken. Doch dieses Blatt mußte schon Anfang 1934 aufgrund der antikommunistischen Stimmung im Elsaß eingestellt werden. Darauf verließ Mayer Straßburg und begab sich nach Paris, um sich bei Max Horkheimer, dem Leiter des ehemaligen Frankfurter Instituts für Sozialforschung, der einen Großteil des Gründungskapitals dieses Instituts ins Exil gerettet hatte, um ein Stipendium zu bewerben. Und Mayer erhielt auch eins, und zwar mit der Auflage, eine Studie über „Autorität und Familie in der Theorie des Anarchismus“ zu schreiben, die zwei Jahre später in dem von Horkheimer herausgegebenen Sammelband Autorität und Familie erschien.6 Während der Arbeit an dieser Studie wurde Mayer immer deutlicher, daß er weder zum Juristen noch zum Politiker und schon gar nicht zum germanistischen Universitätsprofessor, sondern eher zum „Schriftsteller“ befähigt war. Entsprechend trennte er sich 1935 von Brandler und Thalheimer und nahm auch keine Beziehungen zu den Kreisen der linksorientierten deutschen Emigration in Paris auf. Ja, er verließ sogar Frankreich und begab sich in die Schweiz. „Nicht Historie mehr oder gar Soziologie der Literatur, sondern Schöpfungen aus Sprache, Spiele der Einbildungskraft, das war es, was ich nun brauchte“, schrieb er später im Rückblick auf diese Entscheidung.216 Obwohl er 145

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weiterhin von Horkheimer unterstützt wurde, der ihn zu einer Studie über die Staats- und Rechtslehre des Dritten Reichs animierte, und auch trotz der engen Beziehung zu dem am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien tätigen Hans Kelsen widmete Mayer sich daher – unter dem Einfluß des hochgebildeten Schweizer Historikers Carl Jacob Burckhardt – immer stärker literarischen Fragestellungen, wobei ihn vor allem die Werke von Paul Verlaine, Marcel Proust, Jean Giraudoux und Robert Musil anzogen, über die er in Schweizer Zeitungen kurze Beiträge unterzubringen versuchte.8 Doch am intensivsten beschäftigte er sich in den nächsten Jahren mit dem gescheiterten Revolutionär Georg Büchner, der wie er aus Deutschland über Straßburg in die Schweiz geflohen war. Mayer sah damals in Büchner – wie in sich selber – vor allem einen Menschen zwischen „bürgerlicher und gegenbürgerlicher Existenz“. Im Sinne dieser Perspektive wollte er nachprüfen, ob Büchner in seinen Werken über die frühen „utopischen Sozialisten“ hinausgegangen sei, ob Dantons Tod das „notwendige Scheitern einer bürgerlichen Revolution repräsentiere“ und ob die Welt des Woyzeck in den Bereich „einer künftigen proletarischen Revolution“ hinüberweise. Doch das vermochte er nicht. Trotz aller historischen und gesellschaftlichen Studien blieb das Ganze anfangs vornehmlich ein Buch über die „Lebens- und Werktotalität eines ‚genialischen‘ jungen Menschen“.9 Und als Mayer sein Manuskript schließlich abgeschlossen hatte, brach im Herbst 1939 der Zweite Weltkrieg aus, so daß dieses Buch – wie vorher geplant – nicht mehr beim Oprecht Verlag in Zürich erscheinen konnte. Überhaupt begann danach für Mayer eine besonders schwierige Zeit. Der Zürcher Literaturkritiker Max Rychner ermöglichte ihm zwar, von Zeit zu Zeit unter wechselnden Pseudonymen Artikel für Schweizer Zeitungen zu schreiben, aber sonst sah er sich als „feindlicher Ausländer“ dauernd von Verhaftungen und Ausweisungen bedroht. Ja, ab 1940 wurde er mehrfach in sogenannte Arbeitslager für Emigranten eingeliefert. Da die Mehrheit der Mitinhaftierten dem 146

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„bürgerlichen Mittelstand“ entstammte, der „keine Gemeinschaft der Lebensziele kennt“, wie Mayer später in seinen Erinnerungen schrieb,10 fühlte er sich in der Folgezeit noch stärker isoliert als zuvor. Erst 1943 lernte er in einem dieser Lager in Michael Tschesno einen Gesinnungsgenossen kennen, mit dem er sich solidarisieren konnte. Mit ihm arbeitete Mayer deshalb ab 1944, als die bis dahin geltenden Schweizer Publikationsbeschränkungen allmählich nachließen, in der Redaktion Freies Deutschland zusammen und gab danach mit Eduard Claudius, Stephan Hermlin und Michael Tschesno die Flüchtlingszeitung Über die Grenzen heraus, die sich in ihrem politischen Teil für eine Synthese zwischen bürgerlicher Freiheit und sozialistischer Planwirtschaft, kurzum: für eine Weiterführung von Franklin D. Roosevelts NewDeal-Programmen und eine Demokratisierung der Sowjetunion einsetzte, was in manchem den Grundkonzepten von Thomas Manns Roman Joseph der Ernährer (1943) entsprach. Zu diesem Zeitpunkt wollte er sogar in die Kommunistische Partei aufgenommen werden, wozu es jedoch durch die Verwicklungen des Kriegsendes nicht mehr kam. Da sich Mayer als entschiedener Antifaschist und begabter Autor ausgewiesen hatte, nahmen ihn im Oktober 1945 einige amerikanische Offiziere von Zürich nach Frankfurt mit und brachten ihn anschließend in Bad Nauheim bei der DANA, einer Deutsch-Amerikanischen Nachrichtenagentur, unter. Dort bestand seine Hauptaufgabe darin, jene Tagesnachrichten auszuwählen, die anschließend an die bereits lizensierten deutschen Zeitungen in der US-Besatzungszone weitergeleitet wurden. Anfang 1946 wurde Mayer nicht nur zum hessischen Landesvorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) gewählt, sondern übernahm am 1. Mai desselben Jahres – auf Vermittlung des US-Kulturoffiziers Golo Mann – zugleich die Stelle des Chefredakteurs für Politik bei Radio Frankfurt. Im Rahmen dieser Funktion führte er daraufhin vielbeachtete Interviews mit Klaus und Golo Mann, Eugen Kogon, Theodor Heuss, Kurt Schumacher und 147

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sogar mit Konrad Adenauer, der damals – im Sinn des Ahlener Programms der Christlich-Demokratischen Union (CDU) – noch einen relativ linken Kurs vertrat. Zugleich brachte Mayer in diesem Jahr beim Wiesbadener Limes Verlag endlich sein Büchner-Buch heraus. Außerdem schrieb er mehrere Essays, unter anderem über Erich Fromm, Jean Giraudoux, Thomas Mann und Thornton Wilder, die ein Jahr später in dem mit Stephan Hermlin herausgegebenen Sammelband Ansichten über einige Bücher und Schriftsteller beim gleichen Verlag erschienen und kurz darauf auch bei dem inzwischen von Michael Tschesno in Ostberlin gegründeten Verlag Volk und Welt herauskamen. Doch dann sollte plötzlich alles anders kommen. Der Kalte Krieg setzte ein und Mayer wurde wegen seiner linkskritischen Radiokommentare eines seiner „ersten Opfer“.11 Mit anderen Worten: die Amerikaner setzten ihn einfach vor die Tür. Was Mayer darauf noch eine Weile über Wasser hielt, war eine Dozentur für Gesellschaftswissenschaften an der 1946 neugegründeten Frankfurter Akademie für Arbeit, wo er vor Studenten, welche die Gewerkschaftsleitung ausgewählt hatte, Vorlesungen über die Sozialtheorien von Rousseau, Marx und Max Weber hielt. Doch auch diese Tätigkeit schien keine feste Gewähr für eine dauerhafte Anstellung zu bieten, zumal er sich mit seinem 1947 geschriebenen Buch Karl Marx und das Elend des Geistes. Studien zur neuen deutschen Ideologie eindeutig als Linker geoutet hatte. Als ihm in dieser Situation Stephan Hermlin und Michael Tschesno rieten, nach Ostberlin überzusiedeln und sich innerhalb der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) um eine Professorenstelle für Germanistik zu bemühen, da man dort sein Büchner-Buch sicher als Habilitationsschrift anerkennen würde, schenkte Mayer daher diesen Vorschlägen durchaus Gehör. Schließlich verschärfte sich der Kalte Krieg in diesem Jahr geradezu von Monat zu Monat. So kam es etwa im Oktober 1947 beim Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß, den Johannes R. Becher als Präsident des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung 148

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Deutschlands nach Berlin einberufen hatte, erstmals zu bis dahin ungeahnten scharfen Auseinandersetzungen zwischen amerikanischen Journalisten und sowjetischen Schriftstellern, die selbst auf diesem Gebiet nichts Gutes verhießen. Mayer, der an dieser Tagung teilgenommen hatte, ließ sich angesichts dieser Entwicklungen dazu überreden, anschließend nach Leipzig zu fahren und an der dortigen Universität einige Probevorlesungen zur französischen Kulturentwicklung zwischen den beiden Weltkriegen zu halten. Doch bis es zu einer endgültigen Berufung kam, sollte noch ein Jahr vergehen, in dem sich der Kalte Krieg weiter intensivierte. So mußte Mayer in Frankfurt nicht nur erleben, daß sein Freund, der Kommunist Emil Carlebach, von den Amerikanern aus dem ursprünglich pluralistisch zusammengesetzten Redaktionsstab der Frankfurter Rundschau entfernt wurde, sondern auch, daß er 1948 auf einer Frankfurter Kulturtagung der einzige war, der sich nach wie vor für eine littérature engagée einsetzte, während sich alle anderen Sprecher in die ideologisch ungefährlichen Bereiche der poesie pure zurückzogen.12 Und als im Sommer 1948 im ehemaligen Breslau eine internationale Friedenskonferenz stattfand, an der 500  Intellektuelle und Künstler aus aller Welt – darunter Pablo Picasso, Georg Lukács, Hanns Eisler, Anna Seghers, Ernst Fischer und Alexander Fadejew – teilnahmen, war er der einzige, der aus dem Westen Deutschlands angereist kam. Als Mayer daher im September 1948 von der Leipziger Universitätsverwaltung aufgefordert wurde, bereits im folgenden Monat mit Vorlesungen und Seminaren zu beginnen, entschied er sich kurzentschlossen, zumal er in der amerikanischen Besatzungszone keine beruflichen Zukunftschancen mehr für sich sah, dieses Angebot unverzüglich anzunehmen. III Anfang Oktober 1948 traf Mayer termingerecht in Leipzig ein. Sein offizieller Titel lautete fortan Ordentlicher Professor für Kultursoziologie an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät und Professor für 149

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Geschichte und Soziologie der ausländischen Gegenwartsphilosophie an der Philosophischen Fakultät.13 Dementsprechend hielt er im Wintersemester 1948/49 bei den Gesellschaftswissenschaftlern die beiden Vorlesungen „Deutsche Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert (1805– 1848)“ und „Einführung in die Soziologie der Literatur“ sowie gab zwei Seminare, eins über „Die philosophischen Jugendschriften von Karl Marx“ und eins über die „Deutsche Ideologie“, während er an der Philosophischen Fakultät in seiner Vorlesung über „Gesellschaftskritiker der Gegenwart“ vor allem auf Ortega y Gasset, James Burnham, Jean-Paul Sartre und Georg Lukács einging. Obendrein wurde er als Kultursoziologe umgehend Mitglied des wissenschaftlichen Senats bei der sowjetzonalen Verwaltung für Volksbildung, dem späteren wissenschaftlichen Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Doch nicht nur das. Voller Vertrauen, endlich im „besseren Deutschland“ eine dem Fortschritt der Humanität dienende Anstellung gefunden zu haben, hielt er außerdem zahlreiche Vorträge in Halle, Dresden, Leipzig und Ostberlin, in denen er sich vor Hunderten, ja manchmal vor Tausenden von Zuhörern im Gefolge von Lukács sowie den führenden Kulturtheoretikern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu Goethe und Thomas Mann, als den progressivsten Vertretern der deutschen Literatur, bekannte. Zugleich sprach er sich in aller Deutlichkeit gegen das „Aufleben eines neuen Faschismus in Westdeutschland“ aus, der „von den alten Hitlerfaschisten und Militärs sowie von den dortigen Besatzungsmächten gefördert“ würde, was zu einer „unerhörten Kriegshetze gegen die Sowjetunion geführt habe“. Und damit werde in diesem Teil Deutschlands, fuhr er fort, „jede demokratische Erneuerung unterwühlt und verhindert“.14 Dieselbe Haltung bezog Mayer im folgenden Jahr. Wo auch immer sich eine Gelegenheit ergab, trat er sowohl in der SBZ als auch in den Westzonen als Redner auf, ob nun in Weimar vor Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend (FDJ), wo er am 21. März 1949 über „Goethe 150

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in unserer Zeit“ sprach,15 am 17. Oktober, wo er in Dresden die offizielle Festrede bei der Frédéric-Chopin-Gedenkfeier hielt, oder Mitte Dezember, wo er sich in Hannover, Düsseldorf, Frankfurt und Münster kritisch über die in Westdeutschland einsetzende politische Restauration ausließ.16 Ja, die inzwischen eingetretene Teilung Deutschlands bestärkte Mayers positive Einstellung zu der im Westen verpönten DDR eher, als daß sie ihn an seinen Anschauungen zweifeln ließ. Daß man in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) den Antifaschismus gegen den Antikommunismus ausgetauscht habe, fand er zutiefst beschämend, ja fast wie eine Fortsetzung von Hitlers Haß gegen die Sowjetunion. Ebenso empörend fand er, wie wenig Beachtung man jenseits der Elbe den Exilschriftstellern schenke. Von Thomas Mann – wegen seiner Teilnahme an den Weimarer Goethefeiern im Herbst 1949 sowie wegen seiner Äußerung, daß der „Antibolschewismus eine der Grundtorheiten“ des 20. Jahrhunderts sei17 – als einem „Handlanger des Schinderregimes in der Sowjetzone“ zu sprechen, sei so infam gewesen, erklärte er, daß es ihm fast die Sprache verschlagen habe – ganz zu schweigen davon, Bertolt Brecht à la Heinrich von Brentano mit Horst Wessel zu vergleichen. Um solchen Diffamierungen entgegenzutreten, hielt Mayer, der bereits zwei Jahre zuvor Thomas Manns Doktor Faustus geradezu verehrungsvoll gerühmt hatte,18 am 9. Juni 1950 zu Manns Geburtstag im Ostberliner Rundfunk eine ihn feiernde Festrede19 und brachte kurz darauf seine große Mann-Monographie unter dem Titel Thomas Mann. Werk und Entwicklung heraus, in der er sich, wiederum im Sinne von Georg Lukács, ausdrücklich zu der humanistisch-demokratischen Gesinnung dieses großen kritischen Realisten bekannte. Zu Brecht hatte sich Mayer bereits 1949 in der Ostberliner Zeitschrift Sinn und Form in seinem antiwestlich gemeinten Aufsatz Bertolt Brecht und die plebejische Tradition bekannt.20 Dieser Aufsatz imponierte Brecht so sehr, daß er Mayer Anfang 1950 aufforderte, bei seiner Inszenierung des Lenzschen Hofmeister mitzuwirken, worauf dieser sofort einging.21 151

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All das wurde Mayer in Westdeutschland selbstverständlich verübelt. Als er daher am 11. September 1950 in Frankfurt bei einer Veranstaltung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes eine Rede halten wollte, wurde er sogar vorübergehend von der dortigen Polizei festgenommen, um so zu verhindern, sich kritisch über die BRD aussprechen zu können.22 Doch das entmutigte ihn keineswegs, auch weiterhin bestimmte reaktionäre Tendenzen in den politischen und kulturellen Ideologiebildungen der BRD unter die Lupe zu nehmen. So äußerte er sich etwa 1951 bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik – im Gegensatz zu Theodor W. Adorno – äußerst kritisch über die dort herrschende einseitige Schönberg-Verkultung, die lediglich beweise, wie ortlos diese Art der Musik geworden sei, die überhaupt keinen Widerhall bei einem breiteren Publikum finde.23 Wie viele andere „Kulturschaffende“ in der DDR war Mayer zu diesem Zeitpunkt noch fest von der Hoffnung beseelt, daß sich trotz aller „objektiven Schwierigkeiten“ auf wirtschaftlichem Gebiet und trotz der negativen Einflüsse der „Russen“ die DDR zu einem antifaschistischen, friedliebenden Staat entwickeln würde, in dem er als „kultureller Festredner vom Dienst“ die ihm gemäße Rolle spielen könne.24 Er bemühte sich daher um den dafür nötigen Kontakt zu Alexander Abusch, Johannes R. Becher, Wilhelm Girnus, Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck – und fand ihn auch. Auch seine Lehrerfolge in Leipzig, wo er in seinen Vorlesungen meist vor 400 Studenten sprach, befriedigten ihn zutiefst. Dieser Staat, wie er annahm, schien also auf dem besten Wege zu sein. Dagegen hörte er, daß die Adenauer-Regierung im Sommer 1951 sowohl die FDJ als auch den Rat der VVN verboten habe. Ja, im Oktober 1952 wurde sogar der gesamtdeutsche Kulturtag in Bayreuth vom bayrischen Innenministerium untersagt und einige der bereits aus dem Osten angereisten Teilnehmer wieder abgeschoben. All das bestärkte Mayer in der Überzeugung, in Leipzig am richtigen Ort zu sein. Er sah zwar, daß auch in der DDR auf kulturellem Gebiet einige Fehlentscheidungen getroffen wurden. „Aber wir werden auch 152

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das überwinden“, schrieb er am 30. März 1953 an Johannes R. Becher.25 Wissenschaftlich war er in diesem Zeitraum vor allem mit der Herausgabe der zwölfbändigen Thomas-Mann-Gesamtausgabe für den Aufbau Verlag beschäftigt, die er bis zum 12. August 1955, dem 80. Geburtstag Manns, abschließen konnte und für die er im gleichen Jahr den DDRNationalpreis erhielt. Doch auch Richard Wagner, der Lieblingskomponist Thomas Manns, zog ihn immer wieder in seinen Bann, über dessen ideologische Entwicklung er – trotz der kritischen Vorbehalte des Ostberliner Musikhistorikers Georg Knepler – 1953 in Sinn und Form einen 50 Seiten langen positiv gestimmten Aufsatz publizierte.26 Nicht minder lebhaft war Mayers gleichbleibendes Interesse an Goethe, über den Wilhelm Girnus, der spätere SED-Sekretär für das Hochschulwesen, am 28.  Januar 1953 bei ihm promovierte. Vor allem an der ins Positive verklärten Bedeutung von Goethes Faust duldete er, wie Becher und Ulbricht, keinen Zweifel, weshalb er die ins Negative umfunktionierte Haltung dieser Figur in Hanns Eislers Doktor Faustus als „mißglückt“ ablehnte.27 Auch daß der antibürgerlich eingestellte Brecht über Mayers Vorliebe für Goethe, Wagner und Thomas Mann manchmal recht mißmutig die Nase rümpfte, ärgerte ihn.28 Doch wirkliche Widersacher hatte Mayer – außer dem autoritären Leipziger Altgermanisten Theodor Frings und dem Direktor der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar Gerhard Scholz, den er als einen „ideologischen Besserwisser“ empfand – in den frühen fünfziger Jahren in Ostdeutschland kaum.29 Im Gegenteil. Selbst mit einigen sozialistisch orientierten Autorinnen und Autoren der DDR, wie Johannes R. Becher, Willi Bredel, Eduard Claudius, Franz Fühmann, Louis Fürnberg, Stephan Hermlin, Peter Huchel, Anna Seghers und Bodo Uhse, war er eng befreundet. Auch im Westen schätzten ihn einige Schriftsteller und Kritiker, darunter Heinrich Böll, Max Frisch, Walter Jens, Hans Werner Richter und Max Rychner. Eine Wende in dieser Hinsicht trat erst im Jahr 1956 ein. Durch die Abrechnung mit Stalin, die Nikita Chruschtschow im Sommer dieses 153

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Jahres auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) in Moskau vornahm, kam es plötzlich auch in der DDR zu einer ideologischen „Tauwetter“-Phase, in der manche der dortigen Intellektuellen, die spätestens seit dem 17. Juni 1953 mit dem stalinistischen Führungsstil der SED unter Walter Ulbricht unzufrieden waren, eine Chance sahen, auf eine Lockerung der starren Parteistrukturen zu drängen. Das gilt vor allem für Wolfgang Harich, der mit Ernst Bloch die Zeitschrift für Philosophie herausgab und wie zuvor Franz Dahlem eher einen deutschen als einen sowjetischen Weg zum Sozialismus ins Auge faßte.30 Als Harich diese Gesinnung auch in der Öffentlichkeit vertrat, wurde er erst gerügt und dann – nach dem gescheiterten Ungarn-Aufstand – am 29.  November 1956 verhaftet und schließlich zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, während Bloch, der sich mit seiner Kritik vorsichtiger verhalten hatte, lediglich sein Lehramt verlor. Mayer, der Harich wegen dessen abfälliger Kritik seines Thomas-Mann-Buchs nicht leiden konnte,31 nahm an dieser Affäre nur indirekt teil. Die sogenannte Tauwetteratmosphäre beflügelte ihn lediglich, endlich einmal jene literarischen Produkte des Sozialistischen Realismus bloßzustellen, die an ästhetischer Qualität weit hinter dem bereits in der Weimarer Republik erreichten Niveau zurückgeblieben seien. Er faßte diese Anschauung in einem thesenartigen Essay unter dem Titel Unsere gegenwärtige Literatur zusammen, den er im Ostberliner Sonntag abdrucken ließ, während er sich eine gleichlautende Sendung im Westdeutschen Rundfunk ausdrücklich verbat, um „der DDR in der gegenwärtigen Situation nicht zu schaden“.32 Vor allem Kurt Hager, Alfred Kurella und Hans-Günther Thalheim warfen ihm darauf eine elitäre Gesinnung vor, die weniger die inhaltlichen als die formalen Qualitäten von Literatur ins Auge fasse und daher noch immer keinen Zugang zu den jüngsten Werken der DDR-Literatur gefunden habe.33 Mayer schwieg zu all diesen Angriffen wohlweislich, da er wußte, sich mit seinen Ansichten in der gereizten politischen und kul154

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turellen Atmosphäre des Jahres 1957 doch nicht durchsetzen zu können. Seine Stimmung war daher in der Folgezeit nicht gerade die beste. Vor allem eine seit langem geplante Reise nach Moskau, wo er alles „altmodisch“ fand, erheiterte ihn keineswegs. Auch daß ihm zu seinem 50. Geburtstag am 19. März nicht die erwarteten Ehrungen erwiesen wurden, verbitterte ihn. Ebenso verärgert war Mayer, daß er 1957/58 in der DDR fast keine Vortragseinladungen mehr erhielt. Selbst seine Studenten, die sich „aus ernsten und erfahrenen Arbeiterkindern“ zusehends in karrierebetonte „FDJler auf dem Wege nach oben“ verwandelten, interessierten ihn danach nicht mehr so wie noch um 1950.34 In der Folgezeit ließ deshalb Mayers Engagement für DDR-interne Fragestellungen merklich nach, was dazu führte, daß ihm die Leipziger SED-Bezirksleitung unter Paul Frölich immer weniger Wohlwollen entgegenbrachte, ja sogar am 26. März 1957 in einer lokalen Parteiversammlung seine ideologische Unzuverlässigkeit ausdrücklich rügte.35 Was ihm dabei in aller Offenheit, wie auch in verschiedenen Geheimberichten, vorgeworfen wurde, war nicht nur sein mangelnder Einsatz für die Literatur des Sozialistischen Realismus, sondern auch seine Ichbezogenheit, nämlich alles lediglich „nach dem Nutzen für sein Prestige, für seine Person zu betrachten“.36 Dagegen hielt sich die Ostberliner Parteispitze im Hinblick auf Mayer eher zurück. Zwar kritisierten auch hier Alexander Abusch und Kurt Hager Mitte Juli 1957 auf der 32.  Tagung des Zentralkomitees der SED, wie schon vorher Alfred Kurella, die ideologischen „Abweichungen“ Mayers,37 zogen aber daraus keine weiteren Konsequenzen, zumal ihnen bekannt war, daß Johannes R. Becher und Walter Ulbricht aus taktischen Gründen weiterhin ihre schützende Hand über ihn hielten. Und das wußte vor allem Kurt Hager, der daraufhin im Juli 1958 Mayer zu einem „klärenden Gespräch“ nach Ostberlin einlud, das offenbar in gutem Einvernehmen endete.38 Daraufhin gab Mayer seine „nörgelnde“ Einstellung vorübergehend auf und bekannte sich in öffentlichen Reden und Sitzungen 155

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sowie in seinen Lehrveranstaltungen – wenn auch ohne jede übertriebene Kompromißbereitschaft – wieder zu vielen ideologischen Zielsetzungen der SED, wobei er vor allem deren Friedensbereitschaft und deren antifaschistische Haltung herausstrich. Dennoch hinterließen diese Auseinandersetzungen ein spürbares Mißbehagen bei ihm. Doch im Vertrauen darauf, daß die SED es nicht wagen würde, ihn, den allbekannten Star der Germanistik in der DDR, aus seinem Amt zu entfernen, beschäftigte sich Mayer auch in der Folgezeit nach wie vor eher mit den Großleistungen der älteren bürgerlichen Kunst als mit den von ihm als medioker eingeschätzten Werken der sozialistisch ausgerichteten DDR-Literatur. Außerdem intensivierte er in den folgenden Jahren seine Westkontakte, was zwar von der SED nicht gern gesehen, aber geduldet wurde. So schrieb er 1958/59 nicht nur eine – fast im Geist Thomas Manns verfaßte – positiv gestimmte Richard-Wagner-Biographie, die ein Jahr später im Hamburger Rowohlt Verlag erschien, sondern nahm im selben Jahr auch eine Einladung Hans Werner Richters an, als Literaturkritiker an einem Treffen der Gruppe  47 im bayrischen Elmau teilzunehmen. Andererseits beteuerte er selbst in diesem Zeitraum immer wieder, daß es keine „Mittlerposition zwischen den beiden deutschen Staaten geben könne“ und „jede Republikflucht lediglich das Potential der Dulles und Rockefeller stärken“ würde.39 Doch dann kam es erneut zu Vorfällen, die Mayer gegen die DDR einnahmen. Was ihn besonders empörte, war, daß ihn sein Leipziger Kollege, der Altgermanist Theodor Frings, in einem Parteigutachten als einen „Journalisten“ mit einem „ehrgeizigen und unberechenbaren Charakter“ abkanzelte, um so die Aufnahme Mayers in die Ostberliner Akademie der Wissenschaften zu hintertreiben.40 Aber selbst das ließ er noch durchgehen. Auch daß einige seiner Studenten den von ihm eingeladenen Peter Hacks, der mit ihnen sein von der SED kritisiertes Stück Die Sorgen und die Macht diskutieren sollte, als republikschädlich bezeichneten, fand Mayer zwar „banausisch“, nahm aber solche 156

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Äußerungen nicht weiter übel. Was ihn dagegen maßlos erbitterte, war der gegen ihn gerichtete Artikel Eine Lehrmeinung zuviel. Hat die Partei wirklich kein Recht, in der Kunst mitzureden?, den der Student Volker Beyrich am 30.  Mai 1963 in der Universitätszeitung der Karl MarxUniversität abdrucken ließ.41 Mayer zog daraus die Konsequenz, gegen Ende einer seiner Westreisen, die ihm die SED-Leitung weiterhin erlaubte, im August desselben Jahres nicht wieder in die DDR zurückzukehren. Diesen Entschluß machte er am 2. September auf einer Hamburger Pressekonferenz auch öffentlich bekannt.42 Und er blieb bei seiner Entscheidung sogar, als er erfuhr, daß ihm Wilhelm Girnus hinterhergefahren sei, um ihn zur Umkehr zu bewegen, da man in Ostberlin die „Leipziger Intrigen“ gegen ihn ausdrücklich „mißbilligt“ habe.43 Was ihn danach besonders empörte, war jener Brief, den das Leipziger Institut für Deutsche Literaturwissenschaft am 4. September im Neuen Deutschland publizierte, in dem es hieß: „Hans Mayer, der entgegen seinen Behauptungen kein Anhänger des Marxismus ist, entwickelte in seinen Publikationen und Lehrveranstaltungen Ansichten, die von marxistischen Literaturwissenschaftlern, darunter auch einen großen Teil seiner Schüler, nicht unwidersprochen hingenommen wurden. Mayer aber lehnte einen wissenschaftlichen Meinungsstreit, den er selbst gegen andere so gern führte, für seine Person ab. Der oftmals geäußerte Wunsch zu klärenden Gesprächen wurde von ihm demonstrativ überhört. Er hüllte sich in Schweigen. Durch den jetzt unternommenen Schritt hat er sich zum Gegenstand einer schon lange von ihm ersehnten Pressesensation gemacht und den Gegnern der Deutschen Demokratischen Republik Stoff für ihre Hetze gegen den Arbeiter-und-Bauern-Staat geliefert. Er hat damit die progressiven Meinungen, die seine Schriften je enthielten, selbst Lügen gestraft.“44 In einer Erklärung des Ministeriums für Staatssicherheit vom 9.  September wurde ihm außerdem nochmals seine Geringschätzung der sozialistischen Literatur der DDR und der UdSSR vorgeworfen, die „in der Westzone, der Schweiz und Öster157

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reich“ als willkommenes Argument „gegen unsere sozialistische Kulturpolitik“ ausgeschlachtet worden sei.45 IV Nach diesem sensationellen „Übertritt“ ging Mayer erst einmal nach Tübingen, wo sich 1961 Ernst Bloch niedergelassen hatte und als Honorarprofessor tätig war. Da Mayer jedoch im Westen als weitaus „linker“ galt als Bloch, bot man ihm dort nicht sofort eine Professur an. Vor allem die „Sau“ Benno von Wiese, die über die nötigen altfaschistischen Seilschaften verfügte, wie Mayer später erklärte,46 habe das zu verhindern gewußt. Daher mußte er froh sein, daß ihm – nachdem er eine Zeitlang für Die Zeit sowie den Nordwestdeutschen Rundfunk gearbeitet hatte – wenigstens Peter von Oertzen im Sommer 1965 eine Professur an der Technischen Hochschule in Hannover anbot, deren Lehrangebot damals wie an der TU Aachen und der TU Westberlin ins Geisteswissenschaftliche erweitert wurde. Wohl hat sich Mayer dort nicht gefühlt, ja manchmal fast nostalgisch auf seine Zeit in Leipzig zurückgeblickt. „Es war keine Heimkehr“, wie er später schrieb, sondern eher das „Verlassen einer Heimat“.47 Doch es war eine feste Anstellung, die ihm Zeit ließ, eine Reihe von Büchern unter Titeln wie Zur deutschen Literatur der Zeit (1967), Gerhart Hauptmann (1967), Das Geschehen und das Schweigen. Aspekte der Literatur (1969), Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Literatur (1971) und Brecht in der Geschichte (1971) sowie eine Fülle von Aufsätzen zu Wagners Tristan, zur Romantik-Forschung, Robert Musil, Martin Andersen Nexö, Hermann Hesse, Jean-Paul Sartre, Uwe Johnson, Walter Jens, Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Peter Huchel, Alfred Döblin, Thomas Mann, Karl Marx, Goethes Faust II und Brechts Gedichte zu schreiben, in denen er seine ältere Vorliebe für linksgerichtete Ansichten, wie auch in seiner 1972 herauskommenden Einleitung zu dem Band Heinrich Heine. Beiträge zur deutschen Ideologie, keineswegs verleugnete. Trotz der weiterwirkenden Verärgerung über die Vorgänge in 158

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seinen letzten Leipziger Jahren ließ er sich in all diesen Publikationen nie dazu hinreißen, sich kritisch über die DDR zu äußern. Er blieb, was er war: ein engagierter Literaturkritiker, der zwar von allen Werken der Kunst eine formale Vollendung, aber zugleich eine humanistische, friedliebende, antifaschistische Gesinnung verlangte. Eine vordergründige Bekenntnisliteratur ohne ästhetischen Anspruch, und zwar gleichviel welcher ideologischen Couleur, lehnte er auch in diesen Jahren rundweg ab. Als es darum 1967/68 auch in Hannover zu linksgerichteten Studentenunruhen kam, unterschied er sehr genau zwischen Bekenntnissen zu einem bedeutenden Dichter wie Bertolt Brecht sowie Bekenntnissen zu zweitrangigen sozialistischen Zweckschriftstellern. Sich allein mit Georg Weerth, also dem „ersten Dichter des deutschen Proletariats“ zu beschäftigen, fand er nicht „abendfüllend“.48 Überhaupt sah er in manchen der damals geäußerten Lobhudeleien derartiger Autoren lediglich salonbolschewistische „Luxusgaben“ leninistischer Parolen.49 Überzeugt von der Richtigkeit seiner eigenen Anschauungen erklärte daher Mayer jenen Studenten gegenüber, die sich auch in Hannover für die Schaffung einer Kritischen Universität nach dem Westberliner Modell einsetzten: „Wir brauchen keine solche Institution. Die Gegenuniversität – bin ich selbst!“50 Er ließ deshalb nicht davon ab, sogar in diesen Jahren weiterhin über jene Autoren und Komponisten, wie Lessing, Goethe, Kleist, Büchner, Heine und Richard Wagner, zu schreiben und zu reden, in denen er die wichtigsten Vertreter des humanistischen Erbes in der deutschen Kultur sah. Obwohl Mayer schon vorher von den literaturinteressierten Kreisen in Westdeutschland gebührend wahrgenommen worden war, wurde er durch all diese Veröffentlichungen und Vorträge auch diesseits der Elbe immer bekannter, ja stieg zu einem der vielgelesenen Suhrkamp-Autoren auf. Er war daher froh, sich 1972 in Hannover emeritieren zu lassen, um endlich ausreichend Zeit zu haben, noch 159

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mehr publizieren zu können. Allerdings gönnte er sich danach erst einmal eine kurze Urlaubsreise und nahm dann eine ihn nicht allzu einengende Professur am Institute for Twentieth Century Studies der University of Wisconsin in Milwaukee an, wo er an seinem Buch Außenseiter zu arbeiten begann, das ihn nach seinem Erscheinen im Jahr 1975 in den akademischen Zirkeln der westlichen Welt geradezu weltberühmt machte. In Milwaukee erhielt er nicht nur einen Ehrendoktor, sondern nahm zugleich die Gelegenheit wahr, an den Wisconsin Workshops in Madison teilzunehmen, wo er sich vor allem mit George L. Mosse anfreundete51 und einen Vortrag über seine Teilnahme an dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß im Jahr 1947 hielt.52 Er wagte sogar bei einer der dortigen Autorenkonferenzen, auf der unter anderem Nathalie Sarraute und Fernando Arrabal sprachen, einen englischsprachigen Vortrag über homosexuelle Graffiti auf Herrenklos zu halten, welcher fast alle der sich prüde gebenden Amerikaner zutiefst schockierte. Da Mayers Buch Außenseiter, in dem es um Frauen, Homosexuelle und Juden geht, fast gleichzeitig mit dem nicht weniger Aufsehen erregenden Buch Der kleine Unterschied und seine großen Folgen von Alice Schwarzer herauskam, sprach es vor allem die Vertreterinnen der sich zu diesem Zeitpunkt herausbildenden Zweiten Welle des Feminismus sowie die Anhänger der erstmals öffentlich auftretenden Schwulenbewegung an. Im Gegensatz zu den linksgerichteten Hoffnungen Mayers in der unmittelbaren Nachkriegszeit und dann der frühen DDR lag diesem Buch bereits die Erfahrung des stalinistischen Dogmatismus in den Ostblockländern sowie die der kurzlebigen Studentenrebellion der Zeit um 1970 zugrunde. Schon in seinem ersten Satz konstatierte er geradezu apodiktisch, daß „die bürgerliche Aufklärung gescheitert“ sei. Allerdings behauptete Mayer – nach diesem geradezu vernichtenden Diktum – im Gegensatz zu Theodor W. Adornos negativer Dialektik, daß damit keine totale Niederlage gemeint sei. Statt dessen erklärte er weiterhin in gut marxistischer Tradition, daß 160

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man der „Bourgeoisie ihre Postulate entwinden“ und „neuen gesellschaftlichen Trägern“ die Chance geben müsse, „im Kampf gegen die einstigen bürgerlichen Protagonisten“ alle bisher unterdrückten Gleichheitsforderungen endlich in die Tat umzusetzen,53 wobei er sich nachdrücklich auf Ernst Blochs Prinzip Hoffnung berief. Diese These versuchte er dann auf den nächsten 460  Seiten mit einer geradezu unüberbietbaren Fülle an Beispielen aus allen Bereichen der Kunst, Geschichte, Philosophie und Gesellschaftswissenschaft zu belegen. Statt sich dabei auf jene Denkrichtung, die jede „sogenannte Personalisierung“ verachte und „allein die Kollektivitäten anerkenne“, zu beschränken, zog er dabei immer wieder bestimmte querstehende Einzelfälle heran, um so jenes „fetischisierte Denken“ zu vermeiden, das sich lediglich mit der allgemein gehaltenen Phrase „einer zu erlösenden Menschheit“ begnüge.54 Das war – in deutlicher Distanz zu irgendwelchen vulgärmaterialistischen Verallgemeinerungen als auch im Sinne eines möglichen Vorscheindenkens – so klar und zugleich so ambivalent wie nur möglich ausgedrückt. Und im Zeichen dieser Doppeldeutigkeit steht auch alles Weitere, was Hans Mayer in den achtziger Jahren und der Nachwendezeit zu Papier gebracht hat. In jedem der daraufhin erschienenen Bücher und Essays – weder in Leipzig noch in Hannover lehrend, das heißt nicht mehr im unmittelbaren Kontakt mit jungen Menschen – nahm sein Denken und Schreiben in der Folgezeit immer stärker den Charakter des Zurückblickenden, Erinnernden an. Den Auftakt dazu bildete seine zweibändige Autobiographie Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, welche 1984 herauskam. Zwar wirkt sie äußerst ichbezogen, bemüht sich aber zugleich um eine als fair ausgegebene Darstellung der beiden Deutschländer. Während andere aus der DDR in die BRD geflohene Ostler in diesen Jahren gern à la Wolf Biermann mit ihrem Dissidentenstatus kokettierten und sich so scharf wie möglich von ihrer DDR-Vergangenheit abzusetzen versuchten, um sich im Westen lieb Kind zu machen, hörte Mayer nicht auf, die 161

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Pro- und Kontraaspekte beider deutschen Staaten herauszustellen. Dafür spricht schon der erste Satz, mit dem er das Kapitel über seine Zeit in Leipzig einleitete: „Nein, sie haben mich nicht gereut, meine fünfzehn Jahre vom Oktober 1948 bis zum August 1963.“55 Aber er verschwieg im Folgenden auch nicht, wie sehr ihm dort die stalinistischen Verfehlungen in der DDR-Kulturpolitik zugesetzt hätten. Ähnlich zweischneidig wirkt vieles, was Mayer über die kulturellen Verhältnisse in der BRD äußerte. Während im Osten, wie er schrieb, die Literatur zwar ein bevormundeter, weil wesentlicher „Bestandteil der Politik“ sei,56 nähmen im Westen „die Mächtigen die Literatur überhaupt nicht ernst“, weil hier die „Gesetze der giftigen Geldwirtschaft herrschten“. Deshalb sei in der BRD – trotz manchen guten Willens – „von den älteren Kulturtraditionen kaum etwas übrig geblieben“.57 Und von dieser Haltung ließ sich Mayer auch in der Folgezeit nicht abbringen. Dafür spricht vor allem das lange Gespräch, das er 1985 im Westdeutschen Fernsehen mit Günter Gaus führte, in dem er in aller Offenheit zugab, bis 1950 „Kommunist“ gewesen zu sein und auch heute noch glaube, daß der Kapitalismus nicht jene Ideologie sei, die den Menschen die Möglichkeit zu einem würdigen und kulturvollen Leben biete. Daß Mayer an dieser Sehweise selbst nach der sogenannten Wende von 1989 festhielt, belegt vor allem sein Buch Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik, das 1991 bei Suhrkamp erschien und sich wohltuend von all jenen Büchern unterscheidet, welche jene „Wendehälse“ in den frühen neunziger Jahren herausbrachten, die jetzt voller Häme auf die von ihnen ehemals so positiv herausgestrichene DDR zurückblickten. In ihm sparte zwar Mayer wiederum nicht an scharfen Ausfällen gegen den Dogmatismus mancher DDR-Kulturtheoretiker, beteuerte aber immer wieder, daß man diesen Staat nicht nur von seinem kläglichen Ende, sondern auch von seinen hoffnungsvollen Anfängen her beurteilen solle.58 Zwischen 1945 und 1953 sei dort nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus 162

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„alles noch Anfang, Hoffnung, Aufatmen“ gewesen.59 Ja, er schrieb sogar: „Die offenkundigen Untaten dieses Staates und seiner mit ihm zugrunde gegangenen Lenker können die vielen Hoffnungen, Leistungen und Ausdrucksformen nicht ungeschehen machen.“60 Besonders positiv hob er dabei Gestalten wie Johannes R. Becher, Ernst Bloch und Bertolt Brecht hervor. Aber auch Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck wie auch die Anfänge der FDJ unter Erich Honecker wurden von ihm keineswegs negativ gesehen. Auf stalinistische Kulturtheoretiker wie Alexander Abusch, Kurt Hager und Alfred Kurella, für die es nur die Alternative von „bürgerlicher Dekadenz und sozialistischem Fortschritt“ gegeben habe,61 fällt dagegen kein besonders günstiges Licht. Die dogmatische Beschränktheit dieser Gruppe, lesen wir, sei vor allem nach der Harich-Affäre von 1956 evident geworden, wo sie in „Imitation des großen Bruders“ im Osten jeden sogenannten Querdenker – darunter auch Ernst Bloch und ihn – als verdammenswerte „Revisionisten“ angegriffen habe.62 Doch auch an der westdeutschen Bundesrepublik mäkelte Mayer in diesem Buch vielfach herum. Vor allem die Wiederbewaffnungspolitik Konrad Adenauers und die von ihm befürwortete Hallstein-Doktrin werden als höchst verwerflich hingestellt. Dieses Buch hatte daher – im Gegensatz zu Mayers Wagner-Biographie und seinem Außenseiterbuch – in der BRD keine besonders günstige Presse. Während in den Jahren der „konstruktiven Ostpolitik“ Willy Brandts und Helmut Schmidts Mayers Ansichten in der BRD noch weitgehend positiv gewertet wurden, warfen ihm die Anhänger Helmut Kohls jetzt vor, sich höchst dubiosen Ostalgiegefühlen hinzugeben, statt den „Unrechtsstaat“ DDR von vornherein pauschal zu verdammen. Auf derartige Angriffe reagierte Mayer – inzwischen 80 geworden –, indem er einerseits weiterhin an seinen einmal gefaßten Ansichten festhielt, andererseits immer stärker betonte, kein aktiver Zeitgenosse, sondern nur noch ein sich erinnernder Außenseiter zu sein. Ja, das Erinnern erschien ihm innerhalb der immer monströsere Formen annehmenden kapitalisti163

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schen „Wegwerfgesellschaft“ geradezu als das vordringlichste Gebot der Stunde.63 Davon legen vor allem folgende fünf Bücher Zeugnis ab, die er im Laufe der nächsten Jahre – zum Teil mit Hilfe von Inge Jens – niederschrieb, in denen er all das noch einmal zusammenfaßte, was ihm in seinem langen und umbruchsreichen Leben wichtig erschienen war. In dem Band Wendezeiten. Über Deutsche und Deutschland, der 1993 herauskam, blickte er vor allem auf jene Politiker und Autoren zurück, die seit der wilhelminischen Ära und der Weimarer Republik trotz ihrer hochstrebenden Bemühungen daran gescheitert seien, Deutschland in eine sozial gerechte und kulturbewußte Demokratie umzufunktionieren. In der Aufsatzsammlung Widerruf. Über Deutsche und Juden, die 1994 erschien, beschrieb er an ausgewählten Beispielen, darunter Walter Benjamin, Ernst Bloch, Albert Einstein, Hanns Eisler, Sigmund Freud, Käthe Hamburger, Franz Kafka, Karl Kraus, Theodor Lessing, Felix Mendelssohn, Walter Rathenau, Gerhard Scholem, Arnold Schönberg, Anna Seghers und Otto Weininger, wie der 30.  Januar 1933 alle Hoffnungen auf eine sinnvolle deutsch-jüdische Symbiose zuschanden gemacht habe. Ob nun die Toleranzedikte, die verschiedenen Assimilationsbemühungen, die Utopie der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens, die Gleichberechtigungshoffnungen oder der Internationalismus der deutsch-jüdischen Kommunisten: alles sei nach diesem „Ur-Datum“ der deutschen Gegenaufklärung zunichte geworden, ja selbst heute gebe es in Deutschland noch immer einen stets neu hervorbrechenden „Judenhaß“.64 In dem Band Zeitgenossen. Erinnerung und Deutung, der 1998 herauskam, gab Mayer dagegen eher seinem Gefühl Ausdruck, innerhalb der immer wieder beschworenen kapitalistischen „Wegwerfgesellschaft“ bereits ein „Anachronismus“ geworden zu sein.65 Hier ließ er noch einmal viele jener Wissenschaftler und Künstler wie Theodor W. Adorno, Peter Brückner, Carl Jakob Burckhardt, Paul Celan, Alfred 164

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Döblin, Friedrich Dürrenmatt, Hanns Eisler, Hubert Fichte, Erich Fried, Stephan Hermlin, Hans Henny Jahnn, Uwe Johnson, Hans Werner Richter und Peter Weiss Revue passieren, die in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hätten. Politisch besonders aufschlußreich sind dabei seine Beiträge zu Brückner und Adorno. An Brückner hob er besonders den Mut hervor, sich als Partisanenprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Hannover in aller Schärfe gegen den unsozialen „Staatskapitalismus“ innerhalb der westdeutschen Bundesrepublik sowie die in ihr herrschende Unterdrückung der „Meinungsund Informationsfreiheit durch Meinungsmonopole und planmäßige Seelenmanipulation“ ausgesprochen zu haben, weshalb er für viele Jahre aus seinem Amt entfernt worden sei.66 Adorno kommt dagegen, wie schon in früheren Äußerungen Mayers, bei diesem Rückblick weniger gut weg. Ihm wird nochmals vorgeworfen, durch die „Verabsolutierung der Schule Arnold Schönbergs“ auf elitäre Abwege geraten zu sein. Kunst und Künstlertum habe sich Adorno im Sinne Friedrich Nietzsches, wie es an einer Stelle heißt, nie „anders vorstellen können denn als Siebente Einsamkeit“, weshalb er jeder „historischen Konkretisierung“ wie auch jeder „Neugier auf Wirklichkeit“ stets aus dem Wege gegangen sei.67 Nicht minder vergangenheitsorientiert wirkt Mayers Buch Gelebte Musik. Erinnerungen, das 1999 herauskam. In ihm geht es fast ausschließlich um all jene Werke und Aufführungen sogenannter „klassischer“ Musik, die Mayer im Laufe seines Lebens immer wieder Genuß bereitet, Trost gespendet oder Anlaß zum Nachdenken über den gesellschaftlichen Ort jener Musik geboten hatten, für die sich – im Gegensatz zu der alles übertönenden Unterhaltungsmusik – im Laufe der Zeit der elitäre Begriff E-Musik eingebürgert habe. Dabei griff Mayer noch einmal auf jenen Essay zurück, in dem er sich bereits 1938 in polemischer Absicht mit Adornos Bemerkungen zu einer kritischen Musiktheorie auseinandergesetzt hatte. Obendrein ließ er diesen Ausführungen seinen Vortrag über Die elitären Wurzeln der Neuen Musik folgen, den er 165

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1951 auf der 3. Kranichsteiner Musiktagung gegen den von Theodor W. Adorno und Pierre Boulez vertretenen Absolutheitsanspruch Schönbergs gehalten hatte, welchen er – angesichts des inzwischen eingetretenen Verschwindens aller Formen einer „ernsten“ Musik – auch heute noch immer als relevant empfand.68 Schließlich drücke die angeblich moderne Musik – ob nun in „Hindemiths Formspielen“, Strawinskys „halb spielerischen, halb zynischen Leichenschmaus“-Klängen sowie den „fleischlosen Skeletten Webernscher Musikstücke“69 – nur noch ein „Endstadium“ der bisherigen klassischen Musik aus, das im Zuge einer immer stärker werdenden „Subjektivierung“ lediglich von gesellschaftlich unbedeutenden „Zirkeln und Gemeinden“70 goutiert werde. Als letztes Buch dieser Rückblicksreihe erschien dann im Jahr 2001 sein Band Willy Brandt. Erinnerungen, in dem er diesem ihm seit der SAP-Zeit von 1932 vertrauten Politiker ein ehrenwertes Denkmal zu errichten versuchte. Danach verstummte Mayer – halb erblindet – und starb am 19. Mai 2001 in Tübingen. Allerdings verfügte er noch vorher, seinen gesamten Nachlaß seiner Kölner Heimatstadt anzuvertrauen, zu der es ihn – als einem „Deutschen auf Widerruf“ – immer wieder hingezogen hatte. V Damit schied einer der wichtigsten Ruhestörer, Außenseiter, vaterlandslosen Gesellen, Unangepaßten – oder wie man diese Partisanenprofessoren auch nennen mag – aus dem deutschen Geistes- und Kulturleben aus. Es hat nicht viele dieser Art gegeben. Hans Mayer war deshalb durchaus berechtigt, sich als Jude, Homosexueller und Linker als ein „Außenseiter“ zu bezeichnen. Daß er sich dabei manchmal zu einer gewissen Exzentrik oder Eitelkeit verführen ließ, der einzige oder zumindest besonders Exponierte dieser Art zu sein, sei ihm im Rückblick verziehen. Schließlich hat er selbst in besonders ichbezogenen Auftritten nie darauf verzichtet, seiner Arroganz eine systemkritische Ausdrucksform zu geben. Und das sollte auch ihn zu einem Vor166

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bild für all jene Literaturwissenschaftler machen, die in ihrem Fach mehr als eine textbezogene Deutungswissenschaft sehen und bei ihren Interpretationsbemühungen auch vor engagierten „Eingriffen“ in die jeweils anstehenden gesellschaftspolitischen Konflikte nicht zurückschrecken.

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I Die meisten Lutheraner unter den deutschen Protestanten haben sich von Anfang an als obrigkeitshörige Untertanen verstanden. Ihre von Gott gegebene „Freiheit“ empfanden sie daher als etwas Innerseelisches, aber nichts, was sie zu einer rebellischen Haltung gegen irgendwelche staatlichen Machthaber verpflichtet hätte. Es genügte ihnen, Mitglieder einer Staatskirche zu sein, die zwar ihre Glaubensfreiheit garantierte, ihnen jedoch nicht erlaubte, die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung im Sinne urchristlicher Brüderschaftsvorstellungen zu kritisieren oder gar unterminieren zu wollen. Und daran änderte sich seit dem 18. Jahrhundert auch in jenen Schichten der sich allmählich von staatlicher Bevormundung emanzipierenden Bourgeoisie nicht viel. Manche unter den sich der Aufklärung zuwendenden Intellektuellen wurden zwar kritischer, was die bisherigen Obrigkeitsvorstellungen betraf, blieben aber im religiösen Bereich durchaus bei ihren früheren Innerlichkeitskonzepten, die sie zwar ins Deistische abschwächten, aber nie völlig aufgaben. Und auch die Mehrheit der protestantischen Theologen paßte sich diesem Wandel ins Liberalistische an, indem sie – ohne auf die Schattenseiten der sich allmählich entwickelnden Ausbeutungspraktiken innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise einzugehen – weiterhin lediglich die Nöte und Sorgen einzelner Individuen in den Blick nahmen. Um so lobenswerter sind deshalb jene Pfarrer und universitären Theologen hervorzuheben, die sich im Laufe des 19. und dann des 20. Jahrhunderts dieser obrigkeitshörigen Anpassung entgegenzustellen versuchten. Viele waren es nicht. Aber wie auf anderen weltan-

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schaulichen Ebenen gab es auch hier einige, deren Kritik an dieser Unterwürfigkeitsbereitschaft bis heute vorbildlich geblieben ist. Für den hier ins Auge gefaßten Zeitraums gilt das vor allem im Hinblick auf Karl Barth, Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, die sich im Rahmen der Bekennenden Kirche gegen den Nazifaschismus aussprachen und deshalb aus Deutschland ausgewiesen, in Konzentrationslager überführt oder hingerichtet wurden. Jeder von ihnen verdiente deshalb in diesem Buch an sich ein eigenes Kapitel. Daß ich dennoch als Leitfigur dieser Haltung Helmut Gollwitzer ausgewählt habe, hat folgende Gründe. Alle vier haben sich zwar nachdrücklich gegen die obrigkeitlichen Unterdrückungsmaßnahmen aufgelehnt, aber Barth war in erster Linie ein Schweizer, während sich Niemöller und Bonhoeffer eher als widersetzliche Pfarrer charakterisieren lassen und sich im Gegensatz zu Gollwitzer nicht als universitäre Geisteswissenschaftler hervorgetan haben. Zudem konnte Gollwitzer – aufgrund seiner Professur an der Westberliner Freien Universität – im Zuge der Achtundsechziger Bewegung einen Einfluß ausüben, der weit über seine dort gehaltenen Vorlesungen und Seminare hinausging. Seine polittheologische Einsatzbereitschaft nahmen sich darum andere Menschen sogar im täglichen Umgang zum Vorbild, statt ihn wie Barth nur im Nachhinein zu bewundern oder wie Niemöller und Bonhoeffer als Märtyrer zu verehren. Doch seine Hauptwirkung entfaltete Gollwitzer unter jenen aufmüpfigen Westberliner Studenten um 1970, welche die Heraufkunft einer neuen Gesellschaft herbeiführen wollten und dafür auf die Straße gingen. Für sie war Gollwitzer kein akademisch daherredender Großordinarius mit dem legendären „Muff von tausend Jahren“ unter seinem obrigkeitlichen Talar, sondern einer, der sich sogar für Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof einsetzte und wie die ihnen folgenden Gruppen eine radikale Neuordnung der Gesamtgesellschaft forderte. Ja, einige von ihnen sagten sogar: „Er ist einer von uns!“, was er als eine besondere Ehre empfand.

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II Geboren wurde Helmut Gollwitzer am 29. Dezember 1908 in Pappenheim im fränkischen Altmühltal, wo er in einem lutherischen und zugleich nationalkonservativen Pfarrhaus aufwuchs.1 Als Schüler war er in den zwanziger Jahren in der damaligen Jugendbewegung aktiv. Von 1928 bis 1930 studierte er zuerst in München, Erlangen und Jena Philosophie und Evangelische Theologie. Anschließend ging er nach Bonn, wo Karl Barth seit 1930 Protestantische Theologie lehrte und als politisch engagierter Christ im gleichen Jahr in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) eingetreten war, um sich gegen die herrschenden Obrigkeitsvorstellungen und die heraufziehende nazifaschistische Gefahr zu engagieren – was den jungen Gollwitzer zutiefst beeindruckte. Plötzlich erschienen auch ihm Christentum und Sozialismus keine unüberbrückbaren Gegensätze mehr. Später schrieb er im Rückblick auf die Zeit vor 1933: „Es gab außerhalb der Kirche nichts, was meine Aufmerksamkeit so fesselte wie der Marxismus. Die Analysen von Marx und Lenin machten mir die Vorgänge der Zeit, die Krisen, den Krieg, das Aufkommen des Faschismus verständlich, ‚links‘ zu stehen schien Ehrensache, der KPD hätten sich meine Sympathien zugewandt, wäre nicht ihre Führung so unzugänglich gewesen.“2 Wie Barth bezog daher auch Gollwitzer gegenüber dem am 30. Januar 1933 ausgerufenen Dritten Reich von vornherein eine ablehnende Haltung. Beide wandten sich scharf gegen die von dem neuen Regime unterstützten Deutschen Christen, die mit Hilfe staatlicher Kommissare auf eine durchgreifende Germanisierung der evangelischen Kirche drängten. Da diese ideologische und organisatorische „Gleichschaltung“ innerhalb der protestantischen Kirche von vielen evangelischen Bischöfen und Pfarrern im Sinne der älteren Obrigkeitsvorstellungen als unabänderlich hingenommen wurde, schloß sich im Laufe der folgenden Monate innerhalb der bestehenden Landeskirchen eine Organisation zusammen, die sich Bekennende Kirche nannte. Ihr wichtigster Sprecher war anfangs Karl Barth, der mit Hilfe von Hans Asmussen 171

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und Thomas Breit jene inzwischen geradezu legendär gewordene Barmer Erklärung ausarbeitete, die sich gegen eine verstärkte staatliche Vereinnahmung und zugleich Verletzung elementarer Menschenrechte wandte und am 31. Mai 1934 von 130 Vertretern der protestantischen Kirche gebilligt wurde. Darauf wurde Barth mit Martin Niemöller, Karl Immer und Hermann Albert Hesse in den Reichsbruderrat, das Führungsgremium der Bekennenden Kirche, gewählt. Als sich Barth kurz darauf weigerte, den Beamteneid auf Adolf Hitler zu leisten, verlor er seine Professur in Bonn und ging nach Basel, wo er an der dortigen Universität ein Ordinariat für Systematische Theologie erhielt. Die zweite Synode der Bekennenden Kirche fand im Oktober 1934 in Berlin-Dahlem statt, wo die Mitglieder dieser Organisation entschieden, jede Zusammenarbeit mit staatlichen Kontrollorganen zu verweigern und lediglich Jesus Christus als den einzigen Glaubensgrund der Kirche anzuerkennen, das heißt den offiziellen Kirchenbehörden sowie den von den Deutschen Christen beherrschten Verwaltungsorganen keine Gefolgschaft mehr zu leisten. Hierauf kam es zu einer Reihe sogenannter Bekenntnistage, bei denen sich einzelne Pfarrer und Mitglieder ihrer Gemeinden gegen jede Form staatlicher Bevormundung aussprachen. Als daraufhin einige Pfarrer suspendiert wurden, setzten sie ihre Tätigkeit in Fabrikhallen oder leerstehenden Schuppen fort. Ja, als der radikale Flügel dieser Bewegung 1936 in einem Brief an Hitler die von ihm angeordneten Konzentrationslager verurteilte, führte das zur Verhaftung vieler Mitglieder der Bekennenden Kirche, wodurch der Einfluß dieser Organisation innerhalb der weitgehend anpassungsbereiten Landeskirchen allmählich abnahm. Auch Gollwitzer sah schließlich keine Möglichkeit mehr, sich weiterhin innerhalb der Bekennenden Kirche oppositionell zu betätigen. Daher folgte er Karl Barth nach Basel und promovierte 1937 bei ihm mit einer Arbeit über die Vertreter der altlutherischen Abendmahlslehre und ihre Auseinandersetzung mit dem Calvinismus.3 In ihr verurteilte er die theologischen Zwistigkeiten zwischen den Lutheranern 172

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und den Reformierten und betonte zugleich höchst aktuell, daß es den verschiedenen protestantischen Gruppen schon damals besser angestanden hätte, eine gemeinsame Front gegen den herrschenden Zeitgeist zu bilden. Als Martin Niemöller, einer der Vorsitzenden der Bekennenden Kirche, im Frühjahr 1937 verhaftet wurde, konnte Gollwitzer im Juli dieses Jahres dessen Pfarrstelle an der Sankt-AnnenKirche in Berlin-Dahlem übernehmen.4 Doch schon kurz darauf wurde er als sogenannter Regimegegner verhaftet und in einer Zelle am Alexanderplatz eingesperrt. Als er wieder freikam, engagierte er sich bei der weitgehend geheimgehaltenen Ausbildung des theologischen Nachwuchses der Bekennenden Kirche. Nach dem Novemberpogrom im Jahr 1938 half er einer Reihe von Juden zur Flucht aus dem immer nachdrücklicher gleichgeschalteten Dritten Reich, wodurch er wiederum den Unmut der NS-Behörden auf sich zog. Noch schärfer gingen diese Behörden gegen ihn vor, als er 1940 Kontakte zu den Widerständlern innerhalb der Wehrmacht aufnahm, worauf er, wie schon 1937, abermals kurzzeitig inhaftiert wurde. Im Frühsommer 1940 erhielt er seinen ersten Einberufungsbefehl zur Wehrmacht und sollte Rekrut in einem motorisierten Nachrichtenbataillon werden. Doch irgendwelche ihm wohlgesonnenen Offiziere verhinderten diese Einberufung. Darauf wurde er im folgenden September aus Berlin ausgewiesen. Um ihn vor einer weiteren Verhaftung zu bewahren, hielten es die gleichen Gönner dann doch für opportun, ihn aus Vorsichtsgründen „in den Schutz der Wehrmachtsuniform gelangen zu lassen“.5 Deshalb sorgten sie dafür, daß er am 5. Dezember 1940 Soldat werden mußte. Als Hitler am 22.  Juni 1941 den Überfall auf die Sowjetunion befahl, wurde Gollwitzer kurz darauf als Sanitäter an der Ostfront eingesetzt. Anfang 1945 geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, verbrachte die nächsten viereinhalb Jahre in verschiedenen Arbeits- und Umerziehungslagern in der UdSSR und kam erst Ende 1949 nach Deutschland zurück.

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III Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion schrieb Gollwitzer Anfang 1950 ein Buch unter dem Titel ...und führen, wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft, in dem er sich auf über 350 Seiten mit den in der UdSSR gemachten Erfahrungen auseinandersetzte. Wer ihn nicht von früher kannte und als Vertreter der Adenauerschen Restaurationspolitik gehofft hatte, daß er diesen Bericht dazu benutzen würde, als zutiefst gläubiger Christ den Kommunismus in Grund und Boden zu verdammen, sah sich bei der Lektüre dieses Buchs allerdings schon nach wenigen Seiten in seinen Erwartungen enttäuscht. Im Gegensatz zu kurz darauf publizierten Berichten über die sowjetischen Kriegsgefangenenlager, wie etwa dem ressentimentgeladenen Roman Der Arzt von Stalingrad von Heinz Günther Konsalik, in dem fast alle Russen als asiatische Monster dargestellt werden, die sich anschicken, ganz Europa erobern zu wollen,6 ging Gollwitzer in seinem Buch ideologisch höchst bedachtsam vor. Er hatte zwar als Vertreter der christlichen Friedenslehre den Krieg von vornherein gehaßt und war froh gewesen, daß er als Sanitäter an der Ostfront nicht zu schießen brauchte. Dennoch fühlte er sich „mitschuldig“ an den grauenvollen Untaten, welche von der deutschen Wehrmacht sowie den vielen Einsatzgruppen der SS in Osteuropa verübt worden waren, und fürchtete sich vor „wohlbegründeten Racheakten“ der vorrückenden Roten Armee. Als er, wie er schrieb, am 10. Mai 1945 südlich der tschechischen Stadt Tabor gefangengenommen wurde, erwies sich jedoch diese Furcht als unbegründet. Er wurde zwar von den Rotarmisten „gefilzt“ und nicht gerade gnädig behandelt, schämte sich aber zugleich, wie erbärmlich sich die ehemaligen deutschen Soldaten verhielten, bei denen plötzlich alle nationalbetonten Solidaritätsgefühle erloschen und jeder nur noch rücksichtslos an das eigene Überleben dachte. Zuerst wurde er mit den anderen „Landsern“ in ein Arbeitslager in der Ukraine verfrachtet, wo sie bis 1947 jeden Tag in einem Waldlager große Baumstämme zu Brennholz zerstückeln mußten. Und Gollwitzer muckte nicht auf, da er sah, wie brutal die 174

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deutschen Truppen in dieser Gegend nicht nur viele Dörfer völlig zerstört, sondern auch große Teile der dort lebenden Bevölkerung gnadenlos ausgerottet hatten, weshalb ihm die von den Kriegsgefangenen abgeforderte Wiedergutmachungsfron mehr als gerechtfertigt erschien. Anschließend wurde er in ein weiteres Arbeitslager in Swerdlowsk am Rande des Uralgebirges überführt, wo er die gleichen Holzfällerarbeiten verrichten mußte. In der stumpfsinnigen Freudlosigkeit dieser Tätigkeit hielt ihn nur der Glaube an Christus aufrecht, während die Ungläubigen unter den Mitgefangenen lediglich verdrossen dahinvegetierten. Danach verbrachte Gollwitzer einige Zeit in einem Umerziehungslager in Krasnogorsk, wo er sogar Bücher zu lesen bekam und sich intensiv mit den Lehren des Kommunismus auseinandersetzen konnte. Daß er in Deutschland Theologie studiert habe, fanden die dortigen Russen geradezu „lächerlich“, da sie darin etwas längst Überlebtes sahen.7 Doch trotz derartiger Einwände hielt Gollwitzer auch hier unbeirrt an seinem Glauben fest. Dennoch war er beeindruckt, daß auch viele Russen – trotz ihrer religiösen Ungläubigkeit – durchaus zu einem zutiefst „humanen“ Verhalten fähig waren. Ja, er fand, daß selbst der Stalinismus sie nicht so stark korrumpiert hatte wie der Nazifaschismus die Deutschen. Was ihn jedoch bei den dort geführten Gesprächen verstörte, war der Vorwurf, daß er und die anderen Vertreter der „konservativen Opposition“ gegen Hitler – wegen ihres „liberalen Freiheitsbegriffs“ – im Gegensatz zu den Marxisten keine wahren „Antifaschisten“ gewesen seien.8 Auch als Gollwitzer 1948 in ein weiteres Arbeitslager gebracht wurde, wo er wiederum in eintöniger Tätigkeit „Baumstuppen zu Kleinholz zerspalten“ mußte,9 bemühte er sich weiterhin um ein tieferes Verständnis der kommunistischen Lehren. Dabei kam er zu der Erkenntnis, daß sich im Kommunismus manches von jenem Utopismus erhalten habe, der auch die christlichen Urgemeinden beseelt habe und erst durch die obrigkeitsdienliche Anpassungsbereitschaft der kirchlichen Hierarchien sowie die liberalistische Unterstützung der kapitalistischen Wirtschafts175

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ordnung verlorengegangen sei. Im Hinblick auf das altchristliche Brüderschaftsdenken, das unter Christentum vor allem ein „Gemeinschaftsdenken“ verstanden habe,10 erschienen ihm daher die politischen Systeme in Ost und West nicht so verschieden, wie sie allgemein eingeschätzt würden. „Der Westen verführt zur Unmenschlichkeit“, schrieb er im Hinblick auf die in beiden herrschende Unchristlichkeit, „der Osten zwingt zur Unmenschlichkeit.“ Oder: „Der Osten bestreitet die Menschenwürde von außen, der Westen gefährdet sie von innen.“11 Was Gollwitzer allerdings den Sowjets vorwarf, war das nicht zu übersehende Faktum, daß die notwendige „Sozialisierung der Produktionsmittel“ in der UdSSR nicht zu einer allgemeinen Solidarisierung, sondern lediglich zu „einer Verlagerung der Macht“ und damit zu einer neuen „Elitenbildung“ in Form eines diktatorischen Bonzentums geführt habe.12 Dementsprechend forderte Gollwitzer in diesem Buch seine Leser auf, zwar den undemokratischen Charakter des Kommunismus zu kritisieren, aber zugleich seinen „ethischen“ Grundzug zu erkennen, statt wie die Nazifaschisten in den Russen lediglich „bolschewistische Untermenschen“ zu sehen.13 Er erklärte an einer Stelle sogar, daß der „sozialistische Osten“ – trotz seiner vielfach korrumpierten Gemeinschaftsvorstellungen – den Deutschen eine „Gesellschaftsform“ anbiete, die „unserer Lage viel gemäßer wäre“ als eine gedankenlose Rückkehr zur geldwirtschaftlichen Raffgier der Weimarer Republik.14 Lediglich im Sinne der westlichen Propaganda den „totalitären“ Charakter des Kommunismus herauszustellen, erschien ihm völlig unangebracht. Braun sei nicht das gleiche wie Rot, beteuerte er immer wieder. Was ideologisch übereinstimme, seien eher der „christliche Humanismus“ und der „kommunistische Humanismus“.15 Es ist erstaunlich, daß ein solches Buch zu Anfang der fünfziger Jahre – mitten in der im Westen durch den Koreakrieg ausgelösten antisowjetischen Propagandawelle – in der Bundesrepublik nicht totgeschwiegen wurde, sondern ein gewaltiges Aufsehen erregte, ja fast zu einem Bestseller aufstieg. Wahrscheinlich hielten sich die meisten Leser 176

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damals eher an die christlichen Passagen und bemühten sich, die verstreuten Hinweise auf den „ethischen“ Charakter des Kommunismus, der auch „uns“ im Westen zu einem neuen Sozialverhalten verpflichten solle, geflissentlich zu übersehen. IV Bereits 1950, also noch vor dem Erscheinen seines Buchs …und führen, wohin du nicht willst, das erst 1951 herauskam, wurde Helmut Gollwitzer als weltanschaulich bewährter Vertreter der „konservativen Opposition“ gegen Hitler im Gefolge Karl Barths als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie der Bonner Universität berufen. Neben seiner akademischen Lehrtätigkeit setzte er sich auch dort – mitten im Zentrum der Adenauerschen Restauration – im Sinne seiner urchristlichen Vorstellungswelt für ein Gemeinschaftsdenken ein, das sich lediglich der sozialrevolutionären Gesinnung des Neuen Testaments verpflichtet fühle. So erklärte er bereits 1952 auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart in seiner Rede Was geht den Christen die Politik an? sowohl im Hinblick auf die Verbrechen der Vergangenheit als auch auf die der Gegenwart: „Die gepriesene Volksgemeinschaft ist nicht mehr da, die hat nicht gehalten, aber wie steht es mit der christlichen Gemeinde? Man soll mit dieser Frage im Ohr einmal nachdenklich überblicken, wie im Laufe der Geschichte Menschen mit Menschen umgegangen sind und auch heute miteinander umgehen. Da werden frisch-fröhlich Kriege geführt, durch ausbeuterische Arbeit Kinder und Frauen um ihr Leben gebracht, da werden Juden boykottiert und schließlich vergast, die Polen vertrieben und dann die Deutschen vertrieben, da wird gedroht und gehaßt und gerächt – aber wo ist bei alledem die christliche Gemeinde? Nicht ob sie das hätte verhindern können, ist die Hauptfrage, sondern: Hat sie es mitgemacht oder hat sie etwas ganz anderes getan? Das ist heute die Frage: Machen wir auch wieder nur mit, oder kommt durch das Dasein der christlichen Gemeinde ein anderer Ton 177

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in das allgemeine Geschrei zwischen Ost und West, in die gegenseitigen Beschuldigungen und Verdammungen, in die täglichen Kriegserklärungen des Kalten Krieges, in die Partei- und Wirtschaftskämpfe hinein?“16 Nach diesen auf eine entschiedene Umkehr drängenden Fragen stellte Gollwitzer für alle wahren Christen drei Forderungen auf: in Jesus Christus in erster Linie einen zur täglichen Einsatzbereitschaft verpflichtenden Gott des Friedens, der Gerechtigkeit sowie der Vergebung zu sehen, um so – nach dem Sündenfall des Nazifaschismus – eine Staatsordnung herbeizuführen, die jenseits der angestrebten Wehrbereitschaft, der mangelnden Verurteilung ehemaliger Kriegsanstifter, der marktwirtschaftlichen Konsumgier und der liberalistischen Zersplitterung der momentan bestehenden Gesellschaft auf dem Prinzip der brüderlichen Gleichheit beruhen würde. Und an dieser Grundüberzeugung hielt Gollwitzer auch in den parteipolitischen Auseinandersetzungen der folgenden Jahre fest. Immer wieder, wie in seiner Rede Der Christ zwischen Ost und West, die er an der Evangelischen Akademie in Tutzing hielt, sprach er sich dafür aus, in dem Gegensatz zwischen Ost und West kein „hartes Entweder-Oder“ zu sehen oder gar im Sinne Carl Schmitts einer unerbittlichen „FreundFeind-Einstellung“ zu huldigen,17 sondern auf Entschärfung oder gar Versöhnung zu bestehen. Statt die antikommunistischen Greuel Hitlers nachträglich zu rechtfertigen oder einen „Laissez-faire-Liberalismus“ zu vertreten, der sich allen Gefahren des „Kapitalismus, der sozialen Ungerechtigkeit, des Nationalismus, der Rüstungsprofite, des Kolonialsystems, des halben oder ganzen Faschismus in Spanien und Südkorea“ gegenüber blind verhalte,18 forderte er hier, sich gegen jeden Aufruf zur Wiedereinführung einer deutschen Armee zur Wehr zu setzen. Ja, als 1957 die ersten Soldaten zur Bundeswehr eingezogen wurden, verlangte er vom Rat der Evangelischen Kirche, sich so eindeutig wie möglich zum Prinzip der Kriegsdienstverweigerung zu bekennen. 178

Protestantischer Theologe

Eine ebenso scharfe, wenn nicht noch schärfere Kritik an der innenpolitischen Entwicklung in der BRD äußerte Gollwitzer, als er 1957 an die Westberliner Freie Universität berufen wurde und dort auch am Institut für Evangelische Theologie zu unterrichten begann. Wie eine Reihe nonkonformistisch eingestellter Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Naturwissenschaftler engagierte er sich dabei erst einmal gegen die Forderung Adenauers, die westdeutsche Bundeswehr im Zuge des Kalten Kriegs mit atomaren Sprengköpfen auszustatten, um so gegen die propagandistisch aufgebauschten Gefahren aus dem Osten gewappnet zu sein, worin der „alte Mann in Bonn“, wie man damals sagte, mit angeblich naiven Worten lediglich eine Weiterentwicklung der älteren Kanonenstrategie sah. Unter scharfer Ablehnung der lutherischen Lehre von den „zwei Reichen“, die alle Protestanten verpflichte, der herrschenden Obrigkeit stets zu „gehorsamen“, trat Gollwitzer auch in diesem Zusammenhang wiederholt dafür ein, daß die protestantische Gemeinde – als ein „apostolisch-missionarischer Stoßtrupp“ – keineswegs vor einer Kritik an den jeweils herrschenden Regierungsformen zurückschrecken solle.19 „Die Menschenwelt“, erklärte er, „in die der Christ hineingestellt und hineingesandt ist, präsentiert ihm keineswegs göttlich sanktionierte Ordnungen, die unabhängig von und vor dem Gebot seines Herrn Anspruch auf seinen Gehorsam haben“.20 Diese Verweigerungshaltung habe bereits die Bekennende Kirche im Dritten Reich gefordert, und sie solle auch wieder die Haltung aller rebellischen Geister unter den gegenwärtigen Christen werden. Wie in seinem Buch ...und führen, wohin du nicht willst kam Gollwitzer dabei ständig auf seine früheren Auseinandersetzungen mit dem Marxismus zurück. Als Ausgangspunkt wählte er hierfür gern einen Ausspruch des westfälischen Kaplans Wilhelm Hohoff, der bereits im späten 19. Jahrhundert erklärt habe: „Nicht Sozialismus und Christentum, sondern Kapitalismus und Christentum stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser.“21 Schließlich habe auch Marx, wie Gollwitzer schrieb, den Menschen – im Gegensatz zur bürgerlich-kapitalistischen 179

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Verklärung des Individuums – nicht nur als „Einzelwesen“, sondern stets zugleich als „Gattungswesen“ betrachtet.22 Und damit geriet auch das Sowjetsystem immer wieder ins Gesichtsfeld seiner Überlegungen. Trotz der dort herrschenden Verwissenschaftlichung und trotz aller Verzerrungen ins Diktatorische sei in ihm weiterhin ein Funke jenes Messianismus lebendig geblieben, der auch die christlichen Anschauungen in Zukunft anfeuern solle, anstatt im Zuge des Kalten Kriegs nach wie vor einer „pharisäischen Verteilung von Licht und Schatten“ zu huldigen, die lediglich die These des historischen Materialismus von der Klassengebundenheit der christlichen Religion bestätige.23 Es gehe daher nicht mehr an, erklärte er, das Christentum – im Gefolge der Ideologie der angeblich „Freien Welt“ – weiterhin als „Speerspitze gegen den Osten“ auszuspielen und sich damit zum Mitläufer der „selbstmörderischen Idiotie des Wettrüstens“ zu machen,24 statt für Erkenntnis und Aussöhnung zwischen den zwei verfeindeten Lagern einzutreten. Am überzeugendsten zusammengefaßt hat Gollwitzer diese Anschauungen und die hinter ihr stehende kritische Haltung eines vorbildlichen Christen in seiner Einführung zu dem 1962 erschienenen Sammelband Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik. In ihr wandte er sich in aller Schärfe gegen die Gefahren, die sich aus der Wiedereinführung der Wehrpflicht durch eine sich „als christlich bezeichnende Partei“ wie die CDU/CSU in der Bundesrepublik ergeben hätten. Dies sei eine Entscheidung, schrieb er, die allen wahren Christen innerhalb dieser Partei als „permanente Blamage“ eigentlich den Schlaf rauben müsse.25 Statt sich nach den Verbrechen des Hitler-Regimes zu „wirklicher Buße und Umkehr“ zu entschließen, habe die CDU/CSU dadurch den Kalten Krieg nicht nur sanktioniert, sondern die „gegenseitige Vernichtungsplanung“ sogar noch „religiös verbrämt“, was zu einer „neuerlichen Verfilzung des Christentums mit dem Staat“ geführt habe.26 All dem setzte deshalb Gollwitzer nochmals sein entschiedenes „Nein zu den ABC-Waffen und damit zum Krieg im Atomzeitalter“ entgegen, wie es sich für jeden friedensbetonten Christen gehöre.27 „Das 180

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Damoklesschwert, das über der Menschheit hängt“, erklärte er, sei „längst nicht mehr der Kommunismus oder Imperialismus“, sondern die drohende Gefahr einer „Totalauslöschung der Menschheit“.28 Eine mögliche Änderung in dieser Hinsicht sah Gollwitzer zu diesem Zeitpunkt nur dann gegeben, falls sich die Regierung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) – um des Friedens willen – endlich zu einer „Verständigung mit den östlichen Nachbarn“ und dem damit verbundenen „Schlußstrich unter die böse Vergangenheit“ entschließen würde, um so eine weitere Auseinanderentwicklung und Gegeneinanderverhetzung der beiden deutschen Volksteile zu verhindern.29 Es sei deshalb die Aufgabe aller friedliebenden Christen, folgerte er daraus, sich für dieses Bemühen so rückhaltlos wie nur möglich einzusetzen, statt wie bisher die Haltung eines bequemen Mitläufertums einzunehmen. Immer wieder weise man selbst innerhalb der Kirche nur auf die Untaten des Kommunismus, wie die Niederschlagung des Ungarnaufstands oder den Bau der Berliner Mauer, hin, ohne sich groß um die Verbrechen sogenannter christlicher Staaten in Algerien oder anderen sogenannten Kolonialgebieten zu scheren. Diese ideologische Einseitigkeit müsse endlich aufhören. Man solle sich endlich dazu durchringen, schrieb er, auch den Splitter, ja den Balken im eigenen Auge wahrzunehmen, statt sich als Christ blind zu stellen und sich weiterhin quietistisch in angeblich innerreligiöse Haltungen zurückzuziehen. Ja, es gehe heute sogar um noch mehr, nämlich nicht nur, die drohende Kriegskatastrophe zu verhindern, sondern auch darum, unseren Planeten, die Schöpfung Gottes, welche durch die „Bevölkerungszunahme, die quantitative Expansion des Lebensstandards“ sowie die sich daraus ergebende „erbarmungslose, gierige Plünderung der Umwelt“ immer stärker in Mitleidenschaft gezogen werde, für die nach uns kommenden Generationen zu erhalten.30

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V Daß sich Gollwitzer mit solchen Anschauungen nicht nur Freunde, sondern auch Feinde machte, konnte kaum ausbleiben. So lehnten etwa die Basler Behörden 1961 Gollwitzers Berufung auf den Lehrstuhl Karl Barths an der dortigen Universität wegen seiner „unklaren“ Einstellung zum Kommunismus von vornherein ab. Also blieb er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1975 weiterhin an der Westberliner Freien Universität. Aber auch die dortigen Behörden beargwöhnten ihn wegen mancher kritischen Äußerungen, die er im Laufe der sechziger Jahre von sich gab, welche sie mit seiner protestantischen Beamtenposition für unvereinbar hielten. Um so begeisterter stimmten ihm dafür fast alle linksorientierten Westberliner Studenten zu, die sich seit der 1966 einsetzenden wirtschaftlichen Krisensituation und der darauf folgenden Großen Koalition von CDU/CSU und SPD zu jener Außerparlamentarischen Opposition, kurz: APO, bekannten, aus der dann die sogenannte Achtundsechziger Bewegung hervorging, die wie Gollwitzer vor allem gegen die ausgebliebene Vergangenheitsbewältigung, die Wehrdienstpflicht, die imperialistische Politik der USA und die geplanten Notstandsgesetze zu Felde zog. Besonders seine Vorlesung „Atheismus und Theologie in der Gegenwart“, die er 1968/69 hielt und in der er sich für eine Gesinnung einsetzte, die „sowohl marxistisch als auch christlich ist“, wie es 1970 im Vorwort seines Buchs Krummes Holz – aufrechter Gang. Frage nach dem Sinn des Lebens heißt, sprach all jene Studenten an, die im utopischen Vorgriff auf eine von allen Übeln des Nazifaschismus und der ständig gegen den Osten wachgehaltenen Wehrbereitschaft innerhalb der sogenannten NATO-Staaten eine völlig andersgeartete, das heißt friedensbetonte und basisdemokratische Gesellschaft ins Auge faßten. Diese Studenten sahen in ihm keinen der üblichen Ordinarien, sondern einfach „unseren Golli“. Ein besonders enges Verhältnis entwickelte sich dabei zwischen ihm und jenem Rudi Dutschke, der um 1968 schnell zum Hauptsprecher jener aufmüpfigen Rebellen wurde, die sich gegen 182

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alles, ob nun den weiterbestehenden Kolonialismus, den Krieg in Vietnam, die autoritäre Struktur der akademischen Verwaltungsgremien, die mangelnde Vergangenheitsbewältigung, den „Muff von tausend Jahren unter den Talaren“ der meisten Professoren, die sexuelle Prüderie sowie die ausbeuterischen Praktiken des Kapitalismus, wandten. Dutschke hatte seine Jugendjahre in der DDR verbracht und war dort vor allem in der evangelischen Gemeinde in Luckenwalde aktiv gewesen. Da er 1957 – nach dem gescheiterten Ungarnaufstand vom Jahr zuvor – den von ihm verlangten Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee verweigert hatte, war er 1961 kurz vor dem Bau der Berliner Mauer nach Westberlin übergesiedelt, um an der Freien Universität Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft studieren zu können. Seine Hauptlektüre waren anfangs die Schriften von Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Georg Lukács und Herbert Marcuse gewesen. Angeregt durch die Begegnung mit der amerikanischen Theologiestudentin Gretchen Klotz, die später seine Frau wurde, begann er dann, sich auch in die Werke protestantischer Theologen wie Karl Barth und Paul Tillich zu vertiefen. Sein Herkommen sowie all diese Einflüsse bewirkten, daß sein Weltbild sowohl christliche als auch marxistische Züge annahm. Politisch engagierte sich Dutschke zuerst in der Westberliner Gruppe Subversive Aktion und schloß sich danach dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) an. Zugleich nahm er Kontakte zu einigen Professoren der Neuen Linken, darunter Wolfgang Abendroth, Herbert Marcuse, Oskar Negt und schließlich auch Helmut Gollwitzer, auf. Nachdem der Student Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einem Polizisten erschossen wurde, rief Dutschke zu bundesweiten Sitzblockaden auf, an denen sich zwar viele Studenten, aber nur wenige Professoren, wie Gollwitzer, beteiligten. Darauf erklärte Dutschke am 3. Dezember 1967 in einem ARD-Fernsehinterview im Hinblick auf Gollwitzer, den er inzwischen seinen „Freund“ nannte: „Heute sind 183

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Christen und Marxisten in der entscheidenden Grundfrage – dem Frieden – uns einig. Wir kämpfen für gemeinsame Ziele.“31 Angefacht durch eine reaktionäre, von der BILD-Zeitung ausgehende Pressekampagne gegen die „Radikalinskis“ unter den Achtundsechziger schoß der rechtsradikale Hilfsarbeiter Josef Bachmann am 11.  April 1969 auf dem Westberliner Kurfürstendamm dreimal auf Dutschke, wobei dieser schwere Gehirnverletzungen erlitt. Gollwitzer war davon zutiefst betroffen und hielt auch weiterhin zu Dutschke, dessen marxistisch-christliches Weltbild in vielem mit seinem übereinstimmte. Dafür spricht vor allem Gollwitzers wichtigstes politisches Bekenntnis, das er 1974 unter dem Titel Die kapitalistische Revolution publizierte. Nachdem er 1973 bei einem Treffen der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg eine Rede zum Thema Der Gang der internationalen Klassenkämpfe und die christliche Kirche gehalten hatte, trat er in diesem Buch so entschieden wie nur möglich gegen alle Verschleierungstaktiken auf, mit welchen die Drahtzieher der kapitalistisch strukturierten Gesellschaft die sogenannte soziale Marktwirtschaft als eine wohlgelungene Überwindung der älteren Ausbeutungssysteme hinzustellen versuchten. Gleich zu Anfang erklärte er: „Wer heute von Klassenkampf spricht, gilt als Ideologe; wer stattdessen von Schichten und Sozialpartnern spricht, ist keiner. Wer Vergesellschaftung der Produktionsmittel für vernünftig hält, gilt als Ideologe; wer freie Marktwirtschaft preist, ist keiner. Nichts ist ideologischer als solche Verwendung des Etiketts ‚Ideologie‘.“32 Befeuert durch den rebellischen Elan der Westberliner Achtundsechziger Bewegung, charakterisierte Gollwitzer in diesem Buch noch radikaler als zuvor den Ungeist des Kapitalismus unter marxistischer und zugleich christlicher Perspektive. Statt sich wie seine Gegner bei der Beschreibung der „gegenwärtigen sozialen Organisation unserer Produktion“ jenes in den Massenmedien vorherrschenden „scheinneutralen Vokabulars“ zu bedienen,33 dem lediglich Ablenkungsmanöver zugrunde lägen, befleißigte er sich hierbei einer höchst „konkreten“ 184

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Ausdrucksweise. So wies er ganz unverhohlen auf die „Reformunfähigkeit“ jenes Gesellschaftssystems hin, das weltweit von den „Generaldirektoren der Multis und Obristen-Juntas“ beherrscht werde, welche in skrupelloser Ausbeutung und Herrschsucht unseren Planeten „lieber untergehen lassen als ihn dem Sozialismus zu überlassen“.34 Als besonders bedrohlich stellte Gollwitzer in diesem Zusammenhang – neben der atomaren Gefährdung – die bereits eingetretenen „ökologischen Katastrophen“ hin, die gern als notwendige Begleiterscheinungen der Freien Marktwirtschaft verharmlost würden. Eine ebenso scharfe Kritik übte er an jenem Neokolonialismus, der keineswegs nachgelassen habe. Schließlich beuteten die führenden Eliten der Industriestaaten der nördlichen Halbkugel die Länder der sogenannten Dritten Welt nach wie vor ebenso hemmungslos aus wie eh und je. Als die Hauptübel des Kapitalismus wurden dabei von Gollwitzer – unter weitgehender Verwendung marxistischer Erkenntnisse – vor allem folgende Tendenzen und Praktiken angeprangert: 1. der weitgehend gelungene Versuch, die jeweiligen Regierungen von sich abhängig zu machen, 2. das Bestreben, die Zollschranken aufzuheben, um die eigenen Produkte auch in anderen Ländern absetzen zu können, 3. das Bemühen, die Kaufwilligkeit der Bevölkerung zu steigern, indem man immer neue Bedürfnisse zu erwecken versuche, und 4. der Zwang zum ungehemmten Wachstum der Gütererzeugung, der lediglich in einen profitsteigernden Selbstzweck entarte, dem keine zielorientierte Utopie mehr zugrunde liege. Durch all diese Vorgänge sei die Mehrheit der Bevölkerung ein unpersönliches Objekt der „Dynamik des Kapitals und seines Verwertungszusammenhangs“ geworden.35 Wie schon Marx erklärt habe, bestehe dadurch „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch mehr als das nackte Interesse, als die gefühllose, bare Bezahlung“.36 Ja, er schrieb sogar: „Die Sozialisten haben richtig gesehen: noch längere Zeit kann sich die Menschheit den Kapitalismus nicht leisten. Sozialismus oder Barbarei – die Alternative der alten Sozialisten wird heute unheimlich bestätigt.“37 185

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Gollwitzer scheute sich daher nicht, in diesem Buch immer wieder auf die von den systemkonformen Massenmedien gern geleugnete, aber bis heute weiterbestehende Klassenkampfsituation in den kapitalistisch durchstrukturierten Gesellschaften hinzuweisen. Allerdings habe diese – im Vergleich zum 19. Jahrhundert – eine völlig neue Ausrichtung erfahren. In den hochindustrialisierten Ländern des Westens werde dieser Kampf, wie er schrieb, gegenwärtig nicht mehr von unten, sondern von oben betrieben, indem man die „bisherige Nicht-Identität von Sozialismus und Demokratie erfolgreich als Schreckbild des Sozialismus“ ins Feld führe und das eigene System der Freien Marktwirtschaft als ein Gebilde hinstelle,38 das in der BRD – im Gefolge Ludwig Erhards – einen „Wohlstand für alle“ anstrebe, und damit dem Kapitalismus einen Zug ins Humanitäre zu geben versuche. Für die Erhaltung dieses Systems scheuten daher die wirtschaftlichen Meinungsträgerschichten derartiger Gesellschaftssysteme keinerlei Opfer. „Tödlich ist ihnen kein Krieg, keine Verwüstung“, schrieb Gollwitzer, sondern „nur der Sozialismus.“39 Was er diesem „Klassenkampf von oben“ im zweiten Teil seines Buchs Die kapitalistische Revolution unter der Überschrift „Kirche und Klassenkampf“ entgegensetzte, waren vor allem folgende Thesen. Nach einem kritischen Blick auf die bisherige Kirchengeschichte, in der sich die christlichen Theologen mehrheitlich den Forderungen der jeweils herrschenden Gesellschaftsschichten angepaßt oder sich lediglich für gewisse systemimmanente Reformen ausgesprochen hätten, sei es heute, wie schon im Rahmen der Bekennenden Kirche während der NS-Zeit, wiederum das Gebot der Stunde, an die sozialrevolutionären Bestrebungen der frühchristlichen Gemeinden anzuknüpfen und in ihrem Sinne in den weiterhin anhaltenden Klassenkampf einzugreifen. Getreu seiner Maxime „Sozialisten können Christen, Christen müssen Sozialisten sein“ trat daher Gollwitzer im Folgenden sowohl gegen eine bequeme „Verjenseitigung des Reiches Gottes“ als auch ebenso entschieden gegen jene „Verinnerlichung oder Spirituali186

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sierung“ des Christentums ein, welche sich selbst in manchen „pietistischen Gruppen und Freikirchen“ beobachten lasse.40 Was er dagegen forderte, war im Gefolge des religiösen Sozialisten Karl Barth eine neue christliche Sozialethik, die weit über die bisherige Reformgesinnung mancher älteren Kirchenvertreter hinausgehen würde. Wie die „alttestamentlichen Propheten und der synoptische Jesus“ dürfe man nicht mehr zögern, dem „Elend der Gegenwart“ mit „revolutionären Impulsen“ entgegenzutreten.41 Das Neue Testament, erklärte er, lasse „keine Unklarheit sowohl über den nichtreformistischen als auch den revolutionären Charakter“ der Botschaft Jesu.42 Diese Botschaft betreffe nicht nur das „ganze menschliche Leben, also selbst das Leiblich-Materielle“, sondern auch das „Gemeinschaftliche“, und dränge demnach – angesichts eines erwünschten „Reichs Gottes auf Erden“ – auf jene radikale „Lebensänderung“ hin, wie sie Barth bereits 1946 in seiner Schrift Christengemeinde und Bürgergemeinde gefordert habe.43 Daraus leitete Gollwitzer die Forderung einer „permanenten Revolution“ gegen die herrschende Phraseologie all jener Kapitalismusbefürworter ab, die ständig vorgäben, in ihren Staaten bereits den Zustand von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erreicht zu haben.44 Dieser Zustand könne erst eintreten, erklärte er apodiktisch, wenn man sich zu einer Verwirklichung der urchristlichen Vorstellung der allgemeinen Nächstenliebe, das heißt der oft falsch verstandene Agape, entschließen würde. Und an dieser Glaubenshaltung hielt Gollwitzer – trotz des Abschwächens der Achtundsechziger Bewegung – auch in den folgenden Jahren unerschütterlich fest. So erklärte er etwa in einer seiner Eröffnungsreden jener Kritischen Universitäten, die der linksorientierte Argument-Herausgeber Wolfgang Fritz Haug jeweils zu Pfingsten auf dem Gelände der Westberliner Freien Universität veranstaltete, mit geradezu umwerfender Glaubensgewißheit: „Die Kritische Universität ist die Ausgießung des Heiligen Geistes. Hier werden die nötigen Bekenntnisse gegen den heutzutage weitverbreiteten Ungeist der marktwirtschaftlichen Profit187

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gier abgelegt. Und daran will auch ich bis zu meinem Tode festhalten. Ja, ich glaube sogar an die fleischliche Auferstehung des Menschen. Wenn ich dann eines Tages vor Gott stehen werde, werde ich sagen: ‚Nieder mit dem Kapitalismus!‘“45 Darauf wollte der Beifall der Studenten kein Ende nehmen, zumal viele von ihnen wußten, daß sich Gollwitzer zugleich als Seelsorger um Ulrike Meinhof gekümmert hatte. Rudi Dutschke erklärte daher 1978, als Gollwitzer seinen 70. Geburtstag beging: „Die antisektiererische Grundhaltung dieses gläubigen Christen und christlichen Sozialisten habe ich immer bewundert und immer wieder von ihm lernen können. Golli gehörte in den sechziger Jahren zu den wenigen radikaldemokratischen Lichtern in der Wüste der autoritären Professorenschaft. Seine spätere Beteiligung an den Kämpfen gegen den ‚Radikalenerlaß‘, gegen Berufsverbot und Gesinnungsschnüffelei, hat mit Sicherheit für die Betroffenen eine eminente Bedeutung und wird sie weiterhin haben.“46 Und auch Gollwitzer hielt weiterhin fest zu seinem „Freund“ Rudi. Als dieser am 24. Dezember 1979 an den Folgen jener Gehirnverletzungen starb, die er am 11. April 1969 bei dem auf ihn ausgeübten Attentat erlitten hatte, war Gollwitzer sofort bereit, bei dessen Beerdigung auf dem Sankt-Annen-Friedhof in Berlin-Dahlem eine seiner aufrüttelnden Predigten zu halten, die alle Beteiligten zutiefst bewegte. In ihr erklärte er unter dem Motto „Einer von denen, die ihre Haut hinhalten“, daß Rudi Dutschke stets an den Grundimpulsen der sozialistischen Botschaft des Evangeliums festgehalten habe. Darum gehöre er in eine Reihe mit Che Guevara, Gustav Landauer, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Camillo Torres, die wie er als Revolutionäre auf dieser Erde ebenfalls nicht alt geworden seien. Er sei uns ein Vorbild, sagte Gollwitzer mit beschwörender Geste, „vor keiner Konterrevolution zu kapitulieren und uns nicht verlassen zu wähnen, wenn uns ein guter Freund verläßt, sondern uns weiter im Gefolge Jesu Christi um einen gerechten Frieden auf Erden zu bemühen“.47 188

Protestantischer Theologe

Die gleiche Gesinnung liegt Gollwitzers Buch Befreiung zur Solidarität zugrunde, das 1978 herauskam. In ihm wandte er sich nochmals der Frage einer gerechteren Sozialordnung zu, die sich im Rahmen kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse nie erreichen lasse. In einer derart „unmenschlichen“ Gesellschaftsform, erklärte er, werde es neben wohlverdienenden Ober- und Mittelschichten stets auch „Arme und Verlassene“ geben, da in ihr lediglich das Geld und nicht ein brüderliches Gemeinschaftsdenken vorherrsche.48 Doch Gollwitzer mußte zugleich einsehen, wie wenig solche Appelle die finanziell Bessergestellten zu einem Umdenken in gesellschaftspolitischer Hinsicht bewegten. Ja, in den achtziger Jahren erlebte er zu seiner Bekümmernis noch, daß der in der BRD für kurze Zeit aufgeflackerte linkskritische Elan merklich nachließ und in der sogenannten Reagan-Ära ein verstärktes Wettrüsten einsetzte, wodurch wie in den fünfziger Jahren erneut die Gefahr eines Dritten Weltkriegs heraufzog. Aber er blieb standhaft und vertraute – vor allem innerhalb der damals entstehenden Friedensbewegung – bis zu seinem Tod im Jahr 1993 weiterhin auf jenen Heiligen Geist, den es von hier bis in alle Ewigkeit zu unterstützen gelte. So gesehen, war selbst Gollwitzer ein „Geistes“-Wissenschaftler, dessen ansteckende Begeisterungsfähigkeit für eine im urchristlichen Sinn brüderlich verbundene Gesellschaft, in der es keine Übertechnisierung, keine Profitgier, keine Naturzerstörung, keinen antiutopischen und damit ziellosen Kapitalismus mehr geben würde, nicht nur politisch links eingestellte Studenten aus den sogenannten Geisteswissenschaften, sondern auch andere Menschen bewegte, ihre Weltanschauung zeitweilig oder auch für immer in seinem Sinne zu ändern. Daher gehört auch er – trotz der Naivität mancher seiner christlichen Glaubenshoffnungen – durchaus zu jenen Partisanenprofessoren, die sich wegen ihrer zukunftsbesorgten Haltung nach wie vor als Vorbilder bezeichnen lassen.

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Robert Jungk (1913–1994) Zukunftsforscher

I Unter den deutschen Geisteswissenschaftlern gebührt Robert Jungk ein besonderer Ehrenplatz. Ihm war es nicht vergönnt, schon in jungen Jahren eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Als ein aus dem NSStaat vertriebener Jude mußte er in mehreren Exilländern seinen Unterhalt erst als Journalist verdienen, bis er nach den amerikanischen Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki im Herbst 1945 seine wahre Berufung als wissenschaftlich fundierter Zukunftsforscher erkannte. Von nun an trat er mit einer Reihe aufsehenerregender Bücher – erst im Einzelkampf und dann im Verbund mit anderen – immer nachdrücklicher als Warner gegen die unausbleiblichen Gefahren auf, die eine weitere kriegerische, aber auch angeblich friedliche Anwendung der Atomenergie mit sich bringen könne. Damit schuf er sich unter den maßgeblichen Militärbehörden und profitgierigen Managern der überall entstehenden Kernkraftwerke viele Feinde, sprach aber zugleich all jene Bevölkerungsschichten an, die sich durch die Anlage solcher Werke unmittelbar bedroht fühlten. In der Folgezeit beließ er es deshalb nicht nur bei Büchern, sondern beteiligte sich ebenso unermüdlich an vielen Anti-Atomkraft-Demonstrationen, die seit den späten fünfziger Jahren in mehreren hochindustrialisierten Ländern stattfanden. Doch damit ergab sich für ihn, wie auch für die von den gleichen Befürchtungen Aufgeschreckten, zugleich die Frage, welche anderen Energiequellen man entwickeln müsse, um sowohl die Gefahren eines atomaren Super-GAUs als auch die drohenden Auswirkungen der auf fossilen Brennstoffen beruhenden älteren Elektrizitätswerke zu vermei-

Robert Jungk (1913–1994)

den. Das führte dazu, daß aus dem bisherigen Pazifisten Jungk zugleich ein ökologisch orientierter Wissenschaftler wurde, der im Hinblick auf eine nachhaltige Zukunft einen wesentlich „sanfteren“ Umgang mit allen natürlichen Rohstoffen ins Auge faßte. Das Ergebnis dieser Ausweitung seiner Forschungen war schließlich jene sozialbetonte Geisteshaltung, für welche sich die Bezeichnung „Zukunftsforschung“ einbürgerte. Was lange Zeit lediglich als spinnerter Utopismus gegolten hatte, wurde so im Zuge eines immer stärker werdenden ökologischen Bewußtseins zusehends als wissenschaftswürdig anerkannt. Ja, Jungk erhielt in der zweiten Hälfte seines Lebens an der Technischen Universität in Westberlin sogar eine Honorarprofessur für derartige Studien, die es ihm ermöglichte, in Form von Zukunftswerkstätten weitreichende Pläne für eine gefahrlose Ausnutzung der natürlichen Rohstoffquellen sowie der reichlich vorhandenen Sonnenenergie zu entwickeln, um nicht durch nukleare Katastrophen sowie den unverminderten Ausstoß von Kohlendioxid das Leben der gesamten Menschheit aufs Spiel zu setzen. Was hartherzige Pragmatiker anfänglich als eine apokalyptische Doomsday-Ideologie belächelten, stieg so in den Rang einer vollgültigen, ja unverzichtbaren Wissenschaft auf, deren Ergebnisse – angesichts der ständig wachsenden Bevölkerungsmassen sowie der sich daraus ergebenden Konsum- und Energiebedürfnisse – immer konkreter und zugleich dringlicher wurden. Die damit verbundenen Einsichten, die dann in den siebziger und achtziger Jahren von der sich weltweit ausbreitenden ökologisch-grünen Bewegung aufgegriffen wurden, lassen sich selbstverständlich nicht allein auf den unermüdlichen Einsatz Robert Jungks für derartige Bemühungen zurückführen. Aber er hatte in den Anfängen dieser Erkenntnisse einen beträchtlichen Einfluß darauf. Und das sollten all jene Menschen, die sich trotz der von Jahr zu Jahr zunehmenden Hiobsbotschaften auf ökologischem Gebiet nicht in ihrem Ankampf gegen den rücksichtslosen Raubbau an allen natürlichen Rohstoffen entmutigen lassen, nach wie vor honorieren und seine Aktivitäten weiterhin als vorbildlich empfinden. 192

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II Geboren wurde Robert Jungk am 11. Mai 1913 in Berlin als Sohn des jüdischen Dramaturgen, Schauspielers und Regisseurs David Baum (Künstlername Max Jungk) und seiner Frau, der Schauspielerin Sara Bravo (Künstlername Elli Branden). Als Schüler besuchte er das Theodor-Mommsen-Gymnasium in Berlin-Westend. Im Gegensatz zu anderen jüdischen Mitschülern, die sich bemühten, ihre „Abstammung“, wie man damals sagte, „zu vergessen, ja gelegentlich sogar zu verleugnen“, wie Jungk später in seiner Autobiographie Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft schrieb,1 schloß er sich bereits als Sekundaner dem Deutsch-jüdischen Wanderbund „Kameraden“ an, der sich sowohl zum Judentum als auch zur deutschen Kultur bekannte. Die Mitglieder dieses Bunds begeisterten sich nicht nur für die Werke Rainer Maria Rilkes, Stefan Georges und Hermann Hesses sowie diejenigen des Expressionismus, sondern interessierten sich ebensosehr für die Anschauungen des jüdischen Kulturphilosophen Martin Buber, der trotz aller antisemitischen Ausschreitungen weiterhin für eine deutschjüdische Symbiose oder zumindest einen „Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen eintrat“.2 Zugleich unternahmen sie im Gefolge der älteren Wandervogelbewegung zahlreiche Ausflüge in die Mark Brandenburg. Schon damals, beteuerte Jungk wiederholt, sei seine Liebe zu der „vom industriellen Aufschwung bedrohten Natur zum Leitstern seiner Existenz“ geworden.3 Doch auch sein politisches Engagement geht bereits auf diese Zeit zurück. Dafür spricht, daß er nicht nur Mitglied des Sozialistischen Schülerbunds (SSB) wurde, welcher der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) nahestand, sondern auch Hilfsdienste für die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) leistete. Obendrein schloß er sich einer Schülergruppe an, die sich „Das rote Fähnlein“ nannte und an Demonstrationen gegen den aufkommenden Rechtsradikalismus teilnahm, wo er bei einer dieser Versammlungen, deren Hauptredner der von ihm verehrte französische Pazifist Henri Barbusse war, seine erste Polizistenprügel erhielt. 193

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Nachdem er im März 1932 das Abitur abgelegt hatte, entschied sich Jungk für ein Studium an der Berliner Universität, wo er Vorlesungen in Geschichte, Philosophie und Psychologie belegte. Sein Lieblingsautor war damals der zwar gesellschaftskritisch auftretende, aber parteipolitisch unentschiedene Kurt Tucholsky. Außerdem faszinierte ihn die politische Zeitschrift Der Gegner, in der sich Harro Schulze-Boysen – abgestoßen vom allgemeinen Hickhack der bestehenden Parteien – mit höchst rebellischen, aber noch unklaren Vorstellungen für die Vision einer gänzlich andersgearteten Gesellschaft einsetzte.4 Ebenso beeindruckend fand er Adrien Turel, der gleichfalls zum engsten Kreis der „Gegner“ gehörte und mit ebenso verschwommenen Vorstellungen die Heraufkunft eines neuen Zeitalters beschwor, in dem nicht mehr die zur Zeit herrschende Klasse, sondern eine Schar linksliberaler Utopiker das Sagen hätte, während Turel die kommunistischen Widerstandsparolen schärfstens ablehnte. Doch all diesen Schwärmereien bereitete der 30. Januar 1933 ein abruptes Ende. In der Nacht des Reichstagsbrands wurden Schulze­ Boysen, Turel und andere „Gegner“ sofort festgenommen. Auch Jungk kam anschließend ins Gefängnis, wurde aber mit Hilfe seines Freundes Sven Schacht wieder freigelassen. Daraufhin fuhr er mit dem Skiklub „Schneevögel“ kurzentschlossen nach Tirol, während seine Eltern vorerst in Berlin blieben. Zu diesem Zeitpunkt glaubte er noch, daß die Herrschaft des „verrückten“ Hitler sicher nur ein paar Monate dauern würde und er bald wieder nach Berlin zurückkehren könne. Von Österreich aus emigrierte er anschließend nach Paris, wo Jungk – sprachgewandt wie er war – Vorlesungen über Psychologie und Philosophie an der Sorbonne besuchte. Doch schon kurz darauf mußte er erleben, wie ihn die Beamten der dortigen Préfecture bis aufs Blut schikanierten. Um überhaupt existieren zu können, betätigte er sich deshalb anfänglich vor allem als Deutschlehrer sowie als Fremdenführer durch die Pariser Bars und Bordelle. Danach versuchte er mit Hilfe von Paul Bohner und Rudolf Bamberger Anschluß an die dortige Pariser Film194

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industrie zu gewinnen. Ja, er durfte sich vorübergehend sogar an Dreharbeiten beteiligen. Als er es im Spätherbst 1934 in Paris nicht mehr aushielt, fuhr er – da er noch immer einen deutschen Paß besaß – nach Berlin zurück. Dort nahm er sofort Kontakt zu Harro Schulze-Boysen auf, der inzwischen – nach seiner Verhaftung – eine Anstellung in Hermann Görings Luftfahrtministerium erhalten hatte. Als Jungk erneut verhaftet werden sollte, floh er im November 1936, wiederum als Skisportler getarnt, in die Tschechoslowakei, wo er fast anderthalb Jahre blieb und sich mit dem jungen Maler Peter Weiss anfreundete. 1937 verließen seine Eltern ebenfalls Berlin und kamen nach Prag, wo er, um ihnen und sich selber einen ausreichenden Unterhalt zu verschaffen, einen Pressedienst unter der Bezeichnung „heute aktuell“ aufzog und pro Woche acht bis zehn Artikel für deutschsprachige Zeitungen in Österreich, der Schweiz, dem Elsaß und dem Sudentenland schrieb. Da sich die tschechoslowakische Regierung – im Unterschied zur emigrantenfeindlichen Politik in Frankreich – den deutschen Flüchtlingen ausnehmend tolerant gegenüber verhielt, konnten seine Eltern und er in diesem Land sogar „eingebürgert“ werden und die entsprechenden Pässe erhalten. Politisch orientierte sich Jungk in dieser Zeit vor allem an Wilhelm Reichs 1934 erschienenem Werk Die Massenpsychologie des Faschismus, das ihn mehr beeindruckte als die von ihm als „dogmatisch“ empfundenen Parolen der Linksparteien. Als 1938 der Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei drohte, flog Jungk am 23. Mai nach Zürich, wohin ihn Hermann Levin-Goldschmidt, ein früherer Berliner Schulfreund, eingeladen hatte. Als er dort seinen in Prag begonnenen Pressedienst fortsetzen wollte, stieß er jedoch sofort auf Schwierigkeiten, da die Schweizer Behörden – aus Angst vor dem Großen Bruder im Norden – den deutschen Emigranten jede journalistische Tätigkeit mit antifaschistischer Tendenz untersagten.5 Also versuchte Jungk sein Heil vorübergehend in London, wo er für die Mondial Press weiterhin Journalartikel zu schreiben beabsichtigte. Aber im Zuge der in England 195

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herrschenden Appeasement-Politik war man dort ebenfalls nicht an antifaschistischen Zeitungsberichten interessiert. Also kehrte Jungk Anfang Mai 1939 wieder nach Zürich zurück, wo er das kurzlebige Emigrantenblatt Die Arche herausgab und illegal irgendwelche Human Interest Stories verfaßte, die er unter verschiedenen Pseudonymen in der Zürcher Weltwoche herausbrachte. Als besonders schwierig erwies es sich, seine Mutter aus Frankreich in die Schweiz zu holen, weil die dafür verantwortlichen Behörden inzwischen jede weitere Immigration in ihr Land strengstens verboten hatten. Doch nicht nur das. Die gleichen Behörden deckten schließlich Jungks illegale Mitarbeit an Schweizer Zeitungen auf, weshalb er am 7. Juni 1943 verhaftet wurde und nach Deutschland abgeschoben werden sollte. Doch statt dessen kam er in Sankt Gallen in ein Gefängnis, wo er mit anderen ausländischen „Schwerverbrechern“ für eine Konservenfabrik Tüten kleben mußte. Immerhin gestattete man ihm dort zeitweilig, an einer Dissertation über jenes reaktionäre Pressekonklusum von 1823 zu arbeiten, mit dem Fürst Metternich – im Zuge seiner autoritären Interventionspolitik – sogar auf das Schweizer Zeitungswesen Einfluß auszuüben versuchte. Vier Monate später wurde Jungk in das Arbeitslager Möhln bei Basel überführt, wo er wesentlich härtere körperliche Arbeit leisten mußte. Schließlich brachte man ihn in ein Internierungsheim in Schloß Burg, in dem weitgehend ältere und arbeitsunfähige Flüchtlinge untergebracht waren. Auf Vermittlung von Mary Bancroft wurde er dann 1944 vom Office of War Information freigestellt, um die „Stimme Amerikas“ mit propagandistischen Kurzberichten über die Lage in Nazi-Deutschland zu versorgen. In diesen Artikeln bot sich ihm erstmals die Gelegenheit, seine Ideen über ein zukünftiges, von allen Übeln des Nazifaschismus befreites Deutschland zu entwickeln, die er unter dem Decknamen „junk“ verfaßte. Zugleich konnte er an der Züricher Universität sein Studium mit der inzwischen fertiggestellten Dissertation abschließen.

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III Aufgrund der Sympathie, die ihm die Amerikaner entgegenbrachten, war es Jungk möglich, gegen Kriegsende endlich die Schweiz zu verlassen und ungehindert nach Deutschland einzureisen. Im Auftrag der Weltwoche sollte er dort über den Zustand des zerbombten Dritten Reichs berichten. Außerdem nahm er als Journalist an dem am 20.  November 1945 begonnenen Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal teil, wo ihn die selbstgerechte Borniertheit der Angeklagten ebenso empörte wie das teilnahmslose Schweigen vieler Deutscher über die grauenvollen Untaten ihrer bisherigen Regierung. Nicht minder erschütterte ihn das Los jener millionenhaft Vertriebenen, die als Displaced Persons verzweifelt nach einer neuen Heimstatt Ausschau hielten – schließlich befanden sich darunter auch jene 200.000 Juden, welche den Gaskammern entgangen waren und anschließend davon abgehalten wurden, nach Palästina auszuwandern. Doch aufs Große und Ganze gesehen, war die Erschütterung über den amerikanischen Bombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki im Sommer 1945 wohl jener Schock, der seine weitere Weltanschauung am stärksten beeinflussen sollte. Auch als Jungk kurz darauf erstmals nach New York kam, war er von den dortigen Verhältnissen eher negativ als positiv beeindruckt. Abstoßend fand er in dieser Stadt vor allem die 1946 einsetzende Propagandahetze gegen die Sowjetunion, die vor allem von dem Medienzar Henry Luce unterstützt wurde, während ihm die mitmenschliche Freundlichkeit vieler New Yorker – nach seinen bitteren Erfahrungen mit Schweizern, Franzosen und Engländern – durchaus gefiel. Anfangs hoffte er, jetzt endlich eine wissenschaftliche Karriere einschlagen und ein Buch über „Psychopolitik“ schreiben zu können. Als jedoch sein Antrag für ein solches Vorhaben vom Institute for Advanced Studies in Princeton abschlägig beschieden wurde, nahm er wieder seine journalistische Tätigkeit auf. Besonders seine Berichte über die Aktivitäten der Vereinten Nationen und die politischen Vorgänge in Washington 197

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konnte er in der wiederbelebten westdeutschen Presse ohne weiteres unterbringen. Zugleich gründete Jungk als hoffnungsvoller Liberaler ein Good News Bulletin, um so – inmitten der sich verschärfenden politischen Situation des beginnenden Kalten Kriegs zwischen den USA und der UdSSR – auch jenen Meldungen Gehör zu verschaffen, welche eine breitere Öffentlichkeit mit der von der UNO geförderten Weltgesundheitsorganisation, der Flüchtlingshilfe sowie der Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, UNESCO genannt, vertraut machen sollten. Was ihn zugleich hoffnungsvoll stimmte, war die Entscheidung der amerikanischen Regierung, die Kontrolle über die Kernenergie nicht mehr den Militärs zu überlassen, sondern einer zivilen Behörde anzuvertrauen. Allerdings währte diese Hoffnung nicht allzu lange, da Präsident Harry S. Truman im März 1948 die Atomic Energy Commission beauftragte, sich fortan allein auf die Weiterentwicklung von atomaren Waffen zu konzentrieren. Während Jungk in den USA bisher vornehmlich einen Welfare State gesehen hatte, empfand er dieses Land – angesichts derartiger Entscheidungen – plötzlich zusehends als einen Warfare State, in dem sich selbst viele Naturwissenschaftler immer stärker mit den von Truman ausgegebenen Weltmachtvorstellungen identifizierten. Als er 1949 mit Ruth Suschitzky, einer Wiener Jüdin, die er kurz zuvor geheiratet hatte, nach Südkalifornien übersiedelte, mußte er erleben, daß selbst dort nicht mehr die Film-, sondern die Rüstungsindustrie das Sagen hatte. Wegen der Gefahren, die sich hieraus in politischer, aber auch gesundheitlicher und ökologischer Hinsicht ergaben, entschloß sich Jungk, ein die breitere Weltöffentlichkeit erregendes Warnbuch unter dem Titel Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht zu schreiben, mit dem er dieser Entwicklung entgegenzutreten versuchte. Er verschaffte sich deshalb – neben seiner journalistischen Tätigkeit – immer tiefere Einblicke in die Entstehung sowie den gegenwärtigen Stand der Atomwissenschaft, wobei ihn vor allem der aus Deutschland stammende Astrophysiker Heinz Haber 198

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unterstützte, den er bei einem Besuch im Institute for Space Medicine in San Antonio, Texas kennengelernt hatte, wo möglichst geheimgehaltene physiologische Untersuchungen vorgenommen wurden, die den Piloten der US-Luftwaffe den Vorstoß in den Weltraum erleichtern sollten. Um neben seiner Arbeit an den jeweils fälligen Zeitungsartikeln die nötige Zeit für ein derartiges Buch zu haben, schrieb Jungk zugleich nebenher ein Skript für einen Film mit dem reißerischen Titel American Beauty, der zwar nie gedreht wurde, ihm aber von der Metro Goldwyn Mayer Corporation 9.000 Dollar einbrachte. Aus Zorn über den sich verschärfenden Kalten Krieg nahm das geplante Buch über die gefährlichen Auswirkungen der nuklearen Hochrüstung, welche in den USA immer stärker zu einer verbreiteten Großmannssucht beitrug, zusehends den Charakter eines Pamphlets an. Als es Ende 1952 in Westdeutschland erschien, wurde es über Nacht zu einem vieldiskutierten Bestseller. Schließlich hatte hier, um nicht als Sympathisant des Ostblocks zu gelten, angesichts des durch den Marshall-Plan ermöglichten industriellen Fortschritts bisher noch kaum einer gewagt, zugleich auf die „menschen-feindliche Nachkriegsentwicklung des American Way of Life“ hinzuweisen. Doch letztlich ging es Jungk schon in diesem Buch nicht nur darum, auf die Gefahren der Kernenergie, sondern auf alle Risiken aufmerksam zu machen, die für „Mensch und Umwelt durch die allzu schnell und unbedenklich genutzten Erkenntnisse der Physik, der Chemie und Biologie“ entstanden seien, wie er später schrieb, welche neben den USA auch andere hochindustrialisierte Länder bedrohten und „weit über Gegenwart und nahe Zukunft hinaus die irdische Natur mit allen ihren Lebewesen verändern und gänzlich zerstören könnten“.6 Im Oktober des gleichen Jahrs erfuhr er bei einem Besuch in einem Think Tank der US-Luftwaffe der RAND Corporation in Santa Monica zudem, daß die Bemühungen um eine Super-Atombombe erfolgreich verlaufen seien und man bereits War Games zu spielen beginne, bei denen die unübersehbaren Leichenberge als berechenbare „Megabits“ verharmlost würden. 199

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Daraufhin entschloß sich Jungk – bestärkt durch seinen westdeutschen Verleger Henry Goverts – einen Anti-Atomroman zu schreiben. Eine wichtige Anregung dazu empfing er, als ihm im Frühjahr 1953 erlaubt wurde, in der Wüste von Nevada einem der zahllosen Bombentests beizuwohnen. Als er dort vom grellen Blitz der Explosion geblendet wurde, hatte er das Gefühl, daß von nun an die Welt nicht mehr die gleiche sei, wie sie bis dahin bestanden habe. Hier war etwas geschehen, was ihn in seinen möglichen Folgen genauso erschütterte wie der Holocaust mit seinen Millionen unschuldiger Opfer. Während Jungk bis dahin die ungebändigte Fülle und Schönheit der nordamerikanischen Wildnis zutiefst bewundert hatte, erkannte er jetzt, daß der Vormarsch der technischen Zivilisation alle diese Herrlichkeiten geradezu über Nacht zerstören könne. Zugleich wurde ihm klar, daß sich die durch diese Vorgänge ausgelösten Prozesse besser in einem dokumentarischen Bericht als in einem literarischen Werk darstellen ließen. Also gab er den Plan eines Anti-Atomromans wieder auf und begann mit weiteren Recherchen über die Entwicklung der Atomwissenschaft. Die erforderliche Zeit dazu ermöglichte ihm der Münchner Verleger Helmut Kindler, der ihm anbot, ein Buch über den beliebten „Tropendoktor“ Albert Schweitzer zu schreiben, der damals in Deutschland gerade den Zenit seiner Popularität erreicht hatte. Und Jungk nahm dieses Angebot nicht nur aus finanziellen Gründen an, sondern weil er die ethische Haltung Schweitzers, der sich angesichts der atomaren Bedrohung ebenfalls für einen durchgreifenden Bewußtseinswandel einzusetzen versuchte, auch für sich selbst als vorbildlich empfand. Was er besonders schätzte, war Schweitzers Schrift Verfall und Wiederaufbau der Kultur, in dem dieser die im 19. Jahrhundert eingetretene Abdankung der Kultur gegenüber den Naturwissenschaften und ihrem „Riesenkind Technik“ beklagt hatte, die zu einem bedauerlichen „Fehlen jener ethischen Ideen“ geführt habe, „ohne die keine lebensbejahende, lebenserhaltende, lebensbefördernde Kultur gedeihen könne“.7 200

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Unter den zahlreichen Atomforschern, die Jungk daraufhin interviewte, beeindruckte ihn vor allem Leo Szilard, während ihn J. Robert Oppenheimer eher enttäuschte. Ersterer verurteilte wie Jungk all jene Wissenschaftler, die es bei ihren Forschungen vermieden, die Hauptschuldigen an dem gefährdeten Zustand der Welt anzuklagen. Szilard selbst hatte sich 1947 von der Physik abgewandt und lediglich biologische Studien betrieben, weil er zu der Überzeugung gekommen war, daß ohne eine Einschränkung des sogenannten industriellen Fortschritts die Menschheit die „nächsten hundert Jahre nicht überleben werde“ und „wir daher unser Hauptinteresse“ der Zukunftsforschung widmen sollten.8 Mit diesen ihm von Szilard vermittelten Einsichten reiste Jungk danach zwei Jahre lang von Land zu Land, wobei ihm besonders Oppenheimer immer wichtiger wurde, der damals im Verdacht stand, die Entwicklung der Wasserstoffbombe wegen ihrer „weltzerstörenden“ Gewalt jahrelang hintertrieben zu haben. Doch Jungk erschien er eher wie ein ehrgeiziger Karrierist, während Szilard – im Einvernehmen mit Niels Bohr – nachdrücklich versucht habe, den Einsatz von Atombomben von vornherein zu verhindern. Als 1955 Jungk seine Recherchen, in denen der „Fall Oppenheimer“ eine zentrale Rolle spielt, abgeschlossen hatte, konnten sie ein Jahr später unter dem Titel Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher beim Scherz & Goverts Verlag erscheinen und erregten sofort ein weltweites Aufsehen. Vor allem in Japan und Deutschland wurde dieses Buch geradezu über Nacht ein Bestseller. Kurz darauf nahm Jungk in Hiroshima, wo noch immer Zehntausende unter den durch das amerikanische Bombardement freigesetzten Mengen an Radioaktivität dahinvegetierten, an mehreren Demonstrationen der dortigen Atomgegner teil. Seine in Hiroshima gesammelten Erfahrungen machte er anschließend in seinem Buch Strahlen aus der Asche publik. Ebenso entschieden trat er im Herbst 1958 in der BRD bei den Massenprotesten gegen die von Konrad Adenauer angeregten Pläne einer nuklearen Bewaffnung der westdeutschen Bundeswehr auf, zu denen die von den 201

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Gewerkschaften unterstützte Bewegung „Kampf dem Atomtod“ aufgerufen hatte. Wegen dieser widersetzlichen Aktivitäten wurde daraufhin Jungks Mitarbeit an der Schweizer Weltwoche gekündigt. Außerdem versuchte ihn der von der Central Intelligence Agency (CIA) finanzierte Bund für die Freiheit der Kultur – im Gefolge von Henry Luce und Joseph McCarthy – als einen mit dem Ostblock sympathisierenden Fellow Traveler zu diffamieren. IV 1957 entschloß sich Jungk, die USA zu verlassen und nach Europa zurückzukehren. Zuerst ließ er sich in Wien, der Heimatstadt seiner Frau, nieder. Kurz darauf nahm er in London, Paris, Hamburg, Amsterdam und Berlin an den sogenannten Ostermärschen teil, bei denen Zehntausende von Menschen gegen die drohende Atombombengefahr protestierten.9 Bei den Reden, die er dort hielt, betonte er vor allem die langzeitlichen Auswirkungen der lebensschädlichen Strahlungen der dabei freigesetzten Atomenergie. In Westdeutschland kam er hierdurch in einen immer enger werdenden Kontakt mit Atombombengegnern wie Stefan Andres, Hans Magnus Enzensberger, Helmut Gollwitzer, Walter Jens, Eugen Kogon, Hans Werner Richter und besonders mit Günther Anders, dessen Buch Die Antiquiertheit des Menschen er – trotz der darin herrschenden Vergeblichkeitsphilosophie – auch anderen immer wieder empfahl. Überhaupt wurde in der Folgezeit Jungks Wirkungskreis ständig breiter. In seinen Schriften und Reden gegen die nukleare Bedrohung faßte er dabei in erster Linie die Vorstellung einer nachhaltigen Zukunftssicherung ins Auge, wobei er sich, nachdem er 1964 in Wien ein Institut für Zukunftsfragen gegründet hatte, weiterhin auf ausgedehnte naturwissenschaftliche Recherchen stützte. Nach seinem Projekt Europa – Richtung 2000, das 1965 als sechsteilige Fernsehserie vom Ersten Deutschen Fernsehen (ARD) ausgestrahlt wurde, ging er wieder an das ihm geläufigere Bücherschreiben. Das Ergebnis waren unter anderem Werke wie Die große Maschine. Auf dem 202

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Weg in eine andere Welt (1966) und Vom blinden zum wissenden Fortschritt (1969), durch die er immer stärker zu einem der führenden Vertreter der sich in diesen Jahren anbahnenden futurologischen Forschung wurde und in fast allen europäischen Ländern Kontakte zu bekannten Astrophysikern, Molekularbiologen, Kybernetikern, Hirnforschern, Sozialpsychologen und Städteplanern anknüpfen konnte. Das Hamburger Wochenblatt Die Zeit richtete ihm sogar eine regelmäßige Kolumne unter dem Titel Richtung Zukunft ein. Beflügelt von all diesen Hoffnungen glaubte Jungk vorübergehend sogar, daß es ihm gelingen würde, in Westberlin eine Community of Science zu gründen, die sich mit gewaltlosen Mitteln gegen den blinden Vormarsch des von der Atomenergie angekurbelten Industrialismus zur Wehr setzten sollte. Doch dazu kam es nicht. Auch das mit großen Erwartungen in Genf begonnene CERN-Projekt, das der Enträtselung des Alls und seiner Naturgesetze dienen sollte, enttäuschte ihn, da es dort eher um die wirtschaftlichen Interessen der an ihm beteiligten Staaten als irgendwelche in seinem Sinne lebensfördernden Aspekte ging. Die gleiche Ernüchterung erlebte er, als er in Moskau mit sowjetischen Naturwissenschaftlern zusammentraf, die sich ebenfalls lediglich den staatlichen Interessen unterordneten. Dennoch gab Jungk seine Hoffnungen auf einen durchgreifenden Bewußtseinswandel in den hochindustrialisierten Ländern keineswegs auf und beteiligte sich im Rahmen der International Confederation for Disarmament and Peace an dem Projekt „Mankind 2000“, mit dem man den Kriegstreibern aller Länder mit einer Reihe konkret gemeinter Friedensutopien entgegentreten könne. Im Rahmen dieser Aktivitäten kam es im November 1965 in London zu der ersten, von der CihaFoundation unterstützten europäischen Zukunftskonferenz, worauf Jungk im Jahr 1966 zum Ehrenpräsidenten der Vereinigung „Mankind 2000“ gewählt wurde. Besonders angetan war er im Rahmen dieser Forschungen von den Bemühungen des Erfinders und Architekten Buckminster Fuller, der mit seinen Schülern ein umfassendes Computersys203

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tem eingerichtet hatte, mit dem er die führenden Regierungen von seinen auf biologischer Nachhaltigkeit beruhenden Vorstellungen einer besseren Welt überzeugen wollte, während er die marktwirtschaftlichen Zukunftspläne Herman Kahns, die vornehmlich auf Konsumsteigerung bedacht waren, scharf ablehnte. Im Zuge seiner Werbereisen für die Organisation „Mankind 2000“ kam Jungk zwangsläufig mit vielen politischen Aktivisten, Gesellschaftsforschern, Naturschützern und anderen Futurologen zusammen, die wie die Vertreter des Club of Rome zu Anfang der siebziger Jahre immer dringlicher auf die „Grenzen des Wachstums“ hinwiesen.10 Dazu gehörten unter anderem die in Washington lebenden Vertreter der World Future Society, der Mathematiker Olaf Helmer sowie der System Developer Hassan Oebekhan, die vornehmlich an „ganzheitlichen“ Planungsmethoden interessiert waren, mit denen sich vorhersehbare Katastrophen eventuell vermeiden ließen. Im Rahmen dieser Aktivitäten wurde Jungk Mitte der sechziger Jahre plötzlich von dem an der Westberliner Technischen Universität lehrenden Soziologen Helmut Klages und dem dortigen Germanisten Walter Höllerer nahegelegt, ob er eventuell an der Gründung eines Zentrums für Zukunftsforschung an dieser Hochschule interessiert sei. Da ihm in Wien die durch Friedrich Torberg betriebene Propaganda im Sinne des Kalten Kriegs immer weniger zusagte, entschloß sich Jungk, diesem Angebot Folge zu leisten und begann, ab 1968 Vorlesungen über „Methoden der technologischen Vorausschau“ sowie „Politik und Technik“ zu halten, welche die gegen den „Muff unter den Talaren“ rebellierenden Studenten, denen man bisher nur gelehrt hatte, daß „technische Erfindung und technisches Handeln vorwiegend dem Ziel der Steigerung von Effizienz und des wirtschaftlichen Gewinns“ zu dienen habe, begeistert begrüßten.11 Dabei wurde er als offizieller Honorarprofessor vor allem von der von Norbert R. Müllert initiierten Prokol-Organisation sowie der von Hanspeter Oswianowski gegründeten Gruppe für Alternative Technik unterstützt, die sich wie er gegen das 204

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bisherige Spezialisten- und Expertentum aussprachen, das jedes gesamtgesellschaftliche Denken verhindere.12 Zu Angriffen auf ihn kam es erst, als Jungk im Juli 1969 nicht in die allgemeine Begeisterung über die amerikanische Mondlandung einstimmte und sich zugleich gegen eine weitere Steigerung des Rüstungswettlaufs aussprach, worauf ihm von konservativer Seite eine „blinde Technikfeindschaft“ sowie ein ungehöriger „Antiamerikanismus“ vorgeworfen wurde. Einige der Kritiker schlugen sogar vor, ihn einfach „wegzuamputieren“.13 Doch davon ließ sich Jungk nicht beirren, sondern gab an der Westberliner Technischen Universität weiterhin Vorlesungen und Seminare im Sinne seiner futuristischen Anschauungen, die sich gegen die Übermacht der großen Konzerne wandten, welche im Rahmen ihrer ungehemmten Profitstrategien auf die bedrohlichen Folgeerscheinungen der Hochindustrialisierung immer weniger Rücksicht nähmen. Zudem reiste Jungk neben seiner Universitätstätigkeit in den folgenden Jahren unermüdlich von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Konferenz zu Konferenz, um sich für gesellschaftliche und industrielle Alternativen einzusetzen, mit denen sich das bedrohliche Industriewachstum verringern oder gar aufhalten ließe. Seinen Wohnsitz hatte er inzwischen von Wien nach Salzburg verlegt, wo er sich vor allem an den Demonstrationen gegen den von den Amerikanern geführten Krieg in Vietnam beteiligte und sogar einmal blutig niedergeschlagen wurde. Doch selbst danach gab er nicht auf, weiterhin gegen den Strom der systemkonformen Presse sowie der durch sie beeinflußten öffentlichen Meinungsbildung anzuschwimmen, und sprach sich in seinen Vorträgen und in Büchern wie Eskalation der neuen Waffen (1969), Der Jahrtausendmensch. Bericht aus den Werkstätten der Gesellschaft (1973) und Plädoyer für eine humane Gesellschaft (1975) immer wieder gegen den rücksichtslosen Fortschrittsoptimismus in den herrschenden Industriestaaten aus. Da er sich jedoch bei seiner Kritik meist auf Appelle beschränkte, hinter denen weder irgendeine Partei noch eine effektive Massenbewegung stand, wurde er 205

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von seinen konservativen Kontrahenten gern als liberaler „Traumtänzer“, einzelgängerischer „Partisan“ oder gar lächerlicher „Don Quichotte“ hingestellt, der lediglich unerfüllbare Utopien propagiere.14 Wirkliche Bundesgenossen fand Jungk daher in diesen Jahren fast ausschließlich unter den aufmüpfigen Studenten der Achtundsechziger Bewegung, die er im Rahmen seiner Blockveranstaltungen an der Westberliner Technischen Universität zum Thema „Aspekte einer Zukunftsgesellschaft“ für die Vorstellung eines „sanfteren“ Umgangs mit Natur und Technik zu gewinnen suchte. Mit ihnen schrieb er darauf ein Handbuch unter dem Titel Zukunftswerkstätten. Mit Phantasie gegen Routine und Resignation, das 1977 erschien und nicht nur in der BRD, sondern auch in anderen europäischen Ländern zu ähnlichen Gruppenbildungen führte, während er von seinen Kritikern weiterhin als „Sandkastenapostel frustrierter Bürger und Studenten“ abgelehnt wurde.15 Wohl die nachdrücklichste Zustimmung erhielt Jungk, als sich Mitte der siebziger Jahre – im Zuge des geplanten Baus mehrerer Atomkraftwerke – in Westdeutschland ein allmählich immer stärker werdender Unwille unter der in diesen Gegenden lebenden Bevölkerung verbreitete, der schließlich zu massenhaften Protesten führte. Eine besonders aufsehenerregende Rolle spielte dabei der geplante Bau eines solchen Werks im badischen Wyhl, wo Jungk vor den dortigen Demonstranten eine anfeuernde „Rede gegen die Verwüstung“ hielt. Ebenso entschieden trat er bei den Protesten gegen das in der Nähe Hamburgs im Bau befindliche Atomkraftwerk in Brokdorf auf, bei denen die dortige Bereitschaftspolizei mit einer bisher noch nicht erlebten Brutalität, das heißt unter Einsatz von Tränengasgranaten, Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Spähpanzern, vorging. Viele der dortigen Demonstranten wurden sogar von sogenannten Einsatzgruppen gnadenlos verprügelt, mit Fußtritten traktiert oder ins Wasser geworfen. Empört über dieses Verhalten schrieb Jungk darauf in bewußter Anlehnung an Eugen Kogons Der SS-Staat sein Buch Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, da ihn der stetige 206

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„Vormarsch der technokratischen Elite im bundesrepublikanischen Deutschland immer deutlicher an die unseligen früheren Zeiten erinnerte“, wie er später erklärte.16 Um den wachsenden Widerstand der westdeutschen Bürger und Bürgerinnen gegen den Bau neuer Kernkraftwerke zu unterstützen, verfaßte Jungk demzufolge zwischen 1976 und 1979 unzählige Zeitungsartikel, in denen er nach wie vor auf die Risiken der angeblich „friedlichen“ Nutzung der Atomenergie hinwies und sich statt dessen für die längst erprobte Nutzung der ungefährlichen Solarenergie einsetzte. V Einen nachdrücklichen Auftrieb erhielten diese Bemühungen durch die 1980 entstehende Friedensbewegung, die als Reaktion auf den von Ronald Reagan neu entfachten Kalten Krieg gegen die Sowjetunion einsetzte und besonders von der im gleichen Jahr in den Bundestag eingezogenen Partei Die Grünen unterstützt wurde. An ihr beteiligte sich Jungk mit der gleichen Einsatzbereitschaft wie bereits vorher bei den Protesten gegen den Bau weiterer Atomkraftwerke. Schon am 10. Oktober 1980 trat er mit Heinrich Böll, Erhard Eppler und Uta Ranke-Heinemann bei der ersten großen Friedenskundgebung im Bonner Hofgarten als Redner auf. Ebenso engagiert nahm er 1981 an ähnlichen Demonstrationen gegen die amerikanische Hochrüstungskampagne in New York sowie in Großbritannien teil, wo englische Frauen tagelang den US-Stützpunkt Greenham Common belagerten. In der BRD engagierte sich Jungk im September 1983 vor allem an der Sitzblockade auf den Einfahrt- und Ausfahrtstraßen des amerikanischen Pershing-Geländes in Mutlangen. Hier habe er sich, erklärte er später, wie noch nie zuvor „mit so vielen Menschen verbunden gefühlt“.17 Zur gleichen Zeit gewann er unter ähnlich gesinnten Politikern und Wissenschaftlern, wie Günter Altner, dem Gründer des Freiburger Öko-Instituts, Petra Kelly, einer der Anführerinnen der Grünen, sowie dem Österreicher Günther Schwab, dem Autor des ökologieorientierten Romans Der Tanz mit dem 207

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Teufel (1958),18 immer mehr Freunde. Trotz alledem fühlte er sich bei vielen seiner Auftritte sowie Buchpublikationen dieser Jahre, wie Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche (1983) oder Und Wasser bricht den Stein. Streitbare Beiträge zu drängenden Fragen der Zeit (1986), weiterhin als ein Einzelgänger, da er weder Mitglied einer bestimmten Partei, Konfession oder Gewerkschaft war, sondern seine Forderungen stets als ein ideologisch freischwebender Intellektueller vortrug. Es nimmt daher nicht wunder, daß Jungk in der Folgezeit nicht nur geehrt, sondern auch angegriffen wurde. So erhielt er einerseits am 9. Dezember 1986 in Stockholm aufgrund seiner futurologischen Forschungen einen alternativen Nobelpreis, während er andererseits am 15. April 1986 in Hanau bei einem gegen ihn angestrengten Prozeß wegen seiner Beteiligung an einem der Anti-AKW-Proteste des Delikts der „Volksverhetzung und Landfriedensbruch“ angeklagt wurde, nämlich „öffentlich in einer Versammlung zu rechtswidrigen Taten aufgerufen sowie auf eine Menschenmenge eingewirkt zu haben, um ihre Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen zu befördern“.19 Doch angesichts der am 26.  April 1986 eingetretenen nuklearen Großkatastrophe in der Nähe der ukrainischen Stadt Tschernobyl, durch die auch in anderen Teilen Europas weite Gebiete „verstrahlt“ wurden, nahmen viele Menschen die von ihm ausgesprochenen Befürchtungen zusehends ernster. Als sich Jungk deshalb am 8. November des gleichen Jahres wiederum in Hanau bei einer Großkundgebung in aller Entschiedenheit gegen die zivil und militärisch genutzte Nukleartechnik aussprach, nahm der Beifall der dort Versammelten kein Ende. Da er am gleichen Vormittag von einer Chemiekatastrophe in Basel gehört hatte, bei der eine unübersehbare Giftmenge in den Rhein geflossen war, rief er am Schluß seiner Rede – angefeuert von der Zustimmung der ihm Zuhörenden – voller Empörung: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“, wobei es sich um einen Spontislogan der ehemaligen Achtundsechziger Bewegung handelte. 208

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Da nach der sogenannten Wende von 1989 plötzlich in vielen meinungsbildenden Massenmedien der neuen Bundesrepublik ganz andere Themen in den Vordergrund traten, sah sich Jungk in der Folgezeit mehr und mehr an den Rand gedrängt. So mußte er schmerzlich erleben, daß selbst die ihm bis dahin sympathisch erscheinende Zeitschrift natur plötzlich Reklame für die Atomindustrie trieb. Angesichts dieser Entwicklung zog er sich mehr und mehr nach Salzburg zurück. Allerdings setzte er sich auch dort weiterhin für eine atomfreie und ökologisch nachhaltige Wirtschaftsführung ein und begann zugleich mit dem Aufbau einer Internationalen Bibliothek für Zukunftsfragen. Im Januar 1992 wurde er sogar von der österreichischen Partei der Grünen Alternative als Kandidat bei der anstehenden Wahl zum Bundespräsidenten aufgestellt, bei der er zwar nicht gewählt wurde, aber diese Partei immerhin 5,7 Prozent der Stimmen erhielt, was für die damalige Zeit zumindest ein Achtungserfolg war. Doch dann wurde es allmählich stiller um Jungk. Dennoch hatte er das beruhigende Gefühl, daß durch das Ende des Kalten Kriegs wenigstens die hochbrisante Rivalität zwischen den beiden Supermächten und damit die Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung aufgehört hatte. Und auch die auf eine ökologische Umbesinnung drängenden Parteien schienen zu diesem Zeitpunkt in vielen Ländern eher zu- als abzunehmen. Aber waren damit wirklich alle weiteren Menschheitsfragen gelöst? fragte er sich. Schließlich gab es stets neue Kriege, ob nun in Serbien, in Afghanistan oder im Irak. Schließlich nahm die Verelendung der unaufhaltsam wachsenden Erdbevölkerung in Afrika, Asien und Südamerika ständig zu. Schließlich wurden die gefahrdrohenden Industriekomplexe im Zuge der sogenannten Globalisierung immer größer. Schließlich gab es noch immer ein gewaltiges Atombombenarsenal und eine Fülle neuer Atomkraftwerke. Schließlich drohte ein weltweiter Klimawandel – und vieles andere mehr. Wie sollte sich aufgrund all dieser Gefahrenherde eine bessere Zukunft ergeben? Jungk stellte zwar gegen Ende seines Lebens noch 209

Robert Jungk (1913–1994)

einen Katalog von Hoffnungen zusammen und arbeitete an einem Band unter dem Titel Das Sonnenbuch. Bericht vom Anfang einer neuen Zukunft,20 aber die Skepsis an der Verwirklichung seiner Erwartungen nahm allmählich zu. Es war zwar in den vorangegangenen Jahrzehnten manches in seinem Sinne erreicht worden, jedoch nicht das, worin er das Entscheidende sah, nämlich ein allgemeiner Bewußtseinswandel in Richtung auf eine der Natur angepaßtere, „sanftere“ Zukunft. Zugegeben, es gab auch weiterhin eine Reihe grüner Utopiker, ob nun Fritjof Capra, Ernest Callenbach und Rudolf Bahro, die wie er von einer lebenserhaltenden, ja lebensfördernden Umwelt träumten,21 jedoch Jungk sah zugleich, wie sehr sich deren Zukunftsvorstellungen vorerst nur in randständigen Kommunebildungen verwirklichen ließen oder unkonkrete Phantasiegebilde blieben. Dennoch vertraute er, wie alle gutgläubigen Liberalen, weiterhin auf die weltverändernde Kraft der menschlichen Vernunft. Falls mehr und mehr Menschen die Bedrohtheit unseres Planeten einsehen würden, hoffte er, könnten sich wenigstens einige, wenn nicht später sogar alle der seit dem späten 18.  Jahrhundert geschriebenen Naturutopien verwirklichen lassen. Er nannte daher seine Autobiographie, die 1993, ein Jahr vor seinem Tod, erschien, Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft. Es wäre besser um die Bundesrepublik, ja um die gesamte Menschheit bestellt, wenn sich möglichst viele Menschen, ja ganze Parteien oder Massenbewegungen seine antinuklearen und ökologiebewußten Zukunftsvorstellungen zum Vorbild nehmen würden, um so endlich jenen Umschwung in die Wege zu leiten, durch den die von Jungk und seinen Gesinnungsfreunden idealistisch erhofften Zustände nicht mehr unrealisierbare Utopien blieben. Schließlich ist die allgemeine Weltlage, was ein naturverträglicheres, das heißt nachhaltigeres Leben der ständig wachsenden Erdbevölkerung betrifft, inzwischen nicht besser, sondern wesentlich bedrohlicher geworden. Die von Jungk vertretenen Zukunftsforderungen sollten daher endlich eine besonders vordringliche Form unserer wissenschaftlichen Bemühungen werden, 210

Zukunftsforscher

statt sich – wie manche selbstgefälligen Zyniker – weiterhin mit neoliberalen Parolen wie „Hauptsache ich!“ oder „Nach mir die Sintflut!“ zu begnügen.

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Walter Grab (1919–2005) Historiker

I Viele Menschen hielten Walter Grab, wie ich immer wieder hörte, für einen ungebärdigen „Polterer“. Zugegeben, er konnte in öffentlichen Diskussionen seine Argumente manchmal recht laut vertreten und schreckte auch vor persönlichen Ausfällen nicht zurück, wenn ihm die Meinungen anderer unberechtigt oder gar töricht erschienen. Ohne sich groß Gedanken über den Grund seines übermächtigen Redeschwalls oder seiner vehement vorgetragenen Thesen zu machen, sahen daher all jene akademischen „Leisetreter“, die nirgends anecken wollten, in ihm einen bramarbasierenden Angeber, dessen Ansichten man nicht wirklich ernst zu nehmen brauche. In solchen Abwehrhaltungen äußerte sich meist eine gut- oder bestbürgerliche Arroganz einem Mann gegenüber, den Menschen dieser Art wegen seines von ihnen als kleinbürgerlich oder gar proletarisch empfundenen Auftretens für einen „ungehobelten Klotz“ hielten. Doch genug solcher ins Sozialpsychologische ausartenden Erwägungen. Letztlich waren es nämlich nicht nur seine wortgewaltigen Tiraden, sondern auch seine politischen Ansichten, die derartige Wissenschaftler provozierten. Schließlich sprach Grab überall dort, wo er Vorträge hielt oder auf Konferenzen auftrat, geradezu unentwegt von den revolutionären Forderungen der französischen Jakobiner, von der überragenden Bedeutung Maximilien Robespierres, vom „Kommunisten“ Georg Büchner, von Arbeiterführern wie Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle sowie vom „politischen Dichter“ Heinrich Heine. Und das war es, was viele der auf ihre wissenschaftliche Wertfreiheit eingebildeten westdeutschen Historiker oder Germanis-

Walter Grab (1919–2005)

ten als „unziemlich“ empfanden, und zwar selbst dann, wenn sie eher den Stil seines Auftretens als seine vorgetragenen Meinungen kritisierten. Aufgewachsen in der karrierebetonten Wirtschaftswunderwelt der Bundesrepublik der fünfziger und frühen sechziger Jahre war den meisten unter ihnen eine derartige politische Besessenheit weitgehend fremd. Sie „interpretierten“ zwar die in ihrem Fach zur Debatte stehenden Ereignisse oder Kunstwerke, so gut sie es vermochten, aber es kam ihnen mehrheitlich nicht darauf an, damit irgendwelche Thesen zu verbinden, wie sich die von ihnen als weitgehend akzeptabel empfundene gesellschaftliche Wirklichkeit „verändern“ ließe. Grab ging dagegen stets von der 11.  Marxschen Feuerbach-These aus. Für ihn gab es bei der Betrachtung des Weltgeschehens oder auch der Literatur nur die Kriterien „Fortschritt“ oder „Reaktion“. In dieser Hinsicht war er ein echter „Professor“, das heißt ein Bekenner, der kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es darum ging, den älteren Feudalherren, den Gegnern der Arbeiterbewegung, den Vertretern rassistischer Überlegenheitskonzepte oder anderen „illiberalen Finsterlingen“ die Leviten zu lesen. Schließlich hatte er als Wiener Jude in der ersten Hälfte seines Lebens von seiten der Nazifaschisten den unbarmherzigen Geltungs- und Zerstörungsdrang dieser Herren am eigenen Leibe erfahren. Und danach mußte er – erst in Palästina und dann in Israel – seinen Lebensunterhalt zwanzig Jahre lang als kleiner Lederhändler verdienen. Wer das wußte, verzieh ihm gern seine rhetorische Maßlosigkeit, ja bewunderte ihn, mit welcher Vehemenz er sich für menschliche Grundwerte wie politische Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit einsetzte. Schließlich wollte er, als er – bereits über 40 Jahre alt – endlich studieren konnte und Professor wurde, nicht beiseite stehen, sondern da „eingreifen“, wo andere lieber geschwiegen hätten, um nicht ihre akademische Laufbahn zu gefährden. Das sollten ihm auch seine Gegner, selbst wenn er ihnen persönlich auf die Nerven ging, nie vergessen.

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Historiker

II Geboren wurde Walter Grab am 17. Februar 1919 in Wien. Er entstammte „einer Familie des Mittelstandes, die für die Wiener Juden der Zwischenkriegszeit nicht untypisch war“, wie es in seiner 1999 im Kölner PapyRossa Verlag erschienenen Autobiographie Meine vier Leben. Gedächtniskünstler, Emigrant, Jakobinerforscher, Demokrat heißt.1 Sein Vater war ein Westjude aus Böhmen, seine Mutter eine Ostjüdin aus Galizien. Als reisender Kaufmann hatte sich sein Vater, der in Prag groß geworden war, 1908 in Wien niedergelassen und dort ein Geschäft für Lederwaren gegründet. Er ging nur selten in die Synagoge und sympathisierte lieber mit den reformorientierten Forderungen der österreichischen Sozialdemokratie. Seine Mutter hatte dagegen in Galizien eine armselige Kindheit erlebt und war dort mit einer starken Abneigung gegen die enggläubigen Traditionen der jüdischen Orthodoxie aufgewachsen, welche sie „mit dem Elend ihrer Jugend identifizierte und auch ihrem Sohn vermittelte“, wie Grab später schrieb.2 Zu ihren Lieblingsschriftstellern zählte Karl Emil Franzos, der aus der galizischen Kleinstadt Czortkow stammte und in seinen Schriften, vor allem der 1877 erschienenen Novellensammlung Die Juden von Barnow, die dortige Rabbinerherrschsucht so kritisch dargestellt hatte, daß ihn manche seiner Leserinnen und Leser fast für einen Antisemiten hielten. Um sich zu „assimilieren“, hatte deshalb seine Mutter ihren jüdischen Vornamen Feige in Franziska geändert und als energisch auftretende Geschäftsfrau in Wien einen wohlflorierenden Modesalon gegründet. Der junge Grab wuchs demzufolge in einem gesellschaftlichen Milieu auf, das im Judentum lediglich eine nebensächliche Konfession sah, und empfand sich in erster Linie als „Österreicher« und erst in zweiter Linie als „Jude“.3 Seine Eltern, die den als klassisch geltenden Bildungsidealen verhaftet waren, schickten ihn 1929 auf ein humanistisches Gymnasium, da sie die Kenntnis Goethes und Schillers sowie des Lateinischen und Griechischen für „unabdingbare Voraussetzungen des sozialen Auf215

Walter Grab (1919–2005)

stiegs“ hielten.4 Schon im Gymnasium sah er sich – nach dem Erstarken der nazifaschistischen Seyß-Inquart-Bewegung – den ersten antisemitischen Ausfällen gegenüber. 1934 erlebte er den Floridsdorfer Aufstand, bei dem von den rechtsradikalen Milizen fast 300 Arbeiter ermordet wurden, worauf ein Verbot der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) erfolgte. Sein Abitur machte Grab im Frühsommer 1937. Danach ermöglichte ihm ein vermögender Onkel eine Maturareise nach Paris, wo ihn besonders der spanische Salon mit dem Guernica-Bild Picassos beeindruckte. Aufgrund seiner Liebe zur deutschen Literatur hätte der neunzehnjährige Grab danach an der Wiener Universität am liebsten Germanistik studiert, wurde aber von seinen Eltern angehalten, sich lieber als Jurist ausbilden zu lassen. Anfang 1938 nahm er an Demonstrationen gegen den drohenden „Anschluß“ an Nazideutschland teil und stieß dabei auf Schlägertrupps mit Hakenkreuzbinden, die grölend durch die Straßen zogen und Lieder wie „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ sowie „Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s nochmal so gut“ sangen. Nach der Wiedervereinigung Österreichs mit Deutschland wurde sein reicher Onkel Ignaz Geller sofort verhaftet und die Geschäfte seiner Eltern kurz darauf „arisiert“. Anschließend kam es am 9. November 1938 zu wüsten Ausschreitungen gegen die 174.000 Juden, die damals in Wien lebten. Auch der junge Grab wurde umgehend inhaftiert und in einen kotverschmierten Keller eingesperrt. Als er wieder freikam, bemühte er sich – und zwar immer mit dem Gefühl: „Wenn Du nicht verschwindest, bringen die Dich um“5 – sofort um ein Visum für das englische Mandatsgebiet in Palästina, weil dort zwei seiner Tanten wohnten, die bereits 1910 in das damalige „Morgenland“ übergesiedelt waren. Und diesem Antrag wurde auch stattgegeben. Als er in Jerusalem ankam, waren seine zutiefst religiös eingestellten Verwandten erst einmal schockiert, als er ihnen unverblümt erklärte, daß er nicht „aus Zionismus, sondern aus Österreich stamme“.6 Den216

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noch ermöglichten sie es ihm, sich als Student an der Hebrew-Universität einzuschreiben. Da dort die deutsche Literatur bis 1981 nicht unterrichtet werden durfte, belegte er die Fächer Geschichte, Anglistik sowie Politische Philosophie und distanzierte sich zugleich scharf von der „nationaljüdischen Religion“.7 In den folgenden Monaten lebte er in ständiger Angst um seine noch immer in Wien verbliebenen Eltern, die erst im März 1939 – nach einer hohen Kautionszahlung – von den NS-Behörden die nötigen Auswanderungszertifikate erhielten. Als seine Eltern in Tel Aviv eintrafen und dort ein kleines Geschäft für Einkaufs- und Badetaschen gründeten, gab der junge Grab sofort sein Studium auf und half ihnen, die sich zutiefst gedemütigt und proletarisiert fühlten, bei der Arbeit an zwei mühsam erstandenen, kleinen Nähmaschinen. Doch nicht nur die schwere, ungewohnte Arbeit bedrückte ihn, sondern ebensosehr der gewaltige Kulturschock, in einer Stadt ohne Universität, ohne Theater und ohne Bibliotheken leben zu müssen. Er versuchte, sich nicht als „Einwanderer“, sondern als „Flüchtling“ empfindend, daher, so gut es ihm möglich war, „an der kulturellen Tradition und Sprache jenes Landes festzuhalten“, wie er später schrieb, „in der ich erzogen worden war, und war nicht bereit, mir die nationale Ideologie eines orientalischen Landes zu eigen zu machen, in das ich verstoßen worden war“.8 Nach der harten Arbeit an der Nähmaschine las er deshalb oft bis in die Nacht hinein alles, was er an Büchern über deutsche Geschichte und deutsche Literatur auftreiben konnte. Nachdem es in Palästina bis dahin vor allem zu Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Juden gekommen war, rückte 1941 auch die „deutsche Gefahr“ in greifbare Nähe. Die NS-Truppen unter General Rommel standen plötzlich am Suez-Kanal, die deutschen Fallschirmspringer waren auf Kreta abgesprungen, im Irak hatte der arabische Naziagent Raschid Ali die Macht ergriffen und Syrien wurde vom faschistischen Vichy-Regime beherrscht, wodurch sich unter den Juden in Palästina eine panikartige Angst verbreitete, über kurz oder lang von den Deutschen überrollt und umgebracht zu werden. Als daher Hitler 217

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im Juni 1941 die relativ erfolgreiche Mittelmeeroffensive abbrach und den Befehl gab, die Sowjetunion zu überfallen, sahen plötzlich viele der dortigen Juden – nach dem ideologischen und militärischen Versagen der westlichen Demokratien – in der Roten Armee ihren einzigen Hoffnungsträger. Der junge Grab freundete sich zu diesem Zeitpunkt mit einem ehemaligen Klassenkameraden aus Wien an, der inzwischen zum Kommunisten geworden war und ihm erklärte, „daß das Geheimnis des erfolgreichen Widerstands der kommunistischen Gesellschaftsordnung“ darin bestehe, weil die hinter ihr stehende Partei nicht gezögert habe, „die sozialistische Selbstbefreiung mit der nationalen Begeisterung zu verbinden“.9 „Diese Argumentation überzeugte mich“, erklärte er viele Jahre danach, „sie eröffnete mir neue Horizonte. Sie entsprach nicht nur meiner Hochachtung vor den arbeitenden Menschen, die ich schon in Wien beim Anblick der Demonstranten auf der Ringstraße empfunden hatte, sondern auch meiner eigenen sozialen Lage als ungelernter Taschenmacher ohne Aussicht auf einen intellektuellen Beruf.“10 Er las demzufolge in den folgenden Monaten nicht nur zahlreiche Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels, Franz Mehring und Georg Lukács, sondern nahm auch Beziehungen zu der bis dahin in Palästina verbotenen Kommunistischen Partei auf, verteilte die Zeitung Kol Haan (Volksstimme) an linksorientierte Arbeiter und schloß sich dem deutschsprachigen Kreis für fortschrittliche Kultur an, der unter Leitung von Hans Rosenthal die humanistischen und weltbürgerlichen Ideale der deutschen Klassik mit einer sozialistischen Weltanschauung zu verbinden suchte. Außerdem wurde er in der Liga V (Liga Victory) aktiv, die so lange Spendenaktionen für die Rote Armee organisierte, bis sie genug Geld zusammen hatte, um drei mit Arzneien und medizinisch-technischen Geräten gefüllte Ambulanzwagen für die sowjetischen Soldaten über Bagdad und Teheran nach Baku fahren zu können, weil sie auf diese Weise den Kampf der UdSSR gegen den Nazifaschismus zu unterstützen hoffte. 218

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Doch es dauerte noch bis zur Niederlage der NS-Truppen bei Stalingrad, bis die Juden in Palästina im Frühjahr 1943 endlich wieder aufatmen konnten. Allerdings flackerten danach auch einige innerjüdische Auseinandersetzungen wieder auf. Während deutsch-jüdische Linksliberale wie Arnold Zweig und Wolfgang Yourgrau in ihrer Wochenschrift Orient. Zeitfragen, Kultur, Wirtschaft mit „radikaldemokratischer Kompromißlosigkeit“ gegen den „Schollenpatriotismus und Provinzialismus“ der Rechtszionisten auftraten, schreckten diese nicht davor zurück, die Druckerei Lychenheim, wo der Orient gedruckt wurde, in die Luft zu sprengen, ja stießen den halberblindeten Zweig, als dieser im Tel Aviver Kino Esther auf deutsch zur Hilfe für die Sowjetunion aufrufen wollte, einfach zu Boden.11 Selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte die Premiere von Zweigs Stück Napoleon in Jaffa, in dem Grab einen jungen Jakobiner spielte, am 18. August 1945 lediglich auf dem Dachgarten des früheren Max-ReinhardtSchauspielers Arnold Czempin stattfinden, da in der Öffentlichkeit die deutsche Sprache lediglich als die Sprache Hitlers und nicht auch als die Sprache Goethes und Schillers galt.12 Nach 1945 löste sich der Kreis für fortschrittliche Kultur allmählich auf. Viele seiner Mitglieder kehrten nach Deutschland oder Österreich zurück bzw. wanderten in die Vereinigten Staaten aus, während Grab weiterhin im Lederhandel tätig blieb, das heißt Rohwaren einkaufte und Kundenbesuche machte. Innenpolitisch kam es in Palästina in der Folgezeit zu harten Konfrontationen zwischen den Rechtszionisten, die sich einen zukünftigen Judenstaat nur unter dem Schutzmantel der USA vorstellen konnten, und der Kommunistischen Partei Israels, welche die Schaffung eines derartigen Staates grundsätzlich ablehnte, weil sich ein solches Gebilde sicher „an die amerikanischen Imperialisten anlehnen und die politischen Rechte der einheimischen Bevölkerung nicht berücksichtigen würde“.13 Grab selber trat zwar für einen jüdischen Staat ein, aber mit völliger Gleichberechtigung der arabischen Bevölkerung und außenpolitischer Orientierung an der Sowjetunion, 219

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das heißt für einen „binationalen jüdisch-arabischen Staat, in dem die Kommunisten eine entscheidende Rolle spielen müßten“, weil die UdSSR und nicht die USA die „Welt von den Nazis befreit habe“.14 Als es nach der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 zu militärischen Auseinandersetzungen mit Ägypten, Jordanien, Syrien und dem Libanon kam, mußte Grab mehrfach Frontdienste leisten. Daß die palästinensischen Juden bei diesen Kämpfen überhaupt überlebten, verdankten sie weitgehend den Waffenlieferungen aus der CSSR und der Sowjetunion, die damals hofften, daß sich dieser Staat in linkszionistischer, das heißt sozialistischer Richtung entwickeln würde. Kurz darauf engagierte sich Grab in der linken Arbeiterpartei (Mapam) und dann in der Partei Smol (Links), die sich sowohl gegen die strikte Moskauhörigkeit der israelischen Kommunisten als auch gegen die amerikafreundliche Haltung der israelischen Sozialdemokraten wandten. In den Jahren 1951 bis 1959 wurde er – neben seiner Tätigkeit als Lederhändler – jedes Jahr einen Monat zum militärischen Reservedienst eingezogen. Was ihn in dieser Zeit besonders empörte, war die immer stärker werdende Religiosität unter den Juden, die sich vor allem durch die Zuwanderung arabischer Juden verbreitete, welche nach wie vor an den alttestamentlichen Mythos von den Juden als dem „auserwählten Volk“ glaubten. Als sich die „Links“-Partei im Zuge dieser Entwicklung im November 1954 auflöste, erwog Grab im folgenden Jahr, Israel zu verlassen und nach Wien zurückzukehren. Da jedoch seine Familie dagegen Einspruch erhob und sich auch seine wirtschaftlichen Verhältnisse allmählich verbesserten, schob er diese Entscheidung immer wieder auf. Kurzum: er blieb in Tel Aviv, war aber höchst unzufrieden mit seiner Lebensform, da er „nicht wußte, wie er aus seiner Kaufmannsexistenz entkommen konnte“.15 Eine neue Hoffnung schöpfte Grab erst wieder, als im Jahr 1957 in Tel Aviv eine Universität gegründet wurde. Damit eröffnete sich ihm die Möglichkeit, mit anderen älteren Einwanderern Abendkurse in Geschichte und Politikwissenschaft zu belegen. Tagsüber betätigte er 220

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sich demnach weiterhin als Lederhändler, während er nach Feierabend zahllose Bücher der antiken Klassiker sowie der zeitgenössischen Historiker las. Da er über ein ungewöhnliches Erinnerungsvermögen verfügte, trat er an Wochenenden zugleich in verschiedenen Kinosälen und einem Tel Aviver Theater als Gedächtniskünstler auf, wo er als „Taschenkaufmann mit einem elektronischen Gehirn“ vorgestellt wurde. 1961 legte er als Zweiundvierzigjähriger an der Universität Tel Aviv seine Bachelorprüfung in Geschichte und Philosophie ab, die ihm erlaubt hätte, sich an einer der dortigen Schulen um ein Lehramt zu bewerben. Weil ihm jedoch eher eine wissenschaftliche Karriere vorschwebte, nahm er 1962 Kontakte zum westdeutschen Gewerkschaftsbund und zur Friedrich-Ebert-Stiftung auf, von denen er sich ein Dissertationsstipendium in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) erhoffte. Und das wurde ihm – aufgrund der Bemühungen Jakob Monetas, des Chefredakteurs der Wochenzeitung Metall – am 13.  März 1962 auch gewährt. Da ihn seine Frau Alice in seinen Ambitionen voll und ganz unterstützte, verkaufte er daraufhin sein Lederwarengeschäft und fuhr für drei Jahre in die BRD. Als Dissertationsort wählte er Hamburg, weil dort im Fach Geschichte Fritz Fischer lehrte, der sich mit seinem linkskritischen Buch Griff nach der Weltmacht (1961), in dem es um die Kriegsschuld der Deutschen am Ersten Weltkrieg ging, bei seinen konservativen Kollegen in Westdeutschland als „Nestbeschmutzer“ höchst unbeliebt gemacht hatte. Nachdem Grab als sogenannter „hochbegabter Spätheimkehrer“ in einem Studentenheim, das sich Hamburger Europakolleg nannte, untergekommen war, fragte er Fischer, ob es zur Zeit der Französischen Revolution in Hamburg nicht nur eingeschüchterte Duckmäuser, sondern auch radikale Demokraten gegeben habe. Fischer, der auf diesem Gebiet keine weitreichenden Vorkenntnisse besaß, ermöglichte ihm darauf den Zugang zu allen einschlägigen Archiven, wodurch sich Grab relativ schnell in diesen Zeitabschnitt der norddeutschen Geschichte einarbeiten konnte. Auf Studienreisen in die Deutsche Demokratische 221

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Republik (DDR) lernte er in der Folgezeit unter anderem Hedwig Voegt kennen, die bereits 1955 ein Buch über die deutschen Jakobiner publiziert hatte,364 unterhielt sich mit Heinrich Scheel, dem damaligen Ostberliner Akademiedirektor und kenntnisreichen Historiker der süddeutschen Jakobiner, sowie führte in Leipzig Gespräche mit Walter Markov, dem Biographen des von den bürgerlichen Historikern immer wieder bewußt ausgeblendeten Jacques Roux, der 1793 als Sansculottenrebell in seinem Manifest des Enragés den Schwerpunkt der Französischen Revolution nicht auf irgendwelche sozial unverbindliche Freiheitsforderungen, sondern auf die Machtfrage zwischen Arm und Reich gelegt hatte, was auch für Grabs Einschätzung der Jakobiner von großer Bedeutsamkeit werden sollte. In die BRD zurückgekehrt, nahm er 1963 in Marburg Kontakt zum dortigen Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) auf und freundete sich mit dem linken Politologen Wolfgang Abendroth an, der damals die Parole „Kein Sozialismus ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Sozialismus“ vertrat und daraufhin aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) ausgeschlossen wurde. Anschließend suchte Grab in Frankreich und Westdeutschland ehemalige kommunistische Widerstandskämpfer gegen den Naziterror auf, die nach 1945 als die „Helden der ersten Stunde“ gegolten hatten und jetzt – im Zuge des Kalten Kriegs – weitgehend als „blindgläubige Sowjetfreunde“ diffamiert wurden. Bei nochmaligen Reisen nach Ostberlin sah er dort nicht nur mehrere Brecht-Stücke im Theater am Schiffbauerdamm, sondern versuchte, auch mit dem Jakobinerforscher Gerhard Steiner, einem der besten Kenner Georg Forsters und der Mainzer Republik von 1793, ins Gespräch zu kommen. Nachdem er in Hamburg einige Schwierigkeiten mit den dortigen Germanisten überwunden hatte, deren damals praktizierte „werkimmanente Methode“ er politisch total belanglos fand, promovierte er schließlich am 3.  Juli 1965 bei Fritz Fischer mit einer Schrift über Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein 1792–1799. Kurz darauf nahm er 222

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erstmals an einem wissenschaftlichen Kolloquium über die französischen Jakobiner in Wien teil, wo der linksorientierte Historiker Albert Soboul die dort versammelten Revolutionsforscher mit dem von Grab durchaus gutgeheißenen Ruf „Vive Robespierre!“ begrüßte.17 Nach seiner Rückkehr nach Tel Aviv wurde er an der dortigen Universität, die während seiner Abwesenheit von 1.000 auf 10.000 Studenten angewachsen war, sofort bei kargem Gehalt als Instructor mit 12  Wochenstunden Lehre angestellt. Doch das bekümmerte Grab wenig. Schließlich war ihm damit endlich der „Sprung vom Kaufmannsdasein zur akademischen Laufbahn“ gelungen.18 In seinen Vorlesungen und Seminaren verteidigte er besonders jene französischen und deutschen Jakobiner sowie all jene späteren rebellisch auftretenden Demokraten, die für eine politische und soziale Gleichberechtigung aller Menschen eingetreten seien. Außerdem vernachlässigte er keineswegs die zuvor geknüpften Kontakte mit Heinrich Scheel und Albert Soboul – und war glücklich, daß ihm Fritz Fischer die Chance bot, seine Dissertation als Buch herauszubringen,19 wodurch er schlagartig in die erste Reihe der internationalen Jakobinerforscher aufrückte. In Tel Aviv nahm Grab 1967 zudem mit Michael Loewy – nach der Bombardierung von Hanoi und der chemischen Vergiftung der vietnamesischen Wälder durch amerikanische Kriegsflugzeuge – an Protestdemonstrationen vor der Botschaft der Vereinigten Staaten in Tel Aviv teil und trat zugleich entschieden gegen jene religiösen Fanatiker auf, die sich für die Gründung „jüdischer Wehrdörfer“ im Westjordanland einsetzten. Im Zuge dieser Demonstrationen schloß er sich immer stärker jener Bewegung für Frieden und Sicherheit an, die auf den Straßen von Tel Aviv Flugblätter gegen weitere Annexionen nichtjüdischer Gebiete und für die Gleichberechtigung der Palästinenser verteilten. Ja, von 1967 bis 1973 war er sogar im Vorstand dieser Bewegung tätig. Erst nach dem Ende des Jom-Kippur-Kriegs im Oktober 1973 wurde der Gegendruck der religiösen Fanatiker, die immer stärker auf die 223

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Schaffung eines „Groß-Israel“ drängten, so übermächtig, daß sich diese Bewegung auflöste. Unterdessen war Grab im Jahr 1968 an der Universität Tel Aviv zum Wissenschaftlichen Rat befördert worden und hatte in Westdeutschland ihm sympathische Linke wie Hans Heinz Holz, Walter Jens, Hans Mayer und Reinhard Opitz kennengelernt. Beflügelt durch diese Kontakte, wagte er schließlich, dem neugewählten westdeutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der mehrfach gefordert hatte, sich in Zukunft stärker als bisher zu den demokratischen Traditionen Deutschlands zu bekennen, 1969 sein Jakobinerbuch zu schicken. Und Heinemann las es sogar, war davon beeindruckt und lud Grab zu einem Besuch nach Bonn ein. Da sich im Zuge der damals einsetzenden Achtundsechziger Bewegung selbst der bis dahin eher konservative Metzler Verlag in Stuttgart entschied, sich der durch diese Bewegung ausgelösten linken Welle anzuschließen, machte ihm dieser den Vorschlag, eine mehrbändige Dokumentation zu den deutschen Jakobinern herauszugeben, worauf Grab sofort einging.20 Mit dem gleichen Feuereifer griff er die Idee auf, mit Uwe Friesel, einem Freund aus der Hamburger Studentenzeit, 1970 bei Hanser einen Band unter dem Titel Noch ist Deutschland nicht verloren. Eine historisch-politische Analyse unterdrückter Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung herauszugeben, von dem sich binnen kurzer Zeit 20.000 Exemplare absetzen ließen. Überhaupt war das Jahr 1970 ein bedeutsamer Wendepunkt in Grabs Leben. Nach langwierigen Unterhandlungen mit der westdeutschen Forschungsgemeinschaft und der Volkswagenstiftung erhielt er im Dezember dieses Jahres endlich genug Geld, um an der Universität in Tel Aviv ein Institut für Deutsche Geschichte errichten zu können, ja sogar ein damit verbundenes Jahrbuch herauszugeben. Doch nicht allein das. Angefacht durch diese Erfolge verfaßte er zugleich mit unermüdlichem Eifer mehrere Aufsätze über revolutionäre Demokraten wie Harro Harring, Eulogius Schneider und Friedrich von der Trenck 224

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sowie veröffentlichte obendrein das Buch Leben und Werke deutscher Jakobiner in der von ihm begründeten Metzler-Reihe, zu der auch Hans Werner Engels, Alfred Körner und Gerhard Steiner je einen weiteren Band beisteuerten. Das Forschungsjahr, das Grab 1972 antrat, verbrachte er weitgehend in Europa, wo er sich in Bonn mit dem Germanisten Benno von Wiese stritt, den er als einen „kaltschnäuzigen Reaktionär“ empfand,21 in Marburg den jungen Büchner-Forscher Thomas Michael Mayer sowie Reinhard Kühnl, den Assistenten Wolfgang Abendroths, kennenlernte, Kontakte zu dem französischen Jakobinerforscher Jacques Grandjonc aufnahm, in England mit dem Historiker Eric Hobsbawm diskutierte sowie mehrere Vorträge über den Georg-Büchner-Freund Wilhelm Schulz hielt, der mit seinem Buch Die Bewegung der Produktion (1843) durch die Einführung der Begriffe „Basis“ und „Überbau“ einen maßgeblichen Einfluß auf Marx’ materialistische Geschichtstheorie ausgeübt und als erster Büchner als einen „Kommunisten“ charakterisiert hatte. Außerdem nahm Grab im Oktober dieses Jahrs in Düsseldorf an einer mehrtägigen HeinrichHeine-Konferenz teil, wo er mit Lothar Bornscheuer, Helmut Müssener und mir im Rahmen der von Otto Schönfeldt gegründeten Heine-Initiative vehement dafür eintrat, die dortige Universität endlich HeinrichHeine-Universität zu nennen, was jedoch von den dafür zuständigen Behörden abgelehnt wurde.22 Als er 1973 nach Israel zurückkehrte, sah er empört, daß es in diesem Staat inzwischen zu einer weiteren Stärkung der nationalreligiösen Kräfte gekommen war. Dennoch gab er auch in der Folgezeit nicht auf, sich nach wie vor für jene linken Politiker zu engagieren, die für eine Anerkennung der politischen und sozioökonomischen Autonomiebestrebungen der Palästinenser eintraten. Und an dieser Haltung hielt er bis zu seinem Tode fest. Gleichviel in welchem Land, überall setzte er sich weiterhin mit Gleichgesinnten für die Rechte der Unterdrückten ein. In den USA nahm er 1975 mit seinem Freund George Iggers in Buffalo an Sitzungen der National Association for the Advancement 225

Walter Grab (1919–2005)

of Colored People teil, in der BRD unterstützte er die Aktion Sühnezeichen, die sich unter der Leitung Volker von Törnes um einen deutschjüdischen Versöhnungsdialog bemühte, in Westberlin besuchte er den linken Theologen Helmut Gollwitzer und in Bonn den immer noch amtierenden Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Die gleiche Haltung legte er – wieder nach Israel zurückgekehrt – als entschiedener Gegner der Araberpolitik der dortigen Regierung an den Tag. Als es erneut zu Demonstrationen gegen die jüdische Besiedlung arabischen Bodens im Westjordanland kam, setzte er bei gewaltsamen Auseinandersetzungen – vor allem in der palästinensischen Universitätsstadt Nablus – sogar mehrfach sein Leben aufs Spiel. Den Winter 1977/78 verbrachte Grab auf Einladung des Historikers Julius H. Schoeps als Gastprofessor an der Universität Duisburg, wo ihm 1985 ein Ehrendoktorat verliehen wurde. Ebenso wichtig waren ihm zu dieser Zeit die Besuche bei Bernd Engelmann, dem er vor allem für dessen Buch Deutsche Radikale. 1777–1977 als historiographischer Ratgeber wichtige Hinweise gab. Doch auch sonst ließen seine vielfältigen Aktivitäten keineswegs nach. So versuchte er 1978 in Wien den österreichischen Präsidenten Bruno Kreisky für die Errichtung eines Instituts für Österreichische Geschichte in Tel Aviv zu gewinnen, nahm in Frankreich Kontakte zu dem Jakobinerforscher Alain Ruiz auf und wandte sich in Tel Aviv scharf gegen den israelischen Premierminister Menachem Begin, den er wegen des militärischen Überfalls auf den Libanon einen „faschistischen Zionisten“ nannte.23 Ein Jahr später beteiligte er sich an der großen Preußen-Ausstellung in Westberlin, wo er sich dafür einsetzte, jene zehn häßlichen Porzellanaffen auszustellen, die der Jude Moses Mendelssohn kaufen mußte, um eine Heiratserlaubnis zu bekommen – ein Vorschlag, der jedoch von den dortigen Historikern abgelehnt wurde. 1980 wurde ihm vom westdeutschen Bundespräsidenten Karl Carstens das Bundesverdienstkreuz erster Klasse angeboten, was er jedoch in einem offenen Brief an das Wochenblatt Die Zeit in aller Schärfe 226

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ablehnte, da am selben Tag auch der politisch schwer belastete Kriegsverbrecher Hans Wissebach, der nach wie vor bei sogenannten Kameradschaftstreffen ehemaliger SS-Angehöriger revanchistische Reden hielt, in Bonn mit dem gleichen Orden ausgezeichnet werden sollte. 1981 entschied er sich, für den Verlag Quelle & Meyer ein Buch über Heine als politischer Dichter zu schreiben, das ihm schon lange vorgeschwebt hatte, und hielt weiterhin Vorträge in Österreich und der Bundesrepublik über das politische Vermächtnis der deutschen Jakobiner. In Wien geriet er dabei mit dem dortigen Germanisten Alberto Martino in einen heftigen Streit, welcher mit reaktionärer Kaltblütigkeit behauptete, daß die Juden die Urheber aller früheren Revolutionen gewesen seien und es ohne Robespierre und die Jakobiner keinen stalinistischen Terror gegeben hätte. Jeder, der Grab kannte, kann sich vorstellen, wie vehement er auf derartige Unterstellungen reagiert haben muß. Da das linke Netzwerk an den westeuropäischen Universitäten zu diesem Zeitpunkt noch relativ intakt war, konnte Grab dort auch in der Folgezeit seine vielfältige Vortragstätigkeit fortsetzen und außerdem in seinem Tel Aviver Institut für deutsche Geschichte mehrere Konferenzen abhalten, die sich im Zuge der damals aktiv werdenden Friedenskampagne mit ideologisch widersetzlichen Themen auseinandersetzten. Doch nicht allein das. Nach der Bombardierung Beiruts nahm er im Mai 1983 an mehreren Demonstrationen gegen Menachem Begin und Ariel Sharon teil, aus denen dann die Bewegung „Frieden jetzt“ in Israel entstand. Im folgenden Jahr stimmte er bei den Wahlen zur Knesseth für die neugegründete Jüdisch-palästinensische Partei unter Miari und Matti Peled, die sich in aller Schärfe gegen den reaktionären Likud-Block wandte, der für den Libanonkrieg verantwortlich war. 1984 war zugleich das Jahr, in dem Grab in Tel Aviv emeritiert wurde und er eine von dem westdeutschen Jakobinerforscher Jörn Garber herausgegebene Festschrift mit dem Titel Die bürgerliche Gesellschaft zwischen Demokratie und Diktatur erhielt, die beim 227

Walter Grab (1919–2005)

Marburger Verlag für Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaft erschien und zu der sein langjähriger Freund Wolfgang Abendroth das Vorwort geschrieben hatte. Während bei manchen Wissenschaftlern nach der Emeritierung häufig eine gewisse Erschlaffungsperiode einsetzt, trat bei Grab eher das Gegenteil ein. Er wurde als „fahrender Scholar aus dem Morgenland“, wie er sich jetzt gern nannte,24 fast noch aktiver als zuvor. Wo sich ihm eine Gelegenheit bot, ob in Ost- oder Westdeutschland, in Frankreich oder den USA: überall hielt er weiterhin unermüdlich Vorträge über die verschiedenen demokratisch-revolutionären Bewegungen in der europäischen Geschichte des 18. und 19.  Jahrhunderts und schloß sich ebenso aktiv all jenen Umzügen an, die solche Tendenzen unterstützten. So nahm er am 8. August 1984, dem Hiroshima-Tag, in den USA an den Protestaktionen der Atombombengegner teil und beteiligte sich im folgenden Jahr – wiederum in den Vereinigten Staaten – an Demonstrationen gegen die ultrarechte Regierung in El Salvador und zugleich an Hilfsaktionen für die linksorientierten Sandinisten in Nicaragua, die sich gegen die amerikanische Außenpolitik wandten. Im Wintersemester 1984/85, als er an der Hamburger Universität eine Gastprofessur wahrnahm, lernte er den dortigen Germanisten Wolfgang Beutin kennen, mit dem er im Hinblick auf das Jahr 1989 eine internationale Konferenz über die Französische Revolution zu planen begann. Außerdem brachte er 1984 bei dem aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangenen Verlag Büchergilde Gutenberg sein umfangreiches Buch Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern. Zur Geschichte der deutschen Jakobiner heraus und schrieb zudem zahlreiche Aufsätze über ihm wohlvertraute Vormärzler wie Georg Büchner, Harro Harring, Heinrich Heine und Wilhelm Schulz. Ebenso engagiert nahm er in dieser Zeit an dem viel diskutierten Historikerstreit teil und bezog Stellung gegen Andreas Hillgruber, Ernst Nolte und Michael Stürmer. In der Folgezeit wurden seine Auftritte bei wissenschaftlichen Tagungen oder allgemeinbildenden Veranstaltungen fast noch vehementer. So 228

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beschwor er etwa das Publikum der Ostberliner Jüdischen Kulturgemeinde im Jahr 1986, nicht die welthistorische Leistung Stalins und der Roten Armee zu vergessen, Europa vom Faschismus befreit zu haben, während er sich 1987 in aller Offenheit gegen das Perestroika- und Glasnost-Gerede Michail Gorbatschows aussprach, das den Niedergang des Kommunismus in Osteuropa nicht aufhalten, sondern eher beschleunigen würde. Im Dezember des gleichen Jahres nahm er wiederum in Tel Aviv im Rahmen der Bewegung „Frieden jetzt“ an Protestversammlungen gegen die von der rechtsgerichteten Regierung unter Yitzhak Schamir angeordneten Gewaltmaßnahmen der israelischen Armee im Gaza-Streifen teil, wo den dort eingesetzten israelischen Soldaten befohlen wurde, allen widersetzlichen jungen Arabern mit dem Gewehrkolben die Arme und Beine zu brechen, worüber sich Grab nicht genug erregen konnte. In den folgenden zwei Jahren schrieb er den Band Die Französische Revolution. Aufbruch zur Demokratie, der 1989 termingerecht in fünf Sprachen erschien, und hielt in Hamburg auf der großen Internationalen Tagung über die Auswirkung dieser Revolution auf Deutschland einen kühn konzipierten Vortrag über „Die norddeutschen Jakobiner als Erben Lessings“, in dem er behauptete, daß auch Lessing, falls er länger gelebt hätte, die unvermeidlichen Gewaltmaßnahmen der französischen Jakobiner sicher befürwortet hätte. Während dieser Europareise suchte er zugleich Linke und Linksliberale wie Reinhard Kühnl in Marburg, Hermann Glaser in Nürnberg und Johann Dvořak in Wien auf. Als er sich 1990 auf einer weiteren Vortragsreise durch Ostund Westdeutschland befand, nahm er bei einer Fernsehdebatte massiv gegen die sich abspielende Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten Stellung, die nicht nur zu einem neuen deutschen Nationalismus, sondern – wegen der gewaltig angewachsenen Wirtschaftskraft der BRD – auch zu einer „Lateinamerikanisierung“ Osteuropas führen könne. Auch schreckte er nicht davor zurück, bei einer Rede in Berlin die inzwischen abgeschlossene Wiedervereinigung als „konterrevoluti229

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onär“ zu bezeichnen und die sogenannte Wende mit dem rechtsgerichteten Aufstand der Vendée während der Französischen Revolution zu vergleichen. Aufgrund der sich anschließend in Deutschland vollziehenden ideologischen Umorientierungen sowie der sich politisch verhärtenden Verhältnisse in Israel wurde Grabs Weltsicht in den neunziger Jahren zwar immer kämpferischer, aber auch immer verbitterter. Nichts, aber auch nichts schien sich in seinem Sinne in Richtung einer demokratischen Gleichberechtigung sowie einer zunehmenden Friedensbereitschaft zu entwickeln. Immer wieder schrieb er daher in Briefen an seine Freunde: „Wer kennt heute noch Jakobinerforscher wie Markov und Soboul?“25 Überall seien die „Orthodoxen und Ultranationalisten“ im Vormarsch.26 Und auch wirtschaftlich habe sich die Situation in vielen westlichen Ländern eher verschlechtert als verbessert, da sich der „siegreiche Privatkapitalismus“ nicht imstande sehe, die grundlegenden „Probleme der Menschheit“ zu lösen.27 Diese Verbitterung wurde manchmal so stark, daß er, der sich bisher stets als ein unermüdlicher Kämpfer für den gesellschaftlichen Fortschritt empfunden hatte, schließlich in besonders trüb gestimmten Momenten erklärte: „Ich bin ganz zufrieden, daß ich die Zukunft nicht mehr erleben werde.“28 Vor allem in Israel gefiel ihm in diesen Jahren „nichts“ mehr, weder die Sprache, das Klima, die Kultur noch das Judentum.29 Doch er würgte diesen Zorn nicht nur hinunter, sondern gab ihm in seinen letzten Schriften auch einen viele orthodox gestimmte Israelis empörenden Ausdruck. Dafür spricht vor allem sein später Aufsatz Drei große Utopien der Menschheit, in dem er das Christentum, die Radikalaufklärung der Französischen Revolution und den Kommunismus als die drei großen Fortschrittsideologien der Menschheit bezeichnete, da sie den Idealzustand des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowohl in rechtlicher als auch in politischer und sozialer Hinsicht in der „Verwirklichung des Prinzips der Gleichheit“ gesehen hätten.30 Das Christentum habe in seinen Anfängen „Gleichheit, Moralität und Bedürf230

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nislosigkeit“ gepredigt, der Jakobinismus sei für die „Gleichheit aller aufgrund der als Basis aufgefaßten Volkssouveränität“ eingetreten und Kommunisten wie François Noël Babeuf, Louis Auguste Blanqui und Karl Marx hätten sich für eine „klassenlose Sozialordnung“ eingesetzt, in der es kein „Profitprinzip“ und keine „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ mehr geben würde.31 Doch alle drei dieser Utopien seien an der Macht der herrschenden Klassen gescheitert, und daher sei die Idee des gesellschaftlichen „Fortschritts“ auf der Strecke geblieben. Als Grab – nach einer mehrjährigen körperlichen Leidenszeit – am 17. Dezember 2005 in Tel Aviv starb, war er ein gebrochener Mann, der angesichts der fatalen Entwicklung im Staat Israel sowie der durch die profitwirtschaftlich orientierte Globalisierung – deren Ergebnis, wie er behauptete, eine von den USA und Westeuropa dominierte kapitalistische Wettbewerbsgesellschaft sei, in der es keinen „utopischen Vorschein“ mehr gebe – schließlich den Mut verlor, weiterhin auf einen möglichen „Fortschritt“ zu hoffen. Dennoch blieb er für manche seiner Freunde auch danach weiterhin ein Vorbild dafür, bei allem „Pessimismus des Intellekts“ – im Gefolge Antonio Gramscis – nach wie vor an einem „Optimismus des Willens“ festzuhalten.

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Hans Heinz Holz (1927–2011) Philosoph

I Trotz seines umfangreichen Œuvres und der gedanklichen Schärfe seiner Fragestellungen blieb Hans Heinz Holz in den Jahrzehnten nach 1945 innerhalb der westdeutschen Philosophen ein Außenseiter, wenn nicht gar ein Outlaw. Während sich Martin Heideggers Wesensbestimmungen des Seins, Theodor W. Adornos Kritische Theorie und Hans-Georg Gadamers hermeneutische Spekulationen relativ mühelos in die systemerhaltenden Ideologien der sogenannten westlichen Welt integrieren ließen, stieß Holz mit seinem materialistisch orientierten Rigorismus, der die im NATO-Bereich herrschende kapitalistische Gesellschaftsordnung grundsätzlich in Frage stellte, allenthalben auf Widerstand. Selbst in Ostdeutschland oder gar in der Sowjetunion wurde er nur widerwillig akzeptiert, da er als eigenwilliger Partisanenprofessor in seinen Schriften ständig auf die überragende Bedeutung von Georg Lukács und Ernst Bloch hinwies, die seit 1956 bzw. 1961 in diesen Bereichen als verdammenswerte „Renegaten“ galten und deshalb danach nur noch im Westen publizieren konnten. Doch nicht allein das verübelten ihm die Dogmatiker unter den osteuropäischen Kommunisten. Noch am ehesten begrüßten sie, daß Holz immer wieder auf die mit Leibniz beginnende und im Denken Hegels kulminierende Bedeutsamkeit des dialektischen Fortschrittsdenkens innerhalb der bürgerlichen Aufklärung für die Entstehung des Marxismus hinwies, die von grundlegender Wichtigkeit gewesen sei. Jedoch bezogen sie sofort Front gegen ihn, wenn er Sozialismusvorstellungen unterstützte, welche sich nicht in erster Linie am stalinistisch vorgegebenen Sowjetmodell orientierten, sondern – wie

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in Jugoslawien oder China – von den dort existierenden politischen und sozioökonomischen Verhältnissen ausgingen. Darin witterten die meisten Theoretiker der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) lediglich eine abweichlerische Antikominternhaltung, obwohl Holz, trotz seiner polyzentristischen Auffassung des Kommunismus, nie seine marxistische Grundhaltung verleugnete, die letztlich auf eine radikale Negierung des marktwirtschaftlichen Systems hinauslief. Und mit dieser Haltung stieß er – abgesehen von der kurzlebigen linken Welle gegen Ende der sechziger Jahre – auch in Westdeutschland auf Ablehnung. Ja, selbst viele Vertreter der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition (APO) sahen in ihm keinen Bundesgenossen, da er sich mehrfach gegen die anarchistischen Auswüchse dieser Bewegung aussprach, die er lediglich als eine Wiederkehr jener „Kinderkrankheiten des Kommunismus“ empfand, welche bereits Lenin scharf abgelehnt hatte. Entsprechend geriet er in der Folgezeit zusehends in ein gesellschaftspolitisches Abseits. Es spricht für die Größe seiner Haltung, daß er – nachdem man ihn 1979 aus Westdeutschland hinausgeekelt hatte – trotz alledem nicht verzagte oder sich in einen ineffektiven Schmollwinkel zurückzog, sondern an der holländischen Universität in Groningen und dann in der Schweiz weiterhin ein Buch nach dem anderen verfaßte. In diesen bemühte er sich um eine Neuorientierung des marxistischen Gedankenguts, um so – vor allem nach dem Zusammenbruch des Ostblocks im Jahr 1989 – den weiterhin an ihren linken Überzeugungen festhaltenden Gruppen in den nun anstehenden politischen und sozioökonomischen Auseinandersetzungen wirksame Fixpunkte für eine ideologische Neuorientierung zu bieten. Und das macht ihn nach wie vor zum vorbildhaften Beispiel eines akademischen Lehrers, der sich seit seinen Anfängen stets an das Leibnizsche Motto „Theoria cum praxi“ gehalten hat.

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II Geboren wurde Hans Heinz Holz am 26. Februar 1927 als Sohn des Diplomingenieurs Friedrich Holz und seiner Ehefrau Martha, geb. Reiss, in Frankfurt am Main. Als hochbegabter Schüler erfüllte er anfänglich alle Erwartungen seiner Eltern, bis er sich im Sommer 1943 – als Sechzehnjähriger – einer antifaschistischen Jugendgruppe anschloß, worauf er im Oktober desselben Jahres von der Gestapo verhaftet wurde und monatelang „einsitzen“ mußte. Da ihn im Gefängnis einige „ältere Kommunisten“ mit den Grundlehren des Sozialismus vertraut gemacht hatten,1 schloß sich Holz nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs im Herbst 1945 umgehend der in Frankfurt neugegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) an. In dieser Zeit lernte er dort den aus dem Schweizer Exil zurückgekehrten Hans Mayer kennen, der ihn mit der Redaktion der Mitteilungen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) betreute. Ebenso wichtig war für Holz damals, daß ihn das KPD-Mitglied Emil Carlebach, einer der Chefredakteure der Frankfurter Rundschau, aufforderte, sich auch für dieses Blatt journalistisch zu betätigen.2 Anschließend begann Holz erst in Frankfurt und dann an der Mainzer Universität Philosophie und Neuere deutsche Literatur zu studieren, wobei ihn Joseph König zu seinen ersten Leibniz-Studien anregte.3 Schon in seiner Studienzeit veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze und Rezensionen in Blättern wie Das Goldene Tor, der Zeitschrift für philosophische Forschung, dem Philosophischen Literaturanzeiger, der Deutschen Literaturzeitung, dem Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie sowie der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, in denen er sich mit Fragen der Ästhetik, dem Lukácsschen Realismusbegriff, der Theaterauffassung Bertolt Brechts, der Literaturkritik Hans Mayers, den Hegel-Studien Ernst Blochs, den Schriften von Werner Krauss und der Geschichtsauffassung des ehemaligen Nationalbolschewisten Ernst Niekisch, der inzwischen Philosophieprofessor an der Ostberliner Humboldt-Universität geworden war, auseinandersetzte.4 Obendrein brachte er bereits in diesen Jahren zwei 235

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bedeutsame Bücher heraus, die sich mit dem Existentialismus JeanPaul Sartres sowie mit sprachphilosophischen Problemen beschäftigten. All das sah – im Rahmen der ideologisch noch ungeklärten Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit – nach dem Beginn einer vielversprechenden akademischen Karriere aus. Doch dann kam es im Zuge des sich verschärfenden Kalten Kriegs zu einem Bruch in seinem Studiengang. Schließlich galten Bloch, Lukács und Mayer, die sich als linksorientierte Juden in den Jahren 1945–1947 selbst diesseits der Elbe noch einer gewissen Hochachtung erfreut hatten, seit Anfang der fünfziger Jahre in der von Konrad Adenauer mit eiserner Hand regierten westdeutschen Bundesrepublik (BRD) nur noch als ideologische Handlanger des in der „Ostzone“ herrschenden Sowjetregimes. Und das bekam auch Holz in Mainz zu spüren. Sein dortiger Doktorvater, der Heidegger-Schüler Otto Friedrich Bollnow, hätte Holzens Dissertation zum Thema Die Selbstinterpretation des Seins, mit der er sich 1954 ein Freibillett zu den Heiligen Hallen der Gelehrsamkeit zu erkaufen suchte, vielleicht noch angenommen. Aber sein Nachfolger, der ehemalige NS-Sympathisant Gottfried Martin, ließ ihn bei der mündlichen Prüfung gnadenlos durchfallen, um ihm jede weitere Karrierechance zu verderben.5 Doch davon ließ sich Holz nicht entmutigen. Im Gegenteil. Im darauffolgenden Jahr publizierte er beim Ostberliner Aufbau Verlag und in der ebenfalls in Ostberlin erscheinenden Zeitschrift Sinn und Form zwei längere Aufsätze zu Bloch und Lukács, in denen er aus seiner linkskritischen Gesinnung keine Mördergrube machte. Wegen dieser beiden Essays wurde Bloch auf den jungen Holz aufmerksam und lud ihn umgehend ein, nach Leipzig zu kommen und bei ihm zu promovieren. Mit der Option auf eine Habilitation schrieb Holz kurz darauf eine Dissertation unter dem Titel Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel, die Bloch mit Summa cum laude bewertete, der ihm jedoch im Spätherbst 1956 keine Promotionsurkunde mehr ausstellen konnte, da 236

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er wegen seiner Parteinahme für den Ungarnaufstand bei der SEDFührung in Ungnade gefallen war6 und sich daraufhin, um nicht „vom Westen als eine Symbolfigur gegen die DDR-Politik aufgebaut zu werden“, Hals über Kopf emeritieren ließ.7 Aufgrund dieser Ereignisse sah sich Holz gezwungen, wieder in die BRD zurückzukehren. Wegen seines „Abstechers“ nach Leipzig und zugleich des im Jahr 1956 von Adenauer verfügten Verbots der KPD war es dort für ihn unmöglich, als prononcierter Linker eine universitäre Anstellung zu finden. Also blieb Holz vorerst nur der Weg in den Journalismus übrig.8 Und er hatte das Glück, bei dem linksorientierten Münchner Blatt Deutsche Woche als innenpolitischer Redakteur unterzukommen, für das er bis 1962 354 Beiträge unter aufreizenden Titeln wie Der atomare Größenwahn, Ausverkauf der Demokratie, Strauß plant Mammutaufrüstung, Polizei knüppelt Presse nieder, Kriegspropaganda gegen Sowjetunion, Aushöhlung der rechtstaatlichen Ordnung, Goebbels’ Mannschaft kehrt wieder und Friedenspropaganda unerwünscht schrieb.9 Zugleich scheute er nicht davor zurück, im selben Zeitraum auch ähnlich geartete Kurzessays in der Leipziger Volkszeitung und Ostberliner Blättern wie der Neuen Zeit und dem Sonntag herauszubringen. Ab 1960 lebte er zeitweilig als freier Journalist in der Schweiz, verfaßte sowohl für die Baseler National-Zeitung als auch für die Düsseldorfer Nachrichten sowie die Frankfurter Rundschau unzählige Artikel, ja schrieb Anfang der sechziger Jahre von Zürich aus sogar 80 Kunstkritiken für die Frankfurter Allgemeine Zeitung 10 und nahm schließlich eine Stelle als Redaktionsleiter des Abendstudios beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt an. Allerdings gab Holz selbst in diesen Jahren seine wissenschaftlichen Ambitionen keineswegs auf und publizierte weiterhin Aufsätze und Rezensionen in Blättern wie dem Merkur, der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, der Deutschen Literaturzeitung, dem Hegel-Jahrbuch, der Universitas, den Sozialistischen Heften sowie den Blättern für deutsche und internationale Politik und zugleich Bücher zu Leibniz, zum französischen Existentialismus und zum Sprachverständnis und Stil Heinrich 237

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von Kleists. Alle diese Veröffentlichungen belegten die Weite und Vielfalt seiner Interessen, seine höchst differenzierte Auseinandersetzung mit philosophischen Zeitfragen sowie seine hartnäckige Widersetzlichkeit gegenüber dem restaurativen Kurs innerhalb der westdeutschen Ideologiebildungen. Sein besonderes Interesse galt dabei in politischer Hinsicht der Krise des bürgerlichen Liberalismus, der Wiederbewaffnung der BRD, den Gefahren der Atomrüstung sowie der drohenden Notstandsgesetzgebung,11 während er sich wissenschaftlich weiterhin mit kritischen Fragestellungen in den Werken von Bloch, Leibniz und Lukács auseinandersetzte. Von rebellisch auftretenden Gruppen wurden diese Schriften jedoch erst wahrgenommen, als es 1967/68 in der BRD aufgrund einer vorübergehenden Wirtschaftskrise zu einer politischen Polarisierung kam, die sowohl die Entstehung rechter als auch linker Strömungen begünstigte. Darin sah Holz, neben anderen sozialistisch eingestellten Gesellschaftswissenschaftlern wie etwa Wolfgang Abendroth, endlich eine Chance, seiner Stimme auch in den universitären Auseinandersetzungen verstärkt Gehör zu verschaffen. Ab 1967 ging daher die Zahl seiner journalistischen Beiträge allmählich zurück, während die Zahl seiner wissenschaftlichen Publikationen sprunghaft zunahm. So gab er in diesem Jahr nicht nur bei S. Fischer eine Auswahl der Schriften von Ernst Bloch heraus, sondern äußerte sich in der Alternative zu Walter Benjamin, kritisierte in der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter die konservativen Literaturtheorien Emil Staigers, sprach sich mehrfach über die inneren Probleme der Sowjetunion aus, setzte sich beim Luchterhand Verlag mit dem Utopismus Herbert Marcuses auseinander und publizierte 1968 seine Leipziger Dissertation unter dem Titel Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel. Zur Interpretation der Klassengesellschaft, worauf ihm die Leipziger Universität – auf Drängen Alfred Kosings – am 15. Januar des folgenden Jahres endlich seine 12 Jahre vorenthaltene Dissertationsurkunde ausstellte. Doch das meiste Aufsehen erregte sein Beitrag zu dem Buch Gespräche mit Georg Lukács, das 238

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1967 bei Rowohlt erschien und in dem jene Diskussionen abgedruckt waren, die er kurz zuvor zusammen mit Wolfgang Abendroth und Leo Kofler in Budapest mit dem greisen Lukács geführt hatte und die wenig später auch in italienischer, japanischer, serbischer, portugiesischer und französischer Übersetzung herauskamen. Aufgrund all dieser Publikationen und der zu diesem Zeitpunkt an den westdeutschen Universitäten einsetzenden linken Welle begannen sich plötzlich auch jene rebellischen Gruppen unter den studentischen Achtundsechzigern, vor allem diejenigen, welche mit der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) sympathisierten, für Holz zu interessieren. Ja, selbst in der Schweiz, wo er 1968 an der Züricher Volkshochschule einen Vorlesungs- und Seminarkurs zu Ernst Blochs Prinzip Hoffnung gehalten hatte, kam es mit einem Mal unter den dortigen Studenten zu linksorientierten Unruhen. So traten etwa am 9. Dezember 1970 Hunderte von aufmüpfig gesinnten Studenten in der berstend vollen Berner Aula lautstark dafür ein, keine konservativen Professoren mehr zu berufen, sondern Hans Heinz Holz zu habilitieren und ihm anschließend einen Lehrstuhl in Philosophie anzuvertrauen, womit sie sich allerdings bei den konservativen Ordinarien der dortigen Universität nicht durchsetzen konnten.12 Ähnliche Schwierigkeiten ergaben sich für Holz, als in den Zentren der westdeutschen Achtundsechziger Bewegung, vor allem in Westberlin und Marburg, mit seinen politischen Anschauungen sympathisierende Verwaltungsbeamte, Professoren und Studenten für ihn eintraten. Einige von ihnen beriefen sich dabei nachdrücklich auf die 1956 vom Bundesverfassungsgericht getroffene Entscheidung, daß zwar die KPD als Partei zu verbieten sei, aber die marxistische Wissenschaft „als solche selbstverständlich frei“ sein solle. Ja, Wolfgang Abendroth wies in diesem Zusammenhang auf die beschämende Tatsache hin, daß es unter den Sozialwissenschaftlern in Frankreich, Italien, Großbritannien, Japan und sogar den USA durchaus Marxisten gebe, während in der Bundesrepublik und in Westberlin – wegen der herrschenden geis239

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tigen Unfreiheit – kein einziger Wissenschaftler dieser Couleur zu finden sei. Doch der Gegendruck der konservativen Kräfte – vor allem von seiten der Christlich-Demokratischen Union (CDU) und des Bunds Freiheit der Wissenschaft – erwies sich in beiden Fällen als beträchtlich. In Westberlin war es vor allem der Wissenschaftssenator Werner Stein, der sich 1970 gegen eine Berufung von Holz an die Freie Universität aussprach, obwohl ihn die dortige Philosophische Fakultät auf Drängen Margarita Brentanos und Peter Szondis in ihrer Berufungsliste auf die erste Stelle gesetzt hatte. In Marburg ließ sich dagegen der hessische Kulturminister Ludwig von Friedeburg trotz mancher Vorbehalte dann doch dazu bewegen, den allerorten „übel beleumdeten“ Holz – den die dortige Philosophische Fakultät aufgrund von Gutachten von Ernst Bloch, Franco Lombardi, Helmuth Plessner, Gershom Scholem und Michael Theunissen ebenfalls als ihren wichtigsten Kandidaten auf die Berufungsliste für einen Lehrstuhl im Fach Philosophie gesetzt hatte – im Dezember 1970 offiziell zu berufen. Doch das erwies sich vorerst als eine leere Geste. Schließlich löste diese Entscheidung in Blättern wie dem Spiegel, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und vor allem der Welt eine derart sensationell aufgebauschte Pressekampagne aus, daß sich Friedeburg entschloß, die endgültige Berufung um 18 Monate hinauszuschieben.13 Dadurch wurde aus dem Ganzen schließlich der viel diskutierte „Fall Holz“. Ausgelöst wurden die folgenden Auseinandersetzungen durch einen Artikel des ehemaligen Bloch-Assistenten Günther Zehm, der nach seinen Anfängen in der DDR inzwischen zu einem einflußreichen Redakteur der konservativ eingestellten Zeitung Die Welt geworden war. Er warf Holz vor, jahrelang zu Unrecht einen Doktortitel geführt zu haben, da er in Leipzig nie wirklich promoviert worden sei. Als ihn Holz darauf einen „Lügner“ nannte, kam es vor dem Marburger Landesgericht zu einem von Zehm angestrengten Prozeß, bei dem Holz verurteilt wurde, öffentlich zu widerrufen, daß Zehm die Unwahrheit gesagt habe. 240

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Gegen dieses Urteil legte Holz daraufhin Berufung ein, weil seine mündliche Promotionsprüfung, das sogenannte Rigorosum, zwar 1956 in Leipzig abgesagt worden sei, sie aber Bloch später ausdrücklich für überflüssig erklärt habe. Damit trat erst einmal ein Stillstand in den weiteren Berufungsverhandlungen ein. Erst als Holz den zweiten Prozeß gegen Zehm Ende des Jahres 1972 beim Oberlandesgericht in Kassel gewann, konnte ihn Friedeburg im März 1973 endgültig zum ordentlichen Professor im Fach Philosophie an der Marburger Universität ernennen. Und Holz hatte die Ehre, daß kein anderer als Ernst Bloch, mit dem er – trotz des nicht zu übersehenden Altersunterschieds – bereits seit fast 20 Jahren freundschaftlich verbunden war, bei seiner Amtseinführung eine weit ausgreifende Rede hielt. In ihr begrüßte Bloch, daß mit Holz „endlich einmal ein Marxist, und zwar kein Feld- und Wald- und Wiesenmarxist und keiner, der aus dem Katechismus die Erleuchtungen seiner Weisheiten, seiner Definitionen, seiner Ratschläge entnimmt, sondern einer, der lebendig im politischen Leben und Kampf steht und der vor allem fertig bringe, daß Marx auch Leibniz, und Leibniz auch Marx gelesen hat, in offizieller Funktion an einer bundesdeutschen Universität vertreten ist und zur Sprache kommt.“14 Wie kaum ein anderer wisse Holz, fügte Bloch hinzu, daß sich „die bürgerliche Revolution im Marxismus nicht unterschlagen“ lasse.15 All das gebe seiner Auffassung von Philosophie jenen Tiefgang und zugleich jene Überzeugungskraft, die man bei vielen östlichen Dogmatikern dieser Lehre so oft vermisse. Und Holz erwies sich dieser Ehre als durchaus würdig. Dafür spricht schon sein Buch Strömungen und Tendenzen im Neomarxismus, das er während seiner „Wartezeit“ in Marburg verfaßte und das Ende 1972 bei Hanser in München herauskam. In ihm setzte er sich vor allem mit zwei Problemkreisen auseinander: 1. den „Veränderungen und Umschichtungen des hegemonialen Machtbereichs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg“, die „zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht hinreichend analysiert worden seien“, wie er 241

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schrieb, und 2. der Entwicklung der kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien, wo man „die Bindungen an Moskau zugunsten eines marxistischen Pluralismus“ weitgehend gelockert habe.16 Statt sich dabei in die monolithische Front der westlichen Stalin-Verächter oder der reformistisch eingestellten Chruschtschow-Anhänger einzureihen, wies Holz in seiner Analyse des sogenannten Stalinismus nachdrücklich darauf hin, daß man dieses Phänomen nur dann gerecht beurteilen könne, wenn man hierbei zugleich die ständige Bedrohung der Sowjetunion durch die imperialistischen Interventionen zu Anfang der zwanziger Jahre sowie die nazifaschistische Invasion von 1941 berücksichtigen würde. Im Hinblick auf die Wandlungen des marxistischen Denkens und Handelns innerhalb Italiens stellte er vor allem die Wirkung Antonio Gramscis und innerhalb Frankreichs den Einfluß des politisch links eingefärbten Existentialismus Jean-Paul Sartres heraus, durch die es in diesen Ländern – wie im Jugoslawien Titos und im maoistischen China – in ihrer Ablehnung von Stalins unnachsichtigem Hegemonieanspruch zu polyzentristischen Parteikonzepten gekommen sei. Entwicklungen dieser Art wurden von Holz 1972 keineswegs verworfen, sondern auf die sozioökonomische und kulturelle Höherentwicklung der westeuropäischen Länder im Vergleich zur höchst ungünstigen Ausgangsposition der UdSSR nach 1917 zurückgeführt, wo man es noch weitgehend mit einem Land von Analphabeten zu tun gehabt habe und daher eine von Marx nicht vorhergesehene Kommandogewalt der kommunistischen Partei durchaus nötig gewesen sei. Diese historischen Verschiedenheiten, die zum Teil bis heute weiterbeständen, im Auge zu behalten, sei daher eine der Hauptaufgaben jeder marxistischen Theoriebildung, ohne dabei allerdings hinter den polyzentristischen Erscheinungsformen gewisser eurokommunistischer Strömungen in Italien und Frankreich das Hauptanliegen des Sozialismus, nämlich die Überwindung des Kapitalismus, zu vergessen. Statt also irgendwelche „Dissidenzen“ innerhalb der verschiedenen kommunistischen Parteien von vornherein als „Abfall“ oder „konterrevolutionär“ zu diffamieren, stellte 242

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sie Holz als „Ausdruck objektiver Widersprüche auf dem Weg zum Kommunismus“ hin, die endlich „theoretisch verarbeitet wie praktisch gelöst werden“ müßten, um sie vor einer drohenden Umklammerung von seiten bürgerlicher Ideologien zu bewahren.17 Neben zahlreichen Aufsätzen zu ästhetischen, sprachwissenschaftlichen, ethischen, systemtheoretischen und bildungspolitischen Problemstellungen publizierte Holz kurz darauf zwei Bücher, in denen er seine polittheoretischen Ansichten weiter präzisierte. 1975 brachte er den Band Logos spermatikos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt heraus. 1976 ließ er diesem Buch den Band Die abenteuerliche Rebellion. Bürgerliche Protestbewegungen in der Philosophie. Stirner – Nietzsche – Sartre – Marcuse – Neue Linke folgen, die beide beim Luchterhand Verlag in Darmstadt erschienen, der kurz zuvor die späten Schriften von Georg Lukács publiziert hatte. Im ersteren versuchte er Blochs geistesgeschichtlichen Ort in der marxistischen Theoriebildung herauszustellen, indem er ihn – entgegen allen westlichen Domestikationsversuchen – als einen Denker charakterisierte, dem es gelungen sei, seiner expressionistischen Heilserwartung im Laufe seines langen Lebens eine immer „konkretere“ Form zu verleihen. Dabei habe Bloch nie die ins Utopische zielenden Anfangsimpulse seines Denkens – im Gegensatz zu allen dogmatischen Verengungen des Marxismus in der Sowjetunion und in der DDR – aufgeben, da es ihm stets um das Übergangshafte, das Noch-Nicht des angestrebten Sozialismus gegangen sei und auch heute weiterhin gehe. Dagegen hat sein Buch Die abenteuerliche Rebellion einen unverhüllt polemischen Charakter. Ausgehend von der bereits von Marx vorgenommenen Kritik Max Stirners ging es Holz in ihm vor allem darum, den scheinhaften Charakter all jener Philosophieansätze zu entlarven, welche – unter Nichtbeachtung jeglicher sozioökonomischer Voraussetzungen – in der Auflehnung bürgerlicher Individuen gegen gesellschaftlich verfestigte Konventionen irrtümlicherweise einen zutiefst revolutionären Akt gesehen hätten. Das wird im Einzelnen besonders an der 243

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Kritik von Friedrich Nietzsches präfaschistischer Gewaltphilosophie, die sich zum Teil an Georg Lukács’ Nietzsche-Darstellung in dessen Buch Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler anlehnt,18 sowie an den existentialistischen, wenn nicht gar anarchistischen Zügen in Jean-Paul Sartres Konzept einer „heimatlosen Linken“ nachgewiesen.19 Eine ähnliche Neigung zu einer „geschichtslosen Revolution“, die im Prinzip der „Großen Weigerung“ kulminiere, wird anschließend Herbert Marcuse unterstellt, dessen Anschauungen lediglich auf einen „Aufstand der Außenseiter und Verelendeten“ hinausliefen und sich damit gesamtgesellschaftlich als ineffektiv erwiesen hätten.20 Noch schärfer zog Holz dann im letzten Kapitel dieses Buchs unter der Überschrift „Die schlechten Söhne Lenins“ gegen den anarchistischen Flügel der studentischen Achtundsechziger Bewegung vom Leder. Ihm warf er vor, in seinen „unüberlegten Handlungen“ einem individualistischen Terrorismus zu huldigen,21 dem jene gefährliche „Abtrennung der Theorie von der gesellschaftlichen Praxis“ zugrunde liege,22 die Marx schon in seiner Kritik an Ludwig Feuerbach und Max Stirner verworfen habe. Besonders scharf verurteilte er dabei den von Daniel Cohn-Bendit repräsentierten Flügel jener Pariser Studentengruppen, die – ohne jede genauere Analyse der gesellschaftlichen und sozioökonomischen Situation – angenommen hätten, durch unorganisierte Aktionen, durch provokative, wenn nicht gar terroristische Akte geradezu über Nacht den Sturz des herrschenden „Systems“ herbeiführen zu können. Gruppen dieser Art, schrieb er, huldigten einer gefährlichen „Überschätzung der Leitfunktion der intellektuellen Avantgarde“, welche sich in allen derartigen Revolten als wirkungslos erwiesen habe.23 Die gleiche Kritik übte Holz – unter Berufung auf andere linksorientierte Kulturtheoretiker wie Hans G. Helms und Werner Hofmann – an den individuellen Gewaltaktionen der holländischen Provos, der Münchner Gruppe Spur, die sich zeitweilig als Situationistische Internationale ausgab, den Marcuse-Anhängern innerhalb der amerika244

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nischen Students for a Democratic Society sowie den Subversiven Aktionen des Westberliner Kommunarden Dieter Kunzelmann. Da sich die meisten Vertreter dieser Gruppen mit individualistischem Sendungsbewußtsein als Anführer einer „Paria-Elite“ verstanden hätten, sei es aufgrund der mangelnden Massenbasis notwendigerweise zum kläglichen Scheitern all dieser Bewegungen gekommen. Statt von konkreten marxistischen Positionen auszugehen, habe in diesen Aufstandsversuchen stets das emotionale Moment dominiert. Daher sei ihr Ergebnis zwar eine antiautoritäre und zugleich sexuelle, aber keine politische Revolution gewesen, die den Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und damit die Quelle allen Übels ins Auge gefaßt hätte. Schließlich sei eine gesellschaftlich relevante Revolution, wie er schrieb, kein „lustvolles Kampfspiel, kein ästhetisches Vergnügen, keine Turniervorstellung“, sondern eine „harte, mühe- und leidensvolle Aufgabe“,24 die letztlich nur der auf sich nehmen solle, welcher die Lebensbedingen der von den herrschenden Schichten unterdrückten Armen und Entrechteten zu verbessern suche. Mit solchen Thesen, die Holz auch in seinen Lehrveranstaltungen vertrat, bei denen er, wie Wolfgang Abendroth, oft vor 400 bis 500 Studenten sprach, exponierte er sich an der Marburger Universität so sehr, daß er befürchtete, im Zuge des von der SPD-Regierung durchgesetzten Radikalenerlasses seine Professur zu verlieren. Holz zog es daher vor, 1979 eine Berufung an die holländische Universität Groningen, die während der Nazizeit bereits Helmuth Plessner Asyl geboten hatte, anzunehmen, wo er bis 1997 unterrichtete. Ohne seine in Westdeutschland als „aufrührerisch“ empfundenen Anschauungen aufzugeben, verfaßte er dort in den späten siebziger und achtziger Jahren eine Fülle politphilosophischer Bücher und Aufsätze, die entweder beim Suhrkamp, Kindler und Pahl-Rugenstein Verlag oder in Zeitschriften wie Marxistische Blätter, Sinn und Form und Blätter für deutsche und internationale Politik erschienen. Wie zuvor setzte er sich in ihnen weiterhin mit dem Philosophen Ernst Bloch, den Ursprüngen des Sozialis245

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mus, Adornos Kritischer Theorie, Hegels Dialektik, Georg Lukács, der entstehenden Friedensbewegung, den Aspekten einer marxistischen Nietzsche-Kritik, den Folgen der unablässig voranschreitenden Globalisierung, den ökologischen Auswirkungen der zunehmenden Industrialisierung sowie im Hinblick auf Maler wie El Lissitzky, Kasimir Malewitsch, Joan Miró, Marcello Morandini und Andy Warhol mit Problemen der bildenden Kunst auseinander. III Auch das Jahr 1989 und der in ihm erfolgende Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus bewirkte keine Wende in seinen politphilosophischen Anschauungen. Im Gegenteil. Während viele seiner bisherigen Gesinnungsgenossen danach ihre bisher vertretenen Ansichten verleugneten oder sich gar zu erbärmlichen „Wendehälsen“ mauserten,25 gab Holz selbst in der Folgezeit keine seiner bisher vertretenen Überzeugungen auf. Das belegt am nachdrücklichsten sein 1991 beim Neue Impulse Verlag in Essen erschienenes Buch Niederlage und Zukunft des Sozialismus. Entgegen der weitverbreiteten These, daß die inzwischen eingetretene „Wende“ nicht nur eine Niederlage des osteuropäischen Sozialismus, sondern zugleich die Unmöglichkeit weiterer kommunistischer Theoriebildungen bewiesen habe, insistierte Holz in diesem Buch darauf, daß im Hinblick auf die von Karl Marx aufgestellte Maxime „Sozialismus oder Barbarei“ ein Denken in sozialistischen Kategorien keineswegs obsolet, sondern vielmehr noch dringlicher geworden sei. Daß „der Versuch, eine sozialistische Gesellschaftsordnung zu errichten, an deren Ausgangswidersprüchen gescheitert und durch scheußliche Verzerrungen der sozialistischen Prinzipien belastet“ sei,26 erschien ihm kein Grund, an der Richtigkeit der von Marx aufgestellten Klassenkampftheorie zu zweifeln. Als geschulter Dialektiker hielt Holz deshalb nach wie vor an seiner Anschauung fest, daß die „Überzeugungskraft des dialektischen Materialismus und die Schlüssigkeit der daraus zu ziehenden politischen Folgerungen“ durch die inzwi246

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schen eingetretenen Ereignisse keineswegs hinfällig geworden seien.27 Statt also resigniert der kapitalistischen „Freiheit zu willkürlichen privaten Zielsetzungen auf Kosten der Allgemeinheit“ zu huldigen, wodurch es zwar zu „immer größerem Reichtum, aber zugleich zu immer mehr Elend“ komme, müsse endlich eingesehen werden, daß die Folgeerscheinungen der gegenwärtigen, vom Finanzkapitalismus gesteuerten Globalisierung zu all dem geführt hätten, was mit Begriffen wie ÖkoKrise, Dritte-Welt-Elend, Arbeitslosigkeit, Kulturverlust, Resignation, Demoralisierung, Drogenkonsum, Kriminalität, Wasserverschmutzung, atomare Strahlungsrisiken, Gen-Manipulation und deren Auswirkungen bezeichnet werde.28 Angesichts dieser Situation, so heißt es im Folgenden, nützten daher „punktuelle Proteste oder reformorientierte Einzelalternativen“ herzlich wenig.29 Auf lapidare, formelhaft verkürzte Sätze reduziert, hört sich das in diesem Buch so an: „Die politische Front, die durch unsere Gesellschaft läuft, bleibt die marxistisch beschriebene: Hier Ausgebeutete, dort Ausbeuter. Nationale und globale Probleme, die der Kapitalismus schafft, sind nur durch die Abschaffung des Kapitalismus zu lösen. Menschheitsfragen sind, gerade weil sie Menschheitsfragen sind, immer auch und zuerst Inhalte des Klassenkampfes. Ein allgemeinmenschlicher, klassen- und systemübergreifender Humanismus ist eine bürgerliche Illusion; ihn gibt es nur im Bewußtsein, politisch real wird er nur im Klassenkampf.“30 Um diese Erkenntnis in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen, forderte Holz mit ungebrochener Willenskraft einen „wissenschaftlich strengen Blick zurück und einen energischen Blick nach vorn“, statt sich einer ziellosen und damit ineffektiven „Trauerarbeit“ hinzugeben.31 Den darin zum Ausdruck kommenden, an Gramsci anklingenden „Optimismus des Willens“ faßte er wenige Seiten später in folgenden, wiederum lapidar verkürzten und damit zitierbaren Sätzen zusammen: „Die Politik der Kommunisten beruht auf der Erkenntnis der Widersprüche im Kapitalismus; sie müssen zum Bewußtsein der Massen gebracht werden, ihre Opfer müssen mobili247

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siert werden, Fronten müssen an den Nahtstellen dieser Widersprüche errichtet werden, um politische Positionen aufzubauen, die es den Herrschenden schwer oder unmöglich machen, unangefochten ihre Sonderinteressen zur Norm zu erklären. Kampf für die Stärkung gewerkschaftlichen Einflusses, für Mitbestimmung, gegen Arbeitslosigkeit. Kampf für menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen und gegen die Diskriminierung von Frauen, Minderheiten und Ausländern. Kampf mit Bürgerinitiativen gegen Umweltzerstörung, gegen Behörden- und Konzernwillkür. Kurz: Kampf für alles Humane, was der Kapitalismus verweigert und zerstört. Aber nicht einfach Kampf zur Abhilfe dieser oder jener Mängel da und dort, sondern verbunden mit der Aufklärung darüber, daß es eine gesellschaftliche Alternative gibt – ein Gesellschaftssystem, den Sozialismus, in dem die strukturellen Ursachen beseitigt werden, die zur Unmenschlichkeit geführt haben. Aufklärung darüber, daß diese Alternative nicht ein Traum von Utopisten ist, sondern sich auf wissenschaftliche Erkenntnis der Geschichte gründet.“32 IV Die Konsequenz dieser Haltung war, daß Holz selbst in der Nachwendezeit nicht aufgab, an mehreren Fronten aktiv zu werden. So gründete er 1991 mit Silvia Holz-Markun in San Abbondio in der Südschweiz die Fondazione Centro di Studi Filosofici, wo er fast jedes Jahr kleinere Tagungen über neomarxistische Fragestellungen abhielt. Zugleich gab er ab 1993 mit Domenico Losurdo, erst bei Pahl-Rugenstein in Bonn und dann beim Aisthesis Verlag in Bielefeld, die Zeitschrift Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie heraus, die sich in themengebundenen Heften mit all jenen Fragen beschäftigte, die Holz nach wie vor als die vordringlichsten erschienen. Dazu gehörten vor allem Aspekte der Ökonomie, dialektisches Denken, Materialismus, Aufklärung, Herkunft/Zukunft, Imperialismus, Unterwegs zu Marx, Lenin, Wolfgang Abendroth, Revolution sowie Naturdialektik und 248

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Widerspiegelung. Ebenso bezeichnend ist, daß Holz nicht in die aus dem DDR-Sozialismus hervorgegangene Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) eintrat, die weiterhin an gewissen, durch den Sowjetkommunismus korrumpierten Idealen des „real existierenden Sozialismus“ festhielt, sondern sich 1994 der bereits 1968 in Westdeutschland gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) anschloß und im Sinne einer leninistischen, das heißt antistalinistischen Linie auf deren polittheoretische Konzepte in Vorträgen oder Blättern wie Unsere Zeit und Junge Welt einen richtungsweisenden Einfluß auszuüben versuchte. Obendrein lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1997 weiterhin an der Universität Groningen, wo eine seiner letzten Schülerinnen Sahra Wagenknecht war, die am 3. September 1996 bei ihm Examen machte und später zu einer der Hauptsprecherinnen der aus der PDS hervorgehenden Partei Die Linke wurde. Das letzte politische Manifest, das Holz verfaßte, war das Buch Sozialismus oder Barbarei. Ein Beitrag zur Zukunftsdebatte, das 1999 wiederum beim Neue Impulse Verlag in Essen erschien, der auch die von Robert Steigerwald und ihm edierte Zeitschrift Marxistische Blätter herausgab. In diesem Buch faßte Holz noch einmal all das zusammen, was ihm im Hinblick auf eine mögliche Durchsetzung des Sozialismus vordringlich erschien, wobei er sich in vielem auf die Statuten der DKP berief: also die wissenschaftliche Überzeugungskraft des Marxismus, den auf einer Massenbasis beruhenden Klassenkampf, die konsequente Abwehr neofaschistischer Strömungen, die Bekämpfung voluntaristischer Tendenzen innerhalb der kommunistischen Theoriebildung, mögliche Eingriffe gegen den weitgehenden Kulturabbau, den Kampf gegen den Neokolonialismus sowie die fortschreitende Umweltzerstörung, kurzum: die Durchsetzung einer wahrhaft gleichberechtigten, kulturbetonten und naturerhaltenden Freien Assoziation der freien Produzenten. Und er tat das, ohne dabei übersteigerte Hoffnungen zu hegen, sondern stets im Hinblick auf konkrete, von allmählich größer werdenden Bevölkerungsschichten erkannte Realisierungschancen. Holz ging 249

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dabei von der These aus, daß der „weltpolitische Triumph des Kapitalismus zugleich zur Entlarvung seiner Unmenschlichkeit“ geführt habe33, indem er ständig neue politische, sozioökonomische und ökologische Krisen produziere, die von den Herrschenden immer schwerer zu verschleiern seien. Demzufolge müsse der Hauptpunkt einer Agenda der Zukunft für alle wahrhaft fortschrittlich eingestellten Menschen eine grundsätzliche Veränderung des gesamtgesellschaftlichen Systems bleiben. Und die einzige realistische Theorie, fand er, biete dafür allein der Marxismus. In den letzten zehn Jahren seines Lebens beschäftigte sich Holz – enttäuscht über den geringen Widerhall der DKP bei den westdeutschen Wählern – eher mit politästhetischen oder philosophischen Fragestellungen. Im Bereich der bildenden Kunst ging er dabei – neben Einzelstudien zu Künstlern wie Hans Falk und Hans Joachim Albrecht – vor allem auf die Bedeutsamkeit des „strengen Konstruktivismus“ in der frühen Sowjetkunst ein.34 Im Hinblick auf die Philosophie galt sein Hauptinteresse weiterhin Leibniz, Hegel und Bloch sowie Fragen der Dialektik, zu deren Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart er 2010 noch einmal mehrere Bände herausbrachte, um damit auf die Unverzichtbarkeit des historischen und zugleich dialektischen Materialismus für jede vernunftgesteuerte Geschichtsbetrachtung hinzuweisen, statt sich mit ziellosen, das heißt subjektiv-zersplitterten Welterklärungen zu begnügen, wie sie im Gefolge des poststrukturalistischen Denkens sowie der These vom „Ende der Geschichte“ Mode geworden seien.35 Doch derartige Ansichten galten jetzt – innerhalb des immer stärker ins Eindimensionale verflachenden Medienbetriebs, ja selbst in den höheren Regionen der gängigen philosophischen Richtungen – als hoffnungslos „ideologisch“. Wer sich in diesen Jahren noch positiv auf Holz berief, waren demzufolge lediglich die letzten DKPAnhänger und einige versprengte Altlinke, die selbst von der Mehrheit der früheren Achtundsechziger zusehends als unzeitgemäß empfunden wurden. Um dieses kleine Häuflein der „Aufrechten“, das weiterhin 250

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der Versuchung widerstand, sich ebenfalls zu „akkomodieren“, in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement zu bestärken, hielt Holz nach wie vor an jener Gesinnung fest, die er bereits am 20. Januar 1969 in der Baseler National-Zeitung in dem unmißverständlichen Satz zusammengefaßt hatte: „Wer seine Rolle im Kampf der Klassen nicht durchschaut, sei es aus Idealismus oder Opportunismus, den Widerspruch in Wohlgefallen auflösen will, kommt unter die Räder, wird zum Ideologen, der eine schlechte Gesellschaft verschleiert und, statt Geschichtserkenntnis zu lehren, lediglich Moral predigt.“ Doch wer hörte nach dem Jahr 2000 noch auf solche kritischen Appelle? Als daher Hans Heinz Holz am 11. Dezember 2011 in San Abbiondo starb, erregte das nicht mehr jenes Medieninteresse, das man um 1970 dem „Fall Holz“ entgegengebracht hatte. Zwar brachten die Süddeutsche Zeitung und der Spiegel kurze Nachrufe auf ihn, und auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung fühlte sich bemüßigt, ihn als den „Nachlaßverwalter einer besiegten marxistischen Gelehrsamkeit“ zu charakterisieren.36 Aber längere, ihn wahrhaft würdigende Nekrologe erschienen – erwartungsgemäß – lediglich in linken Blättern wie im Freitag, der Jungen Welt, den Marxistischen Blättern und der Zeitschrift Topos, also Organen, auf die er einen maßgeblichen Einfluß ausgeübt hatte. Am nachdrücklichsten strich dabei Tom Strohschneider im Freitag die Bedeutung von Holz heraus, indem er ihn als einen der konsequentesten Dialektiker charakterisierte, der „seiner Sache stets treu“ geblieben sei, statt sich wie Sahra Wagenknecht nach ihren radikalen Anfängen später – als Mitglied der Partei Die Linke – dem kompromißbereiten Kurs Oskar Lafontaines anzuschließen.37 Seitdem ist es noch stiller um Hans Heinz Holz geworden, ja er droht fast zu einem Geheimtip zu werden. Allerdings teilt er dieses Schicksal mit so manchen seiner früheren Gesinnungsgenossen, die heute wegen ihrer linksorientierten Anschauungen als hoffnungslos vorsintflutlich gelten. Ob jedoch alle seiner Ansichten wirklich „veraltet“ sind, sei – angesichts der sich verstärkenden sozioökonomischen 251

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und ökologischen Krisensymptome innerhalb des sich globalisierenden Finanzkapitalismus – vorerst dahingestellt. Selbst jene, die nicht die Zielgerichtetheit seiner Geschichts- und Gesellschaftstheorien teilen, sollten daher wenigstens anerkennen, wie vorbildlich seine menschliche „Haltung“ war, sich angesichts der überwältigenden Mehrheit der systemkonformen Mitläufer in Ost- und Westdeutschland zeit seines Lebens – unter Berufung auf die „Generation der Bloch, Lukács, Plessner und Abendroth“ – als Partisanenprofessor zu jenen auf eine Humanisierung der Gesamtgesellschaft hindrängenden Grundprinzipien eines historischen und zugleich dialektischen Materialismus bekannt zu haben,38 die letztlich, wie Holz unerschütterlich glaubte, jeder geschichtlichen Entwicklung zugrunde lägen. Und für diese „Haltung“ hat er sogar viele persönliche und öffentliche Diffamierungen in Kauf genommen. Schließlich war es ihm, wie allen derartigen Partisanenprofessoren, nicht nur um die eigene Person, sondern stets zugleich, wenn nicht gar in erster Linie um jene „dritte Sache“ gegangen, von welcher der von ihm hochgeschätzte Bertolt Brecht so oft gesprochen hatte. Für Holz gab es nichts, was andere, die nicht wie er von einem unermüdlichen Veränderungswillen angetrieben wurden, als „privat“ bezeichnet hätten. Für ihn war alles „politisch“, selbst die unscheinbarste Geste, das Erbarmen mit einer niedergetretenen Pflanze, das wirre Liniengefüge auf einem nichtgegenständlichen Gemälde oder die Reaktion auf das opulente Warenangebot eines Kaufhauses. In alldem erkannte er zugleich die darin zum Ausdruck kommende ideologische Einstellung eines jeden Menschen, die sich nicht nur individualpsychologisch erklären lasse, sondern zu deren Deutung man stets auch die klassenbedingten Faktoren seiner Sozialisierung mitbedenken müsse. Aufgrund dieser Gesinnung gab es für ihn von Anfang an keine lediglich auf subjektive Bereicherung hinzielenden Bildungskonzepte. Holz wollte allen bei ihm Studierenden oder seine Bücher und Aufsätze Lesenden die Chance geben, sich zu der Erkenntnis durchzuringen, die 252

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Philosophie weder als ein Reservoir angeblich überzeitlicher Erkenntnisse beziehungsweise als ein Privileg gewisser Intellektuellenkreise zu betrachten, sondern in ihr vornehmlich einen Hebel zur Veränderung der gesellschaftlichen Mißverhältnisse zu sehen.

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Werner Mittenzwei (1927–2014) Literatur- und Theaterwissenschaftler

I Wie bei allen politisch engagierten Geisteswissenschaftlern bildeten auch bei Werner Mittenzwei Leben und Werk stets eine unzertrennbare Einheit. Bis in sein hohes Alter schrieb er ein Buch, einen Aufsatz, ein Vorwort, eine literaturtheoretische Grundsatzerklärung nach der anderen, anstatt der Versuchung nachzugeben, sich aufgrund seines wachsenden Prestiges irgendwelche ablenkenden Liebhabereien zu leisten oder, wie viele seiner Kollegen, an dem im Laufe der siebziger und achtziger Jahre anschwellenden Wissenschaftstourismus teilzunehmen. Ihm ging es stets um die Sache, in seinem Fall um das Bemühen, sich für die Durchsetzung jener Form eines basisdemokratischen Sozialismus einzusetzen, wie sie seinem früh erkannten Leitbild Bertolt Brecht vorgeschwebt habe und für die sich in der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auch der von ihm als väterlich empfundene Mentor Jürgen Kuczynski einzusetzen versuchte. Dementsprechend lebte Mittenzwei so bescheiden wie nur möglich, stand fast jeden Morgen um sechs Uhr früh auf, besaß kein Auto und gönnte sich kaum irgendwelche Urlaubsreisen. Was ihm wichtig erschien, war fast ausschließlich die wissenschaftliche Arbeit, und zwar stets im engsten Zusammenhang mit jenen kulturpolitischen Fragestellungen, die sich aus den wechselnden zeitgenössischen Ereignissen ergaben. Er war kein sich in seine Forschungen zurückziehender Akademiker, sondern wollte sich an der Front eines gesellschaftspolitisch möglichen Fortschritts so nützlich machen, wie er nur konnte. Und das gab seinen unermüdlichen Aktivitäten – ob nun als Mitglied zweier Akademien, als Sektionsleiter des Zentralinstituts für Literaturge-

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schichte, als dramaturgischer Berater des Berliner Ensembles und vor allem als aufsehenerregender Autor literaturwissenschaftlicher und kulturpolitischer Werke – die erforderliche Brisanz, die selbst seinen Gegnern eine widerwillige Anerkennung abnötigte. Kurzum: wer immer sich mit seinen höchst eindringlichen und blendend geschriebenen Schriften auseinandersetzt, wird sich ihrer Überzeugungskraft schwerlich entziehen können. Hier war einer über 40 Jahre lang am Werke, der sich im Rahmen der ihm gegebenen Wirkungsmöglichkeiten nicht scheute, um der Durchsetzung wahrhaft marxistischer Vorstellungen willen auch Wahrheiten auszusprechen, die nicht unbedingt in den herrschenden Zeitgeist paßten. Daß er dabei in besonders heiklen Situationen manchmal auch geringfügige Zugeständnisse an die Oberen machte, sollte man ihm nicht verübeln. Er war kein Starrkopf, sondern nahm auch Belehrungen an, wenn sie ihm einsichtig erschienen. Schließlich ging es Mittenzwei in erster Linie nicht um das eigene Ich, sondern stets um jene übergeordnete „dritte Sache“, für die sich selbst der alle anderen sozialistischen Schriftsteller überragende Brecht so nachdrücklich wie nur möglich eingesetzt hatte. Mit anderen Worten: er gab auch in schwierigen Situationen nicht auf, sondern hoffte jahrzehntelang, daß sich die DDR trotz aller objektiven Schwierigkeiten aus einer stalinistischen Kommandogesellschaft in einen wahrhaft sozialistischen Staat entwickeln würde. Und in diesem Sinne spornte er zugleich alle ihm nahestehenden Kollegen und Kolleginnen an, sich in ihren Schriften für diesen Umwandlungsprozeß einzusetzen. Als daher dieser Staat im November 1989 zusammenbrach und auch er schmählicherweise „abgewickelt“ wurde, war er zutiefst enttäuscht, ja verbittert, zumal er um sich herum plötzlich eine Vielzahl ideologischer Wendehälse wahrnahm, die jetzt so taten, als wären sie schon immer Gegner jener Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gewesen, deren Führungsspitze in Ostdeutschland ein „totalitäres“ Regime errichtet hätte, das sich nur als „Unrechtsstaat“ bezeichnen 256

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lasse. Sich angesichts dieser Situation weiterhin wie Jürgen Kuczynski zu einem „unverbesserlichen Optimismus“ zu bekennen,1 das heißt auf eine neue „Wendezeit“ zu hoffen, vermochte Mittenzwei allerdings nicht. Doch selbst nach dieser Erkenntnis ließ er nicht nach, weiterhin Bücher zu schreiben, in denen er sich mit der Rolle jener Intellektuellen auseinandersetzte, die innerhalb der DDR zur wissenschaftlichen Meinungsträgerschicht gehört hatten und sich jetzt im Rahmen einer angeblich entideologisierten Mediengesellschaft immer „unwichtiger“ vorkamen.2 II Geboren wurde Werner Mittenzwei am 7. August 1927 in der sächsischen Textilindustriestadt Limbach bei Chemnitz. Sein Vater, der in den zwanziger Jahren der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) angehörte hatte, war ein Handschuhzuschneider, seine Mutter eine Näherin. Nachdem er 1942 mit 15 Jahren eine Lehre als Industriekaufmann begonnen hatte, wurde er 1944 als Siebzehnjähriger eingezogen und mit einer Panzergrenadierkompanie an die Ostfront geschickt, wo er gegen Kriegsende in Schlesien leicht verwundet wurde.3 Nach einer kurzen Gefangenschaft konnte er im Sommer 1945 wieder zu seinen Eltern nach Limbach zurückkehren. Begierig, sich mit den neuen politischen und kulturellen Verhältnissen auseinanderzusetzen, begann er danach so viel zu lesen, wie er nur konnte. Obwohl das Geld in seinem Elternhaus knapp war, kaufte er sich bereits im Herbst 1945 sein erstes Buch, und zwar Georg Lukács’ Deutsche Literatur während des Imperialismus, das einen nachhaltigen Eindruck auf ihn machte. Zugleich las er mit steigendem Interesse die im Ostberliner Aufbau Verlag erscheinenden Werke von Johannes R. Becher, Fritz Erpenbeck, Hans Fallada, Bernhard Kellermann, Theodor Plivier, Anna Seghers und Friedrich Wolf. Schon damals interessierten ihn vor allem Dramen, selbst jene von Jean Anouilh, Jean Giraudoux, Jean-Paul Sartre und Paul Valéry, welche er durch die in der französischen Besatzungs257

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zone erscheinende Zeitschrift Die Quelle kennenlernte, die auch in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) vertrieben wurde. Um nicht Bankkaufmann zu werden, bewarb er sich 1946 als Neunzehnjähriger um eine Stelle als Neulehrer und wurde auch umgehend an der Pestalozzi-Schule in Limbach angestellt, wo er Deutsch und Geschichte unterrichtete. Obendrein schloß er sich im gleichen Jahr der SED an, betätigte sich im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, hörte Vorträge des Literaturwissenschaftlers Viktor Klemperer und trat aus der Kirche aus. Da es in Limbach nur ein höchst beschränktes Kulturleben gab, fuhr der junge Mittenzwei, so oft es ging, nach Chemnitz und Leipzig, um dort ins Theater oder die Oper zu gehen. So sah er 1949 in Chemnitz erstmals Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti und kurz darauf eine Aufführung des Berliner Ensembles mit dem Revolutionsstück Die Mutter. Unter den damaligen Theaterkritikern bewunderte er vor allem Wolfgang Harich, der sich in der Täglichen Rundschau – im Hinblick auf Brechts neuartige Theaterarbeit – gegen die „dogmatischen“ Ansichten Fritz Erpenbecks einzusetzen versuchte. Aufgrund dieser Eindrücke wäre Mittenzwei schon damals am liebsten Theaterdramaturg geworden, statt weiterhin im Schuldienst zu bleiben und vielleicht sogar zum stellvertretenden Schulrat befördert zu werden. Deshalb fuhr er in diesen Jahren während der Semesterzeit jede Woche zweimal nach Leipzig, um dort die Vorlesungen Hans Mayers zu hören, der ihn in die soziologische Betrachtungsweise von Literatur einführte. 1950 hatte er das Glück, in Leipzig an einem Externatskurs „Deutsch. Methodik für Oberschulen“ teilzunehmen, wo vor allem die Anschauungen von Lukács und Mayer als maßgebliche Richtlinien ausgegeben wurden. Anschließend unterrichtete er in den folgenden zwei Jahren an der Oberschule Burgstädt, einem Ort in der Nähe von Limbach, wiederum Deutsch und Geschichte, verliebte sich in eine der dortigen Musiklehrerinnen und sah sich zugleich mit der schwierigen Versorgungslage in der frühen DDR konfrontiert, die sowohl durch die sow258

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jetischen Demontagen als auch durch den forcierten Ausbau der Schwerindustrie verursacht wurde und zu einem merklichen Rückgang in der Konsumgütererzeugung führte. 1953 verließ er Burgstädt und ging mit seiner Freundin, die an der kurz zuvor gegründeten Hochschule für Musik weiterstudieren wollte, nach Ostberlin. Entschlossen, kein Schulleiter, sondern Wissenschaftler zu werden, besuchte er an der dortigen Humboldt-Universität vor allem Vorlesungen bei den Philosophen Wolfgang Harich und Wolfgang Heise sowie den Musikwissenschaftlern Georg Knepler und Harry Goldschmidt. Zugleich ging er, so oft er konnte, ins Theater und die Oper, wobei ihn neben den Brecht-Aufführungen im Berliner Ensemble vor allem die Inszenierungen Walter Felsensteins an der Komischen Oper beeindruckten. Darauf erfolgte 1955 eine entscheidende Wende in seinem Leben. Wegen seiner hervorragenden Leistungen als Student wurde er in diesem Jahr von Anna Lindemann als Aspirant am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED angestellt, das als die höchste Bildungsstätte in der DDR galt und wo unter anderem Wilhelm Girnus, Kurt Hager, Alfred Kurella, Hermann Matern und Alfred Oelßner unterrichteten, die zu den wichtigsten Kulturtheoretikern der DDR gehörten. Sein Hauptlehrer im Bereich Kunst und Literatur wurde Hans Koch, der dann auch sein Doktorvater werden sollte. Wie erwartet, löste im Jahr 1956 der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) auch an diesem Institut heftige Diskussionen aus. Mittenzwei versuchte dabei weiterhin, selbst nach dem gescheiterten Ungarnaufstand im Herbst des gleichen Jahres, für den inzwischen diffamierten Lukács einzutreten, dessen Schriften er für eine Weiterentwicklung der marxistischen Theorie und Ästhetik unverzichtbar hielt. Allerdings ging das nur bis zum Januar 1957, als nach einer kurzen Tauwetterperiode – im Ankampf gegen den von Walter Ulbricht abgelehnten Revisionismus – eine erneute Restalinisierung der SED-Parteispitze einsetzte.4 Selbst Mittenzweis energisches Eintreten für Brecht wurde von manchen der wieder mächtig geworde259

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nen Dogmatiker nicht gern gesehen, die Brecht wegen seiner als „formalistisch“ bezeichneten theatralischen Verfremdungseffekte nach wie vor eine „volksfremde Dekadenz“ vorwarfen und im Hinblick auf eine wahrhaft sozialistische Literatur lediglich den von Walter Ulbricht eingeschlagenen „Bitterfelder Weg“ als maßgeblich ansahen. Dennoch entschloß er sich, über diesen Dichter zu promovieren, um die SED zu überzeugen, „daß Brecht an ihrer Seite gestanden habe“.5 Ja, er konnte seine Dissertation, die er im Mai 1960 verteidigte, wegen ihrer nicht zu widerlegenden Argumentationsweise sogar zwei Jahre später unter dem Titel Bertolt Brecht. Von der „Maßnahme“ zu „Leben des Galilei“ beim Ostberliner Aufbau Verlag als Buch herausbringen. Während der Arbeit an diesem Buch nahm Mittenzwei enge Beziehungen zu Elisabeth Hauptmann, der Herausgeberin der Brechtschen Schriften, sowie zu Helene Weigel, der Witwe Brechts und Leiterin des Berliner Ensembles, auf, die ihm – als einem der ersten Literaturwissenschaftler – wichtige Einblicke in die von Brecht hinterlassenen Manuskripte gewährten. Zugleich sah er damals fast alles, was in diesen Jahren im Berliner Ensemble, in der Komischen Oper, an der Volksbühne, im Deutschen Theater und im Maxim-Gorki-Theater gespielt wurde, darunter Heiner Müllers Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Der Lohndrücker und Die Korrektur. Außerdem begann er in diesem Zeitraum seine ersten Theaterkritiken für die Wochenzeitschrift der Eisenbahner Fahrt frei zu schreiben.6 All das drängte ihn schließlich dazu, sich um eine Anstellung im Ostberliner Theaterbetrieb zu bemühen. Doch die Partei legte ihm nahe, weiterhin am Institut für Gesellschaftswissenschaften zu bleiben und sich dort zu habilitieren. Er wählte dafür das Thema Gestaltung und Gestalten im modernen Drama. Zur Technik des Figurenaufbaus in der sozialistischen und spätbürgerlichen Dramatik. An diesem Werk arbeitete er zwischen 1962 und 1964. Ein Jahr später konnte auch dieses Buch beim Aufbau Verlag erscheinen. In ihm war es Mittenzwei vor allem darum gegangen, die engen Grenzen des „Sozialistischen Realismus“ zu erweitern, wie er später 260

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schrieb.7 Ja, er setzte sich zum gleichen Zeitpunkt – wenn auch meist vergeblich – dafür ein, endlich auch westdeutschen Dramatikern wie Rolf Hochhuth und Martin Walser die Chance zu geben, in der DDR aufgeführt werden. Dagegen gelang es ihm 1965 trotz des Einspruchs Alfred Kurellas, die expressionistische Lyrikanthologie Menschheitsdämmerung neu herauszubringen, die unter den führenden SED-Kulturtheoretikern lange Zeit als ein Produkt „spätbürgerlicher Dekadenz“ gegolten hatte. Im gleichen Zeitraum hielt Mittenzwei – beflügelt von den Hoffnungen, die sich innerhalb der DDR aus der wissenschaftlich-technischen Revolution der späten sechziger Jahre ergaben – weiterhin am Institut für Gesellschaftswissenschaften Vorlesungen und Seminare sowie leitete dort eine theaterwissenschaftliche Forschungsgruppe, mit der er an dem Band Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik 1945–68 arbeitete, der in seiner endgültigen Form im Jahr 1972 herauskam. Da er eine prinzipielle Abneigung gegen den sich anbahnenden Wissenschaftstourismus hatte, der lediglich von „stetiger Arbeit abhalte“, wie er mehrfach erklärte, schlug er deshalb – außer der Teilnahme an der im Jahr 1963 stattfindenden und von der SED-Parteispitze als äußerst provokant empfundenen Kafka-Konferenz im tschechischen Liblice – fast alle anderen Vortragsangebote aus. Um den Gefahren einer leerlaufenden akademischen Betriebsamkeit zu entgehen, konzentrierte sich Mittenzwei statt dessen fast ausschließlich auf Buchprojekte, von denen er sich eine wesentlich größere Wirkung innerhalb der kulturpolitischen Umwandlungsprozesse der DDR versprach. In diesem Zusammenhang begann er in den späten sechziger Jahren beim Akademie-Verlag mit der Herausgabe der Reihe Literatur und Gesellschaft, mit der er in die jeweils anstehenden Theoriedebatten einzugreifen hoffte. Aus dem gleichen Grund ließ er sich 1966 von Helene Weigel bereden, Mitglied des künstlerischen Beirats am Berliner Ensemble zu werden, um Einfluß auf die dortige Spielplangestal261

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tung zu gewinnen. Mit Manfred Wekwerth trat er an diesem Theater dafür ein, auch politisch „ungebärdige“ Stücke wie Volker Brauns Kipper Paul Bauch und Heiner Müllers Philoktet aufzuführen, was sich jedoch nicht durchsetzen ließ. Als daraufhin Wekwerth, mit dem er sich immer enger anfreundete, das Berliner Ensemble verließ, gab auch Mittenzwei seine Mitarbeit an diesem Theater wieder auf. Im Jahr 1967 wurde er – aufgrund seiner bisherigen Veröffentlichungen – als Hospitant in die Klasse „Literatur, Sprachen und Kunst“ der Akademie der Wissenschaften der DDR aufgenommen, deren Vorsitz damals Werner Krauss innehatte. Seinen ersten Vortrag in dieser Klasse hielt Mittenzwei zum Thema „Probleme des Fabelaufbaus in den literaturtheoretischen Ansichten von Bertolt Brecht und Georg Lukács“, was zu diesem Zeitpunkt, als Lukács wegen seiner Beteiligung am Ungarnaufstand im Herbst 1956 noch weithin als abzulehnender Revisionist galt, nicht gerade opportun war. Trotzdem wurde er wegen seiner wissenschaftlichen Qualifikationen und zugleich ungebrochenen Parteilichkeit bereits ein Jahr später zum Korrespondierenden Mitglied dieser Akademie ernannt. Ein besonders enges Verhältnis bahnte sich zu diesem Zeitpunkt zwischen ihm und dem Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski an, der ihn darin bestärkte, „nicht das Schreiben zu vergessen, denn das sei seine eigentliche Funktion“.8 Daraufhin wurde Kuczynski eins seiner wichtigsten „Vorbilder“, und Mittenzwei nahm sich vor, sich immer stärker an dessen ideologischer Einstellung zu orientieren. Die Chance, dies in die Praxis umzusetzen, wurde ihm schon im Sommer 1967 geboten, als er den Auftrag erhielt, die Gründung einer Sektion Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften vorzubereiten, die dann im Dezember desselben Jahres erfolgte. Er begann dort seine Tätigkeit mit einer Rede über die internationale RealismusDiskussion, in der er zwar weiterhin für eine Erweiterung des Begriffs „Sozialistischer Realismus“ eintrat, sich aber zugleich höchst differenziert mit den diesbezüglichen Auffassungen des französischen Litera262

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turkritikers Roger Garaudys auseinandersetzte, der in dieser Hinsicht einen „Realismus ohne Ufer“ propagiert hatte. Als einige seiner Ausführungen daraufhin im Neuen Deutschland erschienen, nannte ihn Walter Ulbricht kurz danach einen „verquasten Philosophen“,9 da ihm Mittenzweis theoriebewußte Argumentationsansätze viel zu kompliziert erschienen. Und so wurde die von ihm angestoßene RealismusDiskussion erst einmal von der Tagesordnung abgesetzt. Doch selbst von solchen Urteilen ließ sich Mittenzwei nicht grundsätzlich beirren. Wie Jürgen Kuczynski blieb er weiterhin ein treuer Rebell innerhalb „seiner“ Partei. Alles Kritische einfach zu unterdrücken und die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung lediglich durch schönfärberische Parolen „mitreißen“ zu wollen, wie es Ulbricht anordnete, erschien ihm politisch unangebracht.10 Dementsprechend setzte er sich im gleichen Jahr in der Zeitschrift Sinn und Form in seinem vielbeachteten Aufsatz Die Brecht-Lukács-Debatte weiterhin für eine „Ästhetik der Widersprüche“ ein, die zwar das Unbequeme nicht ausschalten würde, aber dabei ohne die Basis der marxistischen Theoriebildung zu verlassen.11 Ebenso verhielt er sich angesichts des Prager Aufstands von 1968, dessen basisdemokratische Forderungen er durchaus begrüßte, aber in dem er zugleich einen tiefgreifenden „Bruch“ mit den bisherigen marxistischen Veränderungsvorstellungen witterte, da die Mehrheit der dortigen Aufständischen, wie er annahm, bereits „etwas angestrebt“ habe, was mit dem Sozialismus unvereinbar sei.12 Auch in der Folgezeit trat Mittenzwei für eine wesentlich intensivere Auseinandersetzung mit jener Kulturpolitik und der ihr verbundenen Schriftsteller ein, die sich im Sinne Brechts um die Durchsetzung eines zwar engagierten, aber zugleich kritischen Sozialismus bemüht hätten und auch weiterhin dafür einträten. Nur ein solches Vorgehen empfand er als den eigentlichen Sinn jeglicher akademischen Tätigkeit auf diesem Gebiet. „Die Wissenschaft ist keine Arbeit“, schrieb er später im Hinblick auf diese konfliktreichen Jahre, „von der man sich zeitweise zurückziehen oder die man ruhen lassen kann. Wer schreibend 263

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etwas erreichen will, kann den Ideenfaden nicht fallen lassen. Man muß an ihm weiterspinnen. Die Gedanken müssen darauf konzentriert bleiben, jede Ablenkung begreift man als Gefährdung.“13 Die Möglichkeit dazu erhielt er, als ihn die SED, wie gesagt, 1968 zum Leiter der Arbeitsstelle für Literaturtheorie innerhalb der Akademie der Wissenschaften der DDR ernannte, wobei ihm der Romanist Manfred Naumann und der Anglist Robert Weimann zugeordnet wurden. Vor allem Weimann schätzte Mittenzwei sehr, da er in ihm einen „stetigen, fleißigen und exzellenten Schreiber“ sah.14 Diese Arbeitsstelle wurde im April 1969 in Zentralinstitut für Literaturgeschichte umbenannt und wuchs schnell auf 200 Mitarbeiter an, worunter sich neben Naumann und Weimann so bedeutende Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen wie Simone Barck, Therese Hörnigk, Hans Kaufmann, Fritz Mirau, Rainer Rosenberg, Dieter Schiller sowie Dieter und Silvia Schlenstedt befanden. Um sich ganz seiner „Schreiberei“ widmen zu können, verzichtete Mittenzwei nach dem Ende der Ulbricht-Ära auf alle zentralen Leitungsfunktionen und beschränkte sich vornehmlich auf die Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe „Deutsche Literatur 1917–1933“, zu der vor allem Eike Middell, Manfred Nössig, Johanna Rosenberg, Jürgen Schebera und Bärbel Schrader gehörten. Mit dem blauäugigen „Optimisten“ Erich Honecker, der 1971 die Macht übernommen hatte, war er fast noch unzufriedener als mit Walter Ulbricht. Dementsprechend ließ er nicht nach, sich weiterhin gegen jedwede ideologische Schönfärberei auszusprechen, mit der man – unter Verwendung des Schlagworts „real existierender Sozialismus“ – die nur allzu offensichtlichen kulturellen Restriktionen und ökonomischen Mangelerscheinungen in der DDR zu überblenden versuche. Dafür spricht vor allem sein unablässiger Einsatz für eine in die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse eingreifende Aneignung der Brechtschen Sozialismus-Vorstellungen. Neben zahlreichen Aufsätzen zu diesem Autor kommt das vor allem in seinen Büchern Brechts Verhältnis zur Tradition (1972), Brecht 264

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und die Schicksale der Materialästhetik. Illusion oder versäumte Entwicklung einer Kunstrichtung? (1975), Wer war Brecht? Wandlung und Entwicklung der Ansichten über Brecht (1977) und Der Realismus-Streit um Brecht. Grundriß der Brecht-Rezeption in der DDR. 1945–1975 (1978) zum Ausdruck, in denen er mit manchen der noch immer bestehenden Vorurteile gegen Brechts kritisch-dialektisches Denken aufzuräumen versuchte.15 Und das wurde auch von einer breiten Leserschaft wahrgenommen. Ja, viele dieser Publikationen erschienen sogar – wegen des steigenden Brecht-Interesses in diesen Jahren – in russischen, tschechischen, ungarischen, litauischen, slowakischen, vietnamesischen sowie englischen, französischen und holländischen Übersetzungen. Doch auch eine weitere Beschäftigung mit den Ansichten des von den Dogmatikern innerhalb der SED zum verdammenswerten „Revisionisten“ gebrandmarkten Georg Lukács schien Mittenzwei im Hinblick auf eine Neuorientierung innerhalb der sozialistischen Theoriebildung für unabdingbar. Er veröffentlichte daher 1975 beim Leipziger Reclam Verlag nicht nur das Buch Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács. Der Methodenstreit deutscher sozialistischer Schriftsteller, sondern ließ dieser Publikation zwei Jahre später beim gleichen Verlag sogar noch einen Sammelband unter dem Titel Kunst und objektive Wahrheit mit Lukács-Essays folgen, dessen Nachwort er den aufreizenden Titel „Ästhetik der revolutionären Demokratie“ gab.16 Danach wandte sich Mittenzwei in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre vor allem der Exilforschung zu, die in der westdeutschen Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten bereits in vollem Gange war, aber in der DDR bis dahin noch nicht die ihr gebührende Beachtung gefunden hatte. Er begann mit einer Erforschung des Exils in der Schweiz, da im Züricher Schauspielhaus zwischen 1933 und 1945 eine Reihe wichtiger Aufführungen von Stücken Friedrich Wolfs und Bertolt Brechts stattgefunden hatte. Hierbei stieß er auf den linken Grafiker Carl Meffert, dessen Werk in Deutschland noch weitgehend unbekannt war. Über ihn brachte er 1977 in Ostberlin eine reich bebilderte Monographie unter dem Titel 265

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Carl Meffert, Clément Morau. Ein Leben auf der Suche nach der Brüderlichkeit heraus, auf das er zwei Jahre später seine umfassende Darstellung des Exils in der Schweiz folgen ließ.17 Doch das allein war ihm nicht genug. Deshalb stellte Mittenzwei kurzentschlossen eine Forschungsgruppe zusammen, die sich innerhalb des Zentralinstituts für Literaturgeschichte an eine Gesamtdarstellung der im Exil zwischen 1933 und 1945 geschriebenen antifaschistischen Literatur heranwagen sollte.18 Dabei faßte er für diese Kollektivarbeit, deren Ergebnisse in sieben, nach den jeweiligen Exilländern gegliederten Bänden erscheinen sollten, wiederum den Leipziger Reclam Verlag ins Auge, der sich bereit erklärte, diese Darstellungen in preisgünstigen Taschenbüchern herauszubringen, um so ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Als die ersten Bände erschienen, veranstaltete Mittenzwei mit Fritz Mirau und Silvia Schlenstedt im Herbst 1979 an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften eine Tagung unter dem Titel „Avantgarde und Exil“, zu der er auch ausländische Gäste aus Ungarn, der CSSR, den USA, der BRD sowie der Sowjetunion, darunter die Lukács-Anhängerin Tamara Motylewa und den Brecht-Forscher Ilja Fradkin, einlud, um so neben den inzwischen verhärteten Vertretern des Sozialistischen Realismus auch die Verfechter betont avantgardistischer Stilmittel zu Wort kommen zu lassen.19 Alle sieben Bände dieser Reihe, die zwischen 1978 und 1981 in einer Startauflage von je 20.000 Exemplaren erschienen, erregten in der DDR ein beträchtliches Aufsehen. Allerdings kam es dabei auch zu kritischen Einwänden. Eine Reihe der dortigen Historiker versuchte sogar, wegen einiger ihnen als „undogmatisch“ erscheinender Ansichten gegen diese Publikation ein Parteiverfahren einzuleiten. Aber Hans Marquard, der Leiter des Reclam Verlags, war geschickt genug, das frühzeitig zu verhindern. Während seiner Arbeit an diesem Mammutunternehmen holte Manfred Wekwerth im Jahr 1977 – nach dem Rücktritt von Ruth Berghaus – auch seinen Freund Mittenzwei wieder ans Berliner Ensem266

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ble, um es aus seiner musealen Erstarrung zu befreien. Mittenzwei hielt deshalb fortan vor jeder Premiere einen kurzen Einführungsvortrag und versuchte zugleich Volker Braun, Peter Hacks und Heiner Müller an dieses Theater zu binden, wofür sich allerdings Braun und Müller geneigter zeigten als der sich zögerlich verhaltende Hacks. Mit Hacks kam Mittenzwei erst näher in Kontakt, als er im Juni 1983 zum Mitglied der Ostberliner Akademie der Künste gewählt wurde, wo, wie er später erklärte, eine wesentlich „freiere“ Atmosphäre geherrscht habe als an der Akademie der Wissenschaften. Was Mittenzwei allerdings bei den dortigen Diskussionen störte, war die Verbissenheit, mit der sich Hacks weiterhin auf einen sowjetischen Dogmatiker wie Andrej Shdanow berief, ja in Anlehnung an ihn unentwegt gegen alle „Knechte der Modernität“, worunter er vor allem Heiner Müller verstand, vom Leder zog.20 Diese Querelen veranlaßten Mittenzwei schließlich dazu, sich – nach seinen zahlreichen Aufsätzen und Büchern über Brecht sowie einer von ihm bereits 1972 herausgegebenen fünfbändigen Werkausgabe dieses Autors – endlich an eine umfassende Biographie dieses für ihn alle anderen sozialistischen Schriftsteller überragenden Dichters heranzuwagen. Er trug darauf seine Absicht dem Aufbau Verlag vor, und der stimmte zu. Was ihm dabei wichtig erschien, waren folgende Richtlinien, die er 1984 in einem Diskussionsbeitrag auf dem von Harry Goldschmidt, Georg Knepler und Konrad Niemann veranstalteten Weimarer Kolloquium zu „Komponisten auf Werk und Leben befragt“ zu formulieren versuchte. Dort erklärte er im Hinblick auf seine Brecht-Biographie, daß „bei uns in der DDR nach 1945 erst einmal das Aufhellen gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten in den Wissenschaften wie in den Künsten als das entscheidende Grundanliegen“ vorgeherrscht habe. Und Mittenzwei gab durchaus zu, daß „auf diesem Wege tatsächlich jene Qualitäten“ erreicht worden seien, welche die „marxistische Gesellschaftssicht im Allgemeinen kennzeichneten“. Doch dann betonte er als vorwärts drängender Kritiker aller ideologischen Einseitigkeiten, daß 267

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„die Ausrichtung auf die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten in den fünfziger und sechziger Jahren in unserem Staat derart überstrapaziert“ worden sei, „daß damit der methodische Neuansatz für die Sicht auf das Individuum verlorenging. Mit dem Fortschritt trat zugleich ein Rückschritt ein und führte zu einem Austrocknen aller biographischen Kultur. Hinter den mehr oder weniger enthüllten Gesetzmäßigkeiten verschwand der Mensch, hinter der Bewegung der Gesellschaft die Bewegung des Individuums.“ Statt sich diesem ins Dogmatische verengten Trend weiterhin anzupassen, zog Mittenzwei aus seiner kritischen Einsicht die Folgerung, bei jeder Betrachtung von Kunst nie den dialektischen Wechselbezug zwischen Individuum und Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. Um dabei im Rahmen sozialbetonter Gedankengänge zu bleiben, erklärte er abschließend: „Wenn sich das Interesse des Marxismus auf das gesellschaftliche Individuum richtet, so ist mit diesem Akzent nicht der geringste Abstrich am Individuum gemeint. Im Gegenteil! Es handelt sich hier also nicht um eine Schwäche des Marxismus, sondern um einen noch nicht genügend entwickelten Marxismus.“21 Als Mittenzwei seine bis heute in ihrer Qualität nicht eingeholte bzw. übertroffene Brecht-Biographie, die während der Niederschrift – wegen des ständigen Wechselbezugs zwischen dem gesellschaftlich Allgemeinen und dem individuell Besonderen – auf zwei umfangreiche Bände angewachsen war, Ende 1984 unter dem vieldeutigen Titel Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln beim Aufbau Verlag ablieferte, überwogen erst einmal die kritischen Stimmen. Vor allem Klaus Höpke, der Leiter der Hauptabteilung Verlage innerhalb der SED, sperrte sich gegen eine Veröffentlichung dieses Buchs. Und auch einige DDR-Historiker, die als Gutachter herangezogen wurden, meinten, Mittenzwei habe das Ganze nur geschrieben, um im zweiten Band dieser Biographie seiner Kritik an den kulturpolitischen Fehlern der SED Ausdruck zu verleihen. Darauf legte ihm der Verlag nahe, mehrere der beanstandeten Stellen zu streichen. Weil er nicht als 268

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uneinsichtig gelten wollte, gab Mittenzwei schließlich in einigen Punkten nach. Doch selbst dann bedurfte es noch der Interventionen Stephan Hermlins, Jürgen Kuczynskis und Manfred Wekwerths,22 um den immer noch allgewaltigen Dogmatiker Kurt Hager umzustimmen, das Manuskript endlich freizugeben. Und der Erfolg dieses Buchs, das im Jahr 1986 herauskam, gab dieser Entscheidung recht. Es erschien schon kurz darauf in einer zweiten Auflage und wurde sogar in der BRD vom Suhrkamp-Verlag und der aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangenen Büchergilde Gutenberg nachgedruckt. Ja, nicht nur das. Als sich der Aufbau und der Suhrkamp Verlag entschlossen, eine dreißigbändige kommentierte Brecht-Ausgabe in Angriff zu nehmen, wurde Mittenzwei zu einem der vier Herausgeber dieses gesamtdeutschen Unternehmens ernannt. Er widmete sich der damit verbundenen Arbeit geradezu unermüdlich, obwohl er einsah, daß sich die Verhältnisse innerhalb der DDR in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zusehends verschlechterten. Im Gegensatz zur „Überflußgesellschaft des westlichen Kapitalismus“ erwies sich „sein“ Staat – wegen der relativ dürftigen Konsumgüterversorgung – weiterhin als eine „Mangelgesellschaft“,23 in der große Teile der Bevölkerung trotz ihrer sozialen Absicherung sowie der niedrigen Lebensmittelpreise immer unzufriedener wurden und sich nicht mehr mit noch so wohlgemeinten „Theorien und Utopien“ vertrösten ließen.24 Trotz alledem wollte Mittenzwei in diesem Land, auf das er anfangs so große Hoffnungen gesetzt hatte, bleiben. Sich allein wegen der „besseren materiellen Lebensbedingungen“ für den Westen zu entscheiden, empfand er als „verächtlich“.25 Es trieb ihn daher während der Unruhen im Jahr 1989 nicht auf die Straße. Für kurze Zeit setzte er seine Hoffnung, wie auch die Argument-Gruppe um Wolfgang Fritz Haug in Westberlin, auf den von Michail Gorbatschow mit Slogans wie „Perestroika“ und „Glasnost“ in der UdSSR verkündeten Reformkurs – und versuchte sich mit einer Arbeit über „Brecht, Lukács und Gorbatschow“ zu Wort zu melden. Doch dann mußte er zu seiner Enttäuschung erleben, wie 269

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sich Gorbatschow nach der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 in den Wiedervereinigungsgesprächen des Jahres 1990 als eine hilflose „Marionette der westlichen Diplomatie“ erwies.26 Aufgrund all dieser Ereignisse wurde ihm immer klarer, daß es bei solchen Umwälzungsprozessen weniger um politische als um wirtschaftliche Belange ging. Während sich die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung – den damaligen Meinungsbefragungen zufolge – noch im Dezember 1989 für eine souveräne DDR ausgesprochen hatte, führten die von den BRD-Behörden ausgehenden ökonomischen Propagandaaktionen bereits im März 1990 zu einem merklichen Stimmungsumschwung unter den gleichen Bevölkerungsschichten, die plötzlich mehrheitlich auf die von der CDU verkündete Kohl-Linie einschwenkten. Mittenzwei fühlte sich daher immer fremder in Ostberlin. Schließlich wurde nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 nicht nur die Mehrheit der volkseigenen Fabriken stillgelegt, sondern auch die Akademie der Wissenschaften aufgelöst, die Mittenzwei als sein eigentliches Heim betrachtet hatte. Es gab zwar auch einige internationale und westdeutsche Einsprüche gegen diese Entscheidung, wie die von Wolfgang Benz, Eric Hobsbawm, Volker Klotz und Jürgen Mittelstraß, aber sie erwiesen sich als unwirksam. III Welche Haltung sollte Mittenzwei in einer solchen Situation einnehmen, der wie viele seiner Kollegen und Kolleginnen plötzlich zum sogenannten Frührentner geworden war? Trotz der inzwischen eingetretenen schiefen Ebene versuchte er weiterhin seinen aufrechten Gang beizubehalten und faßte neue, ihm wichtig erscheinende Buchprojekte ins Auge. Als erstes schrieb er eine Geschichte des Aufbau Verlags, die 1995 zu dessen fünfzigjährigem Jubiläum herauskommen sollte und in der er die „Leistung und das Versagen zweier Generationen bei der Durchsetzung einer neuen Literatur“ nachzuzeichnen versuchte.27 Da jedoch der ihm wohlgesonnene ehemalige Verlagsleiter Elmar Faber 270

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unterdessen durch den westdeutschen Immobilienmakler Bernd  F. Lunkewitz abgelöst worden war, wurde sein Manuskript nicht gedruckt. Ebenso erbittert war er über die Entscheidung, anläßlich dieses Jubiläums als Festredner nicht Hans Mayer, sondern Marcel Reich-Ranicki einzuladen, der dabei lediglich einen seiner witzigen Standardvorträge über „Brecht und die Liebe“ zum Besten gab. Anschließend begann Mittenzwei – ohne allzu direkt auf die eben stattgefundenen Ereignisse anzuspielen – unter dem Titel Der Untergang einer Akademie oder Die Mentalität des ewigen Deutschen an einem Buch über die Einstellung nationalkonservativer Autoren zum Dritten Reich zu arbeiten, in dem er sich auf eine höchst differenzierte Weise mit dem von den Nazis nur halbwegs geduldeten Wartburgkreis unter Börries von Münchhausen auseinandersetzte und das bereits im Oktober 1992 herauskommen konnte, aber kein nennenswertes Aufsehen erregte. Doch das hatte er erwartet, da sich selbst seine Freunde und Kollegen, von denen die meisten inzwischen arbeitslos geworden waren, den Kauf eines so teuren Buchs nicht mehr leisten konnten. Dagegen schmerzte es ihn zutiefst, daß er aus der Akademie der Künste ausgeschlossen wurde und auch seine Beraterfunktion am Berliner Ensemble verlor. Demzufolge verließ er mit seiner Frau Ingrid, die als Historikerin ebenfalls Mitglied der Akademie der Wissenschaften gewesen war und 1980 ein vielbeachtetes Buch über Friedrich II. herausgebracht hatte,28 seine bescheidene Wohnung in Berlin-Friedrichsfelde und zog in das fernabliegende Bernau, um nicht ständig an seine früheren Wirkungsstätten erinnert zu werden und zugleich den Verfall des Berliner Theaterlebens mitzuerleben. Wie für viele der bisherigen DDR-Intellektuellen waren für ihn die folgenden Jahre vor allem eine Zeit der „Diskriminierung“.29 Plötzlich schien ihn kaum noch jemand zu kennen. Doch nicht nur das. Im Zuge des nach 1991 einsetzenden „Literaturstreits“ kam es nicht nur zu einer Entwertung der DDR-Literatur, sondern selbst der gesellschaftskritischen Literatur der ehemaligen BRD. Was sich jetzt breit271

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machte, war ein auf vordergründige Unterhaltung eingestellter Medienbetrieb, in dem – seiner Meinung nach – lediglich eine apolitische Selbstzufriedenheit zur Schau gestellt wurde, hinter der keine gesellschaftskritischen Veränderungskonzepte mehr standen. Was Mittenzwei besonders verstimmte, war die Tatsache, daß sich selbst viele der früheren DDR-Intellektuellen diesem Trend anschlossen, zu Wendehälsen wurden und ihm vorwarfen, wegen seiner mangelnden ideologischen Geschmeidigkeit ein sturer Betonkopf zu sein. So erklärte etwa der Bürgerrechtler und Schriftsteller Siegmar Faust plötzlich, daß von der DDR-Literatur nur ein „Misthaufen“ übriggeblieben sei.30 Und Mittenzwei war empört, daß von den ostdeutschen Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern fast niemand gegen derartige Äußerungen Einspruch erhob. Es gab zwar noch eine Reihe alternativer Klubs, in denen sich einige von ihren Widersachern als „unbelehrbar“ eingestufte Intellektuelle und Autoren trafen, aber sie hatten keinen Einfluß mehr auf die alles dominierenden, sich systemkonform verhaltenden Presseorgane sowie die Radio- und Fernsehprogramme. Angesichts dieser Situation schrieb Mittenzwei gegen Ende der neunziger Jahre sein Buch Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, in dem er viele seiner bei der Durchsicht des Aufbau-Verlag-Archivs gewonnenen Einsichten verarbeiten konnte und das 2001 beim Faber & Faber Verlag herauskam, den der inzwischen abgewickelte Leiter des Aufbau Verlags in Leipzig gegründet hatte. Obwohl die DDR-Literatur bisher nicht sein spezielles Arbeitsgebiet gewesen war, wollte er anhand dieser Literatur seinen Lesern und Leserinnen einen kritischen Einblick in die Möglichkeiten und Verhängnisse eines gesellschaftlichen Systems bieten, in welchem fast 17 Millionen Menschen 40 Jahre lang auf eine Wendung zum Besseren gehofft hatten. Doch lassen wir ihn an dieser Stelle lieber selbst zu Wort kommen: „Es galt der Frage nachzugehen, wie das Engagement für die DDR zustande kam und was den Intellektuellen widerfuhr, die sich in deren Dienst stellten. Ihre Hoffnungen und Illusionen, ihre 272

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Enttäuschungen, Niederlagen und Demütigungen wollte ich darstellen. Weder lag mir daran, sie zu verteidigen noch anzuklagen, sondern die Vorgänge zu historisieren und zu zeigen, welchen Spielraum sie besaßen und zu welchen Einsichten sie gelangten.“31 Und dieses Bemühen gelang Mittenzwei in einem erstaunlichen Maße. Als er daraufhin seine Intellektuellen-Schrift im Herbst 2002 im Ostberliner Brecht-Haus vorstellte, kamen all jene „Unverbesserlichen“ unter den früheren Künstlern und Wissenschaftlern der DDR, um ihm für seine faire Einschätzung ihrer bisherigen Anschauungen zu danken. Auch in den Medien, ob nun der Presse, dem Rundfunk oder dem Fernsehen, erregte dieses Buch ein beträchtliches Aufsehen. Wie erwartet, wurde es dabei von den verschiedenen Kritikern, je nach ihrer ideologischen Einstellung, entweder gelobt oder gnadenlos verrissen.32 Besonders einige der jüngeren Germanisten, die bereits unter dem Einfluß der allgemeinen Diffamierungskampagne gegen die DDR standen, lehnten es ab. Doch selbst solche Stimmen verstörten Mittenzwei keineswegs. Ihm hatte es genügt, inmitten der vom herrschenden Zeitgeist diktierten Anschauungen auch seiner Stimme Gehör zu verschaffen und damit einer historisch fundierten Vergangenheitsbewältigung zu dienen. Mit diesem Buch wollte er den Nachweis erbringen, daß es ihm, wie auch vielen anderen sozialistisch orientierten Schriftstellern und Kulturtheoretikern, in den langen Jahren nach 1945 in der DDR, so gut sie es vermocht hätten, um die Durchsetzung einer Idee gegangen sei, die sich angesichts der Wettbewerbssituation mit der von Konsumgütern geradezu überreichen BRD weder ökonomisch noch gesellschaftspolitisch habe realisieren lassen. Obwohl er anfangs wie Brecht geglaubt habe, daß ein schlechter Sozialismus immer noch besser sei als gar kein Sozialismus, habe er später erkannt, daß dies eine Illusion gewesen sei, an der er trotz alledem, statt sich in einen nichtswürdigen Renegaten zu mausern, so lange wie möglich festgehalten habe. Um diese Gesinnung noch einmal zum Ausdruck zu bringen, schrieb Mittenzwei später unter dem Titel Zwielicht. Auf der Suche nach 273

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dem Sinn einer vergangenen Zeit eine 500 Seiten lange „kulturkritische Autobiographie“, die im Jahr 2004 ebenfalls bei Faber & Faber in Leipzig erschien. In ihr versuchte er, an seinem Fall darzulegen, welche Chancen sich ihm in den frühen Jahren der DDR als einem aus der Arbeiterklasse stammenden jungen Intellektuellen eröffnet hätten, der sich in den Dienst eines antifaschistischen und zugleich antikapitalistischen Staats gestellt habe. Doch zugleich wollte er aufzeigen, wie schwer es war, sich innerhalb der SED-Kommandodiktatur mit irgendwelchen kritischen, auf eine stärkere Demokratisierung drängenden Vorstellungen Gehör zu verschaffen. Daß dieses Bemühen selbst in der Literatur gescheitert sei, verbitterte ihn ebenso sehr wie die darauffolgende Diffamierungskampagne gegen den Sozialismus schlechthin. Was Mittenzwei besonders empörte, waren die verbreiteten Schmähungen jeglicher Art von „Gesinnungsästhetik“, die damals in der westlichen Presse zu lesen waren.33 Um ihnen entgegenzutreten, schrieb er darauf einen halbwegs satirischen Roman unter dem Titel Die Brockenlegende. Aus den Papieren des Schweizer Gelehrten Tobias Bitterli kommentiert von Christine Mosero. Ein deutscher Mentalitätsspiegel, der im Jahr 2007 – wie seine drei vorangegangen Bücher – wiederum bei Faber & Faber in Leipzig erschien und den zwei Jahre später Janine Ludwig und Mirjam Meuser in der Einleitung zu ihrem Buch In diesem besseren Land. Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literatur zu Recht die „erstaunlichste Publikation der letzten Jahre“ nannten.34 In diesen Papieren heißt es gleich zu Anfang so unmißverständlich wie nur möglich: „Die Flucht in die Autonomie ist kein Ausweg. Lassen wir die Finger von unzureichenden Versuchen, die Literatur von allen politischen Einflüssen abzuschirmen. Man nimmt ihr auf diese Weise die Lebenskraft. Ihr jedes soziale Engagement zu versagen, führt sie in eine andere Art von Gefangenschaft als den Elfenbeinturm. Solche Lösungen befreien die Literatur nicht von Interessen, denen sie immer ausgeliefert bleibt. Verachten wir nicht die littérature engagée!“ Daß damit nichts Predigerhaftes gemeint war, 274

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geht aus dem folgenden Absatz hervor, in dem zugleich die Forderung der historischen Objektivierung betont wird, ohne die man nie zu einem gerechten Urteil gelangen könne. Da heißt es: „Es kommt darauf an, Engagement und Objektivität miteinander zu versöhnen. Das kann nicht dadurch geschehen, daß wir bestimmte politische Haltungen als unannehmbar klassifizieren, andere zur gesellschaftlichen Norm qualifizieren. Vielmehr müssen wir erörtern, wie mit Engagement umzugehen ist, daß es mit der Objektivität versöhnbar wird.“35 Noch besonnener hätte man es kaum ausdrücken können. Bereits gesundheitlich angeschlagen und seine kranke Frau betreuend, gab Mittenzwei daraufhin das unermüdliche Schreiben, das ihm sein ganzes Leben als das Wichtigste erschienen war, erst einmal auf. Und damit verstummte eine der wichtigsten Stimmen innerhalb der ehemaligen DDR-Intelligenz, die sich in ihrem kritischen Forscherdrang stets treu zu bleiben versucht hatte. Gestorben ist Werner Mittenzwei am 14. Februar 2014 in einem Berliner Krankenhaus. Die Nachrufe auf ihn fielen so unterschiedlich aus, wie es in dem heutigen ideologischen Klima zu erwarten war. Manfred Wekwerth, sein langjähriger Freund, strich ihn in der linksgerichteten Tageszeitung Junge Welt unter dem durchaus zutreffenden Titel Der Unermüdliche als einen der „ganz großen Wissenschaftler unseres Zeitalters“ heraus, welcher in „unglaublicher Bescheidenheit“ auf jedes vordergründige Ansehen verzichtet habe.36 Noch voller in die Saiten griff sein Verleger Elmar Faber, der ihn in dem sich weiterhin „sozialistisch“ gebenden Blatt Neues Deutschland schon im Titel seines Nachrufs als einen „der klügsten Köpfe unter den deutschen Literaturwissenschaftlern“ bezeichnete, dessen Buch Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000 – entgegen allen „Delegitimierungsversuchen“ der DDR – die wichtigste Grundlage für eine faire Aufarbeitung der in diesem Staat stattgefundenen kulturpolitischen Entwicklungsprozesse sei.37 Auch Esther Slevogt rühmte Mittenzwei in der Berliner Zeitung als einen höchst bedeutenden Germanisten und Thea275

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terwissenschaftler, dessen wahre Größe man erst dann wirklich erkennen würde, wenn sich die „Spiralnebel des Kalten Kriegs“ endlich auflösen würden.38 Etwas kritischer äußerte sich dagegen Martin Ebel in der Basler Zeitung über ihn, der Mittenzwei als einen „roten Don Quijote“ unter den „Vorzeigeintellektuellen der DDR“ charakterisierte, der zeit seines Lebens auf die Ideologie des „Sozialismus“ geschworen habe und dadurch ein „staatstragender“ Verfechter der in diesem Regime herrschenden Anschauungen geblieben sei.39 Hingegen brachten die Frankfurter Allgemeine und die Süddeutsche Zeitung lediglich lebensgeschichtlich referierende Nachrufe auf ihn, um sich nicht in eine tiefer schürfende Auseinandersetzung mit diesem zwar wissenschaftlich hochqualifizierten, aber ihnen ideologisch unbequemen Gelehrten einlassen zu müssen.40 Doch einem so bedeutenden Ostler hätten solche Blätter ruhig etwas mehr Ehre erweisen sollen. Hoffen wir, daß sich auch dort die „Spiralnebel des Kalten Kriegs“ allmählich verziehen werden.

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Schlußwort

Die Zusammenarbeit mit Richard Hamann, die Begegnungen mit Wolfgang Abendroth, Helmut Gollwitzer, Hans Heinz Holz, Robert Jungk und Hans Mayer, die Freundschaft mit Walter Grab und Werner Mittenzwei sowie die Lektüre der Werke von Georg Knepler, Werner Krauss und Jürgen Kuczynski haben in meinem Leben Spuren hinterlassen, ohne die ich vielleicht ein ganz anderer geworden wäre. Kurzum: sie gehörten in Forschung und Lehre zu meinen wichtigsten Vorbildern. Ich würde mich daher glücklich schätzen, wenn ihre sozialbetonte Haltung auch die Leser dieses Buchs ansprechen würde. Sich ihrer nicht zu erinnern, erschiene mir heutzutage – trotz der inzwischen vergangenen Zeit – geradezu konterrevolutionär, wie Heiner Müller gesagt hätte. Daß aus diesem Erinnerungsprozeß schließlich ein Buch hervorging, verdanke ich sowohl Gesprächen mit Freunden wie Klaus Berghahn, George L. Mosse, Marc Silberman, Klaus Scherpe und Dieter Schlenstedt als auch Justin Court, der für die Computerisierung des allmählich entstehenden Manuskripts sorgte, und Carol Poore, die mir beim Korrekturlesen behilflich war. Um die Lesbarkeit des Ganzen zu erleichtern, wurde auf eine umfangreiche Auseinandersetzung mit der bereits existierenden Sekundärliteratur weitgehend verzichtet. Die gleiche Absicht lag dem Bemühen zugrunde, die üblich gewordenen Abkürzungen für bestimmte Parteien oder andere Organisationen stets dann, wenn sie in den verschiedenen Kapiteln dieses Buchs zum ersten Mal auftauchen, jeweils aufs Neue durch die Hinzufügung der offiziellen Bezeichnungen klarzustellen. Damit sollte erreicht werden, daß sich jede der elf Biographien auch gesondert lesen läßt.

Anmerkungen

Gesellschaftspolitische Vorbilder in der deutschen Geschichte 1 Vgl. hierzu und zum Folgenden mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 20 f. 2 Vgl. mein Buch: Kultur im Wiederaufbau, München 1986, S. 252 ff. 3 Jürgen Habermas: Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer. Ordinarius Wolfgang Abendroth wird am 2. Mai sechzig Jahre alt. In: Die Zeit, Nr. 18 vom 29. April 1966. 4 Vgl. Thomas Grimm: Linke Vaterlandsgesellen, Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten, Raufbolde und andere Unangepaßte, Berlin 2003. 5 Zit. in Dana Horáková: Vorbilder. Berühmte Deutsche erzählen, was ihnen wichtig ist, Wiesbaden 2007, S. 11. 6 Vgl. hierzu Kursbuch 146, 2001, S. 65. 7 Reinhard K. Sprenger: Abschied vom Leithammel. In: Ebd., S. 144. 8 Thomas Macho: Vorbilder, München 2011, S. 219 f. 9 Ebd., S. 458. 10 Vgl. Dana Horáková: Vorbilder (wie Anm. 5), S. 18. 11 Benedikt Erenz: Vorbilder – das ist ein großes Wort. In: Vordenker, Vorbilder, Visionäre. 50 Deutsche von gestern für die Welt von morgen. In: Die Zeit 64, Nr. 47, Sonderbeilage vom November 2009, S. 3. 12 Vgl. Anm. 3. 13 Vgl. u. a. Ulrich Greiwe: Die Kraft der Vorbilder. Ihre Rolle gestern, heute und morgen, München 1998. Für die allgemeine „Vorbildflaute“ werden hier vor allem die steigende Subjektivierung, die Zerstückelung der Weltszene und die schwindende Leselust verantwortlich gemacht. 14 Konrad Paul Liessmann: Nabelbrüche. Über den rechten Umgang mit akademischen Ziehvätern. In: Kursbuch (wie Anm. 6), S. 123. 15 Ebd., S. 131. 16 Vgl. Kornelia Hauser: Ortlose Bildung. In: Argument 55, H.  302, 2013, S. 357–365. 17 Vgl. hierzu bereits Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt a. M. 1977.

Anmerkungen

Richard Hamann 1 Vgl. hierzu auch mein Buch: Der Kunsthistoriker Richard Hamann. Eine politische Biographie, Köln 2009, S. 12 f. 2 Vgl. Frieda Dettweiler: Richard Hamann. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. VII, 1966, S. 578. 3 Vgl. Richard Hamann: Das Hundertguldenblatt. In: Die Rheinlande, 1905, S. 361–365, und ders.: Rembrandts Radierungen, Berlin 1906, S. 313 ff. 4 Richard Hamann: Der Impressionismus in Leben und Kunst, Köln 1907, S. 201 ff. 5 Ebd., S. 320. 6 Vgl. Ulrich Schneider: Weimarer Republik und Faschismus. In Eberhard Dähne (Hrsg.): Marburg. Eine illustrierte Stadtgeschichte, Marburg 1985, S. 115. 7 Vgl. Martin Warnke: Richard Hamann. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 20, 1981, S. 18 f. 8 Vgl. Der Kunsthistoriker Richard Hamann (wie Anm. 1), S. 109. 9 Vgl. Gustav André: Richard Hamann. In Ingeborg Schnack (Hrsg.): Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20  Jahrhunderts, Marburg 1977, S. 137. 10 Vgl. Heinrich Dilly: Richard Hamann und seine Schüler, Marburg 1990, S. 97. 11 Vgl. Hamann-Nachlaß. UB Marburg, Ms. 1026 U 310. 12 Richard Hamann: Die Kunst des produktiven Sehens. In: Tägliche Rundschau vom 27. Juni 1947. 13 Richard Hamann: Rembrandt, Berlin 1948, S. 10 f. 14 Ebd., S. 11. 15 Ebd., S. 22 und 46. 16 Vgl. Hamann-Nachlaß. UB Marburg, Handschriften 1947–1949. 17 Vgl. Kalter Krieg gegen Intelligenz. In: Tägliche Rundschau vom 4. Februar 1949. 18 Vgl. Hamann-Nachlaß. UB Marburg, Ms. 1026 B. 19 Vgl. Jost Hermand und Wigand Lange: „Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?“ Deutschland und die Emigranten, Hamburg 1999, S. 43 ff. 20 Vgl. Renate Petras: Sprengt man den Louvre? Sprengt man St. Peter? Proteste des Kunsthistorikers Richard Hamann – sein Weg in die Ungnade. In: Tagesspiegel vom 7. September 1993. 21 Nach Äußerungen Hamanns dem Verfasser gegenüber. 22 Vgl. Hamann-Nachlaß. UB Marburg, Ms. 1026 B Kantorowicz. 23 Vgl. Michail Wladimirowitsch Alpatow: Zur Verteidigung der Renaissance. Gegen die Theorien der bürgerlichen Kunstwissenschaft. In Wladimir S. Kemenow (Hrsg.): Gegen die bürgerliche Kunst und Kunstwissenschaft, Berlin 1954, S. 169 f. 24 Hans Mayer: Richard Hamann und Jost Hermand: Naturalismus. In: Deutsche Literaturzeitung, 1960, S. 156–159. 280

Anmerkungen

25 Vgl. Kai Artinger: In Vielem grenzüberschreitend. Richard Hamanns und Jost Hermands kulturgeschichtliche Buchreihe „Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus“. In Bernd Reifenberg und Ruth Heftrig (Hrsg.): Wissenschaft zwischen Ost und West. Der Kunsthistoriker Richard Hamann als Grenzgänger, Marburg 2009, S. 81–104. 26 Abgedruckt bei Renate Petras: Sprengt man den Louvre? (wie Anm. 20). 27 Vgl. dazu auch mein Buch: Zuhause und anderswo. Erfahrungen im Kalten Krieg, Köln 2001, S. 90. 28 Vgl. Richard Hamann: Christentum und europäische Kultur. In Edgar Lehmann (Hrsg.): Richard Hamann in memoriam, Berlin 1963, S. 36 f., und Jost Hermand: Hamanns Testament. Sein Aufsatz „Christentum und europäische Kultur“. In: Wissenschaft zwischen Ost und West (wie Anm. 25), S. 11–20. 29 Richard Hamann: Christentum und europäische Kultur (wie Anm. 28), S. 73. 30 Vgl. Peter Richter: Deutsche Illusionen. Ein Besuch bei Jost Hermand in Madison, Wisconsin. In: Süddeutsche Zeitung vom 15.  September 2012, S. 17.

Werner Krauss 1 Vgl. Manfred Naumann: Prolegomena zu einer Werner-Krauss-Biographie. In: Sinn und Form 35, 1983, H. 5, S. 946. 2 Vgl. Rosemarie Heise in: Ebd., S. 917. 3 Vgl. Manfred Naumann: Prolegomena (wie Anm. 1), S. 948, und Hans-Jörg Neuschäfer: Die spanische Route im Lebensweg von Werner Krauss. In: Werner Krauss. Literatur – Geschichte – Schreiben. Hrsg. von Hermann Hofer, Thilo Karger und Christa Riehm, Tübingen 2003, S. 31–40. 4 Werner Krauss: Un moderno dramaturgo alemán Georg Kaiser. In: La Pluma 4, Nr. 35, 1923, S. 303–308. 5 Vgl. Ulrich Schneider: Widerstand und Verfolgung an der Marburger Universität 1933–1945. In Dieter Kramer und Christina Vanjy: Universität und demokratische Bewegung. Ein Lesebuch zur 450Jahrfeier der Philipps-Universität Marburg, Marburg 1977, S. 219 f., und mein Buch: Der Kunsthistoriker Richard Hamann. Eine politische Biographie, Köln 2009, S. 101 ff. 6 Ulrich Schneider: Widerstand (wie Anm. 5), S. 221. 7 Vgl. Hans-Jürg Neuschäfer: Servo humilis. Oder: Was wir mit Erich Auerbach vertrieben haben. In: Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus. Hrsg. von Hans Helmut Christmann und Frank-Rutger Hausmann, Tübingen 1989, S. 85–106, und: Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Hrsg. von Karlheinz Barck, Berlin 2007. 281

Anmerkungen

8 Vgl. Manfred Naumann: Prolegomena (wie Anm. 1), S. 953. 9 Ulrich Schneider: Widerstand (wie Anm. 5), S. 230. 10 Vgl. Werner Krauss: Marburg unter dem Naziregime. In: Sinn und Form 35, 1983, H. 5, S. 94–945, und Peter Jehle: Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat, Hamburg 1996, S. 7 f. 11 Vgl. Frank-Rutger Hausmann: Werner Krauss und der Kriegseinsatz der deutschen Romanisten 1940–1941. In Ottmar Ette, Martin Fontius, Gerda Haßler und Peter Jehle (Hrsg.): Werner Krauss: Wege – Werke – Wirkungen, Berlin 1999, S. 11–40. 12 Vgl. u.  a. Peter Jehle: Werner Krauss und die Romanistik (wie Anm.  10), S.  141  ff., Hans Coppi: Werner Krauss und der Schulze-Boysen/Harnack Widerstandskreis. In: Werner Krauss. Literatur – Geschichte – Schreiben (wie Anm. 3), S. 41–53, und Corina L. Petrescu: Widerstand im Dritten Reich. Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation. In Jost Hermand und Sabine Mödersheim (Hrsg.): Deutsche Geheimgesellschaften von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Köln 2013, S. 178. 13 Vgl. Karlheinz Barck: Werner Krauss im Widerstand und vor dem Reichsgericht. In: lendemains 18, 1993, H. 69/70, S. 137–150. 14 Vgl. Gerd Hohendorf: Wissenschaft und Politik. Erinnerungen an das hochschulpolitische Wirken von Werner Krauss in den ersten Jahren nach 1945. In Heinrich Scheel (Hrsg.): Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. In memoriam Werner Krauss, Berlin 1978, S. 20 ff. 15 Werner Krauss: Werkausgabe, Bd. I, Berlin und Weimar 1984, S. 364. 16 Werner Krauss: Nationalismus und Chauvinismus. In: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift 2, 1946, S. 443–456. 17 Vgl. Peter Jehle: Werner Krauss und die Romanistik (wie Anm. 10), S. 174. 18 Ebd., S. 174. 19 Werner Krauss: Werkausgabe, Bd. I (wie Anm. 15), S. 367 f. 20 Werner Krauss: Briefe 1922 bis 1976. Hrsg. von Peter Jehle, Frankfurt a. M. 2002, S. 133. 21 Ebd., S. 154. 22 Vgl. meinen Aufsatz: Der Kalte Krieg in der Literatur. Über die Schwierigkeiten bei der Rückeingliederung deutscher Exilautoren und -autorinnen nach 1945. In Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs, München 1995, S. 595 f. 23 Werner Krauss: Briefe (wie Anm. 20), S. 378. 24 Brief von Ernst Bloch vom 16. Mai 1948. In: Ebd., S. 453. 25 Werner Krauss: Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag. In: Sinn und Form 2, 1950, H. 4, S. 65–126, und in Werner Krauss: Studien und Aufsätze, Berlin 1959, S. 19–71. 282

Anmerkungen

26 Werner Krauss: Studien und Aufsätze (wie Anm. 25), S. 64. Vgl. hierzu auch Winfried Schröder: Sozioökonomische Determination und relative Eigenständigkeit einer geschichtlichen Entwicklungsform der Literatur. In Heinrich Scheel (Hrsg.): Literaturgeschichte (wie Anm. 14), S. 61–85. 27 Werner Krauss und Manfred Naumann (Hrsg.): Lesebuch der französischen Literatur, Leipzig 1952, S. 191. 28 Werner Krauss: Studien und Aufsätze (wie Anm. 25), S. 43. 29 Werner Krauss (Hrsg.): Reise nach Utopia. Französische Utopien aus drei Jahrhunderten, Berlin 1964. 30 Werner Krauss: Die nabellose Welt. Hrsg. von Elisabeth Fillmann und Karlheinz Barck, Berlin 2001. 31 Ebd., S. 49. 32 Ebd., S. 89. 33 Ebd., S. 109. 34 Vgl. Werner Mittenzwei: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Welt. Eine kulturkritische Autobiographie, Leipzig 2004, S. 286 f. 35 Zit. in: Vor gefallenem Vorhang. Aufzeichnungen eines Kronzeugen des Jahrhunderts. Hrsg. von Manfred Naumann, Frankfurt a. M. 1995, S. 177. 36 Vgl. Werner Krauss: Briefe (wie Anm. 20), S. 773. 37 Vgl. den Brief an Hans Mayer vom 10. Oktober 1967. In: Ebd., S. 889.

Jürgen Kuczynski 1 Vgl. dazu die bibliographischen Hinweise in Jürgen Kuczynski: Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus? Memoiren 1989–1994, Berlin 1994, S. 334 f., und Jürgen Kuczynski: Ein treuer Rebell. Memoiren 1994–1997, Berlin 1998, S. 225 f. 2 Vgl. Jürgen Kuczynski: Dialog mit meinem Urenkel. Neunzehn Briefe und ein Tagebuch, Berlin und Weimar 1983, S. 67. 3 Vgl. Jürgen Kuczynski: Kurze Bilanz eines langen Lebens. Große Fehler und kleine Nützlichkeiten, Berlin 1991, S. 12 f., und Jürgen Kuczynski: Ein linientreuer Dissident. Memoiren 1945–1989, Berlin und Weimar 1992, S. 15. 4 Vgl. hierzu mein Buch: Nach der Postmoderne. Ästhetik heute, Köln 2004, S. 10. 5 Vgl. Jürgen Kuczynski: Memoiren. Die Erziehung des J. K. zum Kommunisten und Wissenschaftler, Köln 1983, S. 23. 6 Ebd., S. 25. 7 Vgl. dazu sein Buch: René Kuczynski, Berlin 1957. 8 Jürgen Kuczynski: Memoiren (wie Anm. 5), S. 78. 9 Ebd., S. 106. 283

Anmerkungen

10 Ebd., S. 107. 11 Ebd., S. 137. 12 Ebd., S. 182. 13 Vgl. hierzu Günter Kröber: Die Publikationen des J.  K. Eine vornehmlich quantitative Analyse. In Thomas Heubner (Hrsg.): ZeitGenosse Jürgen Kuczynski, Berlin 1994, S. 21 f. 14 Jürgen Kuczynski: Memoiren (wie Anm. 5), S. 285. 15 Jürgen Kuczynski: „Ein linientreuer Dissident“ (wie Anm. 3), S. 42 f. 16 Ebd., S. 50. 17 Ebd., S. 91. 18 Ebd., S. 101. 19 Vgl. hierzu Jürgen Kuczynski: Frost nach dem Tauwetter. Mein Historikerstreit, Berlin 1993, Horst Haun: Kommunist und „Revisionist“. Die SEDKampagne gegen Jürgen Kuczynski (1956–1959), Dresden 1999, und Anke Geißler: Für eine Neuorientierung der DDR. Jürgen Kuczynski und die Kontroverse um sein Buch „Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie“, Berlin 2011. 20 Jürgen Kuczynski: Ein linientreuer Dissident (wie Anm. 3), S. 101. 21 Ebd., S. 147. 22 Ebd., S. 215. 23 Ebd., S. 228. 24 Jürgen Kuczynski: Dialog mit meinem Urenkel (wie Anm. 2), S. 8. 25 Ebd. S. 9. 26 Ebd., S. 12 ff. 27 Ebd., S. 17. 28 Ebd., S. 32. 29 Ebd., S. 90. 30 Ebd., S. 263. 31 Vgl. Jürgen Kuczynski: Ein treuer Rebell (wie Anm. 1), S. 32. 32 Vgl. Jürgen Kuczynski: Ein linientreuer Dissident (wie Anm. 3), S. 165. 33 Ebd., S. 281. 34 Ebd., S. 290. 35 Ebd., S. 329. 36 Ebd., S. 370. 37 Ebd., S. 384. 38 Ebd., S. 387. 39 Ebd., S. 433. 40 Vgl. Jürgen Kuczynski: Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus? (wie Anm. 1), S. 7. Vgl. dazu auch den von Wolfgang Girnus herausgegebenen Sammelband: Sozialistischer Weltbürger und Enzyklopädist, Leipzig 2007. 284

Anmerkungen

41 Jürgen Kuczynski: Ein hoffnungsloser Fall (wie Anm. 1), S. 8. 42 Ebd., S. 20. 43 Ebd., S. 84. 44 Jürgen Kuczynski: Kurze Bilanz eines langen Lebens (wie Anm. 3), S. 12 ff. 45 Thomas Heubner (Hrsg.): ZeitGenosse Jürgen Kuczynski (wie Anm. 13). 46 Vgl. Jürgen Kuczynski: Ein treuer Rebell (wie Anm. 1), S. 51. 47 Ebd., S. 103.

Wolfgang Abendroth 1 Jürgen Habermas: Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer. Der Marburger Ordinarius Wolfgang Abendroth wird am 2. Mai sechzig Jahre alt. In: Die Zeit, Nr. 18 vom 29. April 1966. 2 Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Frankfurt a.  M. 1976, S. 14. 3 Ebd., S. 114. 4 Ebd., S. 191. 5 Ebd., S. 200 f. 6 Wolfgang Abendroth: Die Justizreform in der Sowjetzone Deutschlands. In: Europa Archiv 3, September 1948, S. 1539–1546. 7 Wolfgang Abendroth: Ein Leben (wie Anm. 2), S. 205. 8 Ebd., S. 209. 9 Ebd., S. 210. 10 Ebd., S. 216. 11 Ebd., S. 216. 12 Vgl. Wolfgang Abendroth, Helmut Ridder, Otto Schönfeldt (Hrsg.): KPDVerbot oder mit Kommunisten leben?, Reinbek 1968. 13 Wolfgang Abendroth: Ein Leben (wie Anm. 2), S. 218. 14 Ebd., S. 239. 15 Ebd., S. 239. 16 Ebd., S. 247. 17 Ebd., S. 250. 18 Vgl. Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1960–1961, S. 477. 19 Wolfgang Abendroth: Die Karriere eines „Wissenschaftlichen Hilfsarbeiters“. In: Stimme der Gemeinde 21, 1969, H. 18, S. 549 ff. 20 Vgl. Heinz Jung: Abendroth-Schule. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hrsg. von Wolfgang Fritz Haug, Bd.  I, Hamburg 1984, Sp. 21–29. 21 Wolfgang Abendroth: Ein Leben (wie Anm. 2), S. 279. 285

Anmerkungen

22 Vgl. Wolfgang Abendroth: Was ist heute noch „links“ in der Bundesrepublik. In: Die Linke. Bilanz und Perspektive für die 80er. Hrsg. von Hermann L. Gremliza und Heinrich Hannover, Hamburg 1980, S. 9–26. 23 Vgl. mein Buch: Zuhause und anderswo. Erfahrungen im Kalten Krieg, Köln 2001, S. 186. 24 Vgl. Jürgen Habermas: Partisanenprofessor (wie Anm. 1). 25 Vgl. Georg Fülberth in: Freitag vom 28. April 2006.

Georg Knepler 1 Vgl. dazu schon meinen Aufsatz: Die restaurierte „Moderne“ im Umkreis der musikalischen Teilkulturen der fünfziger Jahre. In ders.: Beredte Töne. Musik im historischen Prozeß, Frankfurt a. M. 1991, S. 205–224. 2 Vgl. meinen Aufsatz: Avantgarde, Moderne, Postmoderne. Die Musik, die (fast) niemand hören will. In: Ebd. S. 225–242. 3 Vgl. Gerhard Oberkofler: Über das musikwissenschaftliche Studium von Georg Knepler an der Wiener Universität. In: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3, 2006. 4 Vgl. den Wikipedia-Eintrag zu Georg Knepler und Peter Gülke: Zum Gedenken an Georg Knepler (1906–2003). In: Die Musikforschung 56, 2003, 4,2, S. 119–120. 5 Georg Knepler: Einstimmiger oder mehrstimmiger Chorgesang? In: Kampfmusik 3, Januar/Februar 1933. Wiederabgedruckt in Georg Knepler: Gedanken über Musik. Reden. Versuche. Aufsätze. Kritiken, Berlin 1980, S.  116– 121. 6 Vgl. Gerhard Scheit: „Also raunzen können die Engländer überhaupt nicht.“ Aus einem Interview mit Georg Knepler über Widerstand, Antisemitismus und Exil vom 2. und 3. Mai 1992. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und Widerstands 19, 2003, S. 28–35. 7 Vgl. Beiträge zur Musikwissenschaft 2, 1960, H. 2, S. 69–71. 8 Ebd., S. 69. 9 Ebd., S. 69. 10 Ebd., S. 70. 11 Georg Knepler: Reaktionäre Tendenzen in der westdeutschen Musikwissenschaft. In: Beiträge zur Musikwissenschaft 2, 1960, H. 3, S. 5. 12 Ebd., S. 8. 13 Ebd., S. 18. 14 Ebd., S. 18. 15 Georg Knepler: Musikgeschichte des 19.  Jahrhunderts, Berlin 1961, Bd.  I, S. 7. 286

Anmerkungen

16 Ebd., Bd. II, S. 893. 17 Ebd., Bd. II, S. 933. 18 Rey M. Longyear in: Journal of the American Musicological Society 18, 1965, Nr. 3, S. 419–421. 19 Vgl. dazu demnächst meinen Beitrag: Ernst Hermann Meyers Polemik gegen die „westliche Unkultur“ in der Musik. In: Musik im Kalten Krieg. Hrsg. von Ulrich Blomann. 20 Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977, S. 29. 21 Ebd., S. 31. 22 Carl Dahlhaus: Einführung in die systematische Musikwissenschaft, Köln 1971, S. 123. 23 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Double Mimesis. Georg Lukács’ Philosophy of Music. In Jost Hermand und Gerhard Richter (Hrsg.): German Music and Philosophy, Madison 2006, S. 244–260. 24 Vgl. Georg Kneplers Kritik an Richard Hamann und Jost Hermand: Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus. In: Geschichte als Weg zum Musikverständnis (wie Anm. 20), S. 336 und 344. 25 Ebd., S. 488. 26 Vgl. hierzu schon Georg Lukács: Ästhetik, Neuwied 1963, Bd. I, S. 297 ff. 27 Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis (wie Anm.  20), S. 425. 28 Ebd., S. 492. 29 Vgl. zum Folgenden Anne C. Shreffler: Berlin Walls: Dahlhaus, Knepler and Ideologies of Music History. In: Journal of Musicology 20,4, 2003, S. 498– 525. 30 Vgl. James Hepokoski: The Dahlhaus Project and its Extra-Musical Sources. In: Nineteenth-Century Music 14, 1991, S. 221–246. 31 Carl Dahlhaus: Grundlagen der Musikgeschichte, Köln 1977, S. 25. 32 Vgl. Georg Knepler und Peter Wicke: Das Prinzip der Prinzipienlosigkeit. In: Beiträge zur Musikwissenschaft 21, 1979, S. 225. 33 Carl Dahlhaus: Grundlagen (wie Anm. 31), S. 106. 34 Georg Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis (wie Anm.  20), S. 63. 35 Ebd., S. 544. 36 Georg Knepler: Gedanken über Musik (wie Anm. 5), S. 8. 37 Ebd., S. 12. 38 Ebd., S. 16. 39 Ebd., S. 145. 40 Ebd., S. 181. 287

Anmerkungen

41 Ebd., S. 184. 42 Georg Knepler: Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen, Berlin 1991, S. 205 ff. 43 Ebd., S. 299 ff. 44 Ebd., S. 412 f. 45 Ebd., S. 420. 46 Vgl. hierzu die Rezension dieser Bände von Friedbert Streller in: Die Musikforschung 51, 1998, S. 456–458. 47 Vgl. zum Folgenden auch Günter Mayer: Nachruf auf Georg Knepler. In: Kulturnation. Online Journal für Kulturwissenschaft und Politik 1, 2003. 48 Georg Knepler: Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit. Hrsg. von Stefan Huth, Berlin 2004, S. 3. 49 Ebd., S. 7. 50 Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: Jenseits von Job und Freizeit. Zur Utopie der „Freien Assoziation der Freien Produzenten“. In ders.: Orte. Irgendwo. Formen utopischen Denkens, Königstein 1981, S. 157–180. 51 Georg Knepler: Macht ohne Herrschaft (wie Anm. 48), S. 85. 52 Ebd., S. 7. 53 Ebd., S. 89.

Hans Mayer 1 Vgl. Über Hans Mayer. Hrsg. von Inge Jens, Frankfurt a. M. 1977, S. 9. 2 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1984, S. 13 ff., und Hans Mayer: Gelebte Literatur. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1987, S. 7 ff. 3 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), S. 117. 4 Vgl. Olaf Ihlau: Die Roten Kämpfer. Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Meisenheim 1969, S. 38 ff. 5 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. I, S. 135. 6 In: Autorität und Familie. Studien aus dem Institut für Sozialforschung. Hrsg. von Max Horkheimer, Paris 1936, S. 824 ff. 7 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. I, S. 287. 8 Vgl. die Bibliographie in: Über Hans Mayer (wie Anm. 1), S. 188. 9 Vgl. Hans Mayer: Gelebte Literatur (wie Anm. 2), S. 50. 10 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. I, S. 294. 11 Ebd., S. 373. 12 Vgl. mein Buch: Kultur im Wiederaufbau, München 1986, S. 151. 13 Vgl. zum Folgenden auch Günter Albus: Hans Mayer in Leipzig. 1948–1963. Eine bio-bibliographische Chronik. In: Hans Mayers Leipziger Jahre. Hrsg. 288

Anmerkungen

von Alfred Klein, Manfred Neuhaus und Klaus Pezold, Leipzig 1997, S. 171– 190. 14 Vgl. Freiheit. Mitteldeutsche Tageszeitung vom 30. Dezember 1948, S. 1. 15 Hans Mayer: Goethe in unserer Zeit. Eine Rede vor jungen Menschen, gehalten im Deutschen Nationaltheater in Weimar am 21. März 1949, Berlin 1949. 16 Vgl. Hans Mayer: Die im Dunkel und die im Licht. Westdeutschland am Jahresanfang. In: Tägliche Rundschau vom 8. Januar 1950. 17 Vgl. Thomas Mann: Grundtorheit Antibolschewismus. In: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift 2, 1946, H. 8, S. 855–858. 18 Hans Mayer: Thomas Manns „Dr. Faustus“. In: Ost und West 2, 1948, H. 4, S. 23–50. 19 Vgl. Thomas-Mann-Festsendung. In: Neues Deutschland vom 9. Juni 1950. 20 Hans Mayer: Bertolt Brecht und die plebejische Tradition. In: Sinn und Form, 1949, Sonderheft Bertolt Brecht, S. 42–51. 21 Vgl. Hans Mayer: Das ABC der deutschen Misere. Über den „Hofmeister“ von J. M. R. Lenz. In: Neues Deutschland vom 13. April 1950. 22 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. September 1950. 23 Vgl. Hans Mayer: Westdeutschland sehnt sich nach einer nationalen Kultur. In: Neues Deutschland vom 24. August 1951. 24 Vgl. Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. II, S. 20 ff. 25 Vgl. Hans Mayer: Briefe 1948–1963. Hrsg. von Mark Lehmstedt, Leipzig 2006, S. 156. 26 Hans Mayer: Richard Wagners geistige Entwicklung. In: Sinn und Form  5, 1953, H.  3/4, S.  111–162. Vgl. auch Hans Mayer: Briefe (wie Anm.  25), S. 158. 27 Vgl. Hans Mayers Brief an Wilhelm Girnus vom 24. Februar 1953. In: Briefe (wie Anm. 25), S. 150. 28 Vgl. Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. II, S. 268. 29 Ebd., Bd. II, S. 103. 30 Vgl. hierzu Wolfgang Harich: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Leipzig 1992. 31 Wolfgang Harich: Hans Mayers Buch über Thomas Mann. In: Die Weltbühne, 1950, S. 801–804. 32 Vgl. Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956–1963. Hrsg. von Mark Lehmstedt, Leipzig 2007, S. 21. 33 Feldzüge. Der siebenjährige Krieg gegen Hans Mayer 1956–1963, Leipzig 1999, S. 21 ff., und Peter Schiller: Der verweigerte Dialog. Zum Verhältnis von Parteiführung der SED und Schriftsteller in den Krisenjahren 1956/57, Berlin 2003. 34 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. II, S. 113. 289

Anmerkungen

35 Vgl. Der Fall Hans Mayer (wie Anm. 32), S. 73 ff. 36 Ebd., S. 120. 37 Vgl. ebd., S. 126–131. 38 Vgl. ebd., S. 227. 39 Ebd., S. 242. 40 Vgl. den Bericht von Walter Dietze an die Leipziger Universitätsparteileitung vom 16. Juni 1961. In: Ebd., S. 355 f. 41 Vgl. Briefe (wie Anm. 25), S. 596 f. 42 Vgl. Mayer. Flucht – immer etwas seltsam. In: Spiegel vom 11.  September 1963, S. 24–26. 43 Vgl. Hans Mayer. Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. II, S. 271. 44 Ebd., S. 457. 45 Ebd., S. 465. 46 Im Gespräch mit dem Verfasser. 47 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. II, S. 263. 48 Im Gespräch mit dem Verfasser. 49 Im Interview mit Günter Gaus im Westdeutschen Fernsehen im Jahr 1985. 50 Vgl. Manfred Lauermann: „Die Gegenuniversität – bin ich selbst!“ Hans Mayer und die „’68er“ in Hannover. In: Hans Mayers Leipziger Jahre (wie Anm. 13), S. 149 ff. 51 Vgl. mein Buch: Freunde, Promis, Kontrahenten. Politbiographische Momentaufnahmen, Köln 2013, S. 72 ff. 52 Hans Mayer: Konfrontation der inneren und äußeren Emigration. Erinnerung und Deutung. In Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.): Exil und innere Emigration, Frankfurt a. M. 1972, S. 75–88. 53 Hans Mayer: Außenseiter, Frankfurt a. M. 1975, S. 9. 54 Ebd., S. 464. 55 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf (wie Anm. 2), Bd. II, S. 9. 56 Ebd., S. 341. 57 Ebd., S. 399. 58 Hans Mayer: Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt a. M. 1991, S. 17. 59 Ebd. S. 49. 60 Ebd., S. 17. 61 Ebd., S. 59. 62 Ebd., S. 67. 63 Vgl. Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen 1945. Mit einem Essay von Hans Mayer, Hamburg 1992, S. 61. 64 Hans Mayer: Der Widerruf. Über Deutsche und Juden, Frankfurt a. M. 1994, S. 450. 290

Anmerkungen

65 Hans Mayer: Zeitgenossen. Erinnerung und Deutung, Frankfurt a. M. 1998, S. 11–22. 66 Ebd., S. 96. 67 Ebd., S. 26 und 41. 68 Hans Mayer: Gelebte Musik. Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1999, S. 202. 69 Ebd., S. 204. 70 Ebd., S. 201.

Helmut Gollwitzer 1 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Friedrich-Wilhelm Marquard et  al. (Hrsg.): Skizzen eines Lebens. Aus verstreuten Selbstzeugnissen, Gütersloh 1998. 2 Helmut Gollwitzer: ...und führen, wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft, München 1951, S. 127. 3 Helmut Gollwitzer: Coena Dominus. Die altlutherische Abendmahlslehre in ihrer Auseinandersetzung mit dem Calvinismus, dargestellt an der lutherischen Frühorthodoxie, München 1937. 4 Vgl. Gerhard Schäberle-Koenigs: Und sie waren täglich einmütig beieinander. Der Weg der Bekennenden Gemeinde Berlin-Dahlem 1937–1943, Gütersloh 1998. 5 Helmut Gollwitzer: Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik, München 1962, S. 340. 6 Vgl. meinen Aufsatz: Vom heißen zum kalten Krieg. Heinz G. Konsaliks „Der Arzt von Stalingrad“. In: Sammlung. Jahrbuch für antifaschistische Literatur und Kunst 2, 1979, S. 39–49. 7 Helmut Gollwitzer: ...und führen, wohin du nicht willst (wie Anm. 2), S. 120. 8 Ebd., S. 179 ff. 9 Ebd., S. 194. 10 Ebd., S. 315. 11 Ebd., S. 195 f. 12 Ebd., S. 177. 13 Ebd., S. 37. 14 Ebd., S. 131. 15 Ebd., S. 135. 16 Helmut Gollwitzer: Was geht den Christen die Politik an? In: Für Arbeit und Besinnung 6, 1952, S. 274. 17 Helmut Gollwitzer: Der Christ zwischen Ost und West. In: Evangelische Theologie 10, 1950/51, H. 4, S. 154 ff. 18 Helmut Gollwitzer: Forderungen der Freiheit (wie Anm. 5), S. 282 ff. 291

Anmerkungen

19 Ebd., S. 289 ff. 20 Ebd., S. 42. 21 Ebd., S. 169. 22 Ebd., S. 173. 23 Ebd., S. 214. 24 Ebd., S. 245. 25 Ebd., S. XV. 26 Ebd., S. XVI. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd., S. XXVII. 30 Ebd., S. XXXVII. 31 Rudi Dutschke: Mein langer Marsch. Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren. Hrsg. von Gretchen Dutschke-Klotz, Helmut Gollwitzer und Jürgen Miermeister, Reinbeck 1980, S. 38. 32 Helmut Gollwitzer: Die kapitalistische Revolution, München 1974, S. 8 f. 33 Ebd., S. 9. 34 Ebd., S. 13. 35 Ebd., S. 14. 36 Ebd., S. 41. 37 Ebd., S. 50 f. 38 Ebd., S. 63. 39 Ebd., S. 69. 40 Ebd., S. 88. 41 Ebd., S. 97. 42 Ebd., S. 101. 43 Vgl. Karl Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde. In: Theologische Studien 20, 1946, S. 22. 44 Helmut Gollwitzer: Die kapitalistische Revolution (wie Anm. 32), S. 119. 45 Vgl. mein Buch: Freunde, Promis, Kontrahenten. Politbiographische Momentaufnahmen, Köln 2013, S. 131. 46 Rudi Dutschke: Mein langer Marsch (wie Anm. 31), S. 161. 47 Ebd., S. 245 f. 48 Vgl. hierzu auch seinen Beitrag: Evangelium und kapitalistische Privilegienwirtschaft sind unvereinbar. In: Die Linke. Bilanz und Perspektive für die 80er. Hrsg. von Hermann L. Gremliza und Heinrich Hannover, Hamburg 1980, S. 121 ff.

292

Anmerkungen

Robert Jungk 1 Robert Jungk: Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft, München 1993, S. 46. 2 Ebd., S. 20. 3 Ebd., S. 48. 4 Vgl. Robert Jungks Vorwort zu dem Buch von Hans Coppi: Harro SchulzeBoysen. Wege in den Widerstand, Koblenz 1993, und: Jeder war eine eigene Partei. Der Gegnerkreis um Harro Schulze-Boysen. In Thomas Grimm: Linke Vaterlandsgesellen, Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten, Raufbolde und andere Unangepaßte, Berlin 2003, S. 60–89. 5 Vgl. hierzu allgemein Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz, Leipzig 1978, und Hermann Wichers: Schweiz. In Claus-Dieter Krohn, Patrik von zur Mühlen, Gerhard Paul und Lutz Winckler (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, Darmstadt 1998, S. 375–383. 6 Robert Jungk: Trotzdem (wie Anm. 1), S. 257 f. 7 Ebd., S. 284 f. 8 Ebd., S. 288. 9 Vgl. Karl A. Otto: Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960–1970, Frankfurt a.  M. 1977, S. 107–109, wo vor allem auf die Mitarbeit von Robert Jungk und Günther Anders an der seit 1956 erschienenen Zeitschrift „Das Gewissen. Organ zur Bekämpfung des Atommißbrauchs und der Atomgefahren“ hingewiesen wird. 10 Vgl. hierzu mein Buch: Grüne Utopien in Deutschland. Zur Geschichte des ökologischen Bewußtseins, Frankfurt a. M. 1991, S. 128 ff. 11 Robert Jungk: Trotzdem (wie Anm. 1), S. 396. 12 Vgl. Robert Jungk und Norbert R. Müllert: Zukunftswerkstätten. Mit Phantasie gegen Routine und Resignation, Hamburg 1981. 13 Robert Jungk: Trotzdem (wie Anm. 1), S. 401. 14 Ebd., S. 446. 15 Ebd., S. 457. 16 Ebd., S. 463. 17 Ebd., S. 488. 18 Vgl. Grüne Utopien in Deutschland (wie Anm. 10), S. 126 f. 19 Robert Jungk: Trotzdem (wie Anm. 1), S. 448. 20 Vgl. Das Sonnenbuch. Bericht vom Anfang einer neuen Zukunft. Hrsg. von Walter Spielmann, Salzburg 2013. 21 Vgl. hierzu: „Großartiger Seher“ und „Absoluter Visionär«. Rolf Kreibich im Gespräch mit Stephan Karkowsky. In: Deutschlandradio vom 21. März 2013.

293

Anmerkungen

Walter Grab 1 Vgl. Walter Grab: Meine vier Leben. Gedächtniskünstler, Emigrant, Jakobinerforscher, Demokrat, Köln 1999, S. 9. 2 Ebd., S. 10. 3 Ebd., S. 25. 4 Ebd., S. 26. 5 Ebd., S. 61. 6 Ebd., S. 62. 7 Ebd., S. 64. 8 Ebd., S. 73. 9 Ebd., S. 78. 10 Ebd., S. 79. 11 Vgl. mein Buch: Arnold Zweig, Reinbek 1990, S. 101. 12 Vgl. Walter Grab: Meine vier Leben (wie Anm. 1), S. 93. 13 Ebd., S. 103. 14 Ebd., S. 104 f. 15 Ebd., S. 137. 16 Hedwig Voegt: Die deutsche jakobinische Literatur und Publizistik, 1789– 1800, Berlin 1955. 17 Walter Grab: Meine vier Leben (wie Anm. 1), S. 187. 18 Ebd., S. 190. 19 Ebd. 20 Vgl. Deutsche revolutionäre Demokraten, 4  Bde. Hrsg. von Walter Grab, Stuttgart 1971–1973. 21 Vgl. Walter Grab: Meine vier Leben (wie Anm. 1), S. 246. 22 Vgl. mein Buch: Freunde, Promis, Kontrahenten. Politbiographische Momentaufnahmen, Köln 2013, S. 79 f. 23 Walter Grab: Meine vier Leben (wie Anm. 1), S. 292. 24 Ebd., S. 352. 25 Brief an den Verfasser vom 27. Juni 2000. 26 Brief an den Verfasser vom 21. Februar 2000. 27 Ebd. 28 Brief an den Verfasser vom 27. Juli 2000. 29 Vgl. Walter Grab: „Nicht aus Zionismus, aus Österreich.“ In Hajo Funke: Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, Frankfurt a. M. 1989, S. 131. 30 Vgl. Walter Grab: Drei große Utopien der Menschheit. Das Christentum, die jakobinische Tugendlehre, der Kommunismus. In ders.: Jakobiner und Demokratie in Geschichte und Literatur, Frankfurt a. M. 1998, S. 236. 31 Ebd., S. 239. 294

Anmerkungen

Hans Heinz Holz 1 Vgl. Hans Heinz Holz: Demokratie, Sozialismus, Humanismus. Hans Heinz Holz in eigener Sache. In: National-Zeitung (Basel) vom 8. Dezember 1970. 2 Vgl. Auf dem äußersten linken Flügel. Hans Heinz Holz. In Thomas Grimm: Linke Vaterlandsgesellen, Sozialisten, Anarchisten, Kommunisten, Raufbolde und andere Unangepaßte, Berlin 2003, S. 177 f. 3 Vgl. Hans Heinz Holz. In: Metzlers Philosophenlexikon. Hrsg. von Bernd Lutz, Stuttgart 2003, S. 319. 4 Vgl. das Schriftenverzeichnis von Hans Heinz Holz. In: Representatio Mundi. Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Heinz Holz. Hrsg. von Hermann Klenner, Domenico Losurdo, Jos Lensink und Jeroen Bartels, Köln 1997, S. 467–599. 5 Vgl. http:/www.spiegel.de/spiegel/print/d-43279334.html. 6 Vgl. Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland. 1945–2000, Leipzig 2001, S. 160 ff. 7 Vgl. Thomas Grimm: Linke Vaterlandsgesellen (wie Anm. 1), S. 185. 8 Vgl. Friedrich-Martin Balzer: Hans Heinz Holz als Publizist. Ein Zwischenbericht. In Christoph Hubig und Jörg Zimmerman (Hrsg.): Unterschied und Widerspruch. Perspektiven auf das Werk von Hans Heinz Holz, Köln 2007, S. 229–245. Insgesamt schrieb Holz rund 1.400 Zeitungsaufsätze. 9 Vgl. ebd., S. 235. 10 Vgl. Paul Weweder: Hans Heinz Holz als Kunstkritiker. In: Ebd., S. 193–202. 11 Vgl. Alfred J. Noll: Macht und Politik konkret. Hans Heinz Holz’ Kritik der Notstandsgesetzgebung 1964–67. In: Ebd., S. 94–114. 12 Vgl. Karl Christoph Gerber, Rudolf Hunziker und Elisabeth Zillig (Hrsg.): Dokumentation des Habilitationsverfahrens Hans Heinz Holz in Bern, Bern 1971, und den Artikel von Franziska Rogger: Holz-Affäre und Hirschy­ Krawall – die 68er an der Uni Bern. In: Uni Press 137, 2008, S. 30. 13 Vgl. Berufung abgelehnt. In: Spiegel, 1971, Nr. 14, S. 166–169, Doktortitel. Nicht mehr eindeutig. In: Spiegel, 1972, Nr.  47, S.  60–65, Representatio Mundi (wie Anm. 4), S. 3, und Friedrich Martin Balzer: Deutsche Misere. Die Auseinandersetzungen um den marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz. In: Junge Welt, 2001, Nr. 163. 14 Vgl. Representatio Mundi (wie Anm. 4), S. 4. 15 Ebd., S. 4. 16 Hans Heinz Holz: Strömungen und Tendenzen im Neomarxismus, München 1972, S. 3. 17 Ebd., S. 109 f. 18 Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin 1955, S. 244–327. 295

Anmerkungen

19 Hans Heinz Holz: Die abenteuerliche Rebellion. Bürgerliche Protestbewegungen in der Philosophie. Stirner – Nietzsche – Sartre – Marcuse – Neue Linke, Darmstadt 1976, S. 181. 20 Ebd., S. 238. 21 Ebd., S. 250. 22 Ebd., S. 260. 23 Ebd., S. 261. 24 Ebd., S. 266. 25 Vgl. Peter Hacks. Hans Heinz Holz: Nun habe ich Ihnen doch zu einem Ärger verholfen. Briefe. Texte. Erinnerungen. Hrsg. von Arnold Schölzel, Berlin 2007, S. 23. 26 Hans Heinz Holz: Niederlage und Zukunft des Sozialismus, Essen 1991, S. 8. 27 Ebd., S. 8. 28 Ebd., S. 13. 29 Ebd., S. 160. 30 Ebd., S. 19. 31 Ebd., S. 19. 32 Ebd., S. 40 f. 33 Hans Heinz Holz: Sozialismus oder Barbarei. Ein Beitrag zur Zukunftsdebatte, Essen 1999, S. 133. 34 Vgl. Thomas Metscher und Heewon Lee: Zu Hans Heinz Holz „Philosophische Theorie der bildenden Künste“. In: Zeitschrift für marxistische Erneuerung 45, März 2001, S. 121–133. 35 Vgl. Wolfgang Neusel: Dialektik, systematisch und historisch begründet. In: Unterschied und Widerspruch (wie Anm. 8), S. 49–61, Erich Hahn und Silvia Holz-Markun (Hrsg.): Die Lust am Widerspruch. Theorie der Dialektik – Dialektik der Theorie, Berlin 2008, und Richard Sorg: Hans Heinz Holz und die Dialektik. In: Argument 297, 2012, S. 436–445. 36 Vgl. Dietmar Dath. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Dezember 2011, S. 38. 37 Tom Strohschneider: Seiner Sache treu. In: Freitag vom 13. Dezember 2011. 38 Vgl. Thomas Grimm: Linke Vaterlandsgesellen (wie Anm. 1), S. 187.

Werner Mittenzwei 1 Vgl. Jürgen Kuczynki: Ein hoffnungsloser Fall von Optimismus? Memoiren 1989–1994, Berlin 1994. 2 Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, Leipzig 2001, S. 558. 296

Anmerkungen

3 Vgl. zum Folgenden ausführlich Werner Mittenzwei: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit, Leipzig 2004, S. 9 ff. 4 Vgl. u. a. Dieter Schiller: Kulturdebatten in der DDR nach dem XX. Parteitag der KPdSU, Berlin 1999. 5 Werner Mittenzwei: Zwielicht (wie Anm. 3), S. 157. 6 Vgl. hierzu Bärbel Schrader: Freie Fahrt für einen jungen Kritiker. In: Dialog mit Werner Mittenzwei. Beiträge und Materialien zu einer Kulturgeschichte der DDR. Hrsg. von Simone Barck und Inge Münz-Koenen, Berlin 2002, S. 14–17. 7 Werner Mittenzwei: Zwielicht (wie Anm. 3), S. 198. 8 Ebd., S. 242. 9 Ebd., S. 248. 10 Ebd., S. 260. 11 Werner Mittenzwei: Die Brecht-Lukács-Debatte. Sinn und Form  19, 1967, H. 1, S. 235–269. 12 Werner Mittenzwei: Zwielicht (wie Anm. 3), S. 257. 13 Ebd., S. 255 f. 14 Ebd., S. 262. 15 Vgl. dazu auch das Nachwort Mittenzweis zu der von ihm herausgegebenen „Me-ti“-Schrift von Bertolt Brecht, Berlin 1975. 16 Vgl. dazu: Dialog mit Werner Mittenzwei (wie Anm. 6), S. 71–73. 17 Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz, Leipzig 1978. 18 Vgl. Dialog mit Werner Mittenzwei (wie Anm. 6), S. 87–94. 19 Vgl. dazu einige Aufsätze in dem von Karlheinz Barck, Dieter Schlenstedt und Wolfgang Thierse herausgegebenen Band: Künstlerische Avantgarde. Annäherungen an ein unabgeschlossenes Kapitel, Berlin 1979. 20 Werner Mittenzwei: Zwielicht (wie Anm. 3), S. 403. 21 Vgl. Komponisten auf Werk und Leben befragt. Ein Kolloquium. Hrsg. von Harry Goldschmidt, Georg Knepler und Konrad Niemann, Leipzig 1985, S. 324. 22 Vgl. Jürgen Kuczynski: Ein treuer Rebell. Memoiren 1994–1997, Berlin 1998, S. 491, und: Dialog mit Werner Mittenzwei (wie Anm. 6), S. 153–187. 23 Werner Mittenzwei: Zwielicht (wie Anm. 3), S .420. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 423. 26 Ebd., S. 426. 27 Ebd., S. 462. 28 Ingrid Mittenzwei: Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Berlin 1980. 29 Werner Mittenzwei: Zwielicht (wie Anm. 3), S. 483. 30 Ebd., S. 486. 297

Anmerkungen

31 Ebd., S. 488 f. 32 Vgl. u.  a. den haßerfüllten Verriß dieses Buchs „Wider die Dunkelmänner unserer Zeit. Verächter der Freiheit: Schriftsteller-Mitarbeiter der Stasi, SEDFunktionäre und Westpolitiker entsorgen die Vergangenheit“ von Erich Loest aus dem Jahr 2002. In: http://www.zeit.de/2002/25. 33 Vgl. beispielsweise Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. Christa Wolf und der deutsche Literaturstreit. In Thomas Anz (Hrsg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland, München 1991, S. 208–216. 34 Janine Ludwig und Mirjam Meuser (Hrsg.): In diesem besseren Land. Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literatur, Freiburg 2009, S. 10. 35 Werner Mittenzwei: Die Brockenlegende. Aus den Papieren des Schweizer Gelehrten Tobias Bitterli kommentiert von Christine Mosero, Leipzig 2007, S. 15 f. 36 Manfred Wekwerth: Der Unermüdliche. In: Junge Welt vom 18.  Februar 2014, S. 12. 37 Elmar Faber: Pamphlete gegen die Denkfaulheit. In: Neues Deutschland vom 17. Februar 2014. 38 Esther Slevogt: Werner Mittenzwei. Seine Zeit war und seine Zeit wird kommen. In: Berliner Zeitung vom 17. Februar 2014. 39 Martin Ebel: Der „rote Don Quijote“ ist tot. In: Basler Zeitung vom 17. Februar 2014. 40 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Februar 2014 und Süddeutsche Zeitung vom 18. Februar 2014.

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Bildnachweise Richard Hamann, S. 30 © Archiv des Verfassers Werner Krauss, S. 56 © Bundesarchiv, Bild 183-16368-0011, Foto: Lücke / September 1952 Jürgen Kuczynski, S. 76 © Bundesarchiv, Bild 183-S86161, Foto: Kemlein, Eva / 1. Juli 1949 Wolfgang Abendroth, S. 98 © Bundesarchiv, Bild 183-F1227-0202-005, Fotograf: o. Ang. / 12. Dezember 1967 Georg Knepler, S. 118 © Bundesarchiv, Bild 183-124390031, Foto: Quaschinsky, Günter / 3. November 1951 Hans Mayer, S. 140: Foto Roger Melis © Roger Melis / Nachlass Mathias Bertram Helmut Gollwitzer, S.168: Der evangelische Theologe und Schriftsteller Helmut Gollwitzer, aufgenommen bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung in Frankfurt am Main (Archivfoto vom 28. Mai 1968. Unter dem Titel „Ich will Dir schnell sagen, daß ich leb“.) © dpa – Bildfunk, Fotograf: Manfred Rehm. Robert Jungk, S. 190: Foto Roger Melis © Roger Melis / Nachlass Mathias Bertram Walter Grab, S. 213: Walter Grab. Meine vier Väter. PapyRossa Verlag, Köln 1999. S. 165. Hans Heinz Holz, S. 232 © Barbara Klemm Werner Mittenzwei, S. 254: Dialog mit Werner Mittenzwei. Beiträge und Materialien zu einer Kulturgeschichte der DDR. Hrsg. von Simone Barck und Inge MünzKoenen, Berlin 2002, S. 2.

Personenregister A Abendroth, Lisa 106 Abendroth, Wolfgang 99–117, 183, 222, 225, 228, 238, 239, 245, 248, 252, 277 Abusch, Alexander 83, 152, 155, 163 Achenbach, Oswald 143 Ackermann, Anton 86 Adenauer, Konrad 19, 109–111, 113, 141, 148, 152, 163, 174, 177, 179, 201, 236, 237 Adler, Guido 122 Adorno, Theodor W. 74, 112, 119, 125, 129, 133, 152, 160, 164– 166, 183, 233, 246 Agartz, Viktor 111, 113 Albrecht, Hans Joachim 250 Alpatow, Michail Wladimirowitsch 50 Altner, Günter 207 Amiel, Henri Frédéric 60 Anders, Günther 202 Andres, Stefan 202 Anouilh, Jean 257 Arrabal, Fernando 160 Asmussen, Hans 171 Auerbach, Erich 60, 61, 64, 68 Axen, Hermann 86 B Babeuf, François Noël 231 Bach, Johann Sebastian 119, 120 Bachmann, Josef 184 Bahro, Rudolf 210 Bamberger, Rudolf 194 Bancroft, Mary 196 Bantlin, Heinrich 10

Barbusse, Henri 193 Barck, Simone 264 Barth, Karl 170–172, 177, 182, 183, 187 Bauch, Kurt 49 Baum, David 193 Bebel, August 112 Becher, Johannes R. 65, 75, 148, 152, 153, 155, 163, 257 Bechstein, Ludwig 12 Becker, Carl Heinrich 38 Beethoven, Ludwig van 35, 119, 120, 126, 131 Begin, Menachem 226, 227 Behrens, Friedrich 67, 88 Behrens, Peter 37 Benjamin, Hilde 106, 107, 108 Benjamin, Walter 72, 164, 238 Berghaus, Ruth 266 Bertram, Ernst 69 Bett, Simon & Co. (Bank) 80 Beutin, Wolfgang 228 Beyrich, Volker 157 Biermann, Wolf 161 Bismarck, Otto von 13, 65, 70, 101 Blanqui, Louis Auguste 231 Bloch, Ernst 24, 50, 52, 68, 72, 74, 88, 141, 154, 158, 161, 163, 164, 183, 233, 235, 236, 238–241, 243, 245, 250, 252 Blume, Friedrich 125 Bohlen, Dieter 25 Bohner, Paul 194 Bohr, Niels 201 Böll, Heinrich 153, 207 Bollnow, Otto Friedrich 236

Personenregister

Bonhoeffer, Dietrich 170 Born, Ignaz von 133 Bornscheuer, Lothar 225 Boulez, Pierre 166 Bourdieu, Pierre 27 Brahms, Johannes 119, 122, 126 Brandler, Heinrich 102, 103, 144, 145 Brandt, Willy 55, 114, 163, 166 Braun, Volker 262, 267 Bravo, Sara 193 Brecht, Bertolt 25, 31, 50, 75, 78, 83, 87, 92, 122, 123, 130, 151, 153, 158, 159, 163, 222, 235, 252, 255, 256, 258–260, 262– 269, 271, 273 Bredel, Willi 89, 153 Breit, Thomas 172 Brentano, Heinrich von 151 Brentano, Margarita 240 Bruckner, Anton 119, 126 Brückner, Peter 164, 165 Brügelmann, Hermann 64 Brüning, Heinrich 103 Buber, Martin 193 Büchner, Georg 141, 146, 148, 159, 213, 225, 228 Burckhardt, Carl Jakob 141, 146, 164 Burghardt, Walther 104 Burnham, James 150 Busch, Harald 39 Byrnes, James F. 67 C Callenbach, Ernest 210 Capra, Fritjof 210 Carlebach, Emil 149, 235 Celan, Paul 164 Chatschaturian, Aram 124 Chopin, Frédéric 151

Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 19, 87, 88, 153, 242 Claudius, Eduard 87, 147, 153 Connery, Sean 25 Corneille, Pierre 61 Croce, Benedetto 60, 69 Curtius, Ernst-Robert 63 Czempin, Arnold 219 D Dahlem, Franz 84, 86, 154 Dahlhaus, Carl 128, 130, 131 Defregger, Franz 143 Deppe, Frank 115, 117 Diana, Princess of Wales 25 Dietrich, Marlene 26 Dilthey, Wilhelm 33, 36, 69 Döblin, Alfred 158, 165 Droemer (Verlag) 49 Dulles, John Foster 156 Dürer, Albrecht 10 Dürrenmatt, Friedrich 165 Dutschke, Rudi 24, 170, 182–184, 188 Dvořak, Johann 229 E Ebbinghaus, Julius 63, 64 Ebel, Martin 276 Ebert, Friedrich 221 Einstein, Albert 164 Eisler, Gerhard 84 Eisler, Hanns 75, 83, 84, 122, 123, 130, 131, 149, 153, 164, 165 Eisler, Hilde 96 Engelbert, Ernst 124 Engelmann, Bernd 226 Engels, Friedrich 70, 71, 81, 91, 94, 112, 213, 218 Engels, Hans Werner 225 302

Personenregister

Enzensberger, Hans Magnus 202 Eppler, Erhard 207 Erasmus von Rotterdam 10 Erhard, Ludwig 17, 19, 114, 186 Erpenbeck, Fritz 257, 258 F Faber, Elmar 270, 275 Faber & Faber (Verlag) 272, 274 Fadejew, Alexander 149 Falk, Hans 250 Fallada, Hans 257 Faust, Siegmar 272 Feininger, Lyonel 42 Felsenstein, Walter 259 Feuchtwanger, Lion 158 Feuerbach, Ludwig 51, 214, 244 Fichte, Hubert 165 Ficker, Rudolf von 122 Fischer, Ernst 149 Fischer, Fritz 221–223 Fischer, Ruth 102 Fischer, S. (Verlag) 55, 238 Fischer, Wilhelm 122 Flechtheim, Ossip K. 111 Fradkin, Ilja 266 Franz I. von Österreich 12 Franzos, Karl Emil 215 Freisler, Roland 144 Freud, Sigmund 27, 164 Friedeburg, Ludwig von 240, 241 Fried, Erich 165 Friedländer, Paul 83 Friedrich, Hugo 71 Friedrich II. von Preußen 271 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 12 Friesel, Uwe 224 Frings, Theodor 153, 156 Frisch, Max 153

Frölich, Paul 104, 155 Fromm, Erich 148 Fühmann, Franz 153 Fülberth, Georg 96, 115, 117 Fuller, Buckminster 203 Fürnberg, Louis 153 G Gadamer, Hans-Georg 63, 233 Gál, Hans 122 Garaudy, Roger 263 Garber, Jörn 227 Gasset, José Ortega y 59, 150 Gates, Bill 25 Gaus, Günter 162 George, Stefan 193 Gervinus, Georg Gottfried 69 Giraudoux, Jean 146, 148, 257 Girnus, Wilhelm 51, 52, 152, 153, 157, 259 Glaser, Hermann 229 Goebbels, Joseph 39–41, 237 Goethe, Johann Wolfgang 11, 35, 47, 119, 150, 151, 153, 158, 159, 215, 219 Goetze, Ursula 62, 63 Goldschmidt, Harry 124, 259, 267 Gollwitzer, Helmut 169–189, 202, 226–277 Gorbatschow, Michail 93, 95, 229, 269, 270 Göring, Hermann 195 Gorki, Maxim 260 Goverts, Henry 200 Grab, Alice 221 Grab, Franziska 215 Grab, Walter 213–231, 277 Gramsci, Antonio 231, 242, 247 Grandjonc, Jacques 225 Green, William 82 303

Personenregister

Grimme, Adolf 108 Gropius, Walter 37, 50 Grotewohl, Otto 48, 69, 152, 163 Grünbein, Durs 24 Grünberg, Carl 102 Guevara, Che 24, 188 Gundolf, Friedrich 80 Gutenberg, Johannes 10 Gysi, Gregor 96 H Haber, Heinz 198 Habermas, Jürgen 19, 26, 99, 117 Hacks, Peter 156, 267 Hager, Kurt 84, 88, 90, 92, 154, 155, 163, 259, 269 Hallstein, Walter 163 Hamann, Richard 31–55, 61, 64, 68, 277 Hamburger, Käthe 164 Händel, Georg Friedrich 120 Hanser (Verlag) 224, 241 Harich, Wolfgang 50, 87, 88, 154, 163, 258, 259 Harig, Gerhard 67 Harring, Harro 224, 228 Hattenberg, Hans von 63 Haug, Wolfgang Fritz 96, 134, 187, 269 Hauptmann, Elisabeth 260 Haydn, Franz Joseph 119 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 34, 233, 235–238, 246, 250 Heidegger, Martin 233, 236 Heine, Heinrich 12, 158, 159, 213, 225, 227, 228 Heinemann, Gustav 110, 111, 224, 226 Heise, Wolfgang 44, 49, 90, 92, 133, 259

Heister, Hanns-Werner 134, 135 Helmer, Olaf 204 Helmholtz, Hermann 101 Helms, Hans G. 244 Hennecke, Adolf 46, 47 Hensche, Detlev 117 Henschel (Verlag) 126, 131, 133 Hensel, Paul 79, 80 Hermlin, Stephan 67, 89, 147, 148, 153, 165, 269 Hesse, Hermann 158, 193 Hesse, Hermann Albert 172 Heubner, Thomas 96 Heuss, Theodor 47, 147 Heym, Stefan 67 Hillgruber, Andreas 228 Hindemith, Paul 166 Hitler, Adolf 14, 15, 20, 39, 48, 63, 84, 103, 151, 172, 173, 175, 177, 180, 194, 217, 219, 244 Hobsbawm, Eric 225, 270 Hochhuth, Rolf 261 Ho Chi Minh 24 Hofmann, Werner 244 Hohoff, Wilhelm 179 Holitscher, Arthur 83 Holz, Friedrich 235 Holz, Hans Heinz 114, 224, 233– 253, 277 Holz-Markun, Silvia 248 Holz, Martha 235 Hölz, Max 102 Homburger, Otto 41 Honecker, Erich 74, 89, 90, 92, 94, 163, 264 Höpke, Klaus 268 Horáková, Dana 26 Horkheimer, Max 112, 145, 146 Hörnigk, Therese 264 Horst, Carl 40, 41 304

Personenregister

Huchel, Peter 71, 153, 158 Hueber, Charles 145 Hugenberg, Alfred 84 Hülsen, Ernst von 38 Huxley, Aldous 73 I Iggers, George 225 Immer, Karl 172 J Jahnn, Hans Henny 165 Jakobsohn, Helmuth 43 Jakobsohn, Hermann 60 Janka, Walter 88 Jantzen, Hans 49 Jaspers, Karl 65, 66 Jauch, Günther 25 Jauß, Hans Robert 71 Jens, Inge 141, 164 Jens, Walter 153, 158, 202, 224 Jerussalimski, Arkadi Samsonowitsch 88 Jesus von Nazareth 25, 172, 178, 187 Johnson, Uwe 158, 165 Joyce, James 142 Jungk, Robert 191–210, 277 K Kafka, Franz 142, 164, 261 Kahn, Herman 204 Kaiser, Georg 33, 59 Kant, Hermann 96 Kaufmann, Hans 264 Kellermann, Bernhard 87, 257 Kelly, Petra 207 Kelsen, Hans 141, 146 Kemény, Alfred 83 Kennedy, John F. 25 Kiesinger, Kurt Georg 114

Kindler, Helmut 200 Kindler (Verlag) 245 Klages, Helmut 204 Klemperer, Otto 143 Klemperer, Viktor 258 Klenner, Hermann 88, 96 Klönne, Arno 117 Knaur (Verlag) 39, 42 Knepler, Elise 122 Knepler, Georg 119, 121–138, 153, 259, 267, 277 Knepler, Paul 122 Koch, Georg Friedrich 49 Koch, Hans 259 Kofler, Leo 239 Kogon, Eugen 110, 147, 202, 206 Köhler, Erich 71 Kohl, Helmut 115, 163, 270 Kommerell, Max 63 König, Joseph 235 Konsalik, Heinz Günther 174 Körner, Alfred 225 Körner, Theodor 12 Korsch, Karl 102 Kosing, Alfred 238 Koven, Ludolf 51–53 Kraus, Karl 122, 164 Krauss, Hilde 63 Krauss, Ottilie 59 Krauss, Rudolf 59 Krauss, Werner 49, 53, 57–75, 123, 141, 235, 262, 277 Krautheimer, Richard 41 Kreisky, Bruno 226 Kuczynski, Bertha 79 Kuczynski, Jürgen 77–82, 84–86, 88–96, 255, 257, 262, 263, 269, 277 Kuczynski, Marguerite 82, 83 Kuczynski, René 79 305

Personenregister

Kühnl, Reinhard 115, 225, 229 Kulenkampff, Hans-Joachim 26 Kunik, Erich 83 Kunzelmann, Dieter 245 Kurella, Alfred 51, 154, 155, 163, 259, 261

238, 239, 243, 244, 246, 252, 257–259, 262, 263, 265, 266, 269 Lunkewitz, Bernd F. 271 Luther, Martin 9, 10 Luxemburg, Rosa 188 Lychenheim (Druckerei) 219

L Lach, Robert 122 Ladendorf, Heinz 49 Lafontaine, Oskar 251 Lamprecht, Karl 34 Landauer, Gustav 188 Langhoff, Wolfgang 67, 87 Lassalle, Ferdinand 213 Laub (Verlag) 81 Leibniz, Gottfried Wilhelm 233–238, 241, 250 Lenbach, Franz von 143 Lenin, Wladimir Iljitsch 81, 91, 94, 96, 100, 171, 234, 244, 248 Lenz, Jakob Michael Reinhold 151 Lessing, Gotthold Ephraim 159, 229 Lessing, Theodor 164 Levin-Goldschmidt, Hermann 195 Libuda, Jan 26 Liebknecht, Karl 101, 112, 188 Liessmann, Konrad Paul 28 Lindemann, Anna 259 Lissitzky, Eliezer ‚El‘ 246 Loewy, Michael 223 Lombardi, Franco 240 Longyear, Rey M. 127 Losurdo, Domenico 248 Löwith, Karl 61 Luce, Henry 197, 202 Ludwig, Janine 274 Lukács, Georg 64, 128, 143, 149– 151, 183, 218, 233, 235, 236,

M Macho, Thomas 25 Malewitsch, Kasimir 246 Mann, Golo 147 Mann, Klaus 147 Mann, Thomas 13, 25, 47, 48, 147, 148, 150, 151, 153, 154, 156, 158 Mao Tse-Tung 87 Marc, Franz 42 Marcuse, Herbert 68, 183, 238, 243, 244 Markov, Walter 67, 124, 222, 230 Marquard, Hans 266 Martin, Gottfried 236 Martino, Alberto 227 Maslow, Arkadij 102 Matern, Hermann 259 Mayer, Günter 134, 135 Mayer, Hans 51, 67, 68, 71, 141–166, 224, 235, 236, 258, 271, 277 Mayer, Ida 143 Mayer, Rudolf 143 Mayer, Thomas Michael 225 Mehring, Franz 69, 101, 218 Meier-Graefe, Julius 34 Meinhof, Ulrike 170, 188 Mendelssohn, Felix 164 Mendelssohn, Moses 79, 226 Merker, Paul 84, 86 Metternich, Klemens Wenzel von 12, 196 Metzler (Verlag) 224, 225 Meusel, Alfred 84 306

Personenregister

Meuser, Mirjam 274 Meyer, Ernst Hermann 84, 120, 123, 128 Middell, Eike 264 Mies van der Rohe, Ludwig 50 Mirau, Fritz 264, 266 Miró, Joan 246 Mittenzwei, Ingrid 271 Mittenzwei, Werner 92, 96, 124, 135, 255–277 Mommsen, Theodor 193 Moneta, Jakob 117, 221 Moos, Paul 133 Morandini, Marcello 246 Moser, Hans-Joachim 125 Mosse, George L. 160, 277 Motylewa, Tamara 266 Mozart, Wolfgang Amadeus 119, 126, 133, 134 Müller, Heiner 260, 262, 267, 277 Müllert, Norbert R. 204 Münchhausen, Börries von 271 Münster, Sebastian 10 Münzenberg, Willi 83, 103 Musil, Robert 146, 158 Muther, Richard 34 Muthesius, Hermann 79 N Nadler, Josef 69 Napoleon Bonaparte 11 Naumann, Konrad 92 Naumann, Manfred 59, 264 Negt, Oskar 183 Neumann, Carl 80 Nexö, Martin Andersen 158 Niekisch, Ernst 235 Niemann, Konrad 267 Niemöller, Martin 170, 172, 173 Nolte, Ernst 228

Norden, Albert 83, 86 Nössig, Manfred 264 O Oebekhan, Hassan 204 Oelßner, Alfred 259 Oertzen, Peter von 158 Offenbach, Jacques 122 Ohnesorg, Benno 183 Opitz, Reinhard 224 Oppenheimer, J. Robert 201 Oswianowski, Hanspeter 204 P Pahl-Rugenstein (Verlag) 245, 248 Peled, Matti 227 Peled, Miari 227 Perels, Joachim 117 Peter, Jürgen 117 Peter, Lothar 117 Picasso, Pablo 149, 216 Pieck, Wilhelm 48, 69, 83, 86, 104, 106, 152, 163 Pinder, Wilhelm 40, 44 Piscator, Erwin 116, 143 Plessner, Helmuth 240, 245, 252 Plivier, Theodor 257 Poelchau, Harald 107 Prokofjew, Sergej 124 Prosser, Diether 111 Proust, Marcel 142, 146 Q Quark, Max 80 Quelle & Meyer (Verlag) 227 R Radek, Karl 83, 84 Ranke-Heinemann, Uta 207 Raphael, Max 68

307

Personenregister

Raschid Ali 217 Rathenau, Walther 164 Reagan, Ronald 189, 207 Reclam (Verlag) 128, 265, 266 Reich-Ranicki, Marcel 271 Reich, Wilhelm 195 Reimann, Günter 81 Reinhardt, Max 219 Rembrandt van Rijn, Harmensz 34, 35, 45 Remmele, Hermann 83 Rheinfelder, Hans 71 Richter, Hans Werner 153, 156, 165, 202 Rickert, Heinrich 80 Rilke, Rainer Maria 193 Rittmeister, John 61–63 Rivera, Primo de 59 Robespierre, Maximilien 213, 223, 227 Rockefeller (Bank) 156 Rommel, Erwin 217 Roosevelt, Franklin D. 147 Röpke, Wilhelm 61 Rosenberg, Johanna 264 Rosenberg, Rainer 264 Rosenthal, Hans 218 Rousseau, Jean-Jacques 148 Roux, Jacques 222 Ruiz, Alain 226 Rychner, Max 146, 153 S Sánchez-Albornos, Claudio 59 Sarraute, Nathalie 160 Sartre, Jean-Paul 150, 158, 236, 242– 244, 257 Schacht, Sven 194 Schalk, Fritz 64, 71 Schamir, Yitzhak 229

Schebera, Jürgen 264 Scheel, Heinrich 222, 223 Scheffler, Karl 34 Scherz & Goverts (Verlag) 201 Schiffer, Eugen 106 Schiller, Dieter 264 Schiller, Friedrich 11, 108, 143, 215, 219 Schlenstedt, Dieter 264, 277 Schlenstedt, Silvia 264, 266 Schmidt, Helmut 55, 163 Schmidtke, E. 79 Schneider, Eulogius 224 Schneider, Romy 26 Schoeps, Julius H. 226 Scholem, Gershom (Gerhard) 164, 240 Scholz, Gerhard 153 Schönberg, Arnold 120, 121, 152, 164–166 Schönfeldt, Otto 225 Schostakowitsch, Dimitrij 124 Schrade, Hubert 49 Schrader, Bärbel 264 Schubert, Franz 119, 131 Schulze-Boysen, Harro 62, 63, 194, 195 Schulz, Wilhelm 225, 228 Schumacher, Kurt 25, 147 Schwab, Günther 207 Schwarzer, Alice 160 Schweitzer, Albert 200 Sedlmayr, Hans 49 Seghers, Anna 83, 87, 89, 149, 153, 164, 257 Semjonow, Wladimir Semjenowitsch 87 Serna, Ramón Gómez de la 59 Seyß-Inquart, Arthur 216 Sharon, Ariel 227 308

Personenregister

Shdanow, Andrej 128, 267 Simmel, Georg 33, 34 Singer, Paul 112 Sinzheimer, Hugo 104 Slevogt, Esther 275 Smend, Rudolf 144 Soboul, Albert 223, 230 Spitzer, Leo 64 Staiger, Emil 238 Stalin, Josif Wissarionowitsch 153, 229, 242 Stamm, Sybille 117 Steigerwald, Robert 249 Steiner, Gerhard 222, 225 Stein, Werner 240 Sternberger, Dolf 65 Steuermann, Eduard 122 Stirner, Max 243, 244 Strauss, Gerhard 51 Strauss, Richard 119 Strittmatter, Erwin 89 Strohschneider, Tom 251 Stroux, Johannes 44 Stuckenschmidt, H. H. 124, 125 Stürmer, Michael 228 Suhrkamp (Verlag) 159, 162, 245, 269 Suschitzky, Ruth 198 Szilard, Leo 201 Szondi, Peter 240 T Tacitus, Publius Cornelius 12 Taut, Bruno 37 Teresa, Mutter 25 Teubner (Verlag) 36 Thalheimer, August 102, 103, 144, 145 Thalheim, Hans-Günther 154 Theunissen, Michael 240

Thorne, Florence C. 81 Thyssen, Fritz 130 Tillich, Paul 183 Tito, Josip Broz 242 Toller, Ernst 83 Torberg, Friedrich 204 Törne, Volker von 226 Torres, Camillo 188 Trenck, Friedrich von der 224 Tretjakow, Sergej 83 Trittenheim, Johannes 9 Truman, Harry S. 198 Tschesno, Michael 147, 148 Tucholsky, Kurt 194 Tulpanow, Sergej Iwanowitsch 86 Turel, Adrien 194 U Uhse, Bodo 153 Ulbricht, Walter 48, 73, 84, 86, 89–90, 104, 153–155, 259, 260, 263, 264 Unger, Rudolf 69 Urban, Hans Jürgen 117 V Valéry, Paul 257 Varga, Eugen 81, 84, 87 Verlaine, Paul 146 Voegt, Hedwig 222 Vossler, Karl 59, 60, 63, 71 W Waetzoldt, Wilhelm 33 Wagenknecht, Sahra 249, 251 Wagner, Richard 126, 131, 153, 156, 158, 159, 163 Walser, Martin 261 Warhol, Andy 246 Weber, Alfred 65 309

Personenregister

Weber, Carl Maria von 131 Weber, Max 148 Webern, Anton von 166 Weerth, Georg 159 Weigel, Helene 122, 123, 260, 261 Weimann, Robert 264 Weininger, Otto 164 Weiss, Peter 116, 165, 195 Wekwerth, Manfred 92, 135, 262, 266, 269 Wellek, René 130 Wellesz, Egon 122 Werner, Ruth 96 Wessel, Horst 151 Wicke, Peter 135 Wiese, Benno von 158, 225

Wilder, Thornton 148 Wilhelm II. von Deutschland 54 Windelband, Wilhelm 79 Wiora, Walter 130 Wissebach, Hans 227 Wölfflin, Heinrich 33, 36 Wolf, Friedrich 257, 265 Worringer, Wilhelm 49 Y Yourgrau, Wolfgang 219 Z Zehm, Günther 240, 241 Zinn, Georg August 106, 110 Zweig, Arnold 75, 219

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JOST HERMAND

FREUNDE, PROMIS, KONTRAHENTEN POLITBIOGRAPHISCHE MOMENTAUFNAHMEN

Als jahrzehntelanger Grenzgänger zwischen Ost und West hat sich Jost Hermand weder der amerikanischen noch der sowjetischen Ideologie des Kalten Kriegs verpflichtet gefühlt. Er wurde aus der DDR ausgewiesen und fand in der BRD nirgends eine Anstellung. So lebt er seit 1958 als Kulturhistoriker in den USA, ohne dabei die Kontakte zu den beiden deutschen Staaten und dann zur Berliner Republik je aufgegeben zu haben. In diesem Buch versammelt er auf der Grundlage seiner Notizen, Briefe und Tagebücher eine Erinnerungsfolge politbiographischer Gespräche, Eindrücke und Begegnungen von den letzten Jahren des Dritten Reichs bis zur unmittelbaren Gegenwart. Es geht dabei unter anderem um Begegnungen und Gespräche mit: Adolf Hitler, Heiner Müller, Christa Wolf, George Mosse, Jürgen Habermas, Johannes Rau, Hermann Glaser, Richard Hamann, Ludwig Justi, Walter Ulbricht, Jacques Derrida, Susan Sontag, Bill Bradley, Werner Mittenzwei, Wolfgang Schäuble, Benno von Wiese, Kurt Biedenkopf, Theodor W. Adorno, Wolf Biermann, Petra Kelly, Siegfried Unseld, Gottfried Benn u.v.a. 2013. 256 S. GB. 135 X 210 MM ISBN 978-3-412-22158-4 [PRINT] | ISBN 978-3-412-21638-2 [E-BOOK]

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JOST HERMAND

VERLORENE ILLUSIONEN EINE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS

Der Begriff „Nationalismus“ hat im deutschsprachigen Bereich Zentraleuropas seit dem Humanismus des frühen 16. Jahrhunderts bis zur heutigen Berliner Republik höchst dramatische Wandlungen erlebt. Aufgrund der ständig wechselnden realpolitischen Voraussetzungen wurde dabei von den jeweils Herrschenden im Hinblick auf die Bevölkerung dieses Territoriums nicht nur von einer Reichsnation gesprochen, sondern auch Begriffe wie Kulturnation, Kriegsnation, Wirtschaftsnation sowie Staatsbürgernation verwendet. Wie viele Illusionen damit verbunden waren, stellt Jost Hermand in diesem Buch dar. 2012. 390 S. 40 S/W- U. 26 FARB. ABB. GB. MIT SU | ISBN 978-3-412-20854-7

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Jost Hermand

Kultur in finsteren Zeiten naZifascHismus, innere emigr ation, exil

In fast allen politischen Debatten der Zeit zwischen 1933 und 1945 hat der Begriff Kultur eine zentrale Rolle gespielt. Während es dabei in der Inneren Emigration und im Exil fast ausschließlich um hochkulturelle Vorstellungen ging, sind die Nationalsozialisten auf diesem Sektor stets von strategischen Gesichtspunkten ausgegangen. Sie boten jeder Bevölkerungsschicht – trotz aller vorgeblichen Volksgemeinschaftskonzepte – das ihnen Gemäße: der Bildungsbourgeoisie die Werke der klassischen Tradition und den sogenannten breiten Massen eine sie von den mörderischen Fernzielen der NSDAP ablenkende Unterhaltungskultur, deren wichtigstes Ziel es war, sie bei guter Laune zu halten. Jost Hermand zeigt in seinem neuen Buch, daß dieses Kalkül maßgeblich zu jener Erfolgsgeschichte des Nazifaschismus beigetragen hat, die für die Nachgeborenen bis heute ein bestürzendes Phänomen ist. Ihre Gegner in der Inneren Emigration und im Exil – ohne Zugang zu den auf Breitenwirkung zielenden Massenmedien und daher im Bereich der randständigen höheren Künste bleibend – blieben dagegen relativ wirkungslos und konnten erst im Zuge der sogenannten Vergangenheitsbewältigung nach dem Dritten Reich die nötige Anerkennung finden und damit eine Wirkung entfalten. 2010. 337 S. Mit 53 S/w-Abb. Gb. Mit SU. iSbN 978-3-412-20604-8

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Jost Hermand

der KunstHistoriKer ricHard Hamann eine politiscHe Biogr apHie (1879–1961)

Richard Hamann (1879–1961) war einer der bedeutendsten deutschen Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Er begründete das Marburger Bildarchiv und war zeitweiliger Vorsitzender des Kunsthistorikerverbandes. In den langen Jahren seiner Lehrtätigkeit von 1911 bis 1957 und in seinen zahlreichen Publikationen trat er stets energisch für die Durchsetzung einer leistungsbetonten Sachkultur ein und verwarf jedes gesellschaftliche Rangbewußtsein im Sinne personenkultischer Vorstellungen. Da er dieses Konzept selbst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in West- und Ostdeutschland vertrat, geriet er zusehends zwischen die Fronten des Kalten Kriegs und wurde dementsprechend an den Rand gedrängt. Jost Hermand versucht, dieser langanhaltenden Verfemung entgegenzutreten und das Vorbildliche der ideologischen »Haltung« Hamanns herauszustellen. Vor dem Hintergrund der zeitpolitischen Ereignisse entwirft er eine Biographie Richard Hamanns, der selber alles Ichbe tonte abgelehnt hätte. Deshalb wird der Hauptakzent vor allem auf Hamanns vielfältige Bemühungen gelegt, unter dem Motto »Theoria cum praxi« einer progressionsbetonten Kunst- und Kulturpolitik für Jedermann den Weg zu bereiten. 2009. 228 S. 40 S/w-Abb. Gb. mit SU. 135 x 210 mm. iSbN 978-3-412-20398-6

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