Das Ottonische Kaisertum in der französischen Geschichtsschreibung des 10. und beginnenden 11. Jahrhunderts 9783205111115, 9783205085041

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German Pages [213] Year 1956

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Das Ottonische Kaisertum in der französischen Geschichtsschreibung des 10. und beginnenden 11. Jahrhunderts
 9783205111115, 9783205085041

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BEZZOLA / DAS O T T O N I S C H E K A I S E R T U M

V E R Ö F F E N T L I C H U N G E N DES I N S T I T U T S F Ü R ÖSTERREICHISCHE GESCHICHTSFORSCHUNG Herausgegeben von LEO

S A N T I F A L L E R

Band XVIII

GIAN ANDRI BEZZOLA

Das Ottonische Kaisertum in der französischen Geschichtsschreibung des ίο. und beginnenden 11. Jahrhunderts

19 5 6 H E R M A N N B Ö H L A U S NACHF. / G R A Z - K Ö L N

Alle Rechte vorbehalten

Copyright 1956 by H e r m a n n Böhlaus Nachf., Graz. D r u c k : O ö . Landesverlag, Linz

INHALTSVERZEICHNIS Seite

Vorwort Sigelverzeichnis

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Einleitung

9

Flodoard

20

Heinrich I., „prineeps transrhenensis" (23) — Otto I. und Bruno von Köln: Die Familie der Ottonen (30) — Das Kaiserreich von 962 (46)

Adso von Montier-en-Der

55

„Rex Francorum", König der Westfranken? (56) — Otto I., Erbe der Karolinger? (62)

Gerbert von Aurillac

65

„Heimatlosigkeit" und „Heimat" in der christlichen Gemeinschaft (66) — Die ersten Begegnungen: Otto I. und Adalbero von Reims (70) — Die Begegnung mit Otto II.: Das Erwachen der Kaiseridee (73) — Die Minderjährigkeit Ottos I I I . : „Imperatrix augusta" und „mater regnorum" (76) — Der Umschwung von 987; das Konzil von St. Bäle: „concordia prineipum et ecclesiarum" (86) — Die Begegnung mit Otto I I I . : „nostrum, nostrum estRomanum imperium" (93)

Richer von St. Remi

105

Ein französischer Nationalist? (109) — Ein Anhänger der Karolinger? (114) — Weihe, Dynastie und Wahl (117) — Das sächsische Herrscherhaus und die Legitimierung der neuen Königsgeschlechter (123) — Die ottonische Königsfamilie (127) — Geschichte, Sage und Dichtung: vier Szenen aus der Geschichte Richers (130) — 1. „Gislebertus" und „Heinricus" (130) — 2. Die Sitzordnung in Attigny (133) — 3. J u ristische Gleichheit der Karolinger und Ottonen in Ingelheim (136) — 4. Arnulf von Orleans und das Schwert Ottos II. (141)

Abbo von Fleury

146

Der Dänenkönig Ingwar „rex invictissimus" und „imperator maximus" (148) — Aufgabe und Stellung des Königtums (150) — Ein universelles

5

Papsttum (155) — König, Papst und Kaiser (156) — Das „carmen acrostichum ad Ottonem imperatorem": fränkische und römische Reichstradition (160)

Adalbero von Laon

164

Sind „imperator" und „rex" Synonyme? (167) — Die Ordnung im Himmel und auf Erden (169) — Die Theorie Adalberos und die Realität des 10. Jahrhunderts (171)

Dudo von St. Quentin

177

Eine normannische „translatio imperii"? (178) — Dux Northmannorum — Rex Franciae (181) — Die Könige von Sachsen am Rande des Geschehens (187) Zusammenfassung

191

Schrifttum

200

6

VORWORT Die Frage nach der Haltung der ersten Kapetinger gegenüber dem mittelalterlichen Reichsgedanken bildete den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Sie sollte die bekannteren Vorstellungen des mittelalterlichen Kaiserreiches, die auf deutschem und italienischem Boden entstanden sind, ergänzen und untersuchen, ob die karolingische Tradition in Frankreich schon vor dem 12. und 13. Jahrhundert eine politische Auswertung erfahren hat. Mein herzlichster Dank gilt vor allem meinem verehrten Lehrer, Prof. Dr. Marcel Beck, der mir die ersten Anregungen gab und mit menschlicher Teilnahme das Entstehen der Arbeit verfolgte. Immer wieder konnte ich bei ihm Rat und Förderung finden. Während meines Studienaufenthaltes in Paris führten mich wertvolle Hinweise der Herren Professoren Edmond Faral, Charles-Edmond Perrin und Robert Fawtier zur endgültigen thematischen Umgrenzung der Studie, und es ist mir ein Bedürfnis, auch ihnen an dieser Stelle aufrichtig zu danken. Herrn Prof. Dr. Leo Santifaller, Wien fühle ich mich für das freundliche Entgegenkommen verpflichtet, meine Arbeit in der Reihe der Veröffentlichungen des Institutes für österreichische Geschichtsforschung aufgenommen zu haben. Zürich, im Herbst 1956 Gian Andri Bezzola

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SIGELVERZEICHNIS AUF AUG

Archiv für Urkundenforschung, Berlin. Annales de l'Universiti de Grenoble (nouvelle sirie) sect, lettres-droit, Grenoble. BEG Bibliotheque de l'Ecole des Chartcs, Paris. BEH Biblioth£que de l'Ecole des Hautes Etudes, Paris. DA Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters, ( I — V I I ) , Weimar 1937—1944. Seit 1950 Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, ( V I I I ff.), Marburg/Lahn und Köln—Graz. DZG Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Neue Folge, Vierteljahrhefte, Freiburg i. B.—Leipzig. EHR The English Historical Review, London. FDG Forschungen zur deutschen Geschichte, Göttingen. HJb Historisches Jahrbuch, München. HZ Historische Zeitschrift, München—Berlin. MGH Monumcnta Germaniae Historica. SS. Scriptores. DD. Diplomata regum et imperatorum Germaniae. Const. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. MIÖG Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichts(MÖIG) forschung (bzw. Mitt. des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung). Innsbruck und Graz—Köln. RB Revue b£n£dictine, Maredsous. RH Revue historique, Paris. RHE Revue d'histoire eccl&iastique, Louvain. RHF Recueil des historiens des Gaules et de la France. RHVB Rheinische Vierteljahrsblätter, Bonn. RN Revue du Nord, revue historique trimestrielle, Lille—Arras. RPP Revue politique et parlamentaire, Paris. RQH Revue des questions historiques, Paris. SBAW Sitzungsberichte der bayrischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Abt., München. SHAW Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Berlin. SPrAW Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Berlin. WG Die Welt als Geschichte, Stuttgart. ZAachGV Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Aachen. Z R G germ. Abt. Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Weimar. ANMERKUNGEN Die bibliographischen Verweise auf Quellen und Darstellungen sind in abgekürzter Form vermerkt. Für vollständige bibliographische Angaben siehe Schrifttum S. 200 ff. 8

SIGELVERZEICHNIS AUF AUG

Archiv für Urkundenforschung, Berlin. Annales de l'Universiti de Grenoble (nouvelle sirie) sect, lettres-droit, Grenoble. BEG Bibliotheque de l'Ecole des Chartcs, Paris. BEH Biblioth£que de l'Ecole des Hautes Etudes, Paris. DA Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters, ( I — V I I ) , Weimar 1937—1944. Seit 1950 Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, ( V I I I ff.), Marburg/Lahn und Köln—Graz. DZG Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Neue Folge, Vierteljahrhefte, Freiburg i. B.—Leipzig. EHR The English Historical Review, London. FDG Forschungen zur deutschen Geschichte, Göttingen. HJb Historisches Jahrbuch, München. HZ Historische Zeitschrift, München—Berlin. MGH Monumcnta Germaniae Historica. SS. Scriptores. DD. Diplomata regum et imperatorum Germaniae. Const. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. MIÖG Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichts(MÖIG) forschung (bzw. Mitt. des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung). Innsbruck und Graz—Köln. RB Revue b£n£dictine, Maredsous. RH Revue historique, Paris. RHE Revue d'histoire eccl&iastique, Louvain. RHF Recueil des historiens des Gaules et de la France. RHVB Rheinische Vierteljahrsblätter, Bonn. RN Revue du Nord, revue historique trimestrielle, Lille—Arras. RPP Revue politique et parlamentaire, Paris. RQH Revue des questions historiques, Paris. SBAW Sitzungsberichte der bayrischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Abt., München. SHAW Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Berlin. SPrAW Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Berlin. WG Die Welt als Geschichte, Stuttgart. ZAachGV Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Aachen. Z R G germ. Abt. Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Weimar. ANMERKUNGEN Die bibliographischen Verweise auf Quellen und Darstellungen sind in abgekürzter Form vermerkt. Für vollständige bibliographische Angaben siehe Schrifttum S. 200 ff. 8

EINLEITUNG 936 wurde Otto I. in Aachen, der alten Hauptstadt Karls des Großen, feierlich zum König gekrönt, 951 zog er zum ersten Mal über die Alpen nach Italien und ließ sich in Pavia die eiserne Krone aufsetzen. Zehn Jahre später folgte er dem Hilferuf des Papstes Johann XII., überschritt zum zweiten Mal die Alpen und wurde 962 in Rom zum Kaiser erhoben. Beinahe alle seine Nachfolger haben diesen Zug über die Alpen wiederholt, haben nach der verheißungsvollen römischen Kaiserkrone zu greifen versucht. Durch Otto I. wurde die Verbindung des deutschen Königtums mit dem christlich-römischen Kaisertum begründet. 967, noch zu seinen Lebzeiten, wurde sein Sohn Otto II. ebenfalls zum Kaiser gekrönt und die Kaiserkrone dem sächsischen Hause gesichert. Die einzige Macht, die zu jener Zeit dem deutschen Königtum noch ebenbürtig gegenübertreten konnte, die dazu über eine bedeutend ältere und kräftigere römische Tradition, ein starkes und gut geschultes Heer verfügte und nur ungern den meteor haften Aufstieg der noch jungen Macht Ottos I. verfolgte, Byzanz, kam nun fast notgedrungen mit Otto in Konflikt. Dieser suchte die Anerkennung seines Kaisertums von Byzanz zu erlangen und erreichte sie auch schließlich durch die Heirat Ottos II. mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu in Rom (972). Es war dann Otto III., der jugendliche und hochstrebende Sproß dieser neuen kräftigen Königsfamilie, zugleich Sohn einer byzantinischen Prinzessin, der sich berufen fühlte, das Kaisertum seinem höchsten, universellen Ziele entgegenzuführen. Ein gewaltiger Aufstieg! Ein entscheidender Wendepunkt der realen Machtverhältnisse Europas, der Geistesgeschichte des 10. Jahrhunderts wie des Mittelalters überhaupt! Wesen und Wirkung des ottonischen Kaisergedankens wurden schon in unzähligen Untersuchungen behandelt, die immer wieder von neuem die Akten und die oft sehr persönlichen Quellen aus Deutschland und Italien prüften: Wie verschieden fiel doch das Urteil Widukinds, des sächsischen Mönches und Patrioten, aus 9

neben den Vorstellungen der Gandersheimer Nonne Hroswith, die schon ganz unter der Macht der Erinnerung an das römische Reich stand; ein lebhafter und begeisterter Anhänger Ottos I. wie Liutprand von Cremona, Leiter einer kaiserlichen Gesandtschaft nach Byzanz, stand in einem merkwürdigen Gegensatz zum asketischen Brun von Querfurt, der sich betont gegen die kaiserliche Politik Ottos III. gewandt hatte und von den Zügen nach Italien nur wenig wissen wollte. Wenn sich die bisherige Forschung vor allem mit diesen deutschen und italienischen Quellen beschäftigt hat, so tat sie dies in dem richtigen und verständlichen Bestreben, eine geistige Bewegung dort zu erfassen, wo sie entstanden ist, dort, wo sie in ihrer intensivsten Form aufgetreten ist. Die vorliegende Arbeit möchte versuchen, die Ergebnisse der heutigen Forschung zu ergänzen, indem sie die westfränkischen und französischen Quellen der Zeit heranzieht. Mit welchen Augen verfolgten die Zeitgenossen, die nicht im direkten Herrschaftsbereich der Ottonen lebten, die Ausbreitung der deutschen Macht, die Erneuerung des Kaisertums von 962 ? Und in welches Licht stellten sich dabei die Ottonen selbst durch ihre neue dynamische Politik? so möchten wir fragen. Auf den ersten Blick zeigen sich j a die verschiedensten Möglichkeiten. Der Einfluß der deutschen Könige kann schon vor der Kaiserkrönung ein so bedeutender gewesen sein, daß mit 962 gar nichts Neues hinzugetreten ist und von den Westfranken der Akt der Krönung als eine bloße Formalität, eine Bestätigung der tatsächlichen, übermächtigen Stellung des deutschen Königs angesehen wurde. Oder brachte das Jahr 962 eine entscheidende Änderung, die allgemeine Anerkennung des deutschen Königs und Kaisers als des höchsten weltlichen Hauptes der Christenheit? Vielleicht hat auch der Dynastiewechsel von 987 im Westfrankenreich eine Umstellung der Meinung mit sich gebracht. Diese Fragestellung beschränkt unsere Arbeit auf den Raum des Westfrankenreiches. Wir sind aber weit davon entfernt, damit eine einheitliche „französische" Kaiservorstellung zu suchen, wo doch das Frankreich des 10. Jahrhunderts von allen Seiten durch die Einfälle der Normannen, Sarazenen und Ungarn bedroht war, wo die feudale Zersplitterung ihren Höhepunkt erreichte und das Königtum nicht im Stande war, sich an die Spitze des Landes zu stellen. Die Rivalität zwischen dem welt10

liehen Klerus und der mächtig erstarkenden Bewegung der Cluniazenser mußte eine einheitliche Meinungsbildung in Frankreich nur noch erschweren. Die zeitliche Beschränkung auf das 10. und beginnende 11. Jahrhundert schien uns dabei die geeignetste zu sein, so spannend auch ein weiterer Ausblick auf die reichere Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts an und für sich gewesen wäre. Die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts ist die Periode der Neuschöpfung und Konsolidierung des deutschen Kaisertums. Diese Zeitspanne umfaßt gerade den entscheidenden Umbruch, die Periode, in der die Handlungen und vor allem die Kaiserkrönung Ottos I. noch unmittelbar gewirkt haben konnten, die Periode aber auch, in der schon die ersten Abweichungen von den durch den Gründer gegebenen Linien festzustellen sind, die dann auf neue Tendenzen der Zukunft hinweisen. Dabei erhebt sich sofort die grundlegende Frage: Bestand in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts eine selbständige, von der Persönlichkeit des Kaisers unberührte Kaiseridee, die durch das Hinscheiden des Herrschers unverändert blieb? Man kann sich vorstellen, daß sie eine ähnliche Form angenommen hätte — auch in den Augen der Bewohner Frankreichs —, wie sie in der Antwort Konrads II. an die Gesandten der Stadt Pavia 1025 zum Ausdruck zu kommen scheint. Als diese nämlich nach der Zerstörung der Kaiserpfalz Konrad beteuerten, sie seien wohl durch einen Eid ihrem König verpflichtet gewesen, aber der Eid sei durch dessen Tod hinfällig geworden, antwortete Konrad nach der Erzählung Wipos mit dem Satz: „Si rex periit, regnum remansit, sicut navis remanet cuius gubernator cadit" 1 ). Es besteht aber auch die Möglichkeit — und sie ist gerade im Mittelalter nicht zu verwerfen —·, daß die Kaiseridee so stark durch die Persönlichkeit des Herrschers geprägt ist, daß sie mit jedem Herrscher eine neue, für den betreffenden Kaiser charakteristische Form annimmt 4 ). Diese Möglichkeit wird uns veranlassen, in unserer Arbeit nicht nur die Haltung der Westfranken zur Kaiseridee an sich, sondern auch ihre Einstellung zu Otto I., Otto II. und Otto I I I . zu untersuchen. *) Wipo: Vita Chuonradis imperatoris, c. VII (Die Werke Wipos, MGH, SS. ad usum scholarum, ed. Brcsslau, p. 30, Hannover 1915), cf. Schlierer, pp. 8—12. *) Helfenstein, p. 77.

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Eine Untersuchung der westfränkischen Quellen sollte aber vor allem auch über die Universalität des ottonischen Kaisertums einen maßgebenden Aufschluß liefern können. Erst die Vorstellungen der außerhalb des Reiches lebenden Zeitgenossen geben uns einen Maßstab für die Bedeutung einer weltlichen Macht, die neben der kirchlichen ihr Zentrum in Rom hatte, der Macht, die einen Anspruch auf Anerkennung auf dem ganzen Erdkreis erheben durfte. War Otto wirklich für einen Westfranken „Herr Europas und der Welt" 3 )? Widersetzte sich dieser nicht der Tendenz eines Oberkönigtums Ottos I. 4 ) oder verfügte der deutsche Kaiser tatsächlich über eine größere „Auctoritas", eine höhere Ehrenstellung als die französischen und angelsächsischen Könige, so wie es den Untersuchungen Gerd Teilenbachs und Robert Holtzmanns zu entnehmen ist? 5 ) Darnach hätte der Kaiser keinen eigentlichen Herrschaftsanspruch außerhalb seines Landes erhoben, er hätte aber durch seine „Auctoritas" eine Führerrolle als „primus inter pares" übernommen. Schließlich besteht auch die Möglichkeit, daß dem Kaisertum zur Zeit der Ottonen gar kein universaler Charakter zuzuschreiben ist —· wenigstens nicht in den Augen der Westfranken —, daß es einzig auf dem Machtbereich Deutschlands und Italiens beruhte und sich seine Aufgabe im Schutze des Bischofs von Rom erfüllte 6 ). Schon Rüsen 7 ) hat ja darauf hingewiesen, daß Otto I. nie seine Eigenschaften als Kaiser politisch zu verwerten gesucht hat, daß er sich in seiner Politik in Unteritalien auf die italienische Königskrone, nicht auf das Kaisertum berufen hat. In gleicher Weise vermißte Schlierer8) im 10. Jahrhundert den Gedanken einer universalen Kaiseridee und damit den Anspruch auf die Weltherrschaft. Die Möglichkeit eines Weiterlebens der imperialen Idee im karolingischen Königshaus in Frankreich bis 987 darf auch nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden 9 ). ) Härtung, p. 12. ) Holtzmann, Sächsischc Kaiserzeit, pp. 128 s. 5 ) Holtzmann, Weltherrschaftsgedanke; Teilenbach, Entstehung des Deutschen Reiches, pp. 215 s. *) Kampers, Deutsche Kaiseridee, pp. 47 s. ') Rüsen, p. 22; Folz, Le souvenir et la legende de Charlemagne, p. 60. 8 ) Schlierer, pp. 2 - 1 2 , pp. 4 9 - 5 3 . ') cf. Folz, L'idie d'empire, p. 55. 3

4

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Aber auch außerhalb der unmittelbaren Vorstellungswelt des ottonischen Kaisertums konnten Kräfte bestehen, die bei den westfränkischen Autoren die Anerkennung der Kaiseridee fördern oder ihr entgegenwirken konnten. Das 10. Jahrhundert wurde öfters als die Epoche des erwachenden Nationalgefühls bezeichnet. Wenn man heute davon abgekommen ist, Quellen des 10. Jahrhunderts nach rein nationalen Gesichtspunkten zu interpretieren, wie es noch bei manchen Forschern des 19. Jahrhunderts 10 ) der Fall gewesen war, so hat man deswegen noch nicht aufgehört, die Frage nach dem Werden der Nationalitäten in ihren sprachlich-völkisch-kulturellen Zusammenhang zu stellen. Tatsächlich führen auch gründliche moderne Untersuchungen 11 ) zum Schluß, daß im 10. Jahrhundert zum mindesten ein erster Ansatz zu einem nationalem Empfinden vorhanden sein mußte. — Gewisse Vorbehalte gegenüber dieser Auffassung mögen auch hier vielleicht durchaus am Platz sein. — Wenn nun tatsächlich nationale Regungen in Frankreich schon im 10. Jahrhundert vorhanden waren — was noch zu überprüfen ist —, dann ist es leicht möglich, daß diese Tendenzen sich der universalen Idee des Kaisertums entgegenstellten. Falls aber einem werdenden Nationalgefühl schon im 10. Jahrhundert eine Bedeutung zukommen sollte, so war dies doch nicht so entscheidend, daß die Anhänglichkeit und Verbundenheit des einzelnen Menschen—bzw. Autoren—zu den großen Fürstenhäusern an Wichtigkeit eingebüßt hätte. Diese Bindungen, mochten sie rein menschlich-persönlicher Natur sein, oder mochten sie ein mehr rechtliches Gepräge haben, konnten sich selbstverständlich für oder gegen die Kaiseridee auswirken, je nachdem es sich um die Meinung eines Anhängers der Karolinger, der Kapetinger oder gar der Ottonen handelte. Wenn sich in Deutschland unter dem Einfluß der ottonischen Renaissance gegen Ende des 10. Jahrhunderts eine immer reichere literarische Tätigkeit entwickelt hat, so sind uns aus Frankreich nur wenige Quellen überliefert. Einzig vereinzelte ) Pertz, Einleitung zu Richer, p. 564; Merkert, pp. 34—38; Matthaei, pp. 7 ss., p. 25; Wattenbach, t. 1, p. 415; Wittich, pp. 107 s.; Ficker, pp. 31 s., p. 63 (schon viel vorsichtiger und abgestufter im Urteil). u ) Kirn, pp. 31 ss., p. 42; Pfeil, p. 188.

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Stiftsschulen und Klöster bewahrten noch Reste der karolingischen Bildungstradition vor dem allgemeinen Verfall und erlaubten es, daß sich in Frankreich im letzten Viertel des Jahrhunderts trotz der politischen Wirren ein neuer kultureller Aufschwung bemerkbar machte12). Die drei wichtigsten Quellen, die uns überliefert sind, die Werke Flodoards, Richers und Gerberts, stammen aus Reims, dem erzbischöflichen Zentrum, das dank der Persönlichkeiten Hincmars und seiner tüchtigen Nachfolger die schriftstellerische Tradition am sichersten bewahrt hatte. Andere Schriften wurden in den Reformklöstern von eifrigen Mönchen verfaßt: Adso von Montieren-Der, ein Anhänger der lothringischen Reformbewegung, Abbo von Fleury, der Vorkämpfer des Cluniazenser-Ordens, der neben seiner literarischen Tätigkeit vor allem auch einen bedeutenden politischen Einfluß ausgeübt hatte. Schließlich kennt man die um die Jahrhundertwende entstandenen Werke kleinerer kirchlicher Zentren: die Schriften Adalberos von Laon und Dudos von St. Quentin. Daß auch sie kulturell von Reims aus beeinflußt waren, ist wohl vor allem auf den Ruhm und den Einfluß Gerbert von Aurillacs, des größten Gelehrten seiner Zeit, zurückzuführen. Diese Autoren sind alle Kleriker; sie beurteilen die Zeit als Männer der Kirche. Die Meinung des Adels, der Kaufleute, der Handwerker und Bauern kennen wir nicht; sie konnten meistens noch nicht schreiben. — Ist der Stand der Autoren überall der gleiche, so ist die Form der erhaltenen Werke eine recht verschiedene: Annalen und Geschichtswerke wie bei Flodoard, Richer und Dudo von St. Quentin, Heiligenlegenden bei Flodoard, Adso und Abbo, Streit- und Rechtfertigungsschriften bei Abbo und Adalbero von Laon, ferner sogar wissenschaftliche Abhandlungen bei Gerbert, Abbo und Adalbero und schließlich noch Briefe Abbos und Gerberts. Gewisse Schriften sind philosophischen Inhalts. Bei ihnen ist es oft unmöglich, das lebendige Denken und Fühlen der Zeit zu spüren. Andere Zeugnisse wiederum — wir denken vor allem an die Briefe — sind voller Realität und Wirklichkeitsnähe und erlauben einen tieferen Einblick in das Wesen der Menschen des 10. Jahrhunderts. Sie sind dadurch aber auch viel stärker den Tendenzen und individuellen Interessen ") Gilson, pp.

180-232.

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unterworfen und wir müssen dies bei ihrer Wertung mitberücksichtigen. Frankreich stand im 10. Jahrhundert in einer Periode der politischen und geistigen Umwälzungen. Die gleiche Erscheinung wirkte sich auch auf die Sprache aus. Obwohl alle Quellen in lateinischer Sprache geschrieben wurden, so machte sich doch der Einfluß der immer stärker werdenden Vulgärsprache bemerkbar und die Begriffe wurden ungenau und verschwommen. „Regnum" und „Imperium"? Sind das Synonyme 1 3 )? Inwiefern spielen hier auch antike Vorstellungen mit 14 ) ? Oder bedeutet „Imperium" eher Amtsgewalt, „regnum" dagegen die staadiche Institution 15 )? „Regnum" ist das westfränkische Reich (Burgund Inbegriffen) le ). Lothringen ist ein „regnum" 1 7 ); Aquitanien, Burgund oder Franzien können es sein 18 ). Oft ist „regnum" auch von jeder Vorstellung eines Königreiches getrennt und bedeutet einfach „Herrschaftsgebiet" 19 ). „Imperium" 2 0 ) ist ein nicht weniger schillernder Begriff: es kann die Bedeutung des Befehls, der Macht besitzen 21 ). Andernorts werden wir wieder veranlaßt, es als Synonym zu „regnum" zu verstehen 22 ), oder dann bezeichnet es in konkreter Weise das deutsche Kaiserreich 23 ). Wenn Flodoard vom antik-römischen Reich spricht, braucht er ebenfalls den Ausdruck „imperium" 2 4 ) und dies ist neben der Bedeutung „Befehl" die klassischste und begreiflichste Verwendung. Während „rex" immer eine ganz klare Bedeutung, die des rechtmäßigen, legitimen Königs hat, wird das Wort „imperator" ebenso wie „regnum" und „imperium" in recht verschiedener ) Below, Der deutsche Staat, p. 131; Eichmann 1.1, p. 112; Kienast, p. 118 η. 1 (Kienast führt noch eine Reihe anderer Arbeiten auf). 14 ) Kienast, pp. 117 ss. (weitere Literaturangaben). l s ) Beumann, Widukind von Korvei, pp. 248 s. 1β ) Flodoard, Annales 948, p. 110; cf. auch Ducange, t. 7, pp. 96 s. " ) Dudo III, Migne 141, c. 715. 18 ) Dudo III, Migne 141, c.;. 729 ss.; Dudo III, Migne 141, c. 673. l ·) Dudo III, Migne 141, c. 668. Im gleichen Abschnitt finden wir zugleich einen Beleg für die Bedeutung „Befehl" bei „imperium". s o ) Ducange t. 4, pp. 306 s. 21 ) Richer II, 72; Richer III, 99; cf. n. 19. 22 ) Helgald von Fleury, Vita Roberti regis, Migne 141, cc. 935 s. 23 ) Adalbero von Laon, Carmen ad Rotbertum regem 399, p. 165. » ) Flodoard, Triumph. Ital. VIII, 1, Migne 135, c. 731. a

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Weise verwendet 26 ). War in den Augen der Zeitgenossen „imperator" eine höhere Würde als „rex" oder wurden auch diese beiden Ausdrücke als Synonyme wie „regnum" und „imperium" empfunden 26 ) ? In der Darstellung Widukinds von Korvei wird Otto I. auf dem Lechfeld in altrömischer Art zum „imperator" ausgerufen. Erinnerungen an die antike Welt wurden in die Gegenwart projiziert27). Bei Dudo von St. Q_uentin dürfen wir dem Titel „imperator" keine größere Bedeutung als „Herrscher" beilegen28). Flodoard spricht in seiner langen Folge von Heiligenleben in Italien vom „imperator", wenn er den römischen Kaiser meint 29 ). Ebenso verwendet er in seinen Annalen den Ausdruck „imperialis honor" anläßlich der Kaiserkrönung von 962 30 ). Gerbert von Aurillac spricht seinerseits von „imperialis majestas" in einem Brief an einen Anhänger Ottos II. 3 1 ). In Süditalien hat der Chronist von Salerno eine verschiedene, aber ebenso klare Auffassung vom Ausdruck „imperator". Dieser Titel, so meint er, dürfe nur für den Herrscher angewandt werden, der dem römischen, d. h. dem konstantinopolitanischen Reich vorstehe. Die Könige der Gallier — Karl der Große und seine Nachfolger — hätten den Titel usurpiert 32 ). Der Imperatorbegriff hat hier eine Ausschließlichkeit erlangt, die deutlich den byzantinischen Einfluß verspüren läßt. Es ist der Titel für den höchsten weltlichen Herrscher der Erde, den rechtmäßigen Nachfolger der alten römischen Kaiser. Deutet vielleicht auch eine Stelle Dudos von St. Quentin auf eine Rangfolge Kaiser—König—Herzog hin, wenn er diese drei Titel in der erwähnten Reihenfolge aufzählt 33 ) ? ) Stengel (den Kaiser macht das Heer) legt in anschaulichster Weise dar, wie schon in der Antike zwei Begriffe von „imperator" nebeneinander bestanden, „imperator" als Sieges- und als Kaisertitel, und wie im Mittelalter diese beiden Tendenzen sich in den eigentümlichsten Arten verflochten und nebeneinander weiterlebten. a «) Stengel, Kaisertitel, p. 37. a 7 ) Widukind von Korvei I I I , 48, p. 128. M ) Dudo I I I , Migne 141, cc. 738 s. a ») Flodoard, Triumph. Ital. I X , 8, Migne 135, c. 752; Triumph. Ant. I, 15, Migne 135, c. 572; Triumph. Ital. I I I , 5, Migne 135, c. 642. s o ) Flodoard, Annales 962, p. 151. 3 1 ) Gerbert, Briefe, 12. s a ) Ghronicon Salernitanum cap. 11, M G H , SS. I I I , p. 479; cf. Lehmann, p. 27. 3 3 ) Dudo I I I , Migne 141, c. 714. a5

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Was verstand man unter „Gallia" 3 4 ) ? Einerseits in antikem Sinne das Land zwischen Rhein und Pyrenäen 35 ), andererseits vielleicht auch nur das linksrheinische Gebiet des Kaiserreichs 36 ). Den Ausdruck „Francia" hat schon Kurth genauer untersucht34). Das Wiederauftreten von Ausdrücken wie „ Gallia, Celtica" und „Belgica" zeigt deutlich, wie die Autoren des 10. Jahrhunderts auch in geographischen Bezeichnungen wieder nach klaren Begriffen suchten37). In unseren französischen Quellen handelt es sich bei „Francia" um zwei Vorstellungen: Francia = Franzien, d. h. eine Landschaft im Gegensatz zu anderen Teilen Frankreichs, ζ. B. im Gegensatz zu Burgund 38 ), und Francia in der Bedeutung „Frankreich" 39 ). Die gleichen Differenzierungsmöglichkeiten findet man bei der entsprechenden Völkerbezeichnung „Franci". „Franci" können die Bewohner Franziens sein, d. h. vor allem des Gebietes der Herrschaft der Kapetinger. Dem entspricht der Titel „Dux Francorum" 40 ), den die Robertiner führten. „Franci" sind aber auch die Westfranken, so ζ. B. vor allem in der Wendung „rex Francorum" 41 ), die Richer dem Ausdruck „rex Gallorum" gleichstellt42). Wie wenig genau für das Empfinden des 10. Jahrhunderts diese Ausdrücke sind, zeigt gerade die Einführung von „rex Gallorum", wo der Autor wieder auf eine antike Terminologie zurückgreift. In der Verbindung mit Titeln ist die Deutung ) Dümmler, Otto der Große, pp. 562 ss. Linguistischer Exkurs; Kurth, pp. 6 7 - 1 3 7 ; Schalk, p. 145. 35 ) Die Umschreibung wurde von der Antike übernommen: Caesar, De bello Gallico I, 1; Isidor von Sevilla (Etymologiae X I V , IV, 25) nahm sie neuerdings auf und gab sie in dieser Form weiter; Richer I, 2. 3 e ) Bloch, t. 2, planche V I I . Bloch kommentiert zwei Miniaturen des Reichenauer Evangeliars Ottos III. (München Staatsbibliothek lat. 4453), auf welchem die Scla/inia, die Germania, die Gallia und die Roma abgebildet sind, welche dem Kaiser Otto huldigen. Er schreibt dazu: „ L e pays slave, la Germanie, la Gaule (c'est-ä-dire les terres de domination imperiale sur la rive gauche du Rhin) et Rome font obeissance ä l'Empereur Otton I I I . " 37 ) Richer I, 2. 3 8 ) Flodoard, Annales 925, p. 31; Annales 926, p. 34. 39 ) Dudo II, Migne 141, c. 639; Dudo I I I , Migne 141, c. 669. *>) Dudo I I I , Migne 141, c. 669; Dudo II, Migne 141, c. 644; Dudo I I I , Migne 141, c. 724. Pfister, pp. 131 — 140. « ) Richer III, 86; Dudo I I I , Migne 141, c. 716. 42 ) Richer I I I , 67.

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2 Bezzola

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besonders schwierig. Spielen da nicht noch Erinnerungen an das geeinte Frankenreich mit und verbieten eine allzu ausschließliche Interpretation 43 ) ? Ist es nicht besser, jeden einzelnen Ausdruck im Rahmen, in dem er steht, zu untersuchen, als Begriffe, die vielleicht auch bei den Zeitgenossen nicht ganz genau abgegrenzt waren, genau zu differenzieren? Hugo Capet war „dux Francorum", ist dann später „rex Francorum" 4 4 ); der König von Frankreich hieß bei Dudo „rex Franciae" und „rex Francorum" 4 5 ). Otto I. wurde in einer Urkunde „rex Francorum et Langobardorum" genannt 46 ), in einer 960 verfaßten Urkunde — allerdings von etwas zweifelhafter Authentizität, nach Günter vom Empfänger verfaßt47) — sogar „rex Lothariensium, Francorum et Germanensium" 48 ), eine Nebeneinanderstellung, die doch überraschend ist. In jedem Kapitel werden wir einen Schriftsteller für sich betrachten. Kennen wir ihn als Menschen und verstehen wir seine Sprache, so dürfen wir seine Haltung zu den Ottonen und zur neubelebten, unter Otto I. verwirklichten Kaiseridee erörtern. Die Autoren werden in möglichst chronologischer Reihenfolge behandelt. Falls sich eine einheitliche Entwicklung feststellen läßt, kommt sie auf diese Weise am deutlichsten zum Vorschein. Inwiefern eine solche Entwicklung, die aus den wenigen Quellen der Zeit herausgelesen wird, gerechtfertigt ist, bleibt dann noch am Schlüsse zu entscheiden. Der Reimser Annalist Flodoard vermittelt einen Einblick in die Zeit vor und während der Kaiserkrönung Ottos I. Wir sehen hier den geistigen Nährboden, auf den die Nachricht von 962 fallen konnte, und können etwa die Grundlage, die Bereitschaft zur Annahme des neuen Kaisergedankens ermessen. Adso — ein vielumstrittener Schriftsteller — schrieb etwas später; er hatte das neue Kaiserreich noch während dreier Jahrzehnte miterleben können. Dann werden wir uns **) cf. Zeller, les rois de France, p. 277; Kienast, p. 114 n. 2; Folz, l'idie d'empire, spricht von einer Mehrzahl von „reges Francorum", pp. 55 s. « ) Richer III, 15; Richer IV, 49. " ) Dudo III, Migne 141, cc. 716, Dudo II, Migne 141, c. 639. " ) MGH, DD I, p. 360 (nr. 252), cf. Folz, L'idöe d'empire, p. 55. " ) Günter, Otto der Große, p. 150. « ) MGH, DD I, p. 289 (nr. 210). 18

Gerbert zuwenden, dem größten Gelehrten seiner Zeit, dem Hirtenbuben von Aurillac, der auf dem Stuhl Petri als Berater des jungen Kaisers, des dritten der Ottonen, starb, nachdem er sich mit seinem kaiserlichen Schüler den großartigsten Plänen zur Umgestaltung der christlichen Welt gewidmet hatte. Richer, sein Schüler, der sich weitgehend auf die Werke Flodoards stützte, brachte eine Weltanschauung zum Ausdruck, die der Haltung mancher Kleriker am Ende des Jahrhunderts entsprochen haben mochte. Seine westfränkische Geschichte hat schon öfters einen Gelehrtenstreit entfacht und die Meinungen haben auch heute noch nicht eine einheitliche Linie gefunden. Die Liste der westfränkischen Autoren des 10. Jahrhunderts wird dann mit Abbo von Fleury, dem Vorkämpfer des cluniazensischen Mönchstums einerseits, mit Adalbero von Laon, dem heftigen Verteidiger des Weltklerus andererseits weiter ergänzt werden. Schließlich möchten wir noch Dudo, den Kanonikus und späteren Dekan von St. Quentin, berücksichtigen, dessen Welt so regional geprägt ist. Er bringt noch eine letzte, für den Menschen jener Zeit sicher auch typische Haltung zum Ausdruck.

2*

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FLODOARD Der Reimser Kleriker Flodoard ist einer der wenigen zeitgenössischen Autoren, die in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, in der Zeit vor der Kaiserkrönung von 962, geschrieben haben. Auf westfränkischem Boden ist er sogar der einzige, der ausführliche Nachrichten aus seiner Epoche überliefert. Alle anderen Schriften von westfränkischer Hand wurden etwas später verfaßt und stehen deshalb kaum mehr unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse. Vom Leben des Chronisten wissen wir nur das 1 ), was wir seinen zahlreichen Werken entnehmen können. Er wurde wahrscheinlich 893 in Epernay geboren. Schon sehr früh steckte man ihn in die Domschule von Reims, die unter Hincmar und seinen Nachfolgern, besonders dem Erzbischof Fulco, einen neuen Aufschwung erlebt hatte. Reims war zu jener Zeit durch das Wirken seiner zwei bedeutenden Lehrer Remigius von Auxerre und Hucbald von St. Amand das bedeutendste Bildungszentrum des Westfrankenreiches, welches treu die karolingische Bildungstradition fortführte, die seit dem Tode Karls des Kahlen nur noch mit Mühe aufrecht erhalten wurde. An dieser Schule konnte sich der junge Kleriker bald eine umfassende Bildung aneignen. Sehr früh gewann er das Vertrauen seines Herrn, des Erzbischofs Seulf, der ihn sogar 924 als Begleiter zu einer Zusammenkunft König Rudolfs I. mit Hugo von Arles und Wilhelm von Aquitanien mit sich nahm. Flodoard wurde damit recht bald mitten in den Strudel der Ereignisse hineingerissen und entwickelte sich sicher nicht zum weltfremden, zurückgezogenen Geistlichen, der nach nichts anderem strebte, als sich Gott zu widmen und von der Welt hienieden in Ruhe gelassen zu werden. 936 und 937 weilte er in Rom und wurde durch den Papst ehrenvoll empfangen, ein Zeichen f ü r das Ansehen, das er sich schon erworben hatte. l

) Lauer, Annales, pp. V-XXIX; Manitius, t. 2, pp. 155—166; WattenbachHoltzmann, t. 1, lib. 2, pp. 290—294.

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Diese Reise brachte ihn in den Bereich einer ganz neuen Welt, der Welt des alten Rom und des Mittelmeers. Von Italien aus gesehen, gewannen auch die Länder des Ostens eine neue, bedeutsame Realität. Unter dem Eindruck dieses neuentdeckten Raumes sind drei große Sammlungen von Heiligenlegenden entstanden, die Triumphe Christi in Antiochien in zwei Büchern, die Triumphe Christi und der Heiligen in Palästina in drei Büchern und schließlich die vierzehn Bücher über die Triumphe Christi in Italien 2 ). Alle drei Werke, die sicher zu den umfangreichsten hagiographischen Schriften gehören, sind in Versform abgefaßt und bilden auch, abgesehen von ihrem Inhalt, von ihrer formellen Gewandtheit, allein schon in ihrem Ausmaß eine eindrückliche Manifestation der Reimser Gelehrsamkeit in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Reims war aber in jener Zeit nicht nur ein Bildungszentrum, es stand auch im Brennpunkt der Interessen der verschiedenen rivalisierenden Mächte im Westfrankenreich, die immer wieder versuchten, einen ihrer Parteigänger auf den Stuhl des Erzbistums zu bringen. Unter diesen Wirren hatte auch Flodoard zu leiden, der König Rudolf und Erzbischof Artold unterstützte. 941 hielt ihn Hugo von Vermandois, der Rivale Artolds, in Gefangenschaft und beraubte ihn aller seiner Benefizien. Eine allzu einseitige Haltung hatte Flodoard kaum eingenommen. Sonst hätte er nicht kurz darauf wieder die Gnade Herzog Hugos von Franzien, des Beschützers Hugos von Vermandois, gefunden und seinen Besitz zurückerhalten. Die Konflikte um Reims erreichten ihren Höhepunkt in den Jahren 947 und 948, den Jahren der Synoden von Verdun und Ingelheim, an welchen Flodoard persönlich teilgenommen hat. Dies verleiht seinen Berichten einen ganz anderen Wert und rechtfertigt auch die breite Darstellung dieser Ereignisse in seinen Werken. So stand Flodoard dauernd mitten im politischen Geschehen seiner Zeit, j a er vertrat wahrscheinlich 951 die Interessen der Kirche von Reims bei Otto dem Großen, von welchem er somit einen lebendigen, persönlichen Eindruck erhalten konnte 3 ). In seinen letzten Jahren erlebte er noch den gewaltigen Aufstieg des sächsischen Hauses, vernahm von der 2) 3)

Migne 135, cc. 5 4 9 - 5 9 6 ; cc. 4 9 1 - 5 5 0 ; cc. 5 9 5 - 8 8 6 . Lauer, Annales, p. XII.

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Kaiserkrönung in Rom von 962 und starb vier Jahre später im Alter von über 70 Jahren in Reims. Dieser kurze und recht dürftige Abriß seines Lebens zeigt uns Flodoard als einen bedeutenden Vertreter der westfränkischen Geistlichkeit, einen Mann von hoher Bildung, eine Persönlichkeit aber auch, die Gelegenheit hatte, immer wieder die großen und umwälzenden Ereignisse seiner Zeit aus nächster Nähe zu erleben, und die sich durch mehrere Reisen einen f ü r ihre Zeit sehr weiten Horizont geschaffen hatte. So reich und vielgestaltig das Leben dieses Chronisten gewesen sein muß, so reich und vielgestaltig ist auch sein Werk. Der Beitrag, den er zur hagiographischen Literatur geleistet hat, wurde schon oben erwähnt 4 ). Noch bedeutender, jedenfalls f ü r unsere Betrachtungen, ist seine Geschichte des Erzbistums Reims 5 ), das umfassendste Geschichtswerk der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, reich an genauen historischen Angaben, reich an Nachrichten sozialer und hagiographischer Natur. Sie ist nach der Rückkehr Flodoards von den Synoden von Verdun und Ingelheim entstanden, und man weiß, daß der Chronist noch 952 damit beschäftigt war. Zur Abfassung einer solchen Geschichte befand er sich nun in der denkbar günstigsten Lage, stand ihm doch als erzbischöflichem Archivar eine große Anzahl direkter Quellen unmittelbar zur Verfügung. Unsere Aufmerksamkeit wird vor allem dem reichsten und lebendigsten Teil, dem vierten Buche, gelten, in dem Flodoard die Zeit nach Erzbischof Hincmar behandelt, die Zeit, die er zum größten Teil aus eigenem Erleben kannte. Das andere historische Werk Flodoards, die Annalen 5 ), ist nicht weniger bedeutend und bildet gerade durch die Verschiedenheit seiner Anlage eine wertvolle Ergänzung zur Reimser Kirchengeschichte. Es sind jährliche Aufzeichnungen aus den Jahren 919—966 (Todesjahr). Sie haben eher den Charakter von Notizen, im Gegensatz zur stilistisch gewandten Darstellung der Geschichte von Reims und der hagiographischen Werke. Sie wurden auch im Gegensatz zur Geschichte von Reims immer von J a h r zu J a h r geschrieben. Diese Art der Aufzeichnung und auch die annalistische Form an sich bringen eine sachlich meist zuverlässige *) v. p. 21.

5

) cf. Literaturverzeichnis p. 201.

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Aufzählung der Ereignisse mit sich, lassen aber eine thematische Anordnung und damit eine gründliche formale Überarbeitung durch den Autor vermissen. Was die häufigen gleich oder ähnlich lautenden Abschnitte der beiden Werke anbelangt, so dürfen wir uns der Ansicht Lauers anschließen, daß Flodoard sich bei der Abfassung der Reimser Geschichte auf die Annalen stütze, mit Ausnahme allerdings des Jahres 948, wo ein umgekehrtes Verhältnis vorliegen mag 6 ). Flodoard überliefert die Ereignisse in überraschend zuverlässiger Form. Er hat damit das verdiente Lob und die Achtung aller modernen Historiker errungen. In seiner ausgesprochenen Sachlichkeit bietet er uns andererseits sehr wenig Gelegenheit, durch die Art der Darstellungen hindurch, durch leichte Heraushebung bestimmter Ereignisse, sein persönliches Verhältnis zur zeitgenössischen Staatenwelt, zu Königs- und Reichsgedanken herauszulesen oder auch nur zu erkennen, welche Gefühle er der jungen, mächtig aufsteigenden sächsischen Dynastie entgegenbrachte.

H e i n r i c h I., „ p r i n e e p s

transrhenensis"

Die Haltung Flodoards gegenüber der Persönlichkeit und Stellung Heinrichs I., des ersten ostfränkischen Königs aus dem sächsischen Geschlechte, zu ergründen, bietet infolge der Dürftigkeit der Quelle größte Schwierigkeiten. Flodoard hält sich einzig an die trockene Schilderung der Ereignisse; er fügt auch kein einziges Adjektiv bei, um Heinrich zu charakterisieren. Man sieht sich gezwungen, einzig auf die Herrscherbezeichnungen zu achten, wenn man überhaupt etwas erreichen will. Neben der ganz gebräuchlichen Bezeichnung des Herrschers mit dem bloßen Vornamen (Heinricus) liest man in der Geschichte von Reims einmal: „ . . . Heinricus, prineeps transrhenensis"7), eine Wendung, die in genau gleicher Form in der parallelen Stelle der Annalen 8 ) auftritt; in den Annalen nennt Flodoard 6

) Lauer, Annales, pp. X I X s. ') Flodoard, Hist. Rem. IV, 16, Migne 135, c. 293. 8 ) Flodoard, Ann. 920, p. 3.

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921 Heinrich wieder „Heinricus, princeps transrhenensis" 9 ), 928 „Heinricus, Germaniae princeps" 10 ). Erst im Jahre 936, dem Todesjahr Heinrichs, bezeichnet er ihn zum ersten und einzigen Mal mit „rex" 11 ). Diese eigenartige Unterdrückung des Königstitels bei Heinrich I. ist schon einigen Historikern aufgefallen 12 ), weil im Gegensatz dazu der westfränkische König nie „princeps", sondern immer nur „rex" heißt. Sowohl Karl der Einfältige wie auch Rudolf I. führen immer den Königstitel, mit Ausnahme derjenigen Stellen natürlich, an denen sie mit dem bloßen Namen genannt werden. Bei Rudolf kommt noch zusätzlich einmal die Wendung „rex Franciae" 13 ) vor. Es ist daher kaum anzunehmen, daß Flodoard die Unterlassung des Königtitels aus reiner Unachtsamkeit begangen hat. „Princeps" ist meistens die Bezeichnung, die f ü r einen Fürsten verwendet wurde, der einen tieferen Rang hatte als der König. Die „principes" sind in den Annalen Flodoards die hohen Vasallen des westfränkischen Reiches, die höchsten weltlichen Herren nach dem König 14 ). Wenn man nun aber nach der Absicht fragt, die Flodoard zu dieser Unterscheidung bewogen haben mochte —· er stellt j a offensichtlich den „princeps" Heinrich dem „rex" Karl gegenüber 15 ) —, so scheint die Deutung im Sinne einer westfränkischkarolingischen Parteinahme am naheliegendsten zu sein: Karl der Einfältige, der im Grunde genommen einen Anspruch auf die Nachfolge im ganzen Karolingerreich geltend machen konnte, stand in den Augen des Westfranken auf höherer Stufe als der neue König aus dem sächsischen Geschlecht, das bisher noch keine Krone getragen hatte. Die beiden auf den gleichen Rang stellen, hätte eine Erniedrigung und Beeinträchtigung der Stellung des Karolingers bedeutet. Schulze 16 ) vertritt diese Art der Interpretation. Er wird durch die Tatsache bestärkt, daß diese Meinung auch in den Handlungen Karls des Einfältigen vor 921 ihren Niederschlag gefunden hat, was ohne weiteres den Quellen zu entnehmen ist. Karl anerkannte Heinrichs Königtum erst 921 im Bonner Vertrag, weil ihn die machtpolitische Lage dazu 9

10 ) ibid. 921, p. 6. ) ibid. 928, p. 42. Schulze, p. 69; Kawerau, p. 23. 13 ) Flodoard, Ann. 924, p. 23. 14 1δ ) ibid. 936, pp. 63 s. ) ibid. 920, p. 3.

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u

) ibid. 936, p. 64.

le

) Schulze, p. 69.

zwang. Damit verzichtete er auch auf die nominelle Herrschaft im Ostfrankenreich und betrachtete Heinrich als einen gleichberechtigten König 17 ). Nach der Meinung Schulzes hatte die universelle Auffassung des karolingischen Königtums durch Karl den Einfältigen bei Flodoard bis nach 933 weiter gelebt und wurde erst dann endgültig aufgegeben. Für eine solche Schwenkung sollte man aber zuerst noch eine Erklärung finden, bevor man sie als erwiesen betrachten kann. Daß aber diese k a r o l i n g i s c h w e s t f r ä n k i s c h e Haltung Flodoard gar nicht entsprochen hat, daß von einer solchen Schwenkung im Jahre 933 nicht die Rede sein kann, das möchte ich in den folgenden Seiten zu belegen versuchen. Der Interpretation Schulzes scheinen mir eine Reihe von Gründen zu widersprechen. Durchsuchen wir die Werke Flodoards nach dem Begriffe „princeps", so stoßen wir auf eine Stelle in der Kirchengeschichte von Reims 18 ), die uns zwingt, unsere bisherigen Vorstellungen etwas zu revidieren. Der Chronist schildert die Kaiserkrönung Ludwigs des Frommen durch Papst Stephan in Reims. Zweimal wird der König vor seiner Krönung „princeps" genannt. Dieses Wort kann in ganz allgemeinem Sinne als „Herrscher, Fürst" übersetzt werden; die Vorstellung irgend einer Rangfolge (rex-princeps) hat hier gar keinen Sinn. Wir dürfen deshalb mit Recht daran zweifeln, ob Flodoard mit der Gegenüberstellung des „princeps" Heinrich und des „rex" Karl an irgend eine Rangfolge gedacht hat. Es kann auch nicht eine k a r o l i n g i s c h e Tradition gewesen sein, die Flodoard zu dieser Unterscheidung bewogen hat: Odo von Franzien, Robert I., Rudolf von Frankreich, Rudolf von Burgund und Hugo von Italien, sie alle stammten nicht aus karolingischem Hause, vertraten zum Teil sicher nicht die westfränkischen Interessen und werden doch durchwegs „rex" genannt. Sogar den Kaisertitel verwendet Flodoard bei den Nichtkarolingern Wido und Lambert von Spoleto ohne zu zögern. J a , es ist geradezu auffallend, mit welcher Regelmäßigkeit und Unparteilichkeit Flodoard all diesen Königen die Königswürde zu17)

MGH, LL. IV, t. 1, pp. I s . : Bardot, pp. 1—39; Kienast, pp. 38. s.; Holtzmann, Sächsische Kaiserzeit, pp. 74 s.; Eckel, pp. 114 s.; Ranke, Weltgeschichte, t. 6, p. 119. 18 ) v. n. 101.

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spricht. Odo von Franzien und Karl der Einfältige werden an zwei Stellen im gleichen Atemzuge genannt 19 ). — Und doch muß die Bezeichnung „princeps", wenn sie auch nicht das Ergebnis einer einseitigen Parteinahme zu sein scheint, bei der Sachlichkeit Flodoards ihren besonderen Wert haben. Eine Übersicht über die Titel aller Könige der karolingischen Nachfolgestaaten kann vielleicht etwas besser erklären, was dieser Chronist sich unter einem König vorstellte. Zur Zeit Flodoards war das karolingische König- und Kaiserreich in voller Auflösung. Der große und allmächtige „rex Francorum" existierte nicht mehr, eine ganze Anzahl von verschiedenen Königen herrschte in den Teilgebieten des alten Frankenreichs. Der größte Teil dieser Herrscher wird als König bezeichnet, wenn er auch jeder karolingischen Reichstradition schon allein durch seine Stellung entgegenwirken mußte. Hugo von Vienne ist „rex Romae" 20 ), „rex Italiae" 21 ), Berengar I. „rex Italiae" 22 ), Rudolf II. von Burgund „Cisalpinae Galliae rex" 23 ), 935 wird er „rex Jurensis" 24 ) genannt. Rudolf, König der Westfranken, erhält, wie wir gesehen haben, den Titel „rex Franciae". Zweimal spricht Flodoard von einem „regnum Lotharii" 25 ). Es ist dabei ganz natürlich, daß zur Bezeichnung dieser neuen Könige die geographischen Begriffe immer bedeutender wurden, jedenfalls dort, wo die Prägung durch eine Gründerpersönlichkeit •—• wie ζ. B. beim „regnum Lotharii" •—· nicht vorhanden war: Italia, Gallia Cisalpina, Francia, Juragebiet. Dieses landschaftlichgeographische Element setzte sich in auffallender Weise gegenüber dem völkischen durch: die Könige wurden nicht „rex Langobardorum", „rex Francorum", „rex Lothariensium" genannt, was doch bei den Zeitgenossen viel stärkere Erinnerungen an die alte Selbständigkeit hätte hervorrufen können. Eine einzige Ausnahme bildet die Bezeichnung „rex Anglorum" 26 ). Ist es ein bloßer Zufall, daß es sich um einen König handelt, der außerhalb le

) Flodoard, Hist. Rem. IV, 4, Migne 135, c. 271: „ubi significat Odonem et Karolura reges in pacis tandem concordia, se studente, connexos." ibid. IV, 3, Migne 135, c. 269. 20 ) Flodoard, Ann. 926, p. 35. 81 22 ) ibid. 929, p. 43; 933, p. 57; 936, p. 64. ) ibid. 924, p. 23. 24 » ) ibid. 922, 7; 923, p. 18; 924, p. 22; 926, p. 35. ) ibid. 935, p. 61. M ) ibid. 921, pp. 5 s.; 926, p. 36. » ) ibid. 926, p. 36.

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des karolingischen Reiches stand? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß infolge der Zusammenballung der verschiedenen Stämme und Völker Europas durch die karolingische Herrschaft eine Einheit entstanden ist, die eine eigene Existenz gefunden hat. Die Franken sind ein Reichsvolk geworden, der „rex Francorum" ein Herrscher über den ganzen Reichsverband. Mit dem Dahinschwinden ihrer Macht und der Unterbrechung der Verbindungen infolge der neuen Barbareneinfälle löste sich das Reich in verschiedene Gebiete auf, deren Grenzen stark durch die geographischen Voraussetzungen bestimmt waren. Das Stammesbewußtsein trat mehr und mehr in den Hintergrund. Daher die Bezeichnung der neuen Könige nach den Territorien und nicht nach Völkern und Stämmen im Gegensatz zu den Königen, die seit jeher außerhalb des karolingischen Reichsverbandes gestanden haben. — In einem gewissen Grade finden wir in dieser vorurteilslosen Billigung der verschiedenen Kleinkönigtümer, unter welchen der eigentliche karolingische König gar keine privilegierte Stellung einzunehmen scheint, eine Akzeptierung dieser Entwicklung durch Flodoard. Wir haben nicht das Gefühl, daß der Chronist an einem alten universalen Traum festhielt, während er zusah, wie der alte Reichsverband in Brüche ging, und wir glauben, daß bei Flodoard ein Stammesbewußtsein, ein Volksempfinden kaum eine entscheidende Rolle spielen konnte. Für ihn standen die Könige an der Spitze eines Gebietes, nicht eines Stammes. Die Welt, selbst die geographischen Begriffe verengten sich. „Francia", das Grundgebiet des fränkischen Reiches, das, wie wir bei Kurth 27 ) lesen können, eine dauernde Ausweitung erfahren hatte, umfaßte nur noch das Gebiet Frankreichs ohne Lothringen, wenn es in Verbindung mit „regnum" oder „rex" verwendet wurde 28 ). In diesem Fall war Burgund miteinbegriffen. Im allgemeinen braucht aber Flodoard den Ausdruck f ü r Franzien, d. h. f ü r das Gebiet zwischen Lothringen und der Loire 29 ). In diesen Fällen steht es oft im Gegensatz zu Burgund. Diese „Francia" ist nur noch ein Teil der „Gallia", des umfassenderen geographischen Begriffes, der im Gegensatz zu „Germania" verwendet wird 30 ). 27

ae ) cf. Kurth, pp. 68 ss. ) Flodoard, Ann. 923, p. 13; 924, p. 23. 3 *·) ibid. 925, p. 31; 926, p. 34; 933, p. 56. ») ibid. 927, p. 37.

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In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts scheint der universale Reichsgedanke bei Flodoard durch die Vorstellung verschiedener nebeneinander stehender gleichwertiger Königreiche verdrängt worden zu sein, was mit der Annahme, daß sich Flodoard nach einer Vormachtstellung Karls des Einfältigen, einer Neugründung des Reiches sehnte und deshalb Karl „rex", Heinrich „princeps" nannte, nicht übereinstimmen kann. Ferner ist es doch auffallend, daß Flodoard die machtpolitischen Erfolge Heinrichs I. gar nicht verschweigt: Ohne auch einen Augenblick zu zögern, ohne auch nur zu versuchen, die Ereignisse irgendwie zu verschleiern, erwähnt er die Huldigung Herberts von Vermandois vor Heinrich I.31) und die Huldigungen der Lothringer 32 ) . Und der Gegensatz „rex-princeps"? Welches ist der eigentliche Inhalt des Wortes „rex"? Wir haben einleitend schon festgestellt33), daß „rex" seinen Gehalt kaum je verändert hat und immer den rechtmäßigen, legitimen König bezeichnete. Woher bekam nun aber ein König seine Legitimität? Was war in den Augen eines Mannes des 10. Jahrhunderts — hier in den Augen des Klerikers Flodoard — das f ü r die königliche Würde entscheidende Element? Für den Kleriker konnte es nur die kirchliche Weihe sein. Diese Deutung scheint uns auch deshalb viel einleuchtender, weil sie mit der oben zitierten Stelle über die Krönung Ludwigs des Frommen im Einklang steht. Einzig diese kirchlich sakrale Überlegung hat Flodoard unseres Erachtens zur Differenzierung des „princeps" Heinrich und des „rex" Karl geführt 34 ). In seinen Augen, in den Augen eines westfränkischen Klerikers, ist Heinrich einfach nicht König. Wie könnte er es auch sein, wenn er die durch den Erzbischof von Mainz angebotene kirchliche Weihe demonstrativ abgelehnt hat 35 ) ? Seit Karl dem Kahlen hatte nämlich die königliche Weihe im Westfrankenreich immer eine wesentliche Rolle gespielt 36 ). Alle westfränkischen Könige haben eine kirchliche Weihe und damit eine kirchliche Legitimierung ihrer Gewalt erhalten, während die ostfränkischen 31

) ibid. 931, pp. 49 s.; Flodoard Hist. Rem. IV, 24, Migne 135, c. 297. 33 31 ) Flodoard, Ann. 925, p. 33. ) v. p. 15. ) cf. Kawerau, p. 23. 36 ) Widukind von Korvei I, 26, p. 39; cf. Erdmann, Ungesalbter König; Beumann, Sakrale Legitimierung, p. 3. ") Schramm, König von Frankreich, pp. 9—90. 32

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Karolinger sich an ein weltliches Königtum hielten, von Ludwig dem Deutschen bis zu Arnulf von Kärnten 3 7 ). Ihr Königtum beruhte auf dem Anspruch der karolingischen Dynastie und der Unterstützung der Großen. Keine persönliche Bindung, keine Parteinahme, keine machtpolitische Konstellation und keine traditionellen Motive haben Flodoard zu seiner Ausdrucksweise bewogen; einzig ein staatsrechtliches, symbolisches Element brachte wohl diesen nüchternen Historiker zu einer Differenzierung der Titulatur Heinrichs I. Zur Sicherheit bleibt aber noch zu untersuchen, ob diejenigen Könige, die Flodoard mit „rex" bezeichnet, tatsächlich geweiht worden sind. Bei den westfränkischen Königen steht dies außer Frage, ebenso bei Berengar I. von Italien 38 ). Laut Haase hören wir von der Krönung Rudolfs von Burgund, Hugos von Italien in den Quellen nicht das geringste 39 ), was nach seiner Ansicht eine Krönung nicht ausschließt. Kroener 40 ) findet die Quellen zu unbestimmt, um einen Schluß in bezug auf die Krönung Rudolfs von Burgund, Hugos und Lothars zu ziehen 41 ). Arnulf von Kärnten wurde nie zum König gekrönt, holte es aber später mit der Kaiserkrönung wieder nach. Ein einziges Mal, 936,wird aber HeinrichI. doch „rex" genannt; dabei war er sicher auch in diesem Jahr nicht ein geweihter König. Im gleichen Jahre 936 gab es auch zwei Thronwechsel im Räume des alten karolingischen Reiches. Ludwig IV. d'Outre-mer, der letzte übrig gebliebene Karolinger, der Sohn Karls des Einfältigen, bestieg den Thron seiner Väter und wurde nach westfränkischer Tradition feierlich zum König gesalbt. Wohl " ) Pange, p. 227. 38 ) Flodoard, Ann. 924, p. 23. cf. Haase, p. 23. Haase stützt sich auf die gesta Berengarii I, 58, deren Aussagen er akzeptiert, wenn auch diese Quelle oft mit äußerster Vorsicht zu benutzen ist. si 40 ) Haase, p. 25. ) Kroener, pp. 30 ss. 41 ) Haase, p. 26: „Daß Berengar II. hierin eine Neuerung eingeführt habe, wird man kaum annehmen können. Vielmehr wenn Liutprand von König Hugo, seinem Gönner, erzählt, er sei, als er 926 in Tuscien den italienischen Boden betrat, von einem päpstlichen Legaten und vielen italienischen Großen empfangen und aufgefordert worden, in Pavia sich die Zustimmung aller zur Herrschaft zu holen, so liegt die Vermutung nahe, daß die Erhebung an einen bestimmten Ort geknüpft wird, daß zu Pavia nicht bloß eine Bestätigung stattfand, die ja ebensogut anderswo hätte erfolgen können, sondern auch eine Krönung."

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in direkter Reaktion auf diesen Akt, gerade um seine Ebenbürtigkeit dem Karolinger gegenüber zu bezeugen, ließ sich Otto nach dem Tode seines Vaters mit großer Feierlichkeit in einem fränkischen Gewände in Aachen, der Stadt Karls des Großen, krönen und weihen42). Flodoard, der wohl seine Notizen am Ende jedes Jahres niederschrieb, stand noch unter dem Eindruck dieser beiden feierlichen Ereignisse. Otto I. hatte mit seiner Krönung die ostfränkische Tradition gebrochen und dafür die dem westfränkischen Kleriker so entscheidende Legitimierung durch die Kirche erworben. Liegt es deshalb fern, wenn Flodoard am Jahresende unter dem Eindruck dieser Wendung Heinrich I. der Königstitel zugestand, zumal da sich äußerlich die Machtverhältnisse nicht geändert hatten und Heinrich in Deutschland schon seit jeher „rex" genannt worden war? Die kirchliche Konzeption des Königtums, zugleich aber auch die Unabhängigkeit von irgendeiner westfränkischen oder rein karolingischen Tradition scheinen aus der Haltung Flodoards gegenüber Heinrich I. hervorzugehen. Seine Stellungnahme zu Otto I. und Bruno von Köln wird unsere Meinung verstärken und das Bild, das er sich von dem mächtig werdenden Hause machte, noch abrunden. O t t o I. u n d B r u n o v o n K ö l n : D i e F a m i l i e der O t t o n e n Die Regierungszeit Ottos I. behandelt Flodoard in ihrer ganzen Breite; aber auch hier, wie bei Heinrich, hat er sich nicht ein einziges Mal auf eine Charakterisierung des deutschen Herrschers eingelassen, obwohl er, wie aus seiner Biographie hervorgeht, einen persönlichen Eindruck von Otto gehabt haben muß. Verschiedene Einzelheiten und Unregelmäßigkeiten in der Darstellung werden auch hier ein weiteres Verständnis des Chronisten erlauben. Ein kurzer Blick auf die Titel, die Flodoard Otto I. zuspricht, bestätigt die bei Heinrich angebrachten Bemerkungen. Otto I. wird ausnahmslos „rex" genannt, sowohl in den Annalen 4i

) Widukind von Korvei II, 1—2, pp. 63—67; cf. Ranke, Weltgeschichte, t. 6 2 , p. 81; Heil, p. 21; Günter, Otto der Große, pp. 34—37; Holtzmann, Sächsische Kaiserzeit, p. 112 hebt diese Meinung noch viel schärfer hervor, cf. ferner Huyskens, pp. 1—26; cf. Ramackers.

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wie in der Geschichte von Reims. Würde Flodoard eine karolingische Tradition verteidigen, so würde er sicher nicht 936 seine Haltung aufgeben, in dem Jahre, in dem gerade wieder ein Sproß dieses großen Geschlechtes, Ludwig IV., den westfränkischen Thron bestieg. Jedem karolingischen Traditionalisten mußte doch eine solche Wahl das Herz höher schlagen lassen und die Hoffnung wecken, einer neuen Blüte des fränkischen Reiches entgegenzusehen. Von all dem findet man bei Flodoard nichts. Der Königstitel ist in seinem Geschichtsbild von einer rechtmäßigen Krönung und Weihe abhängig, wie sie bei Otto I. in Gegensatz zu seinem Vater stattgefunden hatte. Im folgenden Abschnitt werden wir die Darstellung der Regierungszeit Ottos I. in knappen Zügen durchgehen, und durch diese Schilderung hindurch auf die Haltung des Autors zu schließen suchen. An wenigen unseres Erachtens entscheidenden Orten, wie ζ. B. dem Konzil von Ingelheim, werden wir etwas verweilen, um dann schließlich das Urteil Flodoards über die Politik Brunos von Köln zu untersuchen, die j a weitgehend eine Fortführung derjenigen Ottos I. ist. Das chronologische Vorgehen ergibt sich aus dem Charakter der Aufzeichnungen. Die Annalen wurden j a jährlich in einem Zeitraum von ca. 40 Jahren niedergeschrieben. Sollte sich die Meinung Flodoards gewandelt haben, so kommt dies in einer chronologischen Behandlung der Frage am ehesten zum Ausdruck. Die prunkvolle Krönung in Aachen (936) findet in den Annalen einen recht dürftigen Niederschlag: „Als Heinrich in diesen Tagen starb, brach unter seinen Söhnen ein Streit um das Königreich aus; schließlich erhielt der Älteste, namens Otto, die höchste Gewalt" 43 ). Uber die Krönung, die Widukind so eindrücklich ω)

Flodoard, Ann. 936, p. 64: „Heinrico rege sub isdem diebus obeunte, contentio de regno inter filios ipsius agitatur; rerum tandem summa natu majori, nomine Othoni, obvenit." J e nach der Übersetzung von „summa rerum" kann der Satz verschieden interpretiert werden. Meint Flodoard damit „Hauptteil, Hauptgegenstand", d. h. die Kerngebiete des Reiches, welche die Stellung des Königs garantieren, oder versteht er darunter eher das Reich als Ganzes? W i r vertreten die zweite Auffassung. Die Bedeutung ist übrigens schon im klassischen Latein belegt, cf. Georges, Κ . E. Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, 8. Aufl. Hannover—Leipzig 1919, t. IV 2 , c. 2922: „summa rerum" „Oberleitung aller Angelegenheiten, die höchste Gewalt" Cie. Tac.

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beschrieb, verliert Flodoard auch nicht ein einziges Wort. Viel auffallender erscheint es ihm, wenn Otto nach dem Streit mit seinen Brüdern schließlich das ganze Reich erhielt; dieses Recht des Ältesten auf alleinige Nachfolge hatte sich noch nicht einwandfrei durchgesetzt; die erst im Werden begriffene Vorstellung des Staates als einer selbständigen Einheit unterschied sich deutlich von der alten Auffassung des Staates der Franken als eines königlichen Privatbesitzes. Im selben Jahrhundert führte eine ähnliche Entwicklung des Staatsbewußtseins in Frankreich zu einer letzten Krise im Konflikt zwischen König Lothar und seinem Bruder Karl von Lothringen. Im Gegensatz zur Primogenitur war für Flodoard eine Königskrönung nichts Umwälzendes, sie fiel in den Bereich einer schon festen Tradition —· wenigstens im Westfrankenreich —, während sie Widukind noch als ein neues beinahe außergewöhnliches Ereignis betrachtete. Das Verschweigen dieses feierlichen Aktes in Aachen darf also keineswegs als Feindschaft gegen Otto I. ausgelegt werden. Flodoard ignorierte die Krönung nicht. Das beweist der Gebrauch des Ausdrucks „rex" bei Otto vollauf. Die Zeit von 936 bis 948 findet in den Werken Flodoards eine knappe und überaus sachliche Aufzeichnung. Sie ist, abgesehen von den nicht so zuverlässigen Nachrichten, von 937 und 938 — wohl infolge des Aufenthaltes in Rom — lückenlos 44 ). Man hat überhaupt nie den Eindruck, daß ein Ereignis absichtlich übergangen oder verzeichnet wird. Der Konflikt zwischen Ludwig IV. und Hugo dem Großen, die Angriffe Ludwigs auf Lothringen, die Heirat Hadwigs, der Schwester Ottos I., mit Hugo dem Großen 45 ), die Heirat Ludwigs mit Gerberga, der anderen Schwester Ottos 46 ), ja sogar der verräterische Treueid von Attigny entlockt dem Chronisten auch nicht das geringste lobende oder tadelnde Urteil: Hugo von Franzien und Herbert von Vermandois erfahren, daß Ludwig aus Burgund in die Champagne zieht, um das belagerte Laon zu entsetzen. „Da geben sie die Belagerung von Laon auf, eilen in der Nacht zu Festung Pierrepont und gehen von dort aus König Otto entgegen; nachdem sie sich mit diesem 44

) cf. Lauer, Annales, pp. V I I I s. ) Flodoard, Ann. 938, p. 69; cf. Hampe, Otto der Große, p. 291; Heil, p. 24; Holtzmann, Sächsische Kaiserzeit, p. 123. " ) Flodoard, Ann. 939, p. 74; cf. Dümmler, Otto der Große, p. 94; Heil, p. 52. ω

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vereinigt haben, führen sie ihn nach Attigny und leisten dort mit dem Grafen Roger zusammen Otto den Lehenseid" 47 ). Die Objektivität Flodoards ist nicht so erstaunlich, weil Otto hier eine Haltung einnahm, die an und für sich nicht neu war. Schon Arnulf von Kärnten hatte versucht, die beiden Parteien in Frankreich gegeneinander auszuspielen, und hatte abwechslungsweise die Könige Karl und Odo anerkannt, von ihnen den Lehenseid verlangt 48 ). Auch Heinrich I. hatte in ähnlicher Weise in Frankreich eingegrifFen, als Herbert von Vermandois sich gegen König Rudolf auflehnte. 931 leistete Herbert von Vermandois Heinrich I. den Lehenseid 49 ). Hätte Flodoard als einseitiger Parteimann der Karolinger eine solche Szene mit dieser verblüffenden Unvoreingenommenheit geschildert? Auch die Zeit, in der Otto immer wieder versuchte, zwischen den beiden Parteien zu vermitteln, schildert Flodoard genau, aber ohne sich auf weitere Kommentare einzulassen. Er berichtet, wie Ludwig IV. und Hugo der Große die Gunst Ottos suchten 50 ), wie diese Gunst aber auch schwankend war. Die Haltung Ottos ist aus Flodoards Darstellung schwer zu verstehen. Es können rein menschliche, persönliche Bindungen gewesen sein, die durch die beidseitige Verwandtschaft mit Ludwig und Hugo geschaffen worden waren und die Otto eine Art Schiedsrichteramt innerhalb der Familie zusprachen, es können aber auch rein „politisch"rationale Überlegungen gewesen sein, die Otto dieses Verhalten diktierten. Auf Grund späterer Betrachtungen glaube ich, daß die Interventionen Ottos zum mindesten im Denken der Westfranken als Interventionen des Schwagers unter Schwägern verstanden wurden, was aber nicht besagen soll, daß Otto selbst einzig nach diesem Gesichtspunkt gehandelt habe 51 ). 47

) Flodoard, Ann. 940, p. 77: „Quo comperto, Hugo et Heribertus, relicta obsidione Lauduni, noctu ad munitionem Petraepontem deproperant indeque Othoni regi obviam proficiscuntur; cui conjunct! ad Atiniacum eum perducunt, ibique cum Rotgario comite ipsi Othoni sese committunt." 48 ) cf. Holtzmann, Sächsische Kaiserzeit, pp. 128 ss.: Otto nimmt nach seiner Ansicht die gleiche Politik auf wie Arnulf von Kärnten. Das mag für 940 noch gelten, sicher aber nicht mehr für die folgenden Jahre; Holtzmann Sächsische Kaiserzeit, p. 14. 4β 50 ) Flodoard, Ann. 931, p. 49. ) ibid. 942, pp. 85 s.; 944, pp. 92 s. H ) cf. die Konflikte mit Giselbert von Lothringen und Hugo von Franzien (nach 946), Heil, p. 57. Zur Familienpolitik und zu Ottos Eingreifen in Frankreich, cf. Sproemberg, pp. 35 s.

3 Bezzola

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Die durch die Gefangenschaft Ludwigs entstandene neue Lage, die Unterstützung des französischen Königs durch Otto und die damit verbundenen Gesandtschaften werden vom Chronisten im gleichen objektiven Tone geschildert. 946 schickte Gerberga eine Gesandtschaft zu ihrem Bruder, der Ludwig zu unterstützen versprach und einen Feldzug nach Frankreich unternahm 52 ). 947 fand wohl eine Zusammenkunft zwischen den beiden Königen am Grenzfluß Chiers statt, in der die üblichen Formen der Begegnung zweier gleichgestellter Fürsten gewahrt wurden. Ludwig hatte aber zuvor in Aachen mit Otto Ostern gefeiert 63 ). Welche Bedeutung diesem „Familienfest" zuzuschreiben ist, werden wir an Hand von parallelen Vorgängen noch genauer feststellen können 54 ). In den Jahren 947 und 948 traten die Synoden von Verdun und Ingelheim zusammen, in denen versucht wurde, die beiden großen Konflikte des Westfrankenreiches zu schlichten: den Streit um die Herrschaft zwischen Ludwig IV. und Hugo dem Großen und den Streit um die Besetzung des Erzbistums von Reims zwischen Artold und Hugo von Vermandois. Die Anwesenheit Flodoards 55 ) an den Versammlungen verleihen seiner ausführlichen Darstellung einen besonderen Wert. Da ferner das Protokoll der Synode von Ingelheim 56 ) noch erhalten ist, ermöglicht der Vergleich eine noch feinere Untersuchung der Haltung des Annalisten. Beide Synoden fanden auf Reichsgebiet statt. Bedenken wir, daß es sich um zwei rein französische Angelegenheiten handelte, so mag uns dies etwas befremdend erscheinen. Welche Rolle spielte Otto? Die Synode von Verdun fand unter dem Vorsitz des deutschen Prälaten Robert von Trier statt und wies eine rein deutsche Beteiligung auf 6 '). Flodoard schien daran nicht den geringsten Anstoß zu nehmen. Ottos Bruder Bruno, damals Abt von Lorsch, vertrat durch seine bloße Anwesenheit in diskreter Weise die Interessen des sächsischen Hauses. Da er als Geistlicher an der ") M ) M ) M ) ")

Flodoard, Ann. 946, p. 101; Hist. Rem. IV, 32, Migne 135, c. 302. Flodoard, Ann. 947, p. 104; Hist. Rem. IV, 33, Migne 135, c. 303. 55 cf. pp. 40 ss. ) Lauer, Annales, pp. XI s. MGH, Const., t. I, pp. 1 2 - 1 6 . Flodoard, Ann. 947, pp. 106 s.; Schulze, p. 71; Heil, pp. 89 ss.

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Synode teilnahm, konnte dies auch für den Westfranken Flodoard kaum stoßend sein. 948 schickte der Papst Agapit seinen Vikar Marinus zu Otto I., um eine allgemeine Synode mit einer Beteiligung deutscher und französischer Prälaten einzuberufen 58 ). Es standen noch immer die gleichen Fragen zur Diskussion, von welchen die eine, die Rivalität zwischen Ludwig und Hugo, rein weltlichen Charakters war. Wieso hatte denn eine kirchliche Versammlung über weltliche Streitigkeiten zu richten? Zwei Gründe mochten dafür gesprochen haben: 1. Ludwig wollte keinen Herrn über sich anerkennen. Ein direkter Appell an Otto hätte eine Art Erniedrigung für Ludwig bedeutet. Da aber auf die eigenen westfränkischen Großen kein Verlaß war, konnte nur die Kirche den Fall entscheiden, ohne das Ehrgefühl des Königs und auch vieler Westfranken zu verletzen. Der deutsche Herrscher bot auf diese Weise nur noch die Mittel zum Urteilsvollzug an. 2. Von der Kirche aus gesehen bedeutet dieser weltliche Kampf eine Gefährdung des kirchlichen Friedens, eine Gefährdung der kirchlichen Ordnung und verlangte deshalb den Entscheid einer Synode. Richer führt später in seiner Darstellung die gleiche Überlegung an, wenn er den päpstlichen Legaten sagen läßt, daß man zuerst die Befehlsgewalt der königlichen Herrschaft wiederherstellen müsse, damit, wenn diese gesichert und die tatsächliche Macht in nützlicher Art gestärkt sei, darauf durch seine Freimütigkeit die Ehre der Kirche Gottes ruhig gedeihen könne 59 ). Trotz der stärkeren Vertretung deutscher Prälaten an der Synode können wir feststellen, daß Flodoard sie als eine absolut richtige Lösung zur Hebung des Streites betrachtete. Diese Form empfand er kaum als einen fremden Eingriff, und vom kirchlichen Standpunkt aus konnte er sie nur begrüßen. I m Bericht Flodoards über die beiden Konzilien stellt man beim Vergleich von Ludwig und Otto zwei wesentliche Züge fest: die rechtliche Stellung beider Könige ist eindeutig. Sie stehen auf gleich hoher Stufe. Dafür sprechen die äußeren Formen der Synode: Beide Könige betraten zugleich die Synode, beide M

) Flodoard, Ann. 948, pp. 109 ss.; Hist. Rem. IV, 35, Migne 135, c. 304. *») cf. Richer II, 72.



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setzten sich zur gleichen Zeit. Das „simul residentibus" ist ein Ausdruck dieser rechtlichen Gleichstellung60). Aber schon früh taucht ein Element auf, das dieses rechtliche Gleichgewicht zu stören und zu untergraben beginnt. Ich möchte es das Ansehen, die moralische Stellung nennen, welche Otto in dieser Versammlung in einem weit höheren Maße genoß. Wo kommt es zum Ausdruck? Schon zur Einberufung des Konzils hatte sich der Papst an Otto gewandt, obwohl es sich um eine französische Streitfrage handelte 61 ). Daß sich der Papst nicht an den westfränkischen König wandte, weil Ludwig in diesem Konflikt eine Partei vertrat, ist sicher ein wesentlicher, wenn auch nicht der entscheidende Grund. Durch den Appell des Papstes an den deutschen König wurde das französische Element durch ein gemischtes, vorwiegend deutsches ersetzt. Allein die Tatsache, daß Otto an der Synode teilnahm, die ihn inhaltlich kaum etwas anging, weist auf seine besondere Autorität hin 62 ). Auch Flodoard anerkannte diese Autorität; wir spüren es zwischen den Zeilen: Bevor sich Ludwig zu seiner Ansprache erhob, hielt er um die Einwilligung Ottos an 63 ), eine Haltung, die die bloß formelle Höflichkeit schon etwas zu überschreiten scheint. Wenn Otto die Synode offiziell auch nicht leitete, befand er sich doch faktisch in der einflußreichsten Stellung. Flodoard verwendet für Otto I. die Wendung „Domnus rex Otho". Wir begegnen ihr einmal in den Annalen 64 ), ferner fünfmal in der Kirchengeschichte von Reims 65 ), hier allerdings in der von Flodoard wiedergegebenen Rede des Erzbischofs Artold. Würde man diesen Ausdruck nur in der Rede Artolds vorfinden, so könnte man ihn ) ibid. 948, p. 111 : „ . . . et post lectiones sacrae auetoritatis ingressis gloriosis regibus Othone ac Ludowico, et simul residentibus, post . . . " Μ) ibid. 948, p. 109. β2 ) Dümmler, Otto der Große, pp. 161 ss.; Heil, pp. 89 ss.; Dümmler und Heil vertreten die Ansicht, daß Abt Hademar von Fulda aus politischen Gründen beim Papste in Rom weilte, zur Unterstützung der Ostpolitik Ottos und zur Einberufung des Konzils von Ingelheim. M ) Flodoard, Ann. 948, p. I I I : , , . . . exurgens Ludowicus rex et latere et consessu (vier Handschriften haben consensu) domni regis Othonis, proclamationis suae quaerimoniam propalavit coram praemisso Romanae sedis vicario ceterisque consedentibus episcopis . . . cf. Boye, p. 245. M ) Flodoard, Ann. 948, p. 112. «*) Flodoard, Hist. Rem. IV, 35, Migne 135, cc. 308 s. e0

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ganz einfach als eine Höflichkeitsform gegenüber dem fremden König abtun oder in ihm höchstens den Spiegel der Gedanken Artolds sehen. Dieser verwendet auch einmal, wie er von Ludwig spricht, das Wort „domnus", braucht sonst aber den Ausdruck „senior" 66 ). Daß die Gegenüberstellung von „domnus rex" (für Otto) und „rex" (für Ludwig) sich in den Annalen findet — eine automatische Übernahme des Begriffes aus der Reimser Geschichte kommt nicht in Frage, weil Flodoard in den Annalen beinahe überhaupt nicht auf die Rede Artolds eingeht—, scheint mir doch den besonderen Wert des Ausdrucks „domnus" hervorzuheben. „Domnus" ist ein Ehrentitel für Otto, daran ist kaum zu zweifeln. Wie andere mittellateinische Schriftsteller 67 ) braucht ihn Flodoard vor allem für die Bezeichnung hoher Kirchenfürsten, j a sogar des Papstes selbst68). U m einen rechtlichen Titel kann es sich auf keinen Fall handeln, so daß jede Deutung im Sinne eines lehensrechtlichen Verhältnisses außer Frage steht. Dies scheint gerade die Gegenüberstellung des Ehrentitels (domnus rex Otho) und des rechtlichen Begriffes (Ludowicus senior meus) zu beweisen 69 ). Die auch von Flodoard ohne weiteres anerkannte starke moralische Stellung Ottos beruhte weitgehend auf seiner tatsächlichen Macht, die dem Konzil erst seine Wirkungskraft verlieh. Darin lag wohl auch ein weiterer Grund, warum man sich an Otto gewendet hatte, um die Synode einzuberufen. An diese Macht appellierte Ludwig am Schluß seiner Rede, wenn er den Entscheid dem Konzil u n d dem Antrag Ottos überließ: „Wenn jemand zu all dieser Schmach, die er nach der Übernahme der ««) ibid. c. 308. «') cf. Ducange III, p. 176. « ) Flodoard, Ann. 948, pp. 109, 113, 120; Hist. Rem. IV, 35, Migne 135, cc. 304, 308, 309, 312. e9 ) Man hat sich allerdings zu hüten, die nicht elidierten Formen (dominus, domina) in gleicher Weise wie die elidierten Formen (domnus, domna) als reine Ehrentitel anzusehen. Es handelt sich um zwei verschiedene Ausdrücke. „Domnus" und „Domna" sind durch die lebendige Sprache in ihrer ursprünglichen Bedeutung abgeschliffen, wenn sie auch auf das klassisch lateinische „dominus, domina" zurückgehen. Ihnen gegenüber haben die beiden gebildeten Formen den ursprünglich-rechtlichen Charakter bewahrt. In diesem rechtlichen Sinne, d. h. in der Bedeutung von Herrin, ist deshalb auch „domina", die Bezeichnung Gerbergas, in der gleichen Rede Artolds zu verstehen.

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Königsgewalt habe erdulden müssen, ihm vorwerfen wolle, dieses Unrecht sei ihm infolge seines eigenen Verschuldens angetan worden, so wolle er sich rechtfertigen durch den synodalen Entscheid und die Anordnung König Ottos oder durch Einzelkampf seine Sache verteidigen lassen" 70 ). Ottos Meinung und der Entscheid des Konzils werden auf die gleiche Stufe gestellt, was j a der rechtlichen Lage nicht entsprach. — Im gleichen Jahr bat Ludwig Otto um bewaffnete Hilfe 71 ), im gleichen Jahr, an der Synode von Trier, schleuderte der päpstliche Vikar auf Antrag Liudulfs, des Kaplans Ottos, den Bann gegen Hugo den Großen 72 ). Dieses nachträgliche Ereignis bildete nur noch den Schlußstein zu den Synodalbeschlüssen von Ingelheim und beleuchtet aufs eindrücklichste die tatsächliche Lage der Dinge. In dieser Situation fällt wieder die Gleichmütigkeit und die unparteiische Haltung Flodoards auf, der dies alles, beinahe unbekümmert um das Prestige seines Herrschers, zu erzählen scheint. Der Leser erhält hier den Eindruck, daß durch die Erhaltung der rechtlichen Gleichstellung der beiden Könige die Ehre des westfränkischen Herrschers unangetastet blieb und Flodoard sich deswegen kaum verletzt fühlen konnte. Gerade dadurch, daß Otto vor allem durch seine Persönlichkeit, die allerdings durch die reelle Macht gestützt wurde, auf die westfränkischen Verhältnisse zu wirken versuchte, mußte er dem Westfranken vielmehr als Helfer denn als fremder Protektor erscheinen. Ein kurzer Vergleich mit dem Protokoll der Synode 73 ) wird uns schließlich noch einmal deutlich zeigen, wie wenig parteiisch Flodoard war, wie wenig man bei ihm irgendein Ressentiment gegenüber der Macht der sächsischen Dynastie spürt. Das Protokoll stammt meines Erachtens von deutscher H a n d und eignet sich deshalb besonders gut zu einem Vergleich mit Flodoard. Ein westfränkischer Schriftsteller würde wohl kaum Hugo den Großen, den bedeutendsten Vasallen des westfränkischen Reiches, mit „quidam princeps, Hugo nominatus" bezeichnet haben. Das 70

) Flodoard, Ann. 948, p. 112: „De his omnibus malis, quae post regni susceptionem passus fuerat, si quis obiceret quod sui facinoris causa eidem fuissent illata, inde se juxta synodale judicium et regis Othonis praeceptionem purgaret vel certamine singulari defenderet." 71 73 } ibid. 948, p. 115. ' 2 ) ibid. 948, p. 119. ) v. n. 56. 38

Protokoll weist dieselben Tendenzen im Ausdruck auf wie die Darstellung Flodoards: Rechtlich stehen beide Herrscher auf gleicher Stufe. Otto ist der „serenissimus rex", Ludwig der „inclitus et illustrissimus rex". Auch hier — und in viel auffallenderer Weise — trennt die beiden rechtlich gleichen Könige ein gewaltiger Unterschied an Würde und moralischem Ansehen. Kennt man die Bedeutung der äußeren Form, der Gebärde, des menschlichen Verhaltens im Mittelalter als Maßstab für die Größe eines Herrschers, so wird Ludwig durch seinen „satis lacrimosus conquestus" vernichtend gewertet. Er, der rechtlich gleichgestellte Herrscher, verliert sein Gesicht neben der würdevollen Erscheinung König Ottos. Ist es nicht bezeichnend, daß gerade in der Darstellung Flodoards dieser durch das persönliche Verhalten gegebene Unterschied der beiden Herrscher einen schonungsvolleren Ausdruck findet? — Das Urteil am Schluß weist wieder auf die rechtlichen Bahnen zurück, es wird selbstverständlich durch die Geistlichen gefällt. Flodoard zeigt, daß Otto einen ganz überragenden Einfluß im Westfrankenreich erhalten hatte, einen Einfluß, wie ihn seine Vorgänger Arnulf von Kärnten und Heinrich I. wohl kaum je ausgeübt hatten. Auf irgendeine besondere Antipathie scheint er dabei nicht gestoßen zu sein. Wir haben schon beiläufig auf einige Elemente hingewiesen, die diese Haltung erklären. Die Autorität Ottos beruhte aber nicht allein auf seiner Macht und auf der klugen Art, mit der er sie einzusetzen verstand, ohne die Westfranken zu kränken. Es bestand noch eine weitere, sehr entscheidende Bindung zwischen Ost- und Westfrankenreich: die F a m i l i e . Diese Bande wirkten schon vor 948; ihre Bedeutung wuchs aber nach der Synode gewaltig. Der Wert der Blutsbande im Mittelalter ist wohl kaum zu überschätzen; erst wenn man ihn kennt 74 ), wird man auch die politische Wichtigkeit der Fürstenheiraten in ihren richtigen Dimensionen verstehen und ihren reellen Einfluß auf die geschichtliche Entwicklung begreifen. •— Ottos Schwester Hadwig war mit Hugo dem Großen verheiratet (937), Ottos Schwester Gerberga mit Ludwig IV. (939). Die Ereignisse betrafen also nicht drei einander fremd gegenübercf. Bloch, Sociite Nodale, t. I, pp. 191-221, und vor allem pp. 219 33.

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stehende Fürsten, den deutschen König Otto, den westfränkischen König Ludwig und den Frankenherzog Hugo, sie drehten sich um das Verhältnis dreier Schwäger, Ottos, Ludwigs und Hugos 75 ). Blättern wir nur etwas bei Flodoard! 949 reiste Gerberga nach Aachen zu ihrem Bruder, um mit ihm Ostern zu feiern 76 ). Dort waren viele Gesandte verschiedener Völker anwesend: Griechen, Italiener, Engländer und Vertreter anderer Nationen. 950 ging Ludwig über die Mosel zu Otto, um dessen Vermittlung zu erhalten 77 ). 951 schickte Ludwig eine neue Gesandtschaft zu Otto. I m selben J a h r lud Otto Hugo von Franzien zu sich ein und feierte Ostern mit ihm, beschenkte ihn sogar reichlich beim Abschied 78 ). Schon vor 948 haben wir eine solche gemeinsame Osterfeier beobachtet, eine Feier im Kreise der ottonischen Familie, zu welcher sich Hugo und Ludwig schon seit einiger Zeit zählen konnten 79 ). Schon vorher verfolgten wir westfränkische Gesandtschaften am Hofe Ottos I. Alle diese Vorfälle wurden immer häufiger und diese halb familiären, halb politischen Zusammenkünfte in ihrem eigentlichen Wesen immer unentwirrbarer. Die dynastische Unterbauung des ottonischen Einflusses trug nun in den westfränkischen Verhältnissen ihre Früchte —• auch in ihrer psychologischen Wirkung auf die Westfranken. Wenn Gerberga nach Aachen reiste, mit ihrem Bruder Ostern feierte, so tat sie im Grunde dasselbe, was alle die unzähligen Gesandtschaften taten, sie trug durch ihre Anwesenheit zum Ruhme des deutschen Herrschers bei. Und doch war ihre Rolle nicht w

) cf. Isenburg, t. I, Tafel 3; t. II, Tafel 13. ) Flodoard, Ann. 949, p. 122: „Gerberga regina proficiscitur ad fratrem suum Othonem regem et Aquisgrani palatio pascha cum ipso celebrat. Ibi tunc diversarum gentium affuere legationes, Graecorum scilicet, Italicorum, Anglorum et aHorum quorumdam populorum." ") ibid. 950, p. 126. 78 ) ibid. 951, p. 130: „Pro qua re valde molestus rex Ludowicus, legationem suam dirigit ad Othonem. Hugo princeps ad eundem regem Othonem invitatus ad ipsum vadens, duos illi praemisit leones, et ipse mox subsecutus honorifice ab eodem in diebus Paschae susceptus est, decenterque habitus ab eo, per ipsos paschalis sollemnitatis dies exultanter Aquis cum ipso mansit; multisque donis opime ab eo muneratus revertitur, deducente se duce Chonrado usque ad fluvium Maternam." 79 ) ibid. 947, p. 104; Hist. Rem. IV, 33, Migne 135, c. 303. 7e

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so erniedrigend, denn als Schwester des gefeierten Herrschers wurde auch sie wiederum geehrt. Otto war also für die Westfranken weniger der große fremde Herrscher als vielmehr der mächtige Verwandte des königlichen Hauses, der eine Art patriarchalische Stellung inmitten einer großen königlichen und fürstlichen Familie einnahm. Auf dieser eigenartigen Verbindung von Verwandtschaft und Politik beruhte sicher ein großer Teil des Erfolges Ottos des Großen bei den Westfranken. Abgesehen von den rein persönlichen Bindungen innerhalb einer Familie, die Otto menschlich an den westfränkischen Problemen interessierten, hielt er ein Mittel in der Hand, durch welches er wohl mindestens ebenso stark wirken konnte als über die Kirche, wie es zum Beispiel bei Ingelheim noch der Fall gewesen war. Diese Betonung der Familie in den Beziehungen zu den Ottonen brach nun aber nicht etwa ab mit den neuen Plänen Ottos des Großen in Italien und mit seiner persönlichen Abwendung von den westfränkischen Verhältnissen. Sie wurde noch in verstärktem Maße weitergeführt. 953 wurde Bruno Erzbischof von Köln und zugleich Herzog von Lothringen. Er übernahm fortan die Rolle seines königlichen Bruders im Verkehr mit den Westfranken. Um die genau gleichgehende Entwicklung zu verfolgen, braucht man j a nur in den Annalen weiterzulesen. Die Osterfeste geben beinahe ein Stimmungsbarometer für die damaligen Verhältnisse. 955 nach dem Tode Ludwigs IV. feierte Gerberga mit ihrem noch unmündigen, aber schon zum König gewählten Sohn Lothar Ostern beim mächtigen Herzog von Franzien in Paris. Denn sie war im Augenblick auf die Unterstützung ihres herzoglichen Schwagers angewiesen 80 ). Es war dies auch gerade der Augenblick, wo Hugos Macht auf ihrem Höhepunkt stand, und deshalb erscheint es symptomatisch, daß er seine liebe Schwägerin und seinen kleinen königlichen Neffen so freundlich zum Osterfeste einlud. Aber diese augenblickliche Verschiebung des Gleichgewichtes im Westfrankenreich nach dem Tode Ludwigs hatte den Einfluß des ottonischen Hauses, d. h. Brunos von Köln, nicht ausgeschaltet. Denn schon im Jahre 954 nahm Bruno als einziger Deutscher an der Wahl Lothars teil und wurde sogar von Flodoard 80

) Flodoard, Ann. 955, p. 140; cf. Lot, Derniers Carolingiens, pp. 8 s., der auf diese Situation schon eingehend hingewiesen hat.

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an zweiter Stelle, unmittelbar nach Hugo von Franzien, erwähnt 81 ). 959 feierten Lothar und Gerberga Ostern bei Bruno in Köln. König Lothar ging mit der Königinmutter in den Ostertagen nach Köln, um während der Festlichkeiten mit seinem Onkel Bruno zu bleiben. Nachdem er ihm Garantien für die Herrschaft in Lothringen gegeben hatte, und vom Onkel einige Geschenke erhalten hatte, kehrte er nach Laon zurück 82 ). Brunos Stellung war seit drei Jahren, seit dem Tode Hugos von Franzien, beinahe unumschränkt. Sie wurde noch einflußreicher, als sie zur Zeit Ottos gewesen war. Denn Bruno war Onkel des jungen Königs und zugleich Onkel des jungen Herzogs Hugo von Franzien. Als Onkel vertrat er die ältere, erfahrenere Generation, konnte sich also sicher eines größeren Einflusses erfreuen, als es unter Schwägern möglich gewesen war. Immer wieder nennt Flodoard Bruno „avunculus", gibt den Eingriffen Brunos jenen familiärpatriarchalischen Klang, der uns ganz vergessen läßt, daß Lothar anläßlich dieses Festes — wohl kaum ohne Widerstreben •— seinem Onkel Lothringen ausdrücklich abtreten mußte. Man könnte kein schöneres Beispiel finden, um das Wesen des politischen Einflusses Brunos im Westfrankenreich zu zeigen. Blicken wir noch einmal auf diese Reihe von Osterfesten zurück, so ist es auffallend, daß die Ottonen nie Gäste des französischen Königs gewesen waren, diese aber sehr oft am deutschen Hofe weilten. Die Einseitigkeit der Gastfreundschaft war sicher eine Manifestation des überlegenen Einflusses der Ottonen; es scheint doch Brauch gewesen zu sein, daß der Mächtigere seinen schwächeren Freund zu sich einlud, daß der Schwächere sich zum Stärkeren bemühte. Bei der Tendenz des Mittelalters, der Handlung gerne eine innere Bedeutung beizulegen, dürfen wir die Reisen nicht als bloße Zufälle übergehen. Man kennt j a die 81 8a

) Flodoard, Ann. 954, p. 139. ) ibid. 959, p. 146: „Anno DCGCCLIX. Bruno iterum in Franciam venit, et apud Compendium cum regina, sorore, ac nepotibus suis discordantibus, pro quibusdam castris quae rex Lotharius ex Burgundia reeeperat, colloquium habuit; obsidisbusque datis, pacem inter ipsos usque ad futurum placitum pepigit. Lotharius rex, cum matre regina, Coloniam proficiscitur in diebus Paschae, moraturus hac festivitate cum avuneulo suo, Brunone. Dataque illi securitate de regno Lothariense, et, quibusdam aeeeptis ab avuneulo donis, Laudunum revertitur."

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Schwierigkeiten, die die Begegnungen von zwei gleich mächtigen Herrschern bereiten konnten, wenn keiner der beiden den ersten Schritt zu unternehmen gewillt war, beide auf dem gegenüberliegenden Ufer eines Grenzflusses verharren konnten, bis man das Schiff eines dritten herbeibrachte, es in der Mitte des Flusses verankerte und die Zusammenkunft dort stattfand. Ähnliche zeremonielle Probleme entstanden auch bei der Begegnung eines empörten Vasallen mit seinem Herrn 83 ). Flodoard, dem die formelle Bedeutung dieser Begegnung wie allen seinen Zeitgenossen bekannt sein mußte, hat die Reisen der westfränkischen Könige nach Deutschland klar und deutlich geschildert und zeigte damit einmal mehr, wie wenig er gegen die sächsische Dynastie eingenommen war. Hier hat allerdings wieder der mildernde Umstand mitgewirkt, daß es sich um eine Familienzusammenkunft und nicht um den Gang zu einem mächtigen fremden Fürsten handelte. Auch bei anderen Gelegenheiten griff Bruno als Vermittler, als väterlicher Berater in die westfränkischen Verhältnisse ein: 956: „die Königin Gerberga hielt eine Besprechung mit Bruno, ihrem B r u d e r , ab" 84 ). 957: „König Lothar eilte mit seiner M u t t e r und seiner T a n t e , der W i t w e Hugos, seinem O n k e l Bruno in den Gau von Kammerich entgegen" 85 ), ein prächtiger Familienrat! 958: „Bruno, der Erzbischof von Köln, zog mit einem lothringischen Heer durch Franzien nach Burgund, um mit seinen S c h w e s t e r n und den N e f f e n zu sprechen" 86 ). 959: „Im Jahre 959 kam Bruno wieder nach Franzien und hatte eine Besprechung bei Compiegne mit der Königin, seiner S c h w e s t e r und seinen Neffen, die um einige Plätze haderten, welche König Lothar in Burgund wieder besetzt hatte. Nachdem sie Geiseln gestellt hatten, Schloß er Frieden M)

Michael, pp. 1 7 - 3 8 . Flodoard, Ann. 956, p. 143: „Gerberga regina colloquium habuit cum Brunone, fratre suo." 85 ) ibid. 957, p. 144: „Lotharius rex cum matre et amita sua, relicta Hugonis, obviam pergit in pagum Camaracensem avunculo suo Brunoni." 84 1 ibid. 958, p. 146: „Bruno Coloniensis archiepiscopus cum exercitu Lothariensium per Franciam proficiscitur in Burgundiam, locuturus cum sororibus ac nepotibus suis." cf. Lot, Derniers Carolingiens, p. 2 4 ; Dümmler, Otto der Große, p. 299. 84 )

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zwischen den Streitenden bis zur nächsten Zusammenkunft. An Ostern reiste König Lothar mit der KöniginMutter nach Köln, um während dieser Festlichkeiten bei seinem O n k e l Bruno zu bleiben" 87 ). — „Graf Robert griff das Schloß Dijon an und vertrieb die Leute des Königs. Bruno, der auf Begehren des Königs und der Königin deshalb herbeigerufen worden war, kam mit Lothringern und anderen ihm unterworfenen Scharen nach Burgund" 88 ). 962: „Im Jahre 962 verlangte die Königin Gerberga eine Unterredung mit ihrem B r u d e r Bruno, und da riet ihr der B r u d e r , sie solle das Reimser Bistum nicht Hugo zurückgeben, wie es dessen Brüder verlangten" 89 ). Bei der Wahl des neuen Erzbischofs von Reims stoßen wir wieder auf den maßgebenden Einfluß Brunos, wenn auch, vom rechtlichen Standpunkt aus gemessen, die Einmischung eines deutschen Prälaten in die Wahl nicht begründet war. „Eine von Papst Johann geschickte Gesandtschaft schüchterte den oben erwähnten Hugo ein, den ehemaligen Bischof, der sowohl vom Papste selbst als auch von der gesamten römischen Synode exkommuniziert worden war, sowie auch noch von einer anderen, in Pavia zusammengetretenen Synode. Durch den Einfluß Brunos hatten wir wieder mehr Vertrauen auf die Gesandtschaft gefaßt und wählten Odalrich, einen berühmten Kleriker, den Sohn eines Grafen Hugo, mit dem Einverständnis König Lothars, der Königin-Mutter und des schon genannten Bruno zum Erzbischof von Reims" 90 ). «') Flodoard, Ann. 959, p. 146, v. n. 82. M ) ibid. 959, p. 147: „Castrum Divionem Rotbertus comes invadit, regis expulsis fidelibus. Quapropter accitus Bruno, regis ac reginae petitione, in Burgundiam venit cum Lothariensibus aliisque sibi subditis populis; . . . " 8i ) ibid. 962, p. 150: „Anno DCCCCLXII, Gerberga regina fratris Brunonis colloquium petiit eique hic frater ejus ne Hugoni Remense redderet episcopium prout fratres ipsius petebant suggessit." 90 ) ibid. 962, pp. 153 s.: „Legatio, veniens a Johanne papa intimat praefatum Hugonem, quondam episcopum, tam ab ipso papa quam ab omni Romana synodo excommunicatum, sed et ab alia synodo apud Papiam celebrata. Cujus legationis redditi certiores per Brunonem archiepiscopum, elegimus ad episcopatum Remensem Odelricum, illustrem clericum, Hugonis cujusdam comitis filium, favente Lothario rege cum regina matre praefatoque Brunone."

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Zeugen diese Sätze nicht vom lebendigen Wirken einer großen europäischen Fürstenfamilie? Führen sie nicht eindrücklich die patriarchalische Stellung der beiden Vertreter des ottonischen Hauses vor Augen, sei es in den Festversammlungen, sei es in den politischen Beratungen? Sprechen sie aber nicht auch für das Gewicht, das der westfränkische Chronist diesen dynastischen Bindungen zusprach? Der patriarchalisch-dynastische Einfluß gestattete Bruno weit über die ihm gesetzten rechtlichen Schranken hinaus einzugreifen, ohne sich eine rechtlich höhere Stellung anzumaßen. Er hardelte als Onkel und Bruder, höchstens als Erzbischof, d. h. als Würdenträger der Kirche, die ihre abendländische überdynastische Bedeutung immer noch bewahrt hatte 91 ). Nie aber tritt Bruno im Bilde Flodoards als Exponent deutscher Politik auf. Konnte sich Otto noch auf sein Königtum berufen, war er dem westfränkischen König dadurch wenigstens ebenbürtig, so besaß Bruno nur noch das Prestige des Onkels und Erzbischofs, was die stärkere Betonung seiner patriarchalischen Politik noch verständlicher machen muß. Aus den Schriften Flodoards ist deutlich zu erkennen, wie Otto der Große schon vor 962 weit über seine rechtlichen Grundlagen hinausgriff. Dankseiner Persönlichkeit und seiner tatsächlichen Macht konnte er auf die Bitte des Papstes hin die Rolle des Kirchenvogtes übernehmen und kümmerte sich als solcher um die westfränkischen Konflikte. Das persönliche Ansehen war es aber auch, neben seinem Alter, welches ihm die Führerrolle innerhalb der großmächtigen ottonischen Königsfamilie zukommen ließ. Diese Aufgabe zwang ihn, zusammen mit seinem Bruder Bruno durch Persönlichkeit und Ansehen die Verhältnisse seiner westfränkischen Verwandten zu ordnen. Seine „ Auctoritas" wirkte durch die Kirche und die Dynastie. „Auctoritas" ist aber auch nach Holtzmanns Auffassung die Grundlage kaiserlicher Gewalt in den sonst souveränen Staaten 92 ), so daß man daraus schließen könnte, daß Otto I. schon vor 962 auch in den Augen des westfränkischen Chronisten eine kaiserliche Stellung einnahm. Ist dies richtig? Warum zeigt Flodoard dieses Wirken immer in einem dynastischen und kirchlichen Licht? Seine Haltung zum neu entstan,:1 M

) Kawerau, pp. 58 s.; cf. auch Holtzmann, Otto der Große, pp. 41 s. ) cf. den Begriff der „Auctoritas" bei Holtzmann, Weltherrschaftsgedanke, pp. 2 5 1 - 2 6 4 .

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denen Kaisertum von 962 kann vielleicht einen Aufschluß geben. Brachte der Chronist die neu erworbene Kaiserwürde sofort in Beziehung mit der „auctoritas", die Otto schon besaß? Hatte sie f ü r ihn keine Bedeutung oder ignorierte er sie vielleicht sogar bewußt infolge eines westfränkischen Ressentiments? D a s K a i s e r r e i c h v o n 962 Es erübrigt sich, auf eine genauere semantische Untersuchung des Wortes „Imperium" bei Flodoard einzugehen, weil der Begriff vom Chronisten in den verschiedensten Bedeutungen verwendet wurde, die einzig aus dem gesamten Satzinhalt zu verstehen sind 93 ). Was erzählt Flodoard von der Erneuerung des Imperiums durch Otto den Großen? Er erwähnt schon den Versuch, den Otto 952 unternahm, um vom Papste die Kaiserkrone zu erlangen 94 ). Die eigentliche Kaiserkrönung von 962 findet sich ebenfalls in den Annalen vermerkt 95 ). Von diesem Moment an nennt Flodoard Otto „imperator" 96 ), nicht mehr „rex". Die Genauigkeit bei der Verwendung des Titels, der wir bei Richer nicht mehr begegnen werden 97 ), erinnert unwillkürlich an die Scheidung der Begriffe „princeps" und „rex", auf welche wir oben eingegangen sind. Wenn also Flodoard die Kaiserkrönung erwähnt, sie zugleich durch die genaue Differenzierung von „imperator" und „rex" zu betonen scheint, so ist damit noch nicht gesagt, daß er sich nach der Wiedervereinigung des alten Reiches Karls des Großen zurücksehnt oder von irgend einem ,3

) Imperium „Befehl": Flodoard, Triumph. Ital. IX, 9, Migne 135, c. 757. Imperium „Macht, Reich": ibid. VII, 1, Migne 135, c. 711; ibid. XI, 5, Migne 135, c. 796. Imperium „Römisches Reich": ibid. XI, 5, Migne 135, c. 795; ibid. VIII, I, Migne 135, c. 731. Imperator „Kaiser", verwendet zur Bezeichnung römischer Kaiser: ibid. X, 24, Migne 135, c. 785. Zur Bezeichnung der fränkischen Kaiser Karl, Ludwig und Lothar: Flodoard, Hist. Rem. II, 18, Migne 135, cc. 125, 127; ibid. II, 19, Migne 135, cc. 130, 131, etc. M ) Flodoard, Ann. 952, p. 133. •5) ibid. 962, p. 151: „Otho rex Romam pacifice adiit et amabiliter exceptus, atque honore illic imperiali sublimatus est." ") ibid. 965, pp. 157 s. ") Richer III, 57; III, 85.

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universalen Reiche träumt, dessen Realisierung er von den Ottonen erwartet. Die Erinnerung an das fränkische Kaisertum war bei Flodoard sicher nicht ganz erloschen. Sonst hätte er wohl kaum mit solcher Eindrücklichkeit in seinen Heiligengeschichten die Krönung Karls des Großen in Rom geschildert: „Unter dem Klang feierlicher Lobgesänge und begleitet von Ehrungen von höchster Pracht, empfängt der König vom Apostolischen Stuhl die kaiserliche Krone. Weit ausgerufen wird diese durch die römischen Väter noch erhöhte Würde und die Szepter der Franken strahlen im Glänze des Imperiums, der Sohn eines Königs und zur Herrschaft geboren, richtet sich auf durch die heilige Salbung" 98 ). Dieses in strahlenden Feierlichkeiten geschaffene Kaisertum Karls war noch an Rom gebunden. Es vereinigte die verschiedenen Szepter der Franken. Die Erinnerung an dieses Gesamtreich, das sein einigendes Band durch die römische Kirche erhielt, war bei Flodoard nicht erloschen. Etwas weiter unten berichtet der Chronist über die Kaiserkrönung Ludwigs des Frommen in Reims: „Eifrig bemüht um die Erhaltung des Friedens, voller Sorge um die Wahrung der kirchlichen Rechte, eilte er (Papst Stephan) entschlossen in die ruhmvollen Reiche der Franken. Bald diente ihm der königliche Hof in frommer Anerkennung der päpstlichen Hoheit und stellte ihm großartige Gaben zur Verfügung. Da erhebt er unsere himmlische Kirche von Reims, durch welche die Franken das Licht des Glaubens empfangen haben, indem er sie zur Krönungskirche schmückt: Er schenkt Ludwig die Krone des Reiches und die leuchtenden kaiserlichen Ehren. Durch den erhabenen Stolz des hohen Herrschers erhöht er die Stellung der Leute des heiligen Remigius und erhält alles, was er verlangt vom frohen Kaiser. Dazu kommen noch f ü r den Hochgeehrten prächtige Geschenke, j a sogar Sitz und Recht am Hof verleiht ihm der Mitregent des römischen Reiches und Erbe M

) Flodoard, Triumph. Ital. XI, 10, Migne 135, c. 810: „Laudibus eximiis summique nitoris honore Sumit apostolica augustam rex sede coronam. Conclamatur honos Romanis Patribus anctus, Imperiique nitent Francorum sceptra decore, Regis et ad regnum genitus sacro unguine surgit."

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der höchsten Würde, indem er Petrus zum Erben in den fränkischen Besitzungen einsetzt" 99 ). Was veranlaßte Flodoard, die beiden Krönungen in den kirchlichen Gedichten anzuführen? Was brachte ihn dazu, sogar Ereignisse in den „Triumphen Christi in Italien" darzustellen, die sich nicht einmal in Italien abspielten? Die Erinnerung an die beiden Kaiser und die Universalität des römischen Reiches an sich standen nicht im Zentrum des Interesses. Es ging vielmehr um die Ehren der Kirche und ihre Stellung, die sie durch die Krönung erhielt. Flodoard dachte aber nicht allein an die Kirche im allgemeinen, sondern ihm lag vor allem die Kirche von Reims am Herzen. Ein Vergleich der beiden Krönungen erhob Reims in den Augen des Lesers zu einem zweiten Rom und gab dieser Kirche eine Ehrung, der dessen mächtige Rivalin von Sens nichts Ebenbürtiges gegenüberstellen konnte. Denn man darf nicht außer acht lassen, daß in jener Zeit Reims noch gar nicht die alleinige Krönungsstadt der französischen Könige war 100 ). Aus demselben kirchlichen Denken heraus schilderte Flodoard die Reimser Kaiserkrönung von 816 aufs eingehendste in der Reimser Kirchengeschichte. Sie war j a die kirchliche Krönung Ludwigs im Gegensatz zur laischen Kaiserkrönung von 813 in Aachen: „Der schon oben erwähnte Erzbischof Ebo empfing mit König Ludwig den Papst Stephan in Reims, nachdem derselbe m

) ibid. c . 8 1 0 : Interessant ist die B e z e i c h n u n g „Consors i m p e r i i " f ü r den K a i s e r . Flodoards kirchliche H a l t u n g tritt d a m i t noch viel klarer in Erscheinung. „Servandaeque studens paci,firmandaque jura Ecclesiae curans, Francorum illustria promptus Regna petit, cui celsa piis mox regia servit Obsequiis culto, donisque potentibus uso. Effert hinc nostram coeli, qua Francica lumen Gens subiit fidei Ecclesiam, Remense venustans Officii templum: Lodowico stemmata regni Caesareosque addens augustae lucis honores, Remigiique apicisfastu Sublimat alumnos, Caesare quae poscit meritis gaudente capessit: Insuper accedunt donorum insignia macto Quin etiam sedes et jura domestica confert Imperii consors Romani et culminis haeres, Haeredem faciens in Francica praedia Petrum."

l0°)

S c h r a m m , K ö n i g von F r a n k r e i c h , pp. 112 — 120.

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König die Slawen im Osten gerade besiegt und mit seinem Heer unterdrückt hatte; als der genannte Papst Stephan, der Nachfolger Leos, seihe Gesandten zu diesem Fürsten (princeps!) schickte, ließ er ihm mitteilen, daß er ihn gerne sehen möchte, an irgend einem Orte, wie es ihm am besten gefalle. Wie der König dies hörte, ergriff ihn eine große Freude, und er befahl seinen Boten, dem hochwürdigen Papste entgegenzugehen und die Feierlichkeiten vorzubereiten. Nach ihnen brach auch der König selbst auf; sie begegneten sich auf dem großen Felde von Reims, und beide stiegen von ihren Pferden. Und der Herrscher (princeps) warf sich dreimal zu Boden vor die Füße dieses so großen Papstes; sie begrüßten sich gegenseitig aufs ehrenvollste und umarmten und küßten sich in Frieden; dann gingen sie zur Kirche, wo sie lange im Gebet verharrten; der Papst erhob sich und sang mit seinem Chor mit gehobener Stimme dem König die königlichen Laudes. Nachher ehrte der Papst ihn mit vielen hohen Ehren, in gleicher Weise auch die Königin Hirmingard, schließlich auch die Großen und ihre Dienstleute. Am folgenden Sonntag vor dem Hochamt der Messe weihte und salbte er ihn in der Kirche zum Kaiser vor dem Klerus und dem ganzen Volke. Er setzte ihm eine goldene Krone von wunderbarer Pracht, die mit den kostbarsten Gemmen besetzt war und die er mit sich gebracht hatte, aufs Haupt. Die Königin nannte er Augusta, und setzte ihr eine goldene Krone auf. Und solange der Apostolische Vater dort blieb, unterhielten sie sich täglich über die Interessen der heiligen Kirche Gottes. Doch nachdem ihn der Kaiser mit großartigen Geschenken bedacht hatte, mit weit kostbareren, als er von ihm erhalten hatte, entließ er ihn in Begleitung seiner Legaten nach Rom, welchen er befahl, auf dem ganzen Weg ihm den geschuldeten Ehrendienst zu leisten" 101 ). 101

) Flodoard, Hist. Rem. II, 19, Migne 135, cc. 129 s.: „Hic Ebo praesul supra memoratum papam Stephanum cum Ludovico rege Remis suscepit, postquam rex idem Sclavos in Oriente positos directo devicit, et oppressit exercitu: quando praefatus papa Stephanus, qui Leoni successerat, legatos suos ad eumdem prineipem destinans, intimavit ei, quod libenter eum videre vellet in loco ubicunque ipsi placuisset. Quod audiens rex, magno repletus gaudio, iussit obviam missos suos ire summo pontifici, et servitia praeparare. Post quos et rex ipse perrexit; obviaveruntque sibi in campo magno Remensium, et descendit uterque ab equo suo. Et princeps prostravit se in terram tertio ante pedes tanti pontificis; salu-

4 Bezzola

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War auch der Glanz des fränkischen Kaisertums von Flodoard nicht vergessen, so liegt auch bei dieser Beschreibung das Hauptinteresse nicht auf der Persönlichkeit des Kaisers und auf seiner neuen Stellung. Flodoard verherrlicht die Bedeutung der Kirche und die Ehrung von Reims als Krönungsstadt. Schon allein die Tatsache, daß die Krönungszeremonie mit einer Inschrift und mit zwei Akten in Zusammenhang gebracht wird, die vom Neubau der Kirche berichten, offenbart die engere Perspektive des Klerikers von Reims 102 ). Der neue Kaiser ehrte die Kirche als Dank f ü r die Würde, die er an diesem Ort erhalten hatte. Der Hintergrund der Rivalität zwischen Reims und Sens ist auch hier nicht zu vergessen. An allen 3 zitierten Stellen über die Krönungen fällt die kirchlich geprägte Auffassung des abendländischen Kaisertums auf. Die entscheidende Rolle spielten —• wie übrigens schon bei der Königswürde — Weihe und Salbung, d. h. die kirchliche Legitimierung. Das karolingische Kaisertum war nicht vergessen, es besaß aber im Grunde eine Stellung ohne jegliche eigene Initiative, da es nur durch die Kirche bestand. Wohl nannte es der Chronist die höchste weltliche Ehrung, die die Kirche zu vergeben hatte, nirgends aber weist er auch nur andeutungsweise auf die Rechte und Pflichten hin, die mit dieser Würde verbunden gewesen wären, nirgends erwähnt er eine universale weltliche Einheit, die es hätte verkörpern können. Wir werden uns deshalb verständlicherweise fragen, wenn wir in den Annalen lesen, daß Otto I. 962 „honore imperiali sublimatus est", ob wir taveruntque se invicem magnifice, et amplexantes se deosculati sunt pacifice, perrexeruntque ad ecclesiam, ubi cum diu orassent, erexit se pontifex, et excelsa voce cum choro suo fecit regi laudes regales. Postea pontifex honoravit eum magnis et multis honoribus, ac reginam pariter Hirmingardim, dein et optimates atque ministros eorum. Proximaque die Dominica, in ecclesia ante missarum solemnia, coram clero et omni populo, consecravit et unxit eum in imperatorem, coronam mirae pulchritudinis auream prestiosissimis gemmis ornatam, quam secum detulerat, imponens super caput ejus. Reginam appellavit Augustam, et coronam auream posuit super caput ejus. Et quandiu mansit ibi apostolicus papa, quotidie colloquium habuere de utilitate sanctae Dei Ecclesiae. At postquam imperator eum maximis muneravit donis, amplioribus multo quam suscepisset ab eo, dimisit eum cum legatis suis Romam reverti, quibus praecipit ubique in itinere honestum ei servitium exhibere." 102 ) Flodoard, Hist. Rem. II, 19, Migne 135, cc. 127 s., 130 s.

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„honos" einzig mit „Ehre" zu übersetzen haben oder ob in diesem Begriff vielleicht doch noch die Bedeutung „Amt" steckt. Die Idee eines Universalreiches war schon in der Erinnerung an Ludwig den Frommen nebensächlich. Ist es da nicht begreiflich, daß Flodoard in seiner Zeit, wo das Karolingerreich seit mehr als einem halben Jahrhundert in Auflösung begriffen war, den neuen ottonischen Kaisergedanken nicht universal zu fassen vermochte? Über die ersten Jahre des ottonischen Kaisertums finden wir in den Annalen nur wenige Seiten. 965 berichtet der Chronist vom Eingreifen Ottos in die politischen Wirren in Rom 103 ). Otto setzte den rechtmäßigen Papst ein. War diese Schutzpflicht etwa seine Aufgabe, die er mit dem Kaisertitel übernommen hatte? Flodoard gibt darüber keine Auskunft. — Im gleichen J a h r hielt Otto einen großartigen Hoftag in Köln, an welchem Gerberga mit ihren Söhnen Lothar und Karl inmitten einer großen Menge von mächtigen Fürsten anwesend war 104 ). Noch einmal, wie in den 40er und 50er Jahren, vermischten sich patriarchalische Vorstellungen und machtpolitische Realitäten. Die westfränkische Königsfamilie stand gerade durch die Tatsache der Verwandtschaft mit dem großen Herrscher in einer etwas höheren Stellung als die „proceres" des Reiches. Dieser Hoftag von Köln war eine Manifestation, welcher der Imperatorentitel sicher einen besonderen Glanz verlieh, eine Manifestation aber, die sich in ihrer Form und ihrem Wesen kaum von der Osterfeier von 949 unterschied, wenigstens nicht in der Darstellung Flodoards. Eine Wendung im Verhältnis Ottos zum französischen Königtum hat die Kaiserkrönung von 962 nicht gebracht. 103 ) 104 )



Flodoard, Ann. 965, pp. 157 s. ibid. 965, p. 157. cf. Lot, Derniers Carolingiens, p. 49: „Mais ce fut ä Cologne que se tint la plus grande assemble; ce fut lä que Gerberge avec ses fils vint retrouver ses freres, Otton et Brunon, et sa mere Mathilde. Nous ignorons le but exact de ce grand plaid et les questions qui y furent traities. Mais ce qui est certain c'est qu'Otton parut alors le maitre de l'Europe occidentale et qu'il toucha ä l'apogee de sa grandeur. Lothaire, ägc d'environ vingt-cinq ans, fit sans doute l'effet d'un roi vassal, dans la grande assemble du 2 j u i n 9 6 5 , oü nous le voyons, avec Brunon, Fridiric de Bar, Odelric et beaucoup d'autres personnages, souscrire un diplöme confirmant la fondation de Saint-Martin de Liege par l'öveque Everaclus..." Cartellieri, Weltstellung, pp. 113 s.

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Warum aber erwähnt nun Flodoard die Kaiserkrönung Ottos, wenn sie, wie wir schon sahen, nichts Wesentliches am Verhältnis der Westfranken zum sächsischen Kaiserhaus geändert hatte? Die höchste Ehrung eines weltlichen Herrschers durch die Kirche mußte für einen Kleriker nicht unbedeutend sein. Dies erklärt auch die peinliche Genauigkeit, mit welcher der Autor die durch die Kirche verliehenen Titel verwendet, wie es sich ja schon anhand der Unterscheidung des „princeps" Heinrich und des „rex" Otto erwiesen hat. Die Macht der beiden Herrscher war nicht verschieden. Ebenso war der Einfluß König Ottos in den fünfziger Jahren nicht geringer als derjenige Kaiser Ottos nach 962. Es ist nun möglich, daß Flodoard aus seinem kirchlichen Denken heraus dem Kaiser doch eine Aufgabe zuschrieb, nämlich den Schutz des Papstes und der römischen Kirche. Es ist für seinen weiten Blick bezeichnend, daß er über den engen Raum Frankreichs hinausschaute und auch an den italienischen, vor allem römischen Verhältnissen interessiert war. Dazu mochten ihn sein geistliches Denken und der persönliche Kontakt mit Rom gebracht haben, hatte er doch in den Jahren 936/37 beim Papste eine herzliche Aufnahme gefunden. Die Ausblicke über die Grenzen des Westfrankenreiches hinaus zeugen aber vor allem für einen weiten geistigen Horizont dieses Klerikers, der neben den Angaben aus den Ostfeldzügen Heinrichs I. auch von Hugo von der Provence und von Patricius Alberich in Rom Kenntnis hatte. Selbständig universalen Charakter konnte das Kaisertum Flodoards nicht haben. Es entbehrte auch jeder dynastischen Bindung; es ist wahrscheinlich, daß Flodoard die freie Verfügungsgewalt des Papstes über den Kaisertitel vertritt. Der Kaiser hatte auch nicht die ausdrückliche Aufgabe, Vorkämpfer der Christen zu sein. Die Bekämpfung der Heiden gab dem deutschen König nicht das Recht, den Kaisertitel zu führen. Es versteht sich, daß die Päpste diese Ehrung vor allem an würdigen Herrschern vollzogen: Schon Karl der Große hatte über viele Gebiete geherrscht und die verschiedenen Szepter der Franken in seiner Hand vereinigt 105 ). Auch Otto gebot über verschiedene Reiche. Dies erwähnt Flodoard in der Reimser Ge1M

) cf. n. 98.

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schichte108) und in den Annalen 107 ), aber nirgends findet man eine Andeutung, die diese Vereinigung verschiedener Reiche als Grundlage des Kaisertums bezeichnen würde. Hier unterscheidet sich Flodoard wesentlich von Widukind von Korvei. Wohl berichtet er von den Sarmatenkämpfen Ottos des Großen, wo der deutsche König mit Hilfe des ihm dienstbaren Königs Boleslav zwei sarmatische Könige bekämpfte und besiegte108), wohl erzählt er auch vom großen Sieg auf dem Lechfeld, bei dem Konrad der Rote eines heldenhaften Todes gestorben ist, aber mit der Idee des Imperiums scheint hier Flodoard keinen Zusammenhang zu sehen. Dem gegenüber nennt Widukind schon Heinrich I. „rerum dominus" und seine Machtstellung „magnum latumque imperium" 109 ). Schon Heinrich I. wurde in Widukinds „gesta" nach seinem Ungarnsieg zum Imperator ausgerufen 110 ) und die gleiche Akklamation erhielt auch sein Sohn Otto nach der Schlacht auf dem Lechfelde 111 ). Wenn es sich hier auch um einen von der Antike übernommenen Topos handelt, so ändert dies die Tatsache nicht, daß Widukind mit der Wahl dieses Topos auf eine ganz neue Aufgabe des Kaisertums hindeutet und dem imperialen Gedanken vor allem im Gegensatz zu Flodoard eine unerwartete Selbständigkeit und Aktivität verleiht 112 ). Hier finden wir eine Vorstellung im Werden, die einer ausgesprochenen universalen oder zum mindesten hegemonialen Reichsidee entgegengeht und nicht mehr in ihrem Innersten durch die Kirche bedingt ist. loe

) Flodoard, Hist. Rem. IV, 32, Migne 135, c. 302. ) Flodoard, Ann. 946, p. 102. ) ibid. 955, pp. 141 s.: „Contra quos Otho rex cum Burislao, Sarmatarum principe, et Chonrado jam sibi pacificato pugnavit, et eosdem Hungaros interimens, cunctos pene delevit. Chonradus autem, qui valde fortiter ea die pugnaverat, et regem praecipue de victoria confortaverat, ibidem peremptus est. Post hoc bellum pugnavit rex Otho cum duobus Sarmatarum regibus; et suffragante sibi Burislao rege, quem dudum sibi subdiderat, victoria potitus est." 109 ) Widukind von Korvei, Prefatio primi libri, p. 1; I, 39, p. 58; II, 1, p. 65; II, 32, p. 93. Beumann, Widukind von Korvei, pp. 234 s. 110 ln ) Widukind von Korvei, I, 39, p. 58. ) ibid. III, 49, p. 128. U2 ) Beumann, Widukind von Korvei, pp. 229 ss.; Beumann, Imperiales Königtum, pp. 127 ss.; Stengel, Res Gestae Saxonicae, pp. 147—156; Stengel, Den Kaiser macht das Heer, pp. 263 ss.; Stengel, Kaisertitcl, pp. 28 ss.; Günter, Otto der Große, pp. 27 ss. 107 108

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Diesen frischen Hauch, den wohl der Aufstieg der Ottonen mit sich gebracht hatte, der auch angelsächsischen Einflüssen unterworfen sein mochte, finden wir bei Flodoard noch nicht. Das Kaisertum steht in Verbindung zu Rom, vielleicht zu Italien. Kaiser ist nur derjenige, der durch die Kirche vom Papste gesalbt wurde. Er ist wohl noch mit dem Schutz des Papstes betraut. Sein Verhältnis zu den anderen Mächten äußert sich kaum. Der neue Kaiser Otto blieb f ü r die Westfranken der Älteste der großen abendländischen Königsfamilie; er wirkte weiter durch seine persönliche, patriarchalische Stellung. Schon ein halbes Jahrhundert früher, als das Reich der Karolinger in voller Auflösung stand und die Kaiser nur mehr italienische Fürsten waren, schrieb Erzbischof Fulco von Reims einen Brief an Kaiser Lambert aus dem Hause der Herzoge von Spoleto 113 ). Er, der Vorkämpfer der Karolinger in Frankreich, hatte dieselbe kirchliche Kaiservorstellung wie Flodoard, die von jeder dynastischen Idee völlig getrennt war und erlaubte, karolingische Politik zu treiben, ohne an ein universelles Kaisertum zu denken. Wieviel leichter und selbstverständlicher mußte es dann Flodoard erscheinen, dessen Haltung ausgesprochen kirchlich war und der das alte königliche Geschlecht nie mit besonderem Eifer verteidigt hatte. Er stand seinem Zeitgeschehen und dem Aufstieg der sächsischen Dynastie nicht interesselos gegenüber, im Gegenteil, er verfolgte die Entwicklung mit überraschender Schärfe und Nüchternheit. Allein, er betrachtete das Kaisertum Ottos I. so wie dasjenige Arnulfs von Kärnten und konnte nicht ahnen, daß mit Otto dem Großen eine frische geschichtliche Tradition einsetzte, die Jahrhunderte überdauern sollte.

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) Flodoard, Hist. Rem. IV, 5, Migne 135, c. 277.

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ADSO V O N M O N T I ER-EN-DER Die „Epistola Adsonis ad Gerbergam reginam de ortu et tempore Antichristi" oder, kurz, der „Libellus de Antichristo" 1 ) wurde zu einer Grundlage des mittelalterlichen Wissens über das Weltende. Die Verknüpfung eschatologischer Gedanken mit dem Bestehen des Kaisertums rückt diese Schrift ins Zentrum unserer Betrachtungen. Bis in die jüngste Zeit2) fand die Schrift die verschiedensten, oft gegensätzlichen Interpretationen, zu denen wir kurz Stellung zu nehmen haben werden. Adso von Montier-en-Der 3 ) stammte aus vornehmer burgundischer Familie, erhielt in Luxeuil seine Bildung, trat darauf ins reformierte Kloster von St. Evre in Toul ein. Von dort zog er nach Montier-en-Der und unternahm die Reform dieses Klosters, in dem er 967 oder 968 selbst Abt wurde. 990 begegnen wir ihm als Abt von St. Benigne in Dijon. 992 fand er auf einer Pilgerreise nach Jerusalem einen plötzlichen und unerwarteten Tod. Er galt in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts als einer der bedeutendsten Männer der lothringischen Reformpartei und stand in enger Beziehung zu Gerbert von Aurillac, dem Lehrer der Reimser Stiftsschule und zu Abbo von Fleury, dem Vorkämpfer der Cluniazenser. 980 begleitete er mit Gerbert den Erzbischof Adalbero von Reims nach Italien und wohnte der berühmten Disputation vor Otto II. bei, zu welcher der Sachse Otrich von Magdeburg Gerbert in Ravenna herausgefordert hatte. Von seiner Privatbibliothek besitzen wir noch Reste eines Verzeichnisses, die uns Einblick in einen Teil seines Wissensgebietes ermöglichen und vor allem zeigen, wie sehr Adso in der klassischen antiken Literatur belesen war 4 ). J

) v. Literaturverzeichnis. Die Ausgabe von Migne (t. 101, cc. 1291 —1298) ist textkritisch ungenügend und wird mit Vorteil beiseite gelassen. 2 ) cf. Folz, Idöe d'Empire, pp. 57 ss.; John, pp. 43 s. 3 ) cf. Manitius, t. 2, pp. 432—442; Wattenbach-Holtzmann, t. 1, lib. 2, pp. 187 s.; Sackur, Cluniazenser, t. 2, pp. 362 ss. *') cf. Manitius, t. 2, p. 438 n. 2 und vor allem Omont, Henri, Bibl. de lYcole des chartes 42, pp. 159 s. aus Codex der Bibl. Nat. Paris; Becker, no. 41, pp. 126 s.

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„Rex Francorum", König der Westfranken? Schon vor 954, also zu einer Zeit, wo er noch in Toul weilte, schrieb er auf Wunsch der Königin Gerberga, der Gemahlin Ludwigs IV. und Schwester Ottos I., ein Traktat über das Erscheinen des Antichrists. Selbstverständlich benutzte er eine ganze Reihe von Quellen 5 ). Sie haben aber f ü r unsere Betrachtungen weniger Bedeutung, da diejenigen Stellen des Briefes, auf die wir uns zu stützen haben, eine so persönliche Note tragen, daß sie als Gedankengut Adsos gewertet werden können und nicht bloß abgeschriebene Wendungen zu sein scheinen. In einer längeren, recht schmeichelhaften und unterwürfigen Einleitung gibt Adso seinem Dank Ausdruck, vor allem dafür, daß er durch die Königin zu einer so ehrenvollen Aufgabe herangezogen worden sei, obwohl Gerberga auch andere bedeutende Männer in ihrer Nähe habe. Vom eigentlichen Thema des Antichrists, auf welches er dann eingeht, interessiert uns nur die Prophezeiung vom Erscheinen des Antichrists. Adso lehnt sich in diesem Abschnitt an einen Paulusbrief (2. Thess. II, 3) an: „Wir wissen nämlich", so sagte er, „daß von den Reichen der Griechen oder auch von den Reichen der Perser ein jedes zu seiner Zeit in großem Ruhme erstrahlte und in höchster Macht blühte bis zum Augenblick, wo als letztes nach den übrigen Reichen das Römische Reich begann. Dieses war das stärkste von all den erwähnten Reichen und hielt alle Reiche der Erde unter seiner Herrschaft. Und alle Völkerstämme unterwarfen sich den Römern und leisteten ihnen Tribut. Da sagt nun der Apostel Paulus, der Antichrist werde nicht auf der Welt erscheinen, bevor nicht der Abfall eingetreten sei, d. h. bevor nicht alle früher unterworfenen Reiche vom römischen Reiche abgefallen seien. Diese Zeit ist aber noch nicht gekommen. Denn wohl sehen wir, daß das Römische Reich zum größten Teil zerstört ist, aber solange die Könige der Franken bestehen, welche das Römische Reich zu beherrschen haben, wird die Würde des Römischen Reiches nicht ganz untergehen, weil sie auf ihren Königen ruht. Einige unserer Gelehrten sagen ja, daß einer von den Königen der Franken, der in kürzester Zeit erscheinen werde, das Römische Reich in seinem vollen Umfang besitzen werde. ä

) Sackur, Sibyllinische Texte, pp. 99—104.

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Und er wird der größte und letzte aller Könige sein. Nachdem er sein Reich glücklich regiert hat, wird er schließlich nach Jerusalem kommen und auf dem Ölberg sein Szepter und seine Krone niederlegen. Dies wird das Ende und der Untergang des Reiches der Römer und Christen sein"6). Der am meisten umstrittene Punkt dieses Abschnittes ist sicher die Interpretation von „reges Francorum". Verstand Adso darunter bloß die westfränkischen Karolinger oder dachte er schon an Otto den Großen und vertrat damit den Anspruch einer nicht-karolingischen Dynastie auf die Nachfolge im Frankenreich? Kampers7) glaubt, daß Adso damit nur die Nachfolge des karolingischen Hauses im Auge gehabt habe, da ja Otto noch nicht zum Kaiser erhoben worden sei. Für ihn sind die „reges Francorum" die Könige Westfrankens. Zeller8) dagegen weist mit Recht darauf hin, daß auch in Deutschland die Herrscher bis zur Zeit Heinrichs IV. den Titel „reges Francorum" führten, daß dieser Ausdruck im 10. Jahrhundert jedenfalls für beide Teile, d. h. für Ost- und Westfrankenreich, gebraucht worden sei. Die ausschließliche Interpretation zugunsten Westfrankens sei ein Anachronismus. Kienast9) sagt wiederum: •) Adso, Epistola, pp. 109 s.: „Seimus enim, quoniam post regnum Grecorum sive etiam post regnum Persarum , ex quibus u n u m quodque suo tempore m a g n a gloria viguit et maxima potentia floruit ad ultimum quoque post cetera regna, regnum R o m a n o r u m cepit, quod fortissimum omnium superiorum regnorum fuit et omnia regna terrarum sub dominatione sua habuit, omnesque populorum nationes Romanis subiacebant et serviebant eis sub tributo. Inde ergo dicit Paulus apostolus, Antichristum non antea in m u n d u m esse venturum, nisi venerit discessio primum, id est, nisi prius discesserint omnia regna a R o m a n o imperio, que pridem subdita erant. H o c autem tempus n o n d u m venit, quia, licet videamus R o m a n o r u m regnum ex maxima parte destruetum, tarnen, quamdiu reges Francorum duraverint, qui R o m a n u m imperium tenere debent, R o m a n i regni dignitas ex toto non peribit, quia in regibus suis stabit. Q u i d a m vero doctores nostri dicunt, quod unus ex regibus Francorum R o m a n u m imperium ex integro tenebit, qui in novissimo tempore erit. Et ipse erit maximus et omnium regum ultimus. Q u i postquam regnum feliciter gubernaverit, ad ultimum Ierosolimam veniet et in monte Oliveti seeptrum et coronam suam deponet. H i e erit finis et consummatio R o m a n o r u m christianorumquc imperii." 7 ) Kampers, Kaiseridee, pp. 43 s. 8 ) Zeller, Rois de France, p. 277. ») Kienast, pp. 114, 123. cf. Schröder, p. 5; Kern, pp. 13s.; Adamek, p. 80.

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„Schon im 10. Jahrhundert, noch in karolingischer Zeit, hatten französische Theologen gelehrt, ein König der Franken (d. h. Westfranken) werde am Ende der Tage das ganze Römische Reich beherrschen." Doch Kienasts klare und saubere Formulierung ist vielleicht doch etwas überspitzt. Denn er nennt Adso zusammen mit den Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts, Suger von St. Denis und Jean Bodel, ohne auch nur den geringsten Versuch einer zeitlichen Nuancierung zu versuchen. Zum mindesten wäre die Möglichkeit einer Wandlung der Auffassung zu prüfen gewesen. — Ein Leser, der bei Adso vielleicht sogar den Ausdruck eines beginnenden französischen Chauvinismus vermuten möchte, wird sicher fehlgehen, um so mehr, als wir wissen, daß Adso damals in Toul, also auf Reichsgebiet, weilte. Kienast bekämpft auch die Meinung Robert Holtzmanns, der das Gewicht auf die Mehrzahl fränkischer Könige legt. Dieser sieht im Ausdruck „reges Francorum" gerade einen Beweis für das noch lebendige Zusammengehörigkeitsgefühl der karolingischen Nachfolgestaaten 10 ). Folz vertritt die gleiche Auffassung 11 ). Cartellieri unterstützt Kienast, indem er darauf hinweist, wie Gerberga in der westfränkisch-karolingischen Tradition aufgegangen sei, Adsos Worte also wohl in der westfränkischen, einschränkenden Bedeutung verstanden werden müssen 12 ). Erdmann in seinem grundlegenden Artikel zum Reichsgedanken 13 ) schließt sich wiederum mehr der Ansicht Holtzmanns an, wenn er auch nicht ausdrücklich auf diesen Begriff eingeht. John kommt heute wieder auf die von Kienast vorgezeichnete Linie zurück 14 ); 10)

Holtzmann, Otto der Große, p. 152. ) Folz, Id6e d'Empire, p. 57. 12 ) Cartellieri, Weltstellung, p. 95: „Wenn solche recht dunkle Ausführungen (diejenigen Adsos) der durch den vorzeitigen Tod ihres Gemahls schwer getroffenen, sehr frommen, aber auch sehr ehrgeizigen Frau wirklich Trost gewährten, so bedeutete das, daß sie ihre sächsische Herkunft vergessen und sich ganz in den westfränkisch-karolingischen Gedankenkreis eingelebt hatte. Für ihre Zukunftshoffnungen konnte es kein größeres Hindernis geben als das deutsche Reich unter ihrem Bruder und dessen Nachfolgern." Auch John, pp. 43 s. ist der Auffassung, daß Adso hier an die französischen Könige denkt. Demgegenüber Günter, Otto der Große, p. 114: „Es ist nicht zu erwarten, daß der Franzose vom Deutschen Otto spreche, aber Gerberga bürgt dafür, daß er auch mit ihm rechnete." 13 ) Erdmann, Imperium Romanum, pp. 426 ss. ") John, pp. 43 s. u

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als Urteil eines Literarhistorikers mag uns dieser Hinweis besonders interessant erscheinen. Ohne sich über die Bedeutung von „reges Francorum" Klarheit zu schaffen, ist es nicht möglich, zu Adsos Reichsgedanken Stellung zu nehmen. Auf die Schwierigkeiten einer solchen semantischen Untersuchung habe ich schon hingewiesen15). Auch hier stellt uns die so bewegliche und begrifflich oft verschwommene mittellateinische Sprache des 10. Jahrhunderts vor eine recht schwere Aufgabe. Wenn wir versuchen, aus anderen Schriften Adsos, ausschließlich Heiligenviten, eine Antwort zu erhalten, so gehen wir leer aus; denn meistens spricht Adso von den fränkischen Kaisern vor der Teilung von Verdun. Er braucht auch die Wendung „rex Franciae", die dann eindeutig auf das Westfrankenreich bezogen ist16). Ausdrücke wie „regnum Franciae", in der Bedeutung „Westfranken" 17 ), oder gar in noch engerem Sinne, unter Ausschluß von Aquitanien 18 ), können uns nicht viel weiterbringen. Wenn nun auch eine vergleichende philologische Betrachtung Adsos Vorstellung von den „reges Francorum" nicht zu klären vermag, so bringt uns doch die Gesamtuntersuchung des Briefes an Gerberga zur Ansicht, daß Adso hier an die karolingischen Könige Westfrankens gedacht hatte. In der Einleitung des Libellus betont Adso, Gerberga in allem ein treuer Diener gewesen zu sein. Wenn auch seine Gebete ihrer nicht würdig seien, so wolle er doch für sie, ihren Herrn, den König und ihre Söhne die Gnade Gottes erflehen, damit er sie auf der Höhe ihrer Macht erhalte und sie nach diesem Leben glücklich im Himmel mit ihm regieren lasse. Da nun Gott ihr Kinder geschenkt habe und ihren Söhnen ein langes Leben, so sei er (Adso) sicher, daß die Kirche Gottes geehrt und die Ordnung des Glaubens gemehrt werde. Das wünsche er als ihr Getreuer von ganzem Herzen, und er sehne sich gewaltig darnach. Er möchte gerne für sie das ganze Reich erobern, wenn es ihm möglich wäre, aber da er dazu nicht befähigt sei, so wolle er ihr Heil und das v. pp. 15 ss., pp. 46. ) AdsOj Vita Frod. 28, Migne 137, c. 614: „qui est annus Caroli (Calvi) imperatoris et regis Franciae . . ." " ) Adso, Mirac. Wald. 11, Migne 137, c. 694. M ) Adso, Vita Bas. 8, Migne 137, c. 648. M

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ihrer Söhne von Gott erflehen, damit seine Gnade ihr bei allen Handlungen vorauseile, und der Ruhm Gottes überall nachfolge19). In dieser langen Vorrede richtet sich Adso an Gerberga, die Königin des westfränkischen Reiches, die Gemahlin Ludwigs IV., an die Mutter vor allem der zukünftigen westfränkischen Herrscher. Für sie alle will Adso beten. Gerberga ist aber auch Schwester Ottos I., und davon sagt Adso kein einziges Wort. Würde er unter den „reges Francorum" auch die Glieder des sächsischen Königsgeschlechtes verstehen oder auch nur an die Möglichkeit denken, daß sie diesen Platz einnehmen könnten, so kann ich mir wirklich nicht vorstellen, daß Adso in dieser Beziehung auch nicht die mindeste Andeutung gemacht hätte. Daß er im ottonischen Hause noch nicht das zukünftige Kaisergeschlecht sah, ist bei einem so ausgeprägten dynastischen Denken wie demjenigen Adsos nicht erstaunlich20), zumal da die Macht Ludwigs in den letzten Jahren seiner Regierung etwas gefestigter schien, und die Nachfolge im Hause der Karolinger gesichert war. Wie Erdmann richtig bemerkt21), finden wir bei Adso eine Umgestaltung des antik-römischen Reichsbegriffes zur Welt des christlich-eschatologischen Denkens. Der Begriff „imperium Romanorum Christianorumque" verbindet diese beiden Welten in w

) Adso Epistola, pp. 104 s.: „Excellentissimae reginae ac regali dignitate pollenti Deo dilectae omnibusque sanctis amabili, monachorum matri et sanctarum duci, dominae reginae Gerbergae frater Adso suorum omnium servorum ultimus gloriam et pacem sempitemam. Ex quo, domina mater, misericordiae vestrae germen promerui, semper vobis in omnibus fidelis fui t a n q u a m proprius servus. U n d e quamvis indignae sint a p u d D o m i n u m preces orationis meae, tarnen pro vobis et pro seniore vestro domino rege, necnon et pro filiorum vestrorum incolumitate Dei nostri misericordiam exoro, ut vobis et culmen imperii in hac vita dignetur conservare, et vos faciat in coelis post hanc vitam secum feliciter regnare. Quoniam si Dominus vobis prosperitatem dederit et filiis vitam longiorem, scimus indubitanter et credimus ecclesiam Dei exaltandam et nostrae religionis ordinem magis ac magis multiplicandum. Hoc ego fidelis vester opto et valde desidero; qui si potuissem vobis totum regnum acquirere, libentissime fecissem, sed quia illud facere non valeo, pro salute vestra filiorumque vestrorum Dominum exorabo, ut gratia eius in operibus vestris semper vos praeveniat, et gloria illius pie et misericorditer subsequatur, ut divinis intenta mandatis possitis adimplere bona, quae desideratis, unde corona vobis detur regni coelestis." 20 ) v. p. 61. E r d m a n n , Imperium R o m a n u m , pp. 426 ss.

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bezeichnender Weise. Dem Mönch Adso mußte sich j a diese Auffassung aufdrängen, welche beide Ideenwelten verschmolz. Adso dachte zweifellos an ein großes Reich, ein Imperium, das auf dem römischen fußte und die ganze Christenheit umfaßte, das sein Wiedererstarken einem Sprossen Karls des Großen zu verdanken habe. Es ist eine traditionelle Konzeption des christlichen Universalreiches der Franken, an dem es j a der Kirche ganz besonders gelegen sein mußte. Die Erinnerung erreicht hier bei Adso eine ganz andere Intensität als bei Flodoard, was vielleicht aus dem bedeutend engeren Kontakt Adsos mit der antiken römischen Kultur hervorgehen dürfte. Auffallend ist j a nur, daß im Gegensatz zu Flodoard Rom als Zentrum des Papsttums überhaupt keine Erwähnung findet. Was nun aber bezeichnend ist für Adso und wohl auch für manchen anderen Vertreter seiner Zeit, ist die dynastische Auffassung des Reichsgedankens, die auch schon Kampers angedeutet hat 22 ). Wenn wir sehen, welchen Wert die ganze Familie der Königin für Adso erhält, so erinnert uns dies an gewisse Züge, die wir bei Flodoard trafen, wo auch rein menschliche Gefühle eine viel breitere, vielleicht sogar politische Bedeutung erlangen konnten23). Adso ging aber noch weiter: Das Römische Reich schien für ihn mit der Dynastie zu stehen und zu fallen. Die Dynastie gibt ihm den eigentlichen Halt, und wir haben schon gar nicht das Gefühl, daß ein anderes Element für Adso staatserhaltend sein sollte, oder daß das Reich irgendeinen territorialen Kern habe, von dem seine Existenz abhänge. Das Reich als Territorium mag noch so aus den Fugen gehen, solange die Dynastie besteht, bleibt es in seinem innersten Wesen erhalten 24 ). Diese Betonung des dynastischen und damit nicht zuletzt des persönlichen Elementes im Reiche, ist eine für die Zeit typische Erscheinung. Eine Idee wie diejenige der staatlichen Einheit soll nicht abstrakt als logisches System, als eine konstruierte rechtliche Ordnung aufgefaßt werden, sondern sie verlangt eine Verkörperung in einem Herrscher. Erst eine solche Verkörperung trägt den Gedanken in das Gebiet der Realität. In dieser Weise verwirklichen die Könige der Franken den Reichsgedanken, wenn auch das Reich territorial in Brüche zu " ) Kampers, Kaiseridee, pp. 43 s.

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) v. p. 45.

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) cf. η. 6.

gehen scheint. In dieser Weise ist der Untergang des Römischen Reiches mit dem Untergang der Könige der Franken verbunden. O t t o I., E r b e d e r K a r o l i n g e r ? Die Reichsidee Adsos, die im Libellus zum Ausdruck kommt, kreist also offensichtlich um die alte ruhmreiche Dynastie der Karolinger, der alten Frankenkönige. An die Möglichkeit der Aufnahme eines Reichsgedankens durch die junge sächsische Dynastie hatte Adso in seinem eschatologischen Werke wohl nicht gedacht. U m so mehr erstaunt es uns, wenn wir in seiner Vita Mansueti auf die Stelle stoßen: „Denn durch die Wahl beider Stände der Gläubigen und mit der wohlwollenden Zustimmung der göttlichen Majestät, des Triumphators und unbesiegten Herrn, des Augustus Otto, durch den Erlaß eines Dekretes und auf Vorschlag seines Bruders, des Erzbischofs Bruno, wurde Gerhard . . . zum Bischof gewählt" 25 ). Die überschwängliche Anhäufung von Titeln bei der Erwähnung Ottos I., von dem im Brief über den Antichrist kein einziges Wort steht, paßt sicher nicht recht zur betont karolingischen Reichsidee Adsos im Libellus. Manitius 26 ) meint, daß die Vita Mansueti nach 974 geschrieben wurde, also sicher 20 Jahre nach dem Libellus. In diesen zwei Jahrzehnten hatte sich aber das Bild Europas wesentlich verändert. Otto I. hatte seine Stellung gewaltig gefestigt, die Kaiserkrone erlangt und damit sicher den Anfang zum Werke getan, das Adso in seiner Prophezeiung als die Aufgabe der Karolinger vorschweben mußte. Nach seinem Tode blieb die Kaiserkrone in den Händen der sächsischen Könige. Die Macht Ottos II. war nach den ersten Schwierigkeiten wieder im Aufstieg. Man konnte wohl glauben, daß das Heil des Kaisertums sich mit einer neuen Dynastie verbunden habe, die an Aktivität und Macht den alten Karolingern sicher ebenbürtig war und die Tradition Karl des Großen in würdiger Weise wieder aufgriff. Auch wenn Adso in dieser Zeit nach " ) Adso, Vita Mans. I I , 20, Migne 137, c. 638: „ N a m votis utriusque fidelium ordinis aspirante gratia divinae majestatis, triumphatoris invicti domni videlicet Ottonis Augusti decreto statuente, agente quoque germano ejus domno Brunone pontifice, Gerardus . . . futurus designatur episcopus." 2e ) Manitius, t. 2., p. 434.

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Montier-en-Der, d. h. ins Westfrankenreich, gezogen ist, so konnte ihm natürlich diese bedeutsame Wendung der Dinge nicht entgangen sein. Mußte er da nicht, wo er doch sah, wie sich die geschichtliche Entwicklung in einer Richtung bewegte, die seine Reichsidee zu verwirklichen schien, seine Haltung der neuen Lage anzupassen suchen? Und das konnte er nur mit der Aufgabe seiner karolingisch-dynastischen Auffassung zugunsten des neu erstarkenden sächsischen Geschlechtes. Die in seiner Zeit weitverbreitete Vorstellung des Königheils konnte diese Schwenkung nur noch begünstigen 27 ). Auf einen Menschen wie Adso, der für seine Ideen eine reale Verkörperung suchte, übte eine Persönlichkeit wie sie damals Otto der Große darstellte, besonders wenn sie noch im Besitze der kirchlichen Legitimierung war, eine ganz andere suggestive Kraft aus, als der junge, wenn auch karolingische König Lothar, der als Mensch, abgesehen von seiner Abstammung, noch kein großes persönliches Ansehen haben konnte und immerhin in starker Abhängigkeit von seinem sächsischen Onkel stand. Trotz seines ausgeprägten dynastischen Denkens blieb Adso als eifriger Vertreter der lothringischen Reformbewegung vor allem ein Mann der Kirche. Die Aufgabe einer Dynastie, auch wenn er früher in diese große Hoffnungen gesetzt hatte, konnte ihm nicht besonders schwer fallen, wenn dieser Schritt zugunsten der Verwirklichung einer politischen Einheit des abendländischen Christentums getan werden konnte. Adso fühlte sich nicht als Westfranke, nicht als Deutscher; er war ein Mann der Kirche. Das zeigt schon die Tatsache, daß er an das Geschlecht der Karolinger glaubte, als er noch in Toul, d. h. im Gebiete des deutschen Herrschers, weilte; das zeigt aber auch seine spätere Zuneigung zu Otto I., als er schon in Montieren-Der im Westfrankenreich wirkte. Eine eindeutig christlich-universale Reichsauffassung stand im Zentrum von Adsos Denken. Das Reich war die christliche Weiterführung des römisch-antiken Weltreiches. Seinem ausgeprägten dynastischen Denken entsprach es, das Bestehen dieses Reiches im alten berühmten Frankengeschlecht der Karolinger 27

) cf. Beumann, Sakrale Legitimierung, pp. 11 — 19. Der Verfasser behandelt eingehend die Auffassung Widukinds von Korvei, bei dem das Königsheil, das von den Franken zu den Sachsen übergegangen war, eine wesentliche Rolle spielt.

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zu begründen, das zur Zeit der Entstehung des Libellus wohl noch als einziges, dank seiner alten Tradition und der großartigen Rolle, das es zum Schutz der römischen Kirche gespielt hatte, die Hoffnung auf eine Neubelebung des großen Weltreiches nähren konnte. Eine persönliche Teilnahme am Schicksal der französisch-karolingischen Familie stand bei ihm kaum im Vordergrund. Im Augenblick aber, da eine kräftigere, mehr versprechende Verkörperung des Reiches mit Otto I. und seinem Sohne Otto II. eine Neubelebung des Reiches versprach, die zudem noch die Billigung der Kirche genoß, zögerte er nicht mehr, seine Reichsidee der neuen Lage anzupassen und glaubte an das Heil der Ottonen. Es wäre daher völlig verfehlt, bei Adso irgendeine Parteinahme für eine oder die andere der beiden Königsfamilien oder gar für Deutschland oder Frankreich zu suchen. Adso vertrat eine christlich-römische Reichsidee, deren Verwirklichung er in den bedeutendsten Herrschern seiner Zeit suchte und auch fand.

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GERBERT VON AURILLAC Gerbert, der Klosterschüler von Aurillac, Abt von Bobbio, Erzbischof von Reims und Ravenna, der große Mathematiker, Philosoph und Politiker, der Gelehrte auf dem Stuhle Petri schließt in seiner umfassenden Persönlichkeit einen Reichtum geistigen Lebens in einem Maße in sich, wie es für das 10. Jahrhundert kaum im Bereiche des Möglichen erscheint. Wie ein Riese steht er in seiner Zeit, in der nach einem politischen und geistigen Chaos neue Impulse erst wieder zu erwachen beginnen und die weltliche Macht nach den Auflösungserscheinungen des Frankenreiches im Kaisertum Ottos I. eine neue Erstarkung und Verwirklichung erlebt. Von welcher Seite man auch an Gerbert herantritt, auf welche Einzelheit seines Lebens man auch eingeht, immer stößt man wieder auf das Außergewöhnliche, das Geniale, das beinahe Übermenschliche und damit auch Rätselhafte. Kein Wunder, daß sich schon kurz nach seinem Tode Legenden um ihn gebildet haben, daß er der geheimnisvolle Magier, der Schüler der heidnischen Sarazenen, der Zauberer geworden war. Sein Bund mit dem Bösen schien den Chronisten des Mittelalters eine ganz offensichtliche Tatsache 1 ). Gerbert wurde zum Faust des Mittelalters. — Eine neue Seite der Persönlichkeit Gerberts schienen die Reformierten gefunden zu haben, als sie ihn als den großen Vorkämpfer gegen das Papsttum feierten, ihn beinahe als den ersten Reformatoren betrachteten, eine Auffassung, die in der Welt der Gegenreformation auf den heftigsten Widerstand stoßen mußte und die Katholiken zwang, Gerbert entweder zu verdammen oder in ein ganz neues Licht zu stellen 2 ). ') Alberich von Trois Fontaines (Chronica Albrici monachi trium fontium a monacho novi monasterii Hoiensis interpolata), MGH, SS. XXIII, pp. 777 ss.; Wilhelm von Malmesbury, libri V de rebus gestis regura Anglorum II, 169—172, Migne 179, cc. 1137—1145. 2 ) Zur Legendenbildung über Gerbert: cf. Picavet, pp. 197—217; Eichengrün, pp. 25—33; La Salle de Rochemaure, pp. 619—699.

5 Bezzola

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Auch im 19. und 20. Jahrhundert befaßte sich die Geschichtsschreibung immer wieder von neuem mit Gerbert und versuchte, durch das Gewirr von sich widersprechenden Tatsachen und Auffassungen zur Wahrheit durchzudringen. War Gerbert der schmeichlerisch berechnende Günstling am Hofe der Ottonen, am Hofe der Kapetinger, der skrupellose ehrgeizige Intrigant, welcher vor keinem Schritt zurückschreckte, falls er ihn zum Ziele führen konnte? War er der große Idealist, der seinem Ideal der christlichen Einheit des Abendlandes unbeirrbar durch die wildesten Stürme und Leidenschaften nachstrebte? War er der wissenschaftliche und ganz im Abstrakten lebende Geist, der sich auf politischem Felde betätigen wollte, und trotz seiner Gewandtheit zum Scheitern verurteilt war, weil ihm die praktische Planmäßigkeit abging 3 )? Schon viele Biographien sind über Gerbert geschrieben worden; immer wieder hat man auf seine Werke zurückgegriffen, um den mittelalterlichen Kaisergedanken, besonders zur Zeit Ottos III., darzustellen. Eine Seite seines Schaffens, glaube ich aber, wurde meistens zu wenig beachtet: es ist die Wechselwirkung seines Lebens und seiner Ideen. Erst wenn wir zu erfahren suchen, welche menschlichen Bindungen und welche persönlichen Gefühle ihn zum Handeln bewegten, können wir ein tieferes und richtigeres Verständnis seines herrlichen Gedankengebäudes erreichen. Es ist deshalb angebracht, seine Welt schrittweise kennenzulernen, sie wachsen und sich formen zu sehen, von den ersten Anfängen im Kloster von Aurillac bis zur durchdachten Vollendung in der Zeit des Pontifikats. „ H e i m a t l o s i g k e i t " u n d „ H e i m a t " in d e r c h r i s t l i c h e n Gemeinschaft Wenn etwas in Gerberts Leben auffallend ist, so ist es sicher seine Rastlosigkeit, die ihn Zeit seines Lebens erfüllte und die ') cf. Allen; Bastide; Büdinger; Eichengrün; Hock; Jäger; Leflon; Lux; Picavet; La Salle de Rochemaure; Schulteß; Sepet, Gerbert; Werner; Chevalier; Colombier, Vie de Gerbert; Uhlirz, M., Jahrbücher, p. 209. Es war mir nicht möglich, die Arbeiten von Loupot, Barthöldmy und Qu£ant einzusehen. Neben diesen Spezialuntersuchungen finden wir selbstverständlich in den meisten Darstellungen und Abhandlungen zur Geschichte des 10. Jahrhunderts ein Bild der Persönlichkeit Gerberts.

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schon rein äußerlich in seinen häufigen Reisen ihren Ausdruck fand 4 ). Aus einer einfachen aquitanischen Familie stammend, trat er als Knabe in das vor kurzem reformierte Benediktinerkloster in Aurillac ein. Nach einigen Jahren, 967, verließ er diesen ruhigen und beschaulichen Ort und reiste in Begleitung des Grafen Borellus von Barcelona nach Spanien, um sich weiterzubilden, um vor allem das Quadrivium zu lernen, das man zu jener Zeit in Frankreich kaum mehr kannte. Daß er bei den Arabern selbst studiert hat, scheint kaum wahrscheinlich 5 ). Drei Jahre später treffen wir ihn mit Bischof Hatto von Vieh und dem Grafen Borellus in Rom am Hofe des Papstes, wo er als junger, vielversprechender Gelehrter Otto I. vorgestellt wurde. So kam er schon früh in persönlichen Kontakt mit dem damals mächtigsten Herrscher des Abendlandes, ja er wurde sogar von diesem als Lehrer an der Hofschule verwendet. Zu unserem größten Erstaunen gab aber Gerbert diese prächtige und aussichtsreiche Stellung auf und bat bei Otto I. um die Erlaubnis, beim Lehrer Gerannus in Reims die Logik zu studieren. Es folgte nun eine ruhige Periode von zehn Jahren in Reims. Dort wirkte er als Lehrer an der Domschule und schuf sich die geistigen Grundlagen, auf denen er sein künftiges nicht weniger bewegtes Leben aufbauen konnte. In dieser so stürmischen und rastlosen Jugend beschritt Gerbert den gleichen Weg wie viele andere Geistliche seiner Zeit, da er das Wissen nicht an einem Zentrum, einer Universität, holen konnte, sondern seinen Lehrern nachreisen mußte. Daß er aber mit Ausnahme jener ruhigen zehn Jahre in Reims auch in späterer Zeit nirgends festen Fuß fassen konnte, zeigt, daß die Verwurzelung an einem ganz bestimmten Ort, an einer engeren „Heimat" bei ihm kaum je bestanden hat 6 ). Er hat sich nicht besonders 4

) Als Quellen dienen vor allem: Richer III, 43—65 und III, 89, 95, 99—108; Briefe Gerberts aus den Jahren 983—997. cf. Manitius t. 2, pp. 729—735. 6 ) Picavet, pp. 34 ss.; Leflon, pp. 22 ss. ·) Es versteht sich von selbst, daß man im Mittelalter nicht von einem Heimatgefühl sprechen kann wie in heutiger Zeit, besonders nicht im 10. Jahrhundert, wo die feudalen Kräfte jedes Gefühl für einen größeren staatlichen Komplex zu zerstören schienen, cf. Martin, pp. 110 ss., die der Analyse der Verbundenheit zur Heimat große Aufmerksamkeit widmet und dabei versucht, in feinster Denkarbeit in das Wesen des Menschen des 10. Jahrhunderts einzudringen.



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an Aquitanien, an die Mark von Barcelona oder gar an Rom gebunden gefühlt, hat auch nicht in Reims oder in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Spätere Briefe Gerberts an die Äbte von Aurillac, deren wärmerer Ton vielleicht eine gewisse Anhänglichkeit an die Orte seiner Jugend verrät, können diesen Eindruck nicht verwischen. Die bewegten Wanderjahre Gerberts brachten es mit sich, daß er mit den verschiedenartigsten Stoffen in Verbindung trat und dem Einfluß zahlreicher geistiger Strömungen ausgesetzt war. Wie er dann alles verarbeitete, das wurde ihm selbst überlassen. Er hatte nicht das System eines Lehrers erhalten, das ihm erlaubte, alles Neuerworbene einzuordnen. Tatsächlich waren es dann auch erst die zehn Jahre der Lehrtätigkeit in Reims, die ihn zu einer eigenen Haltung führten. Als geistig „Heimatloser" baute er sich seine eigene Heimat auf, die seinem Wissen und Schaffen entsprach. In Aurillac wurde Gerbert im Geiste des cluniazensischen Mönchtums erzogen. Odo von Cluny hatte selbst dem Kloster eine Zeitlang vorgestanden. In Spanien und vor allem in Reims bewegte er sich ganz im Kreise eines aufgeschlossenen Weltklerus. Beide geistigen Strömungen, mochten sie in gewissen Fragen noch so gegensätzlich sein, stützten sich auf die immer noch lebende karolingische Bildungstradition Westfrankens, die seit Alcuin nicht mehr abgebrochen war und einen Johannes Scotus Erigena, einen Remigius von Auxerre hervorgebracht hatte. Hatte sich Gerbert in Aurillac noch vornehmlich mit den Kirchenvätern, den christlichen Schriftstellern abgemüht, wie es der Wille der großen Cluniazenser-Äbte war, so kam er in Spanien, Rom und Reims in Kontakt mit der Spätantike und den heidnischen Schriftstellern der lateinischen Klassik. Wie formte sich nun Gerbert sein eigenes Weltbild während seiner Lehrtätigkeit in Reims, wo er sein ganzes Können vor seinen Schülern zu beweisen hatte 7 )? Nahm er eine mönchischasketische Haltung ein oder vertrat er die lebensbejahendere Auffassung des Weltklerus? Hatten die heidnischen oder die christlichen Schriftsteller einen größeren Einfluß auf ihn ausgeübt? ' ) cf. Manitius t. 2, pp. 729 ss.; Picavet, pp. 119 ss., 127 ss.; Leflon, pp. 53—96. Richer in seinen Ausführungen über die Lehrtätigkeit Gerberts (III, 4 6 — 55) gibt zu diesem Thema wertvolle Angaben.

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Die neue geistige Welt, die sich der große Lehrer in Reims schuf, war eine Synthese all dieser Richtungen. Ohne mit den Prinzipien der Reformbewegung Clunys zu brechen, trat er in Berührung mit dem Denken des Episkopats und suchte die beiden Tendenzen des Mönchtums und des Weltklerus zu vereinen. Seine rege Korrespondenz mit Mönchen und mit Weltgeistlichen spricht deutlich genug für dieses Streben, seine spätere Tätigkeit in Ravenna erbrachte den praktischen Beweis. Indem er die politisch-rechtlichen Belange abzugrenzen suchte und sie von den theologischen Fragen trennte, war ihm eine solche Haltung auch ohne weiteres möglich. Auffallender war aber das ungezwungene Nebeneinander antiker Gedankenwelt und christlicher Weltanschauung. Die antiken Denker störten die christliche Einstellung gar nicht. Im Gegenteil! Sie konnten den Gelehrten in seiner Einsicht noch weiterführen, ohne daß er vom orthodoxen Christentum im geringsten abweichen mußte. So begeistert Gerbert auch immer von der Antike war, so wenig ist er jemals zum Häretiker geworden, wenigstens nicht am damaligen christlichen Glauben gemessen. Wie stark hob sich doch die Haltung Gerberts von derjenigen des heiligen Majolus ab, der die heidnischen Dichter verwerflich nannte, sie nicht oder nur teilweise im engeren Rahmen zur Lektüre heranzog 8 )! Aus dieser synthetischen Vorstellung Gerberts begreifen wir leicht, welche Bedeutung die Persönlichkeit eines heiligen Augustin für ihn haben mußte, der gesättigt vom antiken Geist an der Schwelle des Mittelalters stand und ein gigantisches christliches Weltbild geschaffen hatte. Er, der wohl mit ähnlichen Problemen wie Gerbert gerungen haben mußte, hat auf diesen noch einen weit direkteren Einfluß ausgeübt als bloß denjenigen, mit dem er auf die christlich-mittelalterliche Weltanschauung im allgemeinen gewirkt hat. Die Studien Bernheims und seiner Schule 9 ) gewinnen also für Gerbert eine besondere Bedeutung, weil zum allgemeinen Gewicht der augustinischen Begriffs- und Formenwelt in der frühmittelalterlichen Historiographie und beim mittelalterlichen Menschen überhaupt noch eine persönlich bedingte geistesgeschichtliche 8 9

) Syrus, Vita Sancti Majoli II, 4, Migne 137, c. 755. cf. Eichengrün, p. 43. ) Bernheim, Mittelalterliche Zeitanschauungen; Bernheim, Politische Begriffe; Bagemihl.

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Parallelität hinzutritt. Ter Braak hat auch tatsächlich in seiner Dissertation dieses Gedankengut, auf das wir bei der Behandlung Gerberts Kaisergedanken noch zurückkommen werden, eingehend behandelt und ausgewertet 10 ). Der rastlose, wissensdurstige Gelehrte mußte sich von der großen Schau der „Ecclesia Dei", dieser christlichen Einheit, bei der weltliche und kirchliche Gewalt kraftvoll in den zwei Häuptern der Christenheit zusammengefaßt schienen, angezogen fühlen. In einer so großen, alles umfassenden Einheit konnte er wohl hoffen, die ihm entsprechende, geistige Heimat zu finden. Die ersten Begegnungen: O t t o I. u n d A d a l b e r o v o n R e i m s In die Zeit des Werdens der Anschauungen Gerberts fielen auch zwei persönliche Begegnungen, die für seine spätere Entwicklung von Bedeutung sein mußten. Es war das Zusammentreffen mit Otto I. und mit Adalbero von Reims. Sicher war der junge Benediktinermönch gewaltig beeindruckt, als man ihn dem damals mächtigsten Herrscher des Abendlandes vorstellte. Wurde er vielleicht schon damals in den Bann der Vorstellungen eines universalen Kaisertums gezogen? Lux, der auch die Bildung der Auffassung Gerberts zu verfolgen sucht, glaubt, daß Gerbert hier den entscheidenden Impuls für sein späteres Leben erhalten habe. „Seine Begeisterung", so schreibt er, „für das mächtige ottonische Kaiserhaus, seine spätere Vorliebe für Otto III., 10

) Ter Braak, pp. 65—71: Ter Braak sieht in Gerbert den Typus des überlegten Politikers und Kulturmenschen, dem man sicher alles andere als einen beschränkten Gesichtskreis vorwerfen kann. Und dennoch ist die Grundlage seiner praktischen Weltanschauung und seiner Politik durchaus augustinisch. Seine ganze Ausdrucksweise und viele seiner Begriffe wie „Tyrannus, pax ecclesiae, discordia" sprechen deutlich dafür. Die Acta Concilii Remensis (MGH, SS. III, p. 671 s.) liefern ein prächtiges Beispiel. Ter Braak erklärt auch den Brief 28 allein aus diesem Zusammenhang heraus und erinnert an die geistige Verwandtschaft dieser Schrift mit der sibyllinischen Literatur. Seine eigene seelische Umkehr beschreibt Gerbert ja ganz mit den Ausdrücken Augustins (Brief 172), so daß die Behauptung nicht unbegründet zu sein scheint, „daß die eigentümliche dualistische Weltanschauung, die wir als augustinisch zusammengefaßt haben, auch das Denken dieses Weltmannes völlig beherrscht hat", cf. Bernheim, Mittelalterliche Zeitanschauungen, p. 12; Brackmann, Erneuerungsgedanke, p. 361.

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den hohen Sohn der mit größter Feierlichkeit geschlossenen Ehe, müssen notwendig jenen glanzvollen Tagen ihre erste Anregung verdanken 11 )." Lux vermutet sogar, schon während des Spanienaufenthaltes habe sich Gerbert zum Gedanken des „Imperium Romanum" hingewendet 12 ). Es bleibt aber bei der Vermutung. Wenn ich auch nicht daran zweifle, daß die Begegnung mit Otto I. für die spätere Weltanschauung Gerberts bedeutend gewesen ist, so möchte ich doch nicht aus seinem Verhalten im Jahre 970 darauf schließen, daß die unverbrüchliche Kaisertreue Gerberts, seine großartige Vorstellung vom mittelalterlichen Kaisertum, hier ihren Ursprung hatte. Die Tatsache, daß wir keine Quellen aus jener Zeit besitzen, die uns darüber Aufschluß geben können, genügt allerdings noch nicht, die Ansicht von Lux auszuschließen. Weit auffallender aber ist, daß Gerbert Gerannus ohne zu zögern nach Reims folgte, um dort die Logik zu studieren. Die Beziehungen zu Otto I. und die Möglichkeit, im Kreise des neu entstandenen Imperiums leben und wirken zu können, konnten den unersättlichen Wissensdurst des jungen Gelehrten nicht aufwiegen. Gerbert hatte damals noch nicht die geistige Reife erlangt, die ihm später erlaubte, den Schritt zur gewaltigen weltumspannenden Synthese zu machen. Er suchte noch sein eigenes Weltbild. Deshalb war auch sein Kaisergedanke unfertig, hatte wenig Bedeutung. — Es ist allerdings wahrscheinlich, daß Gerbert während der zwei Jahre, die er am Hofe Ottos I. verbracht hatte, auch Adelheid, Theophanu und Otto II. kennengelernt hatte. Durch diese persönlichen Beziehungen schuf er die wesentlichen Voraussetzungen, die seine Ideen über das Kaisertum in späterer Zeit mit dem realen Leben verbinden sollten, die diese Ideen Wirklichkeit werden ließen. Adalbero von Reims war einer der wenigen Menschen, die auf Gerbert einen tiefen Eindruck gemacht haben. Er war mit Gerbert so eng verbunden, daß es der heutigen Geschichtsforschung kaum mehr möglich ist, die Ideen Adalberos von ") Lux, p. 7. 12 j Lux, p. 6: „Mußte nicht damals schon dem jungen Gerbert die Schwäche der westfränkischen Karolinger verächtlich erscheinen? Mußte sich nicht in ihm, der in seinen geliebten Autoren so vieles von Roms Glanz und Macht las, unwillkürlich der Wunsch nach einem kraftvollen christlichen Imperium regen, das allein die Christenheit zu schützen vermöge?"

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denjenigen Gerberts zu trennen 13 ). Denn die Zeugnisse, die etwas über Adalbero verraten, stammen vor allem von Richer und aus der Briefsammlung Gerberts, so daß wir nicht imstande sind, festzustellen, ob Adalbero Gerbert oder Gerbert Adalbero beeinflußt hat. Adalbero stammte aus einem mächtigen Geschlechte Lothringens, das immer treu zum sächsischen Hause gestanden hatte. Im Geiste der Reform in Gorze erzogen, trat er später ins Domkapitel von Metz ein und stand dabei sicher unter dem Einfluß Erzbischof Brunos von Köln; 969 wurde er mit der Unterstützung König Lothars Nachfolger Odalrichs Erzbischof von Reims. Auch Hugo Capet scheint nichts gegen diese Wahl eingewendet zu haben 14 ). Wir bemerken auf jeden Fall noch nicht die geringste Spannung zum französischen Königshaus. Aus seiner ersten Zeit als Erzbischof hören wir vor allem von kirchlichen Handlungen, von seiner Reformtätigkeit in der ganzen Erzdiözese, die ihn mit Lothringen in engem Kontakt bleiben ließ. Inwieweit aber Adalbero schon vor 980 an ein universales Kaisertum zur Förderung der kirchlichen Einheit aller abendländischen Christen gedacht hatte, ist fraglich. Denn die Zeugnisse, die von der Kaiseridee Adalberos sprechen, stammen alle aus der Zeit des zweiten Aufenthaltes Gerberts in Reims, in welcher dann Adalbero erst in weltliche Dinge verstrickt wurde. Sie können auch später entstanden sein. Es scheint mir deshalb müßig, entscheiden zu wollen, ob es dem Einfluß Adalberos während dieser ersten Reimser Zeit zuzuschreiben sei, wenn sich Gerberts Gedanken über das abendländische Kaisertum zu formen begannen. J a es ist sogar fraglich, ob überhaupt Adalberos Kaiseridee 18 ) Gerbert beeinflußt hat oder ob es Gerbert war, der diese Gedanken zuerst gehabt hat. Ich möchte viel eher die Ansicht Leflons teilen, der meint, Adalbero habe sich bis 984 nicht in die 13

) cf. Kohlenberger, p. 24; Witte, p. 42; Leflon, pp. 119 ss.; Uhlirz, M., Jahrbücher, p. 109. 14 ) Schoene, Politische Beziehungen, pp. 84 ss. 16 ) cf. Cartellieri, Weltstellung, p. 209; Eichengrün, p. 7; Lot, Derniers Carolingiens, pp. 154—171 und vor allem pp. 201—242. An dieser zweiten Stelle gibt uns Lot eine zusammenfassende Darstellung der Persönlichkeit Adalberos. Kawerau, pp. 61 s., Kohlenberger, pp. 76 s.; Sepet, Adalbiron, p. 122.

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Streitigkeiten zwischen Lothar und Otto II. eingemischt, habe seine Pflicht seinem Herrn gegenüber erfüllt und sich nur mit kirchlichen Reformen beschäftigt 18 ). D i e B e g e g n u n g m i t O t t o I I . : Das E r w a c h ender Kaiseridee Wenn es auch nicht erwiesen ist, daß Adalbero zur Zeit der Lehrtätigkeit Gerberts in Reims seinen König zugunsten der deutschen Kaiser verriet, so hat er doch zum mindesten schon damals mit Otto II. in einem freundschaftlichen Verhältnis gestanden. Gerbert erhielt dadurch sicher die Gelegenheit, den Kaiser einige Male persönlich zu sehen. Dies berichtet Richer ausdrücklich 17 ). Von allen Begegnungen war die berühmte Disputation von Ravenna die bedeutendste. Hier konnte Gerbert sein Wissen gegenüber seinem Rivalen Otrich von Magdeburg vor dem Kaiser triumphieren lassen. Es ist daher nicht erstaunlich, daß Gerbert sich persönlich dem Kaiser näherte, der doch sichtlich an großen geistigen Fragen interessiert war 18 ), und der Gerbert vielleicht schon seit seinem ersten Aufenthalt am ottonischen Hofe kannte. Das persönliche Verhältnis zu Kaiser Otto II. erhielt nun aber 983 eine entscheidende rechtliche Unterbauung. Gerbert wurde von Otto II. mit der reich begüterten Abtei von Bobbio belehnt. Hätte Otto II. Gerbert überhaupt aus Frankreich kommen lassen, ihn mit einem der wichtigsten Reichslehen in einem Augenblicke begabt, wo das Gelingen des Zuges nach Süditalien weitgehend von der Treue der oberitalienischen Vasallen abhing, wenn er Gerbert nicht persönlich schon gut gekannt und besonders geschätzt hätte? Ganz sicher nicht! Mit dieser Belehnung trat Gerbert in eine neue Lebensphase. Wenn er bisher einzig der Wissenschaft gelebt hatte, so kam er nun zum ersten Mal mit dem weltlichen Leben in engeren Kontakt, band sich zum ersten Mal durch einen Lehenseid an einen mächtigen Herrn. Gerbert war sich dieser neuen rechtlichen Lage bewußt und hatte auch die Absicht, sich des ihm anvertrauten Gutes würdig zu zeigen. M

) Leflon, pp. 127 s., pp. 3 1 - 3 7 . ) Richer 111,56: „Augustus vero, cum et ipse talium studiosissimus haberetur, an Gerbertus erraverit admirabatur; viderat etenim illum, et non semel disputantem audierat." Richer III, 57 ss. beschreibt eingehend die Disputation mit Otrich von Magdeburg. 18 ) cf. Zitat Richers in n. 85 zu Richer. 17

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Dies spricht aus seiner Klage über die unglückliche, verdorbene Zeit, in der er zu leben gezwungen war: „Welch eine Zeit! Welch traurige Sitten! Unter welchen Leuten lebe ich? Wenn ich dem Rufe des Vaterlandes folge, breche ich mein heiliges Treuegelöbnis, wenn nicht, so lebe ich in der Verbannung. Aber besser ist es, treu am fremden Hofe in der Verbannung zu leben, als treulos in Latium (d. h. in der Heimat) zu regieren 19 )." Weit stärker war also f ü r Gerbert das rechtliche Band als sein Heimatgefühl — mag man das „Latium" im Sinne Frankreichs oder der engeren Heimat verstehen. Die Abstammung hatte der rechtlichen Pflicht zu weichen 20 ). Dazu kommt noch, daß ihn ein starkes persönliches Verhältnis an seinen rechtlichen Herrn band. Wohl spürte Gerbert einen inneren Konflikt, besonders in einem Augenblick, wo er sich überall gegen seine Feinde in Bobbio zu verteidigen hatte, sich in einem fremden Lande fühlte, ohne die geringste Unterstützung von Seiten seiner Freunde zu finden. Aber nichts überwog das starke Gefühl der Dankbarkeit, das Gerbert seinem Herrn gegenüber zeigte 21 ). Die Begegnung mit Otto II. hatte aber nicht nur eine persönliche Wendung gebracht, sie wurde meines Erachtens f ü r die ganze Vorstellungswelt Gerberts entscheidend. In Otto II. fand er nämlich zum ersten Mal eine eigentliche Verkörperung der großen Einheit der Christenheit, die seine Gedanken bewegte. Sie ließ seine Ideen erst lebendig werden. 970, als er noch am Hofe Ottos I. lehrte, waren die Machtverhältnisse sicher schon die gleichen. Gerberts eigene Anschauungen hatten sich aber damals kaum so weit geformt, daß Idee und Verkörperung des Kaisertums zu einer untrennbaren Einheit wurden. Die menschliche Begegnung mit Otto II. brachte das in ihm liegende Gedankengut zur Reife. Wenn wir auch aus dieser Zeit noch keine in eine Theorie geprägten Anschauungen Gerberts finden, wenn 19

) Gerbert, Brief 11 (983) an Kaiser Otto II., p. 9: „O tempora, ο mores, ubinam gentium vivo? Si patriam sequor, sanctissimam fidem relinquo, si non sequor, exulo. Sed potius liceat cum fide in palatio exulare, quam sine fide in Latio regnare." Es ist natürlich klar, daß Gerbert seinem Herrn gegenüber nicht eine andere Meinung hatte vertreten können; er wäre aber sicher nicht gezwungen gewesen, sich auf diese Weise auszudrücken. Seine ganze spätere Haltung ist ein deutlicher Beweis, daß dieser Satz mehr als Schmeichelei war. 21 »") v. p. 67. ) cf. Briefe 2 - 6 , 10, 12, 1 4 - 1 6 .

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auch die meisten Zeugnisse seiner persönlichen Anhänglichkeit an Otto II. aus späteren Zeiten stammen, so ist doch nicht daran zu zweifeln, daß ihr Ursprung in die Periode von Bobbio fallen muß. Die Bezeichnungen Ottos II. in den Briefen Gerberts lassen deutlich erkennen, wie lebendig bei ihm der Kaisergedanke war, wie sehr die kaiserliche Autorität in den Vordergrund trat. Bei der Bildung Gerberts ist es begreiflich, wenn bei diesen Vorstellungen antike Elemente miteinwirkten. Sie sprechen schon aus den Anreden 22 ). Durch die formellen Titulaturen hindurch verrät da und dort ein etwas wärmerer Ton die Einstellung Gerberts 23 ). Daß unsere Auffassung nicht ganz abwegig ist, können wir der großen Rede Arnulfs von Orleans am Konzil von St. Bäle entnehmen, die drei Jahre später von Gerbert als Verteidigungsbericht wiedergegeben wurde. Die Form stammt wohl sicher von Gerbert oder entspricht zum mindesten seinen eigenen Anschauungen. „Auf Kaiser Otto", so schreibt er, „folgte Kaiser Otto II., allen Fürsten unserer Zeit überlegen in den Waffen, im Rate und der Wissenschaft 24 )." So einsilbig Otto I. erwähnt wird, so überschwänglich erscheint uns das Lob seines Sohnes und Nachfolgers. Ein so großer Unterschied in der Beurteilung der Größe beider Herrscher muß uns überraschen. Er wurde durch das persönliche Erlebnis hervorgerufen. Wenn das Epitaph, das Gerbert seinem Herrn geschrieben hat, noch vor allem offizielle, äußerlich lobende Züge enthält 25 ), 2a

) Gerbert, Brief 1, p. 1: Dominus Otto Caesar semper augustus (983) Brief 4, pp. 3 s.: Divus Caesar, Dominus noster Caesar (983). Brief 5, p. 4: Caesar noster (983). Brief 12, pp. 9 s.: Caesar noster, imperialis majestas (983). Brief 85, p. 77: Excellentissimus augustus, semper memorandus (986). Dies sind nur einige typische Beispiele, die sich noch erweitern lassen können. ω ) ibid. Brief 12, p. 10: Caesar omnium hominum excellentissimus (983). 24 ) Gerbert, Acta Cone. Rem., MGH, SS. III, p. 672: „Succedit Ottoni caesari caesar Otto, nostra aetate cunctos principes armis, consilio, ac scientia superans". Gerbert, Brief 78, p. 72: Cujus ad imperium tremuere duces, tulit hostis Quem dominum pofiulique suum novere parentem, Otto, decus divum, Caesar clarissime, nobis Immeritis rapuit te lux septena decembris.

Auch hier haben wir ein Bild des großen völkerbeherrschenden Kaisers. Der Art der Inschrift entsprechend ist Gerbert nicht über das unpersönliche, das für die Allgemeinheit bestimmte Bild hinausgegangen.

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so bezeugt Gerberts Klage über den Tod seines Herrn zur Genüge, wie sehr bei ihm das Persönliche mit dem Weltanschaulichen verknüpft war: „Er fällt, er fällt, mein Vater, der Stand der Kirchen Gottes, der Staat geht zugrunde, das Heiligtum Gottes wird verheert, das Volk wird eine Beute der Feinde. Rate mir, mein Vater, wohin soll ich mich wenden? Meine Soldaten hatten zu den Waffen gegriffen, bereit, das Lager zu schützen. Aber welche Hoffnung bleibt noch ohne den Lenker des Vaterlandes, wo wir doch die Treue, die Sitten, den Mut gewisser Italiener nur zu gut kennen 26 )." Otto II. ist nicht nur der Lehensherr, um den Gerbert trauert, er ist schon weit mehr, er ist die Stütze der christlichen Gemeinschaft, die mit seinem Tode zugrunde geht; denn die „res publica" und das „sanctuarium Dei" können nicht mehr weiterbestehen. Schon in dieser Zeit sah Gerbert die große Einheit, die durch das Kaisertum garantiert und geschützt werden konnte. Diese Einheit war an die Verkörperung der Idee, an die Person Ottos II. gebunden. Durch den Untergang der Verkörperung wurde auch die Sache selbst direkt gefährdet. Die M i n d e r j ä h r i g k e i t Ottos I I I . : „ I m p e r a t r i x a u g u s t a " und „mater regnorum" Die imperiale Welt, die Otto II. f ü r Gerbert verkörpert hatte, war nur von kurzer Dauer. Der unerwartete Tod des Kaisers schien das ganze Gebäude zusammenbrechen zu lassen. Eine lange Zeit der Regentschaft stand bevor. Gerbert kehrte nach Reims zurück, da er in Bobbio jede Stütze verloren hatte. Die persönlichen Bindungen, die Freundschaft zum verstorbenen Herrn hatten aber die Grundlage zu der f ü r Gerbert so bezeichnenden Treue zu den Ottonen geschaffen und rissen auch zur Zeit des zweiten Reimser Aufenthaltes Gerberts nicht ab. Es ist nun interessant zu verfolgen, wie sich die Kaiservorstellungen Gerberts erhalten hatten, wie sich dieser Gelehrte dem Gang der Ereignisse M

) ibid. Brief 16 (984), pp. 12 s.: „Occidit, occidit, mi pater, status aecclesiarum Dei. Res publica periit, sanctuarium Dei pervaditur, populus praeda fit hostium. Consule, pater, quo me praevertam. Milites mei quidem arma sumere, castra munire parati. Sed quae spes sine rectore patriae, cum fidem, mores, animos quorundam Italorum pernoscamus?"

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anzupassen suchte, und wie sich die großartige Konzeption des Kaisertums Ottos I I I . heranbildete. Die Freundschaft mit Adalbero von Reims vertiefte sich immer mehr. Es folgte nun die Zeit, in der beide eine so enge und gemeinsam empfundene Politik führten, daß es schwerfällt, den eigentlichen Urheber zu bestimmen. Ich möchte es vermeiden, irgend einen Entscheid zu fällen. Denn so auffallend der Mangel an Nachrichten über die Bindungen Adalberos an das sächsische Kaiserhaus vor 984 ist, so wenig wage ich mit Leflon 27 ) und La Salle de Rochemaure 28 ) den Schluß zu ziehen, daß Gerbert durch Adalbero handelte, daß Gerbert allein die Politik eines Adalbero gemacht habe. Viel eher ist doch anzunehmen, daß beide Männer, die zweifellos zwei bedeutende Persönlichkeiten waren, sich in den gemeinsamen Ideen fanden und erst in ihrer Zusammenarbeit recht eigentlich fähig wurden, einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Zeit auszuüben. Wäre es sonst nicht merkwürdig, daß mit dem Tode Adalberos von Reims die Politik Gerberts an Sicherheit und Durchschlagskraft verlor, so daß wir doch etwa ahnen können, welchen Einfluß Adalbero auf den Lauf der Ereignisse gehabt haben mag. Gerbert hatte die Heimat seiner persönlichen Verbundenheit, seiner rechtlichen Stellung geopfert. Er wurde dabei auch von der Vorstellung einer Einheit des christlichen Abendlandes getragen. Adalbero opferte seine rechtliche Bindung an den westfränkischen König 29 ) seiner Abstammung von Lothringen 30 ) und vor allem der per") Leflon, pp. 119—136. M ) La Salle de Rochemaure, pp. 177 ss. ae ) Gerbert, Brief 49 (985) an Notker von Lüttich, p. 47: „Fidissimum vobia Adalberonem Rhemorum archiepiscopum nullo modo harum rerum conscium facietis, qui quanta prematur tyrannide testantur epistolae ad archiepiscopos vestros directae. In quibus nihil eorum quae voluerit scripsit, sed quae tyrannus extorserit oscitavit." Auf die Einstellung Gerberts zu den französischen Königen werde ich noch zurückkommen. Uns interessiert hier die zweifelhafte Stellung Adalberos, die in diesem Brief zum Vorschein kommt und die dann durch den Brief 54 an den Erzbiscbof von Trier und den Brief 57, einem Rechtfertigungsschreiben, das im Namen Adalberos an König Lothar gerichtet ist, noch deutlicher gemacht wird. cf. Uhlirz, M. Jahrbücher p. 48. 30 ) Brief 26 (984): Adalbero an den Erzbischof von Trier, p. 20: „Labefactari rem publicam vestram quorundam ignavia, cum perhorrescimus, tum erubescimus, et privilegio amoris nostri circa vos, et communi patriae

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sönlichen Anhänglichkeit 31 ) an das Kaiserhaus, dem auch seine ganze Familie tief verbunden war. Auch er mag von der Sicht einer christlichen Einheit geführt worden sein 32 ). Verschiedene Voraussetzungen führten beide zur Verfolgung eines großen gemeinsamen Zieles. Das Verhältnis zum ottonischen Haus wurde f ü r Gerberts weitere Entwicklung von großer Wichtigkeit. Er hatte aus Bobbio fliehen müssen; kein materieller Besitz band ihn mehr an die Ottonen. Otto II., sein Lehensherr, war tot, die Verpflichtung, in die er eingegangen war, erloschen; denn das Lehensband zerriß immer mit dem Tode des einen der beiden Partner. Und doch wollte Gerbert dieses Verhältnis nicht gelöst wissen. Ja, er erneuerte betont seine rechtliche Verpflichtung, als er Adelheid gegenüber beteuerte, daß er die Treue, die er dem Sohne seiner Herrin Adelheid bewahrt habe, auch der Mutter gegenüber halten werde, und wenn ihm dies nicht möglich sei in ihrer Anwesenheit, so wolle er von ferne alles daran setzen durch Rede, Wunsch und Gebet 33 ). Diese Auffassung des Lehensbandes, das über den Tod hinaus dauert, war nicht die Folge einer Verpflichtung. Es war ein freiwilliger Entschluß. Wie wenig selbstverständlich die Bindung eines Lehensmannes zum Sohne des verstorbenen Herrn in jener Zeit noch war, wie eng das Lehensrecht noch mit der Person und nicht mit dem Institut verbunden war, bewies uns die in unserer Einleitung erwähnte Antwort der Bürger von Pavia an Konrad II. 34 ). Was steckte hinter dieser freiwilligen Treue Gerberts, was brachte ihn zu dieser Haltung? War eine großartig konzipierte Idee die treibende Kraft? War es

31

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*a) ")

")

cognatione." Wenn er auch nicht zum gemeinsamen staatlichen Gebiete wie der Erzbischof von Trier gehöre, so hätten sie doch eine gemeinsame Heimat. „Patria" will hier allerdings in seinem engeren Sinne, im Sinne Lothringens verstanden sein und nicht im Sinne Deutschlands. Das schwächt aber die Tatsache nicht ab, daß Adalbero sich mit einem Gebiet verbunden fühlte, das außerhalb des Westfrankenreiches lag. Brief 27 (984) Adalbero an Willigis von Mainz, p. 21: „Nos quidem pietas, et multa circa nos Ottonum beneficia, filio Caesaris adversari non sinunt." Deutlicher könnte sich Adalbero wohl kaum ausdrücken. cf. Lot, Derniers Carolingiens, pp. 237 ss.; Sepet, Adalb6ron, p. 122. Gerbert, Brief 20 (984), p. 16: „Mea sententia haec est, quam fidem filio dominae meae A. servavi, earn matri servabo, si nequeo praesens, saltim absens, bene loquendo, bene optando, bene orando." v. p. 11.

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eine praktisch-politische Erkenntnis oder gar der Ehrgeiz eines Strebers? Immer wieder, wenn Gerbert in seinen Briefen von Otto II. spricht, zeigt er ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit 35 ), der menschlichen Verbundenheit. Rein materielle Vorteile oder bloß rechtliche Bande hätten dies kaum bewirken können. Aber gerade weil im Verhältnis Gerberts zu seinem Herrn die menschliche Teilnahme zu überwiegen scheint, wird es begreiflich, daß sich diese Zuneigung auf diejenigen Menschen überträgt, die dem Verstorbenen am nächsten standen, auch wenn die politische Situation im Augenblick f ü r diese Parteinahme wenig Vorteile bot. Hätte Gerbert bloß die Verwirklichung einer abstrakten vorgefaßten Idee des Kaisertums verfolgt, so wäre sie beim aufständischen Heinrich von Bayern viel eher zu finden gewesen. Die Mühseligkeiten und Gefahren der Zersplitterung des Reiches, die mit einer Vormundschaft hätten eintreten können, wären vermeidbar gewesen. Aber Gerbert hatte nicht einen Augenblick an diese Möglichkeit gedacht. Auf dieser menschlichen Grundlage bauten sich nun die Beziehungen zur Kaiserin Adelheid, zur Kaiserin Theophanu, schließlich zu Otto III. auf. Sie sollten, wie wir sehen werden, wiederum auf die ideellen Vorstellungen Gerberts wirken, genau wie das Verhältnis zu Otto II. Theophanu, die nach dem Tode ihres Gatten die Regentschaft übernahm und mitWilligis von Mainz energisch das Reich zu regieren verstand, hatte Gerbert sicher auch persönlich gekannt. Es ist verständlich, daß er neben Adelheid vor allem in ihr seine Herrin sah36) und auch ihr die Treue zu wahren gelobte. Ihr wünschte er eine glückliche Regierung und ihr stellte er es anheim, ob er in Frankreich bleiben oder ob er an den Hof nach Pavia eilen *6) Gerbert, Brief 12 (983), p. 9: „Nam quae pars Italiae possessiones beati Columbani non continet? Hoc quidem ita ex largitate et benevolentia nostri Caesaris." Beide Ausdrücke „largitas" und „benevolentia" deuten auf die Bindung zwischen Gerbert und dem Kaiser hin. „Largitas" ist die Spendefreudigkeit, die Freigebigkeit mit materiellen Gaben, „benevolentia" ist aber viel mehr, es ist das persönliche Wohlwollen. Brief 13 (983), p. 10: „Domini nostri G. magnanimitatem, intentionem, appetitum bonorum virorum supereminentem cognovistis." *>) Brief 22 (984) an Imiza, pp. 17 s.

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solle37). Auf Theophanu hat sich in einem gewissen Maße —• soweit es überhaupt f ü r eine Frau möglich war — der antike Herrschergedanke übertragen. Die großartigen Epitheta 38 ), mit denen Gerbert sie schmückte, sind nicht bloße Formeln. Theophanu wird dadurch in eine Stellung erhoben, die an die alten römischen Kaiser erinnert. Gerbert kannte sicher die byzantinische Tradition 39 ) und mag so in der byzantinischen Abstammung der Kaiserin eine weitere Bindung zur Welt der Antike gesehen haben. Wie ernst es Gerbert dabei war, verrät uns sein 984 geschriebener Brief an Abt Raimund von Aurillac, seinen alten Lehrer. Gerbert hatte hier nicht den geringsten Grund, der Kaiserin eine besondere Ehrung zu erweisen, und doch schrieb er von seiner Herrin, der erhabenen Theophanu, die er immer lieben und verehren müsse 40 ). Aber nicht nur in Theophanu lebte Otto II. weiter, er lebte vor allem im kleinen Otto III., dessen Partei Gerbert nie verlassen hat. Es ist interessant zu beobachten, wie das Verhältnis Gerberts sich während der Zeit der Minderjährigkeit gestaltete. Bahnte sich schon hier eine Entwicklung an, die sich erst 997 eruptiv in einer unglaublichen Begeisterung Ausdruck verschaffte, einer Begeisterung, die den jungen Otto mit seinen gewaltigen imperialen Gedanken erfüllte? Oder ist die eigentliche Verherrlichung des jungen Kaisers Otto III. erst aus späteren überraschenden Ereignissen zu erklären? Für Gerbert existierte Otto I I I . in diesen Jahren noch gar nicht, wenigstens nicht als Mensch und selbstständige PersönS7

) Brief 37 (984), pp. 35 s.: „Itaque et dominam meam Teuphanu mei recordari facies, quam semper cupio bene valere, et cum filio feliciter imperare, cujus memoriam, ut aequum est, frequentem habeo, ad cujus auxilium me quamplurimos declamatorie, ut nosti, exacuisse, Gallia testis est. Ergo tui officii erit rescire et scribere, an in Frantia velut miles succenturiatus pro castris Caesaris remaneam, an paratus omne periculum subire, vos adeam, an potius ad iter quod tu et domina mea bene novistis me praepararem, ut Papiae in palatio dispositum est." Dieser zweite Satz., in seiner antik wirkenden Bildhaftigkeit, ist sicher mehr als eine bloß sprachliche Gewandtheit, sondern wird vielmehr der Überzeugung Gerberts entsprechen. 38 ) Briefe 22, 37, 45, 50—52, 85, 91, 100, etc. 89 ) cf. auch Brief 111, pp. 101 s. 40 ) Brief 45 (984) an Raimund von Aurillac, pp. 43 s.: „Hinc sacris litteris dominae nostiae Teuphanu imperatricis semper augustae, semper amandae, semper colendae, prioribus divellimur ceptis."

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lichkeit; er war allein der Sohn Ottos II., der Sproß „unseres Kaisers" (herilis nostri Caesaris), der „Kaisersohn" (filius Caesaris, filius imperatoris) 41 ), er war noch nicht der König, der Herr, der verehrungswürdige Kaiser selbst. Einmal nannte ihn Gerbert „rex", und da tat er es wahrscheinlich im Auftrage der französischen Könige 42 ). All diese Bezeichnungen stehen in denkbar starkem Gegensatz zu späteren Briefen, wo Otto I I I . mit schmückenden Beiwörtern und Titeln j a nur so überschüttet wurde 43 ). Obwohl der schon zum König gekrönte Otto theoretisch Herrscher des Reiches war, lebte er f ü r Gerbert während der Zeit der Regentschaft nur durch seine Berechtigung auf die Wiederaufnahme des Kaisertums, das sein Vater besessen hatte. „Ohne Kaiser sind wir die Beute der Feinde. Wir glaubten, im Sohne lebe der Kaiser weiter", schrieb Gerbert 984 an Willigis von Mainz 44 ). Die Bedeutung des dynastischen Denkens drückt sich hier in einer ihrer ursprünglichsten Formen aus. Otto I I I . lebte durch die Vorstellung Gerberts von Otto II., konnte aber noch keine selbständige Stellung einnehmen, da er selbst die Ideen Gerberts noch nicht zu verkörpern vermochte. Seine Abstammung ließ dies freilich hoffen. Sie garantierte es aber nicht. 986 erschienen erste Anzeichen, die verraten, wie Gerbert die Entwicklung Ottos III. sehen wollte. Noch zehrte jener vom Erbe seines großen Vaters: „Der strahlende Sproß Kaiser Ottos, königlichen Gedenkens, hat den Frieden zwischen den Herzogen und Fürsten wiederhergestellt und im nächsten Sommer Legionen von Soldaten gegen die Sarmaten geführt, welche man in der Volkssprache Guiniden (Wenden) nennt, und dort hat er 46, alles wohlbewaffnete Städte durch seine Anwesenheit und die Tapferkeit der Soldaten eingenommen, niedergerissen und zerstört" 45 ) . Hier sehen wir zum ersten Mal, wie der junge Kaiser

« ) Briefe 37, 47, 57, 59, 32. « ) Brief 174 (990), p. 154. 43 ) Brief 182 (997), p. 166: „Domino et glorioso Ot. Cesari semper augusto, Romanorum impcratori." Brief 183 (997), p. 167: „Domino excellentissimo Ot. Cesari semper augusto." cf. ebenso die Briefe 185, 219 und die Einleitung zum Liber de rationali et ratione uti (App. II, pp. 236). 44 } Brief 34 (984) an Willigis von Mainz, p. 33: „Caesare destituti, praeda hostium sumus. Caesarem in filio superesse putavimus." **) Brief 91, (986) an Raimund von Aurillac, pp. 83 s.: „Clara indoles divae

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die Initiative ergreift, handelt. Selbständig übernimmt er die Pflichten eines Königs und Kaisers — noch nach dem Vorbild seines Vaters: Erhaltung des Friedens im Reiche und die Bekämpfung der Feinde nach außen. Diese Charakteristik zeigt, daß f ü r Gerbert nur der tätige, waffenfähige Mann ein Recht auf das Kaisertum hatte. Er mußte sich im Kriege bewähren, um die kaiserlichen Ehren zu erhalten. Dies ist auch der Grund, warum eine so tatkräftige Frau wie Theophanu nie ganz die Stellung eines Kaisers einzunehmen vermochte. 986 war Otto I I I . allerdings noch ein sechsjähriger Knabe. Die Schilderung Gerberts hat also noch stark programmatischen Charakter und, wenn auch der junge Kaiser äußerlich die ersten, eines Kaisers würdigen Taten vollbracht hatte, so konnte er das Bild seines Vaters doch nicht ganz verwischen. Zur selben Zeit schrieb Gerbert auch einen Brief an den Mönch Bernhard von Aurillac, der uns zeigt, wie trotz der persönlichen Note, die Ottos Bild allmählich in den Augen Gerberts gewann, die Erinnerung an Otto II. immer noch überwog: „Ich überlasse es dem Urteil anderer, ob es der Erinnerung wert sei, daß ich aus Italien wich, um nicht mit den Feinden Gottes und des Sohnes meines Herrn Otto, göttlichen Gedenkens, Frieden schließen zu müssen, oder . . . 4 e )." In der Beziehung Gerberts zu Theophanu und dem noch unmündigen Sohne Otto III. fanden wir ein Weiterleben der Verehrung Ottos II. und der damit verbundenen Vorstellungswelt. Diese wirkte aber auch auf die Person Adelheids, der Mutter Ottos II.; Gerbert hatte Adelheid in Bobbio, vielleicht sogar schon 970 in Rom, am Hofe Ottos I. gekannt. Wenn er auch als Abt von Bobbio in Italien einige Meinungsverschiedenheiten mit ihr gehabt und sich ihren Forderungen widersetzt hatte 47 ), memoriae Ottonis Caesaris, pace inter duces ac principes redintegrata, proxima aestate legiones militum duxit in Sarmatas, quos ea lingua Guinidos dicunt, ibique sex et quadraginta urbes munitissimas sua praesentia ac militum robore cepit, diruit, atque vastavit." **) Brief 92 (986) an den Mönch Bernhard von Aurillac, p. 84: „Sed an memoria dignum sit, aliorum juditio derelinquo, vel quod Italia excessi, ne cum hostibus Dei ac filii senioris mei divae memoriae Ο. quolibet modo cogerer pacisci..." 4 ') Brief 6 (983) an die Königin Adelheid, p. 5. Es handelt sich um das Gut,

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so wurde er doch nach dem Tode Ottos II., wie wir gesehen haben 48 ), dazu bewogen, auch ihr die Otto gelobte Treue zu halten. Sie war für Gerbert ebenfalls die Herrin, die erlauchte Kaiserin 49 ). Und doch erhalten wir bei Adelheid den Eindruck, daß sie in der Vorstellung Gerberts eine etwas andere Rolle spielte als Theophanu, die zu anderen Gedanken christlicher Einheit führte, welche denen aus der Zeit Ottos II. nicht mehr ganz entsprachen. Diese neue und zum mindesten leicht abgewandelte Einstellung hat ihre vollendete Form erreicht im berühmten Schreiben der Königin Emma an Adelheid, das Gerbert verfaßt hatte und in dem Emma nach dem Tode König Lothars ihre Mutter um Rat frägt 50 ). „Ihr werdet erfahren haben", schrieb sie, „daß inzwischen die Großen Frankreichs mir und meinem Sohne zugleich die Treue eidlich beschworen haben. Hierin und im übrigen werden wir uns Eurem Rat anvertrauen, um zu entscheiden, was zu befolgen, was zu meiden sei, damit man Euch nicht nur der Königin Emma, sondern aller Königreiche Mutter nennt. Ihr erinnert Euch außerdem Eurer Worte, daß Ihr meinen Gemahl mehr als mich selbst liebtet und daß er Euch mehr als mich selbst geliebt habe." Die Stelle ist nicht vereinzelt. Zwei Jahre später lesen wir in einem Brief an Adelheid: „Gewiß ist es offenbar, daß Ihr bis jetzt die erlauchteste Herrin und die Mutter der Königreiche gewesen seid, und wir glaubten, daß Ihr uns in unseren Gefahren, das Gerbert gegen den Willen der Kaiserin einem gewissen Gripho verweigerte. Brief 20 (984) an die Kaiserin Adelheid, p. 16: „Multa quidem peccata mea ante Deum. Sed contra dominam meam, quae, ut a servitio ejus repellar? Fidem promissam numquam violavi, commissa non prodidi. Pietatem sine avaritia exercere me putavi. Si erravi circa voluntatem vestram modicum quid, fecit hoc inprovidentia, non deliberatio." Der Versuch, ein gutes Verhältnis zur Kaiserin wieder anzubahnen, ist offensichtlich. « ) v. p. 78 und n. 33. 49 ) Gerbert, Briefe 6, 20, 101. 5 0 ) Brief 74 (986), p. 70: „Noveritis interim Francorum principes michi ac filio simul fidem sacramento firmasse. In hoc et in reliquis quae sequenda, quae vitanda sint, vestro judicio utemur, ut non solum Η. reginae, sed omnium dicamini mater regnorum. Recordamini praeterea verboruni vestrorum, quod virum meum prae me dilexeritis, quodque ipse prae mc vos amaverit."



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falls solche irgendwo auf uns hereinbrechen, zu Hilfe eilen wollt, und ganz besonders f ü r die einst so geliebte Tochter 51 )." In diesem Sinne scheint mir auch die Stelle eines früheren Briefes, kurz nach dem Tode Ottos II. geschrieben, verstanden werden zu müssen: „Nun möge Eure Frömmigkeit vorherrschen, welche Eure Gerechtigkeit immer umgab. Dazu ist Euch Gott gnädig, der Euch die Reiche verbindet und die mächtigen Könige Eurer Herrschaft (imperio) unterwirft 62 )." Man möchte doch wohl vorerst versucht sein, eine Sicht des Römischen Reiches (vestrum imperium) in diesen Worten zu finden. Diese Interpretation scheint mir etwas voreilig. Das „imperium vester" ist nicht das Römische Reich, es ist hier vielleicht nicht einmal die Herrschaft Adelheids gemeint (was der ursprünglichen Bedeutung des Wortes entsprechen würde), ich bin beinahe versucht, es mit „Einfluß" zu übersetzen; ihr Einfluß durchdringt alle Königreiche, er verbindet die verschiedenen Reiche, so wie wenn eine Mutter ihre Familie um sich schart. Deshalb ist der Ausdruck „mater regnorum" so bezeichnend, so typisch f ü r die Stellung Adelheids. Und wenn Gertrud Bäumer sich, von dieser Vorstellung ausgehend, zu einem mehr als 600 Seiten langen Roman inspirieren ließ, so war der Ausgangspunkt sicher nicht verfehlt, auch wenn wir mit ihrer Auffassung nicht überall einig gehen können 53 ). Denn Adelheid war auch wirklich Mutter der Königreiche: Mutter Emmas, der Königin von Frankreich, Schwester Konrads, des Königs von Burgund, Mutter Ottos II., Großmutter Ottos III., der Könige Deutschlands und Italiens. Erinnert diese Vorstellung nicht an die patriarchalische Stellung Ottos I., der wir schon im Werke Flodoards begegnet sind 64 )? Hier hatte Adelheid das Erbe Ottos I. übernommen, ein Erbe, das sie in ihrer Person weitertrug. Die dynastische Vorstellung oder vielleicht, besser, das „Familienbild" einer abendländischen 61

) Brief 128 (988) an Adelheid, p. 116: „Certe clarissimam dominam, ac matrem regnorum vos hactenus fuisse manifestum est, nostrisque periculis, si qua ingruent, credidimus velle succurrere, nedum filiae quondam dilecte." M ) Brief 20 (984) an Adelheid, p. 16: „Favet ad hoc divinitas regna vobis concilians et reges potentes vestro imperio subdens." 53 1 Bäumer, Gertrud, Adelheid, Mutter der Königreiche, Tübingen 1936. ••-. pp. 45, 51.

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G e m e i n s c h a f t finden wir in m a n c h e n Briefstellen Gerberts. I m m e r wieder stoßen w i r a u f A u s d r ü c k e wie „ r e g n a " u n d j e d e s

Mal,

w e n n v o n „ i m p e r i u m " die R e d e ist, so h a t dieses viel m e h r den Sinn d e r H e r r s c h a f t ,

als d a ß es a n das alte

Römische Reich

e r i n n e r t e 5 5 ) . E s ist g e r a d e z u auffallend, d a ß bei allem L o b , das G e r b e r t d e r K a i s e r i n Adelheid zollte, e r b e i n a h e kein G e w i c h t a u f universal-antik gefärbte G e d a n k e n legte. D a m i t g a b er seine G r u n d h a l t u n g , das S t r e b e n n a c h einer christlich-abendländischen G e m e i n s c h a f t n i c h t auf.

E r p a ß t e sie n u r d e n

geschichtlichen

U m s t ä n d e n a n ; u n d w e n n er sie z u r Zeit O t t o s I I . in der F ü h r u n g d u r c h d e n K a i s e r i m Sinne des antiken R e i c h e s sah, so neigte e r n u n m e h r u n d m e h r zu einer V o r s t e l l u n g d e r friedlichen

Ge-

meinschaft m e h r e r e r R e i c h e . F ü r die eine T e n d e n z f a n d er die V e r k ö r p e r u n g in O t t o I I . , f ü r die a n d e r e in Adelheid. I c h m ö c h t e allerdings v o n einer strengen S c h e i d u n g d e r beiden Richtungen

warnen

und

hervorheben,

daß

nach

dem

Tode

O t t o s I I . die A n k l ä n g e a n eine a n t i k - r ö m i s c h e V o r s t e l l u n g nie g a n z ausgesetzt h a b e n . D a r a u f sind wir g e n ü g e n d bei d e r D a r -

M)

Gerbert, Brief 38 (984) im Namen Adalberos, p. 36: „Ea quae per nostrum G. nobis significastis, laetetiae et jocunditatis plena fuerunt, de statu aecclesiarum Dei, atque regnorum, et per quem virum haec fieri possent." Brief 35 (984) an Gerald von Aurillac, p. 34: „Causa negotium continens, status regnorum est." Brief 27 (984) von Adalbero von Reims an Willigis von Mainz, p. 21:. „Regnorum perturbatio, quid aliud estquam ecclesiarumdesolatio?"EinSatz, der im Grunde die gleich enge Verquickung von „regnum" und „sacerdotium" verrät wie später die Vorstellung vom Kaiser und Papst. Brief 39 (984) an Notker von Lüttich, p. 37: „Turba regnans regnorum perturbatio." Zeit, in der Heinrich der Zänker sich mit Lothar in Breisach treffen wollte. Brief 52 (985) an die Kaiserin Theophanu, p. 49: „Sed quia prineipum dissensio interitus regnorum est, prineipum vestrorum concordia remedium tantorum malorum nobis fore videtur." Brief 20, v. n. 52. Diese Beispiele veranlassen uns eher „imperium" mit Herrschaft zu übersetzen, die die Reiche (regna) unter sich einigen kann. Brief 204 (995—997) an Adelheid, pp. 193 ss: „Sevit et ipsa quae solatio debuit esse Roma. Oro ergo et deprecor vestra vestro imperio mitescant regna. Ego quippe totus, ubique vester, vestrum expecto examen et levamen. Idque solum certum est, nos sequi velle, quod vobis constiterit placuisse." Der Brief stammt wahrscheinlich aus einer Zeit wenig vor der Ankunft Gerberts an den kaiserlichen Hof Ottos I I I . 85

Stellung der Beziehungen Gerberts zu Theophanu und Otto III. eingegangen. Da ein kraftvoller, kriegerischer Herrscher diesen kaiserlichen Einheitsgedanken nicht verwirklichen konnte, da dieses Bild einer von mächtiger Hand vereinten christlichen Welt zur Zeit der Vormundschaft nicht möglich war, wurde Gerbert in eine neue Vorstellungswelt gedrängt, der die beiden herrschenden Frauen und vor allem Adelheid genügten. Es war die Welt des friedlichen Nebeneinanders christlicher Reiche unter der Leitung einer vielverzweigten Königsfamilie. Der U m s c h w u n g von 987 — d a s K o n z i l von St. B ä l e : „ c o n c o r d i a p r i n c i p u m et e c c l e s i a r u m " In die Zeit der Vormundschaftsregierung für Otto III. fallen aber zwei Ereignisse von welthistorischer Bedeutung, an denen Gerbert direkt beteiligt war, die Wahl Hugo Capets zum französischen König, das Auftreten einer neuen Dynastie in Frankreich und das Konzil von St. Bäle, das den Streit um das Erzbistum Reims aufgeworfen hatte. Es ist allerdings nicht unsere Aufgabe, diese Geschehen an sich zu behandeln, und wir werden nur so weit darauf eingehen, als sie über das Verhältnis Gerberts zu den Ottonen und über seine Reichsauffassung Aufschluß geben können. Gerbert und Adalbero haben auf die Königswahl Hugo Capets sicher den größten Einfluß ausgeübt 36 ). Welchen Anteil den beiden einzeln an diesen Ereignissen zuzuschreiben ist, scheint mir nebensächlich, da sie offensichtlich einig waren. Die Schwierigkeiten einer genauen Erfassung der Geschehnisse treten erst auf, wenn man nach den Motiven frägt, die Gerbert und Adalbero zur Unterstützung des Robertiners veranlaßt haben. Marc Bloch meint, daß der Hauptgrund zum Sturz der Karolinger die Anhänglichkeit der beiden an den Kaisergedanken war. Diesem Gedanken habe man die dynastische Idee geopfert 57 ). Wenn auch ) cf. Sepet, Gerbert; Cartellieri, Weltstellung, pp. 205 s.; L a Salle de Rochemaure, pp. 225 ss.; Leflon, pp. 169—203.; Lot, Derniers Carolingiens, pp. 201 ss.; Schultess3 pp. 35 s. 5 ') Bloch, t. II, p. 162: „Que les plus actifs et Ies plus intelligents des chefs de l'Eglise, un Adalbiron, un Gerbert, en raison meme de leur attachement ä l'idee imperiale, aient cru devoir sacrifier aux porteurs actuels de cette id£e la dynastie de Charlemagne, tel fut, sans doute, dans l'equilibre des forces non plus materielles, mais morales, l'element dicisif."

6e

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die Deutung verlockend, j a bestechend ist, so müssen wir daran doch etwas zweifeln, nachdem wir eben festgestellt haben, daß die Gedanken Gerberts zu einer abendländischen Einheit eine weniger „zentralistische" Haltung zeigen und ihnen ein Weiterbestehen der Karolinger nicht im Wege gestanden hätte. Freilich ist Gerberts Einstellung zu den letzten Karolingern nicht gerade sehr positiv. Selten geht er j a mit ihren Titulaturen über das alleinstehende Wort „rex" hinaus 58 ) und er zögert auch nicht, sie manchmal „tyranni" zu nennen 59 ). Ferdinand Lot 60 ) stützt sich vornehmlich auf Aussagen Richers 61 ), wobei er als das Wesentliche die Tatsache betrachtet, daß Karl von Lothringen Vasall des Reiches gewesen sei. Hätten Gerbert und Adalbero die Einheit der Christenheit im Auge behalten, so hätte sich doch die prächtigste Gelegenheit geboten, die französische Krone in ein neues Abhängigkeitsverhältnis zum Reiche zu bringen, gerade indem ein Reichsvasall auf den Thron gehoben wurde. Ferner müssen wir uns fragen, ob die Vertreter des Reiches damals so weit mit der Erhebung Hugo Capets einverstanden waren, fanden doch die Karolinger während langer Zeit immer wieder neue Unterstützung durch die Ottonen gegen das mächtige Haus der Herzöge von Franzien, und zwar in Augenblicken, wo die Überlegungen Blochs die gleiche Kraft besessen hätten? Unterstützte nicht noch zwei Jahre später die kaiserliche Politik den karolingischen Kronprätendenten gegen Hugo? Erhielt nicht Arnulf, der Karolinger, beim Streit um das Erzbistum Reims eine Förderung von Seiten des deutschen Episkopats? Ohne die heikle Frage wirklich entscheiden zu wollen und ohne die vorgebrachten Gründe abzulehnen, möchte ich doch noch auf einige persönliche Elemente hinweisen. So stark auch die Anhänglichkeit Gerberts an das sächsische Kaiserhaus war — und dies sah man in Frankreich ohne weiteres62) —· so wenig müssen wir dieses Verhältnis ganz ungetrübt glauben. Aus manchen Briefen Gerberts spricht ein etwas bitterer Ton, denn er M

) Gerbert, Briefe 48, 52, 71. ") Briefe 49, 52; cf. n. 29. ,l Lot, Derniers Carolingiens, pp. 201—211. ) Richer IV, 9—11. *2) Gerbert hat sich auch in Frankreich zu seinen Bindungen an die Ottonen bekannt. Brief 45 (985) an Raimund von Aurillac, cf. n. 40. Auch von seinem Freund

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sah, daß seine Treue schlecht belohnt wurde 63 ), daß seine Hingabe und Liebe auf recht geringe Gegenliebe stieß. Ist es da verwunderlich, daß er sich an Hugo wandte, auf den er als Lehrer Roberts des Frommen zählen durfte? Kann man es ihm da verargen, daß er sich eine Rückzugsmöglichkeit wahren wollte, die auf einer tatsächlichen Machtstellung beruhte? Er konnte bei dieser Einstellung immer noch hoffen, beide Höfe für sich zu gewinnen, eine Idee, die er auch später wieder aufnahm und die ihn schon früher beschäftigte 84 ). Ich frage mich überhaupt, ob Gerbert, wenn er in Reims Erfolg gehabt hätte, wieder zu den Ottonen zurückgekehrt wäre. Als Erzbischof von Reims ist er doch in ein neues Lehensverhältnis zum französischen König eingetreten, das seine Stellung und Haltung entscheidend beeinflussen mußte. Er hat dem französischen Königtum die Treue so lange bewahrt, bis er sehen mußte, wie Robert II. ihn fallen ließ, um sich mit dem Papste zu versöhnen, um die Genehmigung der Heirat mit Berta von Blois zu erwirken. Ferner ist es bekannt, auf welch schlechtem Fuß Adalbero und Karl von Lothringen zueinander standen, auch eine persönliche Beziehung, die in diese Richtung drängt. Im Zusammenhang mit dem Thronwechsel von 987 dürfen wir sicher das persönliche Motiv nicht vernachlässigen; es kann mindestens so stark gewirkt haben wie das ideelle, be-

Konstantin, dem Abt von Micy, erhält er einen Brief, der seine Stellung genügend charakterisiert. Constantin bittet in diesem Brief (143, pp. 127 s. vom Jahre 988), Gerbert möge doch gegen Oilbold, den Abt von Fleury, intervenieren: „Modo quia liberavit nos Dominus de ore leonis, solitam operam impendite, ut imperio senioris ac dominae vestrae ille violentus praedo saltem suppellectilem nostram reddere cogatur." Unter „Senior" und „domina" sind wohl, wie Havet mit Recht vermutet, Otto III. und Theophanu gemeint. Ich könnte mir sonst kaum das „vestrae" erklären, das sich j a hier unmöglich auf den französischen König beziehen kann. Brief 159 (989), pp. 141 ss: „Non alienum est a vestra humanitate ac sacrosancto sacerdotio, querentibus consilium, consilium dare. Nulli mortalium aliquando jusjurandum praebui, nisi divae memoriae Ο. Cesari. Id ad dominam meam Th. ac filium ejus O. augustum permanasse ratus sum. Quippe cum in tribus unum quiddam quodammodo intellexerim. Quousque ergo hanc fidem servandam censetis? Dico equidem quod spoliatus amplissimis rebus imperiali dono collatis, apostolica benedictione confirmatis, nec una saltim villula ob fidem retentam vel retinendam donatus sum. Dico quod inter gravissimos hostes vestros positus, nullis eorum beneficiis quamvis ingentibus oblatis inflexus sum. Quousque ergo id genus amicitiae exercebo?" M ) ζ. B. Brief 181.

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sonders in einem Augenblick, wo dieses noch immer nicht ganz klare Formen angenommen hatte und zwischen zwei Tendenzen hin und her schwankte. Der Streit um die Nachfolge Adalberos von Reims und vor allem die Synode von St. Bäle fordern eine nähere Betrachtung der kirchlichen Anschauungen Gerberts. Denn sie zeigen uns auffallende Parallelerscheinungen zu seiner Vorstellung vom Kaisertum. Sie hat auch manche bedeutende Historiker zu einer Auffassung des Kaisergedankens bei Gerbert bestimmt, auf die wir noch zurückzukommen haben 65 ). Wie wir schon oben erwähnten, hat Gerbert auf Grund seiner geistigen Erziehung eine recht neutrale Stellung zu den kirchlichen Strömungen seiner Zeit eingenommen, da er unter dem Einfluß der beiden großen Gruppen der Geistlichkeit gestanden hatte, unter dem Einfluß des Mönchstums und des Weltklerus156). Seine kirchlichen Ideen traten in einem Augenblick in Erscheinung, in welchem er einen ziemlich extremen Standpunkt zu verteidigen schien, in dem er als Vorkämpfer des französischen Episkopates gegen die Päpste in die Schranken trat; er mußte deshalb vom Mönchstum heftige Angriffe in Kauf nehmen und spielte eigentlich f ü r einen zukünftigen Papst eine recht seltsame Rolle. Es ist daher gar nicht verwunderlich, wenn man ihm oft eine wankelmütige Haltung vorgeworfen hat, \venn man bei ihm 997 eine plötzliche geistige Wendung feststellen wollte. Eichengrün hat, glaube ich, mit Recht daraufhingewiesen, daß Gerberts kirchliche Auffassung in Rom wie in Reims auf den gleichen Grundlagen ruhte 67 ). Rom als kirchliches Zentrum hat Gerbert immer anerkannt, ebenso die Vorzugsstellung des römischen Bischofs. Aber die Vorwürfe richteten sich gegen die Päpste als schlechte Verwalter der kirchlichen Güter, als schlechte Vertreter der kirchlichen Einheit; die Institution des Papsttums wurde nicht berührt. Schon 984, als Gerbert sicher noch keine bischöflichen Rechte zu verteidigen hatte, klagte er laut über die traurigen Zustände in Italien. Im Briefe an Papst Johann XIV. tadelte er allein die traurigen Zustände in Bobbio, der Papst w

) Erdmann, Imperium Romanum, pp. 430—433, Ideenwelt, p. 47. ) v. pp. 69 s. *7) Eichengrün, pp. 46— 58. M

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wurde noch zu Hilfe gerufen 88 ). Aber noch im gleichen Jahr schrieb er nach Rom: „Ganz Italien scheint mir Rom zu verkörpern. Die Sitten der Römer versetzen die Welt in Schauer. Auf welchen Zustand ist Rom heute herabgesunken? Welches sind die Päpste und Herren der Welt? 6 9 )." In den ersten 90er Jahren traten die gleichen Argumente in verschärfter Form auf und fanden in der 994 verfaßten Rede Arnulfs von Orleans an der Synode von St. Bäle (991) ihren Höhepunkt 70 ). Auch hier, wo doch das gallische Episkopat in offener Opposition zum Papsttum stehen sollte, bemerkte Arnulf in seinen einleitenden Worten: „Wir haben beschlossen, verehrteste Väter, die römische Kirche in der Erinnerung an den heiligen Petrus immer zu ehren, und wir wollen nicht den Beschlüssen der römischen Bischöfe entgegentreten . . . werden wir damit dem Papste Privilegien absprechen? Nicht im geringsten. Wenn der römische Bischof der Mann ist, den die Weisheit und Verdienste des Lebens empfehlen, so sind weder sein Schweigen noch ein neuer Richterspruch zu fürchten. Aber wenn er durch Unwissenheit, Furcht oder Begierde vom richtigen Weg abgebracht wird oder wenn sein Verhalten Mißfallen erregt, was wir in den heutigen Zeiten oft zu sehen bekommen, da in Rom eine ungerechte Herrschaft waltet, dann sind das gleiche Schweigen und ein neuer Richterspruch noch viel weniger zu fürchten 71 )." M)

Gerbert, Brief 23 (984), pp. 18 s.: „Graviter et iniquo animo fero, pervadi, diripi sanctuarium Dei creditum michi a sancta Romana et apostolica ecclesia. Porro quid deinceps stabilietur, si id dissolvitur quod actum est consensu principis, episcoporum electione, cleri et populi voluntate, postremo omnium hominum excellentissimi papae consecratione? si praecepta violantur, privilegia contempnuntur, divinae et humanae leges sustolluntur." e9) Brief 40 (984) an Stephan, Diakon der römischen Kirche, p. 38: „Tota Italia Roma michi visa est. Romanorum mores mundus perhorrescit. In quo nunc statu Roma est? Qui pontifices vel domini rerum sunt?" 70 ) v. p. 75. cf. Lot, Hugues Capet, pp. 31—81; Leflon, pp. 235—252, Uhlirz, M., Jahrbücher, pp. 143 ss. ") Gerbert, Acta Cone. Rem., MGH, SS. III, pp. 671 s.: „Nos quidem, inquit, reverentissimi patres, Romanam aecclesiam propter beati Petri memoriam semper honorandam decernimus, nec decretis Romanorum pontificum obviare contendimus . . . Num privilegio Romani pontificis derogabimus? Minime. Sed si Romanus episcopus is est, quem scientia et vitae meritum commendet, nec silentium nec nova constitutio metuenda sunt. Quod si vel ignorantia, vel metu, vel cupiditate abalienatur, vel conditio

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Er, Arnulf — und damit auch Gerbert —, der den römischen Bischof, wenn er seines Amtes würdig war, ohne weiteres anerkannte, konnte nicht hinnehmen, daß die ganze Kirche zugrunde gehen sollte, einfach weil ein Scheusal auf dem Stuhle Petri saß oder der Papst unter dem Drucke eines Tyrannen — wieder im augustinischen Sinne verstanden —• stand 72 ). So blieb nach seiner Meinung nichts anderes mehr übrig, als Zeiten abzuwarten, in denen würdigere Vertreter den Stuhl Petri innehaben würden, und b i s d a h i n (interim) die Nahrung des göttlichen Wortes dort zu suchen, wo sie zu finden war 73 ). J a Arnulf ging sogar so weit, in den unwürdigen Päpsten seiner Zeit die Vorläufer des Antichrists zu vermuten, war doch die Prophezeiung genügend bekannt, daß der Antichrist einmal im Tempel Gottes sitzen werde, mit allen Zeichen göttlicher Würde geschmückt 74 ). Auf den Stuhl Petri durfte nach der Meinung Gerberts nur der würdigste Vertreter des Episkopats kommen, der dann allerdings die Vorrechte seines Amtes besitzen sollte. Nur ein solcher Papst war fähig, die Idee des Papsttumes zu verkörpern und damit Wirklichkeit werden zu lassen. Denn ohne die Verkörperung verliert invidiam facit, quod fere sub haec tempora vidimus, R o m a e tirannide praevalente, tunc multo minus idem silentium et nova constitutio formid a n d a sunt." 72 ) Die Kirche ist in einem Zustand der Auflösung. ibid., p. 672: „ N a m quid sub haec tempora non vidimus! Vidimus Iohannem, cognomento Octavianum, in volutabro libidinum versatum, etiam contra eum Ottonem, quem augustum creaverat, coniurasse; . . . Succedit Romae in pontificatu horrendum monstrum Bonefacius, cunctos mortales nequitia superans, etiam prioris pontificis sanguine cruentus; . . . N u m talibus monstris hominum ignominia plenis, scientia divinarum et h u m a n a r u m rerum vacuis, innumeros sacerdotes Dei per orbem terrarum, scientia et vitae merito conspicuos, subici decretum est? Quid est hoc, reverentissimi patres? vel q u o n a m vitio fieri credendum est, ut caput ecclesiarum Dei, quod in sublime erectum, gloria et honore coronatum est, ita in infima deiectum, ignominia et dedecore deturpatum sit?" 7a ) ibid., p. 673: „Expectemus ergo primates nostros quoad possumus, atque interim divini verbi pabula, ubinam repperiri valeant, investigemus." Leflon, p. 247 übersetzt „En consequence, patientons nous au sujet des souverains autant que nous pourrons et e n a t t e n d a n t , cherchons l'aliment de la parole divine oil il est possible de la rencontrer." M ) ibid., p. 672: „Nimirum si caritate destituitur solaque scientia inflatur et extollitur, Antichristus est in templo Dei sedens, et se ostendens t a m q u a m sit Deus."

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jede Idee ihren eigentlichen Wert. Obwohl Gerbert später selbst Papst wurde, hat er diese Auffassung nicht verraten, konnte er doch ohne allzu große Selbstüberhebung glauben, mit seiner Person die Bedingungen zu erfüllen, die er vom höchsten kirchlichen Würdenträger verlangte 75 ). Von der Bedeutung seiner Aufgaben war er überzeugt. Wissen und christlicher Glauben fehlten ihm nicht. Falls aber ein unwürdiger Papst auf dem Bischofssitz in Rom saß, so verlangte die Erhaltung der Einheit der christlichen Kirche — und sie war sicher die Grundlage von Gerberts Denken — eine neue Form, die Gemeinschaft der Bischöfe, die Konzilien und Synoden. Es ist doch auffallend, wie in der Zeit, wo dem Kaisertum infolge des frühen Todes Ottos II. ein Kaiser fehlte, der eine würdige Verkörperung hätte sein können, wo dem Papsttum durch den Niedergang der römischen Kirche ein Papst fehlte, wo also die Einheit des Abendlandes unter der Führung der beiden Vertreter Christi, des Kaisers und des Papstes, nicht mehr eine Verwirklichung finden konnte, Gerbert eine neue Form dieser Einheit suchte und immer mehr in die Vorstellungswelt einer Gemeinschaft der Königreiche, einer Gemeinschaft der Bischöfe gedrängt wurde. Schon bald nach dem Tode Ottos II. schien für Gerbert alles in sich zusammengefallen zu sein. Die weltliche Macht war in voller Auflösung begriffen. Das „Imperium" hatte sich in verschiedene „regna" aufgelöst, die an sich nicht stark waren. Was brachte die Erschütterung der Königreiche anderes mit sich als den Niedergang der Kirche. Wenn mehrere regieren, so zerfallen die Reiche. Wenn die Kirche weiter erhalten werden soll, so haben die Fürsten zusammenzuhalten, da ja der Streit unter den Fürsten den Untergang des Reiches bedeutet'®). Da die Stellung der Kirche von der Ruhe der weltlichen Ordnung abhing, mußte diese Ruhe mit den vorhandenen Mitteln errungen werden. Das Nebeneinander verschiedener Reiche, die Idee des Zusammenschlusses der Bischöfe begeisterte Gerbert nicht besonders. Lieber hätte er 75

) cf. Eichengrün, p. 53. '«) cf. n. 55, Briefe 27, 39, 52.

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eine monarchische Zusammenfassung des Imperiums und der Kirche gesehen. Sie war aber nicht möglich, so daß sich Gerbert mit der der tatsächlichen Lage angepaßten Form zufriedengeben mußte. Nichts ist wohl packender, als den nüchternen Realismus dieses großartigen Denkers zu verfolgen, der Idee und Realität nur als Einheit sehen konnte.

Die Begegnung mit O t t o I I I . : „ n o s t r u m , n o s t r u m est R o m a n u m i m p e r i u m " Wie verhielt sich Gerbert zur Wiedererneuerung des Kaisertums durch Otto I I I . (996)? Der junge Kaiser wurde durch seinen tatkräftigen Vetter, Papst Gregor V., gekrönt, der ein J a h r zuvor die Würde des Pontifikats erhalten hatte. Mit diesen beiden Männern erhielt das Abendland zwei Spitzen, die gewillt waren, Ansehen und Ehre von Kaiser und Papst mit aller Energie wiederherzustellen. Die Reaktion Gerberts auf diese Wendung war nicht schlagartig, was mir ein Zeichen dafür zu sein scheint, daß Gerbert, der nicht weltfremd einem Ideal nachgeträumt hatte, eine gewisse Zeit brauchte, bis er sich wieder von seiner den Verhältnissen angepaßten Einstellung distanziert hatte. War es bloß der Kampf um seine Stellung in Reims, war es der immer schwächer werdende Rückhalt der Kapetinger, die Gerbert veranlaßten, die Anordnungen des Papsttums ergebener zu befolgen. Dies würde der Haltung vieler mittelalterlicher Menschen entsprechen und der „ideellen" Anpassungsfähigkeit Gerberts eine „materielle" hinzufügen. Das Prinzip des Stärkeren, dem man sich beugte, war im Mittelalter ein anerkanntes Prinzip. Oder war nicht der größte Teil der Argumente, die die Partei Gerberts in St. Bäle noch ins Feld geführt hatte, durch die Persönlichkeit Gregors V. zunichte gemacht worden und Gerbert damit gezwungen, die Opposition zu verlassen? Der eine Grund schließt den anderen nicht aus. Auch auf das neue Kaisertum Ottos III. reagierte Gerbert nicht sogleich. Er verließ Reims, weil ihn seine persönlichen Verhältnisse dazu zwangen. Doch am deutschen Hofe brach der ganze Imperiumsgedanke mit einer derartigen Wucht hervor, daß wir an der Echtheit der Gefühle Gerberts keinen Moment 93

zweifeln können. Hier noch an eine feine literarische Schmeichelei eines aquitanischen Höflings zu denken, scheint mir tatsächlich abwegig, ja geradezu unbegreiflich zu sein77). Gerbert erkannte und bewunderte die wiedererwachende Stärke der Ottonen. Er sah, wie das Streben nach einer sicheren Ordnung, auf die er schon zur Zeit Ottos II. gehofft hatte, wieder möglich schien. Die Erwartungen, die er während der Regentschaftsjahre genährt hatte, bestätigten sich. Die persönliche Begegnung mit dem jungen Herrscher zeigte, daß, was durch den Tod Ottos II. verlorengegangen war, in Otto III. erstand; ja dieser neue Kaiser war noch frischer, mutiger und begeisterungsfähiger, als es Gerbert gedacht hatte. Die Kaiservorstellung Gerberts aus dieser letzten Periode (nach 997) seines Lebens ist begreiflicherweise die meistuntersuchte, weil sie damals ihre abgerundetste Form fand und zugleich durch den Einfluß Gerberts auf den Kaiser oder zum mindesten durch die gemeinsame Auffassung von Lehrer und Schüler auch den Gang der abendländischen Geschichte grundlegend beeinflußte78). " ) Ich glaube, d a ß Cartellieri das Problem falsch sieht, wenn er in seiner Kaisergeschichte schreibt: „Es war ein Südfranzose, wohl der gelehrteste M a n n seiner Zeit, der einem deutschen Kaiser wohl zum ersten Male eine feine literarische Schmeichelei vortrug." (Weltstellung, p. 245). Z u r Haltung Gerberts nach dem Verlassen von Reims, cf. Uhlirz, M . , J a h r b ü c h e r , p. 222. ™) cf. ζ. B. Cartellieri, Weltstellung, pp. 255, 262, 277; E r d m a n n , Ideenwelt, pp. 47 ss.; Leflon, pp. 320—325; Spörl, Altes und neues Mittelalter, p. 313; Uhlirz, M., J a h r b ü c h e r , pp. 222, 417 ss. Z u m Einfluß Gerberts auf Otto I I I . cf. Schultess, p. 47; Ter Braak, pp. 105 ss. E r glaubt, Gerbert werde oft als Urheber des imperialen Gedankens betrachtet, aber es frage sich, ob ihre Freundschaft nicht gerade auf der Basis der gemeinsamen Auffassungen entstanden sei. Ein Einfluß Gerberts sei allerdings nicht ganz ausgeschlossen. Gerbert stehe mit seinen Anschauungen in seiner Zeit drin, habe keine neuen, bahnbrechenden Theorien vertreten. Er sei der Typus des Realpolitikers, der sich in den Reimser Konflikten stets zu behaupten wußte. Z u den Datierungsfragen der Briefe Gerberts: Bubnov, Nikolaja, Sbornik pisem Gerberta kak istoriceskij istocnik (983— 997). kriticeskaja monographija po rukopisjam Ν. B. (Die Sammlung der Briefe Gerberts als eine Geschichtsquelle von Ν. Β.) I. I I . St. Petersburg, Skorochodov, 1888, 1889, 1890. Z u Bubnov cf. H Z 71, pp. 8 7 - 9 0 ; E H R 1893, pp. 321 ss.;

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Die antike Gedankenwelt erhält plötzlich ein ganz neues Gewicht: „Dem erhabensten Herrn, dem immer erlauchten Kaiser Otto, verspricht der Geringste seiner Bischöfe immer und überall die Gefolgschaft seines ihm geschuldeten Dienstes. Da wir unter den menschlichen Dingen nichts Köstlicheres sehen als Euren Befehl, so könnt Ihr für Eure Umsicht nichts Schöneres schaffen als den höchsten Ruhm Eures Reiches, als die höchste Standhaftigkeit und Würde. Und was gibt es noch für einen größeren Ruhm für einen Herrscher, was für eine lobenswertere Standhaftigkeit des höchsten Fürsten, als die Legionen zu zwingen, ins Feindesland einzubrechen, den Angriff des Feindes durch seine Anwesenheit aufzuhalten, als sich selbst für das Vaterland, für den Glauben, für das Heil der Seinen und des Staates den größten Gefahren auszusetzen 79 )?" Wir glauben, wieder alte römische Legionen vor uns zu sehen, wir hören Rufe, wie sie wohl zur Zeit der römischen Imperatoren geklungen haben. Vor allem aber ist der Kaiser wiederum der große Krieger, der alle seine Feinde mit mächtiger Hand vernichtet. Nur die Vernichtung der Feinde und besonders der Heiden — hier spricht wieder der Kleriker — können ein echtes Kaisertum garantieren. I m selbenjahr schreibt Gerbert an Otto III. den vielzitierten Brief: Ha vet, Lettres de Gerbert; Lot, Lettres de Gerbert; Schramm, Briefe Ottos III.; Lux, Anhang pp. 72—82; Böhmer (Beilage 3: Zur Chronologie der Briefe Gerberts) pp. 179—191; Uhlirz, M., Studien zu Gerbert (Die Bride Gerberts bis zum Beginn des deutschen Thronstreites im Jahre 984) pp. 391—422; Lair, pp. 89 ss.; Sickel, pp. 234ss„ pp. 413 ss.; Weigle, pp. 19-70. Havet, Lot, Schramm und Pivec datieren die Briefe 181 — 187 auf das Jahr 997, entgegen der Meinung von Bubnov und Lux, die für das Jahr 995 eintreten. In den Jahrbüchern setzt M. Uhlirz die Briefe 181/182 auf das Ende des Jahres 996 an. Ihre Argumentierung ist überzeugend. " ) Gerbert, Brief 183 (997), pp. 167 ss.: „Domino excellentissimo Ot. Cesari semper augusto, suorum episcoporum minimus, semper et ubique debite servitutis obsequia. Cum inter humanas res nichil dulcius vestro aspiciamus imperio, sollicitis pro vobis nichil dulcius significare potuistis, quam vestri imperii summam gloriam, summam cum dignitate constantiam. Et quaenam certe major in principe gloria, quae laudabilior in summo duce constantia, quam legiones cogere, in hostilem terram inrumpere, hostium impetum sua praesentia sustinere, seipsum pro patria, pro religione, pro suorum reique publice salute, maximis periculis opponere?"

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„Meinem Herrn, dem ruhmreichen und immer erlauchten Kaiser Otto, Gerbert von Gottes Gnaden Bischof von Reims, kaum eines so großen Königs würdig. Eurem überreichen Wohlwollen, dank dessen wir uns für immer Eurer Gefolgschaft würdig erachten, können wir vielleicht mit Wünschen, aber nicht mit Verdiensten antworten. Wenn wir von einer kleinen schwachen Flamme des Wissens erfaßt worden sind, so brachte Euer Ruhm das Ganze hervor, nährte es die Tugend Eures Vaters, erwarb es mir die großartige Gunst Eures Großvaters . . . Ich kann mir nicht vorstellen, wo sich noch etwas Göttlicheres Ausdruck verschaffen kann als dort, wo ein Mensch, seiner Abstammung nach ein Grieche, durch seine Herrschaft ein Römer, gleichsam durch das Erbrecht sich die Schätze Griechenlands und der römischen Weisheit erwirbt. Wir gehorchen daher, mein Kaiser, den kaiserlichen Erlassen hierin und in allem, was Eure göttliche Majestät beschließen sollte. Wir können nämlich die Gefolgschaft nicht verweigern, weil wir nichts Köstlicheres in den menschlichen Dingen sehen als Euer Gebot 80 )." „Caesar", „Imperator", „Augustus" haben hier einen ganz antiken Anstrich. Die griechische Abstammung und die römische Befehlsgewalt vereinigen in dem jungen Herrscher die Eigenschaften der großen Völker der Antike: griechische Weisheit — auch zur Zeit Gerberts der abendländischen weit überlegen — und römische Kraft. Auffallend ist auch in diesem Abschnitt das Gewicht des dynastischen Denkens, eine Neigung, die schon bei anderen Autoren auffiel. 80

) Gerbert, Brief 187 (997), pp. 173 s.: „Domino et glorioso O. C. semper augusto, Gir. gratia Dei Remorum episcopus, quicquid tanto imperatori dignum. Supereminenti benivolentiae vestrae qua in sempiternum digni vestro judicamur obsequio, fortasse votis, sed respondere non valemus meritis. Si quo enim tenui scientiae igniculo accendimur, totum hoc gloria vestra peperitj patris virtus aluit, avi magnificentia comparavit . . . Ubi nescio quid divinum exprimitur, cum homo genere Grecus, imperio Romanus, quasi hereditario jure thesauros sibi Greciae, ac Romanae repetit sapientiae. Paremus ergo, Cesar, imperialibus edictis cum in hoc, tum in omnibus quecumque divina majestas vestra decreverit. Non enim deesse possumus obsequio, qui nichil inter humanas res dulcius aspicimus vestro imperio."

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Eine Auffassung wie diejenige von La Salle de Rochemaur, der Gerbert „antidynastisch" nennt, weil er von antiken Ideen aus der Zeit eines Augustus und der Republik genährt sei, erscheint mir ganz abwegig 81 ). Hier, wie auch an einer schon früher zitierten Stelle82), wird dies eindeutig widerlegt. Freilich dachte Gerbert nicht so extrem dynastisch, daß die Nachfolge automatisch vor sich gehen sollte: Die Abstammung gab dem jungen Herrscher ein Vorrecht, das er aber durch seine eigene Person als gültig unter Beweis zu stellen hatte. In diesem Sinne ha tte Otto durch seine Mutter einen Anspruch auf das griechische Erbe; die Forderung wurde allerdings in Byzanz gar nicht ernst genommen, man nahm nicht einmal Notiz davon. — Durch die Reihe seiner Ahnen führte er die römische Tradition fort. . . . . . Was ich über diese Frage denke, werde ich kurz beschreiben, damit Italien nicht glaube, der heilige Hof lebe träge dahin, und damit nicht Griechenland allein sich brüste mit der kaiserlichen Philosophie und der römischen Macht. Unser, unser ist das Römische Reich. Es spenden die Kräfte das früchtereiche Italien, das kämpferische Gallien und Germanien, und auch die tapferen Reiche der Skythen fallen nicht aus dem Gebiete unserer Macht. Unser bist Du Caesar, Kaiser und Augustus der Römer, welcher aus edelstem Blute der Griechen geboren, die Griechen an Macht überragst, den Römern durch erbliches Recht befiehlst, und beide an Geist und Beredsamkeit übertriffst . . , 83 )" Diese deutlichste und klarste Formulierung ist eine Zusammenfassung und begeisterte Verteidigung seines Imperiumsgedankens. Die Rivalität mit dem byzantinischen Reich und der Versuch, el M

) La Salle de Rochemaure, p. 585. ) v. pp. 80 SS. Gerbert, Libellus de rationali et ratione uti (Havet, lettres, App. II, p. 237): „. . . quae de hac quaestione concepi, breviter describe, ne sacrum palatium torpuisse putet Italia, et ne se solam jactet Grecia in imperiali philosophia et Romana potentia. Nostrum, nostrum est Romanum Imperium. Dant vires ferax frugum Italia, ferax militum Gallia et Germania, nec Scithae desunt nobis fortissima regna. Noster es, C., Romanorum imperator et auguste, qui summo Grecorum sanguine ortus, Grecos imperio superas, Romanis hereditario iure imperas, utrosque ingenio et eloquentia praevenis." cf. Uhlirz, M., Jahrbücher, pp. 270 ss. Ter Braak gibt eine detaillierte Analyse der Kaiservorstellung Gerberts, wobei er sich vor allem auf diese Schrift stützt, pp. 82, 107, 144 ss.; cf. Cartellieri, Weltstellung, p. 244; Erdmann, Imp. Romanum, pp. 412—441; Erdmann, Ideenwelt, pp. 1—51.

7 Bezzola

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das Imperium in Rom zu verankern, ist noch verstärkt. Reich und Kaiser haben ihr Zentrum im Abendland. Hatte nicht schon Otto II. in ausdrücklich byzanzfeindlicher Einstellung den Titel „imperator Romanorum" verwendet 84 )? Und noch einmal hebt Gerbert die so wichtige dynastische Legitimität hervor. Am Schluß stoßen wir aber noch auf ein Element, das für Gerbert vielleicht das bezeichnendste ist: Otto überragt Römer und Griechen an Geist und Beredsamkeit. Gerbert, der an den römischen Bischof so hohe persönliche Anforderungen stellte, forderte ähnliches für den Kaiser, den weltlichen Vertreter Christi auf Erden. Die ererbte Berechtigung allein genügte nicht. Sie legitimierte erst den Anspruch. Auch hier spielte noch die Person eine wichtige Rolle; es brauchte Überlegenheit an Geist und Beredsamkeit, um sich der Idee, die man zu verkörpern hatte, würdig zu erweisen. So gesehen, ist dieser letztzitierte Satz kein leeres Kompliment mehr, er gewinnt geradezu elementare Bedeutung 85 ). Dieser mächtige, durch Abstammung und Persönlichkeit bevorzugte Kaiser wird zum ersten Herrscher des Abendlandes. Er steht jedem nationalen Denken völlig fremd gegenüber und deshalb darf man auch die bildlichen Darstellungen, ebenso wie die Einleitung des „Libellus de rationali et ratione uti", wo der Kaiser von den vier Symbolen Europas umgeben ist, nicht in einem modern-nationalen Sinne verstehen. Es ist schon viel Tinte geflossen, um das Verhältnis Ottos I I I . zu anderen souveränen Fürsten und Königen zu ergründen, und ganz besonders sein Verhältnis zu Frankreich. Wie soll hier „Gallia" interpretiert werden? Die einen verstehen darunter das Herzogtum Lothringen 86 ), die anderen ganz Frankreich 87 ). Beide 84

) cf. Harff, p. 58. ) Glaesener (p. 128 und p. 136) unterstreicht in seiner kurzen Abhandlung diese beiden Elemente in vortrefflicher Weise, allerdings ohne anzugeben, was ihn zu diesen Schlüssen führte, und, wie ich vermute, einzig, indem er sich auf die Rede Adalberos bei der Wahl Hugo Capets stützt (cf. Richer IV, 11). Die Begründung Glaeseners für die Unterstützung der Ottonen scheint mir verfehlt, wie die Aussagen überhaupt jeglicher Unterbauung ermangeln. **) Havet, Lettres, p. 237, n. 6; Holtzmann, Sächsische Kaiserzeit, pp. 348 s.; Bloch, t. 2, planche V I I ; Schramm, Briefe Ottos III., p. 97; Schramm, Kaiser, Basileus und Papst, p. 445; Uhlirz, M., Jahrbücher, p. 402. " ) Lux, pp. 35 s.; Leflon, pp. 318—320. 85

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Möglichkeiten können ohne weiteres begründet werden. J e nachdem, stand der französische König in den Augen Gerberts in einer untergeordneten Stellung oder er war dem Kaiser gegenüber gleichberechtigt. Wie verwendet nun Gerbert den Ausdruck „Gallia" in seinen anderen Schriften? Aus seinen Briefen ist es allerdings kaum möglich, einen eindeutigen Entscheid zu treffen. Ein vorsichtiges Abwägen der Möglichkeiten 88 ) ergibt doch, daß Gerbert unter „Gallia" wohl Frankreich verstanden hat. Es ist ja erwiesen, daß Gerbert durch antike Vorstellungen, wenigstens in sprachlicher Beziehung, beeinflußt war. Auch Isidor von Sevilla, dessen Wirkung man nicht unterschätzen darf, verstand in seinen Etymologien 89 ) unter „Gallia" ganz Frankreich. Ferner würde

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) Brief 111, p. 101: „Etenim nobis obstantibus nec Gallus, nec Germanus fines lacesset Romani imperii." Der Brief ist an den byzantinischen Kaiser gerichtet und versucht den Vorteil hervorzuheben, den Byzanz an einer Verbindung mit dem Kapetinger haben könnte. Brief 186, p. 172: „Quot habet viros Gallia, T o t vobis mittam carmina." (Gedicht Ottos I I I . ) Beide Stellen könnten mit „Lothringen" übersetzt werden, aber eine Interpretation im generellen Sinne scheint mir doch naheliegender. W ä r e in der ersten Stelle Lothringen gemeint, also das deutsche Reichsgebiet, so ist es doch nicht allzu selbstverständlich, d a ß das kleinere Gebiet dem größeren und mächtigeren Teil des deutschen Reiches „Germania" vorausgeht. I m Gegenteil, wenn die beiden Begriffe als die zwei wesentlichen Machtgebiete des Westens gedeutet werden, so ist es verständlich, d a ß der französische König sein eigenes Gebiet, die Gallia, wo sein Wirken viel effektiver ist, auch zuerst nennt. Denn ich glaube, d a ß Schramm fehlgeht, wenn er an eine „traditionelle Bosporuspolitik" Hugos denkt, die bei der damaligen Machtlage ein Anachronismus ist. (Schramm, Kaiser, Basileus und Papst, pp. 444 s.) Beim zweiten Beispiel sehe ich überhaupt keine Veranlassung, „Gallia" mit „Lothringen" zu übersetzen. Ganz Gallien als ein großes völkerreiches Gebiet hat eine viel größere Wirkung im Gedicht. Brief 40, p. 38: Gerbert erzählt, d a ß er gezwungen war, nach Gallien zu gehen, als er von Italien nach Reims zurückkehrte. „Dubia rei publicae tempora, mi frater, Gallias me repetere coegerunt." Brief 188, p. 174: „Gratianopolis civitas in confinio Italiae et Galliae sita est . . ." Hier ist der Sinn ganz eindeutig. Brief 217, pp. 204, 205, 219—223 bringen noch weitere Beispiele, bei welchen Gallia ganz Frankreich einschließt und wohl noch im Sinne des antiken Galliens verwendet wurde, cf. ferner Gerbert, Acta Cone. Mosom., M G H , SS. I I I , p. 690. M ) Etymologiae X I V , I V , 25.

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ein Begriff wie „Belgica" vollständig sinnlos, wenn Gallia allein das zum Reich gehörende Gebiet bezeichnen würde 90 ). Sicher gruppiert Gerbert in seinen Gedanken die verschiedenen Gebiete des Abendlandes um das einigende Reich Ottos III. Und darin macht auch Frankreich keine Ausnahme, ebensowenig wie das Reich der Skythen d. h. der Magyaren 91 ). Es wäre aber falsch, aus diesem Briefe eine rechtliche Lage herauslesen zu wollen und dabei außer acht zu lassen, wie sehr es sich hier um Symbole handelt, die erst in ihrer Gesamtheit dem Kaisertum jenen abendländischen Anstrich geben konnten, der der Vorstellung Gerberts entsprach. Deshalb scheint auch die Ansicht von Lux überspannt, Silvester II. habe die Wiederherstellung „eines politisch geeinten römischen Imperiums in der Ausdehnung der karolingischen Monarchie beabsichtigt", noch weit mehr, als es zur Zeit Ottos I. der Fall war 92 ). Die Teilreiche der Karolinger hatten seit Ludwig dem Frommen ein schon viel zu ausgeprägtes Eigenleben gewonnen. Wie wenig Otto III. und Silvester II. an eine direkte Einverleibung Frankreichs und anderer karolingischer Teilreiche außerhalb des deutschen Reiches gedacht hatten, bewiesen die Gründungen der neuen Königreiche Ungarn und Polen 93 ). Eine gewisse Abhängigkeit Frankreichs von diesem neu entstandenen kaiserlich-päpstlichen Zentrum in Rom war ohne direkte rechtliche Abhängigkeit möglich. Dies geschah durch die Verkoppelung von Kaisertum und Papsttum, d. h. durch das Zusammengehen von Kaiser und Papst, das einen entscheidenden Einfluß im ganzen Abendlande zuließ. Erst diese Vereinigung der beiden Kräfte gab dem Imperium das, was es über die anderen, seinem rechtlichen Anspruch entgehenden Reiche (regna) hinaushob. Wieder stoßen wir in dieser letzten Sicht auf das Bedürfnis nach einer Synthese, der ) Gerbert, Brief 217, p. 229: „. . tu scis me Germaniam et Belgicam semper honorasse ut dominam, coluisse ut matrem, . . " Hier ist die Umschreibung genau, und es ist auffallend, daß Gerbert nicht „Gallia" verwendet. Auch bei Isidor ist „Belgica" ein Unterbegriff von „Gallia". " ) Uhlirz, M., die „Scythae", pp. 411—415. M ) Lux, pp. 35 s., p. 67, p. 9. M ) ibid., p. 49, Lux ist nun allerdings der Meinung, daß die polnische und ungarische Politik nicht in der Linie von Gerberts Gedanken lag. cf. Eichengrün, p. 61. 90

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Synthese antiken und christlichen Denkens, der Zusammenfassung geistiger und materieller Gewalt, einem Streben, das Gerbert schon viel früher beschäftigt hatte 94 ). Wie wenig die Zusammenarbeit von Kaiser und Papst nur Theorie eines Gelehrten war, zeigte das Wirken von Otto III. und Silvester II., dessen Zeugnisse noch in zahlreichen Diplomen zu finden sind. Am schönsten manifestiert es sich außerhalb der Grenzen der eigentlichen Machtsphäre des Reiches. Hier unterstützte die Kirche eine überrechtliche Verbundenheit unter den Staaten. Ich denke vor allem an Frankreich, wo ein Einfluß wohl erst durch ein richtiges kaiserlich-päpstliches Zusammengehen möglich wurde. Nur durch die Autorität des Papstes konnte der Kaiser Einfluß in Frankreich erhalten, indem er dem Papsttum seine materielle Unterstützung gewährte. Andererseits war das Papsttum auf diese Unterstützung angewiesen, wenn es seinen Entscheiden eine größere Durchschlagskraft verleihen wollte95). Dafür nur zwei Beispiele: Ein Brief Gerberts an Adalbero vonLaon 9 6 ), in welchem der Papst ausführt, daß ein Klagebrief Roberts II. den „apostolischen u n d kaiserlichen Händen" übergeben worden sei. Dabei handelte es sich um eine rein kirchliche Angelegenheit, in der der Kaiser kaum etwas zu schaffen hatte. Ebenso gingen sie in einem Prozeß gegen Arduin von Ivrea in einem geistlichen Gericht gemeinsam vor. Otto wurde in den ) cf. Hampe, Otto III., p. 527; Cartellieri, Weltstellung, pp. 255, 262, 2 7 7 ; Erdmann, Ideenwelt, p. 47: „Den Gedanken der kirchlichen Weltherrschaft über die Königreiche behielt er bei, aber jetzt sollte der römische Kaiser ihr Träger sein, der als Knecht der Apostel die Herrschaftsrechte des heiligen Petrus ausübte. Die imperiale Idee, auch hier ins Christliche transponiert, war jetzt nach R o m zurückgekehrt." Ter Braak, p. 164, gibt eine andere, schöne Zusammenfassung, die unsere Überlegungen nur stützen kann. Βδ ) cf. Gerbert, Briefe, Migne 139, c. 271: „Igitur ex hac re gloriosissimi imperatoris Augusti Ottonis tertii piis interventionibus nostra apostolica auctoritas persuasa, praefato sancti martyris Landperti monasterio per hujus previlegii Seriem liberum habere concessit arbitrium, ac ut monachis Deo inibi servientibus liceat secundum reguläre beati Benedicti abbatis decretum eligere sibi abbatem." (999) cf. auch ibid., cc. 285 s., c. 197. 9 e ) cf. Gerbert, Briefe (ed. Havet, lettres, App. V, p. 241): „Epistola regis Rotberti et suorum pontificum apostolicis et imperialibus oblata est manibus, quae te coram universo clero ac populo his publicis accusat criminibus." S1

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Gerichtsakten unmittelbar nach Gerbert und vor den anwesenden Bischöfen erwähnt 97 ). In diesem Lichte gesehen, wächst die Stellung des Kaisers allerdings weit über diejenige der Könige hinaus 98 ). Die zahlreichen Schriften Gerberts und die vielen Nachrichten über sein Leben, die noch erhalten sind, gestatten uns einen Einblick in die Formung und Wandlung der Kaiseridee bei einem großen Denker des 10. Jahrhunderts, wie es sonst bei keinem seiner Zeitgenossen möglich ist. Man sieht hier deutlich, wie wenig es sich um eine kritiklose Übernahme irgendeines festgefügten gedanklichen Schemas handelt. Der Kaisergedanke wächst mit dem Menschen und Denker Gerbert, ist eng mit seinem Leben verbunden. Die rechtlichen und gefühlsmäßigen Bindungen mit der mächtigsten Dynastie seiner Zeit förderten die Idee der Einheit der abendländischen Christenheit. Aber vor allem die persönlichen Begegnungen haben auf seine Gedanken wirken müssen: Otto I., Adalbero von Reims, Otto II., die Kaiserinnen Theophanu und Adelheid, schließlich der junge, begeisterungsfähige Otto I I I . Sie alle führten Gerbert in seinen Gedanken schrittweise weiter, und gerade die so starke Wandlung von Gerberts Kaiseridee zeigt, wie wenig sie von allem Anfang an geprägt war und wie sehr sie wohl einzig der tiefen Sehnsucht des Christen entstammte, eine friedensbringende Ordnung für die abendländische Welt zu schaffen. 97

) MGH, Const, t. 1, p. 53: „Poenitencia Ardoini Romae in ecclesia beati Petri apostoli ei imposita et a dompno papa Silvestro et augusto imperatore tercio Ottone et a pontificibus Italiae catholice et synodice edicta." cf. Leflon, pp. 358—360; La Salle de Rochemaure, pp. 478 ss.; Uhlirz, M., Jahrbücher, p. 561. • 8 ) Migne 139, c. 279: „Per quod apostolicae auctoritatis Privilegium confirmamus atque statuimus, ut nulli imperatorum, nulli unquam regum, nulli antistitum, nulli quacunque praedito dignitate, nulli cuiquam alii, de omnibus rebus . . . liceat minuere vel auferre, . . ." Die Differenzierung zwischen dem „imperator" und den „reges" ist deutlich. Auch die Stellung an der Spitze der Aufzählung bezeugt seine bevorzugte Position, ibid., cc. 282 s.: „. . . ut sancta sanctorum loca, . . , plura a diversis stipendiorum eximia sunt adepta, non solum regalia, sed imperialia, ad immunitatem sui expostulent praecepta; verum etiam auctoritatis nostrae ad stabilitatem sui desiderent privilegia." Hier tritt zur Differenzierung noch eine deutliche Stufung der Werte ein. (non solum . . . sed).

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Bei Gerberts Denken sind zwei Elemente besonders ausgeprägt — auch darin ist er wohl das Beispiel eines typisch mittelalterlichen Menschen —, er dachte weniger in großen abstrakten Formen als „dynastisch" und „persönlich". „Dynastisches" Denken findet man im Mittelalter immer wieder, auch Adso von Montier-en-Der dachte dynastisch. Bei Gerbert zeigt sich dies allein im Bilde von Otto III. Auf dieses Kind setzte er all seine Hoffnungen in einem Augenblick, als noch niemand voraussehen konnte, was aus dem Knaben werden sollte. Was für Gerbert damals entscheidend war, war seine Abstammung, war der Vater Otto II., welcher der Idee von Gerberts Kaisertum so nahe gestanden hatte. Deshalb hoffte er, daß auch der Sohn die hohe Aufgabe seines Vaters und Großvaters wieder in würdigster Weise aufnehmen werde. Die Abstammung allein aber genügte noch nicht. Otto III. hatte sich zuerst noch vor aller Welt zu bewähren, hatte das Versprechen zu erfüllen, das in seinem Geschlechte lag. Dies ist nun der Ausdruck des „persönlichen" Denkens Gerberts: Der junge Herrscher hatte als Mensch und Kaiser zu zeigen, daß er fähig war, die Nachfolge seines Vaters anzutreten, würdig, die große Idee eines abendländischen Kaisertums zu verkörpern und zu verwirklichen. Welche Rolle dabei die kriegerische Tüchtigkeit, die Besiegung der inneren und äußeren Feinde spielte, konnten wir schon oben näher verfolgen. Dieses „persönliche" Denken Gerberts scheint uns noch wichtiger als das „dynastische". Ist es vielleicht nicht auch das Denken des Klerikers? Was sollte in der christlichen Kirche bei der Wahl eines neuen Kirchenfürsten ausschlaggebender sein als seine persönlichen Eigenschaften, wo doch dynastische Elemente ausgeschaltet waren? Sicher war dies Gerberts Ansicht, der auch auf dem Stuhle Petri nur den edelsten aller Geistlichen anerkennen wollte. „Persönlich" dachte Gerbert aber vor allem auch dann, wenn er in den kaiserlichen Gestalten die Verkörperung für seine Idee fand und die Idee dann ohne zu zögern diesen Persönlichkeiten anpaßte. Wir konnten ja genau verfolgen, wie stark gewisse Akzente sich in der Kaiservorstellung verschoben, je nach der Art des Herrschers oder der Herrscherin, von Otto II., dem großen Krieger und Kaiser des Abendlandes, zu Theophanu, der 103

griechischen Prinzessin, der hohen Kaiserin, zu Adelheid, der Mutter der Königreiche, bis zu Otto I I I . schließlich, dem jugendlichsten und größten der Kaiser. Die Ideen waren immer wieder aufs engste mit der Gestalt verknüpft, die sie zu tragen und zu verwirklichen hatte"). Einen eigentlichen Wert konnte die Kaiseridee erst erhalten, wenn sie Wirklichkeit, Leben wurde. Und dazu brauchte sie eine Person. Idee und Realität waren unzertrennlich miteinander verbunden und konnten nur in gegenseitiger Beeinflussung weiterbestehen. Wenn man die Ansicht vertritt, eine Idee bestehe eigentlich erst, wenn sie eine Form, und zwar eine sprachliche Form, gefunden habe, so ging Gerbert einen Schritt weiter; die sprachliche Form genügte ihm noch nicht. Er verlangte die Verkörperung, die lebendige Verwirklichung. Aus diesem Grunde suchte er immer wieder, seine großen Gedanken der Wirklichkeit anzupassen, um damit auch auf die Wirklichkeit wirken zu können. Dies bedeutete sicher nie Verrat an der eigenen Idee, auch wenn sie im Laufe der Zeit verschiedene Formen annehmen mußte. Denn ihr Ziel blieb fest: die Herstellung einer friedlichen Ordnung der abendländischen Christenheit unter der Führung der zwei Spitzen der christlichen Hierarchie, von Kaiser und Papst.

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) Auch bei Adso von Montier-en-Der konnte man ganz ähnliche Tendenzen der Anpassung der Kaiseridee an die Realität feststellen, cf. pp. 63 s.

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RICHER VON ST. REMI Die einzige heute noch erhaltene zeitgenössische Darstellung zur französischen Geschichte der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts 1 ) wurde, wie die Chronik Flodoards, in Reims geschrieben. Reims war damals durch die Schule Gerberts von Aurillac das Zentrum westfränkischer Bildung. Reims hatte aber auch mitten in den Kämpfen und Rivalitäten des Westfrankenreiches gestanden. Mehrere Male griffen ostfränkische Herrscher in die westfränkischen Wirren ein, die infolge des Streites zwischen Ludwig IV. und Hugo dem Großen um die Besetzung des erzbischöflichen Sitzes entstanden waren. Um Reims wiederum drehten sich später die erbittertsten Auseinandersetzungen zwischen dem letzten Karolinger und Hugo Capet. So konnte Richer, der Mönch von St. Remi, die Ereignisse seiner Zeit von der denkbar günstigsten Warte aus verfolgen. Er hatte diesen Ort, unseres Wissens, auch nur ein einziges Mal verlassen, um in Chartres einige Schriften des Hippokrates zu lesen und sich dort auf seinem Lieblingsgebiet, der Medizin, weiterzubilden 2 ). Das Wenige, das wir von seinem Leben kennen, entnehmen wir seinem Werke 3 ). Er war Sohn eines Lehensmannes der Karolinger, der in den Diensten Ludwigs IV. und Gerbergas gestanden und der Richer eine ganze Reihe von interessanten Informationen geliefert hatte. Eine ganz besondere Verehrung zeigte er seinem Lehrer Gerbert, dem er wohl beinahe sein gesamtes Wissen verdankte. Ihm widmete er auch in einem kurzen Prolog sein Werk 4 ); durch ihn hatte er sich für die Antike begeistern lassen. Einige ausführliche Kapitel 5 ) — sie fallen ganz aus dem Rahmen der übrigen Geschichte — behandeln die Lehrtätigkeit Gerberts und vermitteln uns zugleich das Ausmaß der Bildung Richers, der 2 ) Richer IV, 50. Latouche, ed. Richer. Zum Leben und Werk Richers: Latouche, ed. Richer, pp. V — X I I . 4 ) Eichengrün, pp. 25 ss. ist sogar der Auffassung, daß die Geschichte Richers unter Gerberts geistiger Vormundschaft geschrieben wurde und Gerbert 5 ) Richer III, 43—65. im Streite gegen Arnulf verteidigte.

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offenbar ein begeisterter Schüler gewesen sein muß. Es gilt dann noch näher zu untersuchen, ob der Einfluß Gerberts sich auf die rein wissenschaftliche Ausbildung beschränkte oder ob Richer auch dessen Weltanschauung, dessen Kaiseridee, übernommen hatte. Richer schrieb zwischen 995 und 998, zu einer Zeit also, in der Gerbert noch Erzbischof von Reims war oder wenigstens diesen Titel noch beanspruchte. Seine recht eigenwillige Darstellung, teils auf eigenem Erleben, teils auf früheren Quellen beruhend, zeigt oft widerspruchsvolle und überraschende Züge, die sich nur aus seiner Arbeitsweise und dem Plan seines Werkes erklären lassen. Richer will seine Geschichte in einem Zeitpunkt beginnen lassen, an dem Hincmar die seine abgebrochen hat 6 ). Er gedenkt sich im Wesentlichen auf die französischen Verhältnisse zu beschränken. Für Ereignisse, die aus früheren Zeiten stammen, beruft er sich auf das Werk Flodoards, dem er einiges entnommen habe. Er betont aber ausdrücklich, daß er nicht die gleichen Worte verwende, sondern daß er sie durch andere ersetzt habe und daß vor allem der Fluß des Stils ganz verändert sei 7 ). Richer zeigt hier eine Neigung, der wir bei Flodoard nicht begegnet sind, die aber deutlich den Schüler Gerberts verrät: er will einen gepflegten und gewandten Stil schreiben. Und dieser Forderung opfert er sogar manchmal den in den Quellen gefundenen Inhalt. Hier dringt seine ganze Begeisterung für die Antike durch. Er versucht ein Werk zu schreiben, das den großen Vorbildern der Antike, vor allem Sallust, nahekommen sollte. Um dies zu erreichen, schmückt er die in den Quellen gefundenen Ereignisse nach seinem Gutdünken aus, gestaltet und entwickelt sie nach seinen Ideen 8 ). Die Freude an Reden und Debatten — e)

Hincmar, Annalen von St. Bertain. cf. Latouche, Richer, t. 1, p. 3 n. 3. Richer, Prolog: „Sed si ignotae antiquitatis ignoratiae arguar, ex quodam Flodoardi presbyteri Remensis libello me aliqua sumpsisse non abnuo, at non verba quidem eadem, sed alia pro aliis longe diversissimo orationis scemate disposuisse res ipsa evidentissime demonstrat." 8 ) Wenn die Ansicht Schulzes (p. 90) genügend fundiert ist, was ich nicht bestreiten möchte, so bildet Richer eine Ausnahme in seiner Zeit, in seinem Bestreben eine kunstvolle Form in der Geschichtsschreibung zu verwenden. Immerhin ist dieser Zug Richers nicht eine im Mittelalter vereinzelte Erscheinung und Richer hat auch hier seine Vorläufer. Man braucht nur an Einhards Vita Caroli Magni zu denken, wo Sueton dem Autoren als Vorbild diente.

7)

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und das damit verbundene Gefallen am dialektischen Denken 9 ) —, ihre direkte Einflechtung in den erzählenden Text ist eines der für Richer bezeichnenden Stilmittel, welches auf der Nachahmung antiker Vorbilder beruht. Die zahlreichen Argumente verschiedener Redner ·—• selbstverständlich von Richer erfunden •— führen in lebendigster Art mitten ins Denken des 10. Jahrhunderts. Diese freie „künstlerische" Auffassung der Geschichtsschreibung mag einen positivistischen Historiker in seinem Innersten empören. Es wäre aber falsch, hier mit modernen Maßstäben messen zu v/ollen. Wenn Richer als Quelle für die Ereignisse seiner Zeit nicht immer ganz zuverlässig ist, so ist andererseits gerade in einigen so willkürlichen Phantasien die Denkart des westfränkischen Mönches aus dem 10. Jahrhundert am reinsten verborgen. Unter diesem neuen, geistesgeschichtlichen Aspekt betrachtet, gewinnt Richers Darstellung, was sie an Wert für die äußeren Geschehnisse verloren hat, für die Denkweise seiner Zeit. Die Bemühungen Richers sind aber nicht nur rein stilistischer Natur. Er erstrebt auch gedankliche Klarheit in seiner Darstellung. Wo Ereignisse verworren erscheinen oder wo sie sich nicht ohne weiteres erklären, sucht Richer selbst eine Deutung. Deshalb dürfen uns ζ. B. Gründe, wie derjenige, den Richer f ü r die Heirat Ludwigs IV. mit Gerberga vorbrachte, nicht überraschen. Richer war wohl erstaunt über die rasche Vermählung Gerbergas nach dem Tod ihres ersten Gemahls Giselbert von Lothringen (939). Er suchte einen Grund und schrieb: „Als König Ludwig erfuhr, daß Giselbert umgekommen war, empfand er tiefes Mitleid über dessen Tod; er eilte nach Belgien, um dessen Gattin, Gerberga, die Schwester Ottos, heimzuführen, und ließ sie an seiner Seite zur Königin krönen 10 )." Sowenig eine solche Erklärung überzeugend klingen mag, soviel sagt sie über das Denken und Fühlen Richers aus. Nicht irgendeine politische Berechnung, wie etwa der Anspruch auf Lothringen, sondern 9 10

) Schneider, H e r m a n n , pp. 11 ss.; Latouchc, Imitateur de Salluste, pp. 295 s. ) Richer I I , 19: „Ludovicus rex Gislebertum extinctum comperiens, multam in ejus casu commiserationem habuit, atque, in Belgicam profectus, ejus uxorem Gerbergam Ottonis sororem conjugio duxit, eamque secum reginam in regnum coronavit."

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rein menschliche Regungen, wie diejenige des Mitleids, lagen Richer nahe und zeigen, wie ein Mann aus jener Zeit, der immerhin nicht zur untersten Gesellschaftsschicht gehörte, mit seinen eigenen persönlichen Maßstäben die Geschehnisse der Vergangenheit zu beurteilen und erklären suchte. Ist dies übrigens nicht auch heute noch oft der Fall? All die stilistischen Bemühungen des Autors, alle Versuche, eine verständliche und überzeugende Darstellung zu geben, haben einen bezeichnenden Niederschlag im einzig erhaltenen Manuskript gefunden, das noch von Richers Hand stammt. Es ist voll von Korrekturen. An Hand dieser Verbesserungen kann man feststellen, daß Richer den ersten Teil seines Textes noch einmal gründlich überarbeitet hatte 11 ) (I. Buch und II. Buch, Kap. 1—78). Da sie das Maß rein stilistischer Verbesserungen oft bei weitem überschreiten und den Inhalt grundlegend ändern, ist es begreiflich, daß darüber schon einige Kontroversen entstanden sind, aufweiche wir zum Teil noch eingehen werden 12 ). Zu diesen zwei Fassungen des ersten Teiles stellt nun Latouche mit Recht fest, daß Richer bei der ersten Sallust noch nicht f ü r seinen Text verwendet hatte und erst bei der Überarbeitung unter dem Einfluß der Darstellung der catilinarischen Verschwörung gestanden hat, was ihn, nach der Meinung Latouches, sogar zu Verfälschungen der Ereignisse veranlaßt habe 13 ). Diese einigermaßen überraschende Arbeitsmethode des mittelalterlichen Historikers hat zu einem reichlich komplizierten, oft widersprechenden Bild geführt, bei dem man nicht vorsichtig genug sein kann; wenn man die tatsächlichen Geschehnisse erörtern will, ist man durch die hineinprojizierten Gedanken Richers gestört. Wenn man seine eigene Haltung zu den Ereignissen untersucht, muß man sich vor seiner Vorliebe f ü r dialektische Kontroversen in acht nehmen, um nicht am falschen Ort die Meinung des Chronisten zu suchen, oder dann besteht die Gefahr einer bloßen Übernahme aus den antiken Vorbildern, wobei mehr formelle als gedankliche Motive im Vordergrund gestanden haben können. u

) cf. Latouche, Richer, t. 1, pp. VI s.; Lot, La date de naissance du roi Robert, pp. 152 s.; Pertz, Einleitung zu Richer, pp. 566 s. ) v. pp. 130 ss. 13 ) Latouche, Imitateur de Salluste, p. 294. u

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Die Einstellung Richers zum liudulfingischen Herrscherhause, zum Kaisertum der Ottonen, kann nicht von der Beurteilung der eigentlich westfränkischen Wirren getrennt werden, die den Hauptgegenstand seines Werkes bilden. Die Schwierigkeit, die eine solche Untersuchung bereiten muß, ist schon aus der reichen, oft sich widersprechenden historischen Kritik ersichtlich. Ein französischer N a t i o n a l i s t ? Richer wurde im 19. Jahrhundert häufig als der erste Nationalist Frankreichs verschrieen und deshalb als Historiker oft schwer getadelt. Schon Pertz meint in seiner Einleitung zur Ausgabe Richers 14 ), er habe allzusehr der nationalen Eitelkeit gehuldigt, und kann nicht umhin, einen Vergleich mit den „bulletins" Napoleons zu ziehen15). Seine Fehler seien seinem nationalen Eifer zuzuschreiben18). Auch Wattenbach spricht von einer krankhaften nationalen Eitelkeit Richers 17 ). Gleiche oder ähnliche Ansichten treffen wir bei Büdinger, Matthaei, Dümmler, Guadet, Monod 18 ) und dann in ganz unangenehmer und aufdringlicher Voreingenommenheit bei Wittich, der sogar zur Feststellung gelangt: „ . . . so ist er durch und durch Franzose. Von weiteren Schwächen, die er eben nur als solcher zeigt, rede ich hier nicht näher; jedes Blatt bekundet seinen Leichtsinn, seine Eitelkeit, daneben eine wunderbare Sucht zu pragmatisieren, . . . 1 9 )." Die Arbeiten Ferdinand Lots, Bardots, Kaweraus haben allerdings diese nationalistische Färbung Richers mit Recht bestritten und machten auf die formellen Motive aufmerksam, die Richer " ) MGH, SS. III, pp. 561-568. , 5 ) ibid., p. 564: „Talibus Richerura patriae ultra quam ferri potest studiosum et vanae gloriae, quae vel in Napoleonis nuntiis indignationem populorum incurrit, deditum experti, si totum opus caute legendum, nec ullo eius loco nisi fundamentis eius bene perspectis utendum esse censemus, nihil ultra iustum et verum statuere videbimur." M ) ibid., p. 565: „Errores nimio gloriae patriae studio et vanitati tribuendi." " ) Wattenbach, Geschichtsquellen, p. 415. w ) Büdinger, p. 78; Dümmler, Ottoder Große, p. 163 n. 4.; Matthaei, pp. 6 s.; fe Monod, pp. 250 ss. sieht allerdings keine Parteilichkeit Richers, nennt ihn [ΐ j aber den ersten französischen Dichter, und charakterisiert ihn deshalb als Franzosen aus einer anderen Perspektive heraus. « ) JVittich, pp. 107 s.

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zu seinen Änderungen bewegten 20 ). Diese Arbeiten haben die Tendenz endlich überwunden, nationale Regungen im Sinne des 19. Jahrhunderts in die Geschichte zurückzuprojizieren. Es ist nun aber um so erstaunlicher, daß Kienast 1943 wieder in einer gewissen Beziehung zu den früheren Anschauungen zurückkehrte, in seinem Werk, das doch eine gründliche Kenntnis der historischen Verhältnisse zeigt 21 ). In ausführlicher Weise nimmt er zur Auffassung der bisherigen Forschung Stellung und übt vor allem an Latouche Kritik, der die künstlerischen Motive Richers in den Vordergrund zu rücken versucht 22 ). So kommt Kienast zum Schluß, daß Richer „die Geschichte so umgedichtet hat, wie sie seiner Meinung nach hätte verlaufen sollen" 23 ). Wenn uns diese ausgeprägte, sicher sorgfältig durchdachte Rückkehr zur „nationalistischen" Beurteilung Richers überrascht, so zeigt sie doch klar, daß eine Überprüfung des Problems nicht überflüssig ist, klingt doch die extreme Auffassung Kienasts beinahe wie eine Reaktion auf die in ihrer Art ebenso extreme Auffassung Latouches. Um die Haltung des Chronisten zu erörtern, möchte ich vorläufig noch nicht auf die oft besprochenen und viel umstrittenen Korrekturen eingehen, die den Namen „Giselbert" durch „Heinrich", die Gebiete von „Belgien" durch „Sachsen" ersetzen 24 ), sondern andere Stellen suchen, die den „Nationalisten" Richer verraten können. Im ersten Buch, anläßlich der Zusammenkunft Karls des Einfältigen und Heinrichs I. in Worms (920), erzählt er von der Ermordung Erlebalds, eines Gegners des Erzbischofs Heriveus von Reims, der nach Worms gekommen war, um seine Streitigkeiten mit dem Erzbischof dem Könige vorzulegen. Richer berichtet nun, wie während der Verhandlungen zwischen Heinrich 20 )

21) 22 )

«·) i4)

Lot, Derniers Carolingiens, pp. X V I I s.; Bardot, pp. 1—39; Kawerau, p . 2 I ; Schon Wittich, pp. 137—139, hatte die stilistischen Motive der Änderungen bei Richer entdeckt, ohne aber dann die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Kienast, pp. 120, 123; ebenso Kirn, pp. 41 ss. Latouche, Richer, t. 1. pp. X ss.; Latouche, Imitateur de Salluste, p. 300: „Mais il faut renoncer ä l'opinion qui reprisente Richer comme aveugle par la passion politique: c'est faire ä la fois trop d'injure et trop d'honneur ä un moine qui ne parait avoir obii qu'ä. des suggestions d'ordre littiraire". Kienast, pp. 120 s. Richer I, 14, 22 ss.

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und Karl plötzlich zwischen jungen Deutschen und Franzosen (Germani, Galli) ein Streit ausgebrochen sei. Grund dieses Zwischenfalles seien durch die verschiedenen Sprachen entstandene Mißverständnisse gewesen, die dann, wie es oft vorkomme, zu gegenseitigen Beschimpfungen geführt hätten. Erlebald, der den Streit habe schlichten wollen, sei von den Wütenden erschlagen worden 25 ). Soweit die Darstellung Richers. Diese ganze Szene ist einer jener Erklärungsversuche f ü r eine Begebenheit, deren Ursache in der vorliegenden, von ihm benutzten Quelle —· hier Flodoard — nicht zu finden war. Nachdem Flodoard in seinen Annalen 26 ) den Konflikt mit Erlebald und Heriveus beschrieben hat, berichtet er bloß, jener sei zum König geeilt, der gegen Heinrich zu Felde gelegen habe, und Feinde des Königs hätten ihn niedergemacht 27 ). Streitigkeiten, wie Richer sie hier schildert, gehören sicher zu den immer wiederkehrenden Vorfällen der mittelalterlichen Geschichte. Daß Richer aber ihre Ursache im sprachlichen Gegensatz suchte — er betont ja, dies sei nicht eine vereinzelte Erscheinung gewesen —, zeigt doch, wie „Germani" und „Galli", die späteren Deutschen und Franzosen, sich ihrer Verschiedenheit immer stärker bewußt wurden. Hier aber schon von einem Nationalismus zu sprechen, ist wohl verfrüht, da überhaupt keine direkten politischen Auswirkungen hervorgerufen wurden. Wenn die Raufereien nach der Meinung Richers den Abbruch der Verhandlungen bewirkt haben, da die beiden Partner Verrat gewittert hätten 28 ), so bildete dieser Streit wohl den Anlaß, doch niemals den Grund f ü r das Auseinandergehen Heinrichs I. und Karls IV. Die beiden Herrscher waren nicht im geringsten die Exponenten zweier verschieden sprechenss

) ibid. I, 20; „Cui rei cum admodum intenderet, Germanorum Gallorumque juvenes Iinguarum idiomate offensi, ut eorum mos est, cum multa animositate maledictis sese lacessire coeperunt. Consertique gladios exerunt, ac se adorsi, loetaliter sauciant. In quo tumultu, cum ad litem sedandam Erlebaldus comes accederet, a furentibus occisus est." Vigener, pp. 4 s. 2e ) Flodoard, Ann. 920, p. 3. " ) Kirn, p. 43, interpretiert diese Stelle Richers von einem viel zu betont nationalen Standpunkt aus. Richer I, 20: „Rex proditionem ratus, ocius surgit, suisque stipatur. Heinricus vero dolum arbitrans, classem repetit, atque a regiis stipatoribus Rhenum transire cogitur. Existimabant hi qui regi assistebant, eum in dolo venisse. A quo etiam tempore Karolo infestus ferebatur."

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den Nationen. Im Gegenteil, sie trennten sich nach der Meinung Richers nur, weil sie die wahre Ursache des Zwischenfalles verkannt hatten. Ebensowenig darf man von einem nationalen Empfinden sprechen, wenn Richer erzählt, wie die Franzosen den Adler auf dem Dache des Palastes von Aachen gegen Osten gewendet hätten, um symbolisch zu zeigen, daß ihre Waffen denjenigen der Deutschen überlegen seien, was eine Antwort auf die erste Wendung des Adlers nach Westen durch die Deutschen gewesen sei 29 ). Eine solche Haltung läßt sich leicht aus dem Gegensatz zweier Heere erklären, seien es Stammestruppen, nationale Einheiten, gedungene Söldner oder rein persönlich verpflichtete Krieger. Etwas verschieden klingt jedoch eine Stelle aus dem 4. Buch. Richer begründet die Ablehnung der französischen Könige, an das Konzil von Mouzon zu kommen. Hugo und Robert haben verräterische Pläne Adalberos von Laon entdeckt, der bei diesem Anlaß einen Anschlag auf die Könige geplant und nach der Meinung Richers mit Otto III. in Verbindung gestanden hatte. Die Könige weigerten sich, zu erscheinen, weil sie die Großen des Landes nicht bei sich hätten, ohne deren Rat sie nichts tun und nichts lassen könnten; sie fänden es auch unwürdig, ihre Bischöfe dem Urteil der d e u t s c h e n Bischöfe zu unterstellen, da jene nicht weniger edel, nicht weniger mächtig und ebenso gelehrt, wenn nicht noch gelehrter seien30). Von dieser entschiedenen Haltung gegenüber dem deutschen Episkopat findet man 948, anläßlich der Synode von Ingelheim, keine Spur, obwohl die äußeren Umstände schon damals zu ähnlichen Überlegungen hätten Anlaß geben können. Ein Blick auf die Teilnehmerlisten der Synoden von Verdun und Ingelheim31) genügt, um fest) ibid. I I I , 71: „Aeram aquilam, quae in vertice palatii a Karolo magno acsi volans fixa erat, in vulturnum corverterunt. Nam Germani eam in favonium converterant, subtiliter significantes Gallos suo equitatu quandoque posse devinci." 80 ) ibid. I V , 96: „Reges itaque, fraude percepta, episcopis j a m ad locum designatum convenientibus per legatos indicavere sese illuc non ituros, eo quod suorum praecipuos penes se non haberent, sine quorum consilio nihil agendum vel omittendum videbatur; indignum etiam sibi videri si correctioni episcoporum Germaniae suos subdat, cum isti non minus nobiles, non minus potentes, aeque etiam aut amplius sapientes sint." 3 1 ) Flodoard, Ann. 948, p. 110.

2e

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stellen zu können, daß auch in Ingelheim außer dem direkt beteiligten Erzbischof Artold gerade noch der Bischof von Laon als einziger westfränkischer Prälat anwesend gewesen ist. Ist diese neue Haltung der französischen Könige — oder Richers, falls es sich um einen seiner Erklärungsversuche handelt — Anzeichen eines erwachenden Nationalismus? Es erhebt sich hier sofort die Frage, von welchem Augenblick an wir überhaupt von einem solchen sprechen dürfen. Bei diesem Beispiel scheint es mir wiederum abwegig zu sein. Denn die französischen Könige treten hier nicht als Vertreter oder als Verkörperung eines Volkes auf, dessen Interessen sie zu verteidigen haben. Der Gegensatz zwischen „Deutschen" und „Franzosen" trägt einen feudal-dynastischen Charakter. Er dreht sich um die Stellung des französischen und deutschen Königs und um die um sie gescharten Feudalherren. Der französische König würde seine eigene Stellung untergraben, wenn er „ s e i n e " Bischöfe dem Urteil der Bischöfe des deutschen Königs unterstellen würde. Es besteht kein Zweifel, daß dies nicht mehr die Auffassung ist, die wir in Flodoards Schilderung der Ingelheimer Synode gefunden haben, wo die Bischöfe als Glieder ein und derselben Kirche zusammengetreten waren, und die Kirche in weit geringerem Maße in zwei große, feudal gegliederte Verbände zusammengefaßt schien. Die gegenseitige Rivalität der beiden Herrscher trat — wenigstens in der Darstellung Flodoards — noch ganz in den Hintergrund. Trotzdem wäre es unseres Erachtens verfehlt, von einem völkisch-nationalen Empfinden Richers bei der Interpretation dieser Stelle zu sprechen. Richer ist sicher kein Nationalist, wenn wir unter Nationalismus das Bewußtsein eines Volkes verstehen, das sich in seiner politischen, hier in der monarchischen Spitze verkörpert und verteidigt fühlt, das Bewußtsein einer Regierung, eines Herrschers, die nicht nur für sich, sondern im Namen eines Volkes handeln. Wohl sind gewisse bedeutungsvolle Elemente im Entstehen begriffen. Die Sprache schafft eine Einheit. Anderssprechende werden als fremd empfunden. Die Herrscher wollen sich die volle Unabhängigkeit innerhalb ihres feudalen Verbandes wahren, in den die Kirche immer mehr hineingezogen wird. Aber diese Elemente werden noch nicht als Glieder ein und desselben Problems empfunden, obwohl es erst ihre Verbindung ist, die einen eigentlichen Nationalismus schaffen kann.

S Bezzola

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Ein A n h ä n g e r d e r K a r o l i n g e r ? Richer war in den Augen vieler Historiker nicht nur Nationalist, für manche war er auch, wie sein Vater, der Parteigänger der Karolinger 33 ). Allerdings soll ihn dann sein Lehrer Gerbert so beeinflußt haben, daß er Hugo Capet gegenüber sich in seinem Urteil schonend ausdrückte. Diese Parteinahme würde vor allem zwei Folgen nach sich ziehen. Die Einräumung einer höheren Stellung der Karolinger gegenüber den Ottonen in Deutschland und den Robertinern in Frankreich. Wenn Richer wirklich ein ausgesprochener Anhänger der Karolinger gewesen ist, was wir auch noch an Hand der rein französischen Angelegenheiten prüfen werden, so muß dies auch seine Haltung zur Dynastie der Ottonen und seine Auffassung über das Kaisertum beeinflußt haben. Die Parteinahme für das karolingische Geschlecht hat nun aber einen ganz besonderen Charakter. Denn sie scheint sich gar nicht in einer den Robertinern feindlichen Stimmung Ausdruck zu verschaffen. Den vier Generationen aus dem Hause der Karolinger stehen vier Generationen aus dem Geschlechte der Robertiner gegenüber, wobei der Vergleich der Vertreter der beiden Familien gar nicht immer zugunsten der Karolinger ausfällt. Odo von Franzien, der erste robertinische Rivale der Karolinger, ist ein kriegerischer, entschlossener Mann; als König erfüllte er seine Pflicht in tatkräftiger und nützlicher Art 33 ). Sein Bruder Robert I. ist unternehmend und voller Kühnheit 34 ). Diese Qualitäten bewahrte er bis zu seinem Tode, den er tapfer kämpfend im Schlachtgewühl findet35). Interessanterweise begegnen wir keiner Beschreibung des Charakters Hugos des Großen, trotz seiner bedeutenden Stellung, die er allerdings in dauernder Opposition zum Königtum einnahm. Eine Nebenbemerkung Richers schildert ihn als grausam und hart 36 ). Auch von Hugo Capet gibt Richer keine geschlossene Charakterisierung, und wir sind auf einige Worte angewiesen, die ihn aber immer wieder in ein sympathisches Licht zu rücken S2 )

Büdinger, pp. 78 s.; Monod, pp. 250 ss.; Bardot; Schneider, Hermann, p. 19; Kawerau, p. 22 (zeigt eine gewisse Vorsicht in der Formulierung); Matthaei, p. 6; Schramm, König von Frankreich, p. 81: Richer besinnt sich wieder auf die karolingische Tradition. Bagemihl, p. 43. M ) Richer I, 5. 31 ) ibid. I, 14. ω ) ibid. I, 46. 3«) ibid. II, 85

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vermögen. Er zeigte eine überzeugende Selbstbeherrschung, war ruhig und beriet sich mit seinen Freunden, ein weiteres Zeichen seiner inneren Ausgeglichenheit 37 ). Von Robert II. besitzen wir eine eingehende Schilderung, was vielleicht daher rührt, daß ihn Richer als Schüler Gerberts persönlich gekannt haben mochte. Er war unternehmend und intelligent, bewährte sich glänzend im Kriege und hatte sich durch seine umfassenden Kenntnisse in den kanonischen Wissenschaften bekannt gemacht; er widmete sich den freien Wissenschaften, nahm an den Synoden teil, diskutierte und beteiligte sich an kirchlichen Entschlüssen 38 ). Auch bei den Karolingern sind die Urteile Richers recht verschieden; allen voran steht das Bild Karls des Einfältigen, der zu ausgesprochener Gutmütigkeit neigte, er hatte ein gewinnendes Aussehen, einen guten und einfachen Charakter; seine kriegerische Ausbildung ließ allerdings noch zu wünschen übrig, dafür war er in der Wissenschaft sehr gebildet, freigebig und ohne Geiz; leider aber hatte er zwei Fehler: eine starke Neigung zu Ausschweifungen und eine etwas ausgeprägte Nachlässigkeit in der Erfüllung seiner richterlichen Pflichten 39 ). Sein Sohn Ludwig IV. trat in allen Handlungen mit unternehmendem, tatkräftigem Geiste auf. Schon bei seiner Ankunft in Frankreich erfreute er seine zukünftigen Vasallen durch seinen frischen, mutigen Sprung auf das ihm zur Verfügung gestellte Pferd, ein Zeichen seiner Entschlußkraft und körperlichen Behendigkeit 40 ). Die Heirat mit Gerberga erklärte Richer aus seinem mitleidigen Charakter 41 ), und noch 948, wo er sich ja tatsächlich in einer ziemlich kläglichen Lage befand, zeigten die Reden Roberts von Trier, des Legaten Marinus und Ottos des Großen —· alle von Richer erfunden —, wie Ludwig trotzdem noch geachtet wurde 42 ). Die Persönlichkeit Lothars tritt uns einzig durch ihre Handlungen entgegen. Lothar war unternehmend wie sein Vater, ein tatkräftiger König 43 ), dessen Tod von allen betrauert wurde 44 ). Dies hinderte Richer allerdings nicht, den Tod Lothars eine Erlösung f ü r die Belgier zu nennen 45 ), oder noch etwas früher, anläßlich des Feldzuges Ottos II. in 3

38 3 ') Richer III, 81. ) ibid. IV, 13. ») ibid. I, 14. 41 12 ) ibid. II, 4. ) v. n. 10. ) Richer II, 7 4 - 7 6 . 43 ) Bagemihl, pp. 43 s., sieht in ihm — in der augustinischen Terminologie ausgedrückt — einen „rex iustus". " ) Richer III, 109. " ) ibid. III, 108. 40

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Frankreich, ihn klagend zum Herzog von Franzien fliehen zu lassen 46 ). Das etwas uneinheitliche Bild Lothars, das aus der Darstellung Richers hervorgeht, mag auch die Folge der verschiedenseitigen Beeinflussung sein, derjenigen seines Vaters etwa neben derjenigen Gerberts und Adalberos von Reims. Sie zeigt aber um so deutlicher, wie wenig Richer in seiner Geschichte an irgendeine Parteinahme dachte. Ludwig V. machte einen noch bedeutend schlechteren Eindruck. Er war der unreife Jüngling, der in Aquitanien mit einer schon älteren Frau verheiratet wurde, dem Laster verfiel und dadurch noch sein letztes Prestige einbüßte, das er sich bis dahin hatte erhalten können47). Als er die Regierung antrat, brauchte er noch unbedingt einen Berater, da er selbst nicht genügend Autorität besessen hätte 48 ). Ein eher klägliches Bild für einen Karolinger! Karl von Lothringen, der mit Hugo Capet um den französischen Thron rang, wird vor allem durch den Mund Adalberos, eines seiner erbittertsten Feinde, geschildert. Der Erzbischof von Reims warf Karl vor, meineidig, gotteslästernd zu sein, immer mit Schurken zusammengelebt zu haben und sich nicht einmal von ihnen trennen zu wollen. Mit solchen Gefährten wage er es, sich um den Thron zu bewerben 49 )! Karl habe kein Ehrgefühl und sei voller Trägheit 50 ). Und doch ist es wiederum der gleiche Karl, der im Kampfe um Laon den Eindruck eines mutigen, umsichtigen Führers macht, der beim Herannahen eines königlichen Heeres männlich den Versuch wagt, auf offenem Felde zu widerstehen51). Dieser kurze Überblick über die Schilderung von Karolingern und Robertinern beweist, wie wenig Richer einer Schwarzweißmalerei verfallen ist, Robertiner und Karolinger zeigen gute und schlechtere Seiten. Hätte Richer die Interessen einer der beiden Familien vertreten wollen, so wären diese Schilderungen einseitiger und vor allem auch sorgfaltiger ausgefallen. Widersprüche, wie sie ζ. B. bei Lothar und seinem Bruder Karl von Lothringen auftreten, wo das Urteil beider Parteien noch beinahe offen zu Tage tritt und den Leser erraten läßt, woher Richer die Nachrichten erhalten hat, können nicht von der Hand eines Anhängers der Karolinger stammen. Richers Interesse beschränkte sich vielmehr auf die rein «·) ibid. III, 74. *') Richer IV, 10.

" ) ibid. III, 95. ) ibid. IV, 11.

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) ibid. IV, 1. ) ibid. IV, 37.

48 51

menschlichen Züge dieser Persönlichkeiten und vor allem auf ihr Verhalten in gewissen Situationen. Nirgends findet man Spuren irgendeiner durchdachten Programmschrift. Dabei fällt immer wieder auf, welche Anerkennung und Bewunderung der Mönch von St. Remi dem männlichen, tapferen Krieger und Ritter zollt. Sogar Karl von Lothringen, den Adalbero einen Schurken nennt, erhält durch seine Tapferkeit eine ganz unerwartete Größe. Richer schrieb also nicht als Parteimann der Karolinger. Wenn die Vertreter dieses Königsgeschlechtes oft das Wohlwollen des Autors fanden, so geschah dies — abgesehen von gewissen persönlichen Eigenschaften — wohl noch aus anderen Gründen. Weihe, Dynastie und W a h l Was aber Richer den Ruf des Parteigängers der Karolinger eingebracht hat, ist meiner Meinung nach seine ausgeprägte legitimistische Haltung. Drei verschiedene Elemente können den Herrscher in den Augen des Menschen des 10. Jahrhunderts legitimieren: die Weihe, die Dynastie und die Königswahl. Alle drei haben ihre bestimmte Bedeutung, die je nach der Lage verschieden ins Gewicht fallen kann. Schon Flodoard betonte immer wieder den Wert der k i r c h l i c h e n W e i h e 5 2 ) . Die gleiche Auffassung, wenn auch in etwas verschiedener Form, vertrat Richer, was j a für einen westfränkischen Kleriker gar nicht erstaunlich ist. Bernheim und seine Schüler haben mit Recht auch bei ihm auf die augustinischen Vorstellungen des „rex iustus" und des „tyrannus" aufmerksam gemacht 53 ). Denn gerade bei Richer ist es auffallend, wie wenig diese Begriffe vom Charakter ihrer Träger abhängig zu sein brauchen, oder besser, wie leicht eine an und für sich sympathische Persönlichkeit zum „tyrannus" werden konnte, nur weil ihr die kirchliche Legitimierung fehlte. Denn diese manifestierte die Rechtmäßigkeit eines Herrschers vor Gott. Robertiner und Karolinger hatten „tyranni" in ihren Reihen. Auch in diesem Fall ist es daher falsch, die Verwendung des Begriffes als Ausdruck der Parteinahme Richers f ü r die eine oder andere Dynastie zu deuten. 52

) v . pp. 28 SS. ) Bagemihl, pp. 39—44.

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Tyrann ist vor allem derjenige, der ungerechterweise sich am legitimen, geweihten Herrscher vergeht, ihn zu stürzen oder zu ersetzen hofft. Der Prototyp eines Tyrannen — hier ist allerdings der negative Beigeschmack offensichtlich — ist Herbert von Vermandois, der ewige Rebell und Intrigant 54 ). Aber auch Robert I. ist ein Tyrann, denn er strebt unrechtmäßig nach der Königskrone 55 ), im Gegensatz zu seinem Bruder Odo, der König geworden war, weil Karl der Einfältige, ein Knabe, noch nicht imstande war, den drohenden Angriffen der Normannen zu widerstehen58). Robert I. aber war in den Augen Richers ein mutiger, tapferer und fähiger Herrscher, was eben beweist, daß einzig seine nicht legitimistische Haltung ihn zum Tyrannen stempelte. Sein Sohn, Hugo der Große, steht durch seinen Kampf gegen den rechtmäßig gewählten und geweihten König als ein Tyrann da 57 ). Andererseits haben aber die Karolinger auch einen „Tyrannus", Karl von Lothringen, der seinerseits mit dem geweihten Herrscher im Streite lag und um die Krone kämpfte 58 ). Die k ö n i g l i c h e A b s t a m m u n g rechtfertigte einen legitimen Anspruch auf die Krone. Dieses dynastische Recht kam natürlich dem alten karolingischen Hause zugute. Es wurde aber auch von der neu aufkommenden Dynastie durchaus anerkannt, j a sogar verteidigt — wenigstens in der Darstellung Richers. Wenn Karl der Einfältige trotz der Wahl Odos nicht vom Throne verdrängt wurde, verdankte er dies wohl einzig seiner Herkunft 59 ). Am Konzil von Ingelheim betonte Richer in der einleitenden Rede des Erzbischofs von Trier die dynastischen Rechte des Karolingers, wenn er von Ludwig sprach als von demjenigen, dem das Recht zu herrschen zukomme, und der das Herrschaftsrecht durch die väterliche Übertragung erhalten habe 60 ). Andererseits glaubte Hugo der Große, seine eigene Familie " ) Richer II, 7, 2 2 - 2 4 , 2 6 - 2 8 , 30, 36, 82; III, 11. 5 6 ) ibid. I, 41, 4 3 - 4 6 . 56 ) ibid. I, 4 : „Et quia Karolus vix adhuc triennis erat, de rege creando deliberant: non ut desertores, sed ut in adversarios indignantes." " ) ibid. II, 22, 24, 2 6 - 2 8 , 36, 48, 81, 82, 85, 87. 6 8 ) ibid. IV, 18, 36. ">) cf. n. 56. Richer II, 71: „Unde et leges divinae atque humanae indiscrete a malivolis contempnuntur, cum is cui regnorum jura debentur et imperandi potestas transfusione paterna credita est, suorum insectatione captus, ergastuloque immaniter trusus sit, . .

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nur auf den Thron bringen zu können, wenn er die alteingesessene Dynastie ausrotte. Dies versuchte er auch, als Ludwig IV. in seinen Händen war und er von Gerberga die Auslieferung der Königskinder verlangte 61 ). Ist es daher nicht begreiflich, wenn die Anhänger einer Partei alles taten, damit ihr König sein Leben nicht aufs Spiel setze? Die Bischöfe Karls des Einfältigen beschworen diesen, nicht persönlich in der Schlacht mitzukämpfen, damit das Königsgeschlecht nicht untergehe 62 ). Sie hatten recht, denn in der gleichen Schlacht fiel Robert I. seiner Unvorsichtigkeit zum Opfer. Die Sorge um die Erhaltung des königlichen Geschlechtes erfüllte auch die Kapetinger: Hugo Capet konnte den Erzbischof Adalbero nur zur Krönung seines Sohnes Robert bewegen, indem er ihm die Gefahr für Heer und Reich vorhielt, die mit seinem Tode in der Schlacht verbunden sein könne. Nur die Sicherung der Nachfolge bewahre Frankreich vor neuem Elend und endlosen Wirren 63 ). Wie tief dieses dynastische Denken in Richer verwurzelt war, zeigt sich, wenn er sogar die opponierenden Robertiner zu Verteidigern des legitimistisch-dynastischen Prinzips macht. Bei der Wahl Ludwigs IV. wird Hugo der Große zum Verteidiger des „alten, edlen Königsgeschlechtes", und es wirkt geradezu seltsam, wenn er das Vorgehen seines Vaters Robert gegenüber dem legitimen König tadelt und sagt, daß Robert, wenn auch von den Großen des Reiches gewählt, doch ein großes Verbrechen begangen habe, als er den rechtmäßigen Herrscher bekämpfte 64 ). ) ibid. II, 48: „ U n d e et manifestatum fuit regiae lineae decus in absumptione patris et filiorum penitus abolere tirannum voluisse." • 2 ) ibid. I, 45: „ C u m ergo Karolus rex bello prudentia intenderet, episcoporum instinctu aliorumque religiosorum virorum qui sibi assistebant actum est ut ipse rex bellum non ingrederetur, ne forte in rerum confusione regalis stirps eo lapso consumeretur." e l ) ibid. IV, 12, 13: „Petebat itaque alterum regem creari, ut si bellico tumultu duorum alter decideret, de principe non diffideret exercitus. Fieri quoque asserebat posse, rege interempto et patria desolata, primatum discordiam, pravorum contra bonos tirannidem et inde totius gentis captivitatem. P R O M O T I O R O T B E R T I I N R E G N U M . - Metropolitanus sic posse fieri intellegens dictis regiis cessit." **) Richer II, 2: „Pater meus, vestra quondam omnium voluntate rex creatus, non sine magno regnavit facinore, cum is cui soli jura regnandi debebantur viveret et vivens carcere clauderetur. Q u o d credite Deo non aeeeptum fuisse . . . Repetatur ergo interrupta paululum legiae generationis linea el

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Das Gewicht, das dem dynastischen Anspruch zufällt, ist überraschend, wenn man bedenkt, daß sich Robert nicht nur auf die Wahl der Großen berufen konnte, sondern auch in Reims gekrönt worden war 65 ). Demgegenüber besaß Karl IV. allerdings alle Elemente des legitimen Königtums. Es ist aber auffallend, wie in der Zeit ununterbrochener Kämpfe um die französische Krone der Chronist immer mehr Mühe hat, den legitimen König zu bestimmen, gerade weil sehr oft Wahl, Dynastie und Weihe sich nicht mehr auf einen Herrscher vereinen, sondern oft auf zwei Prätendenten verteilt sind. Wo liegt das Recht, wo das Unrecht? So ist es begreiflich, daß Richer trotz aller Bemühungen oft in Widerspruch mit sich selbst gerät, zumal da er nicht ein genaues Ziel verfolgt und die Erklärungen immer wieder allein aus der zeitweiligen Lage zu bilden sucht. Wie stark bei diesen Überlegungen die dynastische Tradition ins Gewicht fällt, beweist das in der Geschichte Richers oft seltsame und unkonsequente Verhalten Hugo Capets: Zur Zeit der Wahl Arnulfs zum Erzbischof von Reims zeigt er in seiner Rede an die Bürger der Stadt eine verblüffende legitimistische Einstellung zugunsten der Karolinger: „Wenn nach dem Tode des erlauchten Königs Ludwig, des Sohnes Lothars, ein direkter Nachkomme gelebt hätte, so wäre ihm dieser mit Recht als König nachgefolgt. Da aber keine Möglichkeit einer direkten königlichen Nachfolge besteht, wie es j a alle wissen, wurde ich zum König gewählt durch Euch und die anderen Großen wie durch diejenigen, die die mächtigsten Ritter waren. Nun aber, da vom königlichen Geschlecht dieser, von dem hier die Rede ist, allein übriggeblieben ist, habt Ihr gefordert, diesem Nachkommen irgendeine höhere Würde zu verleihen, damit der Name seines glorreichen Vaters nicht in Vergessenheit gerate 66 )." Hugo Capet bewegt sich da auf einer ac, Karoli filium Ludovicum a transmarinis partibus revocantes, regem vobis decenter create. Sicque fiet ut et antiqua nobilitas regiae stirpis servetur e 5 ) ibid. I, 41. et fautores a querimoniis quiescant." β β ) ibid. IV. 28: ,,D(ivae)m(emoriae) Ludovico, Lotharii filio, orbi subtracto, si proles superfuisset, earn sibi successisse dignum foret. Q u i a vero regiae generationi successio nulla est, idque omnibus ita fore patet, vestri caeterorumque prineipum, eorum etiam qui in militari ordine potiores erant optione assumptus, praemineo. Nunc vero quoniam ex linea regali hic unde sermo est solus superfuit, ne tanti patris nomen adhuc oblivione fuscetur, hunc superstitem alieujus dignitatis honore expoposcistis donari."

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gefährlichen Bahn. Sein dynastisches Denken ist so ausgeprägt, daß er nicht merkt, welche Gefahr seine eigene königliche Stellung durch eine so formulierte Rede laufen kann. Die Vermutung liegt nahe, daß Richer gerade in einer solchen Rede zeigen wollte, wie wenig Hugo Capet usurpatorische Tendenzen gehabt habe. Richer geht an einer anderen Stelle noch weiter, so weit, daß man nicht mehr genau weiß, wo er das Recht, wo das Unrecht sieht. Es sind wiederum Gedanken, die Richer Hugo Capet zuschreibt. Dieser stand mit einem stärkeren Heere auf offenem Felde Karl von Lothringen gegenüber, wagte aber nicht anzugreifen. Denn, so meint Richer, sein Gewissen machte ihn des Verbrechens bewußt, das er begangen hatte, indem er Karl seines Erbes beraubte, als er die königlichen Rechte an sich riß 47 ). Diese eigentümliche Stelle mit der zeitweisen Parteinahme Gerberts für Karl von Lothringen am Anfang des Jahres 990 begründen zu wollen, wie es Latouche versucht 68 ), scheint mit gar nicht gerechtfertigt. Gerbert wird ja nicht einmal erwähnt. Und wie sollte Richer 997 bei der Abschrift seiner Geschichte plötzlich in einem kurzen Abschnitt die Haltung seines Lehrers Gerbert verteidigen, nachdem dieser doch seine zeitweilige Parteinahme f ü r Karl als Verirrung gebrandmarkt hatte 69 ) ? Karl, der ein „Tyrann" war, weil er den rechtmäßigen König bekämpfte, hatte noch einen legitimen Anspruch auf das Königtum: die Abstammung. Offenbarte Hugo durch sein Zögern eine Schwäche seiner eigenen königlichen Stellung, so zeigte er in den Augen Richers durch sein Verhalten, daß auch er das Prinzip der dynastischen Legitimität nicht über den Haufen werfen wollte. Als rechtmäßiger Herrscher — und als solcher fühlte er sich in jener Zeit — hatte er das legitimistische Prinzip zu verteidigen, was er dann später auch tat, als er seine Nachfolge noch zu Lebzeiten durch die Krönung Roberts zu sichern gedachte 70 ). ·') ibid. IV, 39: „Processit exercitus uterque donec alter alterum in prospectu haberet; et sie uterque fixus herebat. Utrimque non mediocriter dubitatum est, cum K(arolus) rei militaris inopiam haberet, regem vero animus sui facinoris conscius contra jus agere argueret, cum K(arolum) paterno honore spoliaverit atque regni jura in sese transfuderit." ) ibid. 33 — 35, p. 132.

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der menschlichen Gesellschaft, das als Grundlage für die Vorstellungen der episkopalen traditionellen Partei gelten kann, und dadurch sicher als Gegenstück zu den Ganones Abbos betrachtet werden darf. Dabei stützt sich der Autor vor allem auf die Werke Augustins, Dionysos Arcopagitas und Gregors des Großen 11 ). Das Gedicht endet mit dem reellen Programm, das Adalbero vom König verwirklicht zu sehen wünscht. Die Tradition, die den König mit seinen Vätern verbindet, soll ihn auf dem richtigen Weg halten, damit er nicht all den Neuerungen zum Opfer falle, und damit er sich seiner Aufgabe würdig erweisen könne. Wenn sich auch das „Carmen ad Rotbertum regem" vor allem als eine Streitschrift ausnimmt, die die Verhältnisse im französischen Königreich betrifft und als Ausdruck der Rivalität zwischen Mönchstum und Episkopat verstanden werden muß, so geben doch einige kurze Abschnitte einen Eindruck von der Einstellung Adalberos zum Gedanken des Imperiums, den wir nicht übergehen dürfen.

Sind „ i m p e r a t o r " u n d „rex" S y n o n y m e ? Schon ganz zu Beginn sagt Adalbero zu seinem König: „Deine Väter (Vorfahren) trugen schon seit langem den Titel eines Königs, eines Kaisers. Deine Mutter, von kaiserlichem Geblüt, hat auch Dich mit ihrer Milch gestillt. Schon als Knabe wirst Du von der ganzen Welt als Herr geachtet, und jedermann freut sich daran und klatscht in die Hände, ist froh und wünscht sich Dich zum König, und krönt Dich bald darauf mit einstimmiger " ) ibid. 2 1 5 - 2 1 6 , p. 150: „Rex, Augustini libros, dilecte, revolue: Urbs excelsa Dei quae sit dixisse probatur."

ibid. 2 1 9 - 2 2 5 , pp. 150 s.: „Quere Dionisium qui dicitur Arcopagita: Ille duos super his desudat scribere libros. Praesul et ille sacer loquitur Gregorius inde, lob magnae scrutans fidei Moralia regis; Idem sermonem complens explanat aperte; Hic et Ezechielis super his in fine patenter, Hoc apices ipso quos Gallia dante recipit."

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Wahl: Dafür wartet er nun, daß die Zeiten des Friedens kommen mögen 12 )." Schon diese ersten Zeilen, in denen die Erwartung des großen Friedensfürsten zum Ausdruck kommt, die beim Regierungsantritt Roberts von der ganzen Welt gehegt wurde, erheben den französischen König in eine Stellung, die derjenigen des friedenbringenden römisch-christlichen Kaisers nah verwandt ist. Das Königtum Roberts beruht j a auf einem traditionellen dynastischen Anspruch: Schon seine Vorfahren waren Könige — Odo, Robert I., Hugo Capet —, waren sogar Kaiser — Adalbero denkt hier wohl an die Ottonen als die nahen Verwandten Roberts II., dessen Großmutter Hadwig eine Schwester Ottos I. gewesen war. Oder wird vielleicht Karl der Große schon in die Reihe der „Väter" der Kapetinger gerechnet? — Kaiser und Könige sind also in der Familie Roberts. Was versteht nun aber Adalbero unter Kaiser, was bedeutet ihm dieser Titel? Ist es bloß ein Synonym zu König oder ist es der Anspruch auf eine höchste weltliche Stellung in der Gemeinschaft der abendländischen Völker? Gerade bei dieser Frage stehen wir vor einem recht schwierigen Rätsel, lesen wir doch, daß Roberts „nutrix" Kaiserin gewesen sei. Es wurden etliche Versuche unternommen, die Herkunft Adelheids, der Gemahlin Hugo Capets, zu ermitteln. Gegenüber der Vermutung einer italienischen Abstammung durch Pfister13) zeigt Lot in überzeugender Weise 14 ), daß sie Tochter Wilhelms I I I . von Aquitanien gewesen sei. Irgendeine kaiserliche Abstammung hatte sie aber nicht aufzuweisen, so daß Hückel begreiflicherweise zur Ansicht gelangt 15 ), man dürfe dem Wort „induperatrix" keinen absoluten Sinn beilegen. Ist dies nun der Fall — eine andere Lösung scheint mir nicht zu bestehen, — so würde der Begriff „Kaiser" M

) i b i d . 7—12, p p . 129 s.: „Patres namque tui longe: rex, induperator; Lac tibi suggenti dat nutrix induperatrix; Mundus adhuc puero dominum metatur, et omnis Congaudet, plaudit manibus, letatur et obtat In regem sibi, mox concordi uoce coronat: Prestolatur in hoc ueniant ut tempora pacis."

ω

) Pfister, p . 389. ) L o t , D e r n i e r s Carolingiens, p p . 358—361. M ) H ü c k e l , p. 130 n. zu V e r s 8. M

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schon stark seiner eigentlichen, vor allem seiner universalen Bedeutung entleert. Tatsächlich finden wir den Ausdruck „imperator" etwas später bei Helgald auch für Robert II. verwendet 16 ). Es ist nun allerdings verfrüht, aus diesen wenigen Zeilen der Anrede Schlüsse zu ziehen, weil Robert als der von der Welt begrüßte und bejubelte König erscheint und andererseits das Wort „induperatrix" den Eindruck eines Synonyms von „regina" macht. Diese Hervorhebung der Stellung Roberts kann eine reine „captatio benevolentiae" von Seiten Adalberos sein. D i e O r d n u n g im H i m m e l u n d a u f E r d e n Auf viel sichererem Boden stehen wir aber dort, wo Adalbero die Ordnung im Himmel und auf Erden schildert, so wie sie Gott gefällig sei. „Die Kirche bildet eine geschlossene Einheit, aber die Ordnung der Welt hat drei verschiedene Formen. Das menschliche Gesetz kennt zwei verschiedene Lebensbedingungen. Der Edle und der Leibeigene stehen nicht unter dem gleichen Gesetz. Denn unter den Edlen sind zwei die ersten, der eine ist König, Kaiser der andere; unter ihrer Führung ist der „Staat" gesichert. Andere wiederum zwingt keine Gewalt, wenn sie die Verbrechen meiden, welche die königlichen Szepter unterdrücken. Dies sind die Krieger, die Beschützer der Kirche (n). Sie verteidigen alle Großen und Kleinen des Volkes und beschützen sich selbst auf die gleiche Weise. Der andere Teil ist die Klasse der Sklaven: . . . 17 )." Diese Hierarchie der weltlichen Gewalt hat einen ganz eigenen, ja verblüffenden Charakter; die doppelte Spitze in den Personen w

) Helgald, Vita Robertis regis X I I I , RHF. X, p. 104. " ) Adalbero, Carmen ad Rotbertum regem, 277—287, pp. 154 s.: „Res fidei simplex, status est sei in ordine triplex. Lex humana duas indicit conditiones: jVobilis et seruas simili non lege tenentur. A'am primi duo sunt: alter regit, imperat alter; Quorum precepto res publica firma uidetur. Sunt alii quales constringit nulla potestas, Crimina sifugiunt quae regum sceptra coercent. Hi bellatores, tutores aecclesiarum; Defendunt uulgi maiores atque minores Cunctos, et sese parili more tuentur. Altera seruorum diuisio conditionum:"

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des Königs und des Kaisers. Dabei stehen die beiden auf genau gleicher Stufe. Die gleiche Stellung wirkt sich ja bis in den symmetrischen Satzbau aus. Man braucht nun nicht weit zu suchen, um die tatsächlichen Verhältnisse, die dahinterstehen, zu ergründen und um zu sehen, wie Adalbero seine Theorie ganz den zeitlichen Verhältnissen anzupassen sucht. Für ihn bilden der französische König und der deutsche Kaiser die Spitze der weltlichen Gewalt. Durch diese Gegenüberstellung sinkt natürlich die universale Bedeutung des Kaisertums auf ein Minimum herab. Wenn uns auch die erste Stelle durch das Wort „induperatrix" zur Annahme führte, ein volles Synonym zu „regina" zu erblicken, so zeigt uns die Differenzierung von „regit" und „imperat" bzw. von König und Kaiser, daß Adalbero an zwei ganz bestimmte Könige denkt und seine weldiche Hierarchie nicht auf einer abstrakten Grundlage beruht. Der Kaiser ist bei ihm nicht mehr der universale Herrscher des christlichen Abendlandes, sondern er ist der Nachfolger der Karolinger in Deutschland wie der König der Nachfolger der Karolinger in Frankreich ist. Das Gefühl einer weltlichen Einheit, die vor allem durch die kirchliche Tradition hervorgehoben wird, geht dabei auffallenderweise nicht verloren. Diese Einheit, ausgedrückt in der „res publica", bleibt trotz der zwei Spitzen bestehen und teilt sich nicht etwa in zwei entsprechende Teile auf. Wir stehen hier vor dem interessanten Versuch, die durch die Kirche geforderte weldiche christliche Einheit des Abendlandes mit den realen Verhältnissen von zwei mächtigen Staaten zu vereinen. Wie stark schließlich Adalbero immer noch mit der karolingischen Gedankenwelt verbunden ist, zeigt er darin, daß England, der Norden, die spanischen Königreiche gar nicht in sein Schema aufgenommen werden. Kaiser und König stehen auf gleicher Stufe in der weltlichen Hierarchie. Sie regieren auch beide über verschiedene Reiche. Diese Vorstellung von der Herrschaftsgewalt der deutschen und französischen Könige, die nicht zwei geschlossene staatliche Gebilde einander gegenüberstellt, sondern eine ganze Anzahl verschiedener Reiche (regna) unter zwei Herrschern vereinigt, hatte sicher auch dazu beigetragen, König und Kaiser einander gleichzusetzen. Schon bei Richer war Otto der König von Deutschland und Italien 18 ), aber ebenso zählt Richer auch die verschie18

) Richer III, 44.

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denen Völker auf, die unter dem Szepter Hugos standen 19 } und deren Fürsten ihm huldigten (principes regnorum). In gleicher Weise ist nun auch Robert im Gedichte Adalberos Herrscher verschiedener Reiche 20 ), Aquitaniens, Burgunds und Franziens, ein Thema, das auch in den ersten zwei Versen seines Gedichtes „De summa fidei"21) aufgenommen wird. Die T h e o r i e Adalberos und die R e a l i t ä t des 10. J a h r h u n d e r t s Aus diesem theoretischen Teil über den Aufbau der weltlichen und kirchlichen Hierarchie spürt man schon stark den Einfluß der Zustände der Zeit. Es lohnt sich auch sicher nachzuforschen, wie dieser Gegner der Reform als Vertreter der alten episkopalen westfränkischen Tradition zu den allgemeinen geschichtlichen Verhältnissen Stellung nahm, wie er Robert in die Tradition einzufügen suchte. Im Dialog legt er dies sogar dem König selbst in den Mund: „Das Königreich der Franken hat zur Zeit der Väter Könige unterjocht und immer in höchstem Ruhme gestanden; die königliche Macht unserer Väter wurde noch nie durch irgendeine andere Macht bezwungen. Wer auch herrschte, liebte die Tugenιβ

) Richer IV, 12: „Hac sententia promulgata et ab omnibus laudata dux omnium consensu in regnum promovetur et, per metropolitanum aliosque episcopos Noviomi coronatus, Gallis, Brittannis, Danis, Aquitanis, Gothis, Hispanis, Wasconibus rex kal. jun. praerogatur. Stipatus itaque regnorum principibus, more regio decreta fecit legesque condidit, felici successu omnia ordinans atque distribuens; et ut beatitudini suae responderet, multo successu rerum secundarum levatus, ad multam pietatem intendit." so ) Adalbero, Carmen ad Rotbertum regem, 19, p. 131: „Plurima

sub pedibiis

tibifortia

regna

iugauit."

cf. der Kommentar von Hückel zu diesem Vers, p. 131. 21 ) Adalbero, de Summa Fidei, 1—2, p. 169: „Regt

Rotberto

Lauduntis

sie praesul

tarn parva

Adalbero

domus tua regna

plaudit. salutat."

Dem steht allerdings im Begriffe „regnum Francorum" (carmen ad Rotbertum regem 121, p. 141: „Regnum Francorum, manu ferroque subactum") die Einheit des Frankenreiches gegenüber, die in der Erinnerung Adalberos noch nicht geschwunden ist. Inwieweit dort bloß Frankreich oder das Frankenreich Karls des Großen verstanden werden soll, ist nach diesem einzigen Beleg schwer zu entscheiden.

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den und herrschte gerecht; wir wissen ja, daß das Kaiserreich schon durch die Könige in die Flucht geschlagen wurde. Dank sage ich dem Höchsten, durch den ich zu herrschen wünsche, nicht aus eigenem Verdienst, sondern durch sein ewiges Lob. Ruhm, Lob und Ehre, Tugend sei dem, der alles regiert, den ich immer mit gebeugten Knien inständig anbete, er möge uns gestatten, die väterlichen Gesetze zu erhalten 22 )." Deutlicher könnte wohl dieser König, dessen Vater noch den letzten Karolinger verdrängt hatte, sich nicht in die fränkische Tradition stellen. Sein Reich ist eine Fortsetzung des Frankenreiches, die Erinnerungen an Karl den Großen sind noch gar nicht erloschen, s e i n e Stellung hat Robert wieder einzunehmen. Keine Macht hat je die Macht seiner Väter bezwungen; konnte man mit deutlicheren Worten für eine volle Unabhängigkeit der Herrscherstellung plädieren? Denn nur so kann sich eine tugendhafte und gerechte Herrschaft erhalten. — Man beachte nebenbei, wie „regit" und „imperat" hier absolut synonym verwendet werden, im Gegensatz zur oben zitierten Stelle 23 ). Aber auch in jüngster Zeit hat dieses Reich, das Robert regiert, sich gegen das „imperium" zu verteidigen gewußt und es sogar in die Flucht geschlagen, eine deutliche Allusion auf die Kämpfe Lothars und Ottos II. im Jahre 978, wobei allerdings eine leichte Tendenz zur Hervorhebung des Ruhmes des französischen Königs nicht zu verleugnen ist, und man ob dem Rückzug Ottos aus Frankreich seinen Einfall und Vorstoß bis Paris vergessen soll. Die Verwendung von „imperium" als Bezeichnung für das Reich der Ottonen im Gegensatz zum französischen Königreich der Kapetinger zeigt nun noch weit deutlicher, wie dieser Begriff ' rl \ A d a l b e r o , C a r m e n a d R o t b e r t u m regem, 395—404, p. 165: „Regnum Francarum reges sub tempore patrum Subiugat et semper sublimi pollet honore; Regum sceptra patrum nullius sceptra coercent. Quique regit, gaudent uirtutibus, imperat aeque; Nouimus imperium iam regibus esse fugatum. Gratia nunc Summe per quem regnare peropto; Mo η meritis concedo meis, sed laude perhemni; Gloria, laus et honor, uirtus sit cuncta regcnti, Poplitibus flexis suplex quem semper adoro, Ut nobis liceat leges seruare paternas." a ) v. pp. 169 und n. 17.

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in der Gedankenwelt Adalberos seine ganze universale Bedeutung eingebüßt hat und im Grunde einfach zum Namen eines anderen unabhängigen Königreiches herabgesunken ist. Wirkt es nicht überraschend, wenn der Verräter des letzten Karolingers den neuen französischen König in die karolingisch-westfränkische Tradition stellt? Er will in diesem Dynastiewechsel keine Neuerung, keinen Bruch sehen, sondern eine neue Belebung des fränkischen Königtums, eine Auffassung, die derjenigen Richers wohl recht nahesteht. Das Königtum ist vom Reiche unabhängig, es baut direkt auf die Gnade Gottes und ist dadurch vor allem ein christliches Reich. Schon allein diese direkte Beziehung zur Gnade des Höchsten schließt jegliches Abhängigkeitsverhältnis zu einer anderen Macht aus. Hückel geht in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter. Für ihn wird Adalbero ein nationalistisch denkender Franzose: „N'est-il pas remarquable de rencontrer, sous la plume du traitre de 995, ce trait, qui oppose les rois der France aux empereurs d'Allemagne? Certes, ce semble etre un roi national que congoit Adalberon, fier de l'independence frangaise, et pliant, dans sa profonde humilite chretienne, les genoux devant Dieu, en implorant sa protection 2 4 )." Aber gerade die Tatsache, daß derselbe Mann, der noch kaum zwanzig J a h r e früher keinen Augenblick gezögert hatte, die französischen Könige zugunsten Ottos I I I . zu verraten, scheint mir zu zeigen, wie wenig man bei ihm noch von einem nationalen Gefühl sprechen kann, d. h. von einem Empfinden, das Herrscher, Volk und Kultur als eine Einheit, ein Wesen anspricht. Ein nationales Empfinden erwirbt man sich auch nicht in einigen Jahren. Das Fühlen Adalberos war weit mehr dynastisch, persönlich geprägt. Er lebte mitten in der kirchlichen Tradition, deren Erhaltung und Freiheit er um jeden Preis erstrebte. Diese Tradition konnten aber 995 sicher beide Familien, Ottonen und Kapetinger, ohne weiteres fortführen. Ein Schwanken Adalberos ist ferner nichts Außerordentliches, wenn man bedenkt, daß er sich vielleicht als Lothringer nicht so eng mit dem Westfrankenreich verbunden fühlte als man gemeinhin annehmen könnte. Wäre S4

) Hückel, p. 115. 173

sein Verrat gelungen und hätten sich die Ottonen auch in Frankreich festsetzen können, so ist ohne weiteres anzunehmen, daß ein Bischof wie Adalbero aus den gleichen Motiven an den Ottonen gehangen hätte, wie er es tatsächlich später mit den Kapetingern tat. Die kapetingische Dynastie hatte sich aber durchgesetzt, und so wurde Adalbero veranlaßt, sein Denken mit den Tatsachen zu vereinen. Er hielt sich nun an die Dynastie, die die fränkische Tradition weiterführen konnte. Wie Adalbero durch und durch dynastisch dachte, zeigen die anfangs zitierten Stellen 25 ), zeigen auch die Erinnerungen an die Vorgänger Roberts im behandelten Abschnitt. Noch andere Stellen im „Carmen ad Rotbertum regem" betonen den Wunsch nach einer unabhängigen Stellung des französischen Königs, so ζ. B. die Verse, in denen dem König vorgehalten wird, in welch trauriger Situation er sich befinde: „Mit Recht bist Du unmutig darüber, daß Du als König zu dienen verurteilt bist. Du, der König der Franken, ein Sklave, Du, der erste in der Reihe der Könige 26 )." Dieser letzte Vers kann allerdings noch in einem etwas anderen, weniger absoluten Sinn übersetzt werden: „Du, der erste unter den Franken, ein Sklave in der Reihe der Könige", wobei dann unter Franken erst noch allein die Westfranken verstanden werden können. Infolge der verschiedenen Ubersetzungsmöglichkeiten, die sich grammatikalisch verteidigen lassen — aus der Wortstellung kann man infolge der gebundenen Form keine Schlüsse ziehen, — finde ich es nicht gerechtfertigt, anhand der ersten, auch von Hückel vertretenen These, zu schließen, daß hier Adalbero nicht nur den Anspruch auf die Gleichheit der beiden Könige stellte, sondern im französischen König den ersten Herrscher des Abendlandes sah. Diese Meinung finden wir nirgends in einer deutlichen Gegenüberstellung zum Deutschen Reich. Da Adalbero beide Reiche, beide Herrscher, als gleichwertig betrachtet, so umgibt er Robert allerdings mit Attributen, die bisher vornehmlich dem Kaiser reserviert blieben. 25

) v. p p . 167 s. u n d n . 12.

2e

) Adalbero, C a r m e n ad R o t b e r t u m regem, 392—393, p. „Digne tristaris qui rex seruire

iuberis:

Francorum primus tu seruus in ordine

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regum;"

164:

Das Königtum füllt sich mit dem Inhalt des Kaisertums, während das Kaisertum wohl weiter besteht, räumlich aber beschränkt wird. Nur so können beide gleichwertig sein. Adalbero versteigt sich in seinem Lob über das Königtum so weit, daß er nichts mehr neben ihm sieht und zu seinem König sagt: „König, mit Recht hältst Du nun die Richterwaage, beherrschest die Welt und diejenigen, die auf die Bahn der Verbrechen gelangen, hältst Du fest mit den Zügeln der Gesetze 27 )." Es ist die Vorstellung des christlichen Weltenbeherrschers und Richters, mit der man auch den französischen Herrscher umgibt, eine Vorstellung, die wohl weniger Assoziationen mit dem Römischen Reich als mit dem alttestamentlichen jüdischen Königtum zeigt. Adalbero, der Vorkämpfer des Episkopats gegen die Partei der Reform unter der Führung Clunys, verteidigte ein Weltbild, das in mancher Beziehung den Vorstellungen Gerberts in den Jahren 991—995 entsprach. Auf der kirchlichen Grundlage vermied er eine eigentliche Hierarchie, der Papst wird auffallenderweise nicht einmal genannt. Auf dem weltlichen Plan spielten die Großen eine bedeutende Rolle. Die große Fürstenfamilie, die noch zur Zeit Flodoards, Gerberts und Richers das Abendland beherrschte, hatte sich aufgelöst. Die Vertreter zweier getrennter Dynastien standen an der Spitze der „res publica", der christlichen Welt: auf der einen Seite der Bayer Heinrich II., auf der anderen der Franzier Robert I I . Ihre Verwandtschaft empfand man am Anfang des 11. Jahrhunderts nicht mehr als eine Bindung. Das Denken Adalberos war nicht national, sondern eng mit der Königsfamilie verknüpft, die sich mehr und mehr ins Zentrum der Welt des Autors zu stellen vermochte. Dieses französische Königtum beruhte auf der karolingischen Tradition; es hatte seine Macht direkt von Gott und wurde immer mehr vom Inhalt erfüllt, der damals den Kern des imperialen Denkens ausmachte. Damit erhob es sich auf die gleiche Höhe wie das bestehende Imperium, das, wenn es auch an seinen Ansprüchen festhielt, sich in Wirklichkeit doch beschränken mußte. Die umfassende Einheit in der Welt der Realität war nicht mehr das 27)

Adalbero, Carmen ad Rotbertum regem,

306—307, p. 156.

„Rex, tunc iure tenes lancem, tunc proregis orbem, Procliuos noxis cum legum stringis habenis."

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ottonische Imperium, sondern die „res publica", die in der Einheit der Kirche eine letzte Verkörperung fand 28 ). Die neue Verwirklichung des Kaisertums durch Otto I., die im 10. Jahrhundert Idee und Realität wieder zu vereinen hatte, führte schließlich zur Zweiteilung der weltlichen Herrschaft des Abendlandes: Durch den Gegensatz Ottos II. zu den Karolingern sank das Reich zur politischen Einheit eines bestimmten Teiles der Christenheit herab, wurde Parteibegriff und bedeutete nur noch eine reale Umschreibung der ottonischen Macht. Die wirklich universalen Ansprüche, denen Otto I. in einer patriarchalischen Form konkrete Ausmaße verliehen hatte, konnte sein Sohn nicht mehr halten. Neben ihm stand nun nach der Meinung Adalberos ein Königtum, das ebensosehr in der fränkischen Tradition verhaftet war und das, alttestamentlichen Gedanken folgend, nur noch Gott über sich kannte.

28

) Ich gedenke nicht, die Reichsidee in einem so weiten Sinne wie Günter zu fassen, der sagt: „Die Reichsidee wird durch das nationale Kaisertum nicht beeinträchtigt, sondern zu guter Letzt gerechtfertigt. Nationales Selbstbewußtsein stellt sich mit der Zeit gegen die deutsche Form des christlichen Imperiums. So Gerberts Schreiben an die Kaiser Basilius und Konstantin mit der Werbung um die byzantinische Freundschaft für Hugo Capet und um eine Prinzessin für den Erben Robert, oder Bischof Adalbero von Laon in dem Carmen ad Rotbertum regem". Auf das „nationale Selbstbewußtsein Adalberos" brauche ich ja nicht mehr weiter einzugehen. Faßt man das Reichsbewußtsein so weit wie Günter, so ist es auch nicht erstaunlich, wenn man es bis ins 3. Reich weiterverfolgen kann. Was bleibt der Idee an sich noch an Inhalt übrig?

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D U D O V O N ST. Q U E N T I N Die Normannengeschichte Dudos, des Mönches aus der Kongregation von St. Quentin wurde von D o m Bouquet nicht einmal in seine Sammlung französischer Quellen aufgenommen, weil er sie als unhistorische Erfindung ablehnte. Dies soll uns hier nicht hindern, sein Werk in wenigen Worten zu untersuchen, d a es uns gerade in seinen „Erfindungen" aufschlußreich erscheint. Wir führen Dudo als letzten in der Reihe der französischen Schriftsteller aus der Zeit der Ottonen auf, nicht nur, weil er von allen der Jüngste ist —· er wurde 970 geboren —, sondern weil seine Darstellung der zeitgenössischen Geschichte a n einem extremen Punkt steht. Sie bildet einen scharfen Gegensatz zu einigen der behandelten historischen Werke u n d setzt dadurch noch einen letzten Akzent auf das schon reichlich zerrissene Bild des geistigen Lebens im 10. und beginnenden 11. J a h r h u n d e r t . U b e r D u d o als Menschen wissen wir recht wenig 1 ). Er stammte wohl aus vornehmer Familie u n d trat schon sehr früh mit dem normannischen Herzogsgeschlecht in Berührung, auf dessen Wunsch er auch seine Geschichte der N o r m a n n e n verfaßt hatte 2 ). Er kannte wohl Richard I., seine Brüder Robert von Rouen und Rudolf von Ivry persönlich. 1015 wurde er Dekan der Kongregation von St. Quentin, als welcher er 1043 gestorben ist. Seine Normannengeschichte, über deren Wahrheitsgehalt von jeher immer wieder Zweifel geäußert wurden 3 ) u n d deren norManitius t. 2, pp. 257—265. ) Dudonis super congregationem S. Quinti decani de moribus et actis primorum Normanniae ducum libri tres, Migne 141, cc. 607—758. 3 ) Dümmler, Kritik Dudos, pp. 366, 377; Lauer, Louis d'Outre-mer, pp. X I — X I I I . Er gibt neben der Kritik Dudos auch die bis zur Herausgabe seines Werkes erschienene Literatur. Lot, Derniers Carolingiens, App. V I I I : La guerre normande — Autoriti de Dudon de St. Quentin (959—968), pp. 346—357. Er untersucht die Wahrheitstreue Dudos an Hand eines einzelnen Beispieles und vor allem durch Vergleiche mit dem historisch zuverlässigen Flodoard. Dabei stellt er fest, d a ß abgesehen von verschiedenen übertreibungen und schmeichlerischen Darstellungen zu Gunsten der Normannen,

2

12 Bezzola

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mannenfreundliche Haltung außer Frage steht, ist im Jahre 1000 begonnen und wohl erst nach 1015 vollendet worden. Viele seiner Nachrichten hat Dudo von Rudolf von Ivry erhalten, was natürlich dazu beigetragen hat, daß die Herzöge der Normannen überall von einem herrlichen Glorienschein umstrahlt sind. Auf die überraschende Widmung des Werkes an Adalbero von Laon 4 ) brauche ich nicht weiter einzugehen. Sie verrät uns einzig, in welchem Ansehen dieser so bewegliche Kirchenfürst bei Dudo stand. Da sich unsere Untersuchung nicht um die Frage der normannischen Fürsten, sondern um die Weltanschauung Dudos und seine Haltung zu den deutschen Kaisern dreht, sind wir nicht genötigt, auf alle historischen Einzelheiten, die Dudo erwähnt und richtig oder übertrieben darstellt, einzugehen. Ein kurzer Blick auf die Stellung der normannischen Herzöge dem König von Frankreich und den deutschen Kaisern gegenüber mag genügen. Eine normannische „Translatio imperii"? Der Normannenfürst Hastingus hatte in ganz Frankreich geplündert und geraubt. Da beschloß er mit seinen Gefährten einen Zug nach Italien zu unternehmen und sprach zu ihnen: „Das Wetter, das wir wünschen, wird häufiger, und leichte, uns günstige Winde blasen auf unserem Weg. Wenn wir wollen, können wir nach Rom fahren und es so wie Franzien unter unsere Herrschaft zwingen." Allen gefiel dieser Ratschlag, die Segel wurden von den Räuberscharen hochgezogen, und sie wandten ihre Schiffe von den fränkischen Küsten. Denn nachdem sie viele andere Gewässer und Länder in allen Richtungen durchkreuzt hatten, und sie die Küsten diesseits der Alpen für sich beansprucht hatten, wollten sie Rom, die Herrin der Völker, heimlich erreichen und stießen dabei mit ihren Schiffen auf die Stadt Lunxe (Lux), welche auch Luna genannt wird 8 ). Die doch meistens eine reelle Grundlage hinter seiner Darstellung vorhanden ist. ) v. p. 165; Dudo, Migne 141, cc. 6 0 9 - 6 1 4 . e ) Dudo I, Migne 141, c. 622: „Optatae nobis crebrescunt aurae, facilesque nobis viam spirant venti secundi. Si nobis non displicet, Romam eamus, eamque sicuti Franciam nostro dominatui subjugemus." Hoc consilium complacuit omnibus, velisque lectis a praedatoribus, torquent proras 4

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Normannen meinten nun, es sei Rom, eroberten es durch Verrat, indem Hastingus sich scheinbar hatte taufen lassen. „Alstignus frohlockte mit den Seiriigen, da er glaubte, Rom, das Haupt der Welt, erobert zu haben. Er war erfreut, die Herrschaft des ganzen Reiches in seiner Gewalt zu halten durch den Besitz der Stadt, von der er wähnte, es sei Rom, die die Herrin der Völker ist 6 )." Als er dann seine Täuschung erfuhr, raubte und plünderte er in der eroberten Stadt voller Zorn. Diese Erzählung von Dudo, die mit den realen historischen Ereignissen kaum in Einklang zu bringen ist, zeigt doch, wie stark noch der Mythos der Stadt Rom, des Hauptes der Welt, gewirkt hat. Erst die Eroberung Roms hätte den Schlußstein zu allen Heldentaten dieses ersten heidnischen Normannenfürsten gelegt, ihn auf die höchste Höhe der Macht gebracht. Erst durch den Besitz dieser Stadt glaubte er über die Welt herrschen zu können. Natürlich ist es eine historisch-literarische Reminiszenz, eine Erinnerung an die alte Größe Roms, die, wie wir sehen werden, für Dudo im 11. Jahrhundert nicht mehr bestand. Dafür hatte sich in seiner Vorstellung das Zentrum verschoben. Rom war die alte Hauptstadt der Welt. Zur Zeit Dudos ist aber ein neuer Schwerpunkt entstanden: die Herzöge der Normannen. Wilhelm Langschwert, der Sohn Rollos, verkörpert für Dudo den idealen Fürsten 7 ). Als Knabe hatte er Mönch werden wollen, aber Gott hat ihn für Höheres bestimmt; auch als er später sich ins Kloster zurückziehen wollte, wurde er durch einen Mönch überzeugt, daß seine Aufgabe hier auf Erden in der gerechten Ausübung der Herrschergewalt liege 8 ). Dieser ideale Herrscher stand nun für Dudo im Zentrum der Welt. „Er herrschte nicht nur über sein eigenes Herrschaftsgebiet, sondern er hielt auch durch seinen mächtigen Rat die benachbarten Reiche unter Francicis a littoribus. Aliis namquc longe lateque fluctibus tactis, terrisque eis citraque littora sibi vindicatis, Romam dominam gentium volentes clam adipisci Lunxe urbem (Lux urbem), quae Luna dicitur, navigio sunt congressi." Es handelt sich hier um die antike Stadt Luna in der Gegend der heutigen Stadt Sarzana in Ligurien. ') ibid., c. 625: „Gloriabatur Alstignus cum suis, ratus cepisse Romam caput mundi. Gratulatur tenere se monarchiam totius imperii, per urbem quam putabat Romam, quae est gentium dominatrix." ') ibid. III, Migne 141, c. 658. ") ibid., c. 675.

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seinem Einfluß. Die Angelsachsen gehorchten seinen Geboten, die Franken und Burgunder seinen Befehlen 9 )." Nach einem glänzenden Sieg „hielt er, vor Kriegen sicher, beide Reiche der Bretonen und Normannen in seiner Gewalt, und niemand wagte es, gegen ihn Krieg zu führen. Die Großen des fränkischen Stammes, die Grafen der Burgunder dienten ihm. Die Daker 10 ) und die Leute aus Flandern, die Angelsachsen und Irländer gehorchten ihm. Die übrigen Völker in der Nähe seines Reiches fügten sich einstimmig seinem Gebote 1 1 )." Könnte man sich eine bedeutendere Stellung eines Fürsten vorstellen, um dessen Herrschaft sich alle anderen Völker scharen? Unter diesem Gesichtspunkte gesehen, sind Vergleiche mit der Stellung des alten Rom gar nicht ein leeres Lob. Wenn Dudo den Grafen Rudolf von Ivry mit Scipio, Pompeius und Gato verglich 12 ), so wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß Rudolf in seiner Zeit eine ähnliche Stellung einnehme wie die antiken Helden Roms während der Zeit des höchsten Glanzes des Römischen Reiches 13 ). Im gleichen Gedicht wurde Dudo noch deutlicher: „Tugend und Namen wuchsen für die Untertanen im Reiche durch die weitverbreitete Macht auf dem flammentragenden Erdkreis. Sie mögen besiegt, der Ehrwürdigkeit des Grafen Rudolf weichen. Früher blühte ) ibid., c. 6 6 9 : „Non solum monarchiam quam tenebat regebat, verum etiam affinia regna strenuo consilio moderabat. Angli parebant ejus mandatis, Franci et Burgundiones ejus dictis. Ubicumque terrarum nomen ejus audiebatur, ab omnibus magnificabiliter laudabatur." 1 0 ) „Daci" sind für Dudo die germanischen Völker des Nordens, damit auch die Normannen, die sich in Westeuropa niedergelassen hatten. „Dacigenae'" sind dementsprechend ihre Nachkommen, d. h. vor allem die eingewanderten Normannen. 1 1 ) Dudo I I I , Migne 141, c. 6 6 8 : „. . . obtinuit utrumque regnum Britannorum Northmannorumque bellorum securus, nec ausus est contra eum litigare ullus. Franciscae gentis principes,Burgundionumque comites famulabantur ei. Dacigenae et Flandrenses,Anglique, et Hibernenses parebant ei. Gaeteraeque gcntes in affinitate regni sui commorantes obediebant ejus imperio unanimes." 9

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) ibid. Epistola panegyrica, Migne 141, c. 6 1 6 : „Archipatres prisci pariter, proceresque moderni, Scipio, Pompeiusque, Cato quis gloria Romae, Magnificum decus, Imperium dominansque coruscum."

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) Manitius (t. 2., p. 259) gibt dieser Stelle einen falschen Akzent, wenn er schreibt, daß Dudo Rudolf in der schon gewohnten Weise „den dicksten Weihrauch streut".

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der römische Erdkreis unter der Macht jener Konsuln, jetzt bist Du, Rudolf, der erste der Normannen, die höchste Ehrefür Richard, die Tugend des ganzen Reiches, seine Zierde und Macht. Durch Deine milden Sitten und Verdienste wirst Du erhöht, Rudolf. Mit Deiner Hilfe erstarkt der Erdkreis, er ehrt Dich, in Deiner Gegenwart gedeiht er, gedeiht er herrlich durch die Kraft Deines Mutes und Deines tief empfindenden Herzens 14 )." Es handelt sich nicht um eine direkte „translatio imperii" von Rom auf das Reich der Normannen, wenigstens sagt es Dudo nicht wörtlich. Aber die Bedeutung, die er dem alten Rom zugesteht, die er dem zeitgenössischen hingegen versagt, und die Stellung, die er den Normannenherzögen einräumt, lassen andere Schlüsse kaum mehr zu. Die Auffassung von der Verschiebung des Zentrums der Welt war j a in der Zeit unserer Autoren gar nicht eine Seltenheit. Dudo mochte die Vorstellung der „Translatio imperii" von Rom auf das Reich der Franken gekannt haben, wie sie zur Zeit Karls des Großen geschehen ist. Ein halbes Jahrhundert früher hatte auch Widukind von der „translatio regni Francorum" auf die Sachsen gesprochen 15 ). Die Idee Dudos ist also naheliegend. Dux N o r t h m a n n o r u m — rex F r a n c i a e Die Herzöge der Normannen standen im Zentrum der Welt — ist es ein Zufall, daß auch hier dieser Mittelpunkt in einer Person und nicht in einer abstrakten Institution seinen Ausdruck, seine Form findet? — Sie herrschen in Frieden über ihre Reiche, alle Reiche um sie herum gehorchen ihnen oder hören auf ihr Wort. Dudo geht also nicht so weit, daß er ihnen einen übertrie14

) D u d o , Epistola panegyrica, M i g n e 141, c. 615: „ Virtus et nomen vulgata potentia passim Flammigero regni substractis crecit in orbe, Cedant convicti comitis probitate Rodulfi. Ulis consulibus Romanus calluit Orbis, Nunc Morthmannus apex Ricardi culmen honoris, Totius regni virtus, decus atque potestas, Moribus et meritis mactus Rodulfe benignis, Ritribuente viget, timet, atque superstite pollet, Praepollens gravitate animi cordisque profundi."

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) Widukind von Korvei I, 34. p. 48.

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benen Herrschaftsbereich zugesteht oder zudichtet. Wieder zeichnet sich die Vorstellung vieler verschiedener Reiche ab, eine Vorstellung, die sicher der Realität des 10. Jahrhunderts entsprochen hat. Ganz Frankreich war in verschiedene Herrschaftsbereiche zersplittert, mit zum Teil weitgehender Unabhängigkeit gegenüber dem armen Franzosenkönig. Dudo spricht ganz selten vom Westfrankenreich, für ihn gibt es ein Land der Normannen, der Bretonen, der Franken und der Burgunder. Er unterscheidet die verschiedenen „regna": „Northmannia", „Francia" und „Burgundia" 16 ). Hatte aber bei einer solchen Auffassung der Lage des damaligen Frankreich der französische König überhaupt noch eine Bedeutung, einen Sinn? Er schien ja schon auf den ersten Anhieb hin durch die gewaltige Macht des normannischen Herzogs verdrängt zu sein. Die materielle Lage der französischen Könige im 11. Jahrhundert war auch infolge ihres geringen Hausbesitzes im Verhältnis zu den großen Vasallen oft bedenklich, j a beinahe verzweifelt. Dies warf Thetbald von Blois König Lothar auch vor, um ihn gegen den Herzog Richard aufzuhetzen: „Eine Schande ist es für Deine Herrschaft, daß er (Herzog Richard) über die Burgunder herrscht, die Aquitanier zurechtweist und züchtigt, über die Bretonen und Normannen befiehlt und gebietet, die Leute aus Flandern bedroht und vernichtet, sich mit den Dakern und Lothringern, j a sogar mit den Sachsen verbindet und vereint. Auch die Angelsachsen unterwerfen sich ihm folgsam, die Scoten und Iren werden unter seiner Kontrolle beherrscht. J a alle Völker aller Reiche dienen und gehorchen ihm, und außer Dir ist niemand, der seiner trotzigen Kühnheit und seinen Kriegern widerstehen kann . . . Schau nur zu, daß er nicht 1G

) Dudo III., Migne 141, c. 724: „. . . coepit praecipuus in omni terra Northmannorum, Britonumque, Francorum et Burgundionum haberi." ibid., c. 686: „Almitatis hujus actus Testis est Northmannia, Largitatis atque hujus Testis est et Francia: Fortitudinemque ejus Comprobat Burgundia."

ibid., c. 729: „Tunc per totam quippe Franciam, Burgundiamque et caetera rcgna, rumor tantae traditionis tantique doli propalatur."

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versucht, gegen Dich in Dein ererbtes Reich einzubrechen, und Dich aus ihm zu vertreiben und auszuschließen. Wenn Du das, was er unrechtmäßig hat, besitzen würdest, so könntest Du alle Reiche für Dich beanspruchen 17 )." Sosehr in diesem Abschnitt die Macht Richards zum Ausdruck kommt, so klein und gering erscheint die Rolle des französischen Königs, sogar, wenn wir von der Tendenz, die Dudo der Rede zu geben versuchte, vollständig absehen. Denselben Eindruck hat der unvoreingenommene Leser auch, wenn er vom „rex Franciae" 18 ), dem „rex Francorum" 1 9 ), dem „rex Francigenum" 20 ) liest, wenn er vom „regnum Francigenae gentis" 21 ), vom „regnum Franciscum" 22 ), vom „regnum Franciscae gentis" 23 ) vernimmt. All diese beweglichen und unklaren Formen zur Bezeichnung des französischen Königs und seines Herrschaftsbereiches zeugen davon, wie wenig die königliche Würde für Dudo mit einer Tradition verbunden ist. „Rex Francorum" ist nicht ein aus karolingischer Tradition erstarrter Titel, sondern eine Bezeichnung, die Dudo ebenso willkürlich wie alle anderen wählte. Durch die Tatsache aber, daß die „Franci" in den Augen Dudos kaum als die alten Franken verstanden werden dürfen, sondern vor allem die Bewohner Franziens bezeichnen im Gegensatz zu den Burgundern, den Aquitaniern, den Lothringern und Leuten aus Flandern 24 ), sank die Bedeutung des französischen Königs auf die gleiche Stufe wie diejenige seiner mächtigen Vasallen. Er herrschte gerade noch über das „regnum Franciae", das sich kaum mehr vom „regnum Daciae" und den andern „regna" unterscheiden ließ 25 ). „Regnum" war auch der Herrschaftsbereich der nor17

) ibid., c. 727: „Dedecus quippe est tui imperii quia Burgundionibus imperat, Aquitanos arguit et increpat, Britones et Northmannos regit et gubernat, Flandrenses minatur et devastat, Dacos et Lotharienses, quinetiam Saxones sibi connectit et conciliat. Angli quoque ei obedienter subduntur, Scoti et Hibernes ejus patrocinio reguntur. Omnium quippe regnorum omnes gentes ei famulantur et obediunt, nec est nisi tu queat resistere superbienti temeritati ejus militumque suorum. . . . Vide ne regnum tibi haereditarium conetur super te invadere, teque ab illo exterminare et extrudere. Si quod injuste tenet teneres, omnia regna tibi vindicare quires." » ) ibid. II, c. 639; ibid. III, cc. 693, 705. 19 ) ibid. I, c. 626; ibid. II, cc. 644, 649, 650. 21 * ) ibid. III, c. 706. ) ibid. I, c. 623. M ) ibid. II, c. 643. »>) ibid. III, c. 660. M 25 ) ibid. III, c. 724; cf. auch n. 9. ) ibid. II, c. 629.

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mannischen Herzöge 26 ). Wie wenig Dudo von fränkischer Tradition erfüllt war, zeigt auch die Haltung, die er den Franken zuschrieb, die als unkriegerisch, den Waffen entfremdet, j a beinahe weibisch hingestellt wurden 27 ). Der bescheidenen, fast kläglichen Stellung des französischen Königs im Bilde Dudos entspricht aber gar keine feindliche Haltung dem französischen König selbst gegenüber. Im Gegenteil, Dudo schilderte Lothar als einen milden, frommen und gerechten Herrscher. Er schrieb ihm sogar eigens ein Gedicht 28 ). Die Normannenherzöge standen im Mittelpunkt aller Betrachtungen, die Verdrehung oder Umgestaltung der Ereignisse, die mit der Wahl Ludwigs IV. zusammenhingen, weisen offensichtlich darauf hin. Als nämlich der König der Angelsachsen gehört habe, daß Wilhelm alle Herrscher der Westfranken (francisca natio) an Tu gend und Macht übertreffe, bat er ihn, für seinen Neffen Ludwig, den Sohn des in Gefangenschaft gestorbenen Königs Karl, einzutreten. Durch den Einfluß Wilhelms riefen Hugo von Franzien und die andern Großen des Landes Ludwig nach Frankreich zurück und salbten ihn zum König 29 ). Im Friedensschluß zwischen Lothar und Richard (966)30) traten sich die beiden Partner beinahe wie gleichberechtigte Fürsten gegenüber. » ) ibid. II, c. 652; ibid. III, c. 659. 27 ) ibid. II, c. 644: „Audientes autem Burgundiones, Richardus scilicet, vel Ebalus Pictavensis comes, quod Franci imbelles, armisque frigidi, quasi effeminati petissent securitatem Rollonis, . . ." 28 ) ibid. III, c. 731: „Lothari, rex clemens, pius, justus, sanctus, Probus, modestus, nobilis, lux alma orbis:" 29

) ibid. III, c. 669: „Audiens autem Alstemus rex Anglorum pacificus quod praecellebat Guillelmus virtute et potentia Franciscae nationis omnibus, misit ad eum legatos suos cum donis praemaximis et muneribus, deprecans ut Ludovicum nepotem suum, Caroli capti regis morte jam in captione praeoccupati filium, revocaret ad Franciae regnum, illudque statueret illi, cum consilio Francorum sublimando in perpetuum, atque misericordia motus pro amore sui reciperet Alannum Britanniae offensionis culpa ejectum, suique amoris gratia privatum. Illico consultu Guillelmi ducis Northmannorum, Hugo magnus dux praepotentissimus Francorum atque Heribertus satrapa principum ascitis episcopis cum consilio metropolitanorum revocaverunt festinanter Ludovicum, eumque unxerunt sibi regem populorum Francia Burgundiaque morantium." so ) ibid. III, c. 747. 184

Es war sogar der normannische Herzog — in der Darstellung Dudos —, der zwischen Ludwig und König Heinrich vermittelte (Dudo verwechselte Heinrich mit Otto) an einem Treffen in Vouziers an der Aisne, unweit von Attigny 31 ). Dem Inhalt und der Form der Zusammenkunft nach zu schließen, ist es möglich, daß es sich dabei um das gleiche Ereignis handelt, das uns schon als Zusammenkunft der beiden Könige in Attigny bei Richer beschäftigt hat 32 ). Doch hat diese Szene, wie wir sehen werden, wieder ganz neue Elemente und Akzente, die sichtlich der Auffassung Dudos entsprechen. Ludwig vereinigte sich mit seinen großen Vasallen, Hugo dem Großen, Herbert von Vermandois und Wilhelm I. Von allem Anfang an war das Heer Wilhelms so viel größer und mächtiger als alle anderen, daß es den Neid und ein Gefühl der Unterlegenheit bei Hugo und Herbert hervorrief. Beim Herannahen Heinrichs ging ihm Wilhelm mit 500 Kriegern entgegen. Auf sein Anraten hin eilte ihm Herzog Cono 33 ) voraus und meldete seine Ankunft folgendermaßen beim König: „Der Markgraf und Herzog der Normannen und Bretonen, der treue Wilhelm, Dir Diener in Christo, wollte mich nicht als Geisel bei sich behalten, sondern kommt im Vertrauen auf Dein Versprechen zu Dir und will wissen, was er für den Frieden zwischen Dir und dem König tun könne 34 )." Wie ein dritter mächtiger Fürst bietet also Wilhelm seine Dienste an. Es macht gar nicht den Eindruck, daß er durch irgendein Lehensband an Ludwig gebunden wäre. Von Abhängigkeit ist schon gar nicht die Rede. Darauf fragt der König Heinrich nach Macht und ) ibid. I I I , cc. 6 7 0 - 6 7 3 . ) v. pp. 133 ss.; Latouche, Richer, t. p. 170 n. 4; Lauer, Louis d'Outre-mer, p. 84 η. 1. Lauer stellt die Texte von Richer und Dudo einander gegenüber. Er glaubt es hier mit einer mündlichen Überlieferung zu tun zu haben und findet verwandte Züge im „Couronnement Louis" und einem weiteren anonymen Gedichtfragment, cf. auch App. I I : Les sources lögendaires de Richer, p. 267—276. 3 3 ) Wohl Konrad der Rote, dei allerdings erst 944 Herzog wurde. 3 4 ) Dudo I I I , Migne 141, c. 671: „Appropinquante vero rege Luthdovico ad praedictum placiti locum, antecessit Guillelmus cum quingentis militibus, suo monitu praecedente Conone duce et praenuntiante regi his verbis adventum ejus: Marchio duxque Northmannorum et Britonum Guillelmus fideles (sie!) tibi in Christo famulatus. Nolens me retinere pro obside, sacrosanctae fidei tuae tenore venit ad te, cupitque quid agendum sit intei le et regem Ludovirum inquirere." 31

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Stellung des Normannenherzogs, was Cono die Gelegenheit gibt, in den höchsten Tönen von Wilhelm zu sprechen, von Ludwig hört man kein Wort 35 ). Dann erscheint Wilhelm mit 500 Kriegern. „Wie Herzog Cono von seiner Ankunft hört, springt er sofort auf, empfängt ergeben das Schwert aus seiner Hand und führt ihn voller Ehrfurcht zu König Heinrich". — Welche Bedeutung man in jener Zeit dem Nachtragen des Schwertes beimaß, ist schon aus einer ähnlichen Erzählung Richers hervorgegangen 36 ). •— „Heinrich aber erhob sich sofort, ging Herzog Wilhelm entgegen, und nachdem sie den Freundschaftskuß ausgetauscht hatten, setzten sich beide zusammen 3 7 )."—Wieder eine Haltung von seiten des deutschen Königs, die er nur einem gleichrangigen Fürsten gegenüber einnehmen kann. Für einen Vasallen Ludwigs hätte er sich kaum erhoben, wäre ihm nie entgegengetreten; und einen Freundschaftskuß einem Vasallen seines Verhandlungspartners zu geben, hätte eine allzu große Erniedrigung bedeutet. Auch der Bemerkung, daß sich beide zusammen setzten, dürfen wir nicht genug Wert beilegen. — Wilhelm bietet Heinrich die Vermittlung mit Ludwig an, welche Heinrich von ihm gefordert hatte 38 ) und bürgt mit seinem Ansehen. Heinrich nimmt an und bittet ihn, am andern Tag mit König Ludwig zu ihm zu kommen. Auch die Tatsache, daß Heinrich auf Verhandlungen mit Ludwig nur unter der Bedingung eingeht, daß Wilhelm sie fördert und garantiert, untergräbt die Stellung Ludwigs im Verhältnis zum Normannenherzog gewaltig. Es folgt eine Tumultszene zwischen den Normannen und den Sachsen, deren Ursprung im Gespött deutscher Krieger liegt. Mit Hilfe der dacischen Sprache — d. h. der germanischen Sprache der Normannen — versteht Wilhelm die deutschen Worte, die ihn natürlich empören müssen. Interessant ist auch hier die S5

) ibid., c. 671: „Magnae patientiae et justitiae, magnaeque potestatis et sufficientiae, magnique et inauditi honoris et prudentiae. Nullusque rex, nisi tu, nullusque dux comesve tarn magnificus ut Guillelmus . . ." M ) v. pp. 141 ss. 8J ) Dudo III, Migne 141, c. 671: „Cono dux ut audivit adventum ejus, citius exsiliit, ensemque ejus fideliter, recepit, et ad Henricum regem reverenter conduxit. Heinricus autem rex citius surrexit, et contra Guillelmum ducem obvius perrexit, osculoque dato uterque resedit." ibid., c. 671: „Dixisti non te amicitiae et adjutorii copula vinculoque Luthdovico regi conjungi, nisi interessem factor hujus negotii."

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Bedeutung, die die Verschiedenheit der Sprachen hat, infolge derer es zum Zwischenfalle kommt. Unwillkürlich wird man an die Erzählung Richers über die Zusammenkunft in Worms erinnert 39 ). Der Tumult wird geschlichtet und die Autorität Wilhelms steht wieder in vollem Glänze da. „Wilhelm kam also zu König Heinrich und erklärte ihm, König Ludwig sei da. Darauf ging Heinrich, auf die Veranlassung Wilhelms hin, ihm entgegen und, nachdem sie sich geküßt und beidseitigen Handschlag getauscht hatten, gingen sie ins Haus und setzten sich beide 40 )". — Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Heinrich vor allem „Guillelmo cogente" Ludwig als ebenbürtigen Partner in höflichster Weise behandelt, was die Diskrepanz durch den Vergleich mit der ehrenvollen Aufnahme Wilhelms zuungunsten Ludwigs noch augenfälliger macht. Die beiden Herrscher schließen dann auf Anraten Wilhelms Frieden und binden sich durch einen Vertrag. Hugo der Große und Herbert von Vermandois bleiben über die Erfolge des Normannenherzogs erbittert beiseite. Vergleichen wir diese Schilderung mit derjenigen Richers, so bleiben die Grundelemente die gleichen: Wilhelm unterstützte den König gegen den deutschen König und erweckte durch seine mächtige Stellung den Neid der andern Großen, was zu seiner Ermordung in Picquigny führen sollte. Doch die Akzente sind grundverschieden gesetzt: Während beim einen die königliche Stellung wiederhergestellt wird und ihren gebührenden Wert erhält, muß beim andern der König vor seinem Vasallen ganz in den Schatten treten. D i e K ö n i g e v o n S a c h s e n a m R a n d e des

Geschehens

Ich glaube, damit genügend klargelegt zu haben, wie im Weltbilde Dudos der große Feudalherr, hier der Herzog der Normannen, ins Zentrum des Geschehens gerückt wurde, und wie der französische König dadurch beinahe auf die gleiche Stufe 39

) v. pp. 110 ss. Dudo III, Migne 141, c. 672: „Guillelmus autem veniens ad regem Heinricum, dixit adesse regem Ludovicum. Mox rex Heinricus, cogente Guillelmo, obviam ei incessit, datoque osculo, manibusque ad invicem complosis, domum ingressi, uterque resedit."

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wie seine größten Vasallen sank, und immer mehr zu einem Schattendasein verurteilt schien. Wieviel eher war dann erst das sächsische Haus von diesem Lebenskreis entfernt. Die Sachsen standen am Rande seiner Vorstellungswelt, waren jedenfalls ein fremdes Volk. Wir erinnern uns, wie in der Rede Thetbalds von Blois bei der Aufzählung der Völker, die unter dem Einfluß des Herzogs standen, die Sachsen als letztes Volk im Norden genannt wurden, als ob ihre Beherrschung die äußerste Grenze des Möglichen streifen würde (Dacos et Lotharienses, quinetiam Saxones connectit) 41 ). Die sächsischen Herrscher wurden durchaus geachtet; Heinrich spielte bei dem Treffen von Vouziers eine sehr ehrenvolle Rolle. Otto der Große, wenn er auch den Normannenherzog bekämpfte und Rouen belagerte, war auch in den Augen Dudos ein mächtiger Herrscher. Das spricht aus einem Gedicht Dudos, wo er ihn „groß und ehrwürdig" nennt 42 ). Aber diese sächsischen Könige waren nicht größer als der Herzog der Normannen und der König von Frankreich. Sie alle waren gleichgestellt. Daß bei einer solchen Auffassung die Verwandtschaft zwischen den beiden Herrscherhäusern nicht die gleiche Rolle spielen konnte — und sie auch nicht zu spielen hatte — wie bei manchen anderen Chronisten, ergibt sich von selbst. Wie man auch bei Adalbero von Laon feststellen konnte, waren die verwandtschaftlichen Bindungen Heinrichs II. und Roberts II., der beiden Herrscher des beginnenden 11. Jahrhunderts so schwach, daß sie von den Zeitgenossen kaum mehr empfunden wurden, auch wenn die verwandtschaftlichen Beziehungen Ottos I. und Heinrichs dem Autor durchaus bekannt waren 43 ). Für Dudo standen die säch41 42

) v. p. 182. ) Dudo III, Migne 141, c. 718: „Otho rex magnus lecolendus atque," Als Gerberga von der Gefangennahme Ludwigs durch die Normannen erfuhr, wandte sie sich an den transrhenensischen König Heinrich und an ihren Bruder Otto — daß Heinrich 946 nicht mehr lebte, ist für unsere Betrachtung unbedeutend — und bat um Hilfe. Aber König Heinrich ließ seiner Tochter, der Königin Gerberga, sagen, er werde nicht kommen. (Dudo III, Migne 141, c. 709: „Regina . . . misit ad patrem suum Transrhenanum regem Henricum et ad Ottonem fratrem suum, flore pubertatis nitidum, mandans . . . Heinricus autem rex Gerberga reginae filiae suae non se venturum remandat, . . .") In einer ähnlichen Stelle, die die Abtretung Lothringens betrifft, und worin Dudo auch sagte, daß Karl Lothringen König Heinrich versprochen habe,

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sischen Herrscher nicht auf einer höheren Stufe als der französische König. Ihre Rolle als Beschützer des Königtums, die bei vielen andern Darstellungen zum Ausdruck kommt, haben viel eher die Herzoge der N o r m a n n e n übernommen. So konnte auch die Verwandtschaft mit d e m König von Sachsen bei D u d o nicht die Vorstellung wecken, d a ß die abendländische Christenheit unter der Herrschaft einer großen königlichen Familie stehe, deren H a u p t beinahe die Stellung eines ehrwürdigen Patriarchen innehatte. Für die Idee eines umfassenden Imperiums war im Weltbild Dudos selbstverständlich kein Platz mehr, so daß es gar nicht erstaunt, wenn m a n vom deutschen Kaisertum kein Wort zu hören bekommt. Es liegt da gar keine Böswilligkeit oder feindliche Einstellung dahinter. Ein Nationalist, wie D ü m m l e r es meinte, war D u d o n u n ganz und gar nicht 4 4 ). Aus dem Vorkommen des Wortes „ I m p e r a t o r " — einmal übrigens in einem von jeder Kaiservorstellung völlig getrennten Sinn für Herzog Richard verwendet 45 ) — darf m a n ü b e r h a u p t nichts schließen, auch wenn ein vereinzelter Fall vorliegt, bei dem die Idee einer Rangfolge Imperator—rex—dux möglich wäre 4 6 ). Die übrige H a l t u n g des Autors verbietet uns, dieser Stelle eine solche Deutung zu geben. So tritt uns in Dudo ein Schriftsteller entgegen, der, wenn er auch gebildet und in der antiken Literatur bewandert war, doch in ein so regionales Denken geraten ist, das jede gemeinschaftliche Sicht des christlichen Abendlandes unter der F ü h r u n g eines fordert Arnulf von Flandern König Ludwig auf, Lothringen an Otto abzutreten — eine interessante Parallele zu Richer I I I , 67; cf. p. 126 — „Gib Otto, dem Bruder deiner Gemahlin, was dein Vater seinem Vater, dem König jenseits des Rheines, versprochen hat." (Dudo I I I , Migne 141, c. 715: „Da Othoni, uxoris tuae fratri, quod pater tuus patri suo spopondit regi Transrhennano, Lothariense regnum, ut . . .") " ) Dümmler, Kritik Dudos, p. 388. 45 ) Dudo I I I , Migne 141, cc. 738 s.: „Terra suae ditionis subjecta tyrannicae hostilitati, depopulatur rapinis et incendinis, nec valet resistere saevitiae tantae multitudinis, neque placare earn congesto pretio totius regni, nisi per te qui imperator es hujus rei" Rede Thetbalds von Blois an Herzog Richard. 4e ) ibid. I I I , c. 714: „Xon est quippe mos Franciae ut quislibet princeps duxve constipatus abundantius tanto milite perseveret cunctis diebus taliter in dominio ditionis suae, ut non aut famulatu voluntatis suae, aut coactus vi et potcstate, incumbat acclivius, imperatori, vel regi, ducive: . . ." (Rede Hugos des Großen an Herzog Richard.)

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Kaisers ganz von selbst ausschloß. Die Größe Roms wurde in der Vergangenheit anerkannt, bestand aber nicht mehr in der Gegenwart. An seine Stelle trat — die karolingische Reichs tradition schien nicht mehr zu bestehen — das Herzogtum der Normannen, um deren kraftvolle Heldengestalten sich das gesamte Zeitgeschehen zu drehen schien. Es ist ein Ausdruck der zentrifugalen Kräfte des überhandnehmenden Feudalismus, dem die zentralen Gewalten zu widerstehen unfähig waren.

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ZUSAMMENFASSUNG Die getrennte Interpretation der Werke von sieben westfränkischen und französischen Schriftstellern des 10. und beginnenden 11. Jahrhunderts ermöglicht uns, verschiedene Auffassungen über die Ottonen und ihr neu gegründetes Kaisertum als Ausdrücke individueller Meinungen zu untersuchen. Was uns dazu führte, uns auf die westfränkisch-französischen Quellen zu beschränken, wurde eingehend erörtert 1 ). Das vielseitige, oft differierende Bild, das sie uns hinterlassen haben, zeigt uns, wie wenig die einzelnen Autoren, obwohl alles Geistliche, eine einzige, für das 10. Jahrhundert allgemein anerkannte Weltanschauung vertraten. Die verschiedenen Staatsauffassungen im 10. Jahrhundert sind sicher individuell gefärbt, und doch werden auch sie gemeinsame Züge tragen, die wir zum Schluß noch kurz umschreiben wollen. Es kann sich dabei nicht um die Deutung des Denkens der Zeit handeln, sondern lediglich um die Einordnung einiger wichtiger Marksteine in das Gesamtbild ihrer Epoche 2 ). Die Vorstellungen über das Wesen eines Staates, eines Reiches haben sich im Laufe der Zeiten gewaltig gewandelt. Heute, wie auch schon im 19. Jahrhundert sind das Volk, die damit verbundene Sprache und Kultur die einigenden Elemente eines Staates. Es ist dies die traditionelle Auffassung eines Nationalstaates. Ein Staat kann aber auch auf einem politischen Akt und auf einer damit verbundenen historischen Tradition beruhen. Die heutige politische Entwicklung zeigt auch ein Bestreben, gemeinschaftliche Wirtschaftsinteressen als staatsschaffend zu betrachten. Ferner zeigen Ideologie und Glauben in der modernsten Geschichte eine immer bedeutendere Macht zur Stütze eines Staates. Alle diese verschiedenen Kräfte, die sich gegenseitig durchdringen und zum heutigen politischen Weltbild geführt haben, wirkten in früheren Zeiten nicht in gleichem Maße, und wenn v. pp. 10 ss.

») ibid. p. 18.

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sie auch schon auftauchten, so standen sie in einem ganz anderen Verhältnis zueinander. Andere Elemente, die im heutigen Kräftespiel untergehen, konnten dagegen im 10. Jahrhundert eine ganz unerwartete Wirkung haben. Wo lagen die entscheidenden staatserhaltenden Kräfte in den Augen der oben behandelten Schriftsteller? Der nationale, völkische Kern spielte für den Aufbau eines Staates, wenn wir damals schon von einem eigentlichen Staate sprechen können, eine überraschend geringe Rolle. Gewisse Ansätze 3 ), die noch aus früheren Zeiten stammen mochten, haben wohl nicht gefehlt. Doch erreichten sie kaum je eine große Bedeutung. Flodoard legt am klarsten Zeugnis ab für den Mangel an irgendeinem nationalen Empfinden. Er lebte zur Zeit des völligen Niedergangs des karolingischen Großreiches. Die neu entstandenen Staaten waren aber keine völkisch-nationalen Einheiten. Gerade unter dem Einfluß des karolingischen Reiches, das die verschiedensten germanischen Stämme zu einer Einheit zusammengefaßt hatte, ist ein völkischer Ausgleich entstanden, der den Rückfall in die verschiedenen Stammeseinheiten verhindert hat. Randgebiete und später eindringende Völker waren diesem Einfluß weniger ausgesetzt und erneuerten deshalb die Stammeseinheit: die Sachsen und Bayern im Osten, die Normannen im Westen. Vom Geiste dieser Sonderentwicklung sind auch die Werke Dudos im Westen, Widukinds im Osten genährt. Es wäre aber verfehlt, die „nationalen" Elemente, die in vereinzelten Kundgebungen am Ende des 10. und Beginn des 11. Jahrhunderts auftraten und die im Laufe der Jahrhunderte zu den modernen Nationalstaaten führten, mit der neuen Betonung der Stämme im Ostfrankenreich in Verbindung zu bringen. Wohl ist das Deutsche Reich unter der Führung des kräftigsten Stammes der Sachsen entstanden. Es wurde aber erst zum Deutschen Reich, als die sächsischen Herrscher — Heinrich I. in seinen späteren Jahren und vor allem Otto I. — von der sächsischen Tradition zur Reichstradition übergingen. Bei der Entstehung des französischen Nationalstaates ist jeglicher Stammeseinfluß ausgeschlossen. Entscheidend für das Bestehen des Staates war hingegen die Dynastie, ein Faktor, der heute in gewissen Staaten wohl noch 3

) v. pp. 109 ss.. 145.

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eine Rolle spielt, aber nie mehr das Gewicht erlangen kann, welches er im 10. Jahrhundert besessen hatte. Alle Quellen, die wir durchgangen haben, zeugen dafür. Bei Adso bildete die Dynastie sogar den letzten und einzigen Halt des aus den Fugen gehenden römisch-christlichen Reiches. Die Dynastie wirkte auch auf das Verhältnis nebeneinander lebender Reiche. Familienbande und Heiraten erhielten „politische" Bedeutung. Daraus sind die patriarchalischen Vorstellungen Flodoards und Richers über Otto I. zu erklären, und das Bild Adelheids als „mater regnorum" bei Gerbert. Der Staat beruhte in den Augen mancher unserer Chronisten nicht nur auf der Dynastie, sondern auf der Person, der Persönlichkeit des Herrschers. Denn nur ein großer Herrscher war imstande und auch im Rechte, die Idee eines mächtigen Reiches zu vertreten. Bei Gerbert, wo sich diese Vorstellung von der Aufgabe der Persönlichkeit als staatstragende Kraft noch mit einem wahren menschlichen Erlebnis zu verbinden vermochte, erhob sich diese StaatsaufTassung zu monumentaler Größe: die Idee von Imperium und Sacerdotium steht und fällt mit ihren Trägern. Aber Gerbert vertrat seine Meinung nicht allein. Auch ein Adso gab unter dem Eindruck der Persönlichkeit Ottos des Großen sein Vertrauen auf die karolingische Dynastie auf. Durch die Kenntnis der Vorstellungen der von uns behandelten Autoren ist es uns möglich, auch ihre Haltung zu den sächsischen Herrschern richtig zu sehen. Sie ist durchwegs positiv und anerkennend. Die sächsischen Könige und Kaiser stießen nirgends auf eine ausgesprochene Abneigung, auch dort nicht, wo sie nach unserem heutigen Ermessen eine Reaktion hätten hervorrufen müssen. Ihre Interventionen wurden nicht verdammt, weil sie in einer Form geschahen, die die staatstragenden Kräfte der nachbarlichen Staaten nicht verletzte. Selbstverständlich variierten auch bei den Schriftstellern des 10. Jahrhunderts die Akzente bei der Beurteilung der sächsischen Herrscher. Diese Differenzierung in der Beurteilung der Ottonen bildete denn auch das Zentrum unserer Betrachtungen. Wenn man nun abschließend versucht, die gemachten Beobachtungen auf gewisse allgemeine Linien zu bringen, so darf man wohl drei wesentliche Tendenzen feststellen: 13 B e z z o l a

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1. Die neutrale kirchliche Auffassung, wie sie Flodoard vertrat. Durch die Auflösung des Karolingerreiches in eine ganze Anzahl von Teilreichen ging die weltliche Einheit, die der geistlichen Einheit der christlichen Kirche hätte entsprechen sollen, verloren. Auch das Kaisertum erfuhr eine Beschränkung, wenn es auch eine höhere Aufgabe als das Königtum beibehielt. Seine Aufgabe bestand im Schutze des Papsttums. Die Pflicht verlor aber ihren ganzen universalen Zug, weil das Papsttum zur Zeit Flodoards auf dem Boden der Realität überhaupt keine universale Wirkung hatte. Einen eigenen Universalitätsanspruch besaß das Kaisertum nicht. Einzig die Einheit des christlichen Glaubens lebte weiter und fand ihren Ausdruck im Interesse, das Flodoard für Ereignisse außerhalb des Westfrankenreiches bekundete. Trotz der Zersplitterung der weltlichen Einheit fühlte sich Flodoard als ein Glied der christlichen Gemeinschaft. 2. Die universal-christliche Reichstradition, wie wir sie in verschiedenen Formen bei Adso und Gerbert gefunden haben. So konnte Adso im Gegensatz zu Flodoard nicht an das Ende des römisch-christlichen Reiches glauben und klammerte sich noch an die letzten Reste, aus denen er neue Hoffnung zu schöpfen vermochte. Seine Vorstellungen waren vor allem durch eschatologische Gedanken geprägt; antik-römische Reichsauffassungen traten in den Hintergrund. Auch Gerberts Sehnsucht strebte nach einem c h r i s t l i c h e n Universalreich; während seines ganzen Lebens hat er sich von diesen Gedanken nie losgelöst. Die vollkommenste Verwirklichung eines christlichen Reiches — und wie oft schien er auf diese Art der Verwirklichung infolge der Ereignisse seiner Zeit verzichten zu müssen — sah er in der römisch-christlichen Vergangenheit, wo sich römischer politischer Wille mit christlichem Glauben vereint hatten, wo weltlicher und geistlicher Vertreter Christi nebeneinander die Welt regierten. Die römisch-christliche Reichsidee Gerberts ist wohl der schönste und höchste Gedankenflug des 10. Jahrhunderts. 3. Die westfränkisch-karolingische Tradition, die verschiedene Formen in den Werken Abbos, Adalberos von Laon und Richers gefunden hatte. Wie Flodoard, so hatte sich auch Abbo mit der Zersplitterung des karolingischen Reiches abgefunden. Die Kirche allein hatte ihren universalen Charakter gewahrt, während die weltlichen Herrscher ihre Macht direkt von Gott hatten. Das 194

Römische Reich hatte als politische Einheit seine Bedeutung verloren. Die römischen Kaiser mochten wohl edle Herrscher gewesen sein, für Abbo waren es aber fremde Herrscher der Vergangenheit. Nicht so Karl der Große und seine Nachfolger! Sie galten als die direkten Vorgänger der französischen Könige. So bedeutend Rom als Zentrum der Kirche für Abbo war, so unbedeutend war es in seinen Augen für Frankreich als weltliches Zentrum und Zeuge einer weltlich-politischen Tradition. Wie Abbo, sah auch Adalbero in Karl dem Großen den Vorgänger des französischen Königtums und nicht den Vorkämpfer eines römischen Kaisertums. Noch viel ausgeprägter wurde bei ihm das „Imperium" die Bezeichnung für das Deutsche Reich als einer dem französischen „regnum" gleichwertigen Macht. Jede Universalität war verloren, mochte der Kaiser auch weiter den Schutz des Papstes übernehmen. Neben der christlichen Einheit hatte auch Adalbero gewisse Erinnerungen an das karolingische Reich, die wohl in die Vergangenheit wiesen und dem nordfranzösischen Bischof einen weltoffenen Blick bewahren konnten. Andere Motive haben Richer in diese Bahnen westfränkischer Tradition gebracht und machten ihn vielleicht unbewußt zum Vorläufer neuer französischer Traditionen. Die einigende Wirkung des karolingischen Reiches und der damit verbundene weite Horizont verlor sich unter dem Einfluß des Zerfalls. Das Karolingerreich war ein großartiges Reich, das aber immer mehr der Vergangenheit anzugehören begann. Der Horizont verengte sich — auch beim Kleriker—, das Interesse gruppierte sich um die neu aufkommenden Geschlechter. Richer beschränkte seine Geschichte auf das Westfrankenreich; was außerhalb geschah, bewegte ihn nicht. Unter diesem verengten Gesichtswinkel konnte auch ein ottonisches Imperium keine Bedeutung mehr erlangen. Richer hatte nicht mehr das Bedürfnis nach einer universalen Macht. Beschränkte sich der Partikularismus Richers auf einen Teil des karolingischen Reiches und war er damit doch noch ein Ausdruck karolingisch-westfränkischer Tradition, so löste sich der Partikularismus eines Dudo auch von dieser, um seinen Horizont auf die Geschichte des normannischen Stammes einzuschränken. Hatte sich in der Vergangenheit alles um Rom gruppiert, so drehte sich nach der Ansicht Dudos in der Gegenwart alles um 13!

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die normannischen Herrscher. Was außerhalb ihres Einflußbereiches fiel, war kaum erwähnenswert. Die Macht der sächsischen Herrscher lag am Rande des Geschehens. Das Imperium der Ottonen spielte überhaupt keine Rolle. Dudos Auffassung ist der extremste Ausfluß der partikularen Kräfte, die mit dem Überborden der divergierenden Kräfte des Feudalwesens und dem Zusammenbruch des karolingischen Reiches im 10. Jahrhundert die Oberhand erhalten hatten. Welche Verbreitung diese verschiedenen Auffassungen über das Reich der Ottonen gefunden haben, ist meiner Meinung nach kaum zu erörtern. Die Überlieferung ist viel zu dünn gesät. Ein einziger Hinweis auf die wohl am stärksten wirkende westfränkische, im Gegensatz zu einer römisch-universalen Tradition mögen vielleicht die Formulierungen der liturgischen Gebete geben 4 ). Beinahe alle aus dem Westfrankenreiche stammenden Manuskripte des 10. Jahrhunderts weisen leichte Korrekturen in den Gebeten für Kaiser und Reich auf 5 ). „Imperator" wurde oft durch „rex" oder „reges" 6 ), „imperium Romanum" beinahe ausschließlich durch „imperium Christianum" 7 ) ersetzt. Der „Imperator" wird ersetzt, die römische Tradition findet keinen Ausdruck 8 ). Ein Vergleich von kaiserlicher und königlicher Würde, wie ihn Teilenbach anhand der liturgischen Gebete versuchte, zeigt die begriffliche Unklarheit des römischen Kaisergedankens — und Tellenbach spricht vom ganzen Abendland. Nur mit Mühe wurde die kaiserliche Stellung über die königliche gesetzt9). Wieviel schwieriger mußte dies außerhalb des direkten kaiserlichen Machtbereiches sein! Die Stärke der karolingisch-westfränkischen Tradition war offensichtlich durch die Tatsache begründet, daß sie mit der weltlichen Entwicklung Schritt hielt und seit Karl dem Kahlen, ) cf. Biehl; Hirsch, Hans, Der mittelalterliche Kaisergedanke; Teilenbach, Reichsgedanken in der Liturgie; Opfermann. e ) Tellenbach, ibid., pp. 52—65. Der Verfasser ediert in diesem Artikel im Anhang noch 32 Gebetstexte. ·) ibid., Text 1. ') ibid., Texte 2 - 1 0 , 12, 17. ' ) cf. Tellenbach, ibid., pp. 23 s.: Römischer und christlicher Universalismus werden einander gegenübergestellt. Auch Tellenbach sucht festzustellen, ob zwischen Kaiser und König eine Differenzierung gemacht wurde (pp. 39 s.) *) ibid., pp. 41 ss.; Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio t. 1, p. 15. 4

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der — wenn man von der kurzen Regierung Karls III. absieht — als letzter westfränkischer König nach Rom geblickt hatte, durch die tatsächlichen Machtverhältnisse gefördert worden war. Es war die geschichtliche Realität, die auf die Gedanken der westfränkischen Kleriker gewirkt hatte. Sogar dort, wo ein Autor den universalen Gedanken nicht aufzugeben gewillt war, paßte er ihn insofern der Realität an, als der römische Univer salgedanke vor dem christlichen zurückzutreten hatte. Dies entsprach einem Bedürfnis, das im Mittelalter immer wieder durchbrach, eine Idee nicht als solche leben zu lassen, sondern sie zu verwirklichen. Die tiefe Durchdringung von Idee und Realität, die wir hier in der Vorstellung des Imperiums bei den Westfranken haben verfolgen können, ist vielleicht eine der schönsten Manifestationen des mittelalterlichen Lebens. Idee und Wirklichkeit suchten sich gegenseitig; die Idee wurde erst zur wahren, lebendigen Idee, wenn sie in die Verhältnisse der Zeit drang, wenn sie eine Form in der Realität dieser Welt gefunden hatte. Die Idee vergegenständlichte sich wie die Gegenstände von Geist erfüllt wurden. Wenn wir an unsere eigene Gegenwart denken, wo so oft eine Doktrin Theorie geblieben ist, so wirkt das Wesen dieser mittelalterlichen Menschen, dieser „jenseitsgewandten Mönche und Bischöfe" doch wunderbar wirklich, kräftig und lebensnah.

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ANHANG C a r m e n a c r o s t i c h u m a d Ottonem i m p e r a t o r e m von Abbo von F l e u r y Die Ausgabe dieses schwerverständlichen Gedichtes von Abbo ist bei Migne 1 ) so verdorben, daß man Mühe hat, es auch nur oberflächlich zu verstehen. Die zahlreichen Abschriften, die von der Vita Abbonis, ed. Johannes de Bosco (Dubois) bis zur Ausgabe von Migne geführt haben, machen dies leicht verständlich8). Es ist deshalb unerläßlich auf das einzig erhaltene Manuskript der Biblioteca Vaticana (Reg. Lat. 1864, fo. 73 r-v), das auch Van de Vyver benutzte, zurückzugehen und es hier wiederzugeben. Dem Gedicht ist der Beginn des 13. Kapitels aus der Vita Abbonis von Aimoin von Fleury vorangestellt. Das Manuskript zeigt die besten Lesungen der Vita Abbonis und stammt aus dem 11./12. Jahrhundert.

*) S. Abbonis Carmen acrostichum ad Ottonem imperatorem, Migne 139, cc. 519 s. 2 ) cf. Van de Vyver, p. 167 n. 3: Floriac. vetus bibl. Lyon 1605, Vita Abbonis ed. Joh. de Bosco (Dubois) = ed. P. Leyser, Hist, poetarum . . . medii aevi Halle 1721 = ed. Fabricius = ed. Migne.

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CAESAR NOSTRO T V CEDE C O T V R N O OTTO VALENS celo4 sydera5 quoT lucenT Tot' felix atavis Tulit Te dominum sibi saxo te* roma notaviT solO Orbis et ipse cupit7 contentus alumnO Vir Virtutum titulis et cognosceris actV fAcis8 Ac domitor patrie sectator ir auLA soLus® Lumen ubique micans lucendo velud10 soL reddEntur Ergo diu sOlito12 sanCta benignE omNis Nec deeriT virtus qua grAtia culmeN Scandit eT occultiS secedit13 nEnia 11 causiS 15 istiC Certe nos Omnes tibi Caesar deSeris Austrasios qua 1 ' terra mAnet ferAlis17 opimA situ19 Et fecunda18 pollEt satis uberRe glebaE Summis cara viriS ac sevis plena coloniS 21 ismahelitA A patris imperio non Abstitit20 cum"" sollers23 et Rexit oim 2 2 Regnans induperatoR auguste tuum poNam venerabile nomeN Nunc NOSTRO TV CEDE COTVRNO OTTO VALENS CAESAR abSens ο cesaris hereS Solus enim regnans Te nova vita resignaT Totus avo similis si Romane legis amatoR Rex fuit ille potens avitO Omne decus sOlio prognatus patrie vigereT Tali dum iure Tempora pacis erant versV dVxi describere Vir tantus quem sie et nunC Cur nAtale tuum Cur ergo contrAhis pompE dEfers in Bellis Exulis pia deBita istuD opto Dari Dum vates Bonus miraBilis indE ipse mEum Expandes Opus tractAbilis hoC sCuto Cesar ut invictus24 munituS 28 et ex triumphO mirO Omnibus utilior datus ante risiT Terribilis Clemens tuTo diademate amictV Vultus avi patrisque tVi preclarus Rursus uterque fuit victoR diRo sub tempore Nunc unum vident28 digNum cum patre vocameN OTTO VALENS CAESAR N O S T R O T V CEDE COTVRNO

) ) 12 ) ") 2S ) a

4

„ T e " (Die Anmerkungen 3—26 geben die Abweichungen bei Migne.) „coelo" 5 ) „sidera"«) „et" ') „capit" 8 ) „pacis" ») „jubar" 10 ) „velut" " ) „dei" „solita" 13 ) Migne hat hier eine Lücke. 14 ) „venia" l s ) „nescius et nunc" „quae" 17 ) „cerealis" 18) „foecunda" 1β ) „secu" 20 ) „absit" 21 ) „ismaelitha" „cum" 23 ) „solers" 24 ) „invictis" » ) „minutus" M ) „vivens"

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SCHRIFTTUM QUELLEN Becker, Gustav, Gatalogi bibliothecarum antiqui, Bonnae 1885. Migne, J.-P., Patrologiae cursus corapletus, series latina, Parisiis. Monumenta Germaniae Historica inde ab anno Christi quingentesimo usque ad annum millesimum et quingentesimum auspiciis societatis aperiendis fontibus rerum Germanicarum medii aevi, Hannover. Scriptores ( M G H , SS.); Legum Sectio IV. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum ( M G H , Const.); Diplomata regum et imperatorum Germaniae. Recueil des historiens des Gaules et de la France, ed. tt. 1—8 par D o m Martin Bouquet, tt. 9 et ss. par les religieux Binidictins de la Congregation de St. Maur, Paris ( R H F ) . Abbo von Fleuty, Apologeticus ad Hugonem et Rodbertum reges Francorum, Migne 139, cc. 461—472. — Canones, Migne 139, cc. 473—508. — Epistolae, Migne 139, cc. 419—462. — Vita Sancti Eadmundi regis Anglorum et martyris, Migne 139, cc. 507—520. — Carmen acrostichum ad Ottonem imperatorem, Migne 139, cc. 519—520. Adalbero von Laon, Carmen ad Rotbertum regem, ed. G.-A. Hückel, Les potaies satiriques d'Adalbiron, Bibl. de la Faculti des Lettres de l'Universiti de Paris, X I I I . Melanges d'histoire du Moyen-äge publ. sous la direction de M . le professeur Luchaire, Paris 1901, pp. 87—167. — D e Summa Fidei, ed. Hückel, les poemes satiriques d'Adalbiron, Paris 1901, pp. 168—177. — Epistola Adalberonis Laudunensis episcopi Fulconi Ambianensi episcopo sub dialogo directa, ed. Hückel, les poimes satiriques d'Adalbiron, Paris 1901, pp. 1 7 8 - 1 8 4 . — Rythmus satiricus, ed. Hückel, les pofemes satiriques d'Adalbiron, Paris 1901, pp. 6 9 - 8 6 . Adso von Montier-en-Der, Epistola Adsonis ad Gerbergam reginam de ortu et tempore Antichristi, ed. Sackur, Ernst, Sibyllinische Texte und Forschungen, Halle 1898, pp. 9 7 - 1 1 3 . — Vita Sancti Frodoberti abbatis primi Cellensis prope Trecas, Migne 137, cc. 599—620. — Vita Sancti Mansueti primi Leucorum urbis pontificis, Migne 137, cc. 619-644. — Vita Sancti Basoli confessoris, Migne 137, cc. 643 —658. — D e miraculis Sancti Waideberti abbatis Luxoviensis tertii, Migne 137, cc. 6 8 7 - 7 0 0 .

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