Das Metareligiöse: Eine kritische Religionsphilosophie [Reprint 2021 ed.] 9783112491201, 9783112491195

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Das Metareligiöse: Eine kritische Religionsphilosophie [Reprint 2021 ed.]
 9783112491201, 9783112491195

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RELIGIONSPHILOSOPHIE

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LEIPZIG / J. C. HINRICHS'SCHE BUCHHANDLUNG

Printed in Germany Buchdruckerei Wilhelm Hoppe, Borsdorf-Leipzig

Vorwort. I m Schicksalsraum des Christentums gibt es Religionsphilosophie nur als eine „hinführende" Wissenschaft. Sie ist nicht eine selbständige Wissenschaft in dem Sinne, daß sie im Bereich ihrer eigenen Fragestellungen einer Wahrheit mächtig wäre, bei der man sich beruhigen könnte. Die Religion sphilosophie ist wie alle Philosophie ein säkulares Unternehmen : sie ist Denken in der Kategorie des Welthaften. Aber die „Methodos" der Welthaftigkeit stößt auf ein „ E n d e " ihrer selbst, das sie noch wenigstens als das „Andere-zurWelt" begreift. Das Unweithafte aber ist der „ R a u m " der Offenbarung. Hier setzt die Theologie ein: die ihre Ermächtigung nicht mehr aus welthaften Kategorien bezieht. Damit ist die Problemsphäre dieses Buches bezeichnet. Ihre Klärung, wie sie hier vollzogen ist, ist in jahrelangem, immer erneutem Durchdenken der philosophischen und theologischen Probleme möglich geworden. Die Entwicklung, die hinter diesem Buche liegt, gehört dem Biographischen an und ist nicht von öffentlichem Interesse. Die grundlegenden Fragestellungen und die entscheidenden Ergebnisse dieses Buches sind, von der Problemlage der heutigen Philosophie und Theologie aus gesehen, vielfach neuartig. Dies festzustellen, könnte ich andern überlassen, wenn diese Klärung der Probleme, unternommen im Räume modernen philosophischen Denkens, nicht zu einer letzten und in gewisser Hinsicht erschütternden Erkenntnis geführt h ä t t e : sie stieß schließlich auf eine Schicht, die im wesentlichen die Dimension scholastischen Denkens darstellt. Ich kann nur hoffen, daß man sich über diesen Problemen zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden wird. Bei der Weitschichtigkeit meines Themas und der besonderen Gestaltung, die es erfuhr, h ä t t e ich befürchten müssen, der Klarheit der Gedankenführung Abbruch zu tun, wenn ich ihren Gang mit literarischen Auseinandersetzungen

IV

Vorwort.

aufgehalten hätte, die die Sache nicht zu fördern versprachen; ich habe sie daher auf das Unerläßliche (und auf die in Deutschland bekannte Literatur) beschränken zu sollen geglaubt. Ich hoffe, daß man trotzdem weder die gehörige Präzision noch den nötigen Tiefgang vermissen wird. Zum Titel des Buches habe ich zu bemerken, daß der Obertitel lediglich auf jene (von mir so benannte) Schicht im religiösen Bewußtsein hinweisen soll, wo das Problem der „Grenze" — das für die Gestaltung der Religionsphilosophie, wie ich sie verstehe, entscheidende Bedeutung hat— akut wird: akut wird für das religiöse, und damit zugleich für das welthafte Bewußtsein überhaupt. — Das Manuskript dieses Buches hat in einer fortgeschrittenen Gestalt verschiedenen führenden Theologen Deutschlands und der Schweiz vorgelegen. Ich habe aus dem teils mündlich teils brieflich darüber geführten Gespräch mit den Herren Professoren Dr. Walter Gut und D. Emil Brunner in Zürich, D. Karl Ludwig Schmidt in Jena, jetzt in Bonn, der mich auch mit dem Verlag in Verbindung gesetzt hat, und D. Karl Barth in Münster i. W., jetzt in Bonn, mannigfache Anregung empfangen. Ich möchte den genannten Herren auch öffentlich meinen aufrichtigen Dank aussprechen. Mein Dank gilt auch dem Herrn Verleger, der die Arbeit von Anfang an mit seinem verständnisvollen Interesse verfolgt hat. Noch muß ich schließlich an dieser Stelle eines toten Lehrers und Freundes in verehrungsvoller Dankbarkeit gedenken: Ernst Troeltschs. Er zerbrach, wie ich heute rückblickend, Bruchstücke unvergeßlicher Gespräche interpretierend, zu sehen vermeine, an dem Problem von Welthaftigkeit und Unwelthaftigkeit, dessen er im Zuendedenken seiner eigenen Positionen noch gerade als eines unabweisbaren aber für ihn unlösbaren Problemes inne werden mußte. G e n f , April 1930.

Oskar Bauhofer.

Einleitung. Tautologie

und

Doppelte

Wahrheit.

Dieses Buch versucht, die schicksalshafte Form nachzuzeichnen, in der alles menschlich-geschichtliche Leben verläuft, und in der wir auch dem unwelthaft Göttlichen gegenüberstehen. Die Formel dieses Daseins, in aller Größe der einzelmenschlichen Existenz und in aller Fruchtbarkeit einer uns tragenden Schicksalsverbundenheit, heißt, metaphysisch gesprochen, Einsamkeit. Und alles, was aus unserem Herzen emporblüht als Sehnsucht und Hoffnung und wie ein Vorausnehmen ewiger Dinge, — wir müssen es zurücknehmen vor dem strengen Gesetz der Welthaftigkeit; — erst so sind wir bereitet, das Göttliche zu empfangen: ohne ihm Formen aufzuerlegen, denen es sich entzieht. I. Alle religionsphilosophischen Fragestellungen konvergieren letzten Endes in dem einen Problem von Welthaftigkeit und Unwelthaftigkeit, von Gegebenem und Ungegebenem und dem Zusammensein ihrer, in der Frage also: Wie kann im Diesseits des Menschlichen, das allein ,,unsere Welt" ist, ein Göttliches, d. h. Unweithaftes gewiesen sein und erweisbar werden ? — Durch diese Frage ist nichts über die Wirklichkeit des unwelthaft Göttlichen ausgemacht und vorweggenommen, vielmehr nur das Problem selber in aller Schärfe bezeichnet. Wenn also etwas in dieser Frage als Frage schon ausgemacht wäre, so könnte es höchstens dies sein, daß schon die Frage die Aktualisierung eines Unweithaften im Bereich des Welthaften als unmög1

Baabofer: Metareligltise.

1

Einleitung. lieh ausschließt. Das ist denn auch das ebenso unbeabsichtigte wie unerschütterlich gewisse Ergebnis aller Metaphysik und aller im Räume der Metaphysik konzipierten Religionsphilosophie und „Theologie": das Göttliche, das hier „herauskommt", ist nichts als ein sublimes Welthafte, — nichts also als was in der Frage gegeben war. In diesem Sinne könnte der „Ausgangspunkt" der Religionsphilosophie füglich zugleich ihr Endpunkt heißen — dann nämlich, wenn die Religionsphilosophie nichts weiter ist als ein ito Logos gründendes System. Und im „Logos" gründen nicht bloß die rationalen, im technischen Sinne identitätsphilosophischen Systeme sondern auch die Systeme der „Erfahrung", die dem unauflösbar Irrationalen, dem bloß Aufnehmbaren aber nicht Ableitbaren offen stehen. Wir werden es immer wieder sagen müssen: das Göttliche ist kein welthaftes Datum, ebensowenig welthaft irrational wie welthaft rational. Das Problem des Göttlichen ist nicht beschlossen in der Frage: rational oder irrational, — mit andern Worten: Metaphysik oder Psychologie. Mit dieser Fragestellung ist das Problem des Göttlichen noch nicht einmal tangiert. Metaphysik und Psychologie sind beides Formen des welthaften Denkens und haben zu ihrem Vorwurf auch nur welthafte Gegebenheiten. Das Göttliche ist so wenig ein welthaft irrationales Datum als es ein welthaft rationales Datum ist. Das Göttliche als Idee ist so wenig ein Göttliches wie das Göttliche als „Erfahrung", das in irgendeiner Gemütsaffektion abgelesen werden könnte. Die Grundfrage der Religionsphilosophie ist also allerdings keine „leichte" Frage; sie ist von allen philosophischen Grundfragen die prinzipiell „schwierigste". Denn alle philosophischen Grundfragen, mit Ausnahme der religionsphilosophischen, enthalten irgendwie und grundsätzlich das, was in der Frage aufgegeben ist, als ein in der Frage schon Gegebenes, Gewiesenes. Die Konversion von Gegebenem und Aufgegebenem, die sich in der Idee als Hypothesis, als Frage und Antwort zugleich, als Erzeugung und Erzeugnis bekundet, ist der reine Ausdruck dieses Sachverhaltes. Das Göttliche aber ist nicht ein Aufgegebenes, das in der religionsphilosophischen Frage „gegeben" ist; es ist nicht als

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Tautologie und doppelte Wahrheit.

Antwort schon in die Frage hineingenommen; es ist nicht „Hypothesis", die in ihrer eigenen Erzeugung auch schon ihr Erzeugnis wäre. Das Göttliche ist das, von dem wir in der Frage, in der „Hypothesis", in der Idee nur wissen, daß es in ihr weder gegeben noch aufgegeben ist und darum auch nicht vom zeugerischen Logos „erzeugt" werden kann. Die Funktion der grundlegenden religionsphilosophischen Fragestellung ist also eine ganz andere als die entsprechende anderer philosophischer Disziplinen. Die sonstigen philosophischen Fragestellungen führen ganz eigentlich „in medias res": sie sind das Organ, durch das sich das philosophische Denken seines je besonderen „Gegenstandes" bemächtigt. Nicht so in der Religionsphilosophie. In der grundlegenden Fragestellung der Religionsphilosophie: Wie kann das Göttliche, d. h. Unweithafte, dem Welthaft-Menschlichen „gegeben" sein? machen wir uns zunächst bloß klar, daß Göttliches, das ein Welthaftes, Gegebenes wäre, nur eine leere Tautologie zum Welthaften selber bedeutete und daß nach einem tautologisch Göttlich-Menschlichen zu fragen jedenfalls nicht der Sinn dieser Frage ist. Aber darüber hinaus reicht auch der Sinn, d. h. die Tragfähigkeit dieser Frage nicht. Wir stehen mit ihr nochmals am Anfang. Ihr Sinn ist die Ernüchterung über die Ermächtigung des Logos gegenüber dem Göttlichen. Diese entscheidende Erkenntnis ist durch ein Jahrhundert protestantischer Theologie und zuvor durch vier Jahrhunderte säkularer Philosophie verdeckt worden. Wir werden schon auf den ersten Blättern dieses Buches zu zeigen Gelegenheit haben, inwiefern auch gerade und zuerst die neuzeitliche Philosophie diese wahrhafte Totengräberarbeit geleistet hat: — diesem Zug säkularen Denkens ist schließlich die „wissenschaftlich" werdende Theologie erlegen. Freilich ist auch dieses Jahrhundert säkularisierter Theologie in einem bestimmten Sinne nicht „umsonst" gewesen: denn gerade in ihren pseudotheologischen Problemen und Lösungen, hinter ihrer bewußten und gewußten Problematik, erscheint noch einmal das Problem der Welthaftigkeit. Diese protestantische Theologie und Religionsphilosophie hat das Göttliche in der tautologischen Formel bald

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Einleitung.

als Metaphysik bald als Psychologie in völliger Ahnungslosigkeit um die wirkliche Problematik verstanden. Ihre Ahnungslosigkeit bestand darin, daß sie die „dogmatische" Gottesvorstellung älterer Theologie nur in den „modernen" •wissenschaftlichen und philosophischen Kategorien neu zu denken glaubte, ohne sich klar zu machen, daß sie nur ein belangloses Welthafte dachte. Das Problem der Unwelthaftigkeit des Göttlichen, das die Theologie (und Philosophie) in ihrer klassischsten Gestalt, der Scholastik, tiefst bewegt hatte, war hier als Problem überhaupt nicht mehr lebendig. Aber indem das 19. Jahrhundert harmlos und unentwegt tautologisch-welthafte Theologie trieb, hat sich schließlich, doch wohl wirklich in jener großen Zeitwende, die das 19. Jahrhundert geistig abschließt, dem Krieg, für einen wachsenden Kreis von Menschen diese Art von Theologie als die „Theologie des toten Punktes" enthüllt. Nur ganz vereinzelt ragen aus der Theologie und Philosophie dieses geistigen „neunzehnten" Jahrhunderts Gestalten empor, die diese fröhliche Wissenschaft zwar nicht in ihre wahre Gestalt zurückzuwandeln vermochten aber sie zur wahrhaft tragischen Wissenschaft erhoben, indem sie den Mut und die Einsicht fanden, auf den Bahnen dieser Wissenschaft zum Skeptizismus fortzuschreiten. Unter ihnen ragen ganz besonders hervor Franz Overbeck und ein Menschenalter später Ernst Troeltsch (in seiner Spätperiode). Sie sind darin verehrungswürdig und Bahnbrecher kommender Erkenntnis, daß ihnen diese leichtgeschürzte Theologie zum verschleierten Bild von Sais wurde, — daß sie an der Theologie verzweifelten, ohne ihre Verantwortung abzuwerfen. Sie sind die heroischen Gestalten der Theologie des „neunzehnten Jahrhunderts". II. Es ist die Tragik des protestantischen Menschen, daß sein Denken in heftigen Pendelbewegungen um eine existentielle Mitte schwingt, in der es, sich selber überlassen, niemals „ruhen" kann. Diese existentielle Mitte wird so vor dem Gesetz der Pendelschwingung zu einem bloßen imaginären Punkt, und die Ausschwingungen, die jedes Extrem

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Tautologie und doppelte Wahrheit.

durch den sich selber dauernd antreibenden Pendelgang wieder aufheben, sind notgedrungen ihre eigene Rechtfertigung und nehmen den Wesensschein einer existentiellen Bewegtheit an. In dieser scheinbaren dialektischen Existentialität sammelt sich das „protestantische Bewußtsein", das sich — im Unterschied zum katholischen Bewußtsein — individuell ja nur immer als der vielfache Antipode anderer Positionen wissen darf, als eine mythische „Einheit in der Vielfalt". Aber es ist eine Einheit, die nur „in extremis" existiert, eine Einheit, die nur der „Raum" einer unabsehbaren innern Gegensätzlichkeit aber nicht die übergreifende und erlösende wahre Einheit ist. Dasselbe „neunzehnte Jahrhundert" in der Theologie hat zwar für sich diese Einheit in dem Besitz eines „gnädigen Gottes" gefunden. Aber dieser gnädige Gott scheint in der Literatur des 19. Jahrhunderts in erster Linie literarische „Reminiszenz" zu sein, die ihre gegenwärtige existentielle Beglaubigung vor allem dadurch erhielt, daß man von Gott in Ruhe gelassen war. Gewiß hat es auch für die Theologen des „neunzehnten Jahrhunderts" Geltung, daß die Frömmigkeit des Theologen vielfach besser ist als seine Theologie, und jeder, der in seiner Theologie von derjenigen des 19. Jahrhunderts abgerückt ist, wird dem Anschein des Hochmutes entgegenzutreten bereit sein, indem er für sich den Satz umdreht. Aber man müßte die theologische Arbeit des 19. Jahrhunderts sehr viel weniger ernst nehmen als wie es ihr nach ihrem ehrlichen Wollen und hohen Können doch zweifellos zukommt, wenn man sich dem Gedanken verschließen wollte, daß der Gott dieser Theologie in unverwüstlicher Freundlichkeit über Gerechten und Ungerechten waltete als das Produkt einer unverkennbar religiös erwärmten aber gleichwohl journalistisch anmutenden Reflexion. Die Theologie ist wirklich eine „gefährliche" Wissenschaft. Heute gibt es innerhalb des Protestantismus wieder eine theologische Bewegung, die um eine existentielle Mitte wirklich weiß und die darum weiß, daß es Theologie gibt, die bloße „Hairesis", bloße Standpunktstheologie ist — sage mir, was für ein Mensch (mit welchem Geschmack und Temperament, mit welcher Begabung und Erziehung) du bist,

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Einleitung.

und ich sage dir, was du für ein Theologe bist —, und eine Theologie, die unabhängig ist von den individuellen Zufällen von Schicksal und Milieu und Erlebnis und „Schule": eine Theologie in unverrückbarer Mitte. Aber die Dialektische Theologie — von ihr ist die Rede — scheint trotzdem, und wenigstens bis heute, nur ein weiterer Pendelschlag im protestantischen Denken zu sein, ein „Standpunkt", den man je nach Veranlagung teilen oder nicht teilen kann. Denn sie weiß von der christlichen Wahrheit, die sie „wiederentdeckt" hat, nur als dem vollkommenen Ärgernis, das qua absurdum und quia absurdum der metaphysischen Wahrheit welthafter Prägung gegenübersteht. Für die Dialektische Theologie hat die Metaphysik vollkommen Recht — als Metaphysik; die Dialektische Theologie wünscht die metaphysischen Zirkel nicht zu stören, da das Philosophische „nicht ihres Amtes" ist, sie gibt der Metaphysik und sich selber bloß zu bedenken, daß der „metaphysische Gott" nichts mit dem Gott der christlichen Offenbarung zu tun hat. Soweit die Dialektische Theologie von der Metaphysik Notiz nimmt — und sie tut es sehr systematisch —, geschieht es bloß, um im sympathischen Referat die metaphysische Wahrheit als die verlockende aber „unchristliche" Wahrheit welthaften Denkens hinzustellen. Damit ist aber in aller Form eine doppelte Wahrheit statuiert, wodurch sich dies Unternehmen als das Unternehmen einer „andern" Wahrheit philosophisch außer Diskussion und das heißt außer Erheblichkeit stellt und theologisch an seinem Selbstwiderspruch zu scheitern verurteilt ist. Denn wohl sind Philosophie und Theologie sachlich streng getrennte Wissenschaften, aber sie sind als Wissenschaften, d. h. als Methoden, als Fragestellungen voneinander geschieden durch dieselbe „Grenze", die ihre Sachsphären: des Welthaften und des Unweithaften, scheidet. Diese „Grenze" ist alles andere als eine imaginäre, „methodologische" Scheidelinie, sie ist vielmehr in der Tat das Phänomen der Grenze selber, nämlich der „Grenze" des Welthaften. Philosophie ist da, wo sie, in letzter geistiger Selbstverantwortung, die „letzten" Fragen des menschlichen Erkennens und Seins stellt, Denken in der Kategorie der „Grenze". An dieser „Grenze" des Welt-

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Tautologie und doppelte

Wahrheit.

haften stößt die Philosophie auf das Unweithafte, das sie als Grenzphänomen noch gerade wahrnimmt, das sie aber, als Philosophie, d. h. als die kritische Wissenschaft des welthaften Denkens, ihrer eigenen Kompetenz material entzogen weiß. In der Kategorie der „Grenze" aber begegnen sich Philosophie und Theologie. In der Kategorie der „Grenze" sind welthafte und unweithafte Wahrheit real geschieden aber aufeinander bezogen als die distinkten Hemisphären der Wahrheit, die wohl zwiefältig aber nicht zwiespältig sein kann. Die Dialektische Theologie hat gründliche und notwendige Arbeit getan, indem sie die Theologie aus der Fusion mit der Philosophie und das heißt aus der metaphysischen Konfusion herauslöste. Aber sie hat die Philosophie damit bloß „preisgegeben", statt den allerdings gewaltigen Versuch zu machen — und die Mitarbeit der Philosophen dafür zu gewinnen —, Theologie und Philosophie im Denken der Kategorie der Grenze als die beiden Hemisphären des einen Systems der Wahrheit zu integrieren. Auch die Dialektische Theologie befindet sich nochmals in einem „dogmatischen Schlummer", wie es in ganz anderer Weise die „wissenschaftliche" Theologie des 19. Jahrhunderts getan. Es genügt keineswegs, daß die Theologie vom Gebäude der Metaphysik den christlichen Verputz herunterreißt —, es genügt keineswegs, daß die Theologie sich als Theologie zur „ametaphysischen" Wissenschaft läutere, die doch die Metaphysik als Wahrheit „in eigenem Recht" neben sich erträgt. Die geistige, die denkerische Verantwortung der Theologie reicht hinüber in die Philosophie, und diese Verantwortung ist umso dringlicher, umso verbindlicher als die Philosophie selber in den schlechthin entscheidenden, d. h. grundlegenden Fragen völlig im Dunkel tappt. Die Arbeit, die hier zu tun ist, ist die Arbeit für ein ganzes Geschlecht von Theologen und Philosophen. Aber hier den Hebel ansetzen, hier die entscheidenden Probleme sehen und sichtbar machen, das mag wohl in die Macht des Einzelnen gelegt sein. Dazu ist freilich erfordert, daß die neuzeitlichen philosophischen und theologischen Probleme durchgearbeitet und recht eigentlich zerarbeitet seien, um in der Tiefe ihrer eigenen Problematik jenes Grundproblem 7

Einleitung.

sich enthüllen zu lassen. Die Theologie wird allerdings hinfort an diesem „vergessenen" Problem nicht mehr vorbeigehen können, denn ihre eigene Arbeit steht durchaus in Funktion dieses geklärten — zu klärenden — Problems und hängt ohne solche Klärung in der Luft. Die Berufung auf die Offenbarung kann die theologische Arbeit nur dann legitimieren, wenn das Verhältnis von Offenbarung und Welthaftigkeit philosophisch geklärt ist: und das ist eben nur noch einmal unsere Forderung. Denn Offenbarung ist ja nichts anderes als die Manifestation des Unweithaften. So wenig also der religiöse Glaube selber solcher philosophischer Klärung bedarf, so sehr ist in ihr eine wichtigste Forderung an die Theologie umschrieben, da doch Theologie die „Rechenschaft" vom Glauben ist. — III. Es ist das Vorrecht der Philosophie, indem sie sich im lebendigen Denken ihres Gegenstandes erzeugt, über sich selbst hinauszuwachsen. Alle Philosophie ist in einem eigentümlich tiefen Sinne ein Prolegomenon: das über sich selbst hinausgeführt wird von der Erkenntnis seines Gegenstandes her, aber ebenso von seiner Erkenntnis des Gegenstandes. Ein Philosophieren, das in seinem „erkannten" Gegenstand, in der Erkenntnis seiner, zur Ruhe kommt, ist der Tod der Philosophie. Wir tragen in der Philosophie noch einmal die Last und die Größe alles menschlichen Seins. Alle Philosophie darf mit Lotze sagen: „Gott weiß es besser". Das ist ein Verzicht auf das Wissen, das allein Gott gehört, aber nicht ein Verzicht auf das Wissen überhaupt, das Wissen, das dem Menschen zukommt. Vielmehr liegt darin der Anspruch und die Aufforderung ausgesprochen, in jedem A k t philosophischen Denkens eine Wegmarke zu setzen, die, indem sie gesetzt ist, schon nicht mehr Ziel, schon nur noch Etappe, schon Überholtes ist. Der Philosoph kann nicht von dem Ehrgeiz bewegt sein, mit seinen Formulierungen „recht zu behalten": der Fluß der Gedanken und Probleme soll ja durch ein philosophisches Werk nicht zum Abschluß gebracht sondern immer wieder neu in Bewegung versetzt werden.

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Tautologie und doppelte

Wahrheit.

Jedes echte philosophische Werk hat sich selbst überholt (wenn auch keineswegs überlebt) in dem Moment, wo es vollendet ist, umso gründlicher, je vollendeter es ist. Darum weiß der am besten, der es ausgetragen hat. Diese erlebte Tragik, dieses Pathos des Untergangs-im-Aufgang ist das heimliche Sigel philosophischen Geistes, — darüber hinaus freilich die Formel alles Lebendigen. Aber die Beligionsphilosophie hat, so wenig unser philosophisches Zeitbewußtsein davon berührt erscheint, über dieses Formgesetz der Philosophie hinaus und in eigentümlicher Kreuzung mit ihm, ihr eigenes Gestaltproblem und ihr eigenes Pathos. Das den welthaften Gehalten zugewandte philosophische Denken ist unaufheblich einverflochten in die Geschichtshaftigkeit unseres ganzen Daseins: es ist, so sehr es reine Gültigkeit erstrebt — und gerade darum —, nicht zeitlos sondern zeithaft. Der Logos ist geschichtshaft, weil der Kosmos geschichtshaft ist. Wie steht es mit der Religionsphilosophie ? Auch ihr Logos ist zeithaft, da sie notwendigerweise die sich wandelnden geistigen Gehalte und ihre besondere Problematik widerspiegelt. Und wenn ihr „Gegenstand" die religiösen Phänomene sind, so sind ja auch diese in ihrer Mannigfaltigkeit geschichtshafte Phänomene par excellence. Aber wie, wenn die Religionsphilosophie an irgend einer Stelle es nicht bloß mit „religiösen Phänomenen" zu tun hätte sondern mit dem Theos rechnen müßte? Zeithaftes Bewußtsein vom Göttlichen — ewigen Sinnes, ewigen Seins des Gottes! Wir wollen diese hier nur ganz vorläufig formulierte Perspektive wenigstens als eine Möglichkeit ins Auge fassen: dann aber scheint sich ein eigentümliches Gestaltproblem zu ergeben, das wir freilich erst wieder sehen lernen müssen. Das Mittelalter hat die großartige Idee einer philo sophia perennis konzipiert. Uns ist diese Idee sinnlos geworden: nicht bloß ein vielleicht verfrühtes, ein vielleicht nie ganz zu realisierendes, sondern ein in sich unmögliches, ein in sich widersinniges Unternehmen. Es ist müssig, diese Frage in abstracto zu diskutieren. Aber wenn die Dinge, für die dieses Buch eintritt, ernsthafter Erwägung wert sind, dann ist in der Tat dieses Problem erneut gestellt. Die 9

Einleitung.

letzten Abschnitte dieses Buches reden von einem „heimkehrenden Denken". Sollte das nicht vielleicht heißen, daß unser religionsphilosophisches Denken, auch als das säkulare Denken das es ist, um diesen heimlichen Mittelpunkt einer in der Idee nie entgültigten philosophia perennis kreist ? Unsere Systeme wären in einem letzten Sinne erheblich oder unerheblich, je nachdem es ihnen gelänge oder nicht gelänge., die Vorläufigkeiten und Halbwahrheiten, die „das Maß von Wahrheit" des heutigen Menschen sind, an der philosophia perennis ihr Richtmaß und ihre „Krisis" finden zu lassen. Heute stehen wir noch im Zeichen der individuellen Wahrheiten, des persönlichen Wagnisses, der namenhaften Systeme, mit einem Wort: der Originalität, der schöpferischen, „geistreichen" Produktion. Aber ist die Hoffnung eitel, daß auch für uns noch ein Größeres komme: — die Anonymität „der" Wahrheit; „das W o r t " das nicht wir sagen, sondern das zu uns gesagt ist; eine Verantwortung, die nicht wir frei bestimmen, sondern die uns bestimmt; der „Ursprung", in dem unsere Schöpferischkeit ihr Telos — Ziel und Ende und Untergang — findet. Wir könnten das auch so ausdrücken, daß wir sagten, der „protestantische" Geist müsse den Weg zur „katholischen" Wahrheit finden. Erst das letzte Kapitel dieses Buches wird, wie wir hoffen, diesen Gedanken unmißverständlich klarlegen. Dieses aber scheint gewiß: wir schaffen dieses Größere nicht, und auch der einzelne Denker vermag ihm nicht Raum zu schaffen, da er nicht darüber verfügt. Aber er kann die Verantwortung bejahen, die in den Erkenntnissen beschlossen liegt, zu denen er geführt wird: er kann sie so ernst nehmen wie sie wirklich sind. So kann er, als Einzelner, das Größere vorbereiten, das ihn, als Einzelnen, nicht mehr kennen wird. Wenn hier eine Antinomie vorliegt zwischen dem Geist der Philosophie und dem Geist der Theologie, wenn die Theologie das „ E n d e " der Philosophie ist, dann ist dies einfach hinzunehmen. Diese Antinomie bedeutet nicht, daß die Theologie die Philosophie aufhebt oder negiert: es ist also gar nicht eine Antinomie, eine Zwiespältigkeit, ein Antagonismus, sondern nur die Zwiefältigkeit von Methoden, von Fragestellungen. Diese Zwiefältigkeit ist einfach Ausdruck 10

Tautologie und doppelte

Wahrheit.

der Tatsache, daß die Theologie nicht mehr bloß in der Selbstverantwortnug steht wie die Philosophie, sondern auch und vor allem in der „Gottesverantwortung". In der Religionsphilosophie aber schaffen wir uns — noch im Zeichen der Selbstverantwortung — die Erkenntnis, daß jene zweite Art der Verantwortung möglich und notwendig ist. Existentiell steht natürlich auch die Philosophie — wie alles menschliche Sein und Denken — unter der Gottesverantwortung. Aber diese existentielle Verantwortung ist hier weder im einen noch im andern Fall gemeint, sondern lediglich die Tatsache, daß der „Raum" der Philosophie und auch noch der Religionsphilosophie das Welthafte ist und der „Raum" der Theologie das offenbarungsmäßige Geschehen des unwelthaft Göttlichen. Freilich bestätigt sich auch noch dem philosophischen Denken, wie wir sehen werden, das Göttliche als die Klammer der Wirklichkeit und damit zugleich als das Eine Göttliche, das in Einem der absolute Sinnvorspruch zur Wirklichkeit ist und in der Offenbarung zum Wort Seiner Selbst wird.

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ERSTER

TEIL:

Das Wesen unserer Welthaftigkeit. I. KAPITEL. Unser

Welterlebnis.

A. Das Prius der Erfüllung. Es gibt gewisse eigentümliche und schmerzliche Erlebnisse, wo ein Mensch, erschüttert vom Anblick eines Kunstwerkes oder einer Landschaft, zugleich erschüttert wird von der Erkenntnis, daß er Künstler sein müßte, um die ihn andringende Fülle von Schönheit zu bewältigen. Aber ist diese spontan aufbrechende Verzweiflung nicht das Symptom wachester künstlerischer Verantwortlichkeit, einer tiefen künstlerischen Lebendigkeit und Fruchtbarkeit? Wer so getroffen ist, vor dem Unerhörten und Unausgemessenen zu schweigendem, verzweiflungsvoll-fruchtbarem Ringen herausgefordert und genötigt ist, der schaut schon mit Künstleraugen, hat schon die künstlerische Grundeinstellung vollzogen. Nur der essentiell künstlerische Mensch weiß, inwiefern es der künstlerischen Kategorie bedarf um die spezifischen Qualitäten eines gegebenen Lebensinhaltes zu bewältigen — nämlich künstlerisch zu bewältigen. Nur der Künstler, der künstlerische Mensch fühlt sich durch den einem gegebenen Lebens- oder Erlebnisinhalt immanenten, gleichsam potentiellen künstlerischen Wert, eine künstlerische Disponibilität des Objektes herausgefordert. Nur im essentiell künstlerischen Menschen vollzieht sich der Appell vom passiven Subjekt an den schöpferischen Künstler, wobei auch schon das „passive" Subjekt die künstlerische Reso12

A. Das P r i ü s der E r f ü l l u n g .

nanz besitzt. Man muß Künstler sein, um die — auch in einem selber noch nicht realisierte — Versprechung künstlerischer Werte zu entdecken. Man muß Künstler sein, um die Unerfülltheit einer Verheißung wahrzunehmen: — was dasselbe ist, ihren Schrei nach Erfüllung zu hören, ihre Erfüllungsmöglichkeit zu sehen. Mit andern Worten: Unerfülltheit wahrnehmen, heißt, das Unerfüllte gegen den Horizont seines — noch nicht — Erfüllten sich abzeichnen lassen, es in die Dynamik des Erfüllbaren hineinwerfen; heißt, den Prozeß der Erfüllung — nicht beginnen sondern: schon immer begonnen haben. Es ist eine ungeheure Paradoxie in dieser Logik: — wird hier nicht plötzlich deutlich, daß das Nein — die Unerfülltheit — das Ja voraussetzt: — daß die Erfüllung ein Prius ist zur Negativität ihres Unerfüllten. Auf einen Augenblick, nur auf einen Augenblick freilich, rücken wir damit in unmittelbare Nachbarschaft zu jenen tiefen metaphysischen Konzeptionen, die seit Piaton das menschliche Denken heimgesucht haben: von einem urhaften — eingeborenen, oder in dvafivr]6ig wiederbelebten, oder in prästabilierter Harmonie gründenden Weltbesitz, Weltwissen der Seele, — Konzeptionen, die vielleicht der wundervollste Ausdruck ehrfürchtigen Erstaunens sind darüber, daß der nichtige Mensch die Tore der Welt weit offen findet. Aber alle diese großlinigen Konzeptionen, die den Menschen aus der Welt und die Welt aus Gott begreifen — vielleicht von einer allerletzten Wahrheit —, sind als philosophische Positionen doch immer ohne die erkenntnistheoretische Sicherung geblieben, die sie zur ehernen Erkenntnis machte. *

*

*

In diesem und dem nachfolgenden Kapitel soll versucht werden zu zeigen, daß unser Welterlebnis verstanden werden muß aus der Begegnung des endlichen schöpferischen Geistes mit einer Welt, die in sich selbst — als Natur, als Geschichte, als die Wesenhaftigkeit kulturhafter Gemeinschaft — ein dynamischer Kosmos werthafter Erfüllungen ist. Unser Welterlebnis ist zu verstehen aus einer fruchtbaren Symbiose des menschlichen Geistes mit einer Welt, die eine Welt der 13

I. Kap. U n s e r W e l t e r l e b n i s .

Gestalten und Formen und Werte ist. Der Mensch, der in die Welt eintritt, tritt immer ein Erbe an: er tritt in eine Welt ein, die immer schon gestaltete Welt, die immer schon eine Wertwelt ist. Aber die Welt würde für ihn stumpf und tot und fremd bleiben, wenn nicht in der Begegnung mit ihr ein Anderes, ihr Fremdes und zugleich Nahes, in ihm aufwachsen würde, das die Welt an sich heranreißt und sie in schöpferischem Erleben gestaltet, in schöpferischem Gestalten sie erlebt. An dieser Erkenntnis wird sich uns aber zugleich das Problem der Wirklichkeit, in die „Ich" und „Welt" eingebettet sind, stellen, die Frage also nach der letzten Sinnvoraussetzung dieses „Lebens" des Geistes. Hier ist zunächst dem Problem der Schöpferischkeit des Geistes nachzugehen. Wir knüpfen dabei an die iirf Eingang des Kapitels berührte Frage nach dem Verhältnis von Ja und Nein, von Positivität und Negativität an. Es wird sich erweisen lassen, daß das Phänomen der Negativität nur aus der Position, dem Ja, der Erfülltheit zu verstehen ist, als deren Gegen-Setzung, daß diese Relation aber nicht umkehrbar ist. In diesem logisch-transzendentalen Vorrang der Position über die Negativität gründet die Schöpferischkeit des Geistes. Aber dieser Vorrang hat nicht nur statt in der logisch-transzendentalen Sphäre: denn indem Akt und Funktion des Geistes nichts anderes sind als die Wirklichkeit des Geistes selber, so hat jenes Urteil, sofern es zu Recht besteht, unmittelbar Geltung für das An-sich des endlichen Geistes. Mit andern Worten: der Vorrang der Position im logisch-transzendentalen Sinne bedeutet zugleich notwendig das originäre Gegebensein der Position im An-sich des Geistes, der ja mit seiner Funktion identisch ist. Die Position, das Ja, die Schöpferischkeit: das ist das Urphänomen aller Geistigkeit. Ausdrücklich soll zu Anfang unserer Erörterungen das Mißverständnis abgewehrt werden (es müßte sich allerdings im Fortgang der Untersuchung von selbst berichtigen), als ob es sich hier um eine metaphysische Größe, etwa nach dem Vorgang der Fichteschen Ichspekulation, handle. Wir haben es in unseren Erörterungen mit der konkreten Geistigkeit, nicht mit einem „absoluten Ich", zu tun. Es kann an dieser 14

A. D a s P r i u s der E r f ü l l u n g .

Stelle freilich noch nicht einsichtig gemacht werden, warum in der Wesensgesetzlichkeit des endlichen Geistes nicht au ;h zugleich die Formel des metaphysischen Reiches an die Hand gegeben ist. Hier kann nur dies gesagt werden, daß die transzendentale Reduktion des empirischen Ich niemals zum „absoluten Ich" sondern höchstens zum Begriff des transzendental gereinigten „Subjektes an-sich" führt. Das transzendentale „Subjekt-überhaupt" ist eine methodische Fiktion der Erkenntnistheorie und Logik, nicht ein metaphysisches Ich. Wie weit diese Fiktion auch nur logisch-erkenntnistheoretisch notwendig und zulässig ist, ist eine Frage für sich, die aber jedenfalls die Metaphysik gar nicht berührt. Darüber ist sich die moderne Erkenntnistheorie und Logik, soweit sie sich dieser methodologischen Fiktion bedient, vollkommen im klaren. Aber auch das „absolute Ich" stellt nichts anderes als eine transzendentale Reduktion des empirischen Ich dar und führt nicht aus dem Bereich des Welthaften heraus, wohl aber von der konkreten Geistigkeit weg. Das wahre Ewige aber ist nicht durch Reduktion des Welthaften zu gewinnen: — es läßt sich überhaupt nicht„gewinnen", sondern nur als das Ganz-Andere alles Welthaften erkennen 1 . — Für das konkrete endliche Ich also gilt es, daß die Welt, in die wir eintreten und die der Schauplatz unserer geistigen Schicksale ist, eine konkrete Welt, eine Welt der Differenzierungen ist. Die Welt ist schon in Positiv und Negativ auseinandergetreten, wenn wir auf ihrem Plan auftauchen. Das Drama ist in vollem Gange. Aber indem wir in die Welt eintreten, werden wir an dem Weltdrama mitbeteiligt, greifen wir unsererseits das Spiel der Positionen und Negationen auf. Indem ich mich mit meinen Setzungen als geistiges Wesen konstituiere, nehme ich meinerseits das große menschliche Thema der schöpferischen Entfaltung auf. Welchen Sinn nun hat es, wenn wir sagen, daß die Position ein Prius sei zur Negation ? Es heißt, zunächst rein explikativ, daß das Häßliche notwendig umspielt, umwittert ist von der Idee des Schönen, von einem Wissen um das Schöne; daß der Begriff des Irrtums nur denkbar, vollzieh1 Vgl. unten S. 104ff. und das dritte Kapitel, S. 144ff.

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I. Kap. Unser Welterlebnis.

bar ist als umgriffen vom Begriff des Wahren; daß wir „nicht haben" können, bloß weil wir schon besitzen usw. Versuchen wir, die diese Relation tragende Logik uns deutlich zu machen. Der Vulgärlogik ist es ein feststehendes Axiom, daß das Erkennen ein „Fortschreiten vom Irrtum zur Wahrheit" sei. Der Irrtum ist ein Durchgangspunkt im Aufstieg zur Wahrheitserkenntnis, wobei je nachdem optimistisch seine Notwendigkeit für den Fortgang des Erkenntnisprozesses oder pessimistisch-skeptisch seine Unvermeidlichkeit und die Vorläufigkeit aller Erkenntnis hervorgehoben wird. Doch diese Anschauung bedarf einer Richtigstellung, wobei wir die temperamentsmäßige Bewertung dieses Prozesses freilich auf sich beruhen lassen dürfen. Ein Irrtum ist im ersten Vollzug nie ein „Irrtum", d. h. er wird nicht als ein Irrtum vollzogen. Wir müßten sonst annehmen, daß er mit dem Wissen um seine Irrtümlichkeit vollzogen wäre; das wäre aber dann ein Wahrheitsvollzug, also die Aufhebung des Irrtums, noch bevor er vollzogen wäre, in der Erkenntnis der Wahrheit. Ein Irrtum wird immer als Wahrheit vollzogen: er ist die Wahrheit, die dem Geist im gegenwärtigen Augenblick zugänglich ist. Irrtum wird er erst, indem durch sein Medium das Wahrere erkannt wird, d. h. indem ein neuer Erkenntnisvollzug stattgehabt hat. Der Begriff des Irrtums erfordert also zit seinem sinnvollen Vollzug, daß er sich von seinem Positiven, dem Wahren, absetzt, sich der wahren Setzung entgegensetzt. Irrtum gibt es also nur — in ganz wörtlichem Sinne — im Wissen um die Wahrheit. Nur indem wir um die Wahrheit wissen, wissen wir zugleich um unsern Irrtum. Indem wir das Wahre ergreifen oder das Wahre uns ergreift, begreifen wir den Irrtum, löst sich was wahr schien als Irrtum ab und sinkt in wesenlosen Schein zurück. Die Konstituierung der Wahrheit ist in ein und demselben Vollzug die Konstituierung und das bedeutet: die Aufhebung des Irrtums. Es wäre nun gänzlich verfehlt, anzunehmen (wie es die Vulgärlogik wohl tut), daß sich dieses Verhältnis doch auch umkehren ließe; daß wir „Schönes" nur- als Kontrast zu Häßlichem und Wahres nur als Gegensatz zu Irrtum: und nicht ohne diesen Gegensatz wissen; daß man also eben16

A. D a s P r i u s der E r f ü l l u n g .

sowohl sagen könnte, die Erfüllung, das Positive setze logisch das Negative, die Unerfülltheit voraus. Gewiß ist richtig, daß das Positive immer Positives zu einem Negativen ist und dieses als Entgegengesetztes mitweiß. Aber das heißt nicht, daß das Positive das Negative als Negatives voraussetzt. Vielmehr setzt erst das Positive sein Negatives, die Gegensetzung, indem es sich konstituiert. In der positiven Setzung wird das Negative als Überwundenes, Aufgehobenes, Entsetztes mitgesetzt. Sozusagen der logische Beginn einer positiven Setzung — Wahrheitserkenntnis, Schönheitserlebnis, Guttat oder Gutsein — ist das Auftauchen eines möglichen Andern: von dem ich mich wegwende, und das, indem es sich fortschreitend auswächst, in immer umfassenderer Weise überwunden wird. Der fortschreitende Erkenntnisvollzug erschließt einen Abgrund von Irrtumsmöglichkeiten, die sich aus dem positiven Aktvollzug heraus und in ihm erst ergeben. Die Wahrheit, d. h. der „wahre" Erkenntnisakt, ist nichts anderes als eine Überwindung des Irrtums, nämlich von Irrtumsmöglichkeiten, die sich im Erkenntnisakt selber auftun und überwunden werden. Der Irrtum ist also nicht ein Erstgegebenes, aus dem heraus die Wahrheit sich emporarbeitet, sondern er ist ein Abweg und Abgrund, der sich vor dem erkennenden Geiste aufreißt. Nur der Wissende weiß ganz, wie sehr man irren kann. Dem Guten, dem gut Handelnden öffnet sich im fortschreitenden positiven moralischen Akt ein immer weiterer Blick über Gut und Böse — so wie Gott sein sonnenhaftes Auge über Gute und Böse gleiten läßt. Es ist ein in seiner inneren Logik vollkommen legitimer Gedanke, daß Gott am tiefsten die Tiefen Satans auszumessen imstande sein muß — unvergleichlich viel tiefer als Satan selber! Und ist es nicht deswegen, daß der Heilige tiefer „versucht" wird und tiefer „fallen" kann als der gewöhnliche Mensch? Und genau so kreiert das Schöne, indem es sich als Schönes entfaltet, Möglichkeiten des Häßlichen, deren Über-gesetztes, Vor-gesetztes, Zuvorgesetztes es doch ist. Alle große Kunst hat allein dadurch am Gesetz des Geistes und an der Wahrheit des menschlichen Daseins teil, daß sie die tragischen Akzente, das Dämonische, Dunkle, Feindliche aus sich heraussetzt. 2

Banbofer: Metarc liglose.

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I . K a p . Unser Welterlebnis.

Die Schönheit der großen Kunst ist die schmerzliche Schönheit, das Lächeln über einem Grunde der Traurigkeit: das Wissen um die Abgründe des Daseins. Eine Welt der „reinen" Schönheit wäre flächenhaft, zweidimensional, gar nicht „Welt" — mit ihrer Tiefe und ihrem Werdekampf — sondern nur „Oberfläche" ihrer. Das Negative steht also gleichsam immer im Schatten des Positiven; es ist dieser Schatten selber. Wir sind demnach berechtigt, zu sagen, daß sich Position und Negation durchaus nicht relativ zueinander verhalten. Position ist Selbstsetzung der Positivität und — als dieselbe Akteinheit und derselbe Aktsinn — Mitsetzung, Heraussetzung ihres Negativen: das in der positiven Setzung überwunden ist. Die Negation ist also, so paradox es klingt, eine Setzung der Position: sie ist eine Entfaltungsmarke, ein Entfaltungssymptom und -symbol der Position. Jede Negation ist daher immer eine Erinnerung an die Position. In sich selber ist Negativität eine tote Erinnerung; sie ist das in sich selbst Beschränkte: als Negation weiß sie sich nicht als dieser Hinweis, Rückweis auf die Position. Aber die Position hat die Negativität in einem lebendigen (weil als notwendig gewußten) Bezug zu sich selber. Die Negation „hat" also nicht diese Erinnerung.an die Position — sie ist sie; sie ist eine Erinnerung, die sich gleichsam selbst vergessen hat. Negativität ist eine Bestätigung — nicht ihrer selbst sondern der Position, von der sie als Negation nichts weiß. So ist der Irrtum zwar nicht ein Erweis der Wahrheit, wohl aber ein Hinweis auf sie: für sich selber hat der Irrtum an der Dialektik der Wahrheit keinen Anteil, aber die Wahrheit umfaßt dialektisch den Irrtum und läßt ihn an ihrer eigenen Positivität — als ihr Entgegengesetzt-Überwundenes — teilhaben. Jede Negation weist über sich selbst hinaus, über sich zurück in eine Positivität, von der sie sich abgespalten hat. Negativität ist verlorene Positivität. Religiöses Denken hat auch dieser Idee tiefsinnigen Ausdruck gegeben: daß die „gefallene" Kreatur schon rein in ihrer Existenz, in ihrem Gefallensein eine Erinnerung an die göttliche Heimat (und ein Hinweis auf ihre Restitution) sei; daß die Unruhe des menschlichen Herzens einen Frieden über alle Vernunft 18

A. D a s P r i u s der E r f ü l l u n g .

bezeuge, die Sünde eine Verheißung der Erlösung mit sich führe; daß der Vater der Lüge und Fürst der Finsternis ein Engel Gottes gewesen; daß die moralische Weltordnung durch ihre Verletzungen nicht aufgehoben sondern bestätigt werde. In diesen Anschauungen bezeugt sich in wundervoll tiefsinniger Weise die Erkenntnis, daß das Absolute, d. h. die absolute Positivität, an seiner Negation keine Schranken finden könne. In all diesen Anschauungen ist noch einmal in vollkommener Weise jene Sinngesetzlichkeit angezeigt, die das Leben des konkreten Geistes durchwaltet1. In einem ganz eigentlichen Sinne trifft es zu, daß die Welt der Setzungen, das Reich der Wahrheit, der Güte, der Schönheit reicher, differenzierter ist als die Negation: nämlich reicher um die Negation, die in der Position mitgesetzt, mitgewußt, mitumgriffen ist. Der Irrtum, sahen wir, kreiert sich als eine Möglichkeit im Fortschreiten der Erkenntnis: in der wahren Erkenntnis ist diese Möglichkeit in ihrem Auftauchen und Abgetastetsein schon auch wieder überwunden. Wahrheit ist eine aus den im Aktverfolg auftauchenden Irrtumsmöglichkeiten bereicherte Erkenntnis. Wahrheit, erkannte, entfaltete Wahrheit ist synthetisch, dialektisch: sie weiß sich als Wahrheit immer auch als Wahrheitgegenüber-ihrem-Negativen, einem Negativen, das sie vollzogen-aufgehoben in sich trägt. Das Wahrwissen ist immer ein dankbares und sieghaftes Wissen um die Möglichkeiten der Negation. Die Position vollzieht sich im Abschreiten der auftauchenden Möglichkeiten der Negation, die damit die Spannweite und den Tiefgang der Wahrheitserkenntnis, des Schönheitserlebnisses, des Gutseins anzeigen. Die Positivität trägt die Negativität in sich. In diesem Dialektischen, in dieser Gliederung und Differenziertheit zeigt sich aufs neue die Schöpferischkeit des Geistes: Die Position ist ein Kreisen um die von ihr aufgedeckten, entfalteten und entlassenen Möglichkeiten. Die Position ist ein lebendig-welthafter Akt: mit einem Weltblick — auf sich 1 Freilich weisen diese Gedanken alle zugleich über den Sinnzusammenhang des Welthaften hinaus; inwiefern sie auch als wahre Deutung eines Transzendenzverhältnisses gelten können, kann erst in einem ganz andern Zusammenhang deutlich gemacht werden. 2*

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I. Kap. Unser Welterlebnis.

und ihr Anderes. Sie weiß um sich selber und weiß zugleich um ihr Anderes: das aus ihr herausgesetzt und in ihr aufgehoben ist. Darin ist sie vielleicht ein — wenn auch noch so fernes — Abbild des göttlichen Weltschöpfungsaktes. Die Negativität aber, in sich genommen und nicht als eine im positiven Akt herausgesetzte und überwundene Möglichkeit, erweist sich darin als das eigentlich Unfruchtbare, daß ihr dieses perspektivische Weltbild, das dialektische Umfassen ihres „Anderen" fehlt. Diese Negativität ist überall da, wo das welthafte Denken sich selbst absolut versteht, wo es nicht über sich selber hinauszudenken vermag: — wo ein „Gegebenes" nicht als Aufgegebenes, eine „Lösung" nicht als Frage und Problem gewußt ist. Sie blickt nur auf sich selber und weiß nur um sich selber. Dieser Blick auf sich selber ist starr, unlebendig, unschöpferisch, denn indem sie so um sich selber als ein Positives weiß, verkürzt sie das Positive zu einer in sich selbst verkrampften, undialektischen End-gültigkeit. Hier taucht eine neue Form der Negativität auf: gegenüber der dialektischen Negation, die nichts anderes ist als eine Wegmarke im Entfaltungsprozeß positiver Setzungen, haben wir es hier mit der absoluten Negation zu tun, die sich eben gerade darin als absolute Negativität erweist, daß sie aus dem dialektischen Prozeß, der polaren welthaften Schwingung heraustritt, sich als ein selbstgenugsames Ende fassend, während sie in dieser Selbstgenügsamkeit nur die Negation der Schöpferischkeit, die Negation des Geistes ist. Ist nicht wiederum das religiöse Denken diesem Sachverhalt mit wunderbarem Spürsinn nahe, wo es vom „Fall" des Menschen spricht: vom Unschöpferischwerden des Menschen in dem Augenblick, da er sich von der lebendigen Wahrheit losreißt und sich in seiner puren Negativität groß dünkt ? Und ist nicht wundervoller Tiefsinn in der Idee, daß der „gefallene" Mensch, der an seine Negativität hingegeben ist, solange nicht wieder Anschluß an das göttlich-schöpferische Leben zu gewinnen vermag als er sich nicht als pure Negativität erkennt; daß Gott, der „die Wahrheit" ist, den Menschen als „Negatives" gleichsam dialektisch in sich trägt, „aufgehoben": mit einem 20

B. W e l t

und

Ich und

der „Vorspruch"

zur

Wirklichkeit.

Strahl göttlicher Würdigkeit umglänzt als ein mögliches „Andere" zu Gott 1 . Aufs neue wird hier auch deutlich, warum die Liehe eine schöpferische Funktion genannt werden muß. Haß ist unfruchtbar, weil er nicht um „das Andere" wissen darf, weil er in sich selber verkrampft nur auf das Hassenswerte starrt. Liebe aber ist eine höchste Potenz von Positivität: sie trägt die reichste Fülle von „Möglichkeiten" in sich: aufgehoben, überwunden. Liebe ist besiegter Haß: alle seine Tiefe und Erfinderischkeit ist in sie eingegangen; Liebe ist die Kraft tiefsten Verstehens: das Versuchtsein auf vielen Wegen. Darum wird im Christentum — und vielleicht noch auf ein paar einsamen ragenden Gipfeln der Religionsgeschichte — die Liebe als die Kraft gewußt, die aus dem heiligen Herzen Gottes überströmen darf in die letzten Niederungen sündiger Menschlichkeit, ohne daß das Göttliche von seiner Kraft und Heiligkeit verliert und ohne daß der Mensch an diesem Göttlichen zugrundegeht. B. Welt und Ich und der „Vorspruch" zur Wirklichkeit. Die ursprüngliche menschliche Daseinsbeziehung ist nicht diejenige von Ich und Welt. Ich und Welt gehören nicht dem ursprünglichen Daseinsbestande an. Die ursprüngliche Lebendigkeit, das Reich der Unmittelbarkeit, ist ichfremd und weltlos: diesseits von Ich und Welt. Ich und Welt sind Distanzphänomene: sie entstehen aus — und in dem Zerbrechen der Unmittelbarkeit, als die zwei Pole, in die sich diese scheidet, auseinanderlegt. Uber aller Ichwerdung webt ewig die Tragik verlorener Unmittelbarkeit, sie ist die ewige Unruhe des Ausgehenmüssens zur Welt, die immer nur eine mögliche, eine werdende Welt ist. Aber in diese Tragik ist alle Würde: Aufgabe und Verheißung des menschlichen Seins eingeschlossen. Es hat keinen Sinn, als Mensch, als Ich dieser schicksalsmäßigen Unruhe sich entwinden zu wollen. Denn nur in ihr besitzen wir uns als Ich, als geisti1 Vgl. hierzu S. 19, Anm. 1.

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I. Kap. Unser Welterlebnis.

ges Wesen, nur in ihr besitzen wir die Welt, als ewig entfliehende, als ewig aufgegebene, als ewig unvollendete. Das Diesseits von Ich und Welt, die Unmittelbarkeit, ist ein Dämmerreich, es ist Geistlosigkeit und Unweit. Die Unmittelbarkeit ist die lediglich biologisch determinierte Vitalsphäre. Es gibt hier nur „Umwelt" zu einem biologischen Aktionszentrum. Die Gegebenheit der Dinge entfaltet sich in einem Netz von Bezügen, die durch die biologischen Notwendigkeiten und Nützlichkeiten bestimmt sind. Die Perspektive der Dinge entsteht aus dem Vermögen oder dem Zwang der Anpassung. Anpassung einerseits, Auslese andererseits regulieren dieses System vordergründlicher Bezüge. Das Daseinsgefüge ist hier lediglich Lebensraum, dessen Umkreis und Mittelpunkt oder richtiger wohl: dessen Brennpunkte durch die verschiedenen biologischen Funktionen: Nahrungsaufnahme und -beschaffung, Fortpflanzung, Geselligkeitstrieb, bezeichnet sind. Der psychische Apparat vollzieht die biologisch wichtigen Registrier- und Orientierungsfunktionen; so hält beispielsweise die Gedächtnisfunktion biologisch bedeutsame Tatbestände der äußern Erfahrung fest, nicht in reiner, desinteressierter Gegenwärtigkeit, sondern als Ansatz- und Orientierungspunkt für die biologischen Vitalfunktionen. Die eine Existenzbedingung für den Geist ist das Heraustreten aus der Unmittelbarkeit. Die Unmittelbarkeit erstickt gleichsam den schöpferischen Atem, sie vernichtet die Fähigkeit des Schauens, die in der physischen wie in der geistigen Sphäre an das Einhalten einer Distanz von den Dingen gebunden ist. Die Fremdheit zu den Dingen ist der Preis, der für die Schöpferischkeit des Geistes entrichtet wird, aber diese Schöpferischkeit ist ja die Fähigkeit, die Welt aus ihrem Fremdsein herauszureißen. Nur in Gott freilich — aber Gott braucht hier nichts anderes zu sein als eine seinsindifferente logisch-metaphysische Vollendungsidee —, nur in Gott, dessen Sein vollendete Schöpferischkeit ist, ist das Weltsein, in seiner Aktualität und in seiner Potentialität, vom schöpferischen Geiste restlos umfaßt, gleichsam gestellt, zu adäquater Gegebenheit gebracht. Wenn das Unmittelbarkeit heißen darf, so ist diese Unmittelbar-

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B. W e l t

und

Ich

und

der „ V o r s p r u c h " zur

Wirklichkeit.

keit doch absolut verschieden von der Unmittelbarkeit diesseits von Ich und Welt. Zwischen beiden liegt die Sphäre des menschlichen Geistes, dessen Ichheit Schöpferischkeit, dessen Endlichkeit aber die Unvollendbarkeit des schöpferischen Begegnisses bedeutet. „Ich" ist nichts anderes als der Ausdruck der geistigen Tatsache, daß „eine Welt ist". Ich und Welt sind korrelative, sich gegenseitig bedingende und fordernde Größen. Das Ich findet sich gegenüber der Welt und als wie von der Welt her, und es ist seine eigene, immer neu sich zur Welt hinüberschlagende Brücke; aber die Welt ist eine Setzung des Ich. Daß es ein Ich gibt, heißt nichts anderes als daß es Welt gibt — nämlich ihm, dem Ich, Welt gibt; — daß es Welt gibt, heißt, daß es das Ich gibt: nämlich das Ich zu dieser Welt. Indem man „Ich" sagt, hat man die Welt gedacht, Welt gesetzt, Welt einbegriffen und inbegriffen. Das Ich konstituiert sich im Akte der Weltsetzung. Ichwerdung und Weltsetzung vollziehen sich in der Selbigkeit eines und des nämlichen Aktes: das Ich setzt die Welt, indem es sich aus der Welt empfängt. Transzendental gesprochen gibt es keinen Übergang aus der biologischen Daseinssphäre mit ihren Vitalbezügen (biologische Person-Umwelt) in die Sphäre der Ich-Welt-Relation. Es besteht keine kausale Brücke zwischen beiden: es ist hier derselbe Sprung, wie ihn die Welt der transzendentalen Geistigkeit gegenüber dem Gefüge des Daseienden durchweg voraussetzt. Das transzendentale Wesen des Ichphänomens, also der Ich-Welt-Relation, hat nichts zu tun mit den biologischen Entwicklungsstadien. Man kann bloß sagen, daß dieser „Sprung" wohl „in" der Zeit statthat, daß aber die Zeit und die empirischen, zeitlich bestimmbaren Abläufe für die Konstituierung des Ich transzendental unerheblich sind. In irgendeinem, für das Wesen der Ichheit gänzlich indifferenten Zeitpunkt springt im biologischen Individuum die Ichheit auf: und Welt-und-Ich sind da, gültig und ewig: — oder nur von Gott widerruf bar „am Ende der Zeiten". Es handelt sich hier natürlich nicht um einen mystischen oder okkulten Vorgang, dem der nüchterne Denker 23

I. Kap. Unser Welterlebnis.

das Argument der Unbewiesenheit entgegenstellen könnte. So wie der transzendentale Sinn der Wahrheit nur im Begriff der Wahrheit selber r u h t und nicht aus anderem sondern nur aus sich selber anhebt, so ist das transzendentale Phänomen Welt nur noch aus sich selbst begreifbar und kann nicht aus einem ihm Vorausgehenden hergeleitet werden, Transzendentalität heißt Sinnhaftigkeit, und es ist nun allerdings vom Sinn der Sinn nicht wegzudenken. Welt aber ist ein transzendentaler Begriff, nicht ein bestimmtes Quantum von Erlebnisgegebenheiten. Wenn ich also noch so genau angeben könnte, wann und unter welchen Umständen bei einem einzelnen Individuum oder in der Entwicklung des Menschengeschlechtes die Ich-Welt-Relation realisiert worden ist, so wäre ich doch immer mit dem transzendentalen Phänomen Welt und nicht mit einer „Vorstufe" seiner, die es nicht gibt, konfrontiert. Die Welt rundet und weitet sich aus — in diesem Sinne ist dem geistigen Phänomen Welt wie dem Begriff das „Wachstum" sogar notwendig —, aber die transzendentale Reinheit ist ursprünglichstes Wesensmerkmal. Transzendentalität ist in diesem Sinne gleichbedeutend mit Vollendetheit. Was ist „Welt" — in diesem transzendentalen Sinne; Welt gegenüber bloßer Daseinsgegebenheit? Welt ist, wo das Unbegriffen-Daseiende, die akosmistische Erlebnisgegebenheit übergeführt ist in den Kosmos des Begriffenen oder zu Begreifenden; wo die Formungskräfte des Geistes das schlechthin Gegebene als ordnungshafte Wirklichkeit, als Gesetz, Verheißung, Werden, Erfüllung begreifen. Welt ist begriffene Sinnhaftigkeit (oder begriffene Sinnlosigkeit), Zusammengeordnetheit der Dinge und des Geschehens. I m geistigen Akte wird das Gegebene ausgeweitet zum Wissen u m das, Gegebenes und Ungegebenes umspannende und zusammenhaltende Sein, Die dingliche Materialität des „Unmittelbaren" wird abgestreift und, zur gesetzmäßigen Gestalt überformt, wiedergefunden. Nur im fortdauernden Erschaffen „besitzen" wir, was Welt heißen kann. Welt ist nichts anderes als der Korrelatbegriff geistigen Schaffens, mithin der Geistigkeit schlechthin. Der Geist h a t vor sich „die Welt": das heißt nichts anderes als daß der Geist, indem 24

B. Welt und Ich und der „Vorspruch" zur

Wirklichkeit.

er sich betätigt (und zwar notwendig betätigt), notwendig welthaft schafft, Welt schafft, Unbegriffenes, Ungekanntes, Ungeliebtes in die Ebene des Erkennens, des Liebens, der Tat erhebt. Sei es die imaginäre Welt der Mathematik, sei es die in statischer oder dynamischer Gesetzmäßigkeit geordnete Welt der Technik und der Naturwissenschaft, sei es die am Einmalig-Werthaften orientierte Historie, sei es die Imagination des Künstlers oder des Industriellen und des Kaufmanns — immer ist Welt „da" nicht als Gegebenes sondern als Geformt-zu-Formendes, als Problem, Aufgabe, Verheißung; — und Erfüllung wird sie je nur als der immer weitere Vortrieb des Geistes, als die immer tiefere und allseitigere Entfaltung der Möglichkeiten, die der Geist entdeckt und betätigt indem er der Welt begegnet. Das was wir die biologische Umwelt genannt haben, bleibt natürlich das dauernde Ambiente des Individuums. Aber es ist nun nicht länger das bloß biologisch-tatsächlich den Menschen bestimmende, akosmistische Vitalsystem, sondern es ist eingebettet in das Weltsystem: als Objekt rationeller wirtschaftlicher Bearbeitung und wissenschaftlichen, künstlerischen, ethischen Denkens und Verhaltens ist es selber welthaft geworden. Die „Umwelt" wird Materiale des „weltsetzenden" Geistes und wird damit selber Welt. Welt ist immer auch überformte Umwelt. Der Begriff „Umwelt", als der gänzlich diesseits von Welt und Ich liegenden, rein vital erlebnismäßigen „Vor-Welt", ist Eigentum des Ich, des weltsetzenden Geistes. Der Geist denkt, setzt also auch das Ungedachte, das Bloß-Erlebte, aller logischen Strukturierung Bare, und zwar setzt er es als das so-Strukturierte: das Alogische, das BloßErlebnishafte, das Nichtseiende. Hier erfahren also akosmistische Inhaltlichkeiten Welterheblichkeit, indem ihr Akosmistisches Gegenstand sinnvoller Begreifensakte wird. In diesen Akten bezeugt sich vielleicht am eindrücklichsten die Universalität des „weltsetzenden" Geistes. Hier läßt sich noch einmal von einer andern Seite her ein Gedanke begründen, dessen Spur wir schon im ersten Abschnitt dieses Kapitels gefolgt waren. Es läßt sich hier nämlich noch einmal zeigen, daß es das Nichtseiende nur gibt für das schöp-

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I. Kap. Unser Welterlebnis.

ferische Ich und als eine Form der „Weltsetzung". Im Bezirk der puren akosmistischen Gegebenheit gibt es nur die rohe Positivität der Erlebnishaftigkeit: des Erlebnisaktes und seiner Inhaltlichkeiten: dinglich Gegebenes wird im Erlebnis nicht begriffen, sondern ergriffen, angetastet, berührt, es ist im Erlebnis schlechthin „da". Man kann von einer „dinglichen Positivität" der Vorfindlichkeiten der akosmistischen Erlebnisse sprechen. Es ist Daseiendes, zu dem es kein Negativum gibt. Das pure akosmistische Erlebnis ist immer „positiv", es ist immer auf ein Gegebenes gerichtet, von Gegebenem ergriffen. Man darf sich nicht täuschen lassen durch das Auftreten unlustbetonter Erlebnisse — die in der Sphäre des Geistes Negativitäten sein können —: auch unlustbetonte Erlebnisse sind hier immer positive Erlebnisse. Jede Art von Mangel, Hunger, Kranksein, Sterben, Sehnsucht usw. sind positive Erlebnisse. Sie als Negativitäten zu erfahren, erfordert ein Heraustreten aus der Zone des unmittelbaren Erlebnisses und ist also nur in der Sphäre des Geistes möglich. Nur jenseits der reinen Unmittelbarkeit kann ein Erlebnis es selber sein, in seiner eigenen, dinghaften Positivität stehen und zugleich ein Anderes als es selber sein, nämlich ein Negativum, ein „Nicht". Das Nicht ist eine Findung, eine Erfindung, eine Setzung des Geistes. Man kann daher auch sagen, daß die schlichte Positivität des Gegebenen zur „Welt" zusammenschießt in dem Augenblick, wo über jene das „Nicht" ausgesprochen ist. Die ichförmige, welthafte Geistigkeit setzt mit dem Vollzuge von Verneinungen ein. Das „Nicht" ist es, das uns am wirksamsten in Distanz zum puren Erlebnis bringt, ohne die wir nicht imstande wären, uns anders als bloß dinglich erlebend und erlebnisbeeindruckt zu verhalten. Mit dem Wort „Nicht", mit der Kategorie der Negativität streichen wir die selbstverständliche Verbürgtheit der Gegebenheit. Das Wort „Nicht" ist eine der souveränsten, der am meisten lebenüberhobenen, manchmal auch der überheblichsten Gebärden des Ich gegenüber den Substanzialitäten des Erlebnisses. Das Nicht ist eine konstitutive weltsetzende Kategorie. Ich glaube nicht, daß wir uns damit in der Sphäre reiner, 26

B. Welt und Ich und der „Vorspruch" zur

Wirklichkeit.

von den Tatsachen her unbeglaubigter Spekulation bewegen. Die Sprache selber, Brücke zwischen Geist und Erlebnis, uns jetzt Zeichen und Träger erlebnisüberwindender Geistigkeit, aber in ihrem Grundstock und in ihrer Grundstruktur geschaffen als Instrument unmittelbaren Verkehrs mit dem biologisch bestimmten Ambiente (zu dem auch „der Andere" gehört), — die Sprache trägt auch in ihrer sublimierten Gestalt noch die Züge einer ursprünglichen Verhaftetheit am Dinglich-Positiven. Es braucht hier kaum des nähern ausgeführt zu werden, wie spröde im Grunde das Sprachmaterial selber ist gegenüber rein geistigen, immateriellen Gedankeninhalten und daß wir nur durch lange Übung und im Wege einer Konvention dazu kommen, dem Sprachkörper auch rein geistige Inhaltlichkeiten übersetzbar zu machen. Aber es sei hier darauf hingewiesen — eine Beobachtung die jeder leicht wird machen können —, daß Kinder aber auch einfache und der sinnlichen Wirklichkeit noch ganz hingegebene Menschen und so wohl auch primitive Völker sich viel eher auch da positiv ausdrücken, wo uns eine negative Formung des Gedankens ebenso naheliegend und leicht vollziehbar ist. Negative Satzbildungen scheinen eine späte und schwer erworbene Übung zu sein. Kleine Kinder sagen kaum: dieses Ding ist nicht da, sondern seine bemerkte Abwesenheit ruft der Feststellung: es ist fort, oder der nicht weniger einen dinglich positiven Sachverhalt voraussetzenden Frage: wohin ist es gegangen? Es ist schon die Vermutung ausgesprochen worden, daß auf einer primitiven Stufe der Sprachentwicklung negative Sätze gebildet waren, in denen der negative Sinn an nichts anderem zu erkennen gewesen wäre als an dem Tonfall und den begleitenden Gebärden1. Ich möchte meinerseits die Vermutung wagen — für die ich freilich keinen Beleg beibringen kann —, daß in den verschiedenen Sprachen die Negationsadverbien ursprünglich nominalen Charakter mit positiver Bedeutung (Mangel, Fehlen, u. dgl., mit positiver Betonung) hatten. Jedenfalls ist klar, welch ungeheure Rolle die Negation in unserem Weltdenken hat. Negative Urteile geben unserem 1 H.Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte, 18862, S. 107.

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I. Kap. U n s e r

Welterlebnis.

Denken Plastizität und Geschmeidigkeit und setzen in unser Weltbild die differenzierenden Akzente. Geist ist also die Möglichkeit zum „Nein". Die Möglichkeit zum Nein ist aber in ein und demselben die Möglichkeit, die Freiheit zum Ja. Das Ja, das das Ja des Geistes ist, gibt es nur da, wo man der Positivität des Erlebnisses nicht bedingungslos ausgeliefert, ihr erlegen ist. Das Ja des Geistes schließt das Nein als Möglichkeit ein. Geist ist also mit andern Worten die Möglichkeit zu Ja und Nein. In dieser doppelten Möglichkeit, die Eine ist, konstituiert sich Geist. Das heißt, daß das Ja ebenso souverän, ebensowenig erlebnisverhaftet ist wie das Nein: das Ja ist der sachliche Ausschluß des Nein. Und indem wir das Ja-und-Nein als das Wesen des Geistes begreifen, haben wir die urwesenhafte Dialektik des Geistes begriffen. In diesem Dialektischen des Geistes gründet also alle Wahrheitserkenntnis. Erlebnisse sind weder wahr noch falsch, sie sind, haben statt in der dinglichen Positivität ihrer Selbstgegebenheit. Wahrheit ist nicht einfach: Es-selbst, sondern Es-selbst als sein ausgeschlossenes Andere. A ist erkannt, wenn ich es als nicht Nicht-A, oder noch anders: als nicht nicht A, erkannt habe. Alles Wahrerkennen ist als eine doppelte Negation (nicht im abstrakten Sinne, sondern als konkreter, differenzierender Vollzug) zu verstehen1. In dem Ja-und-Nein des Geistes, das in seiner Erlebnisjenseitigkeit gründet, vollzieht sich der Aufbau der Welt. Wir sind nicht mehr von der dinglichen Positivität der Gegebenheitserlebnisse schlechthin überwältigt. Welt heißt, daß die Unbefragbarkeit und Fraglosigkeit des akosmistischen Erlebnisdatums aufgehoben ist: Welt setzt die Befragbarkeit und Fragwürdigkeit der Erlebnisphänomene voraus, und „Welt", die erlebnisjenseitigen Begriffe und Vorstellungen sind die Antwort. Ein Begriff ist immer eine Assertion und eine Verneinung zugleich: das Ja-und-Nein, die Dialektik des Geistes in concreto. Jeder Begriff impliziert die Möglichkeit seines Gegenteils, — das er als „unhaltbar" ausschließt. Dieses dialektische Umspielen der akosmisti1 Vgl. S. 15 ff.

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B. Welt und Ich und der „Vorspruch" zur

Wirklichkeit.

sehen Gegebenheiten im Ja und Nein des Geistes bedeutet die Emanzipation von der Übergewalt des Erlebnisses im welthaften Begriff: es ist „Weltsetzung" in actu. Das