Das Menschenrecht auf Reparationen: Theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung am Internationalen Strafgerichtshof [1 ed.] 9783428583836, 9783428183838

Die Opfer internationaler Straftaten haben schwerstes physisches und psychisches Leid erfahren. Mit Recht fordern sie au

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Das Menschenrecht auf Reparationen: Theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung am Internationalen Strafgerichtshof [1 ed.]
 9783428583836, 9783428183838

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 49

Das Menschenrecht auf Reparationen Theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung am Internationalen Strafgerichtshof

Von

Michaela Lissowsky

Duncker & Humblot · Berlin

MICHAELA LISSOWSKY

Das Menschenrecht auf Reparationen

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Richter am Kosovo Sondertribunal Berater (amicus curiae) Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, Bogotá, Kolumbien

Band / Volume 49

Das Menschenrecht auf Reparationen Theoretische Grundlagen und praktische Umsetzung am Internationalen Strafgerichtshof

Von

Michaela Lissowsky

Duncker & Humblot · Berlin

Unter Beteiligung des Göttinger Vereins zur Förderung der Strafrechtswissenschaft und Kriminologie sowie ihrer praktischen Anwendung e. V.

Die Philosophische Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit als Dissertation im Oktober 2020 angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-18383-8 (Print) ISBN 978-3-428-58383-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Mit Dank an Herrn Professor Heiner Bielefeldt, Lehrstuhlinhaber für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), für seine stets hilfreichen Anregungen und seine hervorragende Betreuung. Er hat mich über meinen bisherigen Wissenshorizont hinaus motiviert, mich intensiv mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Herrn Professor Christoph Safferling, der an der Forschungsstelle Völkerstrafrecht an der FAU innerhalb des DFG-geförderten Forschungsprojekts zur Opferbeteiligung und Entschädigung an Internationalen Strafgerichtshöfen die Rahmenbedingungen für das Entstehen dieses Buches geschaffen hat. Nach meiner Zeit als Leiterin des Gründungsbüros der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien hat er damit wesentlich meinen fachlich-akademischen Karriereschritt gefördert. Frau Professorin Laura Clérico, mit der mich die Erfahrung als Proberichterin am Nuremberg Moot Court verbindet und die als Menschenrechtlerin und Expertin des Interamerikanischen Menschenrechtssystems meine mündliche Prüfung begleitet hat. All diejenigen, die ich während meiner Zeit am Trust Fund for Victims des Internationalen Strafgerichtshofs zu ihrer wichtigen Arbeit mit Opfern internationaler Straftaten befragen durfte. Meine Schwestern und meine Eltern, die immer sehr viel mehr überzeugt waren als ich, dass ich dieses Buch neben einem Vollzeitjob fertigstellen werde. Berlin, 30. Mai 2021

Michaela Lissowsky

Inhaltsverzeichnis I. Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Zur Problematik des Opferbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3. Methodischer Ansatz und Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 4. Zur Auswahl der Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Teil 1 Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

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II. Begriffseinordnung von „Reparationen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Opferwerdung: Durch menschenrechtliche Unrechtserfahrungen zum Opfer . . . 33 a) Die Leiderfahrung der Opferwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 b) Mandat der Zeugenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 c) Bürde der Sprachlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 d) Zwischenfazit: Opferwerdung durch Unrechtserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Opfersein: Anerkennung der Opferwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Der Begriff der „Anerkennung“ von Opfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 aa) Etymologische Parameter und ideengeschichtlicher Werdegang . . . . . . . . 59 bb) Der Begriff der Anerkennung im wissenschaftlichen Diskurs . . . . . . . . . . 62 (1) Anerkennung als Identitätsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (2) Anerkennung als Frage von Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 cc) Die Bedeutung der Anerkennung für Opfer internationaler Menschenrechtsverbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Achtung der Würde als Grundlage der Anerkennung von Opfern . . . . . . . . . . 75 c) Anerkennung durch Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 d) Anerkennung durch Schuldzurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 e) Verantwortungsübernahme durch Entschuldigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Kriterien einer öffentlichen Entschuldigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 bb) Individuelle Entschuldigungen an internationalen Strafgerichten . . . . . . . 109 f) Zwischenfazit: Opfersein anerkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

8

Inhaltsverzeichnis 3. Opferanerkennung durch Reparationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 a) Reparationen als normativer Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Verfahrensbeteiligung von Opfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Respektierung der Wünsche und Bedürfnisse der Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 d) Vermeidung neuen Unrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Teil 2 Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

124

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Historisch-politische Einordnung des Staates Mali . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Situation der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Mali 2012 . . . . . . . . . . 130 3. Bewaffneter Konflikt 2012 und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 a) Überweisung an den IStGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 b) Offizielle Ermittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 aa) Zuständigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 bb) Zulässigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4. Fokussierung auf die Zerstörungen in Timbuktu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5. Opferwerdung – Erlittene Schäden im Fall Al Mahdi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 V. IStGH als Anerkennungsort des „Opferseins“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Normative Verankerung im Rom-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Die rechtliche Definition von Opfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 b) Rechte der Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 c) Rechte des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 d) Recht auf Reparationen im Rom-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Institutionelle Verankerung im Rom-Statut-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Anklagebehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Kanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 c) Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 d) Vertreter der Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 e) Treuhandfonds für Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Teil 3 Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

189

VI. Völkerstrafrechtliches Verfahren als Anerkennungsprozess des Opferseins . . . . . . . 189 1. Opferbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Der rechtliche Rahmen der Opferbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Inhaltsverzeichnis

9

b) Identität beteiligter Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 c) Schutz von Opfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 d) UNESCO: Partizipation oder Interessenswahrnehmung? . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Feststellung der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Schuldbekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 b) Bitte um Entschuldigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 aa) Entschuldigung – heilende Effekte, ein Schritt zur Versöhnung oder Reparationsmaßnahme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 bb) Bewertung der Entschuldigung durch die Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 cc) Öffentlichkeit und Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 3. Schuldspruch: Feststellung des Opferseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 VII. Opferanerkennung durch Reparationen: die Realität am IStGH . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Reparationsanordnung gegen den verurteilten Al Mahdi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Haftung von Al Mahdi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 b) Anerkannte Schäden – Anerkannte Opferwerdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 aa) Schäden an den geschützten Gebäuden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 bb) Wirtschaftliche Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 cc) Moral harms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 dd) Nicht-anerkannte Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2. Umsetzung der Reparationsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 a) Individuelle und kollektive Reparationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Symbolische Reparationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 aa) Symbolischer Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 bb) Zugänglichkeit der Entschuldigung für Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 cc) Finanzierung der Reparationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 VIII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Normative Überzeugungskraft des Rechts auf Reparationen als Menschenrecht 244 2. Praktische Herausforderungen am IStGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Abkürzungsverzeichnis AC AEMR ASP BoD CAT

Appeals Chamber Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Assembly of States Parties Board of Directors Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment CEDAW Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women CERD Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination CPED Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance CRC Convention on the Rights of the Child CRPD Convention on the Rights of Persons with Disabilities DIP Draft Implementation Plan ECCC Extraordinary Chambers in the Court of Cambodia. ECOWAS Economic Community of West African States EGMR Europäischer Menschenrechtsgerichtshof EMRK Europäische Menschenrechtskonvention IACtHR Inter-American Court of Human Rights ICC International Criminal Court ICCPR International Covenant on Civil and Political Rights IDP Internally Displaced Persons IOM International Organization for Migration IPbpR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IStGH Internationaler Strafgerichtshof LRV Legal Representative for Victims MINUSMA UN Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali MNLA Mouvement National pour la Libération de l’Azawad (Nationale Bewegung zur Befreiung des Azawad) NGO Non-Governmental Organization OPCV Office of the Public Councel for Victims OTP Office of the Prosecutor PTC Pre-Trial Chamber RoTFV Regulations of the Trust Fund for Victims RPE Rules of Procedure and Evidence RS IStGHSt TC Trial Chamber TFV Trust Fund for Victims UDHR Universal Declaration of Human Rights VPRS Victims Participation and Reparation Section VWS Victims and Witnesses Section

Q: „Once you have expressed your views and concerns to the Chamber, having done so, how do you now feel?“ A: „I feel good. I feel liberated. I feel relieved because I’ve been able to express what I’ve been feeling for years. And I think that having had the chance to let this out, I feel good, I feel better.“ Q: „Are you expecting some form of reparation for the offences that have been committed against you?“ A: „I think that would be the normal thing.“ (…) A: „I would like to say the following: Today I am nothing. I hope that the Court will be able to ensure some form of reparations so that I can continue to live properly during the time that remains for me on earth.“1

Victim 480 im Verfahren gegen Jean-Pierre Bemba Gombo am Internationalen Strafgerichtshof

1 International Criminal Court, Trial Chamber III, The Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba Gombo, 17. 06. 2016, ICC-01/05-01/08-T-369-Red-ENG, S. 69 – 70.

I. Forschungsinteresse 1. Hinführung Die junge Frau, die in den Dokumenten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) nur als „Victim 480“ registriert ist, berichtete am 17. Mai 2016 im Verfahren gegen Jean-Pierre Bemba Gombo über ihre traumatischen Erfahrungen während des bewaffneten Konflikts in der Demokratischen Republik Kongo. 2003 war sie mit ihrem Vater überfallen, beraubt und entführt worden. Vor seinen Augen wurde sie mehrfach vergewaltigt. Nach zwei Wochen gemeinsamer Gefangenschaft wurde der Vater, der Hauptversorger der Familie, getötet und verscharrt. Die Tochter (Opfer 480) leidet heute nicht nur an der Stigmatisierung als Vergewaltigungsopfer in ihrer Dorfgemeinschaft, sondern auch an den schweren gesundheitlichen Folgen einer HIV-Infizierung. Wie soll durch Reparationen je Gerechtigkeit geschaffen werden, wenn ganze Menschenleben zerstört oder unwiderruflich verändert wurden? Können derartige Leiderfahrungen durch schwerste internationale Straftaten überhaupt entschädigt werden?2 Angenommen, der jungen Frau wären in irgendeiner Form Reparationen durch den IStGH zugesprochen worden, wie sie selbst gefordert hat: Wie hätten solche Reparationen aussehen können? Hätte es sich allein um materielle Entschädigung gehandelt? Oder sich auch auf symbolische oder kollektive Reparationsmaßnahmen erstrecken oder beschränken können? Welcher gerechtigkeitsschaffende Effekt kann auf die Gemeinschaft oder die einzelne betroffene Person erzielt werden? Gerade die Auswirkungen auf das einzelne Opfer sind relevant, weil internationale Straftaten stets dessen Menschenwürde betreffen. Auch bei der zitierten Zeugenaussage von Victim 480 lässt sich die verletzte Menschenwürde im Bekenntnis des „Today I am nothing“ erkennen. Es drückt aus, dass die eigene Selbstachtung verloren ist. Der Schriftsteller Jean Améry, der selbst nach seiner Inhaftierung als Widerstandskämpfer schwerste Foltererfahrungen erlitten hat und so zum Opfer des Nationalsozialismus wurde, reflektierte gerade diese Folgen:

2

Diese Arbeit entstand im Rahmen eines durch die DFG geförderten Forschungsprojekts zur „Opferbeteiligung an internationalen Strafverfahren“ an der Forschungsstelle Völkerstrafrecht der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Während des Forschungsprojekts absolvierte ich sechs Monate als Visiting Professional am Trust Fund for Victims des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

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I. Forschungsinteresse „(W)ie verhält es sich eigentlich mit der Würde, die man mir 1935 erstmals absprach, mir offiziell vorenthielt bis 1945, die man mir vielleicht heute noch nicht zuerkennen will und die ich darum auf eigene Hand gewinnen muß? Was ist Würde überhaupt?“3

Wie Victim 480 und Améry empfinden viele Opfer nach schwersten Verbrechen den Verlust der eigenen Würde. Bei den Versuchen gerechtigkeitsschaffender Entschädigung müsste die unmittelbare Reaktion sein, die Würde wieder erfahrbar zu machen. Dazu können Reparationen beitragen, wie Victim 480 deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Unabhängig vom soziokulturellen Kontext und der Art des bewaffneten Konflikts können Reparationsleistungen tendenziell die Bandbreite von finanziellen Entschädigungen, den Ersatz von materiellen Verlusten oder die Errichtung erinnerungskultureller Bauwerke umfassen. Doch die Menschenwürde wird im Recht auf Reparationen und in konkreten Reparationsleistungen ebenso wie in der wissenschaftlichen Transitional Justice Debatte ausgeblendet. Eine andere, ganz praktische Herausforderung bei der Durchsetzung des Rechts auf Reparationen zeigt sich schon beim retrospektiven Blick auf die Millionen von Opfern, die auch nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg durch Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord im 20. und 21. Jahrhundert seit der Verankerung der universellen Menschenrechte entstanden sind. Dies weist die Frage auf, wie Opfer allein aufgrund dieser Quantität nach bewaffneten Konflikten jemals hätten Reparationen und Entschädigungsleistungen erhalten sollen, hätte das Recht auf Reparationen zu allen Zeiten und überall praktische Durchsetzung erfahren. Pragmatisch naheliegend mag da der Gedanke erscheinen, Opfergruppen den Reparationsanspruch nur im Kollektiv zu gewähren. Leid äußert sich aber nicht nur aufgrund gemeinschaftlich erfahrbarer Geschehnisse, sondern wird vor allem individuell erfahren. Rein kollektive Reparationen könnten dem einzelnen Opfer 480 und seiner verletzten Menschenwürde deshalb nie gerecht werden. Als die Staatengemeinschaft 1998 den Internationalen Strafgerichtshof gründete, um Straflosigkeit nach Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen zu verhindern und Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war sie sich der Dimensionen der Opferwerdung bewusst: „Mindful that during this century millions of children, women and men have been victims of unimaginable atrocities that deeply shock the conscience of humanity.“4 Nicht nur in der Präambel des Römischen Statuts, sondern auch in seiner praktischen Institutionalisierung versteht sich der Internationale Strafgerichtshof als eine gerechtigkeitsschaffende Einrichtung für Opfer internationaler Straftaten. Erstmalig vereint ein internationaler Strafgerichtshof die Mandate zur Strafverfolgung von Tätern mit dem Recht für Opfer, Reparationen zu erhalten. Das Recht auf Reparationen, das dem IStGH ein 3 Améry, J. (1997), Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, in: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Améry, J. (Hg.), Stuttgart: Klett-Cotta, S. 130 – 156, S. 139. 4 Prämbel, Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. (1998) (hier kurz: IStGHSt).

I. Forschungsinteresse

15

Alleinstellungsmerkmal unter den internationalen Tribunalen5 verschafft, ist in Artikel 75 verankert, der in der deutschsprachigen Übersetzung „Wiedergutmachung für die Opfer“ lautet. Dieser Artikel wurde in einem Abstimmungsprozess einzelner Staatsregierungen mit mehreren einflussreichen NGOs in das IStGHSt aufgenommen. Trotz der Unterschiede in ihren Rechtssystemen bildeten vor allem Frankreich und das Vereinigte Königreich ein starkes Bündnis für das Recht auf Reparationen. Während der Verhandlungen über die Verabschiedung des RomStatuts waren andere Delegationen zunächst nicht einverstanden, weil sie befürchteten, „that addressing and defining reparations would be too complex for a criminal court with members from such different legal traditions and that implementation would be particularly problematic in states that do not have reparations proceedings in their domestic legislation.“6 Einige Delegationen sahen auch eine sich daraus entwickelnde Gefahr, dass der Internationale Strafgerichtshof zu einem späteren Zeitpunkt Reparationen gegen Staaten aussprechen könnte. Andere waren der Meinung, dass ein Recht auf Reparationen das eigentliche Hauptmandat des IStGH für Strafverfolgung und Bestrafung von Tätern verschieben würde.7 Schließlich wurde auch argumentiert, dass der Gerichtshof die Opfer bereits allein mit seiner Errichtung anerkennen würde und dass dies ausreiche. Zweck des IStGH sei es allein, Wahrheit und Schuld zu ermitteln, und dadurch Straflosigkeit für internationale Verbrechen zu verhindern. Dennoch wurde Artikel 75 über „Reparationen an die Opfer“ trotz seiner Umstrittenheit am 13. Juli 1998 von den anwesenden Delegationen angenommen. Zum ersten Mal gewährt seither ein internationaler Strafgerichtshof Opfern das Recht auf Reparationen.8 5 Zur Bedeutung von Opfern und ihren Rechten in den Ad hoc und hybriden Tribunalen, International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY), International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR), Special Court for Sierra Leone (SCSL), Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC), siehe Evans, C. (2012), The right to reparation in international law for victims of armed conflict. Cambridge: Cambridge University Press, S. 110 – 119, S. 132 – 137. 6 Bottigliero, I. (2013), Redress for Victims of Crimes under International Law. Leiden: Springer, S. 213 f. 7 Muttukumaru, C. (1999), Reparation to Victims, in: The International Criminal Court: The Making of the Rome Statute: Issues, Negotiations and Results. R. S. Lee Martinus Nijhoff Publishers, S. 262 – 270. 8 Während der Verhandlungen wogen die Befürworter und Gegner die Rechte der Opfer einerseits und die Rechte der Angeklagten andererseits ab. Die größten Gegner des Gerichts – Indien, China, Pakistan, Israel, die arabischen Staaten und die Vereinigten Staaten – sprachen sich auch explizit gegen die Rechte von Opfern aus. Nur eine kleine Anzahl von Regierungen unterstützte die Aufnahme der Opferrechte in das Römische Statut überhaupt, siehe UN Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Erstablishment of an International Criminal Court (1998), S. 177, https://legal.un.org/icc/rome/proceedings/E/Rome Proceedings_v3_e.pdf (Stand 1. 9. 2020). Nach der Errichtung des IStGH wurde auch Russland als weiteres Sicherheitsratsmitglied zu einem entschiedenen Gegner. 2016 erklärte Russland schließlich den Rücktritt von der Unterzeichnung des IStGHSt, siehe Sayapin, S. (2016), Russia’s Withdrawal of Signature from the Rome Statute would not shield its Nationals from potential Prosecution at

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I. Forschungsinteresse

Doch worum geht es bei diesem Recht auf Reparationen? Von welchem Opferverständnis geht es aus? Auf welchen menschenrechtlichen Ansätzen beruht es? Besitzt es normative Überzeugungskraft? Die Antwort auf all diese Fragen hängt in hohem Maße auch davon ab, was die Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen wirklich wollen, wenn sie Entschädigungen fordern. Ihre Erwartungen hatte Victim 480, die außerhalb der Beweiserhebung zu den Reparationen befragt worden war, klar geäußert. Doch der Angeklagte, Jean-Pierre Bemba Gombo, wurde durch eine Entscheidung der Berufungskammer am 8. Juni 2018 freigesprochen. Der Nachweis der Individualverantwortung und Haftung ist damit gescheitert. Aufgrund des Freispruchs wird Victim 480 keine Reparationsleistungen von dem Beschuldigten erhalten. Was bleibt nach einem mehr als sieben Jahre dauernden Verfahren für Victim 480? Ist die Umsetzung des Rechts auf Reparationen am IStGH dann überhaupt gelungen?

2. Zur Problematik des Opferbegriffs Der Opferbegriff ist sehr weit und vielschichtig. Für die Ziele dieser Arbeit muss man sich der Probleme bei seiner Verwendung bewusst sein. Der alltägliche Sprachgebrauch kennt selbstverständlich auch „Opfer“, die in der Folge von unterschiedlichen Ereignissen und Katastrophen entstanden sind: nach Verkehrsunfällen, wirtschaftlichen Verlusten, medizinischen Eingriffen, Naturkatastrophen oder anderem. Aber gerade die Verwendung durch die Alltagssprache macht den Begriff so problematisch und unscharf. Dies wird dadurch verschärft, dass in der Jugendsprache der Ausdruck seit den 2000er Jahren in beleidigender Absicht verwendet wird, wie die Sprachexperten des Duden feststellten. Eine Person wird danach als Opfer adressiert, wenn sie als schwach etikettiert werden soll. Der Begriff des „Opfers“ wird so negativ besetzt, bagatellisiert und seinem strafrechtlichen Kontext vollständig entzogen.9 Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zeigt sich eine doppelte und sogar ambivalente Konnotation des Begriffs „Opfer“, die entweder in einem abwertenden Sinne verstanden wird oder empathisch sein will, um „Hilfsbereitschaft“ auszudrücken. Problematisch kann die Verwendung des Opferbegriffs auch im Kontext des Strafverfahrens sein. Dies beruht darauf, dass für den Beschuldigten die Unschuldsvermutung gilt,10 und eine Verletzung einer Person durch den Beschuldigten somit erst durch das Urteil eines Gerichts festgestellt wird. Demgegenüber steht die zutreffende Ansicht, dass Menschen auch im strafrechtlichen Sinne „Opfer“ sein können, ohne dass eine Schuldzuschreibung des Angeklagten bereits erfolgt ist. Die the ICC, https://www.ejiltalk.org/russias-withdrawal-of-signature-from-the-rome-statute-wouldnot-shield-its-nationals-from-potential-prosecution-at-the-icc/ (Stand 1. 9. 2020). 9 Duden. Opfer, https://www.duden.de/rechtschreibung/Opfer (Stand 1. 9. 2020). 10 Art. 6 (2), Europäische Menschenrechtskonvention (hier kurz: EMRK).

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Unschuldsvermutung des Beschuldigten wird von der Opferschaft nicht berührt.11 Dementsprechend ist in der deutschen Gesetzgebung und der Rechtspraxis der Begriff des Opfers bereits vor einer Verurteilung des Angeklagten fest etabliert. Sei es die Strafprozessordnung, welche den Opfern von Beginn des Verfahrens an Rechte gewährt, das Opferschutzgesetz, das Opferentschädigungsrecht oder gar die sogenannte Opferfibel12, ein praktischer Hinweisgeber, welches den Opfern von Straftaten in Deutschland Tipps gibt und Anlaufstellen nennt. Dabei überwiegt die Intention, Opfern von Straftaten Rechte einzuräumen und Hilfe zukommen zulassen. Einen fokussierten Diskurs auf diejenigen Opfer, die Reparationsansprüche äußern und Rechtssubjekte von Reparationsverfahren sind, bereichern dagegen die Überlegungen zu einer politischen Theorie des „Opfers“, die die Politikwissenschaftler Herfried Münkler und Karsten Fischer entwickelten. Demnach „bezeichnet der Begriff Opfer allgemein einen Verzicht auf oder eine Einbuße von etwas.“13 Reparationsansprüche wären dann die notwendige Kehrseite der Medaille, mit welcher der Versuch unternommen wird, den Verzicht oder die Einbuße auszugleichen. Gerade auch der Begriff des „Opfers“ für Betroffene schwerster Menschenrechtsverbrechen darf nicht unbedacht verwendet werden. Im Laufe dieser Forschungsarbeit wird durch einen Perspektivenwechsel immer wieder hinterfragt, ob die Bezeichnung als „Opfer“ auch von den Betroffenen selbst akzeptiert und verwendet wird. Unter dieser Voraussetzung sind „Opfer“ demnach Menschen, die verschiedenste Formen von Leid aufgrund von Straftaten erlebt haben und Gerechtigkeit für das ihnen zugefügte Unrecht einfordern. Auch diese Begriffsbestimmung gesteht Opfern bestimmte lebensbeeinträchtigende Erfahrungen zu, ohne dass es insoweit der Klärung der Verantwortlichkeit bedarf. Davon unberührt bleibt die ebenfalls in dieser Arbeit zu untersuchende Frage, ob und inwieweit die Schuldzuweisung zu einem bestimmten Täter von den Opfern als relevant betrachtet wird.14 Zu klären wird dabei auch sein, ob der Begriff des „Opfers“ jenseits der darin zum Ausdruck kommenden Verletzlichkeit auch Stärke bekundet. In gesellschaftlicher Hinsicht wird dabei zu bedenken sein, dass der Opferbegriff für betroffene viktimisierte Menschen schwerster Straftaten sowohl einen stigmatisierenden als auch einen positiv anerkennenden und durchaus affirmativen Effekt haben kann. Um den verschiedenen kulturellen, sprachlichen und zeithistorischen Dimensionen der 11 Steffen, W. (2013), Gutachten für den 18. Deutschen Präventionstag „Mehr Prävention – weniger Opfer“: Opferzuwendung in Gesellschaft, Wissenschaft, Strafrechtspflege und Prävention: Stand, Probleme, Perspektiven. Heiligenberg/München, https://www.praeventionstag. de/daten/module/media/dateien/200/18-DPT-Gutachten_267.pdf (Stand 1. 9. 2020). 12 Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz (2019), Opferfibel. Berlin, https: //www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Opferfibel.pdf?__blob=publicationFile&v=16 (Stand 1. 9. 2020). 13 Münkler, H./Fischer, K. (2000), „Nothing to kill or die for …“ – Überlegungen zu einer politischen Theorie des Opfers, in: Leviathan 28(3), S. 343 – 362, S. 345. 14 Siehe Teil 1 Kap. III. 2. d).

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Problematik des Opferbegriffs nach völkerstrafrechtlichen Verbrechen gerecht zu werden, genügt es nicht, alleine die Verfahren vor dem IStGH in den Blick zu nehmen. Vielmehr muss der Untersuchungsgegenstand um schwere Menschenrechtsverbrechen im umfassenden Sinne erweitert werden, die auch in ihrer zeitlichen Perspektive zudem weiter zurück liegen. Anhand der jüngst verhandelten IStGH-Fälle lässt sich nicht allein eruieren, warum Betroffene Entschädigungen auch nach längerer Zeit fordern und ob sie dabei die Opfereigenschaften und letztendlich das Opfersein für sich akzeptieren. In Teil 1 dieser Arbeit wird daher auch Opfern eine Stimme gegeben, die Leiderfahrungen in anderen bewaffneten Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen machen mussten.15

3. Methodischer Ansatz und Forschungsfragen Wie jede internationale Vertragsentwicklung war auch die Entstehung des RomStatuts Resultat eines politischen Aushandlungsprozesses. Die Verankerung der Opferrechte stellte dabei ein innovatives Anliegen dar, das über nationalstaatliche Interessen hinausging und deshalb von vielen politischen Seiten mitgetragen werden konnte. Das IStGHSt initiierte eine Neuausrichtung von Strafverfahren mit TäterFokus zu internationalen Prozessen, die auch an den Bedürfnissen von Opfern orientiert sind. Die Entstehungsgeschichte des Rom-Statuts legt daher nahe, keine Anbindung der Forschungsfrage an realistische oder institutionalistische Theorieansätze der Internationalen Beziehungen zu suchen, sondern eine konstruktivistische Untersuchung vorzunehmen.16 Die Grundidee des Konstruktivismus geht schließlich davon aus, dass Regierungen und andere Akteure der internationalen Politik, wie internationale Organisationen, in einem Wechselverhältnis zwischen den Normen stehen, die sie einerseits erschaffen und die andererseits ihre Aktivitäten bedingen. Dies entspricht dem Verhandlungsprozess über das IStGHSt. Nach dem Verständnis eines der wichtigsten Vordenker des Konstruktivismus, Nicholas Onuf, basieren Normen, Prinzipien und Regeln auf Sprechakten, die Antriebsmotoren für das Handeln von Akteuren sind. Es sind gerade diese Ideen und Konzepte, die mannigfaltig verbreitet und aufgrund ihrer breiten Akzeptanz formalisiert und in Gesetzen und Regeln institutionalisiert wurden. Lediglich in ihrem Formalisierungs- und Institutionalisierungsgrad unterscheiden sich rechtliche von nicht-rechtlichen Regeln. Nach Onuf entsteht die

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Namentlich sind hier erwähnt der Holocaust, die Verbrechen der Roten Khmer in Kambodscha, die serbischer Soldaten im Bosnienkrieg, der Bürgerkrieg in Sierra Leone, bewaffnete Überfälle der kongolesischen Armee und der Lord Resistance Army in Uganda. 16 Zur Unterscheidung der drei Theorieschulen, siehe Rittberger, V. et al. (2013), Theorien internationaler Organisationen, in: Internationale Organisationen. Rittberger, V./Zangl, B./ Kruck, A. (Hg.), Wiesbaden: Springer, S. 28 – 48.

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höchste Form von Normativität ausgedrückt in Regeln durch die Wiederholung und Akzeptanz von Ideen.17 Das Interesse dieser Forschungsarbeit liegt an den wiederholten Ideen und Sinnebenen, die zur Verankerung des Rechts auf Reparationen im IStGHSt geführt haben und den höchsten Institutionalisierungsgrad in der Geschichte internationaler Strafgerichtstribunale hervorbrachten, um Opfer internationaler Verbrechen zu entschädigen. Die Erfahrungen von internationalen Wahrheitskommissionen und nationalen Entschädigungsverfahren zeigen zudem, dass diese Ideen und Sinnebenen unweigerlich auch mit materiellen Fragen nach Kompensation der erlittenen „Einbußen“ verbunden sind. In „The World of Our Making“ begründet Onuf, dass die soziale und politische Welt und die materielle Welt untrennbar miteinander verbunden sind.18 Damit spricht er zugleich einen wunden Punkt der Theorien der Internationalen Beziehungen an, die tendenziell davon ausgehen, dass der Realismus mit Materialismus und Machtbeziehungen verbunden ist und der Sozialkonstruktivismus mit ideellen Werten.19 Folgt man Onufs konstruktivistischer Auffassung müssen sich gemeinsame ideelle Ideen und Sinnebenen in Gesetzen und Regeln und ihre Äußerung in Materie jedoch nicht zwangsläufig ausschließen. Individuen sieht er daher konsequenterweise als „materially situated biological beings“.20 Dabei gilt es zu Bedenken, dass Menschen Regeln schaffen, die ihre Gesellschaft und ihr Ordnungssystem bedingen. Eine zu enge Betrachtung des Individuums als alleiniger Erschaffer von Regeln würde jedoch die politische Dimension vernachlässigen. Dies zeigt sich auch am Recht auf Reparationen, das trotz seiner ideen- und normbasierten Genese heute nur aufgrund des erfolgreichen politischen Abstimmungsprozesses im IStGHSt verankert ist. Politik ist in Verbindung mit internationalem Recht im Denken von Friedrich Kratochwil, einem weiteren Vertreter der sozialkonstruktivistischen Denkschule, wichtig. Politik ist seiner Ansicht nach letztendlich das Menschsein und die Frage wie jeder die Welt sieht. Der Ausgangspunkt von Kratochwil liegt in der Gemeinsamkeit aller Normen problemlösend zu sein.21 Im gesellschaftlichen Zusammenleben haben Normen die Funktion eines Kompasses und bilden den Kommunikations- und Handlungsrahmen innerhalb dessen Menschen ihre Werte und Vorstellungen teilen, verfolgen und geltend machen können. Im Gegensatz zu Onuf sieht Kratochwil den konstruktivistischen Forschungsansatz nicht bei den Normen per se, sondern bei ihrem Entstehungsprozess und ihrer Umsetzung durch juristische Be17 Onuf, N. G. (2012), World of our Making: Rules and Rule in Social Theory and International Relations. New York: Routledge, S. 136. 18 Ebenda, S. 39 f. 19 Siehe auch Onuf, N. G. (2015), Nicholas Onuf on the Evolution of Social Constructivsm, Turns in IR, and a Discipline of Our Making. T. Talks. ETH Zürich: Center for Security Studies, https://www.css.ethz.ch/en/services/digital-library/articles/article.html/195339 (Stand 1. 9. 2020). 20 Onuf (2012), S. 40. 21 Kratochwil, F. (1989), Rules, Norms and Decisions. Cambridge: Cambridge University Press, S. 14.

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ratungen und Verfahren.22 Was tatsächlich Recht ist, entsteht nach Kratochwil als ein „choice-process characterized by the principled nature of the norm-use in arriving at a decision through reasoning.“23 Richter_innen sind am IStGH die Normanwender_innen. Sie entscheiden sich für eine bestimmte Interpretation der Norm aus einem breiteren Auslegungsspektrum. Gewählte Repräsentanten – im Fall des IStGH, die Delegationen in der Vertragsstaatenversammlung – erschaffen hingegen die Normen.24 Internationales Recht ist aus der Sicht von Kratochwil nicht vom politischen Prozess zu lösen, weil dieser auf der internationalen Ebene nicht vollständig institutionalisiert ist im Vergleich zur nationalen Ebene, wo beide, der rechtliche und der politische Prozess, separat und vollständig institutionalisiert sind.25 Die Begehung internationaler Straftaten erfolgt immer in einem politischen Kontext, ebenso die Debatte um eine internationale Organisation, wie den IStGH, vor allem auch im Bezug auf die Finanzierung durch die Vertragsstaaten. Für diese Forschungsarbeit bietet das kritische Verständnis von Adriana Sinclair weitere Impulse. Sie geht im Gegensatz zu Onuf und Kratochwil nicht davon aus, dass kodifiziertes Recht das Ende einer normativen Entwicklung darstellt.26 Konstruktivistische Denker_innen, die dieser Linie folgen, haben aus der Sicht von Sinclair „the common sense idea of law“ nicht verstanden. Dieser umfasst die internalisierten Normen, die sich in Handlungen der betroffenen Akteure widerspiegeln. Recht muss in seiner tatsächlichen Wirklichkeit erfasst und nicht beschrieben werden wie es idealerweise sein soll. Recht ist daher keine rein technische Sache. Die praktische Rechtsprechung hilft den notwendigen „common sense“ einer Norm zu erfassen, dabei versichert sie sich allerdings ihrer theoretischen Grundlagen.27 Auch bei den theoretischen Überlegungen zum Recht auf Reparationen sollen im Rahmen dieser Arbeit zwar die grundlegenden Konzepte und Ideen erarbeitet werden, aber nicht ohne die praktische Realität der Erwartungen von Opfern und die tatsächlich erfolgten Reparationsleistungen aus dem Blick zu verlieren. Die konstruktivistische Herangehensweise dieser Forschungsarbeit wird noch verständlicher, sobald empirische Arbeiten, wie diejenigen von Martha Finnemore und

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Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 18. 24 Ebenda, S. 227 – 240. 25 Ebenda, S. 255. 26 Sinclair, A. (2010), International relations theory and international law: A critical approach. Cambridge: Cambridge University Press. Harold Lasswell and Myres McDouglas gehen schon 1943 Jahren davon aus, dass Normen durch das Zusammenspiel verschiedener Akteure im politischen Raum entstehen. Siehe Lasswell, H. D./McDougal, M. S. (1943), Legal education and public policy: Professional training in the public interest, in: The Yale Law Journal 52(2), S. 203 – 295. 27 Einen anwendbaren eigenen Zugang zum internationalen Recht aus konstruktivistischer Perspektive erarbeitet Sinclair über diese hier skizzierten Elemente hinaus aber nicht, Sinclair (2010). 23

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Kathryn Sikkink28 sowie von Nicole Deitelhoff29, berücksichtigt werden. Die Autorinnen erforschten die Einflussfaktoren auf die Entstehung von Normen und deren Verbreitung. Auch Deitelhoff wählt als Untersuchungsgegenstand die Errichtung des IStGH als permanente Institutionalisierung des Völkerstrafrechts. Nur die verbreitete Überzeugungskraft gemeinsamer Werte und Normen habe aus ihrer Sicht in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts plötzlich zu einer starken Unterstützung für einen permanenten IStGH geführt. Doch eine derartige Überzeugungskraft lasse sich nie alleine in empirischen Arbeiten untersuchen, so Deitelhoffs Fazit.30 Im Folgenden soll die Kombination einer wissenschaftlichen Arbeit, die aus einem theoretischen Analyseteil der Sinnebenen und einer empirischen Untersuchung besteht, dieser Kritik entgegentreten. Finnemore und Sikkink verbinden eine theoretisch geführte Normendebatte mit einer empirischen Analyse. Ausgangspunkt ist der konstruktivistische Gedanke, dass Normen eine gemeinsame Einschätzung teilen, ehe sie international verbreitet werden. Der sogenannte „Life Cycle“ einer Norm veranschaulicht ihren unterschiedlichen Akzeptanzgrad bis hin zur verbreiteten rechtlichen Verankerung. Die meisten Forschungsfragen würden sich auf die Effekte von Normen konzentrieren, kritisieren Finnemore und Sikkink, die Einflüsse auf die Ausgestaltung einer Norm seien jedoch am Beginn des „Life Cycle“ am stärksten. Es sei nicht zwangsläufig die internationale Institutionalisierung einer Norm, die erst zum Höhepunkt ihrer Verbreitung und Akzeptanz führe. Eine Norm kann auch erst stark national und international verankert sein, ehe sie permanent international institutionalisiert wird.31 So spiegelt sich auch die breite Akzeptanz eines Grundprinzips von Entschädigung in unterschiedlichen nationalen Rechtsgebieten und alltäglichen Lebenswelten wider, während es auf der anderen Seite nach internationalen Straftaten noch längst keine Selbstverständlichkeit ist. Basierend auf diesen konstruktivistischen Ansätzen, soll im Teil 1 dieser Forschungsarbeit eruiert werden, auf welchen gemeinsamen Ideen und Konzepten das Menschenrecht auf Reparationen basiert, die international akzeptiert werden. Welche menschenrechtlichen Ansätze birgt das Recht auf Reparationen? Wie sind diese in einen menschenrechtlichen Gesamtdiskurs und der Umsetzung des Rechts am Internationalen Strafgerichtshof einzuordnen? Um diese Forschungsfragen zu untersuchen, werden die theoretischen Erkenntnisse der Sinnebenen in Teil 1 an einer Einzelfallstudie in Teil 2 überprüft. Mit diesem Vorgehen soll eine theoretische Grundlage zum Menschenrecht auf Reparationen erstellt werden, die das Ziel einer praktikablen Anwendung hat. Insofern 28

Finnemore, M./Sikkink, K. (1998), International Norm Dynamics and Political Change, in: International Organization 52(4), S. 887 – 917, S. 892 – 912. 29 Deitelhoff, N. (2009), The discursive process of legalization: Charting islands of persuasion in the ICC case, in: International organization 63(1), S. 33 – 65. 30 Ebenda, S. 61. 31 Finnemore, Sikkink (1998), S. 900.

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erfolgt die Analyse des Forschungsgegenstandes nicht linear, sondern bildlich betrachtet, zirkular. Die Erhebung und die Analyse von Quellen aus Wahrheitskommissionen und strafrechtlichen Verfahren sowie die Theoriebildung erfolgen parallel. Die wiederkehrenden Erwartungen und Forderungen von Opfern sind in den konzeptionellen Ideen im Menschenrecht auf Reparationen in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Konkrete Anwendung finden die erforschten Sinnebenen schließlich in Teil 3, wenn die Ergebnisse der empirischen Analyse mit den theoretischen Erkenntnissen wieder rückgekoppelt werden. So ergibt sich der zirkulierende Gesamtforschungsprozess.32

4. Zur Auswahl der Fallstudie Während die wissenschaftliche Literatur eigene Theorien zur exakten Fallauswahl entwickelt hat,33 stellt sich diese Frage aufgrund der bisher geringen Anzahl an Reparationsfällen am IStGH kaum. Vielmehr muss entschieden werden, ob ein Vergleich aller drei bisher verhandelten Fälle in der Reparationsphase sinnvoll ist, um die Forschungsfrage zu erörtern, oder ob eine Einzelfallstudie einen vertiefenden und vielleicht sogar erkenntnisreicheren Einblick erlaubt. Hierzu galt es zu bewerten, ob ein wissenschaftlicher Mehrwert in Bezug auf die Forschungsfrage zu gewinnen wäre, wenn die Entschädigungsprozesse der verschiedenen Opferwerdungen aller Fälle vergleichend diskutiert würde. Dies wäre nur zu bejahen, wenn das Forschungsinteresse auf einem Vergleich der Reparationsprinzipien in der Entscheidungspraxis der unterschiedlichen Kammern läge oder aber auf einem Vergleich der Reparationsmaßnahmen. Eine solche vergleichende Rechtsprechungsanalyse, so sei es ausdrücklich an dieser Stelle betont, ist nicht das Ziel dieser Forschungsarbeit. Die Einzelfallstudie soll vielmehr Erkenntnisse eines neuen menschenrechtlichen Phänomens gewinnen, nämlich der institutionalisierten Entschädigung schwerster Leiderfahrungen durch internationale Verbrechen am Internationalen Strafgerichtshof. Ziel der Einzelfallstudie ist es, die zuvor entwickelten theoretischen Überlegungen zum Menschenrecht auf Reparationen am IStGH zu überprüfen. John Gerring definiert die Fallstudie „as an intensive study of a single unit for the purpose of understanding a larger class of (similar) units.“34 Der völkerstrafrechtliche Einzelfall ermöglicht nicht nur die Datenermittlung, welche die empirische Grundlage für die Analyse bildet. Er erlaubt zugleich ein am strafrechtlichen Prozess, der aus 32 Glaser, B./Strauss, A. (2006), Grounded Theory – Strategies for Qualitative Research. New Brunswick/London: Routledge, S. 1 – 20, S. 79 – 100; Martin, Vivian B./Scott, Clifton, What is Grounded Theory Good For?, in: Journalism & Mass Communication Quarterly, Vol. 95, No. 1, 2018, S. 11 – 22. 33 Eckstein, H. (2009), Case Study Method. Case Study Method. Gomm, R./Hammersley, M./Foster, P., London: SAGE Publication, S. 118 – 164. 34 Gerring, J. (2004), What is a case study and what is it good for?, in: American political science review 98(2), S. 341 – 354, S. 342.

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aufeinander folgenden Verfahrensabschnitten besteht, orientiertes strukturiertes Vorgehen. Im Zentrum der Untersuchung steht der spezifische Einzelfall des Verfahrens gegen Ahmad Al Faqi Al Mahdi, in dem es um die Zerstörung von Monumenten mit Weltkulturerbestatus in Mali ging. Die anderen Fälle in den Verfahren gegen Thomas Lubanga, Germain Katanga und Jean-Pierre Bemba Gombo, in denen Reparationen für Opfer am Internationalen Strafgerichtshof entschieden bzw. diskutiert wurden, werden bei der Erörterung mitberücksichtigt, soweit dies zum Verständnis genereller Reparationsprinzipien erforderlich ist. Mit seinem Fokus auf der Zerstörung der Mausoleen in Timbuktu im Jahre 2012 stellte das Al Mahdi Verfahren einen Sonderfall dar, weil es nicht um Verbrechen ging, die typischerweise vor Internationalen Strafgerichten erwartet werden. Die Anklageschrift umfasste keine Morde, Fälle von Vergewaltigung oder Folter oder andere grausame Behandlungen während des bewaffneten Konflikts in Mali 2012. Der Fall Al Mahdi ist darüber hinaus auch deshalb für die Einzelfallstudie besonders geeignet, weil sich der Angeklagte schuldig bekannte und bei den Opfern entschuldigte – ein Novum in der jungen Geschichte des IStGH und zudem eines von wenigen Beispielen einer Entschuldigung in der internationalen Strafgerichtsbarkeit überhaupt. Dies eröffnet erstmals die Möglichkeit, die in der Transitional Justice Literatur35 diskutierten Fragen um Schuldbekenntnis und Entschuldigung als anerkennende Handlungen des Täters auch am IStGH zu analysieren. Schließlich bietet sich der Fall Al Mahdi auch mit Bezug auf die besondere Opferstruktur als Untersuchungsgegenstand an. Dabei geht es nicht um die Quantität der am Verfahren beteiligten Opfer, die in anderen Verfahren deutlich höher war. Vielmehr hat die gezielte Zerstörung der Mausoleen als Kriegsverbrechen einen diversifizierten Kreis von Opfern hervorgebracht, die durch Verletzungen der kulturellen und religiösen Identität, wirtschaftliche Verluste sowie materielle Schäden an den Gebäuden in ganz unterschiedlicher Weise direkt oder indirekt betroffen sind. Hinzu kommt, dass am Fall Al Mahdi exemplarisch diskutiert werden kann, ob und inwieweit Reparationen wegen der Zerstörung von Weltkulturerbestätten sich jenseits individueller Viktimisierung auf lokale, aber auch überregionale Gemeinschaften bis zur Weltgemeinschaft erstrecken können. Diese Diversifizierung der Opfer und Opfergemeinschaften ermöglicht es zudem in idealtypischer Weise, das gesamte Spektrum möglicher Reparationsmaßnahmen bei Verbrechen gegen die Menschheit zu erörtern. Gerade die sich aus diesen Umständen ergebende Alleinstellung des Falles Al Mahdi im Verhältnis zu anderen völkerstrafrechtlichen Verfahren macht diesen zu einem geeigneten Untersuchungsgegenstand, um die theoretischen Überlegungen auf ihre praktische Relevanz hin zu überprüfen. Denn allgemein wissenschaftstheoretisch diskutierte Modelle zu Opferwerdung, Opfersein und Opferanerkennung 35 Eine ausführliche Einordnung der englischsprachigen Transitional Justice Literatur nimmt Constanze Schimmel in ihrer Doktorarbeit vor, siehe Schimmel, C. (2016), Transitional Justice im Kontext. Zur Genese eines Forschungsgebietes im Spannungsfeld von Wissenschaft, Praxis und Rechtsprechung. Berlin: Duncker & Humblot.

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lassen sich hinsichtlich des Grades ihrer praktischen Validität besonders gut am atypischen Fall beurteilen.36 Insofern stehen theoretische Überlegungen und Einzelfallstudie in einer Wechselwirkung: Lässt sich feststellen, dass theoretische Fundamente und Erkenntnisse sich gerade auch im abweichenden Fall widerspiegeln und anwendbar zeigen, stützt dies zugleich die zugrundeliegenden theoretischen Grundsatzreflexionen. Das Ziel dieser Forschungsarbeit besteht darin, die theoretischen Grundsatzüberlegungen zum Menschenrecht auf Reparationen (Teil 1) an der Einzelfallstudie im Verfahren gegen Al Mahdi am IStGH (Teil 2) zu überprüfen (Teil 3).

36 Untersuchungen zur Opferwerdung finden sich in der Viktimologie als Teilbereich der Kriminologie. Erkenntnisse über die Opfererfahrungen, erlittenen Schäden und Konsequenzen werden zur Kriminalprävention erforscht, siehe u. a. www.krimlex.de (01. 09. 2020); Meier, B.D. (2021), Kriminologie. Nördlingen: C. H. Beck, S. 217 – 248.

Teil 1

Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“ Der Kampf um die Menschenrechte ist seit jeher ein mühsames politisches Ringen, das auf zwei Kernziele ausgerichtet ist. Dies ist zum einen die normativinhaltliche Entwicklung und Weiterentwicklung von Menschenrechten und zum anderen ihre Durchsetzung. Beides ist auch immer eine Frage von Gerechtigkeit. Wiederkehrende Gerechtigkeitsforderungen und Anliegen Betroffener begünstigen die Entstehung neuer Menschenrechte. Im folgenden Kapitel soll eruiert werden, welche repetitiven Ideen und Konzepte das internationale Menschenrecht auf Reparationen begründen. Eine Betrachtung und Analyse von interdisziplinären Quellen soll es ermöglichen, diese Ideen und Konzepte zu skizzieren. Opfererfahrungen aufgrund schwerster Verbrechen sind in jeder Weltregion, Kultur und Religion im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden. Im Folgenden liegt der Fokus auf politisch-theoretischen Überlegungen zum Thema „Reparationen“ und einer Analyse von Unrechtserfahrungen aus der Opferperspektive. Das Kapitel kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, vielmehr bietet es einen multiperspektivischen Einblick in politisch-theoretische Ansätze und internationale, interkulturelle Unrechtserfahrungen von Opfern. Durch die Einordnung von Reparationen in einen menschenrechtlichen Diskurs stellt sich die Frage nach den Sinnebenen des Rechts auf Reparationen: Gibt es einen menschenrechtlichen Sinn von Entschädigungen? Und wenn ja, worin liegt dieser? Dabei bedarf es zunächst einer begrifflichen Bestimmung von „Reparationen“ (Kap. II.) sowie einer Untersuchung der Leiderfahrungen in der Opferwerdung (Kap. III. 1.), ehe die Folgen des Opferseins eruiert werden können (Kap. III. 2. und 3.).

II. Begriffseinordnung von „Reparationen“ Unter dem Kurztitel „Reparations to victims“ beschreibt Artikel 75 des IStGHSt nicht nur selbiges Recht auf Reparationen für Opfer, sondern definiert an dieser Stelle auch den Terminus „Reparations“: „The Court may make an order directly against a convicted person specifying appropriate reparations to, or in respect of, victims, including restitution, compensation and rehabilitation.“1 Die adäquate 1

Art. 75 (2), IStGHSt.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Übersetzung des Begriffs ins Deutsche stößt auf unvorhergesehene Schwierigkeiten. Die offizielle deutsche Version des IStGHSt übersetzt in Art. 75 die „Reparations to Victims“ wie in der originalen englischen Fassung bzw. „Réparation en faveur des victimes“ in der originalen französischen unreflektiert mit „Wiedergutmachung für Opfer“.2 Das ist keineswegs selbstverständlich. Begriffe wie „Entschädigungen“ oder „Reparationen“ hätten mindestens genauso nahe gelegen. Die Verwendung des den betroffenen Personen am besten gerecht werdenden Begriffes ist hier auch keine rein wissenschaftliche Debatte. Sie reflektiert vielmehr bereits im sprachlichen Ansatz, welche Haltung ein Staat oder eine intergouvernementale Einrichtung wie der IStGH zu den Leiderfahrungen der Opfer einnimmt und ob sie deren Bedürfnissen gerecht zu werden vermag. Vor diesem Hintergrund erscheint die Verwendung des Begriffes „Wiedergutmachung“ für Handlungen und Leistungen, die Opfern von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen eine Form von Gerechtigkeit zusprechen sollen, in der deutschen Übersetzung des IStGHSt als missverständlich. Dabei handelt es sich um einen Euphemismus, der Erwartungen weckt, die mit Rücksicht auf die Leiderfahrungen der betroffenen Opfer niemals erfüllt werden können. „Wiedergutmachung“ suggeriert, dass das den Opfern zugefügte „Böse“, ihr erlittenes Leid, durch bestimmte Zahlungen bzw. Leistungen ungeschehen gemacht und damit der „gute“ ursprüngliche Zustand wiederhergestellt werden kann, der vor der Viktimisierung bestanden hat. Darin steckt zugleich die Erwartung, dass durch den Vorgang eine Aufarbeitung des Geschehens, das zu einer massenhaften Verletzung von Menschenrechten geführt hat, zu einem politischen und rechtlichen Abschluss gebracht wird, weil der Zustand vor der Verbrechensbegehung ja scheinbar wieder hergestellt sei. Das würde jedoch angesichts der Dimensionen der Verbrechen und Leiderfahrungen ein Trugschluss sein. Der Terminus der „Wiedergutmachung“ polarisiert leicht, „(d)enn die Auflösung des Rechts in Angst und Schrecken, die millionenfache Verfolgung und Vernichtung lassen sich nicht ungeschehen oder rückgängig und in diesem Sinne niemals ,wieder gut‘ machen.“3 Und hinzufügen ist, dass die Auseinandersetzung mit Völkerrechtsverbrechen und ihren massenhaften Viktimisierungen nicht qua „Wiedergutmachung“ administrativ oder rechtlich beendet werden kann. Die Verwendung des Begriffes hat allerdings in Deutschland eine lange historische Tradition. Normativ wurde die „Wiedergutmachung“ bereits im Versailler Vertrag im deutschen Sprachgebrauch im Sinne von Reparationen und Entschädigungsleistungen nach schweren Kriegsverbrechen verstanden. Zu Beginn des Teilabschnittes VIII über die „Wiedergutmachungen“ erkannten alle vertraglich beteiligten Regierungen gemeinsam mit Deutschland an, „daß Deutschland und seine 2 Deutscher Bundestag (2000), Drucksache 14/2682, in der offiziellen deutschen Übersetzung des IStGHSt wird „injury“ mit Nachteil übersetzt, „Reparations“ stets mit Wiedergutmachung. 3 Hockerts, H. G. (2001), Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945 – 2000, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49(2), S. 167 – 214, S. 167.

II. Begriffseinordnung von „Reparationen“

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Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind“, die die „alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen“ infolge des Angriffs durch Deutschland (und seiner Verbündeter) und des Krieges „erlitten haben“.4 Ein „Wiedergutmachungsausschuß“ wurde eingesetzt, um die Beträge der Schäden festzusetzen, „deren Wiedergutmachung Deutschland schuldet“. Im Vordergrund der „Wiedergutmachungsleistungen“ stand das Ziel der Wiederaufrichtung des „gewerblichen und wirtschaftlichen Lebens“ in den von deutschen Kriegsschäden betroffenen Staaten („Mächten“), vor der individuellen Entschädigung von „Zivilpersonen“. Das Erlittene von Zivilpersonen und Kriegsgefangenen wurde stark differenziert nach gesundheitlichen und materiellen Folgen. Der gesellschaftliche und politische Zeitgeist zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts spiegelt sich in einem männlichen Menschenbild wider, wenn etwa dem Ernährer der Familie eine besondere Opfereigenschaft zugesprochen wird. Von Bedeutung war schon damals wie bei jeder Form von Entschädigungsleistungen auch heute noch die Frage, wie der erlittene „Schaden“, oder weniger technisch ausgedrückt die menschliche Leiderfahrung, in einen materiellen Wert umgerechnet werden kann, welche Vergleichsgrößen oder Messwerte dazu herangezogen werden müssen, um zumindest dem Anspruch einer ausgleichenden Gerechtigkeit zu entsprechen. Der Versailler Vertrag empfahl insoweit zumindest in Bezug auf verwundete und getötete Soldaten und Kriegsgefangene, deren ausstehende Pensionen und Vergütungen als „kapitalisierten Wert“ für die Berechnung herzunehmen.5 Dies folgt dem konsequenten Verständnis von „Wiedergutmachung“ als einem materialisierten Ausdruck der deutschen Kriegsschuld in Schulden. Die begriffliche Verwendung blieb trotz des Euphemismus in der praktischen Umsetzung versachlicht. Diese Grunddefinition von „Wiedergutmachung“ im Versailler Vertrag unterschied sich vom Verständnis im Protokoll der Konferenz der Obersten Wiedergutmachungsbehörden von 1951, als die zuständigen Landesminister für Wiedergutmachung erklärten, dass die „Wiedergutmachung“ „eine rechtliche und moralische Verpflichtung des ganzen deutschen Volkes“ sei. Die Behördenvertreter beabsichtigen in diesem Beschluss allerdings nicht primär, Moral und Recht als die beiden Hauptquellen für Wiedergutmachungsverfahren zu definieren. Vielmehr wollten sie die Übernahme von Verantwortung des Bundes erreichen, die in der „angemessenen Verteilung der durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hervorgerufene Schäden auf die Schultern aller Leistungsfähigen besteht“.6 Dass im Begriff der „Wiedergutmachung“ eine moralische Komponente steckt, erklärte auch der Historiker Hans Günter Hockerts in seiner Untersuchung zum Sprachgebrauch von 4 Friedensvertrag von Versailles. 28. Juni 1919. Teil VIII, http://www.documentarchiv.de/ wr/vv.html (Stand 1. 9. 2020). 5 Ebenda. 6 Protokoll der obersten Wiedergutmachungsbehörden der BRD vom 24. 10. 1951, BayMF, E/190, zitiert in: Winstel, T. (2009), Verhandelte Gerechtigkeit: Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland. München: Oldenbourg Verlag, S. 65.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Widerstandskämpfern. Diese forderten schon früh „Wiedergutmachung“. Konnotiert war der Begriff weniger im Versailler Verständnis von materialisierten Schulden, sondern vielmehr als Gewissensappell, „Teilnahmslosigkeit zu überwinden“. „Wiedergutmachung“ implizierte für Widerstandskämpfer auch die Übernahme von moralischer und politischer Schuld.7 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der Begriff der „Wiedergutmachung“ nicht in Frage gestellt. Doch allein sein euphemistischer Klang hätte für Irritationen sorgen müssen: Wie wiedergutmachen, was nicht gut zu machen ist? „Wiedergutmachung“ offenbart ausschließlich eine Täterperspektive und blendet das Unrecht an den Opfern und deren Leiderfahrungen vollkommen aus. Im Unklaren lässt der Begriff auch die Frage nach der Herstellung von restaurativer Gerechtigkeit als dem eigentlich beabsichtigten Ziel von Entschädigungsleistungen. Lediglich das Präfix „wieder“ deutet darauf hin. Opfer der NS-Verbrechen benutzten die „Wiedergutmachung“ dennoch in ihrem Sprachgebrauch – beispielsweise jüdische Emigranten, die Entschädigung für enteignete Häuser und enteignetes Eigentum forderten.8 Der Historiker Tobias Winstel verweist auf den zwangsemigrierten und enteigneten Max W. aus London, der sich 1946 an das Finanzamt in Nürnberg wandte. Er hoffe, dass man ihm „Gerechtigkeit zukommen lassen“ und ihm wieder zu seinem Vermögen verhelfen werde, „um das an mir verübte Unrecht wieder gut zu machen“.9 In seiner Untersuchung über die Politik der „Wiedergutmachung“ für NS-Verfolgte erklärte der Historiker Constantin Goschler bezogen auf die unmittelbare Nachkriegszeit: „Im Begriff ,Wiedergutmachung‘ kristallisiert sich die auf deutscher Seite bestehende Erwartung auf einen irgendwann erfolgenden Abschluss wenigstens der materiellen Seite dieser Angelegenheit, womit in gewisser Weise auch ein Ende der Sühne verbunden sein würde.“10 Eruiert man die etymologische Bedeutung von „Wiedergutmachung“ liefert das Grimm’sche Wörterbuch Erläuterungen zur historischen Verwendungsweise. Darin findet sich auch ein Verständnis von Sühne. Demnach sei der Ausdruck „gutmachen“ seit Jahrhunderten in dem Verständnis von „ersetzen“, „bezahlen“ und „sühnen“ verwandt worden. Das Verb „sühnen“ deutet in der Begriffsdefinition bereits an, dass ein Selbstreinigungsakt des Verursachers eines Schadens durch die Wiedergutmachung verwirklicht wird. Sühnen hieß im Verständnis der Gebrüder Grimm „etwas zum guten wenden, wettmachen“.11 7

Hockerts (2001), S. 168. Goschler, C. (1992), Wiedergutmachung: Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945 – 1954). München: Walter de Gruyter, S. 25; Schwarz, W. (1962), Ein Baustein zur Geschichte der Wiedergutmachung, in: In zwei Welten: Siegfried Moses zum fünfundsiebzigsten Geburtstag. H. Tramer und S. Moses (Hg.), Tel Aviv: Verlag Bitaon, S. 218 – 231. 9 OFD/N, O5205B, 21. 07. 1946, zitiert in: Winstel (2009), S. 10. 10 Goschler, C. (2005), Schuld und Schulden: Die Politik der Wiedergutmachung für NSVerfolgte seit 1945. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 12. 11 Grimm, J./Grimm, W. (1971), Anerkennung. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode= Vernetzung&lemid=GG32748 - XGG32748 (Stand 1. 9. 2020). 8

II. Begriffseinordnung von „Reparationen“

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Das heutige Verständnis von „Wiedergutmachung“ hat die Perzeptionsphase des Sühnens längst überwunden. In seiner politischen Anwendung steht „Wiedergutmachung“ im Zeichen der in Zahlen gefassten „Erfolgsmeldungen“ über finanzielle Leistungen, die die deutsche Bundesregierung gegenüber Opfern getätigt hat.12 Deutsche Juristinnen und Juristen wenden den Begriff der „Wiedergutmachung“ hingegen in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch als Fachterminus an. Der feste Eingang in den juristischen Fachjargon zeigt sich daran, dass die deutsche Strafprozessordnung den Begriff der Wiedergutmachung nicht allein auf NS-Unrecht beschränkt und retrospektiv verwendet. § 153a StPO sieht für den Fall, dass keine öffentliche Klage erhoben und von einer Verfolgung abgesehen werden soll, „Wiedergutmachung“ vor, als eine Möglichkeit „des durch die Tat verursachten Schadens eine bestimmte Leistung zu bringen“.13 In jüngerer Rechtsprechung erklärte der Bundesgerichtshof in Ausführungen zu § 46a StGB die Möglichkeit die Strafe zu mildern, wenn der Täter das „Bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich) seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutgemacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt“ hat.14 Eine gänzlich andere Bedeutung wird dem Begriff der „Wiedergutmachung“ im Bereich des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zugeschrieben, wenn es um die unangemessene Dauer eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht geht. Erfolgt einem Beteiligten dadurch ein immaterieller Nachteil, kann eine Wiedergutmachung beispielsweise in Form der Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer durch das BVerfG oder in Form einer Entschuldigung ausgesprochen werden.15 Der Begriff der „Wiedergutmachung“ findet sich in zahlreichen Bereichen der Rechtsordnung, in denen er unabhängig vom nationalsozialistischen Unrecht mit anderen, durchaus unterschiedlichen Bedeutungen versehen wird. In der juristischen Fachsprache wird die „Wiedergutmachung“ daher allgemein und unabhängig von der jeweiligen Gerichtsbarkeit verwendet und muss dadurch je nach Rechtsgebiet und Norm verschieden verstanden werden. „Wiedergutmachung“ wird daher im deutschen Sprachgebrauch trotz aller berechtigten Gegenargumente nicht zu entfernen sein. Winstel verweist daher zu Recht darauf, dass etwa eine neu angestoßene Diskussion um den Begriff unter Historikern und Historikerinnen heute keinen Sinn machen würde – spätestens seit der Begriff Eingang in das geschriebene Recht und die deutsche Rechtsprechung gefunden hat.16 12 Bundesministerium der Finanzen (2019), Kalendarium zur Wiedergutmachung von NSUnrecht. Berlin, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschue ren_Bestellservice/Kalendarium-Entschaedigung-von-NS-Unrecht.pdf;jsessionid=B58CF9B2 8D73A31E6A7B0EDC5568EFB5.delivery1-master?__blob=publicationFile&v=5. (Stand 1. 9. 2020). 13 § 153a StPO. 14 BGH, Beschluss vom 10. April 2018 – 4 StR 65/18, juris. 15 BVerfGG § 97a Rn. 40, https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata/komm/MauSch mKleBetKoBVerfGG_52/BVerfGG/cont/MauSchmKleBetKoBVerfGG.BVerfGG.p97a.glIII. gl8.glb.htm (Stand 1. 9. 2020). 16 Winstel (2009), S. 351.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Diese Empfehlung sollte aber ausschließlich für die begriffliche Verwendung für Opfer des ersten und insbesondere des zweiten Weltkriegs gelten. Von einer automatisch verpflichtenden Anwendbarkeit auf internationale Massenverbrechen und Entschädigungsansprüche von Opfern in heutiger Zeit ist dagegen abzusehen. Es gibt schließlich keine Verpflichtung zu einer begrifflichen Kontinuität. Wie eine Gesellschaft mit Opfern und ihren Leiderfahrungen umgeht, äußert sich auch in den Begrifflichkeiten, die sie für diesen Umgang verwendet. Denn bereits diese bahnen schließlich den Weg für die innerstaatliche Befriedung und die Schaffung von Gerechtigkeit. Bezeichnungen, die Opfer schwerster Straftaten und ihre Leiderfahrungen betreffen, sind deshalb mit politischer Sorgfalt zu wählen. Zu Bedenken gilt es auch, dass es eine adäquate Übersetzung des deutschen Begriffes der „Wiedergutmachung“, weder in Englisch noch in Französisch gibt. Auch aus diesem Grund ist der Begriff in aktuellen internationalen Verbrechenszusammenhängen schwerster internationaler Straftaten zu vermeiden. Der Ausdruck „Wiedergutmachung“ hat sich historisch selbst überholt und sein Euphemismus missachtet die Leiderfahrungen von tausenden Opfern. Der Staat Israel hatte bereits im deutsch-israelischen Abkommen von 1952 den Ausdruck „Wiedergutmachung“ vermieden und stattdessen das neutrale hebräische Wort „Shilumim“ gewählt, das in seiner wörtlichen Bedeutung nur Zahlung hieß und keine sonstigen Leistungen wie Versöhnung oder Vergebung beschrieb. Die Begriffswahl war notwendig geworden, nachdem der englische Ausdruck „Reparation“ nicht seitens des neuen Staates Israels angewandt werden konnte, weil dieser zuvor keine territoriale Verfasstheit hatte.17 Im Englischen wird inzwischen wie in Artikel 75 IStGHSt überwiegend der Begriff der „reparations“ aus dem juristischen Fachjargon verwandt, wenn es um Entschädigungsleistungen für Opfer internationaler Straftaten geht. Auch der deutsche Begriff „Reparationen“ kann mit Blick auf seinen lateinischen Wortursprung „reparare“ kritisiert werden.18 Ein solches Verständnis von „Wiederherstellen“ lässt allerdings die euphemistische Konnotation des „wieder Gutmachens“ außen vor. Pablo de Greiff, der erste UN Sonderberichterstatter für Truth, Justice, Reparations and Guarantees of Non-Recurrence, stellte die These auf, dass der Begriff Reparationen auf zwei unterschiedliche Arten die Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen adressiert – einmal mit einem breiteren und zum anderen mit einem engeren Gerechtigkeitsbezug. Die erste Verwendung steht im Kontext der verschiedenen Reparationsformen, die das internationale Recht kennt und die ebenfalls in Art. 75 enthalten sind: Restitution, Entschädigung, Rehabilitation und Genugtuung bzw. Garantien der Nichtwiederholung von Leiderfahrungen. All diese Reparationsformen streben nach Gerechtigkeit für Opfer, sei es durch Wahrheitsermittlung, strafrechtliche Verfahren oder andere Vorgehen. Im zweiten 17 Frohn, A. (1991), Introduction: The Origins of Shilumim, in: Holocaust and Shilumim, The Policy of Wiedergutmachung in the Early 1950 s. Frohn, A. (Hg.), Washington: German Historical Institute, S. 1 – 6. 18 Baier, T. (1918), reparo. Der Neue Georges. Ausführliches Handwörterbuch: Lateinisch – Deutsch, Band I – Z. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 4133.

II. Begriffseinordnung von „Reparationen“

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Verwendungskontext konkreter Reparationsprogramme ist die Gerechtigkeitskomponente weitaus weniger relevant, sobald es zu den eigentlichen Implementierungsfragen kommt. Im Vordergrund des Interesses steht dann die Verteilung von Leistungen an Opfer.19 Freilich ist zu Bedenken, dass auch die alternativ mögliche Verwendung des Ausdrucks „Reparationen“ den Dimensionen von Leiderfahrungen nicht gerecht werden kann. Jede Sprache kommt bei der unglaublichen Anzahl an Opfern von Kriegen und bewaffneten Konflikten an ihre Grenzen, nicht nur die deutsche. Alle sprachlichen Alternativen sind daher als mangelhaft einzustufen, auch der Ausdruck des Entschädigens. Das Grimm’sche Wörterbuch erklärt, dass es beim Entschädigen darum geht „einem den schaden (zu) vergüten, ersetzen“. Entschädigen ist im Vergleich zur „Wiedergutmachung“ der verbreitetere Ausdruck, folgt an seinen Wortstamm doch eine ganze Reihe an Begrifflichkeiten, die neue und verwandte Wörter schaffen, wie Entschädigungsbetrag, Entschädigungsforderung, Entschädigungspflicht, Entschädigungsgelder.20 In der Entschädigung steckt der Begriff des Schadens, der im Kontext von finanziellen Leistungen nach verurteilten Straftaten bereits bei der Feststellung des erlittenen Unrechts und Leids relevant ist und besonders im juristischen Fachjargon verwendet wird. Ein Schaden ist allgemein formuliert ein Nachteil, der durch Zerstörung, Minderung oder Verlust an materiellen oder immateriellen Gütern entsteht. Dabei handelt es sich im Bereich des Schadensbegriffes stets um unfreiwillige Einbußen an geschützten Rechtsgütern.21 Die Pönalisierung der Schadensverursachung wird durch die unterschiedlichen Straftatbestände sichergestellt.22 Es kann zwischen Schäden an Individualrechtsgütern, d. h. Rechtsgütern, die man einer bestimmten Person zuschreiben kann, und Universalrechtsgütern unterschieden werden.23 Der juristische und versicherungstechnische Begriff des Schadens findet ein humanes Synonym im Begriff des Leids. Leiderfahrungen umschreiben die einzelnen physischen, psychischen, materiellen oder sonstigen Beeinträchtigungen in Folge von Straftaten. Der Ausdruck kann bereits als wertend empfunden werden und im Zusammenhang internationaler Strafverfahren daher der notwendigen Unschuldsvermutung eines Angeklagten widersprechen. Positiv betrachtet, ist ein Schaden sachlich neutral, während hingegen die Leiderfahrung tendenziell die subjektive Perspektive von Opfern wieder gibt. Die Begriffe des Schadens und 19

De Greiff, P. (2006), Justice and reparations, in: The Handbook of Reparations. De Greiff, P. (Hg.), Oxford: Oxford University Press, S. 451 – 477, S. 452 f. 20 Grimm, J./Grimm, W. (1971), Entschädigen Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mo de=Vernetzung&lemid=GE05434 - XGE05434 (Stand 1. 9. 2020). 21 Juraforum. Schaden, https://www.juraforum.de/lexikon/schaden (Stand 1. 9. 2020). 22 Im StGB erfolgt dies im Rahmen der Strafzumessung (§ 46), der Strafaussetzung (§ 56) und der Bewährungszeit (§ 59a), wenn Schaden u. a. als tatbestandsmäßiger Erfolg definiert wird, siehe BeckOk StGB/von Heintschel-Heinegg, StGB § 46 Rn. 52. 23 Juraforum. Schaden, https://www.juraforum.de/lexikon/schaden (Stand 1. 9. 2020).

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Entschädigens sind daher im Kontext internationaler Strafverfahren nicht abzulehnen. In dieser Arbeit wird an den verschiedenen Stellen zwischen den einzelnen hier diskutierten Begrifflichkeiten variiert werden. Überwiegend soll jedoch wie im Titel der Arbeit der Ausdruck Reparation(en) verwendet werden, weil sich dieser eng an die englische und französische Version anlehnt und eine weitgehende Einheitlichkeit mit diesen offiziellen Sprachen des Gerichtshofs herzustellen vermag. Zudem handelt es sich bei Reparationen um den übergeordneten Sammelbegriff, der einzelnen Reparationsmaßnahmen, wie finanzielle Entschädigung, Rehabilitation oder andere, umfasst. Die Interdisziplinarität dieser Forschungsarbeit erfordert es allerdings an einigen Stellen den juristisch korrekten deutschen Fachterminus der „Wiedergutmachung“ zu benutzen und zwar immer dann, wenn auf bestimmte gleichlautende Formulierungen in entsprechenden Normen verwiesen wird. Gleiches gilt auch für den Straftatbestand der „crimes against humanity“. In der Strafnorm des Art. 7, des Völkerstrafgesetzbuchs werden diese als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet.24 Dieser juristische Terminus technicus wird in dieser Arbeit allerdings nur verwandt, soweit tatsächlich auf die entsprechende Norm verwiesen wird. Denn diese Wortwahl im deutschen Rechtskontext überzeugt nicht, sobald man die amtliche deutschsprachige Übersetzung des Römischen Statuts betrachtet. In der Präambel appelliert die internationale Staatengemeinschaft hier an das „Gewissen der Menschheit“ (conscience of humanity) und nicht der Menschlichkeit.25 Schon allein daran lässt sich zeigen, dass die deutsche Übersetzung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht stringent durchdacht, sondern unzutreffend ist. Schon bei der Übersetzung des Londoner Statuts vom 8. August 1945, das Grundlage des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg war, ist der Fehler entstanden. Artikel 6 beschrieb die Straftatbestände und durch die nähere Auflistung von „inhumane acts“ der „Crimes against humanity“ war das Adjektiv richtigerweise mit unmenschlich übersetzt und die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geboren.26 Sie stellt angesichts des massenhaft erlittenen Leids der Opfer eine unzulässige Verharmlosung dar. Nie wurde diese deutsche Übersetzung besser kritisiert als von Hannah Arendt, die sie im Epilog von „Eichmann in Jerusalem“ schlicht als „das Understatement des Jahrhunderts“ bezeichnete.27 Die Arbeit folgt deshalb terminologisch der interdisziplinären Diskussion um die richtige Übersetzung der „Ver24

Artikel 7, Völkerstrafgesetzbuch. Siehe Amtliche Übersetzung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, Präambel. In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erklärte die Staatengemeinschaft von 1948, dass die Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt habe, die das Gewissen der Menschheit („conscience of mankind“) empört habe, siehe United Nations (1948), UN Universal Declaration of Human Rights (hier kurz: UDHR). 26 Londoner Statut des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg, 8. August 1945, Artikel 6 (c), Aroneanu, E. (1947), Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Baden-Baden: Schröder-Verlag. 27 Arendt, H. (2008), Eichmann in Jerusalem. München: Piper, S. 399. 25

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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brechen gegen die Menschlichkeit“ als „Verbrechen gegen die Menschheit“, wie von Rainer Huhle und anderen gefordert, dies aber immer nur dann, wenn es explizit nicht um die korrekte Wiedergabe der Norm im Völkerstrafgesetzbuch geht.28 Die Verwendung von Sprache und einzelnen Begrifflichkeiten ist besonders im Umgang mit Menschenrechtsverbrechen wichtig, um erneute Diskriminierungen von betroffenen Menschen zu vermeiden. Deshalb wird in der folgenden Forschungsarbeit auch angestrebt, eine geschlechtergerechte Sprache zu verwenden, welche die empirische Wirklichkeit möglichst treffend wiedergeben soll. Sitzen in einer Kammer nur männliche Richter, wird nur von „Richtern“ gesprochen. Gibt es in einem Verfahren einen männlichen Angeklagten heißt es im Text selbstverständlich der „Angeklagte“. Liegen hingegen Aussagen von männlichen und weiblichen Zeugen und Zeuginnen vor, wird dies sprachlich ebenso berücksichtigt. Das generische Maskulinum wird nicht ganz zu vermeiden sein.29

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen 1. Opferwerdung: Durch menschenrechtliche Unrechtserfahrungen zum Opfer Opfer von Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen und Völkermord haben Leid und Unrecht erfahren, das ihnen von anderen Menschen zugefügt wurde. Der originäre Ausgangspunkt für die Entstehung des Menschenrechts auf Reparationen liegt in dieser unmittelbar gemachten Unrechtserfahrungen von Menschen. Der Ansatz des Philosophen, Johannes Schwartländer, dass Menschenrechte eine Antwort auf öffentlich artikulierte Erfahrungen strukturellen Unrechts sind30, entwickelte Heiner Bielefeldt weiter, wenn er folgert, dass Menschenrechte als „historisch-politische Antworten auf strukturelles Unrecht konsequenterweise historisch unabgeschlossen“ bleiben.31 Die historische Unabgeschlossenheit zeigt sich in Bezug auf die Opferrechte beispielsweise auch in der völkerstrafrechtlichen Evolution der Gerichtshöfe. Obgleich die internationalen Strafgerichtshöfe, angefangen beim Internationalen Militärtribunal von Nürnberg bis zum heutigen permanenten Strafgerichtshof selbst als institutionelle „Antworten“ auf Menschheitsverbrechen betrachtet werden können, dominierte bis in die neunziger Jahre des letzten Jahr28

Huhle, R. (2009), Vom schwierigen Umgang mit „Verbrechen gegen die Menschheit“ in Nürnberg und danach, https://www.menschenrechte.org/wp-content/uploads/2009/10/Crimes_ against_humanity_nuernberg.pdf (Stand 1. 9. 2020). 29 Stahlberg, D./Sczesny, S. (2001), Effekte des generischen Maskulinums und alternativer Sprachformen auf den gedanklichen Einbezug von Frauen, in: Psychologische Rundschau 52(3), S. 131 – 140. 30 Schwartländer, J. et al. (1978), Menschenrechte: Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung. Tübingen: Attempto Verlag. 31 Bielefeldt, H. (2011), Auslaufmodell Menschenwürde? Freiburg: Herder, S. 106.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

hunderts der Täterfokus und das Ziel, weitere Menschenrechtsverletzungen aufgrund von Straflosigkeit zu verhindern. Die Rechte von Opfern schwerster Menschheitsverbrechen waren weder am Internationalen Militärtribunal in Nürnberg 1945, noch knapp fünfzig Jahre später an den Ad-hoc Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda verankert. Erst mit der Entstehung des IStGHSt entwickelte die Staatengemeinschaft die Opferrechte im Bereich der internationalen Strafgerichtsbarkeit weiter. Die institutionelle Antwort auf Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Form der Strafgerichtshöfe wurde damit um eine den Opfern eigenständige Rechte zubilligende Antwort normativ ergänzt. Die Überlegungen zum Recht auf Reparationen bei erlittenen Unrechtserfahrungen anzusetzen ist evident. Es bräuchte keine Entschädigungen, wenn die Menschen keine Unrechtserfahrungen gemacht hätten; oder, um in der Begrifflichkeit des Entschädigens zu bleiben: Schäden erlitten hätten. „Schäden“ ist bezeichnenderweise auch die im deutschen wie im internationalen Strafrecht verbriefte juristische Ausdrucksweise zur Messung der erlittenen Unrechtserfahrungen. Durch die erfahrenen Schäden werden Menschen erst unverschuldet in die Opferrolle gebracht. Die Unrechtserfahrung konstituiert somit die hauptsächliche Opfereigenschaft. Den Ausgangspunkt des Rechts auf Reparationen in der Unrechtserfahrung zu betrachten, birgt somit in sich schon einen menschenrechtlichen Ansatz. a) Die Leiderfahrung der Opferwerdung Wie aus der Unrechtserfahrung eine Opferwerdung resultiert, verdeutlichen die Werke des Schriftstellers und NS-Überlebenden Jean Améry. In verschiedenen Essays erörtert Améry seine persönlichen Foltererfahrungen in der NS-Zeit als zentrale Ursache seiner eigenen Opferwerdung. Als Zeitzeuge berichtet Améry nicht nur über die Erfahrungen als Überlebender, sondern plädiert auch für einen bestimmten Umgang mit diesen. Es geht ihm um nichts weniger als die „Wesensbeschreibung der Opferexistenz“.32 Améry verfasste seine Essays zu einem Zeitpunkt als mit der „Kollektivschuldthese“ die Angst verbreitet wurde, alle Deutschen würden einheitlich für schuldig an den NS-Verbrechen erklärt werden.33 Dies führte zu einer gewissen Umkehr in der Opferlogik, wonach „die Deutschen“ sich selbst zu Opfern der Siegermächte zu stilisieren bemühten oder um es überspitzt mit Améry zu formulieren, versuchten den Holocaust zu einer Art „geschichtlicher Betriebsunfall“34 erklären zu lassen. „Was mir anliegt, das ist die subjektive Beschreibung des Opfers“, 32 Améry, J. (1977), Vorwort zur zweiten Auflage, in: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Améry, J. (Hg.), Stuttgart: Klett-Cotta, S. 102 – 129, S. 16. 33 Frei, N. (1997), Von deutscher Erfindungskraft oder: die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: Rechtshistorisches Journal (16), S. 621 – 634. 34 Améry, J. (1977), Ressentiments, in: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Améry, J. (Hg.), Stuttgart: Klett-Cotta, S. 102 – 129, S. 126.

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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erklärt Améry.35 Dies hebt ihn von anderen zeitgenössischen Philosophen und Theoretikern wie Theodor W. Adorno oder Hannah Arendt ab. Jene konzentrieren sich ebenso wie Karl Jaspers auf die Täter- und Schuldperspektive, die in den frühen 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die öffentliche Debatte in Deutschland zum Umgang mit der eigenen Vergangenheit dominierte. Die phänomenologischen Werke des Gefolterten, des Opfers, Améry ermöglichen es, Ansätze zu erarbeiten, welche die Opferwerdung als Folge der Unrechtserfahrung analysieren lassen. Sie können als Ausdruck unmittelbarer Opfererfahrungen in besonderem Maße zu einem menschenrechtlichen Diskurs des Rechts auf Reparationen beitragen. Die erste Unrechtserfahrung durch das NS-Regime machte Améry, als er die „Nürnberger Gesetze“ im Jahr 1935 gelesen hatte: „Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den durchaus die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht […].“36 Améry wird stigmatisiert und als Jude erstmals von der Gemeinschaft durch Gesetze ausgegrenzt. In Amérys Elternhaus in Wien war zuvor weder die jüdische Religion noch Kultur gelebt worden, eine eigene Identität aufgrund der Religionszugehörigkeit kannte er nicht. Unter dem NS-Regime erfuhr Améry jedoch eine dreifache „Opferwerdung“, die er aufgrund seiner jüdischen Herkunft, später als Widerstandskämpfer und schließlich als Gefolterter machte. Er wird so zum „Naziopfer“37 schwerster Menschenrechtsverbrechen, wie er sich selbst bezeichnete. Améry identifizierte sich aufgrund der durchlebten Unrechtserfahrungen mit dem Begriff des „Opfers“. In seinem Aufsatz „Die Tortur“ nimmt Améry die Leser_innen mit an den belgischen Ort Breendonk, der im Dritten Reich als Folterzentrum genutzt wurde: „Dort geschah es mir: die Tortur.“38 Durch die verkürzte Umschreibung mit dem Personalpronomen „es“ gibt Améry der Folter einen eigenen Charakter und entpersonalisiert sie zugleich, was durch die gewählte Passivform noch verstärkt wird. Das Phänomen der Folter wird so zum unpersönlichen Objekt, genauso wie der Gefolterte zum Objekt der Folter degradiert wurde. Améry analysierte die erlittene Folterung auf politischer, sprachlicher und psychischer Ebene. Améry emigrierte nach Belgien, wo er 1943 festgenommen wurde, weil er als Widerstandskämpfer Handzettel verteilt hatte, um SS-Soldaten von der Politik des Nationalsozialismus als der „Herrschaft des Gegenmenschen“39 zu überzeugen. Eben diese sogenannten „Gegenmenschen“, seinem bewusst gewählten Anti-Begriff zu Mitmenschen, brachten Améry an den Folterort Breendonk. Dort wurde er an den Armen aufgehängt und mit Peitschenhieben geschlagen, um Hintermänner und Informationen zum Verteilen der Flugblätter preiszugeben. Angesichts der verschiedenen Arten von Foltermethoden 35 36 37 38 39

Ebenda, S. 104. Améry (1977a), S. 134. Améry (1977c), S. 102. Améry, J. (1965), Die Tortur, in: Merkur (19), S. 623 – 638. Ebenda, S. 631.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

relativiert Améry sogleich seine eigenen physischen Foltererfahrungen: „Was mir dort zustieß, war vergleichsweise gutartig, und es hat keine auffälligen Narben an meinem Körper zurückgelassen.“40 So muss erlittenes Unrecht auch in gravierendsten Verbrechen – wie der Folter – nicht immer körperlich sichtbar sein, vielmehr sind es gerade die traumatischen Erlebnisse und deren psychische Folgen, die bleiben, die Améry als seelische Spuren anspricht. Améry schlussfolgert, die Tortur sei „das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.“41 Er definiert Folter als „die Grenzverletzung meines Ichs durch den Anderen, die weder durch Hilfserwartung neutralisiert noch durch Gegenwehr begradigt werden kann.“42 Améry stellt daher konsequenterweise seine eigene Entpersonalisierung durch diese Unrechtserfahrung fest: „Ich aber war kein Ich mehr und lebte nicht in einem Wir.“43 Aber erst durch das Erleben von Unrechtserfahrungen in einer Gemeinschaft wird der Einzelne, von ihr betroffene Mensch, zum Opfer in der Gemeinschaft von Menschen. Den Verlust der Heimat, des Heimatgefühls und des Sich-Heimisch-Fühlens macht Améry daher zum zentralen Schaden: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“44 Améry beschreibt genau das, was die Philosophin Carolin Emcke als den „zivilisatorischen Bruch eines Unrechts“ bezeichnet. Das Opfer erleidet immer eine doppelte Opferwerdung: in der Beziehung zu sich selbst und in der Beziehung zur Außenwelt.45 Wer die Folgen von Opferwerdungen nach schweren Menschenrechtsverbrechen untersucht, trifft auf diese zwei parallelen Ebenen. Diese spiegeln sich auch im weiteren Werk von Améry wider. Intensiv setzte er sich mit den Folgen der massiven Opfererfahrungen auseinander, wie den immateriellen, individuellen und schwer messbaren Schäden. Mit jedem Schlag, den ein Mensch ertragen muss, büßt er etwas ein „[…] was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen.“46 Das Weltvertrauen ist verbunden durch den gegenseitigen menschlichen Respekt „auf Grund von geschriebenen und ungeschriebenen Sozialkontrakten“ gegenüber der physischen und metaphysischen Unversehrtheit.47 Dieses ungeschriebene soziale Band zwischen zwei Menschen ist bereits dann zerstört, sobald körperliche Gewalt erfahren wird. Wenn ein Mensch einen anderen foltert, ist der Sozialkontrakt zwischen diesen beiden nicht wiederherstellbar. Während der Folter bleibt dem Ge40

Ebenda, S. 624. Ebenda, S. 624. 42 Ebenda, S. 633. 43 Améry, J. (1977), Wieviel Heimat braucht der Mensch?, in: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Améry, J. (Hg.), Stuttgart: Klett-Cotta, S. 74 – 101, S. 77. 44 Améry, J. (1965), S. 638. 45 Emcke, C. (2013), Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, S. 14 f. 46 Améry (1965), S. 628. 47 Ebenda, S. 628. 41

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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folterten die natürliche eigene Reaktion von Gegenwehr, aber insbesondere die Hilfserwartung von außen, verwehrt. Das Opfer erfährt einerseits das Unrecht und zugleich, dass es allein gelassen wurde. Die Aufhebung der zwischenmenschlichen Sozialkontrakte führt zu einer Erschütterung des urinstinktiven Weltvertrauens des Individuums und zum Verlust der Anerkennung in der Gemeinschaft. Aber auch nach Beendigung der Unrechtserfahrung fühlt sich Améry nicht wieder als Teil dieser Gemeinschaft. Zwar räumt er ein, nicht mehr in einer vergleichbaren Form allein zu sein wie zu der Zeit als er der Folter der SS-Soldaten, der Täter und „Gegenmenschen“, ausgesetzt war, sondern sieht sich nun ausgegrenzt durch die Opfererfahrung inmitten von „Neben-Menschen“.48 Die in diesen Schilderungen Amérys zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen Formen von Opferwerdungen werden in der psychologischen Fachliteratur stets nach „primären Viktimisierungen“ unterschieden, die direkt infolge der Tat entstanden sind. Diese können materieller, physischer oder psychischer Art sein und sich auf Schädigungen des sozialen Umfeldes des Opfers beziehen. Eine „sekundäre Viktimisierung“ kann dagegen entstehen, wenn das Opfer nach der unmittelbaren Opferwerdung keine helfende und verständnisvolle Reaktion durch seine Umwelt – in erster Linie von offiziellen Behörden und Institutionen – erfährt.49 Ein Phänomen, das nahezu automatisch in einem Atemzug mit der Viktimisierung nach schweren Menschenrechtsverbrechen genannt wird, ist das Trauma. Diese Form von Traumata entsteht als Folge von menschengemachten, unfreiwilligen Gewalterfahrungen. Sie setzen sich zusammen aus bestimmten Gefühlen (Scham, Schuld, etc.), charakteristischen Verhaltensweisen (Aussage, Rache, Schweigen, etc.) und unterschiedlichen Verarbeitungsreaktionen (Auseinandersetzung, Abwehr, etc.).50 Gerade in Letzterem, den verschiedenen Bewältigungsmechanismen, finden sich kulturspezifische Unterschiede der Opferwerdungen, während die Gefühle und charakteristischen Verhaltensweisen nach gleichen Opfererfahrungen oftmals kulturübergreifend sehr ähnlich beschrieben werden. Das Schweigen als Reaktion nach sexueller Gewalt oder Folter ist ein solches Beispiel. Folter und Vertreibung durch das Khmer-Rouge-Regime in Kambodscha hatte auch der kambodschanische Filmemacher, Rithy Panh, überlebt, während seine komplette Familie umgekommen war. Seine eigene Opferwerdung beschreibend, sagte Panh: „Ich mag das überstrapazierte Wort ,Trauma‘ nicht. Heutzutage hat jeder sein großes oder kleines Trauma – jedes Individuum und jede Familie. Bei mir ist es unendliche Trauer;

48 Neben-Menschen sind diejenigen Nachbarn, Kollegen, Freunde und Bekannte, die selbst keine Opfererfahrung gemacht haben, aber von den Verbrechen wussten, siehe Améry (1997a), S. 149. 49 Hartmann, J. (2010), Qualifizierte Unterstützung von Menschen, die Opfer von Strafbzw. Gewalttaten wurden. Opferhilfe als professionalisiertes Handlungsfeld Sozialer Arbeit, in: Perspektiven professioneller Opferhilfe. Hartmann, J. (Hg.), Wiesbaden: Springer, S. 9 – 36, S. 16. 50 Kühner, A. (2007), Kollektive Traumata. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 85.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Bilder, die sich eingebrannt haben, Gesten, die unmöglich geworden sind, ein Schweigen, das mich verfolgt.“51 Als Trauma wird ein Gefühl „of intense fear, helplessness, loss of control, and threat of annihilation“ bezeichnet.52 Der Umgang mit einem traumatischen Ereignis kann individuell sehr unterschiedlich sein und gar entgegengesetzte Reaktionen hervorrufen. Die amerikanische Psychiaterin Judith Herman nennt dies die „Dialektik des Traumas“, die sich aus dem Wunsch ergibt, einerseits das Erlebte abzuleugnen und andererseits, es laut auszusprechen. Bruchstückhaftes und lückenreiches Erzählen von Opfern kann eine Folge des Kompromisses dieser dialektischen Pole sein.53 In einer Vielzahl von Fallstudien wurden die Symptome der Traumata von Holocaust-Überlebenden aus medizinisch-psychologischer Sicht untersucht. Herbert Bower, ein Psychiater, der selbst wegen des NS-Regimes von Wien nach Australien emigriert war, wertete die psychiatrischen Syndrome von 200 Opfern aus. Die Opfergruppe war nach dem Alter des Zeitpunkts ihrer Opfererfahrung zweigeteilt: in 100 Kinder unter 16 Jahren und 100 Erwachsene über 20 Jahre. Alle 200 Opfer hatten im Zeitraum von September 1939 bis Mai 1945 mehrfache Verfolgungen durch das NS-Regime erfahren. 80 % der Opfer waren in einem Ghetto oder einem Konzentrationslager gewesen und hatten nahezu alle mindestens einen oder mehrere nahe Angehörige verloren. Als Folge hatten die Opfer körperliche wie psychische Schäden erlitten. Fünf Kernsyndrome stellte Bower fest: Depressionen, Ängstlichkeit, Schlaflosigkeit, intellektuelle Beeinträchtigungen und Kontaktschwierigkeiten. Im Hauptergebnis diagnostizierte Bower das sogenannte „Concentration Camp Syndrom“, das durch die ständig präsente Todesbedrohung entsteht und zu einer permanenten Persönlichkeitsveränderung führt. Menschen, die eine derartige Opfererfahrung gemacht haben, werden nie mehr so leben können wie zuvor. Der Status quo ante ist bei derartigen Opfererfahrungen nicht wiederherstellbar.54 Als eines der auffälligsten Symptome bei Überlebenden des Holocaust wurde die „Überlebensschuld“ eingestuft. Menschen, die eine Opferwerdung überlebt hatten, fühlten sich schuldig für ihr eigenes Überleben, während nahe Angehörige getötet worden waren. Zugleich sind sie diejenigen, die über die Vernichtung sprechen und Zeugnis ablegen können, ohne selbst umgekommen zu sein. Mit dem Erinnern erfolgt ein strukturelles Dilemma der eigenen Opferwerdung, das sich im subjektiven 51 Panh, R. (2013), Auslöschung: ein Überlebender der Roten Khmer berichtet. Hamburg: Hoffmann und Campe, S. 10. 52 NJC, A. (1985), Posttraumatic Stress Disorder: the Stressor Criterion, in: Comprehensive Textbook of Psychiatry. S. B. Kaplan HI (Hg.), Baltimore: Williams and Wilkins, S. 918 – 924, zitiert in: Herman, J. L. (2015), Trauma and Recovery. New York: Hachette UK, S. 33. 53 Herman, J. (1993), Die Narben der Gewalt. München: Kindler, S. 9. 54 Bower, H. (1994), The Concentration Camp Syndrome, in: Australian & New Zealand Journal of Psychiatry 28(3), S. 391 – 397.

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Empfinden der „Überlebensschuld“ äußert.55 Die Holocaust-Überlebende und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger klassifizierte Opfer des Holocaust daher stets in Opfer, die in den Konzentrationslagern umgekommen sind und Opfer, die in KZs inhaftiert waren und überlebt haben. Ein Leben lang müssten die überlebenden Opfer nicht nur mit dem eigenen erlittenen Unrecht leben, sondern auch mit der selbstauferlegten „Schuld“ überlebt zu haben. Klüger sagte ihre eigene Überlebensschuld stamme davon, „[…] daß mir die Toten zu schaffen machten, weil ich am Leben war.“56 Wie viele andere Holocaust-Überlebende gelangte auch Klüger zu der Erkenntnis, dass es nur dem Zufall zu verdanken sei, wenn ein Opfer, wie sie selbst, überlebt hat: „Fast jeder Überlebende hat seinen ,Zufall‘, das Besondere, Spezifische, das ihn oder sie unvermutet am Leben erhalten hat.“57 Klüger ist einem breiteren Publikum in Deutschland durch ihren autobiographischen Zeitzeugenbericht und ihre Rede im Deutschen Bundestag anlässlich des Holocaust Gedenktages im Januar 2016 bekannt geworden. 1931 geboren, erlebte Klüger bereits als Kind Verfolgung und Diskriminierung aufgrund des zunehmenden Antisemitismus. Ihr Vater und ihr Bruder waren im Holocaust umgekommen, Klüger und ihre Mutter wurden in die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen, deportiert und mussten Zwangsarbeit verrichten. In ihrer Autobiographie macht sie unter gleichnamigen Titel ihr eigenes „weiter leben“ aus der Opferperspektive zum Hauptthema.58 Klügers Publikationen können als eine Gegenreaktion im Vergleich zu Améry gelesen werden, weil es ihr gelungen ist, ganz anders mit den Folgen ihrer Opferwerdung im Holocaust umzugehen. Dies hat auch mit ihrer Persönlichkeit zu tun. Klüger hatte ihre erlittenen Leiderfahrungen im Holocaust stets mit den Diskriminierungen als Frau verknüpfte: „Die Frau als Opfer, der Jude als Frau.“59 Zwei Sätze später ergänzt sie: „Ich werde oft gerügt, weil ich über Diskriminierung gegen Juden und gegen Frauen in einem Atemzug rede, aber so hab ich’s erlebt.“60 Immer wieder thematisiert Klüger die eintätowierte KZ-Nummer in ihrem Arm. Sie wird schließlich zum Symbol für den Status des Holocaust-Opfers. Die KZNummer steht für die Sichtbarkeit der Opferwerdung eines Völkermordes. Die Befreiung aus diesem Opferstatus erfolgte für Ruth Klüger erst mit dem Entfernen der KZ-Nummer im hohen Alter. Im Laufe ihres Lebens war die Nummer von ihrem Umfeld häufig als „Symbol der Erniedrigung“ angesehen worden. Sie selbst betrachtete die Nummer hingegen als das genaue Gegenteil, nämlich als ein „Symbol 55 Zöchmeister, M. (2015), Vom Leben danach-über Schwierigkeiten des Erinnerns und Vergessens, in: Psychologie und Gesellschaftskritik 39(4), S. 61 – 75, S. 64 – 69. 56 Klüger, R. (1992), weiter leben: Eine Jugend. Göttingen: Wallstein, S. 243. 57 Ebenda, S. 133. 58 Ebenda. Ruth Klüger beschreibt ihr Werk „weiter leben“ selbst als „politisches Erinnerungsbuch“, siehe Klüger, R. (2008), unterwegs verloren: Erinnerungen. Wien: Zsolnay, S. 213. 59 Ebenda, S. 156. 60 Ebenda, S. 156.

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der Lebensfähigkeit“: „(D)enn als ich nicht mehr mich und meinen Namen verleugnen mußte, da gehörte es mit zur Befreiung, die Auschwitznummer nicht verdecken zu müssen.“61 Keine „Stunde Null“ löschte nach dem Zweiten Weltkrieg die Opfererfahrungen der Überlebenden aus. Direkt nach dem Kriegsende war die KZNummer zunächst nur den sogenannten „Eingeweihten“ bekannt, den Tätern und Opfern und deren engsten Angehörigen. Klüger verfolgte nie das Ziel, wie ein „Mahnmal“ herumzulaufen, was ihr später von einem älteren Juden vorgeworfen worden war.62 Sie trug die KZ-Nummer auch nicht bis ins hohe Alter, um im Sinne eines bildungspolitischen Ansatzes, über die NS-Verbrechen aufzuklären, sondern „(…) für meinen eigenen Erinnerungshaushalt.“63 Obwohl sie die Nummer nie als Provokation empfunden hatte oder als Entblößung, entschied sie sich schließlich doch ihr „Kriegsüberbleibsel“ in mehreren Sitzungen weglasern zulassen und realisierte, dass die Nummer „Provokation“ und „Entblößung“ hervorgerufen hatte. Ruth Klüger sagt, sie sei als Trägerin der KZ-Nummer längst selbst zum lebenden Opfersymbol geworden.64 Die teuren Kosten der Laserbehandlung zur Entfernung der KZ-Nummer musste Klüger selbst tragen. Eine Krankenkasse kam nicht dafür auf, schließlich handelt es sich um „einen kosmetischen Eingriff“. Verärgert bemerkt sie, dass „ich nicht einmal (…) meine sogenannte Wiedergutmachung, eine richtige lebenslängliche Pension, eingereicht hatte.“65 Ruth Klüger und Jean Améry erzählen von ihren Opferwerdungen aus dem Standpunkt der individuellen Opfer, die beide den Holocaust überlebt haben und damit zu „Überlebenden“ werden. Sie sind nur zwei von zahlreichen Menschen, die Opfer geworden sind und später ihre Lebensgeschichte und Opferwerdungen veröffentlicht haben. Mit seiner schriftlichen Berichterstattung dokumentiert Améry seine erlittenen Schäden. Während er die physischen Schäden selbst relativiert, sind seine psychischen und emotionalen Schäden evident. Améry nahm sich 1978 das Leben – möglicherweise als Folge seiner Opfererfahrungen. Der Opferstatus wurde bei Jean Améry zur eigenen Identität, von dieser Vermutung geht auch Thomas Brudholm in seiner Untersuchung zur Vergebung bei Améry aus, wenn er sagt „[…] it seems that his identity as a former Nazi victim had become the defining feature of his existence.“66 Wiedergutmachung im Nachkriegsdeutschland zu beantragen, hatte Améry strikt abgelehnt.67 Auch Klüger hatte nie Entschädigungen von dem deut-

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Klüger (1992a), S. 235. Ebenda, S. 235. 63 Klüger (2008b), S. 16. 64 Ebenda, S. 26 – 27. 65 Ebenda, S. 14. 66 Brudholm, T. (2008), Resentment’s virtue. Jean Améry and the Refusal to Forgive. Philadelphia: Temple University Press, S. 3. 67 Wolf, S. (2012), in: Zeitschrift zum Verständnis des Judentum 51 (203,3), S. 172 – 182, S. 174. 62

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schen Staat erhalten, diese aber auch nie beantragt.68 Ihre Werke zeugen insgesamt jedoch von einer komplett anderen Bewältigung des erlittenen Leids durch das NSRegime. „Wie geht ein Opfer mit den erlittenen Schäden um“, fragte sich Klüger selbst. „Ich wollte ja [auch], daß das Leben weitergehe, wollte nicht, wie Lots Frau, in der Rückschau auf die Totenstadt versteinern.“69 Reparationen können dazu beitragen, dass das Leben von Opfern weitergeht, in dem der Prozess ihrer Opferwerdungen und die Folgen ihres Opferseins anerkannt werden. Dass physische Folternarben von Opfern wie Améry und Klüger durch Reparationsleistungen medizinisch behandelt werden könnten, mag man ohne weiteres nachvollziehen. Bei den vielfältigen psychischen Schäden oder gar dem Concentration Camp Syndrom ist eine Behandlung hingegen herausfordernder. Aber wie sollen Empfindungen wie die von Améry beschriebene „Verlust des Weltvertrauens“ oder das „Sich-Nicht-Heimisch-Fühlen“ „entschädigt“ werden können? Reparationen sind in der juristischen Fachsprache vor allem ein Messwert, der die erlittenen Schäden zu dokumentieren und auszugleichen sucht. Dies setzt voraus, dass die Schäden festgestellt worden sind. Der Prozess des Entschädigens umfasst daher im ersten Schritt das Sichtbarmachen der Opfererfahrungen. Hierzu müssen die einzelnen Schäden als Folgen der Opferwerdungen durch Unrechtserfahrungen öffentlich benannt und die Opfer – Überlebende wie Ermordete – erfasst werden. Der Prozess der Anerkennung der Opferwerdung ist daher zwangsläufig auch ein Verwaltungsakt – das Feststellen der Fakten und das Aufklären der Sachverhalte. Eine Gemeinsamkeit von Opfern, Überlebenden wie Toten, besteht darin, dass sie zu Zeugen und Zeuginnen ihrer eigenen Opferwerdungen geworden sind. Während die ermordeten Opfer nur noch mit ihrem Leichnam Zeugnis ablegen, haben Überlebende die Chance zur aktiven Zeugenschaft über ihre eigene unmittelbare Opferwerdung und gegebenenfalls auch über die Opferwerdung der Getöteten. Opfer des Verbrechens des Verschwindenlassens bilden dann noch einmal eine eigene Kategorie der Opferwerdungen, denn sie können weder persönlich noch durch ihre Überreste Zeugnis abgeben. Von einer aktiven Zeugenschaft kann dann gesprochen werden, wenn sich die Opfer freiwillig zur Aussage entscheiden. Die Freiwilligkeit zur Zeugenaussage ist an dieser Stelle besonders wichtig, schließlich haben Menschen in der Opferwerdung erfahren, dass sie keine Entscheidungsfreiheit hatten und der menschengemachten Gewalt unfreiwillig ausgesetzt waren. In der Zeugenschaft liegt das Potential, die Opferwerdung öffentlich zu dokumentieren und ihre Sichtbarkeit zu garantieren. Das Recht auf Reparationen enthält das Mandat, die Zeugenschaft von Opfern sichtbar zu machen.

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Opfer- bzw. Verletztenrechte gelten in der deutschen Strafprozessordnung grundsätzlich als „Antragsrechte“. D. h. sie werden weder automatisch gewährt, noch gibt es umgekehrt eine Verpflichtung sie wahrzunehmen, siehe BeckOK StPO/Weiner, § 395, Rn. 5. 69 Klüger (1992a), S. 213.

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b) Mandat der Zeugenschaft Auch die Frage der Zeugenschaft70 von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen ist wie bei jeder anderen Form von Zeugenschaft stets eine Auseinandersetzung mit den Fragen, wer kann ein Zeugnis worüber ablegen, welchen Wahrheitsgehalt hat dieses Zeugnis, und wie glaubwürdig ist die Zeugin oder der Zeuge. Die verschiedenen Fachdisziplinen vertreten unterschiedliche Ansichten über Zeugnisgegenstände und Subjekte.71 Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann unterscheidet vier Grundtypen von Opferzeugen und -zeuginnen nach der Art ihrer Zeugenschaft: der juridische Zeuge, der historische Zeuge, der moralische Zeuge und der religiöse Zeuge.72 Wie sich im Folgenden zeigen wird, gibt es vielfältige Überschneidungen und Berührungspunkte zwischen diesen Zeugentypen. Die Erklärung des „religiösen Zeugen“ geht auf die griechische Übersetzung des Wortes Zeuge als „martys“ zurück. Der Märtyrer ist selbst Opfer, kann aber kein weltliches und rechtliches Zeugnis mehr ablegen, sondern nimmt dieses mit in den Tod.73 Dadurch unterscheidet sich der „religiöse Zeuge“ schon maßgeblich von den anderen Formen der Zeugenschaft. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist die Tatsache, dass seine Aussagen nur überliefert sind. Der Quellen- und zugleich auch Wahrheitsgehalt ist dadurch auch ein anderer. Für das Recht auf Reparationen spielt die Zeugenschaft des „religiösen Zeugen“ daher keine Rolle. Hingegen beschreibt der „moralische Zeuge“ eine neu entstandene Form der Zeugenschaft des 20. Jahrhunderts.74 Im Konzept des „moralischen Zeugen“ kombinierte der israelische Philosoph Avishai Margalit den juridischen und die historischen Zeugen. Schließlich ist der moralische Zeuge eine Person, die selbst schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfahren hat und so zum Augenzeugen der eigenen Opferwerdung wurde. Sein Zeugnis kann deshalb der juristischen Beweiswürdigung dienen. Autorität verleiht dem moralischen Zeugen allein seine Befähigung, die erlebten Leiderfahrungen beschreiben zu können. Die Leiderfahrung schwächt die Position nicht etwa, sondern räumt ihm Autorität ein. Der moralische Zeuge unterscheidet sich von dem juridischen darin, dass er nicht nur über die Fakten der Viktimisierung aussagen kann, sondern auch über die moralische Dimension des Geschehenen. Diesem Punkt räumt Margalits Ansatz eine große Bedeutung ein, denn „(t)he moral witness plays a special role in 70 Der wissenschaftliche Diskurs um die Zeugenschaft wird interdisziplinär geführt. Die angelsächsischen Ansätze zu Testimony diskutiert Sibylle Schmidt in Verbindung mit poststrukturalistischen Theorien, siehe: Schmidt, S. (2015), Ethik und Episteme der Zeugenschaft. Konstanz: Konstanz University Press. 71 Schlie, H./Drews, W. (2011), Zeugnis und Zeugenschaft. München: Wilhelm Fink. 72 Assmann, A. (2008), Vier Grundtypen von Zeugenschaft. Berlin: Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uplo ads/Handlungsfelder/Auseinandersetzung_mit_der_Geschichte_01/Bildungsarbeit-mit-Zeugnis sen/Publ_Zeugen_und_Zeugnisse_Endfassung.pdf (Stand 1. 9. 2020). 73 Ebenda. 74 Ebenda.

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uncovering the evil he or she encounters.“75 Aber auch hier gibt es Überschneidungen zum juridischen und zum historischen Zeugen, da sich die moralische Dimension der Schilderungen auf die Strafzumessungen des Einzeltäters auswirken kann. Deutschsprachig wird der „moralische Zeuge“ nur selten als Opfer, sondern meist als Überlebender bezeichnet. Margalit sieht ein Opferkollektiv in der ethischen Gemeinschaft begründet, wonach alle ihre Mitglieder eine gemeinsame Opfererfahrung in der Vergangenheit teilen. Das gemeinsame Erlebnis verbindet die Menschen mit Opfererfahrung und führt nach Margalit zu einer „Ethik der Erinnerung“.76 Der individuelle „moralische Zeuge“ wird so zu einem „Erinnerungsträger“, der dazu beiträgt, dass den Opfern als Menschen gedacht wird.77 „What we expect from a moral witness is an elucidation of the dark and sinister character of human sacrifice and of the torture and humiliation inflicted by evil regimes.“78 Die Aufklärung ist das Ziel des „moralischen Zeugen“. Sein Auftrag besteht nicht darin, eine historische, sondern eine ethische Wahrheit zu überliefern.79 Dieses Konzept des moralischen Opferzeugen spiegelt sich in einer Studie von Eric Stover. Er befragte 87 Zeuginnen und Zeugen, die vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ausgesagt hatten, nach der Motivation ihrer Aussagebereitschaft. Die Mehrheit der interviewten Personen gab an, dass es ihre „moral duty“ sei, vor Gericht auszusagen. Diese moralische Verpflichtung begründet sich überwiegend aus der Überlebensschuld aufgrund der Ermordungen naher Angehöriger und der Auseinandersetzung mit der eigenen Opfererfahrung. Andere wollten dagegen den Angeklagten und mutmaßlichen Tätern und Täterinnen ins Gesicht sehen, die Wahrheit erzählen oder dazu beitragen, dass die Gewaltspirale durch die juristische Strafverfolgung auf dem Gebiet des zerfallenen Jugoslawiens gestoppt werden könnte.80 Der „historische Zeuge“ überwindet mit seiner Aussage die Distanz zwischen dem Tatort der Gewalterfahrungen und dem Erlebten. Seit dem Holocaust sind es die sogenannten Zeitzeugen und Zeuginnen, die historisches Zeugnis ablegen. Der Zeitzeuge ist mehr als ein Augen- oder Tatsachenzeuge.81 Er berichtet auch, welches Unrecht er auf welche Weise erlebt hat und steht dadurch mit der „eigenen Person für eine vermeintlich unmittelbare, quasi-authentische Vergegenwärtigung der jüngsten 75

Margalit (2002), The Ethics of Memory. Cambridge. Harvard University Press, S. 165. Margalit (2002), S. 6. 77 Schmidt (2015), S. 109. 78 Margalit (2002), S. 170. 79 Schmidt (2015), S. 111. 80 Stover, E. (2005), The Witnesses: War Crimes and the Promise of Justice in The Hague. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, S. 72 – 76. 81 Eine gute Differenzierung zwischen einer Augen- und einer Zeitzeugin nimmt Martin Sabrow vor, siehe Sabrow, M. (2012), Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen den Welten, in: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Sabrow, M./Frei, N. (Hg.), Göttingen: Wallstein Verlag, S. 13 – 32. 76

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Vergangenheit ein.“82 Der historische Zeuge oder Zeitzeuge bietet mit seiner Aussage eine authentische Quellenlage. Diese Authentizität räumt den Zeitzeuginnen und Zeugen auch eine gewisse gesellschaftspolitische Macht ein. Sie mobilisierten etwa eine Art „Gegendarstellung“ von unten und initiierten in Deutschland die Vergangenheitsbewältigung mit dem totalitären NS-Regime ab den siebziger, spätestens den achtziger Jahren. Die Zeugenschaft der historischen Zeuginnen und Zeugen ist, wie der Historiker Martin Sabrow treffend folgerte, zur „master narrative“ unserer Zeit geworden.83 Der Faktor „Zeit“ ist der wichtigste bei dieser Form der Zeugenschaft, wie schon der Neologismus „Zeitzeuge“ selbst anklingen lässt. Die persönliche Bedeutung ist auf die eigene Lebenszeit begrenzt. Die dokumentierte Aussage der Zeugenschaft hat jedoch einen nahezu zeitlosen Wert. Von einem „Ende der Ära der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen“ kann daher nie gesprochen werden.84 Zeitzeuginnen und -zeugen sind mit wenigen Ausnahmen immer selbst Opfer von Menschenrechtsverbrechen gewesen. Nur wenige Täter wurden zu Zeitzeugen und -zeuginnen ohne selbst eine Opferwerdung erfahren zu haben. Bleibt man bei den NS-Verbrechen, wäre hier Albert Speer zu nennen. Zumindest die Veröffentlichungen seiner „Erinnerungen“85 aus dem Spandauer Gefängnis heraus ließen ihn für einige Jahrzehnte zum Zeitzeugen werden. Heute werden seine Memoiren rückblickend freilich ganz anders rezipiert. Der kritische Speer-Biograph, Magnus Brechtken, dekonstruiert das Bild des „guten Nazis“, das sich Speer in seinen „Erinnerungen“ selbst verpasst hatte, durch eine detaillierte Quellenanalyse.86 Selbst die lügnerische Selbstdarstellung von Speer, besonders aber natürlich wahrund glaubhafte Zeugenschaft von Zeitzeugen sind von gesellschaftspolitischer Relevanz, jedoch nicht automatisch gerichtsverwertbar. Darin unterscheidet sich die Zeitzeugenschaft wesentlich von den juridischen Zeuginnen und Zeugen. Der „juridische Zeuge“ spielte in der rechtshistorischen Entwicklung sowohl bei Zivil- als auch bei Strafprozessen eine Rolle. Bereits im römischen Recht wurde eine Unterscheidung von Opfern als Zeugen vorgenommen. Der „testis oculatus“ oder „immediatus“, der Zeuge, welcher die Taten selbst beobachtet hat, oder kurz Augenzeuge, stand dem „testis auritus“ bzw. „mediatus“, kurz „Zeugen vom Hörensagen“ gegenüber.87 Dabei wurde den Augenzeugen eine größere Bedeutung eingeräumt. Augenzeuginnen und -zeugen haben eine andere Wahrnehmungsebene des Erlebten, die Auswirkungen auf die Beweiskraft hat. Jacques Derrida folgt diesem 82 Karla, A. (2011), Zeugen der Zeitgeschichte, in: Politik der Zeugenschaft: zur Kritik einer Wissenspraxis. S. Schmidt, Krämer, Sybille, Voges, Ramon (Hg.), Bielefeld: transcript, S. 225 – 242, S. 226. 83 Sabrow (2012), S. 13 – 32. 84 Welzer, H. (2012), Vom Zeit- zum Zukunftszeugen, in: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Sabrow, M./Frei, N. (Hg.), Wallstein Verlag, S. 33 – 48, S. 35. 85 Speer, A. (1969), Erinnerungen. Frankfurt am Main: Ullstein Verlag. 86 Brechtken, M. (2017), Albert Speer: eine deutsche Karriere. München: Siedler Verlag. 87 Ritter, J. et al. (1971), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel: Schwabe, zitiert in: Schmidt (2015), S. 84.

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Ansatz, dass die gewonnen Erkenntnisse eines Opferzeugen eng mit der Wahrnehmung dieser Person verbunden seien.88 Zu juridischen Zeuginnen oder Zeugen werden Opfer durch die Anhörung vor einem Gericht. Ohne offizielle Institutionen, wie Gerichte, kann ein Opfer keine rechtmäßige Aussage machen und zur juridischen Zeugin oder zum juridischen Zeugen werden. Der Wahrheitsgehalt der Aussage und die Glaubwürdigkeit der Person werden bei der juridischen Zeugin und dem juridischen Zeugen durch ein faires und rechtmäßiges Gerichtsverfahren verifiziert. Glaubwürdigkeit ist wesentlich für die Anerkennung von Opfern der bezeugten Taten durch die gerichtliche Feststellung. Aus der großen Masse nach schwersten Menschenrechtsverbrechen können nicht alle Opfer zu individuellen juridischen Zeuginnen und Zeugen werden. Juridische Zeuginnen und Zeugen übernehmen mit der Aussage daher auch automatisch eine moralische Verantwortung für andere zu sprechen. Sie werden damit oftmals zu moralischen Zeuginnen und Zeugen. Zugleich werden sie zu historischen Zeugen, wenn sie für sich im Strafprozess aussagen. Durch juridische Zeuginnen und Zeugen ist eine Verurteilung der Täter möglich. Sie sind es, welche die Straflosigkeit für schwerste Menschenrechtsverbrechen verhindern. Der juridische Zeuge ist daher ein Verantwortungssubjekt und darf nicht auf die Aussage als reine Erkenntnisquelle reduziert werden. Dass die Zeugenschaft der juridischen Opferzeuginnen und -zeugen zur Anerkennung des Rechts auf Reparationen führen kann, ist daher nur konsequent. Offen bleibt dann die Frage, was aus der großen Anzahl an nicht erfassten Opferzeuginnen und -zeugen wird, die auch eine Zeugenschaft erfahren haben. Die juridischen Opferzeuginnen und -zeugen werden vor Gerichten und Wahrheitskommissionen sichtbar, hinter ihnen steht bei Makroverbrechen jedoch eine unsichtbare Anzahl an weiteren Opfern.89 Bei jeder Diskussion über das Recht auf Reparationen müssen diese unsichtbaren Opferzeuginnen und -zeugen mitberücksichtigt werden. Die Typologie der Zeugenschaft von Aleida Assmann veranschaulicht, dass Opferzeuginnen und Zeugen entweder rein als Wissens- und Erkenntnisquelle betrachtet werden können, oder als aktiv handelnde Subjekte mit moralischer Verantwortung. Dieser viergeteilte Ansatz zur Zeugenschaft könnte um das Konzept der „medikalisierten Zeugenschaft“ ergänzt werden. So bezeichnete der Politikwissenschaftler José Brunner Opferzeuginnen und -zeugen, die sich als Überlebende stark mit ihrer erlittenen Traumatisierung identifizieren. Ihre Zeugenschaft liegt nicht in der Vergangenheit, sondern wird durch die Traumatisierung ständig in der Gegenwart durchlebt. „Medikalisierte Zeuginnen und Zeugen“ verkörpern den ihnen zugefügten Schmerz. Dieser Schmerz ist meist psychischer Art und daher nicht direkt sichtbar, sondern nur symptomatisch. Dem „medikalisierten Zeugen“ wird aufgrund 88 Derrida, J. (2000), A self-unsealing poetic text: poetics and politics of Witnessing, in: Revenge of the Aesthetic. M. P. Clark (Hg.), Berkeley: University of California Press, S. 180 – 207. 89 Fleckstein, A. (2011), Nothing but the Truth, in: Politik der Zeugenschaft: zur Kritik einer Wissenspraxis. Schmidt, S. et al. (Hg.), Bielefeld: transcript, S. 311 – 330, S. 314.

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der Traumatisierung eine hohe Authentizität eingeräumt. Problematisch bei dieser Form der Zeugenschaft ist jedoch der entstandene Tunnelblick und die Gefahr, eine Medikalisierung automatisch auf ganze Gruppen zu übertragen, ohne dass individuelle Opfererfahrungen nachgewiesen werden müssen.90 Eine andere Typologie von Zeugenschaft entwickelte der amerikanische Psychoanalytiker und Holocaust-Überlebende Dori Laub. Zu Zeuginnen und Zeugen von Gewalterfahrungen können Menschen durch direkte und unmittelbare, aber auch indirekte Opfererfahrungen werden. Laub differenziert zwischen drei verschiedenen Umständen, unter welchen ein Mensch zur Zeugin oder zum Zeugen schwerster Menschheitsverbrechen werden kann. Unmittelbare Zeuginnen und Zeugen sind diejenigen, welche selbst die Opfererfahrung gemacht haben. Zu zweiten Zeuginnen und Zeugen werden diejenigen, welche die Zeugenaussagen von Menschen mit unmittelbarer Opfererfahrung anhören und dritte Zeuginnen und Zeugen sind die, die den Prozess des Bezeugens miterlebt haben.91 Überträgt man diese Unterscheidung auf ein gerichtliches Verfahren, wäre der oder die erste Zeugin, die direkte Opferzeugin. Zu zweiten Zeuginnen werden beteiligte Prozessakteure und -akteurinnen, wie Ermittlerinnen und Ermittler, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte oder Richterinnen und Richter. Die dritten Zeuginnen und Zeugen stellen die Prozesszuschauerinnen und -zuschauer in Form der internationalen Öffentlichkeit dar.92 Zweite Zeuginnen und Zeugen sichern die Glaubwürdigkeit der ersten Opferzeuginnen und -zeugen durch den Akt des Verfahrens. Ihnen obliegt die Aufgabe der Wahrheitsfindung. Denn dort wo sich die Aussagen der ersten unmittelbaren Opferzeuginnen und -zeugen dem Gehörten und Überprüften der Zweiten annähern, kann die Wahrheit festgestellt werden. „Wahrheit“ ist zugleich das Hauptelement, wonach Dori Laub einen Opferzeugen bzw. eine Opferzeugin charakterisiert: „A witness is a witness to the truth of what happened during an event.“93 In den Aussagen eines Menschen, der eine Opferwerdung erfahren hat, liegt somit eine gewisse Selbstverpflichtung zur Wahrheit. Und diese Wahrheit ist aus der Sicht des Opfers die einzige Wahrheit, die über ihre unmenschlichen Erfahrungen berichtet. Die Zeugenschaft verhindert, dass die Wahrheit von Verbrechen verschüttet wird. An der Wahrheitsfindung haben nicht nur die unmittelbaren, ersten und die zweiten ein Interesse, sondern auch die beobachtenden dritten Zeuginnen und Zeugen. Schließlich sind Berichte und Beschreibungen der Opfererfahrungen für die ver-

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Brunner, J. (2012), Medikalisierte Zeugenschaft, in: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Sabrow, M./Frei, N. (Hg.), Göttingen: Wallstein Verlag, S. 93 – 110. 91 Laub, D. (1992), An event Without a Witness: Truth, Testimony and Survival, in: Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History. Felman, S./Laub, D. (Hg.), New York/London: Taylor & Francis, S. 75 – 92, S. 75. 92 Carolin Emckes fortgesetzte Bezeichnung für Laubs ersten Zeugen als „Innen-Zeugen“ und zweiten Zeugen als „Außen-Zeugen“ wirft ein starkes Schwarz-Weiß-Bild von Zeugenschaft auf, siehe Emcke (2013), S. 79. 93 Laub (1992), S. 80.

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schiedenen Aufarbeitungsformen notwendig, um in einem ersten Schritt von dem kompletten Ausmaß des Unrechts zu erfahren. Keine der drei Laub’schen Zeugengruppierungen ist in sich homogen. Die unmittelbaren Opferzeuginnen und -zeugen unterscheiden sich aufgrund der verschiedenen Opferwerdungen und ihres Umgangs damit. Am ehesten ist noch die Gruppe der professionellen, zweiten Zeuginnen und Zeugen als homogen zu bezeichnen. Sie werden berufsbedingt zu zweiten Zeuginnen und Zeugen, die keine unmittelbaren Opferwerdungen erfahren haben. Die Zweiten übernehmen freiwillig und bewusst die Rolle der Zeugenschaft. Derrida fordert, dass diese zweite Zeugengruppe selbst in der Lage sein muss, Zeugnis ablegen zu können und zwar „before their consciences or before others, to what they have attended, to what they have been present at, to what they have happened to be in the presence of the witness in the witness box.“94 Betroffenheit und Interesse sind die Gradmesser für die dritte Zeugengruppe, die daher in sich am wenigsten homogen und definierbar sind. Zu passiven dritten Zeuginnen und Zeugen werden Einzelne ohne weiteres Zutun schon allein deshalb, weil sie in derselben zeitgeschichtlichen Gegenwart leben wie Menschen, die gerade eine Opfererfahrung machen müssen. Aus den unterschiedlichsten Gründen kann die allgemeine Öffentlichkeit jedoch zu aktiven Zeuginnen und Zeugen schwerster Unrechtserfahrungen werden. Renée Arons erfuhr eine Zeugenschaft, weil sie das Frankfurter Auschwitzverfahren beobachtete. Arons’ Erlebnisbericht verdeutlicht exemplarisch, dass die Zeugenschaft bei Völkermord und schweren Menschenrechtsverbrechen nicht nur aus den individuellen Erfahrungen unmittelbarer Opfer entsteht, sondern auch durch Dritte. Nachdem sie einen vollen Verhandlungstag am 20. März 1964 erlebt hatte, begründete sie ihre freiwillige Zeugenschaft so: „Wenn ich den Anspruch erhebe, ein Mensch zu sein, muß mich dieser Prozeß interessieren. Und wenn ich ein Deutscher bin, ganz besonders.“95 Dies ist natürlich eine hohe selbstauferlegte moralische Verpflichtung, die nicht von ganzen Gesellschaften in der Auseinandersetzung mit schweren Menschenrechtsverbrechen erwartet werden kann. Eine der Herausforderungen der Zeugenschaft besteht schließlich in dem Umgang mit dem Gehörten und Gesehenen. Der Zeugenschaft können daher zwei Mandate zugeschrieben werden. Als erstes und offensichtliches Mandat obliegt ihr das des Zeugnisablegens; und als zweites, das Mandat des Umgangs mit dem Zeugnis. Die individuellen Verarbeitungsmechanismen der zweiten Zeugengruppe und vor allem der unmittelbaren Opferzeuginnen und –zeugen sind natürlich anders als die einer dritten Zeugin wie Renée Arons. Bezogen auf alle Anwesenden im Gerichtssaal fragte sie sich im selben Tagebucheintrag „Wie ist es eigentlich möglich, solche Monstrositäten zu sehen, davon zu hören, ohne wahnsinnig zu werden?“ Auf sich 94

Derrida (2002), S. 200. Arons, R., Das Ganze ist ungeheuerlich, Freitag, 20. März 1964, https://www.fritz-bauerarchiv.de/genocidium/auschwitz-vor-gericht (Stand 1. 9. 2020). 95

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selbst bezogen stellte die Prozessbeobachterin Arons fest, dass ihre Form der Zeugenschaft nicht dazu geführt hat, wahnsinnig oder verzweifelt geworden zu sein. So fügt sie relativ nüchtern in Klammern an: „Und morgen fahre ich zu Verwandten auf Konfirmation und stopfe mich mit Kuchen voll.“96 Deutlicher könnte nicht ausgedrückt werden, dass für dritte Zeuginnen, die keine Opferwerdung erfahren haben, das Leben und der Alltag nach schweren Menschenrechtsverbrechen ohne erlittene Schäden weitergeht. Ein Anspruch auf Entschädigung der gehörten „Monstrositäten“ besteht nicht, wenn sie wie von Arons freiwillig angehört werden. Nur diejenige Zeugenschaft kann zu Reparationen führen, die direkt oder indirekt selbst eine Opferwerdung beschreibt und unfreiwillig erfolgt ist. Aus Laubs „dritter“, aber auch „zweiter“ Form von Zeugenschaft kann also kein Reparationsanspruch abgeleitet werden. Sie spielt jedoch dann eine Rolle, wenn es um die öffentliche Aufmerksamkeit in Bezug auf Unrechtserfahrungen geht. Diese muss idealerweise in einer Unterstützung für ein Strafverfahren und Reparationsforderungen von Opfern münden und eine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung einleiten. Hannah Arendt personifiziert alle drei Laub’schen Zeugentypen zum Zeitpunkt als Prozessbeobachterin des Eichmann-Verfahrens in Jerusalem 1961. Sie war aufgrund der NS-Herrschaft gezwungen zu emigrieren und hatte so selbst eine Opferwerdung erfahren. Als Journalistin war sie offiziell zur Prozessbeobachtung zum Verfahren nach Israel gereist und nahm somit eine professionelle Zeugenschaft ein. Zugleich dokumentierte sie für die Nachwelt ihre eigene Sicht auf das Verfahren. Trotz dieser Personalunion lehnte Hannah Arendt unmittelbare Opfer erstaunlicherweise sehr deutlich als Zeuginnen und Zeugen vor Gericht hauptsächlich aus dem Grund ab, weil sie ihnen eine politische Agenda als Motiv unterstellte. Besonders die Zeitdistanz, die zwischen der Zeugenaussage eines unmittelbaren Opfers und dem erlebten Unrecht liegt, empfand Arendt als problematisch.97 In der Zwischenzeit habe der Opferzeuge durch Hörensagen oder andere Informationsaufnahme bereits Details und Wissen verinnerlicht, die über das unmittelbar Erlebte hinausgehen würden, so ihr Argument. Arendt hatte im Eichmann-Prozess auch kritisch beobachtet, dass die von der Staatsanwaltschaft aufgerufenen Zeugen oftmals bekannte Verfasser von Memoiren über die NS-Verbrechen waren und keinen direkten Bezug zum Angeklagten vorweisen konnten. Derartige prominente Opferzeugen wurden von der Staatsanwaltschaft freilich nur aufgerufen, um ein gewisses Medienecho zu erzeugen.98 Gerade hierdurch sei aber zum ersten Mal in der Geschichte die Bedeutung von Opferzeugen in einem internationalen Strafverfahren 96

Ebenda. Lediglich von Zindel Grynszpan, dem Vater von Herschel Grynzspan, der ebenfalls als Zeuge aufgerufen wurde, zeigte sich Hannah Arendt beeindruckt, siehe Arendt (2008a), S. 341. 98 Arendt (2008a), S. 336 – 343. Oberstaatsanwalt Gideon Hausner wollte im EichmannVerfahren „die Herzen der Menschen ansprechen“, siehe Hausner, G. (1966), Justice in Jerusalem: the trial of Adolf Eichmann. New York: Nelson, zitiert in: Michaelis, A. (2011), Die Autorität und Authentizität der Zeugnisse von Überlebenden, in: Politik der Zeugenschaft. Schmidt, S. et al. (Hg.), Bielefeld: transcript, S. 264 – 285, S. 271. 97

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gestiegen und der Holocaust durch Einzelaussagen personalisiert worden, argumentiert die israelische Historikerin Hanna Yablonka für diese exponierte Form der Zeugenschaft im Eichmann-Verfahren.99 Arendt stellte mit ihrer Kritik an der Zeugenschaft hingegen die Ursprünglichkeit einer Aussage und die Aussagekraft von unmittelbaren Opferzeuginnen und -zeugen grundsätzlich in Frage. Sie lässt damit die Bedeutung der juridischen unmittelbaren Zeugenschaft für die gerichtliche Feststellung der Taten und die Verurteilung der Täter außer Acht. Konsequenterweise bestimmt sie dann eigene Kriterien für einen qualifizierten Zeugen: dieser müsse eine rechtschaffene Person sein, eine reine Seele haben und ein unreflektiertes unschuldiges Herz und klaren Verstand. Arendts Kriterien sind als Anforderungen an eine Zeugenaussage zu verstehen. Nur ein aufrichtiger und ehrlicher Zeuge ist in der Lage eine glaubwürdige und wahre Aussage zu machen.100 So richtig das im Ansatz sein mag, so wesentlich ist aber für die Wahrheitsfindung im Strafverfahren eine objektive Analyse der jeweiligen Aussagen. Die Zeugenaussagen von überlebenden Einzel-Opfern schwerer Menschenrechtsverbrechen bieten einen Einblick in die individuellen Opfererfahrungen und informieren zugleich über die Opferwerdungen ganzer Gruppen, wie die Aussage von Rivka Yoselewska im Eichmann-Verfahren exemplarisch demonstrierte. Die Zeugin hatte einen Überfall deutscher Soldaten überlebt bei dem fünfhundert jüdische Familien ihrer Heimatstadt Powost ermordet worden waren. Vor dem Jerusalemer Gericht schilderte Yoselewska 1961 detailliert die ihr widerfahrenen Erlebnisse. Von der Opferzeugin wird Yoselewska so zur juridischen bzw. Prozesszeugin. Grausamste und unmenschliche Behandlungen hatte die Zeugin bereits erlitten, als sie schließlich vor einer offenen Grube stehend mitansehen musste, wie ihre Eltern, Großmutter, Schwestern und Tante erschossen wurden, ehe ihr die eigene Tochter entrissen und ebenfalls vor ihren Augen hingerichtet wurde. Die Zeugin selbst überlebte ihre eigene Erschießung mit einer schweren Kopfverletzung und befreite sich aus der Grube, die mit Leichen, darunter ihren unmittelbaren Angehörigen, gefüllt war. Dazu während des Eichmann-Prozesses befragt, sagte sie folgendes: „When I saw they were gone I dragged myself over to the grave and wanted to jump in: I thought the grave would open up and let me fall inside alive. I envied everyone for who it was already over, while I was still alive. Where should I go? What should I do? Blood was spouting. Nowadays, when I pass a water fountain I can still see the blood spouting from the grave. The earth rose and heaved. I sat there on the grave and tried to dig my way in with my hands. I continued digging as hard as I could. The earth didn’t open up. I shouted to Mother and Father, why I was left alive. What did I do to deserve this. Where shall I go? To whom can

99

Yablonka, H. (2012), Zeugenaussagen im Prozess gegen Adolf Eichmann, in: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Sabrow, M./Frei, N. (Hg.), Göttingen: Wallstein Verlag, S. 176 – 198. 100 Arendt (2008a), S. 336 – 343.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“ I turn? I have nobody. I saw everything; I saw everybody killed. No one answered. I remained sprawled on the grave three days and three nights.“101

Zur Zeugenschaft schwerster Menschenrechtsverbrechen muss es gehören, dass Opfer von ihrem Leiden in allen Einzelheiten berichten dürfen. Zweite und dritte Zeugen haben umgekehrt keinen Anspruch darauf von den Erfahrungsberichten verschont zu werden. Entschädigungsverfahren bieten den wichtigsten Rahmen für die Zeugenschaft von Opfern. In der Zeugenschaft von Rivka Yoselewska wurden auch die Folgeerscheinungen der Unrechtserfahrungen sichtbar. Am offensichtlichsten ist die Traumatisierung, die sich in jedem einzelnen Wort ihrer Aussage widerspiegelt. Informationen über die Folgen der Opferwerdungen sind insbesondere für die Bemessung von Reparationen relevant, wenn eine Gerichtskammer beispielsweise Entschädigungsanordnungen zu verhandeln hat. Yoselewska auf ihre Traumatisierung zu reduzieren, würde jedoch ihrer Rolle als unmittelbare juridische Zeugin nicht gerecht werden und sie gar als „medikalisierte Zeugin“ stigmatisieren. Sie erwähnt in der zitierten Passage ihrer Aussage noch andere erlittene Schäden. Wenn sie fragt, wohin sie gehen soll, deutet dies auch auf materielle Schäden hin, darauf – wie sich im Fortlauf der Zeugenaussage zeigt, dass sie auch noch Opfer von Plünderungen geworden ist und sie und ihre Familie aus dem eigenen Haus vertrieben worden waren. Die Aussagen über die Leiden von Zeuginnen ermöglichen es, die Schäden durch unabhängige und neutrale Institutionen zu dokumentieren und zu bewerten. Haben Menschen mit schweren Opfererfahrungen keine Möglichkeit ihre Leidensgeschichte zu dokumentieren und zu archivieren, oder allgemein gesagt über die erlittenen schweren Unrechtserfahrungen zu sprechen, so besteht laut Dori Laub die Gefahr, dass diese Opfer keine Zeuginnen des eigenen Inneren werden. „None find peace in silence, even when it is their choice to remain silent“, so der Psychoanalytiker.102 Eine verhinderte Zeugenschaft – unabhängig von ihrer Äußerungsform – provoziert das Verhaften in der Opferrolle, weil die Opferrolle nie explizit wahrgenommen wird. Ein Mensch muss erst die eigene Opferwerdung internalisieren, um das eigene Opfersein zu akzeptieren. Phänomenologisch betrachtet, steht die Zeugenschaft an der Schwelle von der Vergangenheit zur Gegenwart. Sie ist der Schlüssel um das Vergessen der internationalen Verbrechen aufzuhalten, in der Gegenwart zu sichern und den Schritt in eine Zukunft nach den Opfererfahrungen zu ermöglichen. Mit dem Vergessen oder Verdrängen würde eine erneute Viktimisierung der Opfer drohen. Dies erkannte bereits Améry: „Die Welt, die vergibt und vergißt, hat mich verurteilt, nicht jene, die mordeten oder den Mord geschehen ließen.“103 Die Zeugenschaft verkörpert jedoch das Gegenteil von Vergessen. Sie beugt einem Geschichtsrevisionismus vor, wie er von Holocaustleugnern praktiziert wird. Deren Ziel ist es Opfererfahrungen zu ne101

The Trial of Adolf Eichmann. (1961), Transcript of Session 30, Monday May 8, http: //www.nizkor.com/hweb/people/e/eichmann-adolf/transcripts/Sessions/Session-030-04.html (Stand 1. 9. 2020). 102 Laub (1992), S. 79. 103 Améry (1997c), S. 120.

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gieren, die Deutungshoheit über die Vergangenheit zu erlangen und die eigenen Geschichtswahnvorstellungen zu verbreiten. Nicht nur Geschichtsrevisionisten, sondern auch totalitäre Regime haben ein Interesse daran, dass Massenverbrechen vergessen werden. Dass dies bereits ein klares Ziel des NS-Regimes war, beweisen die dokumentierten Maßnahmen im Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 zur „Endlösung der Judenfrage“.104 Ihr Ziel war es, die vollkommene Auslöschung der jüdischen Opfer vorzubereiten, um keine Zeugenschaft zu ermöglichen. Doch so gibt Arendt zu Bedenken: „Einer wird immer bleiben, um die Geschichte zu erzählen.“105 Juristisch und gesellschaftlich gesicherte Wahrheiten können das Vergessen stoppen. Dies kann auf zweifache Weise vor Gericht erfolgen: erstens durch die Zeugenaussagen der unmittelbaren Opfer, die der Beweisführung dienen und ein Verfahren fördern. Und zweitens, sobald Menschen mit Opfererfahrungen ihre Reparationsansprüche gegen die Täter geltend machen. Damit äußern sie ihre Zeugenschaft und tragen so dazu bei, dass Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten. Das Nicht-Vergessen-Element im Reparationsanspruch bereitet den Weg für ein gemeinsames Erinnern von den Nachfahren der Täter und der Opfer. Im Fall des Holocaust bot erst diese Form des „Erinnerungsvertrags“ – wie Aleida Assmann den Schritt zur Vergangenheitsbewältigung nennt – die Möglichkeit für einen Neubeginn.106 Das Recht auf Reparationen befördert das Publikwerden der Zeugenschaft von Opfern. Die Reparationen selbst sind der Versuch, die Folgen schwerwiegender Menschenrechtsverbrechen in eine messbare Ausdrucksgröße zu bringen. Es handelt sich um einen schwierigen, wenn nicht gar unmöglichen „Übersetzungsversuch“ erfahrener Leiden in verifizier- und messbare Schadenskategorien. Durch diese Versuche hat das Recht auf Reparationen das Potential die Grundlagen für eine gesellschaftliche Aufarbeitung zu schaffen – mittels der artikulierten „Schäden“, die die Unrechtserfahrungen zum Ausdruck bringen. Dem menschlich oftmals unfassbaren Leid, welches Menschen anderen Menschen in Völkerrechtsverbrechen angetan haben, steht eine technisch-nüchterne Fachsprache gegenüber. Diese Fachsprache ist ein Übersetzungswerkzeug, Unfassbares fassbar zu machen. Es ist der Ausdruck eines menschlichen Verhaltens derjenigen, die im Laub’schen Verständnis als zweite Zeugen gelten und den unmittelbaren Opferzeugen und –zeuginnen Gehör geben. Mit dem Fachjargon wird die notwendige Distanz hergestellt und gewahrt. Vielleicht stellt die nüchterne Sprache aber auch nur den Versuch dar, sich selbst möglichst gut vor den grausamen und unmenschlichen Opferwerdungen zu schützen. Das Recht auf Reparationen übersetzt die individuellen Leiderfahrungen, es macht die Zeugenschaft von Opfern sichtbar und schafft die Grundlage, einen gerechtigkeitsschaffenden Ausgleich zu erzielen. 104

Protokoll der Wannseekonferenz (1942), https://www.ghwk.de/fileadmin/Redaktion/ PDF/Konferenz/protokoll-januar1942_barrierefrei.pdf, (Stand 1. 9. 2020). 105 Arendt (2008a), S. 346. 106 Assmann, A. (2007), Die Last der Vergangenheit, in: Zeithistorische Forschungen (3), S. 375 – 385, S. 382.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Die große Hürde der Zeugenschaft für überlebende Opfer besteht darin, dass sie das Erlebte in Worten artikulieren und oftmals erst ihre eigene Sprache wiederfinden müssen. Als Mitbegründer des „Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies at Yale“107 hatte Dori Laub zahlreiche Überlebende interviewt. Die Schwierigkeit Zeugnis abzulegen und dafür erst die eigene Sprache zu finden, bringt Laub prägnant auf den Punkt, wenn er sagt, dass der innere Imperativ des Erzählen-Müssens auf die Unmöglichkeit des Erzählens trifft. Bei unmittelbaren Opfern entsteht aus diesem Dilemma oftmals ein Mantel des Schweigens, der dann über der Suche nach Wahrheit und den erlebten Opferwerdungen liegt.108 c) Bürde der Sprachlosigkeit Juristische Verfahren, Wahrheitskommissionen oder die Inanspruchnahme des Rechts auf Reparationen haben in der Vergangenheit kulturübergreifend dazu beigetragen, die Sprachlosigkeit von Opferzeuginnen und Zeugen zu beenden. Selbst bei einer besonders ausgeprägten Form von Sprachlosigkeit, die bei Opfern sexualisierter Gewalt zu beobachten ist, konnten Bewältigungsprozesse in Gang gesetzt werden. Opfer sexualisierter Gewalt mussten Verbrechen erleiden, die nicht nur ihre körperliche Unversehrtheit verletzten, sondern auch ihren körperlichen Intimbereich betrafen und dabei seelische Verwundungen hinterließen. Zusätzlich zu den physischen Verletzungen und psychischen Traumatisierungen sind diese Opfer meist auch noch mit der eigenen oder der gesellschaftlichen Scham konfrontiert. Trauma und Scham sind häufig der Grund, weshalb gerade Opfer sexualisierter Gewalt lange nicht in der Lage sind über ihre Opferwerdungen zu sprechen, wie die medial breit unterstützte sogenannte „Me-Too-Debatte“ zeigte. Scham wird besonders in patriarchalisch-geprägten Kulturen oder bestimmten Religionsgemeinschaften zur großen Hürde für Opfer sexualisierter Gewalt. Der Bericht der Wahrheitskommission in Guatemala109 veranschaulichte die Auswirkungen von systematischen Vergewaltigungen als gezielte Strategie zur Bekämpfung der Maya-Aufstände durch Militärangehörige und paramilitärische Organisationen während des 40jährigen Bürgerkrieges. Der Bericht kam zu dem Ergebnis, dass die Scham bei weiblichen Opfern sexualisierter Gewalt, die den indigenen Mayas angehörten, besonders stark ausgeprägt war. Die Sexualität der Maya-Frauen ist sehr eng mit dem unmittelbaren Wunsch nach Fortpflanzung verbunden, weshalb eine Vergewaltigung zur Folge hatte, dass sich diese Opfer ihr Leben lang nicht mehr in der Lage sahen, Kinder zu 107 Yale University Library (1979), Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, https://fortunoff.library.yale.edu/ (Stand 1. 9. 2020). 108 Laub (1992), S. 79. 109 Die Wahrheitskommission in Guatemala wurde nach dem Bürgerkrieg eingesetzt. Unter der Leitung des deutschen Völkerrechtlers, Christian Tomuschat, untersuchte sie von 1994 – 1999 die schweren Menschenrechtsverletzungen, siehe La Comisión para el Esclarecimiento Histórico (1999), Guatemala: Memoria del Silencio, http://www.derechoshumanos.net/lesahu manidad/informes/guatemala/informeCEH.htm (Stand 1. 9. 2020).

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bekommen. Die Scham führte zu jahrzehntelangem Schweigen der Opfer: „Muchas quedaron con un dolor en el silencio“, sagte eine vergewaltigte Opferzeugin.110 (dt. Viele litten im Stillen am Schmerz) Das Schweigen als Folge der erlittenen Scham nach Vergewaltigungen oder anderer sexualisierter Gewalt wurde gar zum Hauptthema dieses Berichts erklärt, der schließlich den Titel „Memoria del Silencio“ (dt. Erinnerung an die Stille) erhielt. In der Sprachlosigkeit nach schweren Menschenrechtsverbrechen zeigt sich auch die Traumatisierung, die Opfer erlitten haben. Sprachlosigkeit wird zu einer individuellen und gesamtgesellschaftlichen Bürde, wenn die Opferwerdungen nicht geäußert und erfasst werden können. Geschätzte 20.000 Vergewaltigungsopfer und Opfer anderer sexualisierter Gewalt entstanden in den kriegerischen Auseinandersetzungen in Bosnien und Herzegowina im Zeitraum von 1992 bis 1995.111 Am Adhoc Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wurden Frauen als Zeuginnen befragt, die während des Krieges entführt und in der Stadt Foca vom April 1992 bis Februar 1993 vergewaltigt wurden und andere sexuelle Gewalt erfahren mussten. Als Täter wurden bosnisch-serbische Soldaten, Polizisten, Angehörige paramilitärischer Gruppen und andere Männer aus Serbien und Montenegro identifiziert, angeklagt und verurteilt. Wie kein anderer, steht der bosnische Ort Foca und das namentlich abgeleitete, sogenannten „Foca-Verfahren“ heute für sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Krieg.112 Im Verfahren gegen Kunarac et al. wurde die Opferzeugin „50“ von der Vertreterin der Anklagebehörde befragt. Als junges Mädchen war die Opferzeugin 50 in Foca und anderen Orten über Monate hinweg festgehalten und vergewaltigt worden. Ihre Schwierigkeit über die sexualisierte Gewalt zu reden, wird während der zweitägigen Befragung offensichtlich und als solches im Gerichtsaal immer wieder thematisiert. Warum sie nicht mit ihrer Mutter, die ebenfalls als „SexSklavin“ eingesperrt war, über das Erlebte sprechen konnte, begründete sie so: „I thought that if I had to suffer, they didn’t have to know about it.“113 Die Anklagevertreterin fragte die Opferzeugin 50 weshalb sie sich auch nicht gegenüber den Ermittlern des Gerichtshofes zu einem früheren Zeitpunkt anvertrauen konnte, woraufhin sie antwortete: „I don’t know. Those words could not leave my mouth.“114 Erst im Jahr 2000 und damit rund acht Jahre nach den massiven Menschenrechtsverbrechen, war es der Opferzeugin 50 möglich, ihre Scham zu überwinden, sich zu artikulieren und ein Zeugnis abzulegen.

110 Zitiert in: La Comisión para el Esclarecimiento Histórico (1999), Guatemala: Memoria del Silencio, S. 1427, Rn. 3996. 111 Parliamentary Assembly of the Council of Europe (2009), Resolution 1670. 112 Medica Mondiale, The Foca Trial, The Prosecutor versus Kunarac, Kovac and Vukovic, Köln 2009. 113 ICTY, Case IT-96-23-T & 23/1-T, Prosecutor vs. Kunarac et.al. („Focˇ a“), Witness 50, 29./30. 03. 2000. 114 ICTY, Case IT-96-23-T & 23/1-T, Prosecutor vs. Kunarac et.al. („Focˇ a“), Witness 50, 29./30. 03. 2000.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Wenn Opfer nicht in der Lage sind über ihre Opfererfahrungen zu sprechen, kann dies ein Zeichen für ihre schwere Traumatisierung sein. Diese Opfer fühlen sich dann alleine und sind schlichtweg nicht in der Verfassung, ihre Erfahrungen zu teilen. Häufig, so der Psychologe Zohar Rubinstein, ist langes Schweigen auch darauf zurückzuführen, dass Opfer nicht richtig begreifen können, was ihnen widerfahren ist. Das Gefühl des Alleinseins und der Eindruck des Unbegreiflichen werden als überwältigend empfunden. Es verhindert, dass Opfer ihre Stimme erheben und ihre Unrechtserfahrungen artikulieren können. Worte verlieren ihre Bedeutung und können aus der Opfersicht nicht vermitteln, was sie erlitten haben.115 Genau diesen Punkt bestätigte auch Opferzeugin 50 in ihrer fortgesetzten Aussage: Q. Did you tell anyone at that time what had just happened to you? A. I never described what happened to me in detail to anyone. If I wanted to say what happened, I said the worst had happened, referring to rape, and from then onwards, throughout my stay in this camp, I never talked to anyone about anything from that event onwards; I kept silent. Q. How did you feel? A. Awful. There are no words in this world that could describe my feelings. It is the worst thing that was happening to me.116

Im Zusammenhang von Gewalt und Sprachlosigkeit erkennt Carolin Emcke ein Gerechtigkeitsproblem. Werden Opfer durch die Gewalterfahrung so beeinträchtigt, dass sie ihrer Artikulationsfähigkeit beraubt sind und es niemanden gibt, der stellvertretend für sie sprechen kann, dann handelt es sich nicht nur um ein psychologisches Problem, sondern auch um eines der Gerechtigkeit.117 Sprachlosigkeit wird zu einer Gerechtigkeitsfrage, wenn es sich um ein unfreiwilliges Schweigen aufgrund einer Traumatisierung handelt. Traumatisierte, schweigende Opfer befinden sich in einer Art eigenem inneren Gefängnis ohne Hoffnung, diesem entrinnen zu können.118 Diese Opfer sind schlichtweg nicht in der Lage, Zeugnis abzulegen, professionelle Hilfe zu suchen oder gar Entschädigung zu beantragen. Sie sind gefangen in der Opferwerdung der Sprachlosigkeit. Ein freier und gleichberechtigter Zugang zur Realisierung und Inanspruchnahme ihrer Grund- und Menschenrechte ist ihnen aufgrund der unfreiwilligen Sprachlosigkeit verwehrt. In diesem Fall ist Sprachlosigkeit nicht nur eine Folgeerscheinung der Opferwerdung, sondern ein massives „Gerechtigkeitsproblem“. Eine derartige Sprachlosigkeit bei Opfern zu erkennen, ist Aufgabe der Rechtsgemeinschaft.

115 Rubinstein, Z. (2017), The Testimony of the Traumatic Witness, in: Testimony/Bearing Witness. Epistemology, Ethics, History and Culture. Krämer, S./Weigel, S. (Hg.), London: Rowman & Littlefield International, S. 121 – 135. 116 ICTY, Case IT-96-23-T & 23/1-T, Prosecutor vs. Kunarac et. Al („Focˇ a“), Witness 50, 29./30. 03. 2000. 117 Emcke (2013), S. 17. 118 Rubinstein (2017), S. 125.

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Mechanismen, die das Schweigen von Opfern beenden und Sprachlosigkeit überwinden können, sind vielfältig. Befragt, weshalb sie letztendlich doch in der Lage war, ihr Schweigen aufzugeben, antwortete die Opferzeugin AS im „FocaVerfahren“, „(b)ecause of my future“ and „(i)t will make me feel better.“119 Dass aus der Beendigung von Sprachlosigkeit sogar eine normative Kraft entstehen kann, zeigt das Beispiel der Opferzeuginnen aus dem Bosnien-Krieg. Ihren öffentlichen Auftritten ist es zu verdanken, dass sexualisierte Gewalt heute im internationalen Recht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verankert ist. Die sexualisierte Gewalt wurde sehr früh in Bosnien Herzegowina dokumentiert und von der UN Menschenrechtskommission als Kriegsverbrechen definiert, das schließlich Eingang in die Statute der Ad-hoc Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda fand. Im Foca-Verfahren wurde die Sprachlosigkeit von Opfern im Rahmen eines formalisierten juristischen Prozesses mit den Aussagen als Zeuginnen überwunden. Die guatemaltekische Wahrheitskommission beendete Sprachlosigkeit durch die gezielte Befragung und Beteiligung von Opfern. Zur Überwindung der Sprachlosigkeit von Opfern sexualisierter und anderer Gewalterfahrungen trägt auch das Recht auf Reparationen bei. Ein rechtlich legitimiertes und anerkanntes Reparationsverfahren kann das Schweigen von Opfern aufbrechen, weil es ausdrücklich den Opfern und nicht den Tätern Gehör schenkt. Nur Opfer können das Recht auf Reparationen in Anspruch nehmen und ihre Opferwerdungen laut äußern. Sprachlosigkeit als individuelle und gesamtgesellschaftliche Folge von Opferwerdungen wird spätestens mit der Inanspruchnahme von Reparationen endgültig ausgeräumt. Mit dem Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen schuf die deutsche Bundesregierung erst im Juli 2017 die rechtliche Grundlage, die Opferwerdungen von homosexuellen Menschen durch Entschädigungssummen zu bestätigen. Erklärtes Ziel des StrRehaHomG ist es „den Betroffenen den Strafmakel zu nehmen, mit dem sie bisher wegen einer solchen Verurteilung leben mussten.“120 Ein lange gehegtes Verschweigen und Verdrängen eines staatlichen Verbrechens gegen Grund- und Menschenrechte wurde damit endgültig beendet. Schließlich war mit § 175 Strafgesetzbuch auch noch nach dem 8. Mai 1945 die einvernehmliche homosexuelle Handlung zur Straftat erklärt und der Strafverfolgung durch staatliche Behörden ausgesetzt worden. Unter dem Paragraphen war das Ausleben der homosexuellen Identität gesetzlich verboten. Bis zu seiner endgültigen Abschaffung im Jahr 1994 führte § 175 StGB zu Ermittlungen, Verurteilungen und Freiheitsentzug von schwulen Männern. Das neue Gesetz erklärte die gesellschaftliche Solidarität der Bundesregierung mit den Opfern und untermauerte eine symbolische Anerkennung durch Rehabilitierung. Das Gesetz hob ausschließlich die direkt mit dem Strafmakel verbundenen Urteile auf und ging nicht auf etwaige „berufsrechtliche Rechtsfolgen“ 119

ICTY, Case IT-96-23-T and IT-96 – 23/1-T, Prosecutor vs. Dragoljub Kunarac, Radomir Kovac, and Zoran Vukovic. Witness AS Wednesday, 19. 04. 2000. 120 Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilter Personen, kurz StrRehaHomG (2017).

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aus der Verurteilung ein. Berufliche Konsequenzen, die aufgrund einer Verurteilung entstanden waren und zu Rufschädigungen und messbaren finanziellen Nachteilen bei den Betroffenen geführt hatten, waren von dem Gesetz und den rein symbolischen Entschädigungssummen daher nicht erfasst. In seiner ursprünglichen Fassung erstreckte sich das Gesetz auch nicht auf diejenigen Opfer, die nicht verurteilt, sondern „nur“ strafverfolgt und nach einer Inhaftierung freigesprochen worden waren. Ein Beispiel hierfür ist Wolfgang Lauinger. Er war 1950 auf der Grundlage von § 175 StGB in Frankfurt am Main für fünf Monate inhaftiert, nachdem er bereits unter den Nationalsozialisten als Homosexueller verfolgt worden war. Obwohl Lauinger sich als Zeitzeuge jahrelang an die Öffentlichkeit gewandt hatte, war sein Antrag auf Rehabilitierung nach dem StrRehaHomG nicht erfolgreich und abgelehnt worden, da er freigesprochen worden war. Dadurch war ihm die Rehabilitierung als besondere Form von Reparationen zunächst nicht möglich. Lauinger ging unterstützt von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld erneut an die Presse und kontaktierte den damaligen Bundesminister Heiko Maas direkt. Im November 2018 wurde das Gesetz erweitert, so dass auch Opfer ohne eine Verurteilung einen Rehabilitierungsschein und anschließend Entschädigung beantragen konnten. Wolfgang Lauinger war leider eine persönliche Rehabilitierung verwehrt geblieben, weil er in der Zwischenzeit verstorben war.121 d) Zwischenfazit: Opferwerdung durch Unrechtserfahrung Ausgangspunkt jeder Opferwerdung in der Diskussion um das Menschenrecht auf Reparationen ist die unverschuldete und unfreiwillige individuelle oder kollektive Leiderfahrung durch ein international geächtetes Verbrechen. Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sind die gravierendsten Formen von Entrechtlichung und Beschädigung, die Menschen begehen können, um Mitmenschen das Menschsein abzusprechen, das in der Achtung der Würde begründet liegt. Als massives Verbrechen gegen das Menschsein gehen die Opferwerdungen die gesamte Menschheit an. Die schweren Leiderfahrungen beschädigen Leib und Seele der Betroffenen und erfassen ihre gesamte Persönlichkeit. Die Opferwerdung durch ein Völkerrechtsverbrechen ist damit das grundlegende Merkmal, das Menschen zu Opfern menschengemachter Gewalt werden lässt. Die individuellen und unmittelbaren Opfererfahrungen erfolgen nach diesen internationalen Straftaten auch immer im Kollektiv. Dabei erfährt der Einzelne einen „zivilisatorischen Bruch des Unrechts“. Seine Beziehung zu sich selbst, wie die zur Außenwelt, wird schwerwiegend gestört. In jenem zivilisatorischen Bruch des Unrechts, welches die Folge der Opferwerdung ist, liegt der Ursprung des Menschenrechts auf Reparationen. In den Lebensgeschichten von Jean Améry und Ruth Klüger hat sich exemplarisch gezeigt, welche Verletzungen und Schäden Opfer am eigenen Leib und Leben er121

Siehe u. a. taz, Großes Leid, kleine Geste, 14. 03. 2019.

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fahren, wie unterschiedlich die Beziehung zu sich selbst und zur Außenwelt nach der Opferwerdung beeinträchtigt sein können, und wie individuell sie damit umgehen. Améry und Klüger wurden wie alle überlebenden Opfer zu Zeuginnen und Zeugen ihrer eigenen Opferwerdung. Mithilfe der Zeugenschaft, die das Menschenrecht auf Reparationen birgt, können die Opferwerdungen aller Opfer eines internationalen Verbrechens unmittelbar sichtbar gemacht werden. Die Zeugenschaft ist dabei nicht allein Erkenntnisquelle für mögliche strafrechtliche Verfahren, Wahrheitskommissionen oder gesellschaftlichen Aufarbeitungsmechanismen. Sie stellt darüber hinaus für Opfer das wichtigste Mittel dar, um Gehör zu erlangen. In der Praxis zeigt sich, dass die Beteiligung von Opfern in Strafprozessen und Wahrheitskommissionen um ihrer Praktikabilität willen stets selektiv bleibt. Allein das Recht auf Reparationen hat das Potenzial, allen Opfern zugleich Partizipation zu ermöglichen und einen gewissen Ausgleich für die erlittenen Menschenrechtsverbrechen herbeizuführen. Die Zeugenschaft von Opfern findet in der juridischen Zeugin bzw. dem juridischen Zeugen eine besonders sichtbare Form von formaler und öffentlicher Beteiligung. Als juridische Zeugen und Zeuginnen gelten zunächst diejenigen Opfer, die tatsächlich vor einer öffentlichen Institution ihre Zeugenschaft in einer Zeugenaussage bekunden und damit unmittelbar zur Aufklärung des dem Angeklagten zur Last gelegten Sachverhaltes beitragen. Die so verstandene juridische Opferzeugin und der juridische Opferzeuge sind weltweit in den nationalen und internationalen Rechtsordnungen akzeptiert. Jedoch kann der Begriff des juridischen Zeugen nach schweren Menschenrechtsverbrechen nicht auf dieses enge Verständnis beschränkt werden, wenn man dem massenhaften Phänomen der Opferwerdung in diesen Fällen gerecht werden will. Der Rechtsanspruch auf Reparationen sichert die Zeugenschaft auch derjenigen Opfer, die nicht als unmittelbare Zeuginnen und Zeugen vor Gerichten oder Wahrheitskommissionen aussagen. Auch diese werden zu juridischen Zeuginnen und Zeugen, indem ihre Identität und die ihnen widerfahrenen Leiderfahrungen festgehalten werden. Das Recht auf Reparationen sichert die Zeugenschaft von Opfern und verhindert somit das Vergessen der Opfer und ihrer Opferwerdung. Dem Recht auf Reparationen wohnt die normative Kraft inne, die Sprachlosigkeit von traumatisierten Opfern zu überwinden und das Verdrängen und Verschweigen auf Täterseite und in der Gesellschaft zu beenden. Dieses Mandat zur Zeugenschaft und das darin implizierte Nicht-Vergessen-Element von Opferwerdungen stellen eine erste wesentliche Legitimation für ein Menschenrecht auf Reparationen dar. Doch gewichtiger ist noch die Anerkennung von Opfern durch die internationale Gemeinschaft, die im Recht auf Reparationen liegt, was im folgenden Kapitel erörtert wird.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

2. Opfersein: Anerkennung der Opferwerdung Jede internationale Straftat, jeder Verstoß gegen die Menschenrechte geht einher mit einer Verletzung der Würde von Menschen, die Opfer wurden. Jede Anerkennung von Opfern und Opfererfahrungen kann daher nur aus der Perspektive der Menschenwürde diskutiert werden. Auch das Folteropfer Jean Améry stellt sich die Frage nach der Menschenwürde. Im Bericht über die eigenen Foltererfahrungen erklärt er, dass die Würde aus seiner Sicht ein schwer zu messender Wert sei und schließlich jeder etwas anderes darunter verstehen könne. Dass die Würde seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte jedoch völkerrechtlich-normativ jedem Menschen metaphorisch gesprochen als „angeboren“ gilt, spielt in der Wahrnehmung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen keine Rolle. Die rechtlich verankerte Würde entspricht nicht der erlebten, schwer missachteten Würde in der Zeit der Opferwerdung. Die normative Würde ist eine andere als die emotional empfundene Würde als Opfer. Durch den zivilisatorischen Bruch, der mit der Opferwerdung einhergeht, entsteht eine eigene, neue Wahrnehmung – auch dadurch, was Améry als den Verlust des Weltvertrauens beschreibt. Nicht selten sprechen Opfer daher von einer „Entwürdigung“, die sie erfahren haben. Améry erklärt die Entwürdigung als den erlebten potenziellen Lebensentzug, der durch die Gefahr des ständigen Todes drohte, oder „(a)nders formuliert: der Würdeentzug drückte die Morddrohung aus.“122 Ein Opfer kann sich die eigene Würde nach internationalen Verbrechen wie dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nur schwer wieder selbst bewusst machen. Ein „bloß im individuellen Innenraum erhobene(r) Anspruch“ auf Würde sei aus der Sicht von Améry daher „leere Denkspielerei oder Wahn.“123 Die Würde braucht ein Gegenüber, das sie achtet. Das Gegenüber ist besonders nach der erfahrenen Missachtung gefragt. Die eigene Selbstachtung ist nicht (mehr) vorhanden oder genügt Menschen mit Opfererfahrung nicht. Die Opferwerdung setzt sich deshalb auch dann fort, wenn die Würde in der Vergangenheit schwer missachtet wurde und diese Missachtung in der Gegenwart vom Opfer nun als fortgesetzt empfunden wird. So entsteht die häufig vernommene Forderung – sei es von Opfern, ihren Angehörigen oder Opfervertretern selbst, dass die Würde von Opfern schwerer Menschenrechtsverbrechen wieder herzustellen sei. Diese Forderung kann nicht aus rein normativ betrachteter menschenrechtlicher Sicht bewertet werden. Vielmehr muss die praktische Wahrnehmungsebene derjenigen Menschen gestärkt werden, die eine Missachtung der eigenen Würde erfahren haben. Damit sich Opfer ihrer Würde wieder bewusst werden, braucht es dazu zwangsläufig die Gemeinschaft und die Anerkennung der Opferwerdungen. Jeder Mensch mit Opferwerdung muss ein anerkanntes Opfer der Gemeinschaft sein dürfen. Die Leiderfahrungen können dabei nicht unabhängig von demjenigen Menschen betrachtet werden, der sie erfahren hat. Nach der Opferwerdung gehören die Leiderfahrungen zum Menschsein der Opfer untrennbar dazu. Das Menschsein muss im gemeinsamen Miteinander fortan auch 122 123

Améry (1977), S. 135. Ebenda, S. 140.

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ein Opfersein bedeuten dürfen. Unterbleibt dagegen die Anerkennung der Leiderfahrungen durch die Gemeinschaft, entstehen aus der Sicht von Jean Améry Ressentiments auch auf Seiten der „Neben-Menschen“, also der Gemeinschaft selbst. Dies erklärt Améry mit der Geschichte eines deutschen Kaufmanns, den er 1958 beim Frühstücken in einem Hotel traf. Der Kaufmann hatte die Wiedergutmachung von Opfern zwar akzeptiert, verweigerte Holocaust-Überlebenden jedoch jegliche Empathie und die solidarische Anerkennung ihrer Leiderfahrungen.124 Gerade im anerkennenden Element des Rechts auf Reparationen steckt jedoch das Potential, das Bewusstsein für die eigene Würde von Menschen mit Opfererfahrung erfahrbar zu machen. In individuellen, kollektiven oder symbolischen Entschädigungsleistungen drückt die Gemeinschaft die Achtung der Würde aus und erkennt die Opferwerdungen an. Es stellt sich dennoch die Frage, ob Anerkennung für Opfer schwerer Menschenrechtsverbrechen im Recht auf Reparationen nach einem menschenrechtlichen Anspruch erfolgt. Ein Blick auf die etymologische Bedeutung von Anerkennung und seine ideengeschichtlichen Ursprünge schaffen im nächsten Kapitel die Grundlagen für die terminologische Bestimmung der Anerkennung von Menschen mit Opfererfahrungen und Opferwerdungen, ehe die wissenschaftlichen Diskurse zur Anerkennung analysiert und nach ihrer Relevanz in einen Kontext von Viktimisierungen eingeordnet werden. Wird Anerkennung in einem menschenrechtlichen Verständnis betrachtet, muss das Verhältnis des Achtungsanspruchs des Menschen in der Menschenwürde zur Anerkennung der Opferwerdung diskutiert werden. Die Diskrepanz zwischen der rechtlich kodifizierten Würde, ihrem Achtungsanspruch und der tatsächlich wahrgenommenen Würde von Opfern während einer Opfererfahrung impliziert die Anerkennung von Opfern. Exemplarische Auswertungen von Opfererfahrungen liefern Anhaltspunkte, inwiefern die Anerkennung schwerster Opferwerdungen im Recht auf Reparationen und seiner praktischen Anwendung erfolgt. a) Der Begriff der „Anerkennung“ von Opfern aa) Etymologische Parameter und ideengeschichtlicher Werdegang In seiner etymologischen Bedeutung weist der Terminus der Anerkennung auf zwei unterschiedliche Bedeutungsstränge hin. Erstens sei Anerkennung als „Würdigung, Lob, Achtung oder Respektierung“ zu verstehen und zweitens als eine „offizielle Bestätigung, Erklärung der Gültigkeit“, „Rechtmäßigkeit“ oder „Zustimmung“.125 Diesem Verständnis nach muss Anerkennung jedoch nicht zwangs124

„Der Mann versuchte mich […] zu überzeugen, daß es Rassenhaß in seinem Lande nicht mehr gebe. Das deutsche Volk trage dem jüdischen nichts nach; als Beweis nannte er die großzügige Wiedergutmachungspolitik der Regierung (…).“, zitiert nach Améry (1997c), S. 108 f. 125 Duden. Anerkennung, https://www.duden.de/rechtschreibung/Anerkennung (Stand 1. 9. 2020).

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läufig entweder das Eine oder das Andere beinhalten, sondern kann beide Sinnebenen ausdrücken. Bereits im Grimm’schen Wörterbuch fand sich ein eigener Eintrag für Anerkennung, der ausschließlich für das „gleiche“ oder „f(ür) dasselbe“ galt und eindeutig an Personen adressiert war.126 Die Frage nach den Anerkennungssubjekten steht auch im Fokus des entsprechenden Eintrags in der Enzyklopädie der Philosophie, wenn Anerkennung definiert wird als „eine Beziehung, die sich auf Personen richtet, durch die das Erkennen eine praktische Dimension erhält: Es strukturiert das Selbst und das Zwischenverhältnis und lässt dadurch Verpflichtungen entstehen. Anerkennung umfasst das Verhältnis zum Anderen, das von der Respektierung als Rechtsperson oder der Zustimmung von Wünschen bis zur Würdigung seiner Leistungen bzw. Wohltaten und dem entsprechenden Lob bzw. Danksagung reicht.“127 Der Philosoph Paul Ricoeur führt die lexikografischen „Mutter-Ideen“ von „reconnaitre“ auf drei Aspekte zurück: erstens die einen Gegenstand betreffenden Wahrnehmungen werden miteinander verbunden, beurteilt und erkannt, zweitens etwas wird angenommen und für wahr gehalten und drittens es wird bezeugt, gegenüber jemandem in der Schuld zu stehen.128 In der Bündelung dieser drei Aspekte ist diese Begriffsdefinition maßgeblich auch auf die Anerkennung von Opfern im Recht auf Reparationen anwendbar. Die Wahrnehmungsebenen von Opfern, Tätern und Gesellschaft werden in jedem Anerkennungsverfahren eines Verbrechens abgeglichen, auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft und für wahr erklärt. Zugleich wird die Frage der Verantwortung oder Schuld gestellt, thematisiert oder gar beantwortet. Ideengeschichtlich wurde Anerkennung sowohl aus der Perspektive des Anderen heraus entwickelt, der ein Subjekt anerkennt129 als auch aus der Perspektive des nach Anerkennung strebenden Subjekts.130 Einen vergleichenden perspektivischen Ansatz zeichnet der deutsche Sozialphilosoph Axel Honneth in der „europäische(n) Ideengeschichte“ zum Begriff der Anerkennung nach.131 In den ideengeschichtlichen Heimaten Frankreichs und Großbritanniens wurden zunächst Synonyme verwendet, „die den jeweiligen Ideen der Anerkennung zum Durchbruch verholfen hatten“. Im französischen Sprachraum war dies der eher negativ konnotierte Begriff der „amour propre“ (Selbstliebe) und im Englischen der Ausdruck „sympathy“.132 In Frankreich 126 Grimm, J./Grimm, W. (1971), Anerkennung. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode= Vernetzung&lemid=GG32748#XGG32748 (Stand 1. 9. 2020). 127 Amengual, G. (2010), Anerkennung, in: Enzyklopädie Philosophie. Sandkühler, H. (Hg.), Hamburg: Felix Meiner. Bd. A – H, S. 91. 128 Ricoeur, P. (2006), Wege der Anerkennung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 31. 129 Anerkennung in der französischsprachigen Ideengeschichte begründet Honneth mit den Überlegungen von Jean-Jaques Rousseau und Jean-Paul Sartre, siehe Honneth, A. (2018), Anerkennung: Eine europäische Ideengeschichte. Berlin: Suhrkamp, S. 24 – 80. 130 Anerkennung in der englischsprachigen Ideengeschichte stellt Honneth an den Werken von David Hume und John Stuart Mill dar, siehe Honneth (2018), S. 81 – 130. 131 Honneth (2018). 132 Ebenda, S. 28, S. 136.

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dominierte die Perspektive des Anderen, der ein Subjekt anerkennt. Anerkennung hieß „einem Subjekt bestimmte personelle Eigenschaften zuzubilligen oder zuzuschreiben“. In Großbritannien stand hingegen das nach Anerkennung strebende Subjekt im Zentrum. Erst in Deutschland wurde Anerkennung schließlich zutreffend in einem wechselseitigen Verhältnis erörtert.133 Dieses wechselseitige Verhältnis besteht auch bei jeder Frage von Genugtuung, Entschädigung, Wiedergutmachung oder Reparation für Opfer von schwersten internationalen Verbrechen. Auch dort treffen die beiden Anerkennungssubjekte aufeinander: Opfer erhalten Reparationen aufgrund des erfahrenen physischen, psychischen oder materiellen Leids und streben nach Anerkennung ihrer Opferwerdung. Die Anerkennung von Opfern kann nur durch Andere von außen erfolgen. Die Anerkennungsform bestimmt sich nach den Attributen, die den Anerkennungssubjekten und den jeweiligen rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eingeräumt werden. Folgt man der Auffassung Honneths sind es die Idealisten Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, welche die Kant’sche Vorstellung von zwischenmenschlicher Achtung schließlich zur Anerkennung weiter entwickelten im Sinne eines Strebens nach Anerkennung des Individuums.134 Zum „Gründungsdokument der spezifisch deutschen Idee von Anerkennung“ kann demnach Fichtes 1796 erschienene „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre“ erklärt werden.135 Die wechselseitige intersubjektive Anerkennung sieht Fichte in der Freiheit verankert: „Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln.“136 Hegel137 setzt bei Fichte an und geht davon aus, dass die gegenseitige Anerkennung zu mehr Selbstbewusstsein bei dem einzelnen Menschen führt. Diese Form der Anerkennung ist nur zwischen autonomen Subjekten möglich und dadurch in ihrem Anerkennungsradius begrenzt. Der Einzelne befindet sich in einem ständigen Überlebenskampf. Diese Art des Urzustands führt dazu, dass die gegenseitige Anerkennung nicht möglich ist. Hegel folgert daraus, dass Anerkennung institutionalisiert und in einen rechtlichen Rahmen gebracht werden muss.138 Die Entwicklung des Gedankens von wechselseitiger Anerkennung sieht Honneth in Kants Verständnis von zwischenmenschlicher Achtung und der Einschränkung des Selbstinteresses begründet. Es ist ein Mensch, der einen Mitmenschen achtet und 133

Ebenda, S. 131. Ebenda, S. 147 ff. 135 Ebenda, S. 156. 136 Fichte, J. G. (1796), Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: Wichte Werke. Fichte, J. G. (Hg.), Jena und Leipzig, Bd. I, S. 38. 137 Hegel, G. W. F. (1979), Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Band 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp, http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel,+Georg+Wilhelm+Friedrich/Phä nomenologie+des+Geistes (Stand 1. 9. 2020). 138 Ebenda. 134

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

nicht das einzelne Subjekt, das die Achtung einfordert.139 Bei dieser Betrachtung wird die Bedeutung von Anerkennung für das danach strebende Individuum nicht hinreichend berücksichtigt. Honneth muss auch selbst einräumen, dass in der Achtung ein „Anerkennungsmotiv“ liegt, das Subjekten „zugebilligt“ oder gar „geschuldet“ wird.140 Der ideengeschichtlich-chronologischen Darstellung sei es anzulasten, dass Kants Achtungsbegriff in seiner „brückenbildende(n) Funktion“ und als „theoretische(r) Wegbereiter“ eines Verständnisses von Anerkennung in Deutschland betrachtet wird.141 Anerkennung wird so zu einer simplen Weiterentwicklung von Achtung ohne deren inhaltliches Beziehungsgeflecht zu diskutieren oder gar die Frage zu erlauben, warum die Achtung der Menschenwürde die Grundlage der Anerkennung von Opfern im Menschenrecht auf Reparationen sein muss. In der Achtung der Würde liegt ein Schlüsselmoment für die Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen, was an anderer Stelle ausführlich diskutiert werden muss.142 bb) Der Begriff der Anerkennung im wissenschaftlichen Diskurs Jedes Anerkennungsverfahren wird von einem nach Gerechtigkeit strebenden Motor angetrieben. Die Anerkennung ist dabei stets an eine bestimmte Vorbedingung geknüpft – sei es die Anerkennung eines völkerrechtlichen Subjekts, eines Staates oder die Anerkennung von Opferwerdungen und Menschen mit Opfererfahrung. Die anzuerkennende Bedingung ist bei Opfern die Leiderfahrung nach einem bewaffneten Konflikt. Die physischen, psychischen oder materiellen Leiderfahrungen gehen einher mit einer Verletzung der Menschenwürde. Jede Form von Anerkennung führt zu einer bestätigenden und positiven Änderung des Status quo. Darin liegt der Ausdruck von Gerechtigkeit. Um diese Form von Gerechtigkeit im Recht auf Reparationen für Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen zu eruieren, sollen zunächst philosophische Anerkennungskonzepte untersucht werden. Dieser Exkurs ist notwendig, um in einem zweiten Schritt eine Begründbarkeit von Anerkennung im Recht auf Reparationen zu erschließen. Die Stanford Encyclopedia of Philosophy konzentriert die philosophische Diskussion um Anerkennung auf vier verschiedene Aspekte: Anerkennung durch Achtung, durch Wertschätzung, durch Liebe und Freundschaft sowie Anerkennung durch Umverteilung.143 Ihren Ausgangspunkt findet die philosophische Diskussion um Anerkennung bei Hegel, die zahlreiche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen später aufnahmen. 139

Honneth (2018), S. 148. Ebenda, S. 147. 141 Ebenda, S. 147. 142 Siehe Teil 1 Kap. III. 2. b). 143 Iser, M. (2019), Recognition. The Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato. stanford.edu/archives/sum2019/entries/recognition/> (Stand 1. 9. 2020). 140

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(1) Anerkennung als Identitätsfrage Dazu gehörte auch Axel Honneth, der die akademische Diskussion um „Anerkennung“ in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit seinen Veröffentlichungen erst ins Rollen brachte.144 Honneth’s145 „umfassende Gesellschaftstheorie“146 zur „Anerkennung“ sieht ihren Ausgangspunkt im Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Anerkennung basiert auf den sozialen Beziehungen zwischen Menschen untereinander sowie des Einzelnen zu sich selbst. Der Kampf um Anerkennung erfolgt nach dem Verständnis von Honneth auf drei verschiedenen Ebenen des menschlichen Zusammenlebens: der Liebe, des Rechts und der Solidarität.147 Die Liebe ermöglicht die Anerkennung der einzelnen Person im privaten und häuslichen Bereich der Familie. Durch dieses Anerkennungsverhältnis entsteht die eigene Identität. Bejahung und Bestätigung des Individuums sind hier synonyme Begriffe für „Anerkennung“. Liebe ist in erster Linie eine moralische Anerkennung von Bedürfnissen – begründet mit dem (Abhängigkeits-)Verhältnis zwischen Mutter und Kind.148 Die sich liebenden Menschen stehen in einem „reziproken Anerkennungsverhältnis“ zueinander und verschaffen sich dadurch Respekt, Wertschätzung und worum es Honneth primär geht: Selbstachtung.149 Liebe als Anerkennungsform ist ganz klar dem familiär-häuslichen Bereich zuzuschreiben. Bei der Missachtung von Anerkennungsansprüchen würde schließlich erneut moralisches Unrecht begangen werden.150 Anerkennung ist bei Honneth stets eine Frage von Identität. Schließlich wird die aus der Liebe hervorgegangene Identität im öffentlichen Raum über die Anerkennung durch Recht gesichert. Dem Einzelnen ist als einem Träger von Rechten und Pflichten ein gleichberechtigter Zugang zu politischen, ökonomischen und rechtli144

Eine ausführliche Beschreibung der akademischen Diskussion um Anerkennung als politischen Begriff liefert Martin Correll in seiner Dissertation, siehe Correll, M. (2016), Der Begriff der Anerkennung und seine politische Bedeutung: Versuch einer theoretischen Ausdifferenzierung. Berlin: Duncker & Humblot, S. 32. 145 Axel Honneth greift auf die Jenaer Schriften von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und die Ideen des Sozialpsychologen G. H. Mead zurück. Siehe zur Genese der philosophischen Entwicklung des Begriffs der Anerkennung: Sitzer, P./Wiezorek, C. (2005), Anerkennung, in: Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Heitmeyer, W./Imbusch, P. (Hg.), Wiesbaden: Springer, S. 101 – 132. 146 Correll (2016), S. 20. Zu den Zielen einer Gesellschaftstheorie der Anerkennung äußert sich Honneth ausführlich, siehe: Honneth, A. (2003), Kampf um Anerkennung: zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 148. 147 Honneth, A. (2003), Kampf um Anerkennung: zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 148 Ebenda, S. 168 ff. 149 Correll (2016), S. 23. 150 Wildt, A. (2005), ,Anerkennung‘ in der praktischen Philosophie der Gegenwart, in: Selbstachtung oder Anerkennung? Beiträge zur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit. Hahn, H. (Hg.), Weimar: Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, S. 178 – 211, S. 185.

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chen Handlungsmöglichkeiten gewährt. Um die gleiche Handlungsfreiheit aller anzustreben „[…] muß die Fähigkeit bestimmt werden können, in der die Subjekte sich wechselseitig achten, wenn sie sich als Rechtspersonen anerkennen.“151 Die rechtliche Anerkennung des Einzelnen wird durch die rechtliche Anerkennung der Mitbürger_innen bedingt. Erst dadurch wird die einzelne Person zum Rechtssubjekt in der Gemeinschaft. Die aufgrund der gegenseitigen Anerkennung wachsende Rechtssicherheit trägt wiederum zur Selbstachtung und einer stabilen Ich-Identität bei. Der Zugang zu Rechten wird allerdings mit den Fähigkeiten von Menschen begründet – Honneth spricht hier von „moralischen Zurechnungsfähigkeit(en)“.152 Wenn Rechte im Honneth’schen Verständnis einerseits jedem Menschen zustehen, aber andererseits von den individuellen Fähigkeiten der Menschen abhängen, wird der Nährboden für einen willkürlichen Rechtsraum geschaffen. Der Staat würde so zum Verteiler von Rechten. Eine menschenrechtliche Diskussion um Anerkennung im Recht auf Reparationen kann daher nicht bei Honneth’s begrifflichem Verständnis ansetzen. Auch der von Honneth gewählte Urzustand des menschlichen Zusammenlebens, wonach das Anerkennungsstreben aufgrund von (sozialer) Ungleichheit erfolgt, lässt eine Anwendung auf eine Anerkennungsdebatte von Opfern schwerer Menschenrechtsverbrechen im Recht auf Entschädigung nicht zu. Obgleich soziale Ungleichheit bei Opfern bewaffneter Konflikte als Folge der Opferwerdung entstehen kann, stellt dies eben keinen Urzustand dar. Anerkennung spricht Honneth den Menschen aufgrund von subjektiv unterschiedlichen Ansprüchen und nicht aufgrund objektiver und damit gerechter Kriterien zu. Carolin Emcke erklärt, dass der Ansatz von Honneth nicht als „kriteriologisches Konzept“ von Anerkennung geeignet sei, weil soziale Wertschätzung in Gesellschaften stets kontingent verteilt werde. Anerkennung setzt als Vorbedingungen in diesem Fall Qualifikationen voraus, die zwar viele, aber nicht alle mitbringen, und oftmals in einem ungleichen Ausmaß.153 Anerkennung ist per se immer konditional und prozessual. Im Fall der Anerkennung von Opfern im Menschenrecht auf Reparationen liegt diese Kondition in der Opferwerdung durch ein internationales Verbrechen. Honneth’s Verständnis von Anerkennung hat keinen Ausgangspunkt im Achtungsanspruch der Würde – doch erst unter dieser Voraussetzung kann Anerkennung als gerechtigkeitsschaffender Ansatz in einem Diskurs über das Menschenrecht auf Reparationen fruchtbar gemacht werden.154 Um genau diesen Aspekt soll die Anerkennungsdebatte mit dieser Arbeit erweitert werden. Doch im Folgenden ist der Blick zunächst auf weitere Anerkennungstheorien zu richten. 151

Honneth (2003), S. 184. Ebenda, S. 184 ff. 153 Emcke, C. (2000), Kollektive Identitäten: sozialphilosophische Grundlagen. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 274 f. 154 Auch die dritte Anerkennungsform der Solidarität beruht auf Ungleichheit, denn die soziale Wertschätzung fällt unterschiedlich nach den jeweiligen Leistungen und Eigenschaften des Einzelnen aus, siehe Honneth (2003), S. 208 – 210. 152

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In seinen früheren Werken prägte auch Charles Taylor ein Verständnis von Anerkennung. Für Taylor155 hängt das Streben von bestimmten Gruppen nach politischer Anerkennung stets mit der Suche nach Identität zusammen. Anerkennung wird bei ihm zu einem Ausdruck von Wertschätzung. Jede menschliche Identität ist „geprägt“ von Anerkennung, Nicht-Anerkennung oder gar Verkennung. Taylor erklärt daher die Identitätssuche zum Hauptziel: „Indem wir unsere Identität bestimmen, versuchen wir zu bestimmen, wer wir sind, woher wir kommen.“156 Identität entsteht durch die Beziehungen zur Gesellschaft und letztendlich durch den Dialog mit anderen. Taylor konzentriert sich nicht auf die weitere Diskussion über die Identitätsfrage des Einzelnen aus sich selbst heraus, sondern auf die „öffentliche“ Identität in der „Politik der gleichheitlichen Anerkennung“. Anerkennung ist für Taylor mehr als die Hoffnung, Respekt von dem Gegenüber zu erfahren. Das Ausbleiben von Anerkennung kann umgekehrt Wunden hinterlassen und dazu führen, „[…] Opfern einen lähmenden Selbsthaß auf(zu)bürden.“157 Taylor liefert eine Grunddefinition von „Anerkennung“, wenn er sagt: „Anerkennung ist nicht bloß ein Ausdruck von Höflichkeit, den wir den Menschen schuldig sind. Das Verlangen nach Anerkennung ist ein menschliches Grundbedürfnis.“158 Die „Politik der gleichheitlichen Anerkennung“ führt Taylor auf zwei unterschiedliche politische Ansätze zurück: erstens einer auf die Würde abzielenden Politik, die von gleichen Rechten und Freiheiten aller Menschen ausgeht und alle Menschen gleich achten soll. Der zweite Ansatz ist die Politik der Differenz, welche die individuelle Identität des Einzelnen oder der Gruppe in ihrer Besonderheit anerkennt.159 Beide Politikansätze sind eng miteinander verwoben, denn eine universelle Anerkennung der Identität von Menschen kann nur dann erfolgen, wenn gleichzeitig ihre Individualität anerkannt wird. Trotz der engen Verwobenheit haben beide Politikansätze unterschiedliche Ausgangspunkte. Diese werden dann deutlich, wenn Taylor sie am Beispiel von Diskriminierung erläutert. Demnach setzt sich die Politik der Würde für sämtliche Formen von Nicht-Diskriminierung ein und berücksichtigt keine Unterschiede zwischen Bürgern. Die Politik der Differenz fordert eine neue Definierung von Nicht-Diskriminierung und sieht gerade in den Unterschieden zwischen den Bürgern und Bürgerinnen einen Ausgangspunkt für eine differenzierte Politik. In einem konkreten praktischen Beispiel hieße dies, dass Minderheiten bestimmte Rechte zugesprochen werden, die auf ihre Identität zurückzuführen sind, die andere Men155 Der Sozialphilosoph Charles Taylor wurde 1931 im kanadischen Montreal geboren. Eine Einordnung seines biographischen Hintergrundes und seiner wichtigsten Untersuchungsgegenstände findet sich bei: Rosa, H. (1998), Identität und kulturelle Praxis: Politische Philosophie nach Charles Taylor. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 32 – 50. Taylor leitet seine Ideen zur Anerkennung von Jean-Jaques Rousseaus ab, siehe ausführlich hierzu Correll (2016), S. 38 ff. 156 Charles, T. (1993), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, S. 13 – 79, S. 23. 157 Ebenda, S. 15. 158 Ebenda, S. 15. 159 Ebenda, S. 28.

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schen in dieser Gesellschaft nicht beanspruchen können.160 Dieser in sich divergierende, zweigeteilte Ansatz bei Taylor ist im Anerkennungskontext von Opfern problematisch, weil die identitätsstiftende Unterschiedlichkeit von Menschen als Ausgangspunkt akzeptiert wird. Diese Form kann keine Gerechtigkeit aufgrund der gleichen Menschenwürde aller schaffen. Eine menschenrechtliche Diskussion über die Anerkennung von Opfern durch Reparationen ist jedoch nicht möglich, ohne das Ziel der wiederherstellenden Gerechtigkeit einzubeziehen und von der Gemeinsamkeit im Menschsein auszugehen. (2) Anerkennung als Frage von Gerechtigkeit Ein Ansatz hierfür könnte mit den Überlegungen von Nancy Fraser gelingen, die die Anerkennungstheorien von Taylor und insbesondere von Honneth weiterentwickelt. Frasers Anerkennungsmodell geht nicht wie bei Honneth und Taylor von einer Identität der Unterschiedlichkeit aus. In Honneth’s Theorie, mit dem sie sich auch ausführlich öffentlich auseinandersetzt, betrachtet Fraser Anerkennung als „eine Angelegenheit der Selbstverwirklichung.“161 Mit Honneth argumentierend, trägt Anerkennung ein Motiv von Privatheit. Fraser erwidert, dass die Anerkennung von Menschen schon deshalb nicht allein auf ihre gruppenspezifische Identität abzielen kann, weil dies zur Spaltung der gesamten Gesellschaft führen würde. Anerkennungspolitik mit Honneth und Taylor ist aus Frasers Sicht daher reine Identitätspolitik. Bei Fraser wird die Anerkennung zum Gerechtigkeitsmodell für ökonomische und kulturelle Fragen. Sie verknüpft Anerkennung mit Umverteilung. Frasers theoretischer Denkansatz wurde in menschenrechtlichen Diskursen seither bei feministischen Gerechtigkeitsfragen und in der Diskussion um Diversität und sexuelle Minderheiten angewandt.162 Ein Exkurs zu Frasers Anerkennungsmodell soll dessen Anwendbarkeit auf die Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen im Menschenrecht auf Reparationen prüfbar machen. Frasers Ausgangspunkt in ökonomisch und kultureller Ungleichheit und Ungerechtigkeit ließe sich grundsätzlich mit der Situation der Ungleichheit des Opferseins zu den Nicht-Opfern vergleichen. Gerechtigkeit muss das Fundament und das Ziel der Anerkennung von Opfern schwerer Menschenrechtsverbrechen sein. In einer Debatte um Opfer heißt dies, die Leid- und Unrechtserfahrungen sowie den Status als Opfer anzuerkennen und einen Beitrag zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit zu leisten. Fraser entwickelt in „Anerkennung ohne Ethik“ ein Gerechtigkeitsmodell, das Umverteilung und Anerkennung miteinander verbindet. Zum Gegenstand der Anerkennung wählt Fraser den sozialen 160

Ebenda, S. 29 – 30. Fraser, N. et al. (2003), Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 43. 162 Riede, H. (2016), Auf dem Weg zu partizipatorischer Parität? Überlegungen zur „HomoEhe“ im Anschluss an Frasers Theorie demokratischer Gerechtigkeit, in: Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien 22(1), S. 81 – 97. 161

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Status von Menschen. Bei der Anerkennung geht es um die Stellung von Gruppenangehörigen „als volle Partner in sozialen Interaktionen.“163 Der ideale gleiche Status äußert sich nach Fraser in der sogenannten „partizipatorischen Parität“: Menschen werden darin einander als ebenbürtig betrachtet. Daraus leiten sich Umverteilung und Anerkennung als wechselseitige Dimensionen von Gerechtigkeit ab. Um die partizipatorische Parität anzustreben sind stets zwei Bedingungen erforderlich: Erstens, muss die Verteilung von materiellen Gütern „die Selbständigkeit und Meinungsfreiheit“ der Beteiligten sichern (das sogenannte objektive Kriterium). Die Verteilung darf demnach keine neuen Ungleichheiten hervorrufen. Als zweites soll die intersubjektive Bedingung verhindern, dass Institutionen Normen vertreten, die einzelne Personen systematisch herabwürdigen – entweder weil ihr Anderssein nicht beachtet oder eben ganz besonders betont wird. Die Anerkennungsgerechtigkeit der partizipatorischen Parität Frasers entsteht nicht aus einem menschlichen Bedürfnis heraus, sondern aus einem sozialen Ungleichgewicht. Gerechtigkeit erfordert bei Fraser zwingend beides: die Anerkennung von Unrecht und die Umverteilung von Gütern. Fraser versteht ihren Ansatz „als pragmatisch, dem jeweiligen Zusammenhang angepasste und hilfreiche Antwort, spezifischen und wirklich bestehenden Ungerechtigkeiten zu begegnen.“164 Die fairste Form von Anerkennung ist immer diejenige, die eine direkte Antwort auf den erlittenen Schaden darstellt. Wird die Anerkennung verweigert, entstehen keine weiteren psychischen oder sonstigen Schäden des Einzelnen, sondern ein Verstoß gegen die allgemeine Gerechtigkeit, erklärt Fraser.165 Dem Einzelnen wird es in diesem Fall nicht erlaubt, „als Gleichberechtigter am Gesellschaftsleben zu partizipieren.“166 Während diesem Punkt Frasers einerseits klar zuzustimmen ist, darf mit Blick auf Opfer allerdings bezweifelt werden, dass keine erneuten Schäden entstehen, wenn die Anerkennung verweigert wird. Eine Herausforderung sieht Fraser in der Unterscheidung zwischen berechtigten und unberechtigten Anspruchsforderungen. Als Bewertung könne auch wieder die partizipatorische Parität und die beiden sie konstituierenden Bedingungen herangezogen werden, die erst geprüft sein müssen, um von einem echten und gerechten Anerkennungsanspruch auszugehen. Bei Missachtung der Anerkennung ist keine gleichberechtigte Partizipation am Leben möglich.167 Eine Politik der Anerkennung verfolgt bei Fraser das Ziel, Unterdrückung und Ungleichheit zu überwinden – und nicht wie bei Taylor und Honneth, Gruppenidentität zu stiften. Für Honneth und Taylor ist Anerkennung ein Teil der Selbstverwirklichung des Menschen. Fraser schafft mit der Anerkennung demgegenüber ein Verständnis, wonach Anerkennung und Umverteilung Gerechtigkeit stiften 163

Fraser, N. (2005), Anerkennung ohne Ethik?, in: Selbstachtung oder Anerkennung? Beiträge zur Begründung von Menschenwürde und Gerechtigkeit. Henning, H. (Hg.), Weimar: Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, S. 153 – 177, S. 156. 164 Ebenda, S. 165 f. 165 Fraser (2003), S. 45 f. 166 Ebenda, S. 45. 167 Fraser (2005), S. 153 – 156.

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sollen. Anerkennung und Umverteilung gehen zusammen. Im Fokus der Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen stehen allerdings nicht die von Fraser in den Blick genommene soziale Identität oder der Sozialstatus von Menschen und die daraus resultierende ungerechte Behandlung und Forderungen nach Umverteilung, sondern die individuellen und kollektiven Leiderfahrungen nach bewaffneten Konflikten. Berechtigte Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen erfolgt nach den tatsächlich gemachten physischen, psychischen und materiellen Unrechtserfahrungen. Dies ist die sie bedingende Kondition. Sie richtet sich an betroffene Gruppen und zugleich an Einzelpersonen. Wird die Anerkennung des Unrechts mit einer gerechtigkeitsschaffenden, materiellen Umverteilung verbunden, kann man jedoch mit Fraser das Potential der sogenannten partizipatorischen Parität erkennen. Das Recht auf Reparationen könnte eben diese partizipatorische Parität für Opfer internationaler Straftaten bewirken. Ein „anerkennungstheoretisches Gerechtigkeitskonzept“, das ausschließlich Menschen mit Opfererfahrung im Fokus hat, entwickelt der Jurist Frank Haldemann. Anerkennung ist für ihn eine Form von politischer Gerechtigkeit. Haldemann differenziert zwischen Opfern, die eine direkte Opferwerdung erfahren mussten und ihren Angehörigen einerseits sowie Mitgliedern von Gruppen, die struktureller Gewalt unterworfen sind. Anerkennung erfolgt auf individueller ebenso wie auf kollektiver Ebene.168 Anerkennung leitet sich von dessen Gegenteil – der Missachtung – ab. Wird ein Mensch Opfer eines Kriegsverbrechens oder Verbrechens gegen die Menschlichkeit erlebt er/sie eine starke Missachtung der eigenen Person. Bleibt diesem Opfer anschließend die Anerkennung der Gesellschaft verwehrt, erfährt es eine doppelte Missachtung. Mit seinem Ansatz will Haldemann gezielt die Vergangenheitsbewältigung nach schweren Menschenrechtsverbrechen fördern. Anerkennung ergibt sich aus einem moralischen Anspruch: „Wir schulden den Opfern vergangener Untaten angemessene Anerkennung, und wenn diese ausbleibt, haben sie moralische Gründe, sich herabgestuft oder gedemütigt zu fühlen.“169 Das Opfer muss aktiv an dem Anerkennungsverfahren beteiligt werden, um die eigenen Unrechtserfahrungen deutlich artikulieren zu können. Hierzu wird innerhalb von Staaten und ihren Institutionen der öffentliche Raum geschaffen, Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen Gehör zu geben. Das Anerkennungsverfahren muss möglichst formalisiert sein, um jegliche Emotionen außen vor zu lassen – auch wenn es als Strafverfahren offiziell die Ermittlung des Täters verfolgt.170 Nach internationalen Verbrechen ist nur die kollektive Anerkennung für eine zukunftsorientierte Vergangenheitspolitik der Gesellschaft relevant, obgleich es natürlich auch eine Anerkennung auf individueller Ebene des Täter-Opfer-Verhältnisses geben muss. In fünf Merkmalen beschreibt Haldemann schließlich sein Konzept der „kollektiven Anerkennung“: Erstens, historische Wahrheit ist die Ausgangsbasis jeglicher An168 Haldemann, F. (2009), Vergangenheitsschuld und das Andere der Gerechtigkeit, in: WestEnd, Neue Zeitschrift für Sozialforschung (1), S. 58 – 100, S. 58 – 61. 169 Ebenda, S. 69. 170 Ebenda, S. 75.

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erkennung; Zweitens, der Anerkennungsakteur muss die politische und rechtliche Legitimation der Gemeinschaft haben; Drittens, der Fokus der Anerkennung liegt auf der Rehabilitierung von Opfern; Viertens, die Unrechtserfahrungen müssen als Bestandteil der neuen gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung verstanden werden; Fünftens, verschiedene Arten von Anerkennung sind ein Teil einer „gesamtgesellschaftlichen Transformation“.171 Haldemann erstellt mit seinem Anerkennungskonzept eine Vorlage für vergangenheitspolitische Debatten nach bewaffneten Konflikten. Zugleich liefert er Impulse für den in dieser Arbeit zu untersuchenden Gegenstand der Anerkennung von Opfern durch Reparationen. Anerkennung von Opfern nach Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord forderte der erste UN-Sonderberichterstatter für „Truth, Justice, Reparations and Guarantees of Non-Recurrence“, Pablo de Greiff. De Greiff betrachtet Anerkennung als das wichtigste Element von Gerechtigkeit nach schwersten Menschenrechtsverbrechen. Er definierte Anerkennung als eine Bedingung und Folge von Gerechtigkeit. Anerkennung muss vorrangig dem individuellen Opfer gelten und sich doppelt auf eine Anerkennung des Opfers als Subjekt eigener Handlungen und zugleich als Objekt der Handlungen anderer beziehen. Nur dadurch wird der Mensch mit erlittener Unrechtserfahrung als Opfer anerkannt – in einem Anerkennungsverfahren in einem nationalen Rahmen auch zusätzlich als Bürger_in. Alle Transitional Justice-Mechanismen sollten aus der Sicht von de Greiff „through the lens of recognition“ betrachtet werden. Reparationen versteht de Greiff als eine bestimmte solidarische Anerkennungsform: „They are, in a sense, the material form of the recognition owed to fellow citizens whose fundamental rights have been violated.“172 Durch seine Forschung über die Opfer der Franco-Diktatur gelangt der spanische Theologe und Philosoph Galo Bilbao Alberdi zu der These, dass die Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen immer nur im Zusammenhang mit der Frage ihrer Unschuld diskutiert werden kann.173 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der Gedanke, dass Unrechtserfahrungen nach kriegerischen Konflikten immer einen Angriff auf die Menschenwürde darstellen, die in den Menschenrechten verankert ist. Ein Akt der Opferwerdung ist stets eine Verletzung der grundlegenden Menschenrechte. Nachdem die Menschenwürde unantastbar ist und nicht von Leistungen oder Aktivitäten einzelner Menschen abhängt, ist jedes Opfer schon aufgrund der ausgesetzten Passivität und der erlittenen Gewalterfahrung unschuldig. Bilbao Alberdi identifiziert die Unschuld als elementares Wesensmerkmal der Opfereigenschaft. Allein die nachgewiesene Unschuld rechtfertige es daher, Menschen mit Opfererfahrung einen offiziellen Opfertitel anzuerkennen. Opfer müssen sich den Opferstatus nicht erst durch besondere Verdienste erwerben. 171

Ebenda, S. 87 – 89. De Greiff (2006), S. 461 f. 173 Alberdi, G. B. (2017), Inocencia y reconocimiento, in: Un mundo de víctimas. Gatti, G. (Hg.), Barcelona: Anthropos, S. 331 – 339. 172

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Die Unschuld bezieht sich ausschließlich auf die jeweilige Viktimisierung und kann keinen übergeordneten Freispruch in Form eines Blankoschecks bedeuten. Eine Opferwerdung können auch diejenigen Personen erfahren, die in der kriegerischen Auseinandersetzung eine bestimmte Rolle und Funktion eingenommen hatten – beispielsweise als Militärangehörige – oder die gar selbst zu Tätern von Verbrechen geworden sind. Ein Militärangehöriger kann zum unschuldigen Opfer und zum schuldigen Täter in derselben kriegerischen Auseinandersetzung werden. Die Feststellung der wichtigen Schuldfrage muss in einem fairen gerichtlichen Verfahren erfolgen, das die Menschenrechte der Täter wahrt. Nach der Zurechnung der Schuld sollte diese in Form materialisierter Schulden gegenüber den unschuldigen Opfern abgezahlt werden. Aufgrund der Haftung zwischen dem Täter und dem Opfer – sowie im weiteren Sinne der Gesellschaft –, die aufgrund des Menschseins besteht, ist dieser Schritt nur eine logische Konsequenz. Erst nach Abzahlung der Schulden ist ein Täter wieder straffrei.174 Würde die Anerkennung von Opfern jedoch ausschließlich auf der Basis von Unschuld beruhen, könnte die Gefahr bestehen, dass Opfer auf eine tugendhafte Weise verklärt oder gar ikonisiert werden. In einer gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung könnte die individuelle Vergangenheit des Opfers nach einem Anerkennungsprozess allein durch Unschuld für die Zeit vor der Viktimisierung ausgelöscht werden. Die dadurch neugewonnene moralische Tugend verliehe dem Opfer eine besondere Form der Unantastbarkeit, die einen Ausschluss aus der Gemeinschaft nach sich ziehen würde oder sie umgekehrt in eine exklusivere, bessergestellte Stellung bringt. Beides würde das gerechtigkeitswiederherstellende Ziel der Anerkennung durch Entschädigung verfehlen. Die Anerkennung von Menschen mit schwerster Opfererfahrung sollte auch immer eine inkludierende Funktion übernehmen, die zuerst in der (Wieder-)Aufnahme in eine Rechtsgemeinschaft besteht. Um Opfer aufgrund ihrer Unschuld in Bezug auf die erfahrene Viktimisierung anzuerkennen, muss es aus der Sicht von Bilbao Alberdi zwingend gelingen, ihre Perspektive einnehmen zu können. Die Realität und die Wahrnehmung unterscheiden sich aus der Sicht von Opfern zu derjenigen von Nicht-Opfern. Im Anerkennungsprozess sind daher auch die Gründe zu ermitteln, die ein Opfer daran hindern oder motivieren, sich aktiv am Verfahren zu beteiligen. Die Perspektive von Opfern einnehmen, heißt für Bilbao Alberdi, möglichst vielen Opfern Gehör zu schenken. Eine Diskussion um Anerkennung bleibt rein theoretisch, solange Opfer nicht einen Vor-, einen Nachnamen und einen Beruf haben und damit individualisiert sind. Jedes Opfer ist stets als ein Subjekt mit all seinen Rechten anzuerkennen.175 Anerkennung wird nur dann im Interesse von Opfern sein, wenn ihre Menschenwürde geachtet wird und ihre Menschenrechte voll realisiert sind. Hierzu zählen das Recht auf Wahrheit, das Recht auf Gerechtigkeit und das Recht auf 174 175

Alberdi (2017), S. 331 – 339. Ebenda, S. 336.

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Reparationen.176 Im Anerkennungskonzept von Bilbao Alberdi gewinnen Opfer somit durch das Zeugnisablegen einen Teil ihrer verlorenen Freiheit zurück, was im menschenrechtlichen Fachjargon mit „Empowerment“ bezeichnet werden könnte. Durch das Zeugnisablegen werden Opfer zu den Autoren und Erzählern ihrer eigenen Opferwerdungen und Leiderfahrungen. Es entsteht eine „identidad narrativa“ (dt. narrative Identität) der Opfer.177 Das Motiv der Anerkennung initiiert im Recht auf Reparationen einen gerechtigkeitsschaffenden Prozess, wenn eine direkte Antwort auf die gemachten Leiderfahrungen gegeben wird. Sichtbare und unsichtbare Leiderfahrungen werden dokumentiert und durch die Anerkennung im Recht auf Reparationen beglaubigt. Der individuell und gesellschaftlich bedeutende Status des unschuldigen Opferseins wird bestätigt und so den Opfern Glauben geschenkt, tatsächlich Leiderfahrungen durch Straftaten erlitten zu haben. Die Anerkennung im Recht auf Reparationen eröffnet den Weg für die Rehabilitation von Opfern und für ihre gleichberechtigte Teilhabe am weiteren gesellschaftlichen und politischen Leben. cc) Die Bedeutung der Anerkennung für Opfer internationaler Menschenrechtsverbrechen Ehe der Begriff der „Anerkennung“ Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs fand, war er seit Jahrzehnten Bestandteil der Forderungen von Opfern und ihren Angehörigen. Der Ruf nach Anerkennung findet sich in den Berichten von Wahrheitskommissionen oder in den Appellen von Opferorganisationen wieder. Anerkennung entspricht häufig der von Taylor geprägten Definition und zeigt sich als urtümliches, menschliches Bedürfnis, das in allen Kulturen und Religionen, Sprachen und Regionen der Welt existiert. Der Wunsch nach Anerkennung kennt kein Zeitlimit und wird häufig zu einem generationenübergreifenden Anliegen. Praktische Erfahrungen von Experten und Betroffenen sollen im Folgenden Rückschlüsse für ein menschenrechtliches Konzept der Anerkennung von Opfern internationaler Menschenrechtsverbrechen im Recht auf Reparationen ermöglichen. In der Vergangenheit leisteten verschiedene Maßnahmen in Deutschland einen erinnerungskulturellen Beitrag zur öffentlichen Akzeptanz von Opfergruppen durch die Gesellschaft. Die Gemeinde der Sinti und Roma erhielt in Deutschland erst sehr viel später eine offizielle Anerkennung als Opfergruppe der Verbrechen des NSRegimes als die Juden. Mit der Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Europa in Berlin wurde im Jahr 2012 die Anerkennung der Verfolgung und Ermordung Tausender schließlich auch im öffentlichen Raum sichtbar. Die Denkmalseinweihung beschrieb der Vorsitzende des Landesverbands deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg, Daniel Strauß, mit folgenden Worten: „Es hat einen Punkt gesetzt, indem es den Holocaust an den 176 177

Ebenda, S. 336 f. Ebenda, S. 337 f.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Sinti und Roma anerkennt. Es ist aber auch ein Punkt, von dem aus wir jetzt nach vorne schauen können.“178 Während das Denkmal im Großen Tiergarten in Berlin für Besucher_innen einen weiteren Baustein der deutschen Erinnerungskultur darstellt, visualisiert es die Anerkennung der betroffenen Opfergruppe seitens Deutschlands. Die symbolische Sichtbarkeit fördert die gesellschaftliche Anerkennung der Opfergruppe, die eine Zeitenwende im Status von der Opferwerdung zum anerkannten Opfersein einläutet und gleichzeitig den Betroffenen eine Zukunftsperspektive eröffnet. Im Bericht der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission wird Anerkennung zum künftig anzustrebenden Ziel der Bevölkerung nach dem Ende der Apartheid deklariert: „[…] towards a future founded on recognition.“179 Anerkennung wird in eine zeitliche Relation gesetzt und zugleich mit dem Diskriminierungsverbot verknüpft. Außerdem wird Anerkennung mit der Unrechtserfahrung kontextuiert: „The recognition of apartheid as an oppressive and inhuman system of social engineering is a crucial point of departure for the promotion and protection of human rights and the advancement of reconciliation for South Africa.“180 Explizit wird die Apartheid deutlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit „anerkannt“. Doch selbst die Anerkennung des Verbrechens wird in eine Zukunftsperspektive gesetzt: „The recognition of apartheid as a crime against humanity remains a fundamental starting point for reconciliation in South Africa.“181 Die Anerkennung der Verbrechen durch die „Täter“ sollte die Grundlage für die Versöhnung der gespaltenen Gesellschaft in der Zukunft schaffen. Die südafrikanische Vergangenheitspolitik sah ihren Dreh- und Angelpunkt im Konzept der Versöhnung, die nicht ohne zuvor erfolgte Anerkennung der Opferwerdungen als Folge von Unrecht möglich sein sollte. Der Bericht der guatemaltekischen Wahrheitskommission von 1999 symbolisiert die Anerkennung der Opfer und der erlittenen Unrechtserfahrungen, die zu den Opferwerdungen geführt haben. Die Anerkennung bezieht sich auf die Identität der Opfergruppe, die sich in erster Linie aus den indigenen Mayas zusammensetzte. Ihre Identität wird im Bericht der Wahrheitskommission stets mit ihrer besonderen Kultur und Spiritualität definiert. Die Unrechtserfahrungen der Opfer werden als wahre Ereignisse betont. Anerkennung und Wahrheit werden so in eine unmittelbare Symbiose gebracht. Ohne die Wahrheit der Opferwerdungen kann keine Anerkennung der Unrechtserfahrungen und der Opfer erfolgen. Im Bericht werden die Verbrechen an den individuell aufgelisteten Opfern genannt. Die Wahrheit der 178 Dernbach, A. (2013), „Anerkennung macht uns sichtbarer“. Der Tagesspiegel, https: //www.tagesspiegel.de/politik/sinti-und-roma-anerkennung-macht-uns-sichtbarer-/7726166. html (Stand 1. 9. 2020). 179 Truth and Reconciliation Commission of South Africa (1998), Report Volume One, S. 68, paras. 73, https://www.justice.gov.za/trc/report/finalreport/Volume 1.pdf (Stand 1. 9. 2020). 180 Ebenda, S. 68, paras. 73. 181 Ebenda, S. 94, Appendix 1.

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Opferwerdungen wird so personalisiert. Opfer bleiben nicht anonym, sondern erhalten eine namentliche Anerkennung durch die Auflistung unter den jeweils erlittenen Unrechtserfahrungen. Die Anerkennung der Opfer erfolgt weiterhin über die Benennung der Täter, der Aggressoren und Verursacher schwerster Menschenrechtsverbrechen.182 Diese zwei Seiten der Anerkennung zeigen sich auch in einem Gesetz namens „Ley de Reconocimiento y Atencion a las victimas de Terrorismo“ (dt. Gesetz über die Anerkennung und Achtung der Opfer des Terrorismus) der Regionalregierung des spanischen Bundesstaates Castilla y León, das den Opfern des Terrorismus seit September 2017 Anerkennung und Würdigung ausspricht. Anerkennungssubjekte dieses Gesetzes sind Menschen, die eine Opfererfahrung durch terroristische Taten während des Franco-Regimes erleiden mussten. Anerkennung ist im Gesetz selbst freilich nicht in seiner etymologischen Bedeutung erfasst, obgleich Artikel 1 die Anerkennung zum obersten Ziel des Gesetzes erklärt.183 Eine Auslegung des Verständnisses von „Anerkennung“ kann dennoch vorgenommen werden, sobald man den Gesetzestext oder die öffentlichen Aussagen von Politikern und Politikerinnen analysiert. Als Hauptmotiv für die Verabschiedung des Anerkennungs-Gesetzes bezeichnete der Vizepräsident von Castilla y León, José Antonio de Santiago-Juárez, in einem Interview die Förderung einer Kultur des Friedens. Diese solle Gewalt und die Missachtung von Gleichheit und Würde von Menschen ablehnen. Erklärtes Ziel war es, die Opfer sichtbar zu machen und ihnen eine Stimme zu geben. Aus der Sicht des Präsidenten der Opfervereinigung des Terrorismus, Juan José Aliste, war der Begriff der Anerkennung der wichtigste Punkt für die Opfer neben den eigentlichen Maßnahmen der Opferhilfe.184 Die Anerkennung der Opfer des Terrorismus erfolgt in dem Gesetz auf drei Ebenen: erstens auf der Ebene der Opferrechte, zweitens durch die Erinnerung an die grausamen Verbrechen und drittens aufgrund des Gedenkens an die Opferwerdungen.185 Doch wie schwer sich Vertreter_innen aus Politik und Regierung häufig tun, Opfern Anerkennung in Bezug auf schwere Menschenrechtsverbrechen auszusprechen, demonstrierte die Diskussion im Deutschen Bundestag 2016 zum Völkermord an den Armeniern. In der verabschiedeten Resolution wird die „Anerkennung“ kein einziges Mal wörtlich gebraucht. In den Eingangsworten heißt es: 182

lencio.

La Comisión para el Esclarecimiento Histórico (1999), Guatemala: Memoria del Si-

183 La Ley de Reconocimiento des Victimas des Terrorismo, Articulo 1. „Esta Ley tiene por objeto el reconocimiento de las víctimas del terrorismo“. (Übersetzung dt. ML: Ziel dieses Gesetzes ist die Anerkennung der Opfer des Terrorismus). 184 Press, E. (2017), La Ley de Reconocimiento del Víctimas del Terrorismo une a los grupos en la lucha por la paz. 20minutos.es, https://www.20minutos.es/noticia/3139787/0/leyreconocimiento-victimas-terrorismo-une-grupos-lucha-por-paz/ (Stand 1. 9. 2020). 185 Ley 4/2017, de 26 de septiembre, de reconocimiento y atención a las víctimas del terrorismo en Castially y León, Comunidad de Castialla y León, BOCL num. 189, de 2 octubre de 2017.

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„Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reiches, die vor über hundert Jahren ihren Anfang nahmen.“186 Selbst wenn ein „Verneigen“ als eine Geste der Anerkennung gedeutet werden kann, ist dies sehr viel schwächer als die „Anerkennung“ selbst. Eine weitere Abschwächung der Opfer wird gleich mit dem zweiten Satzteil vorgenommen und der Tatsache, dass die Verbrechen an dieser Stelle „nur“ als Massaker und nicht als inzwischen wissenschaftlich anerkannter Völkermord bezeichnet werden.187 Lediglich der Titel der Resolution spricht direkt vom „Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten“, aber wiederum nicht im Zusammenhang mit einer klar ausgesprochenen Anerkennung desselben, sondern in „Erinnerung und Gedenken“.188 Die Bundestagsresolution war damit nicht der Forderung von „Anerkennung jetzt“ gefolgt, die zahlreiche Intellektuelle, Professoren und Professorinnen sowie Interessenvertreter_innen in einem offenen Brief an die Abgeordneten gestellt hatten. Ihrer Ansicht nach handele es sich bei der Anerkennung um eine „gesellschaftspolitische Haltung“, mit dem Ziel die „Geschichte und Erinnerung“ der Opfernachfahren zu schützen. Die Anerkennung besteht in einer „eindeutige(n) Benennung des Geschehen(s)“ als Völkermord. Erfolgt diese Anerkennung nicht ausdrücklich, wird eine Politik fortgesetzt, „die sich von der Diskriminierung und Repression von Minderheiten nicht distanziert.“189 Die ausgewählten Beispiele aus verschiedenen kulturellen und historischen Bezügen demonstrieren, dass das Anerkennungselement im Recht auf Reparationen in den jeweiligen Situationen beabsichtigt, die Opfer von Verbrechen aus einem gesellschaftlich-politischen Bedürfnis heraus zu würdigen und eine Form von Gerechtigkeit zu schaffen. Wird der Diskurs um die Fachdisziplinen der Psychiatrie und Psychologie ergänzt, ergibt sich ein weiterer Aspekt, der sich bereits in der etymologischen Definition fand: Hier wird die Anerkennung häufig als Synonym zu Wertschätzung und Respekt verwendet. Anerkennung wird dann zum wichtigen Baustein von wechselseitigen sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Die rechtliche und öffentliche Anerkennung des erlittenen Unrechts im Recht auf Reparationen müssen Opfer freiwillig anstreben können. Gerade die freiwillige Partizipation von Opfern, wie an den eingerichteten Wahrheitskommissionen zu 186

Deutscher Bundestag (2016), Drucksache 18/8613. ICTJ, The Applicability of the United Nations Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide to the events which occurred during the early Twentieth Century, Legal Analysis prepared for the International Center for Transitional Justice 2002; Petrossian, G. (2019), „Staatenverantwortlichkeit für Völkermord“, Unter besonderer Berücksichtigung der Ereignisse der Jahre 1915 – 1923 im Hinblick auf die armenisch-türkischen Beziehungen. Berlin: Duncker & Humblot, S. 137. 188 Deutscher Bundestag (2016), Drucksache 18/8613. 189 Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, Anerkennung jetzt, 22. 04. 2015, http://michabrumlik.de/offener-brief-an-die-abgeordneten-des-deutschen-bundes tags-anerkennung-jetzt-keine-relativierung-des-genozids-an-den-armeniern/ (Stand 1. 9. 2020). 187

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beobachten war, fördert die Anerkennung der Opfererfahrungen in der Gemeinschaft. b) Achtung der Würde als Grundlage der Anerkennung von Opfern „The first thing is that most of us have lost our dignity and we can not physically fend for our selves any longer. We have been reduced to beggars“190, erklärte der Opferzeuge Tamba Finnoh vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Sierra Leone die Folgen der eigenen Viktimisierung. Während des zehnjährigen bewaffneten Konflikts waren dem ehemaligen Landwirt und Geschäftsmann beide Hände von Rebellen abgehackt worden – eine konnte operativ wieder rekonstruiert werden. Dennoch ist der subjektiv empfundene Verlust der Menschenwürde die erste Leiderfahrung, die Finnoh nennt. Bei Opfern von Gewalterfahrungen spiegeln sich in der verletzten Menschenwürde die Leiderfahrungen, die Menschen während ihrer Opferwerdung und darüber hinaus erleben mussten. Bei Tambah Finnoh ist dies die Schmach, nicht mehr arbeiten und für sich selbst sorgen zu können, bei Ruth Klüger die Diskriminierung als Frau und Stigmatisierung als Holocaust-Überlebende. Bei Opferzeugin 50 am Jugoslawientribunal, die sexualisierte Gewalt im Bosnienkrieg erlitten hat, ist es die langjährige Sprachlosigkeit. Die Leiderfahrungen werden als Verletzungen oder gar Verlust der Menschenwürde empfunden. Opfer internationaler Straftaten mussten erfahren, dass sie von anderen nicht gleichwertig als Menschen behandelt wurden und ihre Menschenwürde missachtet worden war. Nach der eigenen Foltererfahrung hinterfragt Améry seine Menschenwürde: „(W)ie verhält es sich eigentlich mit der Würde, die man mir 1935 erstmals absprach, mir offiziell vorenthielt bis 1945, die man mir vielleicht heute noch nicht zuerkennen will und die ich darum auf eigene Hand gewinnen muß? Was ist Würde überhaupt?“191 Bei Kant findet die Würde die Erklärung, dass jeder Mensch ungeachtet von seinen persönlichen Erfahrungen und seinem Empfinden einen bestimmten inneren Wert verkörpert, der die Achtung aller Menschen erfordert.192 Dieser Wert liegt in der universellen Gemeinsamkeit des Menschseins. An seine Achtung appelliert die Menschenwürde. Aus dem Achtungsanspruch leitet Kant die Forderung ab, dass „(d)ie Menschheit in seiner Person das Objekt der Achtung (ist), das er von jedem anderen Menschen fordern kann.“193 Aufgrund des eigenen Menschseins ist jeder zur Achtung anderer verpflichtet. Die Menschenwürde ist an keinen Zweck gebunden, sie unterliegt keinem beliebigen Interesse Einzelner, sondern ist universell aufgrund 190 Truth and Reconciliation Commission Sierra Leone (2003), Transcripts of Public Hearings. Volume 1, Appendix 3, S. 4, https://www.sierraleonetrc.org/index.php/view-the-finalreport/download-table-of-contents/appendices/item/appendix-3-transcripts-of-trc-public-hea rings?category_id=15 (Stand 1. 9. 2020). 191 Améry (1997a), S. 139. 192 Kant, I. (2008), Die Metaphysik der Sitten. Valentinger, T. (Hg.), Dietzingen: Reclam. 193 Kant, I. (1797), Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Königsberg, S. 435.

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des gemeinsamen Menschseins.194 In der zweiten Formel des kategorischen Imperativs mahnt Kant die Menschen daher an: „Handle so, daß Du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“195 Die Achtung des Selbst erfolgt auch in der Achtung von anderen. Selbstachtung heißt den Achtungsanspruch ernst zu nehmen. Der sich selbstachtende Mensch wird so zum Verantwortungssubjet für sich und andere. Das Wesen der „Achtung in praktischem Sinne“ besteht schließlich darin, dass sie geboten ist und auch geboten werden muss.196 Freilich liegen zwischen Achtung und Ankerkennung rein semantisch betrachtet nur Nuancen, die selbst Kant nicht ausdifferenziert. Im Menschsein gehören beide Begriffe jedoch eng zusammen. „Achtung, die ich für Andere trage, oder die ein Anderer von mir fordern kann (…), ist also die Anerkennung einer Würde (dignitas) an anderen Menschen (…).“197 Der Achtungsanspruch der Würde erfordert die praktische Anerkennung von Opfern, wie die beschriebenen Opfererfahrungen von Tamba Finnoh, Ruth Klüger, Opferzeugin 50 und Jean Améry veranschaulichen. Deren Opferwerdungen sind in unterschiedlichen bewaffneten Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen und unter sich erheblich voneinander unterscheidenden historischen, kulturellen und sozioökonomischen Voraussetzungen entstanden – und doch ähneln sich ihre Berichte soweit es den von ihnen empfundenen „Verlust der Menschenwürde“ betrifft. Schon Kant gesteht der Achtung auch etwas „bloß Subjektives“ zu – „ein Gefühl eigener Art“.198 Die UN Erklärung für die Rechte von Menschen mit Behinderung definiert dies als „sense of dignity“. In Artikel 24 zeigt sich der innovative Ansatz der UN-Behindertenrechtskonvention, wenn die Notwendigkeit erklärt wird, die Menschenwürde in gezielter Bewusstseinsbildung für Betroffene wieder erfahrbar zu machen.199 Auch Opfer schwerster Verbrechen werden ihrer „sense of dignity“ von Tätern beraubt. Mit der Folter haben die Folterer Améry den „sense of dignity“ abgesprochen, das Gefühl der eigenen Würde. Den Frauen, die Opfer sexueller Gewalt in Guatemala und Bosnien geworden sind, sollte die „sense of dignity“ in Form der Selbstachtung abgesprochen werden. Gleiches gilt für Ruth Klüger und Tamba Finnoh. Durch die Anerkennung der Leiderfahrungen und des Opferseins im Recht auf Reparationen kann Opfern die Würde wieder bewusst gemacht werden. Im Anerkennungsprinzip des Rechts auf Reparationen wird die Würde für Opfer im Sinne des „sense of dignity“ wieder praktisch erfahrbar. Nach der Opferwerdung muss die Achtung des Menschseins zwangsläufig die Anerkennung des Opferseins 194

Kant (2008), S. 429. Ebenda, S. 429. 196 Kant, I. (2017), Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Hamburg: Felix Meiner, S. 449. 197 Ebenda, S. 462. 198 Ebenda, S. 403. 199 United Nations (2006), Convention on the Rights of Persons with Disabilities (hier kurz: CRPD), Art. 24 (1)(a). 195

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und der Leiderfahrungen umfassen. Als unwiderrufliches Gebot gilt der Achtungsanspruch der Menschenwürde für alle Menschen und somit auch für Menschen mit einer Leiderfahrung, die Opfer einer schweren (internationalen) Straftat geworden sind. Gerade für Menschen mit Opferwerdung ist die Achtung von entscheidender Bedeutung, nachdem sie zuvor erlebt haben, wie das nationale und internationale Schutzsystem versagt haben und ihre Würde und Menschenrechte verletzt wurden. Die Würde erlaubt Opfern die Anerkennung ihres Opferseins auch praktisch einzufordern, weil die Anerkennung in der Achtung begründet ist. Die Würde von Opfern zu achten, heißt die Opferwerdungen und Leiderfahrungen anzuerkennen. Dazu verpflichtet die Würde alle Menschen.200 Adressat für die Anerkennung von Opfern von Völkerrechtsverbrechen ist auch die institutionalisierte Weltgemeinschaft, denn diese Verbrechen schocken zutiefst „das Bewusstsein der Menschheit“ wie es in der Präambel des IStGHSt des Internationalen Strafgerichtshof heißt. Die internationale Rechtsgemeinschaft repräsentiert dann symbolisch Kants „Würde der Menschheit“.201 Die Würde besteht ohne ein bestimmtes Motiv, sie bedarf keiner politischen, gesellschaftlichen oder sonstigen Zuschreibung und wird mit der Autonomie des Individuums begründet.202 Anerkennung ist hingegen stets an ein bestimmtes Kriterium gebunden. Bei Menschen mit Opfererfahrung sind es die gemachten Leiderfahrungen. Bereits der gefühlte Verlust der Würde ist eine Leiderfahrung, die anzuerkennen ist.203 Die Opferwerdungen und Leiderfahrungen müssen bei Entschädigungsverfahren als Verstöße gegen die Menschenwürde bewertet werden. Die physischen, psychischen und materiellen Leiden sind die Folgen der vernunftlosen Versachlichung von Menschen in einem bewaffneten Konflikt. Den höchsten Preis, den jede kriegerische Auseinandersetzung zahlt, sind menschliche Opfer und ihre Leiderfahrungen. Diese Leiderfahrungen werden im juristischen und versicherungsrechtlichen Fachjargon mit dem Begriff des Schadens versachlicht und entpersonalisiert, um ihnen einen materiellen Wert zuordnen zu können. Die Versachlichung deutet auch auf die Bewältigungsversuche im Umgang mit schweren Menschenrechtsverbrechen hin und das mangelnde Sprachvermögen, schwer Begreifliches anders auszudrücken. Gemeinsam haben alle Entschädigungsversuche, dass sie darauf abzielen, eine ausgleichende Gerechtigkeit der Opferwerdungen mit einem Äquivalent zu leisten und zugleich die Achtung der Würde auszudrücken. Bliebe Opfern die Chance auf Anerkennung vorenthalten, hieße dies eine erneute Missachtung ihrer Würde. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Menschenwürde erstmals im Völkerrecht als eigenständige Norm verankert. Bereits die UN Charta von 1945 hielt als Ziele fest „to 200

Kant (2017), S. 462. Ebenda, S. 462. 202 Kant (2008), S. 436. 203 Bielefeldt, H. (1998), Philosophie der Menschenrechte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 65. 201

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reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person, in the equal rights of men and women and of nations large and small“.204 In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den beiden Menschenrechtspakten findet die Menschenwürde ihren Ausdruck als oberstes Rechtsprinzip.205 Die Achtung der inhärenten Menschenwürde wurde in der AEMR in einen ersten Anerkennungskontext gesetzt, wenn es im ersten Satz der Präambel heißt: „Wheras recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world.“206 Nur durch die rechtliche Anerkennung von Würde und den darauf basierenden gleichen und unveräußerlichen Rechten, kann ein gesellschaftliches Fundament von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden für das Zusammenleben von Menschen entstehen. Der Achtungsanspruch der Menschenwürde wird in den rechtlich verpflichtenden Menschenrechten anerkannt. Diese Ansicht findet sich auch bei Bielefeldt, wenn er erklärt, dass „(a)lle Menschenrechte (…) im Horizont der Menschenwürde (stehen), und es (…) demnach kein Menschenrecht (gibt), dessen ernsthafte Verletzung nicht zugleich eine Kränkung des in der Würde begründeten personalen Achtungsanspruchs bedeutet.“207 Die Achtung der Menschenwürde muss nicht eingefordert oder zugeschrieben werden, denn sie ist metaphorisch gesprochen angeboren. Frieden und Sicherheit sind die Grundlage der Achtung der Menschenwürde, und die in der UN Charta formulierten Ziele und Grundsätze unabdingbar für den Schutz von Menschen. Jeder Mensch hat Anspruch auf die Achtung der Menschenrechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Seit 1948 wurde das Schutzsystem stets erweitert und auf besonders gefährdete Gruppen fokussiert. Beispielhaft sind an dieser Stelle Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen genannt, für deren Menschenrechte spezielle Konventionen entwickelt wurden. Dies entstand aus dem Wissen der an ihnen verübten Diskriminierungen und Verbrechen sowie potentiellen Gefährdungen. Eine besondere Gemeinsamkeit eint diese Gruppen jeweils – sei es das weibliche Geschlecht, das Alter, welches das Kindsein definiert, oder eine körperliche oder geistige Behinderung. Diese Gruppen bedürfen einer gesonderten Achtung ihrer Rechte aufgrund eines gemeinsamen Anerkennungsmerkmals, welches auch häufig Gegenstand von Diskriminierungen gewesen ist. Eine Achtung ihrer Menschenwürde erfahren die Mitglieder der genannten und anderen Gruppen bereits aufgrund ihres Menschseins. Eine in der Würde begründete Anerkennung erhalten die betreffenden Personengruppen jedoch wegen einer gemeinsamen Besonderheit. Es ist ein Merkmal, das die Gruppe als besonders schutzwürdig cha204

United Nations. (1945), Charter of the United Nations. Art. 1 UDHR: „All human beings are born free and equal in dignity and rights“. ICCPR, ICESC „Considering that, in accordance with the principles proclaimed in the Charter of the United Nations, recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family in the foundation of freedom, justice and peace in the world …“. 206 UDHR, Preamble. 207 Bielefeldt (2011), S. 110 f. 205

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rakterisiert, weil es eine hohe Anfälligkeit für Verletzungen der Menschenwürde und Menschenrechte zeigt. Die besondere Schutzbedürftigkeit wird auf diese Weise begründet und erfordert spezielle Normen. Erst die Anerkennung dieser die Gruppe einenden Besonderheit lässt die Erstellung einer speziellen Konvention erklären und Forderungen als Bestandteil der Achtung ihrer Würde nachvollziehen. Die Schutzbedürftigkeit differenziert sich nicht danach, ob das Anerkennungsmerkmal seit der Geburt vorliegt oder erst später entstanden ist – wie bei Menschen, die Opfer von Menschenrechtsverbrechen geworden sind. Der gravierende Unterschied liegt vielmehr in der anzuerkennenden Besonderheit selbst. Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderung müssen zur Anerkennung ihrer Menschenrechte keinen Anerkennungsprozess durchlaufen. Frausein, Kindsein und jegliche Form von Behinderung sind natürliche Begebenheiten und erfordern daher keine gegenseitige Anerkennung. Diese Anerkennungsmerkmale haben im Kant’schen Sinne den „Selbstzweck“ des Menschseins. Bei Opfern schwerer Menschenrechtsverbrechen liegt das Anerkennungsmerkmal hingegen in der Opferwerdung, die Menschen durch Verbrechen erfahren haben. Die Opferwerdung ist eine aufgezwungene Leiderfahrung, und die erlittenen Verletzungen resultieren in einer erhöhten Verletzlichkeit der Opfergruppe. Dies lässt Opfer in gleichem Maße schutzbedürftig erscheinen wie Menschen, die von Natur aus einer besonders gefährdeten Gruppe angehören. Die Opferwerdung ist kein natürliches Gut. Sie ist ein Zeugnis von Unrecht und stellt die Frage nach der Verantwortlichkeit für die Durchführung der Taten. Die Opferwerdung ist ein Anerkennungsmerkmal besonderer Schutzbedürftigkeit aufgrund lebensgeschichtlicher Erfahrungen, die zwingend einen empirischen Anerkennungsprozess erfordert, dessen Mandat in der Achtung der Würde liegt. In Verbindung mit der erhöhten Schutzbedürftigkeit und dem Leid, das aus erlittenem Unrecht entstanden ist, wird die Anerkennung so zu einem menschenrechtlichen Anliegen, welches der Achtung der Menschenwürde nach erlittenem Unrecht die notwendige Geltung und Wirkkraft verschafft. Durch die Anerkennung der Opferwerdung ist für Opfer der Zugang zu bestimmten Rechten möglich. Die Anerkennung einer Besonderheit steht nicht im Widerspruch zur Universalität der Würde. Die Würde, so Bielefeldt, „(…) impliziert die Anerkennung eines jeden Individuums in unvertretbarer Besonderheit und verlangt zugleich, dass diese Anerkennung in jeweiliger Besonderheit nicht auf einen partikularen Kreis privilegierter Individuen beschränkt wird.“208 Anerkennung wird zu einem menschenrechtlichen Anliegen, wenn die Anerkennungsprozesse auf dem normativen Universalismus und der Achtung der Würde beruhen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Menschenwürde in Artikel 1 des Grundgesetztes in dem Kant’schen Verständnis interpretiert und entschieden, dass es „der Menschenwürde widerspricht, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen.“209 Positiv gewendet soll die sogenannte Objektformel gewährleisten, dass 208 209

Ebenda, S. 72. BVerfGE 5, 85 (204); 7, 198 (205); 27, 1, (6).

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das Individuum in seiner Subjektqualität und damit seinem Menschsein geachtet wird. Dies betrifft zunächst einmal die Frage, mit welchen Mitteln die Schuld eines Angeklagten im Rechtsstaat festgestellt werden darf. Es schließt beispielsweise aus, Geständnisse durch Drohung oder Folter zu erzwingen.210 Eine derartige Verobjektivierung droht jedoch ebenso, wenn Opfer nach Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord zu bloßen Beweisstücken im staatlichen Verfahren zur Schuldfeststellung der Täter ohne eigene Rechte werden. Menschen wurden im Rahmen bewaffneter Konflikte zu Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen. Sie wurden ihrer subjektiven Handlungsfähigkeit beraubt und zu Objekten krimineller Handlungen anderer degradiert. Die Opferwerdung ist eine Folge der kriegerischen Instrumentalisierung von Menschen. Darin liegt kein Selbstzweck des Menschseins, sondern vielmehr eine besonders schwere Missachtung der Menschenwürde. Die Achtung der Menschenwürde von Opfern kann nur in Verbindung mit der Anerkennung ihrer Opferwerdung erfolgen. Anerkennungsprozesse der Opferwerdungen, seien es Strafverfahren oder andere Maßnahmen, wie etwa Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, schreiben die verübten Verbrechen und die entstandenen Leiderfahrungen bestimmten Menschen zu. Echte Anerkennung des Opferseins besteht, wenn die Opferwerdung zum Gegenstand im Verfahren der Anerkennung wird und den Opfern eine Subjektstellung im Anerkennungsverfahren mit eigenen Rechten zugestanden wird. Im Kant’schen Verständnis ist die Opferwerdung die vernunftlose Sache, der ein bestimmter Wert zugeschrieben wird. Den Versuch der Messbarkeit schwerster Verbrechen an Menschen und die Gewichtung der Leiderfahrungen stellt die prozessuale Anerkennungsmaßnahme dar. Dabei erfolgt der Anerkennungsprozess auf empirischen Fakten ausgewählter Einzelkriterien, wobei der Ausgang mit Rücksicht auf notwendige Bewertungen offen ist. Das Bestreben nach ausgleichschaffender Gerechtigkeit macht den Anerkennungsprozess kontingent. Da der Anerkennungsprozess der Opferwerdung bei schweren Menschenrechtsverbrechen auf der Universalität der Menschenrechte und der Achtung der Menschenwürde beruht, stellt er jedoch in dieser Situation unvertretbarer individueller Besonderheit ein eigenständiges menschenrechtliches Anliegen dar. Im Recht auf Reparationen wird Anerkennung unter der Voraussetzung der Wahrheitsfeststellung und Zurechnung der Opfererfahrungen vollzogen. In der Verifizierung von Wahrheit und der Zurechnung der Verantwortlichkeit steckt mehr als die reine Aufklärung des Sachverhaltes der Taten. Wahrheit, Schuld und Zurechnungsfähigkeit fungieren unter der aktiven Beteiligung der Opfer als Teil ihrer Anerkennung. Die Anerkennung von Opfern als gleichberechtigte Mitglieder der Rechtsgemeinschaft stellt keine Alternative zur Anerkennung von Tatsachen dar. Schließlich führt erst die Anerkennung von Tatsachen über die Feststellung von Wahrheit und Schuld zu einem rechtlich gesicherten Opferstatus von Menschen. Durch die Anerkennung des Opferseins im Menschenrecht auf Reparationen können Opfer ihre Menschenwürde wieder bewusst erfahren. Die Viktimisierung 210

Vgl. § 186a StPO.

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durch die Straftaten sowie die gemachten Leiderfahrungen und ihre praktischen Folgen im Alltag werden in den Entschädigungsverfahren anerkannt. Wenn Anerkennung durch Entschädigung mehr als ein symbolpolitischer Sprachakt sein soll, muss ein praktischer Bezug zu den Folgen der Opferwerdung hergestellt werden. Anerkennung wird im Recht auf Reparationen zu einem menschenrechtlichen Konzept, wenn sich Opfer ihrer Würde bewusst werden. Im Bewusstsein der eigenen Würde liegt der menschenrechtliche Schlüssel für Reparationen als Anerkennungsmechanismus.

c) Anerkennung durch Wahrheit Das Recht auf Reparationen birgt ein hohes Anerkennungselement von Wahrheit in sich. Entschädigung kann nur der- oder diejenige für das erlittene Leid erhalten, der wahrheitsgemäß Opfer eines internationalen Verbrechens geworden ist. Mit den Entschädigungsleistungen wird die Wahrheit der Verbrechen und der Unrechtserfahrungen verifiziert. Das Streben nach Wahrheit ist zudem ein Opfern von Verbrechen immanentes und menschliches Bedürfnis, das sich kulturübergreifend und unabhängig von der Art des erlittenen Leids beobachten lässt. Der Wunsch nach Wahrheit drückt auch den Versuch des Begreifens der eigenen Opferwerdung aus. „I want to know why these rebels did these things to us“, fragte Fatmata Kamara die Vorsitzende der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Sierra Leone. Fatmata Kamara hatte während eines bewaffneten Überfalls durch Rebellen die Enthauptung ihrer Schwester miterleben müssen. Sie war selbst zum direkten Opfer in der Zeit ihrer Gefangenschaft geworden, war vergewaltigt und als Folge ungewollt schwanger geworden und hat zudem die gewaltsame Amputation ihrer Füße erlitten.211 Die Frage nach dem Warum ist die Frage nach der Wahrheit. Opfer wollen diese Wahrheit erfahren, andererseits beanspruchen sie oftmals für sich, die eine Wahrheit der eigenen Opferwerdung und der von Angehörigen zu kennen. Die Wahrheit wird aus der Opfersicht durch eine Zeugenaussage verkündet. Der Zeuge Joe Kamara hatte seinen Vater 1997 im bewaffneten Konflikt in Sierra Leone verloren. Vor der Wahrheitskommission artikulierte er seine Opferwahrheit in einer Aussage und forderte zugleich eine beglaubigte Wahrheit im Namen des Temne Stammes ein, dem sein Vater als Chief vorstand: „I want the Commission to speak the truth for us.“212 Angehörige von Opfern, wie Joe Kamara, berichten über die Opferwerdungen ihrer Familienmitglieder und Verwandten in schweren Menschenrechtsverbrechen manchmal über Generationen hinweg. Eine einzige subjektiv empfundene Wahrheit kann so auch aus den tradierten Wahrheiten vieler Einzelner bestehen. Der Wunsch die Wahrheit zu äußern, kann so stark sein, dass daraus gar ein 211 Truth and Reconciliation Commission Sierra Leone (2003), Transcripts of Public Hearings, https://www.sierraleonetrc.org/index.php/view-the-final-report/download-table-ofcontents/appendices/item/appendix-3-transcripts-of-trc-public-hearings?category_id=15, Volume 1, Appendix 3, S. 104 (Stand 1. 9. 2020). 212 Ebenda, S. 50.

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Überlebenswillen entsteht, wie die Zeugin Marie Vaillant-Couturier im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess berichtete: „Für Monate oder Jahre hatten wir nur einen Willen, daß nämlich einige von uns lebend herauskommen möchten, um der Welt zu verkünden, was diese Zuchthäuser der Nazis waren.“ Vaillant-Couturier war als französische Widerstandskämpferin deportiert worden und hatte die Konzentrationslager Birkenau und Ravensbrück überlebt.213 Wie bereits der Nürnberger Prozess zeigte, konnte auch nach einem Völkermord die Wahrheitsfindung auf einer objektiv zu beurteilenden Beweislage der einzelnen Opferwerdungen erfolgen. Im justiziellen Kontext muss diese eine Wahrheit beweiskräftig fundiert werden. Dazu gehört eine Bewertung der Gesamtheit der vorhandenen Beweise wie Zeugenaussagen, Urkunden oder Sachbeweise. Opfersicht und Opferaussage sind dabei wesentliche Komponenten der Wahrheitsfindung. Die zu eruierende Form von Wahrheit kann mit Hannah Arendt als „Tatsachenwahrheit“ beschrieben werden. Sie beschreibt die Ermittlung von Tatsachen, die zu den Opferwerdungen von Menschen geführt haben. Die Tatsachenwahrheit „handelt ihrem Wesen nach von rein menschlichen Dingen, betrifft Ereignisse und Umstände, in die viele Menschen verwickelt sind, und ist abhängig davon, dass Menschen Zeugnis ablegen […].“214 Das was ein Zeuge oder eine Zeugin erlebt hat, formt die Wirklichkeit in der er oder sie nach dem opferwerdenden Ereignis lebt. Tatsachenwahrheiten werden auf Fakten gestützt. Aus Arendts Sicht gibt es kein denkbares Ereignis, keinen Ort oder Zeitraum „ohne Menschen, die Zeugnis ablegen für das, was ist und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist.“215 Die Tatsachenwahrheit unterscheidet Arendt von der Vernunftwahrheit, die „(s)eit Leibniz mathematische, wissenschaftliche und philosophische Wahrheiten“ umfasst.216 Das Ergebnis vier der simplen Addition von zwei plus zwei wäre eine derartige Vernunftwahrheit, die weniger leicht ignoriert oder gar geleugnet werden kann, weil sie einen Allgemeingültigkeitscharakter besitzt und auf breiter Basis akzeptiert ist – anders als Tatsachenwahrheiten. Eine Analogie zum Arendt’schen Konzept der Vernunftwahrheit sind die in Rechtsprechung und Literatur einhellig akzeptierten Denk- und Erfahrungssätze, die oftmals juristischen Entscheidungen und inhaltlichen Aussagebewertungen zugrunde liegen. Dass die Sonne im Osten aufgegangen ist, würde bei einer Zeugenaussage beispielsweise nicht in Frage gestellt, sondern gleich als Wahrheit betrachtet werden. Aussagen von Zeugen und Zeuginnen zum Ablauf eines Geschehens dagegen müssen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden, um als standhafte Wahrheit schließlich akzeptiert zu werden. 213 Protokoll des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß (1946), Vierundvierzigster Tag: 28. 01. 1946, http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+N%C3%BCrnberger+Proze%C3%9F/ Hauptverhandlungen/Vierundvierzigster+Tag.+Montag,+den+28.+Januar+1946 (Stand 1. 9. 2020). 214 Arendt, H. (2006), Wahrheit und Politik, in: Wahrheit und Politik. Nanz, P./Arendt, H. (Hg.), Berlin, S. 9 – 62, S. 23. 215 Ebenda, S. 11. 216 Ebenda, S. 48.

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Anders verhält es sich mit Wahrheiten, welche die Grundlagen politischer Entscheidungen bilden und in eine spätere geschichtliche Beurteilung politischer Vorgänge, Konflikte und Kriege fortwirken können. „Tatsachen stehen immer in Gefahr, nicht nur auf Zeit, sondern möglicherweise für immer aus der Welt zu verschwinden“, sagt Arendt.217 Sobald Tatsachen geleugnet werden, ist jedoch die „faktische Wirklichkeit“ bedroht und ein „politisches Problem“ geboren.218 Angesiedelt im öffentlichen Raum ist die Tatsachenwahrheit immer politischen Handlungen und Wertungen unterworfen. Das gilt in besonderem Maße bei Völkerrechtsverbrechen, die Resultat tiefgreifender Krisensituationen und Folge eines politischen Versagens sind. Die „Beschaffenheit des Politischen“ beruht auf Tatsachen und Ereignissen des menschlichen Zusammenlebens, welche in besonderem Maße subjektiven Interpretationen unterliegen. Das bedeutet indes nicht, dass Wahrheit in der Politik praktisch undefinierbar und beliebig wird – auch wenn dies gelegentlich den Anschein haben könnte. Nach Beginn der Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Donald Trump gab es eine weltweite neue Auseinandersetzung mit Wahrheit, die sich vor allem in einer Relativierung des Konzepts von Wahrheit manifestiert und die Grenzen zur bloßen Meinungsäußerung bis hin zur schieren Lüge aufweicht.219 Bereits Arendt erkannte, dass Wahrheit und Politik in einem schwierigen Verhältnis stehen. Derjenige, der Macht hat und bestimmte Interessen verfolgt, äußert stets eine bestimmte Meinung – auch wenn er diese unter dem „Label“ Wahrheit präsentiert. Die rein subjektive Wahrnehmung und Interpretation objektiver Wirklichkeit wird so ununterscheidbar von dem tatsächlichen wahren Sachverhalt. Abhilfe kann hier der von Arendt konzipierte Ansatz der Tatsachenwahrheit schaffen. Die Tatsachenwahrheit nämlich spricht Wahrheiten aus, die auf einer Ermittlung von Tatsachen durch eine Vielzahl von Zeugenschaften und deren objektiven Bewertungen beruhen. Die Tatsachenwahrheit ist damit ein Sprech- und Erkenntnisakt, der sich von einer bloßen Meinung unterscheidet. Meinungen haben im Vergleich zu Wahrheiten keinen Gültigkeitsanspruch, sie sind veränderbar und brauchen keine Beweise, sondern nur Begründungen, die auf subjektiven Intentionen und Interessen des Sich-Äußernden beruhen. 217

Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 21. 219 „The truth isn’t the truth“, antwortete Trumps Anwalt Rudy Giuliani auf die Nachfrage eines Journalisten, warum der Präsident Donald Trump zu keinem Interview mit Sonderermittler Robert Mueller zur Verwicklung in die Russlandaffäre bereit sei, siehe: Pilkington, E. (2018), ,Truth isn’t truth‘: Giuliani trumps ,alternative facts‘ with new Orwellian outburst. The Guardian, https://www.theguardian.com/us-news/2018/aug/19/truth-isnt-truth-rudy-giulianitrump-alternative-facts-orwellian (Stand 1. 9. 2020). Zum geflügelten Wort wurde zuvor schon die Aussage der hochrangigen Mitarbeiterin im Weißen Haus, Kellyanne Conway, dass der Pressesprecher des Präsidenten „alternative facts“ geboten habe, als es in der Diskussion um die divergierenden Angaben der Zuschauerzahlen während der öffentlichen Vereidigung Donald Trumps ging, siehe Todd, C. (2017), Kellyanne Conway denies Trump Press Secretary lied. The Guardian, https://www.theguardian.com/us-news/video/2017/jan/22/kellyanne-conway-trumppress-secretary-alternative-facts-video (Stand 1. 9. 2020). 218

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Sie entstehen im Diskurs mit anderen Meinungen. „Mit unwillkommenen Meinungen kann man sich auseinandersetzen, man kann sie verwerfen oder Kompromisse mit ihnen schließen; unwillkommene Tatbestände sind von einer unbeweglichen Hartnäckigkeit, die durch nichts außer einer glatten Lüge erschüttert werden kann.“220 So ist es nicht verwunderlich, dass gerade Regierungen, Staatsoberhäupter und Militärs ihre Verantwortlichkeit für Verbrechen möglichst gut zu vertuschen versuchen. Es sollen keine Bilder oder andere Beweise von geheimen Gefängnissen und unmenschlichen Behandlungen nach außen dringen, um Hinweise und Indizien zu untermauern und Tatsachenwahrheiten zu schaffen. Opfer und ihre Leiderfahrungen aber formen selbst eine personifizierte Tatsachenwahrheit, die unwiderruflich ist und zu Recht eine höchste moralische Bewertung erfährt. Zu Tatsachensprechern können aus Arendts Sicht ausschließlich neutrale Personen werden, die alleine und damit außerhalb der politischen Gemeinschaft stehen. Nur dann sind sie in der Lage, sich von der politischen Meinung zu lösen und eine Tatsachenwahrheit zu formulieren. „Unter den existentiellen Modi des Alleinseins sind hervorzuheben die Einsamkeit des Philosophen, die Isolierung des Wissenschaftlers und Künstlers, die Unparteilichkeit des Historikers und des Richters und die Unabhängigkeit dessen, der Fakten aufdeckt, also des Zeugen und des Berichterstatters.“221 Im Fall internationaler Menschenrechtsverbrechen bedarf der Arendt’sche Ansatz einer auf der Zeugenschaft neutraler Personen beruhenden Tatsachenwahrheit der Präzisierung. „Erste Zeugen“, die nach der Kategorisierung von Dori Laub Opferzeugen und -zeuginnen sind, könnten demnach eine Tatsachenwahrheit artikulieren. Die von Arendt geforderte Unabhängigkeit dürfte bei Opferzeugen schwerster Menschenrechtsverbrechen jedoch eingeschränkt sein, da diese in hohem Maße subjektiv von dem Geschehen betroffen sind. Die Opferwahrheit muss daher zwangsläufig in (Anerkennungs-)Prozessen, die auch die Würde und Rechte der Beschuldigten oder des Täters achten, verifiziert und gesichert werden. Derartige Verfahren können dann allerdings nur durch neutrale Personen, die außerhalb der Gruppe der Opfer und der Gruppe der Täter stehen, erfolgen. Das 20. Jahrhundert hat für die Aufdeckung der Wahrheit von Opferwerdungen neue Institutionen und neue Prozesse hervorgebracht. Entschädigungsverfahren und verschiedene Opferfonds spielen dabei eine wichtige Rolle, aber auch Wahrheitskommissionen und internationale bzw. internationalisierte Strafverfahren. Menschen mit Opfererfahrung können an Entschädigungsverfahren freiwillig partizipieren und die eigene Wahrheit über die erlittenen Viktimisierungen äußern. Entschädigungsverfahren widmen Opfern ihre volle Aufmerksamkeit und schenken ihnen Gehör. In Entschädigungsverfahren wird die Wahrheit von Opfern gehört und verifiziert. Es zählt alleine die Opferwahrheit, die institutionell beglaubigt wird. Auch in nationalen Strafverfahren gilt es die Wahrheit der begangenen Taten zu ermitteln. Die Opferwahrheit trifft dabei auf die Täterwahrheit und wird durch die 220 221

Arendt (2006), S. 27. Ebenda, S. 86.

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Richterwahrheit nach justiziellen Erkenntnisprozessen verifiziert. Im Fokus des Verfahrens stehen aber der angeklagte Täter oder die angeklagte Täterin und nicht die Opfer. Das Bundesverfassungsgericht betont in verschiedenen Urteilen die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafverfahren: „Der Strafprozess hat das Schuldprinzip zu verwirklichen und darf sich von dem ihm vorgegebenen Ziel der bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit und der Beurteilung der Sachund Rechtslage durch ein unabhängiges und neutrales Gericht nicht entfernen.“222 In Deutschland nimmt die gesetzliche Eidesformel für Zeugen darauf Bezug, dass der Zeuge oder die Zeugin die „reine Wahrheit“ gesagt habe. Allerdings werden Aussagepersonen in der Praxis regelmäßig nicht mehr vereidigt.223 Wahrheit ist damit auch ein normatives Ziel des Strafverfahrens, obgleich es in erster Linie um die Prüfung von Schuld geht.224 Der Soziologe Niklas Luhmann entwickelte eine Theorie, die die Wahrheit in Verfahren hinterfragt und nicht a priori annimmt. Grundsätzlich werde mit der Durchführung ordentlicher Verfahren die erlittene Gewalt delegitimiert. In einem strafrechtlichen Verfahren müssen Richter_innen bei der Urteilsfindung überzeugt von der „Richtigkeit der Entscheidung“ sein. Diese Richtigkeit setzt sich zusammen aus Wahrheit und Gerechtigkeit.225 Das Verfahren wird so zu einem geschlossenen System der Wahrheitssuche. In sich bietet dieses System jedoch einen „Entfaltungsspielraum“, so Luhmann, „weil in Fragen des Rechts und der Wahrheit Ungewissheit besteht.“226 Diese Ungewissheit resultiert aus dem Zusammentreffen der Aussagen von Beteiligten mit unterschiedlichen, oftmals antagonistischen Interessen. In jedem Strafverfahren treffen die Opferaussagen auf die an der Wahrheitsfindung beteiligten anderen Prozessparteien und selbstverständlich auf die Aussagen der Täterseite. Bereits der Chefankläger am IMT, Robert H. Jackson, diskutierte in seinem Schlussplädoyer vom 26. Juli 1946 die Bedeutung von Unwahrheit unter dem Deckmantel der Wahrheit als gezielte Strategie des Nationalsozialismus. Jackson warf Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht vor, dass er „sich die Nazi-Ansicht zu eigen gemacht hatte, daß Wahrheit alles das ist, was Erfolg hat.“ Falsches und bewusst Manipulierendes wurde so unter der Tarnmaske der Wahrheit bei den Nazis vermarktet. „Das war die Philosophie der Nationalsozialisten“, bemerkte Jackson.227 Die Aufdeckung von Wahrheit war im Strafprozess am Internationalen Militärtri222

BVerfG NJW 2013, 1058 m. w. N., 19. März 2013. § 64 StPO, siehe Meyer-Goßner, Lutz/Schmitt, Bertram, Strafprozessordnung, § 59 Rn. 1, 63. Auflage 2020. 224 BVerfG NJW 2013, 1058 m. w. N., 19. März 2013. 225 Luhmann, N. (1983), Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 1. 226 Ebenda, S. 60. 227 Protokoll des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß (1946), Einhundertsiebenundachtzigster Tag: 26. 07. 1946, http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+N%C3%BCrnberger+ Proze%C3%9F/Hauptverhandlungen/Vierundvierzigster+Tag.+Montag,+den+28.+Januar+1 946 (Stand 1. 9. 2020). 223

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bunal in Nürnberg eigentlich beabsichtigt. „Wahr ist aber auch, dass in Nürnberg nicht nur Wahrheit auf den Tisch kam, sondern Wahrheit mitunter unterdrückt wurde“, bilanziert der Historiker Norbert Frei und bezieht sich auf die Verbrechen im polnischen Katyn, die die Sowjets während des Verfahrens den Hauptangeklagten des IMT unterjubeln wollten.228 In einem späteren Verfahren kam die Wahrheit, wenngleich nach vielen Jahren, noch ans Licht. Angehörige von ermordeten Opfern in Katyn klagten im Fall Janowiec gegen Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Vorausgegangen war eine Einstellungsentscheidung eines russischen Gerichts von 2004 über die Auflösung der unter Präsident Jelzin eingerichteten multinationalen Katyn-Untersuchungskommission zur Identifizierung der Massengräber und von Opfern sowie der allgemeinen Aufklärung des Verbrechens. Die Angehörigen forderten vor dem EGMR, die Wahrheit über ihre viktimisierten Familienmitglieder zu erfahren. Die Aufdeckung von Wahrheit ist somit ein Ausdruck des Anerkennungsstrebens von Opfern und Opferangehörigen. Die Beschwerdeführer hatten argumentiert, dass Russland gemäß Artikel 2 der EMRK (Recht auf Leben) keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen hatte, Ermittlungen durchzuführen, um die mutmaßlichen Täter anzuklagen. Im erstinstanzlichen Urteil wurde ein Verstoß gegen Artikel 3 der EMRK festgestellt.229 Die Opferangehörigen hätten aufgrund der Nicht-Anerkennung der historischen Wahrheit durch Russland eine unmenschliche Behandlung erfahren: „The Court appreciates that the applicants suffered a double trauma: not only had their relatives perished in the war but they were not allowed, for political reasons, to learn the truth about what had happened and forced to accept the distortion of historical facts by the Soviet and Polish Communist authorities for more than fifty years.“230 Obwohl dieses Urteil am 21. Oktober 2013 jedoch vor der Großen Kammer teilweise wieder aufgehoben wurde,231 hat die Tatsachenwahrheit mit dieser Entscheidung in der Rechtsprechung des EGMR eine menschenrechtliche Dimension erlangt.232 Wahrheit ist für Luhmann kein singulärer Wert, sondern ein bestimmter Mechanismus mit Funktionen. „(W)ahre Erkenntnis und wahre Gerechtigkeit“ seien das

228 Frei, N. (2016), Die Wahrheit in Nürnberg, in: Recht auf Wahrheit: Zur Genese eines neuen Menschenrechts. Brunner, J./Stahl, D. (Hg.), Göttingen Wallstein, S. 52 – 66, S. 56. 229 European Court of Human Rights (2012), Case of Janowiec and others v. Russia. Judgement, 16. 04. 2012, siehe Nußberger, A. (2016), Das Recht auf Wahrheit im Urteil Straßburgs, Ein Gespräch über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in: Recht auf Wahrheit: Zur Genese eines neuen Menschenrechts. Brunner, J./Stahl, D. (Hg.), Göttingen: Wallstein Verlag, S. 110 – 119. 230 European Court of Human Rights (2012), Case of Janowiec and others v. Russia. Judgement, 16. 04. 2012, S. 156. 231 European Court of Human Rights (2013), Case of Janowiec and others v. Russia. Judgement Great Chamber, 21. 10. 2013. 232 Zur Analyse der Rechtsprechung des EGMR für Opferentschädigung siehe Ichim, O. (2015), Just Satisfaction under the European Convention on Human Rights. Cambridge: Cambridge University Press.

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Ziel und damit das Wesen rechtlich geregelter Verfahren.“233 Wahrheit steht in einem engen Wechselverhältnis mit Gerechtigkeit. Umgekehrt setzt Gerechtigkeit die Ermittlung von Wahrheit voraus. Dieser Gedanke verweist bereits auf justizielle oder andere Mechanismen zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen. Der zu ermittelnde Wahrheitswert ist das „Erkennen dessen, was als Recht gilt und im Einzelfall Rechtens ist.“ Das „Richtige“ wird schließlich in einem Urteil ausgedrückt.234 Sehr kritisch merkt Luhmann an, dass „(m)an nicht umhin (kommt) (…) zu fragen, ob der Gewinn von Wahrheit überhaupt die tragende Funktion rechtlich geregelter Verfahren ist.“235 Die Wahrheit würde aus seiner Sicht in Verfahren schließlich nur deshalb anerkannt werden, weil sie einen selbstevidenten Charakter habe.236 Darauf zu hoffen, dass sich die Wahrheit irgendwann durchsetzt, ist aus der Sicht des Philosophen Karl Jaspers ein passives Verhalten. In der philosophischen Logik gibt es schließlich nicht die eine inhaltliche Wahrheit. Wahrheit versteht Jaspers im Sinn von Wahrsein und als eine Bewegung.237 Wahrheit ist nicht in der gegenwärtigen Wirklichkeit präsent: „Wir leben im Zeitdasein: Wahrheit ist unser Weg.“238 Wahrheit setzt daher immer ein Aktivwerden voraus. Die Wahrheit ist nicht selbstgegeben, sondern muss eruiert werden. Eine Simplifizierung von Recht und Unrecht und von schwarz und weiß bei der Ermittlung von Wahrheit, erklärt Jaspers in einem weiteren Schritt gar zur „radikalen Unwahrheit“. Das Erfassen einer Wahrheit setzt immer voraus, dass die Unwahrheit überwunden wird. Dazu sind Menschen in der Lage. Die daraus entstehende Wahrheit ist jedoch nie eine vollkommene reine Wahrheit, weil ein Rest an Unwahrheit bestehen bleibt. Wahrheit ist aus Jaspers Sicht daher nichts „Geschlossenes“.239 Zur Aufklärung und Aufdeckung von Wahrheit bedarf es einer „Bewegung der Kommunikation, um offenbar zu werden“.240 Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben sich einem aufklärerischen Mandat von opferzentrierter Wahrheit verpflichtet. Ihre Arbeit könnte im Jasper’schen Verständnis als ein Akt des Offenbarens beschrieben werden. Der Wahrheitsgehalt von Opferwerdungen spielt dabei eine große Rolle. Im Fall von Amnesty International spricht die deutsche Zeithistorikerin Annette Weinke gar von einem „Wahrheitsregime“. Amnesty setze gezielt das Opfer ein, um äußerst akkurat länderübergreifend Themen auf die politische Tagesordnung zu platzieren und in Verbindung mit der 233

Luhmann (1983), S. 20. Ebenda, S. 17. 235 Ebenda, S. 22. 236 Ebenda, S. 22. 237 Jaspers, K. (1947), Philosophische Logik: Von der Wahrheit, Erster Band. München: Piper, S. 454. 238 Ebenda, S. 1. 239 Ebenda, S. 456 – 475. 240 Ebenda, S. 588. 234

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eigenen Unparteilichkeit zu betonen.241 Bereits die allererste Kampagne betitelte der Gründungsvater von Amnesty, Peter Benenson, 1961 mit dem Motto „The truth will set you free“.242 Bei der Vergabe des Nobelpreises 1977 spielte die Kommission in ihrer Begründung auf die brennende Kerze im Logo an und bezeichnete Amnesty International als „A light in the darkness“.243 Im Kommunikations- und Aktionsprozess der sogenannten „urgent actions“ übermittelt Amnesty bis heute einen bestimmten Wahrheitsgehalt der Opferwerdung eines Menschen. Geprüft wird dieser Wahrheitsgehalt von Menschenrechtsaktivisten, Menschenrechtsverteidigern, Journalisten und der Zivilgesellschaft, die allesamt im Arendt’schen Verständnis als Tatsachensprecher_innen gelten. Zugleich erfolgt durch die urgent action eine öffentliche Anerkennung des Einzelnen als Opfer und eine Manifestierung der Tatsachenwahrheit.244 Insgesamt schreibt Weinke den Wahrheitsdiskursen in der historischen Entwicklung der Geschichte der Menschenrechte und des Humanismus eine hohe Bedeutung zu. Die Begründung für die Errichtung von Wahrheitskommissionen lag immer auf dem Interesse und dem Wunsch von Opfern nach Wahrheit. Opfer sind nicht mehr zu passiven Akteuren verdammt, sondern werden zu „(…) Akteure(n) in eigener Sache (…) und vernetzen sich dabei zunehmend transnational.“245 Im aktiven Bemühen, die Wahrheit öffentlich bestätigt zu sehen, liegt daher ein Empowermentfaktor für Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen. Durch die Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichtshöfe wird Wahrheit festgestellt. Neben dem bereits erörterten Fall Janowiec gegen Russland vor dem EGMR wurde das Recht auf Wahrheit246 auch den Angehörigen im Fall von Angel Manfredo Velásquez Rodríguez durch den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof (IAGMR) zugesprochen. Velásquez Rodríguez war am 12. September 1981 in der Innenstadt von Tegucigalpa in Honduras vom Nationalen Ermittlungsbüro und Militärangehörigen entführt worden. Ihm wurden politische Verbrechen vorgeworfen. Zum Zeitpunkt seiner Entführung war er Generalsekretär einer Studentenvereinigung und ein bekannter Aktivist. Im Urteil des IAGMR von 1988 wurde die Regierung von Honduras für das Verschwinden und den Tod von Velásquez Rodríguez und drei weiteren Opfern verantwortlich und haftbar gemacht. Die Richter_innen hielten fest, 241 Weinke, A. (2016), Wie neu ist die Suche nach Wahrheit, in: Recht auf Wahrheit: Zur Genese eines neuen Menschenrechts. Brunner, J./Stahl, D. (Hg.), Göttingen: Wallstein, S. 23 – 63, S. 33. 242 Buchanan, T. (2002), ‘The truth will set you free’: The making of Amnesty International, in: Journal of Contemporary History 37(4), S. 575 – 597. 243 The Nobel Peace Prize (1977), Amnesty International, https://www.nobelprize.org/pri zes/peace/1977/amnesty/facts/ (Stand 1. 9. 2020). 244 Amnesty International. Take Action for a fairer World, https://www.amnesty.org/en/getinvolved/take-action/ (Stand 1. 9. 2020). 245 Weinke (2016), S. 37. 246 Siehe die geschichtliche Entwicklung zum Recht auf Wahrheit, Osladil, S. (2012), Das Recht auf Wahrheit im internationalen Recht. Nürnberger Menschenrechtszentrum, https: //www.menschenrechte.org/wp-content/uploads/2012/12/Zum-Artikel-als-PDF-Datei1.pdf (Stand 1. 9. 2020).

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dass der Staat nicht nur verpflichtet sei, Menschenrechte zu schützen und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, sondern auch Verbrechen zu untersuchen, Täter strafrechtlich zu verfolgen, zu verurteilen und Opfer zu entschädigen. Die Aufklärung der Tatsachenwahrheit obliegt dem Staat schließlich solange bis das Schicksal der Opfer aufgeklärt ist: „The duty to investigate facts of this type continues as long as there is uncertainty about the fate of the person who disappeared.“247 Die Velásquez Rodríguez Entscheidung erkennt einerseits die dauerhafte Opferwerdung von Verschwundenen und ihren Angehörigen an. Aus der Anerkennung des Opferseins resultiert das staatliche Mandat, die Wahrheit weiter zu ermitteln. Diese konsequente Verpflichtung des Staates zur Wahrheitsermittlung ist im Urteil selbst als Reparationsleistung gegenüber den Opfern verankert.248 Damit schuf der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof die normative Verschränkung von Wahrheit und Reparationen. In der Anerkennung der Wahrheit der Opferwerdungen wird der Status des Opferseins bestätigt und ein Teil einer Entschädigung gegenüber den Angehörigen geleistet. Das Recht auf Wahrheit249 wird im Rahmen des interamerikanischen Menschenrechtssystems konsequent als ein Bestandteil von Reparationen betrachtet: „Furthermore, knowledge of the circumstances of manner, time and place, motives and the identification of the perpetrators are fundamental to making full reparations to victims of human rights violations.“250 Reparationen sind die materialisierte Schuldigkeit, Schadenersatz für derart festgestellte Opferwerdungen zu leisten, nachdem die Staaten beim Schutz und der Achtung von Menschenrechten gravierend versagt haben. Aus jedem staatlichen Versagen leitet sich daher die neue Verpflichtung ab, angemessene Reparationen zu leisten.251 Grundsätzlich hat der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof hierzu festgehalten: „in cases of human rights violations, the State has the duty to provide reparations.“252 Der Ehefrau und den drei Kindern von Manfredo Velásquez Rodríguez wurden daher als monetäre Entschädigung rund 375.000 US-Dollar zugesprochen. Das Verbrechen des Verschwindenlassens gilt als besonders grausam, weil es nicht nur das Menschenrecht auf Leben des direkten Opfers negiert, sondern auch das Recht auf Freiheit, das Verbot von Folter und Recht auf menschliche Behandlung in 247 Inter-American Court of Human Rights. Case Velásquez Rodríguez. Judgement of July 29 1988, No. 4, University of Minnesota Human Rights Library, hier: § 181, http://hrlibrary. umn.edu/iachr/b_11_12d.htm, (Stand 1. 9. 2020). 248 Ebenda. 249 Nach der Ermordung des Priesters und Menschenrechtsaktivisten, Oscar Arnulfo Romero, am 24. März 1980 in El Salvador, erklärten die Vereinten Nationen den 24. März zum internationalen Tag des Rechts auf Wahrheit für Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen und die Würde von Opfern. 250 Inter-American Commission on Human Rights (2014), The Right to Truth in the Americas, para. 29. 251 Ebenda, para. 122. 252 Ebenda, para. 123.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Gefangenschaft, das Recht auf Information sowie die Anerkennung als Rechtsperson vor dem Gesetz. Angehörige von unmittelbar verschwundenen Personen werden beim Verschwindenlassen aufgrund der grausamen Ungewissheit ebenfalls zu Opfern. Die Forderung, die Wahrheit über ihre verschwundenen Familienmitglieder zu erfahren, kam wie im Fall von Velásquez Rodríguez meistens von den direkten Angehörigen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Politikwissenschaftler José Brunner der Opfervereinigung der Mütter der Plaza de Mayo einen bedeutenden Einfluss auf die Entstehung des neuen Menschenrechts auf Wahrheit zuschreibt.253 Die Mütter klagten die Wahrheit ein als „(…) das Wissen, ob unsere Verschwundenen lebendig oder tot sind, und wo sie sind.“ Ihren Anspruch auf Wahrheit begründeten sie mit der eigenen Opferwerdung: „Wir können die grausamste Folter für Mütter, die Ungewissheit über das Schicksal unserer Kinder, nicht mehr ertragen.“254 In einem Bericht definierte die Interamerikanische Menschenrechtskommission 2014 das Recht auf Wahrheit „(…) as a right pertaining to relatives of victims of forced disappearance.“255 Angehörige wollen die wahren Umstände des Verschwindenlassens erfahren, aber auch die Identität der mutmaßlichen Täter und involvierten verantwortlichen Personen kennen. Die Kenntnis der Wahrheit über das Schicksal eines Angehörigen, der Opfer eines Verbrechens geworden ist, kann dazu beitragen, einen individuellen Trauerprozess der Angehörigen einzuleiten. Die Wahrheit über die Identität der Täter schafft hingegen die Grundlage für die strafrechtliche Aufarbeitung des Verbrechens. Es ist allerdings umstritten, inwiefern es zur Wahrheit gehört, tatsächlich auch die Namen der ermittelten Täter in den jeweiligen Berichten von Wahrheitskommissionen zu veröffentlichen – ohne dass ein juristischer Nachweis von Schuld erfolgt ist.256 Ebenso wie die Wahrheitskommissare in Guatemala, hatten sich auch die Autoren des Berichts der Wahrheitskommission in El Salvador entschieden, eine Liste mit Namen der Täter zu veröffentlichen. Die Kommission betonte dies auch mit der Bedeutung von Wahrheit als grundlegendes Recht der Bevölkerung: „(T)his truth must be made public as a matter of urgency if it is to be not the servant of impunity but an instrument of the justice (…).“257

253 Brunner, J. (2016), Menschenrecht und Menschenbild, Zur Psychologie des Rechts auf Wahrheit, in: Recht auf Wahrheit: Zur Genese eines neuen Menschenrechts. Brunner, J./Stahl, D. (Hg.), Göttingen: Wallstein, S. 67 – 87. 254 Zitiert aus La Nacion vom 10. 12. 1977, in: Brunner (2016), S. 72. Siehe auch die Selbstbeschreibung auf der Website der Mütter der Placa de Mayo, http://madres.org/index.php/ consignas/ (Stand 1. 9. 2020). 255 Inter-American Commission on Human Rights (2014), The Right to Truth in the Americas, para. 8. 256 Jowdy, G., Truth Commissions in El Salvador and Guatemala: A Proposal for Truth in Guatemala, in: Jowdy, G. (1997), Truth commissions in El Salvador and Guatemala: a proposal for truth in Guatemala, in: Boston College Third World Law Journal, Volume 17, S. 1 – 47, S. 32 – 33. 257 UN Security Council (1993), From Madness to Hope: the 12-year war in El Salvador: Report of the Commission on the Truth for El Salvador. Annex, S/25500, S. 5 – 8, S. 5.

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Wie alle Menschenrechte ist auch das Recht auf Wahrheit primär an Staaten adressiert. Staaten sind verpflichtet, die Geschehnisse der Verbrechen strafrechtlich aufzuklären und so die Wahrheit zu ermitteln. Diese staatliche Verpflichtung besteht auch dann fort, wenn die Wahrheit von Menschenrechtsverbrechen bereits bekannt ist, sei es durch Historikerkommissionen, der akzeptierten Überlieferung von Angehörigen oder durch Wahrheitskommissionen. Im Fall von Almonacid-Arellano gegen Chile hielt der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof im Jahr 2006 fest, dass die historische Wahrheit, die im Bericht der Nationalen Wahrheits- und Versöhnungskommission veröffentlicht sei, die staatliche Verpflichtung zur strafrechtlichen Wahrheitsermittlung nicht ersetzen würde.258 Der strafrechtlichen Wahrheitsermittlung wird nach Menschenrechtsverbrechen somit stets ein höherer Stellenwert eingeräumt als anderen Formen von Wahrheitsermittlung. Die opferwerdenden Auswirkungen von schwersten Menschenrechtsverbrechen, wie dem Verbrechen des Verschwindenlassens, sind inzwischen auch mit Bezug auf die Gesellschaft akzeptiert. Zu Rechteinhabern des Rechts auf Wahrheit werden daher nicht nur die direkten Opfer und ihre Familienangehörigen, sondern auch die gesamte Gesellschaft. Im Interesse des Rechts auf Wahrheit für die Gesellschaft stehen allerdings weniger die Wahrheit von Einzelschicksalen und individuellen Opfern als vielmehr die gesamte Dimension von Verbrechen, die in der Vergangenheit begangen wurden.259 Wahrheit wird so zu einem bedeutenden Anerkennungsmerkmal von Opfern in der Auseinandersetzung mit Gewalt in der Vergangenheit. Der Rechtshistoriker Michael Stolleis bemerkt, dass es unterschiedliche Interessensschwerpunkte von Wahrheit im Recht auf Wahrheit gibt – sei es das Interesse an der Herkunft, die historische Wahrheit oder die gerichtlich-prozessuale Wahrheit.260 Im Interesse von Opfern und ihren Angehörigen steht die Wahrheit der Opferwerdungen, die Wahrheit über die Identität und über den Verbleib von Opfern. Diese Form von zu ermittelnder Wahrheit kann dazu beitragen, die infrage gestellte Identität von Opfern durch Verbrechen – wie im Fall Al Mahdi die religiöse und kulturelle Identität der Stadtbewohner_innen Timbuktus – zu bestätigen und durch Reparationen gar zu bekräftigen. Die Opferwahrheit erhält im Recht auf Reparationen eine besondere Bedeutung. Die Anerkennung der Wahrheit muss von außen kommen, und dabei geht es um die Bestätigung der eigenen Identität, wie Emcke fordert, „weil sie als die Person bestätigt und vergewissert werden wollen, die sie waren bevor ihnen das widerfuhr: jemand, die es wert ist, wahrgenommen zu werden, als Individuum, als menschliches Subjekt.“261 258 Inter-American Court of Human Rights (2006), Case of Almonacid-Arellano et al v. Chile. Judgement of September 26, para. 150. 259 Inter-American Commission on Human Rights (2014), The Right to Truth in the Americas, para. 15, siehe Brunner (2016), S. 67 – 87. 260 Stolleis, M. (2016), Rechtsanspruch auf Wahrheit, Eine Bestandsaufnahme zum deutschen Recht, in: Recht auf Wahrheit, Zur Genese eines neuen Menschenrechts. Brunner, J./ Stahl, D. (Hg.), Göttingen: Wallstein, S. 174 – 187, S. 183. 261 Emcke (2013), S. 19.

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Institutionell waren im vergangenen Jahrhundert nach bewaffneten Konflikten häufig die weltweit eingesetzten Wahrheitskommissionen für die Opferwahrheit zuständig. Einige der Kommissionen gaben in ihren Berichten Empfehlungen ab, wie Entschädigungen für die verschiedentlich gruppierten Opfer aussehen könnten. Claudia Gerez Czitrom, die selbst für den UN Voluntary Fund for Victims of Torture tätig ist, warf den Wahrheitskommissionen allerdings vor, dass sie in ihren jeweiligen Reparationskonzepten den Begriff „Entschädigung“ sehr unpräzise und gar missverständlich definierten. Durch die zu enge Verknüpfung der Ermittlung von Wahrheit und der Herstellung von Gerechtigkeit, seien Reparationen in den Kommissionsberichten nicht als eigenständiges Prinzip zur Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit verankert. Die enge Anbindung an Wahrheit und Gerechtigkeit führte auch dazu, dass den politischen Kräften zu viel Spielraum bei der Implementierung von Reparationen überlassen würde. Ein Beitrag zur Demokratisierung eines Landes könne erst dann geleistet werden, wenn Reparationen in Nachkriegsgesellschaften als eigenständiges Ziel neben der Aufklärung von Wahrheit und der Etablierung von Gerechtigkeit betrachtet werden.262 Das Recht auf Reparationen ist kein Ersatz für die strafrechtliche oder sonstige Ermittlung von Wahrheit. Es eröffnet vielmehr den Weg für die Anerkennung der opferzentrierten Wahrheit, die in Form von Reparationsleistungen durch die (inter-) nationale Rechtsgemeinschaft akzeptiert wird. Um eine Anerkennung der Opferwahrheit im Recht auf Reparationen zu erzielen, ist ein hohes Maß an Öffentlichkeit und Transparenz erforderlich. Es gibt keine Anerkennung von Opferwahrheiten, die hinter verschlossenen Türen erfolgt. Die Anerkennung der Wahrheit ist erst dann gewährleistet, wenn die Entschädigung auch öffentlich ist. Dies gilt sowohl für Wahrheitskommissionen als auch für nationale und internationale Strafverfahren. Seit dem 19. Jahrhundert erfolgen Gerichtsverhandlungen in Deutschland öffentlich. Auch die Gerichtsgebäude sind für Zuschauer und Medien frei zugänglich.263 Die Gerichtsakten sind in nationalen Verfahren jedoch nur für die Beteiligten einsehbar.264 Der limitierte Zugang zur Wahrheit ist im Fall eines geringeren Interesses der Öffentlichkeit verständlich, jedoch nicht mehr sobald eine größere öffentliche Aufmerksamkeit besteht. Das Interesse an der Wahrheit nach einem massiven Menschenrechtsverbrechen kann eine breite internationale Öffentlichkeit erreichen, selbst wenn es sich um ein Einzelschicksal dreht, wie der Fall des ermordeten Journalisten Jamal Kashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul im Oktober 2018 veranschaulichte. „His family and the world deserves to know the truth“, 262 Czitrom Gerez, C. (2002), Executive Summary of Truth Commissions: An uncertain path? Comparative study of truth commissions in Argentina, Chile, El Salvador, Guatemala and South Africa from the perspectives of victims, their relatives, human rights organisations and experts. Chile/Genf: Corporación de Promoción y Defenda de los Derechos del Pueblo/Association for the Prevention of Torture, S. 19. 263 Fögen, M. T. (1974), Der Kampf um Gerichtsöffentlichkeit. Berlin: Duncker & Humblot. 264 VwGO § 99 Abs. 1 und § 100 Abs. 1.

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forderte die UN Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, bereits wenige Tage nach seiner Ermordung.265 Ein starkes öffentliches Interesse bestand an den Opferwerdungen durch die Verbrechen der Staatssicherheit in der DDR. Der Zugang zu den Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit wurde daher konsequenterweise durch die Schaffung einer eigens eingerichteten Behörde ermöglicht. Allerdings können sich nur direkte Opfer bis heute an die „Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen“ wenden. Das Einsehen der Akten gestattet Opfern, die Wahrheit der eigenen Opfergeschichte zu erfahren. Stasi-Mitarbeiter_innen aus dem Umfeld der Opfer werden so identifiziert. Die Wahrheit der Behörde kann aber keinen absoluten Anspruch erheben, so Roland Jahn, der dritte Bundesbeauftragte.266 Ein Rest von Ungewissheit kann auch nach der Sichtung der eigenen Akte bestehen bleiben. Diese Ungewissheit bestand jedoch in einem ungleich höheren Maße zuvor, schließlich wussten die Opfer des DDR-Regimes nicht, welche Informationen und Details ihres Privatlebens in den Akten gesammelt und niedergeschrieben waren. „Dennoch befürwortete eine breite Mehrheit einen offenen Umgang mit der Wahrheit über die zweite deutsche Diktatur“, so der Rechtshistoriker Stolleis.267 d) Anerkennung durch Schuldzurechnung Zur Wahrheit nach schweren Menschenrechtsverbrechen gehört auch, dass die wahre Verantwortlichkeit für die Taten geklärt wird. In den Berichten der Wahrheitskommissionen von El Salvador und Südafrika wurden die Täter der Verbrechen an den tausenden Opfern namentlich genannt. Beiden Kommissionen wurden diese weitgehenden Wahrheitsbefugnisse, inklusive der Ermittlung der Verantwortlichkeit, bereits in ihren Mandaten zugesichert. Andere Wahrheitskommissionen hatten hingegen ein limitiertes Mandat, das auf die Dokumentation der Opferzeugenberichte und der Opferwahrheit ausgerichtet war.268 Nachdem die Wahrheitskommissionen keine ordentlichen strafrechtlichen Verfahren mit einem verifizierten Abgleich der Täter- und der Opferwahrheiten ersetzen, können die Kommissionen auch keine Schuldsprüche verkünden. Konsequent wird in den Berichten daher meist von einer Verantwortlichkeit für die Taten und nicht von Schuld gesprochen. Die Klärung der Schuldfrage liegt jedoch im allgemeinen Interesse der Bevölkerung, denn nur so 265 UN News (2018), World ,deserves to know the truth‘ behind Khashoggi disappearance: UN human rights chief, https://news.un.org/en/story/2018/10/1023411 (Stand 1. 9. 2020). Die UN Sonderberichterstatterin, Agnes Callamard, legte dem UN Menschenrechtsrat im Juni 2019 schließlich einen Bericht vor, der die ermittelte Wahrheit um die außergerichtliche Tötung des Journalisten Jamal Kashoggi veröffentlichte, siehe A/HRC/41/CRP.1, 19. 06. 2019. 266 Jahn, R. (2012), Wir sind nicht das Amt für absolute Wahrheit. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, https://www.bstu.de/ueber-uns/der-bundesbeauftragte/interviews/wir-sindnicht-das-amt-fuer-absolute-wahrheit/ (Stand 1. 9. 2020). 267 Stolleis (2016), S. 178. 268 Czitrom Gerez (2002), S. 12.

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kann Straflosigkeit als gravierendes Folgeverbrechen verhindert werden. Die Klärung der Schuld für die Taten liegt aber ganz besonders im Interesse der Opfer. Die Forderung nach der Wahrheit über die gemachten Leiderfahrungen geht in Zeugenaussagen von Opfern häufig einher mit dem Wunsch nach einer konkreten Zuschreibung der Taten zu den verantwortlichen Tätern. So forderte die Opferzeugin Fatmata Kamara von der Wahrheitskommission in Sierra Leone am Ende ihrer Zeugenaussage: „I am begging the Commissioners that the people who had committed these atrocities, if by any means they would get hold of them, my suggestion is that they should pay the price.“269 In Staaten mit einer funktionierenden Rechtsstaatlichkeit und in der internationalen Strafjustiz liegt dieser Preis nicht in Rache, sondern in der Feststellung von Schuld der Verantwortlichen, welche die ganze Wahrheit oder Teile der Wahrheiten von Opferwerdungen verifiziert. Bei einem mutmaßlichen Individualtäter, der durch einen Mord ein einzelnes Opfer verursacht hat, erscheint die Zuschreibung von Schuld einfacher. Die hervorgerufene Schulddimension ist bei diesem Individualtäter und der singulären Tat weniger komplex als nach langandauernden bewaffneten Konflikten mit vielen Kriegsparteien, vielen Tätern und hunderten oder tausenden von Opfern. Zum einen sind die für Völkerrechtsverbrechen Hauptverantwortlichen regelmäßig nicht die unmittelbar Handelnden, die die Verbrechen begehen. Es sind vielmehr die Hintermänner, die Anstifter, die Auftraggeber und diejenigen, die lediglich in ihrer Eigenschaft als Kommandeure für Verbrechen, die ihre Truppen begehen, möglicherweise strafrechtliche Verantwortung tragen. Es ist ungleich schwieriger die Verbrechen diesem Personenkreis zuzurechnen, der im Hintergrund und unter Umständen räumlich weit weg von der Tat agierte. Völkerrechtsverbrechen erfolgen zudem in einem komplexen politischen Kontext. Eine Schuldzuschreibung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Genozid erfordert zusätzlich zu den Einzelverbrechen das Vorliegen bestimmter konstituierender Elemente und des darauf bezogenen Vorsatzes.270 Das allgemeine Verständnis der Schuld in seiner unmittelbaren Zuschreibung ist deshalb bei einem singulären Mord einfacher. Gemeinsam haben beiden Verbrechensarten, dass Opferangehörige die Ermittlung von Schuld und Verantwortlichkeit einfordern. Schuld zuzuschreiben und zu begreifen ist herausfordernd, weil die Problematik bei weitem keine rein strafrechtliche ist. Der Autor und Staatsrechtler Bernhard Schlink erklärt, dass „der Schuldbegriff nicht nur an den Normen des geltenden Rechts, sondern auch an andere Normen anknüpft, an Normen der Religion und der Moral, des Takts und der Sitte sowie des Funktionierens von Kommunikation und

269 Truth and Reconciliation Commission Sierra Leone (2003), Transcripts of Public Hearings, Volume 1, Appendix 3, S. 97, https://www.sierraleonetrc.org/index.php/view-the-fi nal-report/download-table-of-contents/appendices/item/appendix-3-transcripts-of-trc-publichearings?category_id=15 (Stand 1. 9. 2020). 270 Art. 6, 7, 8 IStGHSt.

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Interaktion.“271 Mit den verschiedenen, auch jenseits des Strafrechts liegenden Dimensionen von Schuld hat sich der Philosoph Karl Jaspers in einer Vorlesungsreihe über die geistige Situation in Deutschland im Wintersemester 1945/46 an der Universität Heidelberg befasst, die in sein viel beachtetes Werk „Die Schuldfrage“ gemündet ist. Jaspers war der Überzeugung, dass die deutschen Bürger_innen die Frage der Schuld nach den Verbrechen des NS-Regimes an sich selbst richten müssten. Jaspers wollte einer Simplifizierung des Verständnisses von Schuld vorbeugen und unterschied daher zwischen den vier Schuldbegriffen der kriminellen, politischen, moralischen und metaphysischen Schuld sowie den verantwortlichen Akteuren und Institutionen.272 Die Solidarität ist der Ausgangspunkt von Jaspers metaphysischem „Schuldkonzept“. Eine „metaphysische Schuld“ hat jeder Mensch ab dem Augenblick zu tragen, sobald sich zu den eigenen Lebzeiten Verbrechen ereignet haben, für deren Verhinderung man sich nicht eingesetzt hat. „Es gibt eine Solidarität zwischen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitverantwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeiten in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen.“273 Über die „metaphysische Schuld“ urteilt aus der Sicht Jaspers Gott. Eine irdische Institution, die diese Form der Schuld bestätigt, gibt es nicht. Eine offizielle und rechtliche Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen kann daher nicht aus der metaphysischen Schuld abgeleitet werden. Im Zusammenhang mit der metaphysischen Schuld legt Jaspers einen wichtigen Fokus auf das Schuldeingeständnis. Damit ist jedoch weniger das Schuldbekenntnis eines Einzeltäters gemeint, wie es der Angeklagte Al Mahdi in der zu untersuchenden Fallstudie dieser Forschungsarbeit abgelegt hat. Jaspers geht es vielmehr um den Anteil des Einzelnen an der gemeinschaftlichen bzw. metaphysischen Gesamtschuld. Durch ein solches Bekenntnis kann eine innere Selbstverwandlung erfolgen und ein „aktiveres Leben“ auf der Basis von Demut eingeleitet werden.274 Das Schuldbekenntnis führt aus der Sicht von Jaspers so zu einem Weg der Reinigung. Reinigung im Handeln bedeutet für ihn „zunächst Wiedergutmachung.“275 Ein danach erforderliches aktives Handeln durch Reinigung ist aber erst dann möglich, wenn ein aufrichtiges Schuldbewusstsein existiert, das sich nur beim Individuum entfalten kann. Eine Reinigung kann daher auch nur im Inneren des Einzelnen angestoßen werden. Ziel dieser Reinigung ist es, über die Freiheit des Einzelnen eine zu erringende Freiheit aller zu fördern, denn „[…] aus dem Schuldbewußtsein entsteht das Bewußtsein der Solidarität und Mit271 Schlink, B. (2002), Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 27. 272 Jaspers, K. (2012), Die Schuldfrage. München: Piper. Anm. zur späteren Ausgabe von „Die Schuldfrage“: Spätere Ausgaben, so auch die hier gewählte Ausgabe von 2012, enthalten das selbstkritische Nachwort Karl Jaspers von 1962. 273 Ebenda, S. 20. 274 Ebenda, S. 19 – 23. 275 Ebenda, S. 89.

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verantwortung, ohne die die Freiheit nicht möglich ist.“276 Die aus dem beschriebenen Prozess entstehende Solidarität und Mitverantwortung sind schließlich die antreibenden Kräfte für das konkrete Bedürfnis, Opfern zu helfen. „Wer von der Schuld, an der er Teil hat, innerlich ergriffen ist, will helfen jedem, dem Unrecht geschah durch die Willkür des rechtlosen Regimes.“277 Schließlich fordert Jaspers, dass zwischen den verschiedenen Formen des Helfens differenziert werden muss. Zunächst muss ein erster humanitärer Ansatz verfolgt werden, „[…] wo Not ist, gleichgültig wodurch, einfach darum weil sie nahe ist und Hilfe verlangt […].“ Die zweite Form des Helfens ist aus der Sicht von Jaspers gezielt an die Opfer des NS-Regimes zu richten und als eine „[…] Forderung, den durch das Hitlerregime Deportierten, Beraubten, Geplünderten, Gequälten, den Emigrierten ein besonderes Recht zuzugestehen“ zu legitimieren.278 Die Verpflichtung, Opfern zu helfen, führt Jaspers nicht nur auf die durch Schuldbewusstsein entstandenen Gefühle von Solidarität und Mitgefühl zurück, sondern auch auf die jedem Menschen innewohnende Würde. „In der Tat sind wir Deutschen ohne Ausnahme verpflichtet, in der Frage unserer Schuld klar zu sehen und die Folgerungen zu ziehen. Unsere Menschenwürde verpflichtet uns.“279 Der gegenseitige Achtungsanspruch in der Würde formt Menschen zu Verantwortungssubjekten, sich Schuld einzugestehen und Solidarität zu äußern. Jaspers metaphysisches Schuldkonzept liefert auch ein Erklärungsmodell für allgemeine humanitäre Hilfe und zugesicherte Hilfsmaßnahmen durch Entitäten, die nicht unmittelbar Schuld an den Taten tragen. Vor allem aber kann sie als Rechtfertigung für die Errichtung internationaler Organisationen durch Staaten dienen, die nach bewaffneten Konflikten auch die Rechte und Interessen von Opfern vertreten. Dies können beispielsweise Wahrheitskommissionen, aber auch internationalem Recht unterliegende humanitäre Organisationen, vor allem aber internationale Tribunale sein. Besonders die Einrichtung dieser internationalen Organisationen kann im Jaspers’schen Sinne als Eingeständnis metaphysischer Schuld betrachtet werden. Jaspers liefert in seiner Differenzierung zwischen den beiden Hilfsformen für Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen einen Begründungsrahmen für die beiden Mandate des Trust Fund for Victims am Internationalen Strafgerichtshof: Reparationen und Assistenz für Opfer. Die „moralische Schuld“ richtet sich aus der Sicht von Jaspers direkt an das einzelne Individuum, denn jeder Einzelne ist allein für seine Handlungen verantwortlich. Dies bezieht sich auch auf die Handlungen in kriegerischen Auseinandersetzungen. Noch bevor das Urteil im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess verkündet worden war, erklärte Jaspers, „[n]iemals gilt schlechthin ,Befehl ist Befehl‘“.280 Die Handlungen des individuellen Verantwortungsträgers obliegen einer 276 277 278 279 280

Ebenda, S. 91. Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 19.

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moralischen Beurteilung und damit einer moralischen Schuldfähigkeit. Vergleichbar der „metaphysischen Schuld“ kann die „moralische Schuld“ nicht durch ein Gericht nachgewiesen werden, sondern nur im Inneren des Einzelnen gegenüber sich selbst und gegenüber dem eigenen Gewissen verantwortet werden sowie in der „Kommunikation mit dem Freunde und dem Nächsten, dem liebenden, an meiner Seele interessierten Mitmenschen.“281 Wird die „moralische Schuld“ von dem Einzelnen tatsächlich anerkannt, können aus der Sicht von Jaspers durch „Buße und Erneuerung“ Prozesse in Gang gesetzt werden, die gar zu Veränderungen auf der internationalen Ebene beitragen.282 Bezogen auf den Al Mahdi Fall verdient hier das Geständnis des Angeklagten in der Verhandlung Beachtung, das hinsichtlich seines Inhalts deutlich über das Eingeständnis strafrechtlicher Schuld hinaus ging. Zu untersuchen bleibt allerdings, ob und inwieweit dieses auch als moralisches Schuldbekenntnis betrachtet werden kann und nachhaltige Akzeptanz bei den Opfern erfuhr.283 Jaspers „politische Schuld“ beschreibt die verantwortbaren Handlungen von Regierungsmitgliedern und Staatsoberhäuptern. Allerdings trägt auch jeder einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin eine Mitverantwortung an der politischen Schuld, schließlich so begründet es Jaspers, „ist [e]s jedes Menschen Mitverantwortung, wie er regiert wird.“284 In der „politischen Schuld“ sind Staatsbürger_innen als Kollektiv haftbar für die Handlungen des eigenen Staates. Sie sind dadurch aber nicht automatisch kriminell oder im juristischen Sinne „schuldig“. Die politische Schuld kann durch die Wiedergutmachungsleistungen staatlicher Stellen an die Opfer des NSRegimes ausgeglichen werden und ist grundsätzlich als Sühne zu verstehen.285 Jaspers kollektive Haftbarkeit ist nicht zu verwechseln mit der sogenannten „Kollektivschuld“, die der Historiker Norbert Frei als eine der Grundvokabeln der politischen Sprache im Nachkriegsdeutschland bezeichnete.286 Der Hauptankläger der Nürnberger Nachfolgeprozesse, Telford Taylor, vermutete, dass der empfundene Vorwurf der Kollektivschuld aus dem ursprünglichen Anklagepunkt der Verschwörung und der Anklage von verbrecherischen Organisationen im Hauptkriegsverbrecherprozess entstanden war.287 Ein offizielles Dokument, das den Begriff der Kollektivschuld verwendete, gab es in den Nürnberger Verfahren selbstverständlich nicht, weil sie im juristischen Sinn nicht existiert. Norbert Frei schlussfolgert daher, dass es sich bei der „Kollektivschuld“ der deutschen Bürger_innen um ein kollektives Bewusstsein handelte, das auf ein schlechtes Gewissen

281 282 283 284 285 286 287

Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 19 – 23. Siehe Kap. VI. 2. a). Jaspers (2012), S. 19. Ebenda, S. 19 – 23. Frei (1997), S. 621. Taylor, T. (1994), Die Nürnberger Prozesse. München: Heyne, S. 678.

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zurückzuführen war.288 Jaspers hatte gar nicht beabsichtigt, die Deutschen als Kollektivschuldige zur Verantwortung zu ziehen oder gar moralisch anzuklagen. Er wollte vielmehr einen Beitrag dazu leisten, dass die Rolle des Einzelnen an den Verbrechen des „Dritten Reiches“ anerkannt und das Böse als ein vorhandenes Grundprinzip im Menschsein verstanden wird. Er warnt daher „[r]eißt die Kette des Bösen nicht ab, so geraten die Sieger in dieselbe Lage, wie wir, mit ihnen aber die gesamte Menschheit.“289 Die Bestrafung der Kriegsverbrecher wäre aus der Sicht von Hannah Arendt auch sinnlos, wenn niemand mehr als Kriegsverbrecher für schuldig erklärt werden kann, weil alle von vorneherein schon schuldig sind.290 Eine Kollektivschuld oder Kollektivunschuld gibt es aus Arendts Sicht aus diesem Grund nicht. „Was es aber wohl gibt, ist eine Kollektivhaftung im politischen Bereich, die in der Tat unabhängig ist von dem, was man selbst getan hat, und daher weder moralisch zu werten noch gar in strafrechtlichen Begriffen zu fassen ist.“291 Die politische Haftung lässt es zu, dass Nachfolgeregierungen für begangene Verbrechen der Vorgänger haften und Entschädigungsleistungen auch Jahrzehnte nach den Taten und Opferwerdungen gefordert werden können und dürfen. Zumindest der juristische Schuldbegriff lässt hingegen keine „Schuldübertragungen“ zu, „[…] weder in der Horizontalen, unter den Angehörigen einer Generation, noch in der Vertikalen, von der einen Generation auf die nächste“, erklärt Bernhard Schlink.292 Dem entsprechend erfasst im internationalen Strafrecht der juristisch enge Schuldbegriff bei Massenverbrechen mit sehr großen Opferzahlen die Dimension politischer Schuld nicht. Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen übertragen ihr Leid und ihre Leiderfahrungen auf nachfolgende Generationen. Dies muss Anlass sein, Entschädigungsmaßnahmen auf politisch-gesellschaftlicher Ebene auch aus dem Gesichtspunkt politischer Schuld über längere Zeiträume in Betracht zu ziehen. Der juristische Schuldbegriff wird bei Jaspers als „kriminelle Schuld“ bezeichnet – als die von Gerichten nachzuweisende individuelle Schuld nach der erfolgreichen strafrechtlichen Ermittlung von Rechtsverstößen, die von Einzelnen begangen wurden. Der oder die Schuldige wird in Folge der anerkannten kriminellen Schuld durch Richter_innen bestraft. Jaspers geht bei dem kriminellen Schuldverständnis von einer strafrechtlich nachweisbaren Schuld aus.293 Die Feststellung von Schuld ist menschenrechtlich nur dann legitimiert, wenn sie das genuine Rechtsprinzip der Unschuldsvermutung des Beschuldigten beachtet. Artikel 11 der All288

Frei (1997), S. 621. Jaspers (2012), S. 76. 290 Arendt, H. (2000), Organisierte Schuld, in: Die Verborgene Tradition. Arendt, H. (Hg.), Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 35 – 49, S. 35. 291 Arendt (2008a), S. 67. 292 Schlink (2002), S. 11. 293 Jaspers (2012), S. 19 – 23. 289

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gemeinen Erklärung der Menschenrechte bestimmt, dass „(j)eder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, das Recht (hat), als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“294 Die Unschuldsvermutung wurde später in Artikel 14 (2) des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966 verankert und hat ihren Niederschlag in Artikel 66 (1) des IStGHSt gefunden.295 Sie bezieht sich stets auf das einzelne Individuum. Eine vergleichbare kollektive Unschuldsvermutung, wie von Bilbao Alberti für Opfer gefordert, gibt es im internationalen Recht nicht.296 Ein Angeklagter und eine Angeklagte sind unschuldig, bis das Gegenteil durch vorgebrachte und verifizierte Beweise nachgewiesen wird. Der oder die Angeklagte kann auch nicht gezwungen werden, vor einem Gericht auszusagen, um die eigene Unschuld beweisen zu müssen.297 Die Unschuldsvermutung gilt auch für angeklagte Täter, die zugleich Opfer internationaler Verbrechen geworden sind. Gerade nach bewaffneten internationalen und langjährigen Konflikten, vermengen sich Täter- und Opferparadigmen häufig. Der Nachweis der eindeutigen kriminellen Schuld wird schwieriger und das klassische Schuldverständnis kommt an seine Grenzen. Dies zeigte sich besonders im internationalen Strafverfahren gegen Thomas Lubanga.298 Opferzeuge DRC-OTPWWWW-0011 war als Kind in die Rebellentruppe UPC rekrutiert und, wie er betonte, gegen seinen Willen zum Soldaten ausgebildet worden. Der Opferzeuge war von der Anklagebehörde benannt worden, um gegen den Angeklagten auszusagen. Er wurde gefragt, wie er sich selbst fühlte als er zum ersten Mal Feinde töten musste. „Well, you know, killing someone is not a good thing. Killing someone is not good.“ Die ernüchternd klare Aussage mit der der Opferzeuge DRC-OTP-WWWW-0011 durch das Eingeständnis von Tötungen auch eigene schwere Schuld einräumt, wird im weiteren Verlauf um die Leiderfahrungen der eigenen Opferwerdung als zwangsrekrutierter Kindersoldat und schwere physische und psychische Misshandlungen ergänzt.299 Den Nachweis einer kriminellen Schuld betrachtete Hannah Arendt für die NSVerbrechen in ihren früheren Werken mehr als kritisch. Als Antwort auf Jaspers Schulddimensionen erwiderte sie: 294

Art. 11 AEMR. Art. 14 (2) IPbpR, Art. 66 (1) IStGHSt. 296 Arendt, H. (2003), Responsibility and Judgment. New York: Schocken, S. 29. 297 Art. 67 (1)(g) IStGHSt. 298 Thomas Lubanga Dyilo wurde am 14. 03. 2012 schuldig gesprochen wegen der Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren und ihrem Einsatz in bewaffneten Auseinandersetzungen. Er wurde zu 14 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Anm. Union des Patriotes Congolais (kurz: UPC). 299 TC I, Lubanga, Transcripts vom 3. 03. 2009, ICC-01/04-01/06-T-139-Red2-ENG CT WT (rev.dec.1974) 03 – 03 – 2009_34/100 PV T. 295

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„Diese Verbrechen lassen sich juristisch […] nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr. […] Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, die jenseits des Verbrechens steht, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnungen. […] Mit einer Schuld, die jenseits der Verbrechen steht […] kann man menschlich-politisch überhaupt nichts anfangen.“300

Im besonderen Fall Nachkriegsdeutschlands war nach Arendt die Schuldfrage auch deshalb so schwierig, weil keine klare Linie bestand, „die (…) Verbrecher von normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen“ unterschied.301 Dennoch lässt sich nicht bezweifeln, dass Völkerrechtsverbrechen von einzelnen Personen unmittelbar verübt und in Auftrag gegeben werden, dass mithin individuelle Schuld für schwerste Verbrechen existiert. Eine Lösung dieses Dilemmas bietet Arendt, anders als Jaspers, der der kriminellen Schuld als einer Form von Schulddimension Raum gibt, nicht an. Über die „ungeheuerliche Maschine des ,Verwaltungsmassenmordes‘“, die von „verantwortungslos Verantwortlichen“ betrieben wurde, wird am ehesten die Geschichte richten, so Arendts Fazit.302 In späteren Publikationen, auch seit der Beobachtung des Eichmann-Verfahrens, wendet sie sich allerdings von der Frage der Schuld hin zur Diskussion um Verantwortung. All diese rechtlichen Fragen sind für Arendt stets eine Auseinandersetzung mit moralphilosophischen Themen. Es geht ihr um die grundlegende Unterscheidung zwischen richtig und falsch, ein moralisches Kriterium, das sie als absolut erachtet wie die Unterscheidung zwischen hell und dunkel. In diesem Kontext haben aus Arendts Sicht internationale Strafverfahren ihre Rechtfertigung; denn sie sind der Ort, der moralphilosophische Fragen hervorbringt und wo sie diskutiert werden können.303 Gleichzeitig sind es diese moralphilosophischen Fragen, die nach Arendt eine Bestimmung von Schuld und Verantwortung so schwierig machen. Eine Verpflichtung zur Gesamtverantwortlichkeit für schwere Verbrechen leitet sie aus der Idee der Menschheit ab. Die Menschheit formt die Ursprünge des Menschengeschlechts. Sie schließt keine Bevölkerungsgruppen aus und errichtet kein einseitiges Schuldmonopol.304 Zu Arendts Idee der Menschheit gehört es vielmehr, dass alle verantwortlich für die Verbrechen von Menschen sind, „daß wir in dieser oder jener Weise die Verantwortung für alle von Menschen begangene Verbrechen, daß die Völker für alle von Völkern begangene Untaten die Verantwortung werden auf sich nehmen müssen.“305 Diese Idee der Gesamtverantwortung der Menschheit für schwerste Völkerrechtsverbrechen stellt 300 Köhler, L./Saner, H. (Hg.) (1985), Hannah Arendt/Karl Jaspers Briefwechsel, 1926 – 1969. München: Piper, S. 323. 301 Arendt (2000), S. 40. 302 Ebenda, S. 41. 303 Arendt (2003), S. 58 – 75. 304 Die deutsche Übersetzung des Essays „Organisierte Schuld“ von Hannah Arendt verwendet an dieser Stelle in der Übersetzung „Laster“, während im englischen Original kein Monopol von „guilt“ errichtet werden soll, Arendt (2000); Arendt, H. (1994), Essays in Understanding. Kohn, J. (Hg.), New York: Harcourt, S. 131. 305 Arendt (2000), S. 48.

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eine wesentliche Rechtfertigung für die Errichtung internationaler Tribunale und die mit ihnen gegebenenfalls verbundenen Wiedergutmachungsmechanismen dar. Dies findet seinen Niederschlag in der Präambel des IStGHSt, die in ihrem Beginn den Gedanken der Menschheitsgemeinschaft, fast buchstäblich wörtlich im Arendt’schen Sinne, in Bezug zu den unvorstellbaren Leiden der Opfer setzt.306 Jaspers beabsichtigt hingegen, die einzelne Person auf ihr Menschsein zurückzuführen: „Wenn wir unsere eigene Schuld bis in ihren Ursprung verfolgen, so stoßen wir auf das Menschsein, das in deutscher Gestalt ein eigentümliches, furchtbares Schuldigwerden angenommen hat, aber Möglichkeit im Menschen als Menschen ist.“307 Mit der Schulddebatte sollte ein Beitrag geleistet werden, dass der Einzelne die eigene Rolle an den Verbrechen des NS-Regimes anerkennt.308 Die Schuldfrage wird mit Jaspers zu einer Debatte um Anerkennung des Menschseins, aber mit Arendt zu einer Frage nach der Verantwortung der gesamten Menschheit. Der Nachweis von Schuld durch Strafverfahren erlangt eine weitere Dimension durch die Opferperspektive. Die kriminelle oder strafrechtliche Schuld grenzt sich von der Unschuld der Opfer ab und wird so zu einem menschenrechtlichen Anerkennungskriterium von Opfern internationaler Straftaten. Die Anerkennungsdebatte von NS-Opfern war im Nachkriegsdeutschland und den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik sehr stark von der Klärung der Schuldfrage der Täter geprägt. Dies zeigte sich beispielsweise auch an der Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters, Hans Hofmeyer, am Landgericht Frankfurt am Main am 182. Verhandlungstag, dem 19. August 1965, im Prozess gegen Mulka u. a. Das Verfahren, das in die deutsche Rechtsgeschichte unter dem Namen „Auschwitz-Prozess“ eingegangen ist, „blieb (…) für das Schwurgericht ein Strafprozeß gegen Mulka und andere, das heißt, es war für die Entscheidung des Schwurgerichts nur die Schuld der Angeklagten maßgeblich“, so Hofmeyer.309 Wiederholt betonte Richter Hofmeyer, dass es in dem Verfahren ausschließlich um die individuelle Verantwortlichkeit und die Zurechnung der Schuld zu Einzelpersonen ging. Die Erwartungen an den Prozess „eine(r) umfassende(n) geschichtliche(n) Darstellung des Zeitgeschehens zu schaffen, die Hintergründe, die zu dieser Katastrophe führten, zu erkennen“ betrachtete er als verständlich und nachvollziehbar. Ein Strafverfahren alleine kann es jedoch nicht leisten, ein vollständiges Bild der „psychologischen, politischen, sozialen und rechtsphilosophischen Situation der Ära des nationalsozialistischen Staates“ zu skizzieren. Jedes Strafverfahren bewegt sich in einem rechtsstaatlich vorgegebenen Rahmen von Gesetzen, deren Einhaltung Richter Hofmeyer zum primären Ziel der Kammer auch in diesem so bedeutenden nachkriegsgeschichtlichen Verfahren er306 Aus der Präambel des IStGHSt: „eingedenk dessen, dass in diesem Jahrhundert Millionen von Kindern, Frauen und Männern, Opfer unvorstellbarer Gräueltaten geworden sind, die das Gewissen der Menschheit zutiefst erschüttern.“ 307 Jaspers (2012), S. 77. 308 Ebenda, S. 76. 309 Landesgericht Frankfurt (1965), 1. Frankfurter Auschwitzprozeß, Strafsache gegen Mulka u. a., 4 Ks 2/63, 182. Verhandlungstag, 19. 8. 1965, S. 3.

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klärte. Direkt auf Jaspers zurückkommend, sagte Hofmeyer: „Bei der Frage der Schuld konnte das Gericht nur die kriminelle Schuld, das heißt die Schuld im Sinne des Strafgesetzbuchs untersuchen. Nicht stand für das Gericht die politische Schuld, die moralische und ethische Schuld im Mittelpunkt seiner Prüfung.“310 Hofmeyer räumt an dieser Stelle ein, dass es Schuldformen jenseits der kriminellen, nämlich solcher im Jasper’schen Verständnis gibt. Spätestens wenn man in zeitgeschichtlichen strafrechtlichen Gerichtsprotokollen und Biographien von Opfern recherchiert, zeigt sich, dass diese Schulddimensionen keine abstrakt philosophischen Konzepte sind, sondern in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nach Kriegsverbrechen tatsächlich bestehen. Der Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebende Heinrich Dürmeyer hatte während seiner Zeugenaussage im Auschwitzverfahren beispielsweise eine Umkehrung des Unschuldsprinzips gefordert, dass die Angeklagten ihre Unschuld nachweisen müssten und nicht die Staatsanwaltschaft die Schuld. Er begründete seine Forderung, indem er argumentierte, dass es aus seiner Sicht keinen Aufseher oder sonstigen Verantwortlichen in Auschwitz gegeben hat, der ein menschliches Empfinden gegenüber den Häftlingen offenbart hatte. Gleich zu Beginn seiner Aussage formulierte Dürmeyer eine Vorverurteilung der Angeklagten, als er sagte, dass es keinen geben würde, der „dort nicht schuldig war.“311 Eine derartige Äußerung stünde natürlich keinem offiziellen Prozessbeteiligten während des Verfahrens zu und geht weit über die Zeugenrolle hinaus. Das Anhörungsrecht des Opfers im Strafverfahren gibt diesem jedoch die Gelegenheit, dem Täter oder der Täterin die eigenen Empfindungen jenseits der Schuldzuschreibung zu übermitteln. Für Opfer ist es von großer Bedeutung, wie eine Gesellschaft mit den Tätern umgeht, denn damit wird zugleich auch eine Aussage über die Tat getroffen. JanPhilipp Reemtsma bezeichnet den ersten wichtigen Akt als die „Anerkennung, dass ein Verbrechen Unrecht war, nicht Unglück.“312 Darin steckt der Anspruch, die Tat einem konkret verantwortlichen Täter individuell zuzurechnen. Ein klarer Schuldspruch verhindert den Vorwurf einer stillen Zustimmung zur Tat – wie sie einer erlassenen Amnestie oder der Straflosigkeit zu entnehmen wäre. Die Bestrafung des Täters kann so als Reintegration des Opfers in die Gesellschaft verstanden werden.313 Ein (gerichtliches) Schuldurteil stellt das erlittene Leid der Opferwerdungen fest. Die Gerichte verleihen der Opferwerdung durch Anerkennung einen offiziellen, wahrheitsschaffenden Charakter. Die Akteure, aber auch das formalisierte rechtsstaatliche Strafverfahren als solches, machen eine Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen durch Schuld öffentlich und transparent. Die Feststellung von Schuld in einem rechtsstaatlichen Verfahren hat auch die Funktion, Rachebedürfnisse bei Opfern schwerer Menschenrechtsverbrechen nicht aufkommen zu lassen. Selbst wenn man die Rache als natürliches menschliches Gefühl einstufen 310

Ebenda, S. 3. Landesgericht Frankfurt (1965), 1. Frankfurter Auschwitzprozeß, Strafsache gegen Mulka u. a., 4 Ks 2/63, 58. Verhandlungstag, 22. 06. 1964. 312 Reemtsma, J. P. (2002), Die Gewalt spricht nicht: drei Reden. Stuttgart: Reclam, S. 81. 313 Ebenda, S. 83. 311

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will oder gar als ein Ausdruck der erfahrenen Ohnmacht von Opfern betrachtet, kann aus Rache kein Anerkennungs- und Bewältigungsprozess in Gang gesetzt werden. Umgekehrt gilt mit Judith Herman: „Wer seine Rachefantasien ablegt, gibt damit jedoch nicht auch seine Suche nach Gerechtigkeit auf, ganz im Gegenteil: Nun ist die Zeit gekommen, sich wieder mit anderen Menschen zusammenzutun und gemeinsam den Täter für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.“314 Durch das gemeinsame Streben nach Gerechtigkeit, wird nicht nur die Opfergemeinschaft gestärkt, sondern auch persönlichen Rachegefühlen entgegengewirkt. Herman sieht ein Schuldurteil deshalb mit Recht sogar als die Chance für einen gemeinsamen Heilungsprozess der Opfergruppe.315 Schuld ist im Kontext dieser Forschungsarbeit zum Menschenrecht auf Reparationen als juristische Schuld zu verstehen. Bezugspunkt dieser Schuldfeststellung sind die Normen des geltenden Rechts – seien es die Normen eines einzelnen Rechtsstaates oder die Normen internationaler Verträge, wie des Römischen Statuts des IStGH. Der Schuldvorwurf setzt voraus, „daß der Einzelne sich normwidrig verhalten hat, obwohl er zu normgemäßem Verhalten fähig war.“316 Der Schuldspruch einer angeklagten Person erfolgt aufgrund der individuellen Verantwortlichkeit für Verbrechen. Diese Feststellung individueller Verantwortlichkeit ist für Opfer im Anerkennungsprozess von eminenter Bedeutung. Es erweist sich immer wieder, dass Opfer das Ausbleiben einer individuellen Schuldzurechnung als zutiefst unbefriedigend, ja sogar sekundär viktimisierend empfinden. Dies zeigt sich selbst dann, wenn die Wahrheit als solche evident durch veröffentlichte Fotos und Videos greifbar erscheint oder sogar schon festgestellt werden konnte.317 Zum Strafen einer Gesellschaft gehört die „Verantwortungsfähigkeit eines Menschen“, kontextualisiert Arendt den Zusammenhang zwischen Schuld, Strafe und Zurechnung.318 Noch deutlicher formuliert Kant, dass Menschen als Tat nur eine freie und daher zurechenbare Handlung akzeptieren. „Tat heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Akt als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese zusamt der Handlung selbst können ihm zugerechnet werden (…).“319 Nur wenn eine Person als freies Subjekt und nicht etwa unter Zwang oder aufgrund mentaler Defizite (mit) verantwortlich handelnd wirkt, wird sie als „causa libera“ der eigentlichen Tat und ihrer Folgen betrachtet. Kant erläutert weiter, dass nur ein mit innerer Freiheit be314

Herman (1993), S. 296. Ebenda, S. 301. 316 Schlink (2002), S 11. 317 Der öffentliche Druck hinsichtlich Strafverfolgung und Zurechnung zeigte sich auch an jüngeren Beispielen von Straftaten, die durch Einzeltäter wie dem rechtsextremistischen Massenmörder Anders Breivik 2011 in Norwegen oder an Einzelopfern wie George Floyd 2020 in Minnesota, USA, begangen wurden. 318 Arendt (2000), S. 42. 319 Kant, I. (1797), Die Metaphysik der Sitten. Königsberg, S. 223. 315

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gabtes und der Verpflichtung fähiges Wesen Subjekt des moralischen Geschehens sein kann und im Sinne einer Zurechnung seiner Handlung verpflichtet wird.320 Auch diese aus der Handlungsfreiheit folgende Autonomie des Individuums, für seine Taten zur Verantwortung gezogen zu werden, ist Ausdruck der Menschenwürde. Die Wahrheitskommission von El Salvador hat diesen Begründungsansatz für die individuelle Verantwortlichkeit von Tätern direkt aufgegriffen „since humans possess will and can therefore take decisions based on will: it is individuals that commit crimes, not the institutions they have created.“321 Für Opfer schwerer Verbrechen ist es von eminenter Bedeutung, dass die Verbrechen von einer frei verantwortlich handelnden, der Verpflichtung fähigen Person begangen wurde und dieser zugerechnet werden können. Dies beruht darauf, dass sie sich nicht als Opfer eines Unfalls oder Unglücks sehen, das ihnen zufällig und schicksalshaft widerfahren ist, sondern als Menschen, denen von anderen Menschen bewusst und zurechenbar Leid zugefügt wurde. Dieses wichtige Anliegen zeigt sich auch bei schwersten Verbrechen, die ganze Nationen außerhalb eines Kriegszustandes im Innersten erschüttern können. Im Verfahren gegen den Rechtsextremisten Anders Breivik forderten die Angehörigen der Ermordeten ebenso wie die allgemeine norwegische Öffentlichkeit, dass der Angeklagte nicht als schizophren und schuldunfähig erklärt werden würde. Breivik wurde von den Richtern 2012 entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft für zurechnungsfähig und rechtlich verantwortlich befunden.322 Bereits Kant räumte ein, dass eine rechtskräftige Zurechnung nur von Richtern und Richterinnen bzw. von Gerichtshöfen vorgenommen werden kann.323 Die menschliche Urteilskraft von Berufsrichter_innen ist dann in Gerichtsverfahren gefragt. „Was wir in diesen Prozessen fordern, ist, daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können, als auf das eigene Urteil (…)“, beschrieb Hannah Arendt die Erwartungen an Richter_innen.324 Die Urteilsfindung von unabhängigen Richter_innen muss unbeeinflusst von den Meinungen und Forderungen – auch von Opferseite – sein. Nur dann kann es gelingen, dass derartige Verbrechensdimensionen nicht mehr im Verständnis eines funktionierenden Getriebes begriffen werden, sondern durch das Gerichtsverfahren auch die Täter „in Menschen zurückverwandelt.“325 Der Angeklagte ist dann der Mensch, der sich nicht auf die Be320

Ebenda, S. 227. UN Security Council (1993), From Madness to Hope: the 12-year war in El Salvador: Report of the Commission on the Truth for El Salvador. Annex, S/25500, S. 5 – 8, S. 7. 322 De Graaf, B./Van der Heide, L./Wanmaker, S./Weggeman, D. (2013), The Anders Behring Breivik Trial: Performing Justice, Defending Democracy. International Center for Counter-Terrorism (Hg.), The Hague, https://www.icct.nl/download/file/ICCT-De-Graaf-et-alThe-Anders-Behring-Breivik-Trial-August-2013.pdf (Stand 1. 9. 2020). 323 Kant (1797), S. 227 – 228. 324 Arendt (2008a), S. 64. 325 Ebenda, S. 58 – 59. 321

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fehlskette berufen kann, sondern derjenige, der in voller Verantwortung seiner bewussten Entscheidungen Verbrechen ausgeübt hat. Zugleich wird die Würde des Täters als Verantwortungssubjekt geachtet und die Anerkennung von Opfern durch die Schuldzuschreibung ermöglicht. Opfererwartungen an die Anerkennung individueller Schuld sind im Einklang mit dem Kant’schen Konzept der Autonomie als eine eigene Gesetzgebung des Individuums zu werten. Mit der Anerkennung von Schuld werden zugleich Tatsachenwahrheiten festgehalten und die Opferwerdungen von Menschen bestätigt. Das Schuldurteil hält das geschehene Unrecht internationaler Verbrechen sowie die an Opfern begangenen Schäden fest und erkennt sie an. Der gerichtliche Rahmen formalisiert diese Anerkennungsform durch Schuld. Ein Schuldspruch ist schließlich ein öffentlicher Akt, der die Anerkennung von Opfern manifestiert. Die Rechtsgemeinschaft erklärt sich solidarisch mit den Opfern und bestraft die Täter. Auch wenn ein Schuldspruch und die Verurteilung des Täters im Strafverfahren aus Opfersicht ein wesentliches Anerkennungselement darstellt, ist damit noch keine Gerechtigkeit für die Opfer wiederhergestellt. Diese geschieht auch nicht durch einen angeordneten Freiheitsentzug des Beschuldigten. Dass eine Verurteilung kein Ende des Rufes nach Anerkennung von Opfern bedeutet, erklärte auch Luhmann: „(S)oziologisch gesehen, schließt ein Verfahren nicht nur mit einer einzigen rechtlich bindenden Entscheidung ab.“326 Ebenso vertrat Arendt die Ansicht, dass ein Urteil mit Schuldspruch nicht das letzte Wort in Fragen von Geschichtsschreibung und Gerechtigkeit bedeuten kann.327 Vielmehr müssen zu einer vollen Anerkennung des Opferseins auch Reparationsleistungen hinzutreten. Reparationen sind eine notwendige komplementäre Reaktion auf ein ausgesprochenes Schuldurteil, dieses im Interesse der Opfer zu materialisieren und so auf die unmittelbaren Nöte und Bedürfnisse zu reagieren. Dies gilt selbst dann, wenn, wie Schlink formuliert, der […] Schadenersatz „eben nur Ersatz für das beschädigte oder verlorene Gut“ ist und „den Verlust oder den Schaden nicht ungeschehen […]“ macht.328 e) Verantwortungsübernahme durch Entschuldigung Ein weiteres Anerkennungselement kann in einer Entschuldigung des Täters bestehen. Eine Entschuldigung ist allerdings nur ein Schritt, wenn auch ein wichtiger symbolischer, um auf Opfer zuzugehen und Verantwortung zu übernehmen. Mit der Entschuldigung bittet ein Täter oder die Täterseite die Opfer für die Taten, die nicht ungeschehen gemacht werden können, um Vergebung. Damit geht allerdings nicht automatisch die – positive – Bewertung der Entschuldigung als authentisch und ernst gemeint einher, da sie auch prozesstaktisch motiviert sein kann. Zudem kann die Wahrnehmung und Einschätzung einer Entschuldigung stark differieren, je nach 326 327 328

Luhmann (1983), S. 3. Arendt (2003), S. 235. Schlink (2002), S. 90.

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dem, ob sie von einem Gericht oder einer Wahrheitskommission, der allgemeinen Öffentlichkeit oder den Opfern selbst vorgenommen wird. Grundsätzlich obliegt die normative Bewertung der Entschuldigung eines Angeklagten in einem völkerstrafrechtlichen Verfahren den Richter_innen bei der Strafzumessung. Gleiches gilt für nationale Strafverfahren oder für die für Anhörungen anderer offizieller Institutionen wie den Wahrheitskommissionen Verantwortlichen. Wird die Entschuldigung als aufrichtig qualifiziert, kann sie als strafmildernd berücksichtigt werden. Die moralische Bewertung nehmen hingegen klar die Opfer und ihre Angehörigen vor. Beides ist relevant, damit eine Entschuldigung als Element der Feststellung von Wahrheit betrachtet werden kann. Im Folgenden ist zu klären, ob Entschuldigungen als Bestandteil der Anerkennung des Opferseins durch Wahrheit bewertet werden können, ob sie für Reparationsverfahren relevant sind und welche Kriterien eine Entschuldigung überhaupt definieren. In seiner vielbeachteten Publikation „Mea Culpa“ stuft der Soziologe Nicholas Tavuchis eine Entschuldigung grundsätzlich als einen Sprechakt zwischen zwei Parteien ein. Er definiert „(a)pology, (…) as a speech act, a sign, in dyadic interaction between the primordial social categories of Offender and Offended […].“329 Tavuchis greift auf die Ansätze des amerikanischen Sprachphilosophen John Searle zurück, wonach ein Sprechakt zunächst einmal als das Sprechen einer Sprache, als ein SichEinlassen auf geregeltes Verhalten verstanden wird.330 Regeln sind hier selbstverständlich nicht rechtlich verankerte Normen, sondern nicht-rechtliche Regelungen eines akzeptierten Verhaltens. Die Entschuldigung gilt als ein sprachliches Mittel des sozialen Lebens und Miteinanders und hat als solches das Potential, soziale Beziehungen wieder zu verbessern. Die Entschuldigung kann dazu beitragen, dass die unterschiedlichen Konfliktparteien das erfahrene Unrecht überwinden und ihr Leben fortsetzen. Im Kontext schwerer Menschenrechtsverbrechen ist eine Entschuldigung zugleich eine linguistische und soziale Brücke zwischen den Anerkennungsbedürfnissen der Opfer einerseits und andererseits dem Wunsch des Täters seine vorhandenen menschlichen Züge zu beweisen. Tavuchis schreibt der Entschuldigung daher auch ausdrücklich einen partizipativen und rehabilitierenden Charakter in Bezug auf den Täter zu. Die Entschuldigung selbst habe den Anspruch „[…] to reclaim the unquestioned right to participate as a member.“331 Jeder Entschuldigende will wieder zu einer Gemeinschaft gehören, die ihn wegen der verübten Taten ausgeschlossen hat. Die Entschuldigung selbst kann daher nicht reduziert als Sprechakt betrachtet werden, sondern ist im Hinblick auf ihre Absichten und Wirkungen für die Anerkennung von Opfern zu untersuchen.

329

Tavuchis, N. (1991), Mea Culpa: A Sociology of Apology and Reconciliation. Stanford: Stanford University Press, S. 119. 330 Searle, J. R. (1969), Speech acts: An essay in the philosophy of language. Cambridge: Cambridge University Press, S. 12. 331 Tavuchis (1991), S. 24.

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Der Psychologe Aaron Lazare ist überzeugt, dass eine Entschuldigung das Ziel habe, gebrochene Beziehungen zu versöhnen und wiederherzustellen. Die Entschuldigung sei schließlich „one of the profound human interactions.“332 In Lazares Definition von Entschuldigung steht genau diese Interaktion zwischen zwei Parteien im Vordergrund: „,Apology‘ refers to an encounter between two parties in which one party, the offender, acknowledges responsibility for an offense or grievance and expresses regret or remorse to a second party, the aggrieved.“333 Auch der Soziologe Erving Goffmann kam in seinen Untersuchungen zum kommunikativen Verhalten von Menschen in öffentlichen Räumen zu dem Ergebnis, dass Entschuldigungen in erster Linie Grundzüge menschlichen Verhaltens widerspiegeln, die einen heilenden Zweck von Beziehungen erreichen können.334 Beide, Lazare und Goffmann, betrachten Entschuldigungen als eine Chance für einen Neubeginn. „The result of the apology process, ideally, is the reconciliation and restoration of broken relationships.“335 Während diese Position aus der Perspektive der Täter erfolgt, gelangen die Experten des International Center for Transitional Justice nach ihrer Analyse von Entschuldigungen hingegen zu einer Opferperspektive: „apologies can help to mark a before and after, acting as a symbolic turning point.“336 aa) Kriterien einer öffentlichen Entschuldigung Die Bandbreite der interdisziplinären wissenschaftlichen Literatur337 zu „Entschuldigungen“ nach schweren Verbrechen ist nahezu ausschließlich auf öffentliche politische Entschuldigungen durch Staatsoberhäupter und Regierungsverantwortliche konzentriert. Der Fokus liegt demnach auf der Staatenverantwortlichkeit gegenüber Opfern und nicht auf der individuellen Verantwortlichkeit. Als idealen „Prototyp“ einer Entschuldigung eines Staatsoberhauptes wird häufig der Kniefall von Willy Brandt gegenüber den Opfern des Warschauer Ghettos vom Dezember 1970 eingestuft. Der „Täterstaat Deutschland“ ging verkörpert durch den damaligen Bundeskanzler auf die Knie vor den Opfern in Polen und übernahm die historische Schuld für die begangenen Verbrechen durch Nazi-Deutschland. In dieser symbolischen Geste wurde alles geäußert, was eine Entschuldigung umfassen soll: Demut 332 Lazare, A. (1995), Go ahead, say you’re sorry. Psychology today, https://www.psycholo gytoday.com/intl/articles/199501/go-ahead-say-youre-sorry (Stand 1. 9. 2020). 333 Lazare, A. (2004), On Apology. Oxford: Oxford University Press, S. 19. 334 Goffmann, E. (1965), Verhalten in sozialen Situationen. Basel: Birkhauser. 335 Lazare (2004), S. 1. 336 Carranza, R. et al. (2015), More than words: Apologies as a form of reparation, in: International Center for Transitional Justice, S. 1 – 20, S. 4. 337 Siehe Tavuchis (1991); Gibney, M. et al. (2008), The age of apology: Facing up to the past. Pennsylvania: University of Pennsylvania Press; Stanford; Mihai, M./Thaler, M. (2014), On the uses and abuses of political apologies. Hampshire: Springer; Daase, C. et al. (2015), Apology and Reconciliation in International Relations: The Importance of Being Sorry. London/New York: Routledge.

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und Reue, Anerkennung der Opfer, Übernahme von Schuld und Verantwortung. Zeitpunkt und Ort der Entschuldigung sind weitere Aspekte, die relevant sind.338 Die Bewertung von politischen Entschuldigungen wird auf moralischer Ebene von den Opfern vorgenommen und auf politischer Ebene durch die nationale oder internationale Öffentlichkeit und die Medien. Eine kriminelle bzw. strafrechtliche Bewertung von politischen Entschuldigungen durch Richter_innen gibt es nicht. Auch wenn politische Entschuldigungen primär symbolpolitisch einzuordnen sind, gehen sie nicht selten mit der Forderung nach Reparationen einher – nach dem Motto „Sorry isn’t enough“.339 Der Faktor Zeit scheint für Opfer bzw. deren Angehörige dabei keine Rolle zu spielen, wie das Beispiel der Herero und Nama im heutigen Namibia gegenüber der Bundesrepublik Deutschland demonstriert. Gerade dieser Fall ist insofern besonders, wenn man bedenkt, dass der Ruf nach Entschuldigung (und Entschädigung) von den Nachfahren der Herero und Nama eine Zeitspanne von 75 Jahren in den Jahren von 1915 – 1990 unter dem südafrikanischen Apartheidregime überdauert hat. Der Fall veranschaulicht zugleich das schwierige Ringen um eine politische Entschuldigung, denn erst Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul gestand 2004 am hundertsten Jahrestag der Schlacht vom Waterberg die Schuld Deutschlands und bat die Nachfahren um Vergebung.340 Vielfach wurde kritisiert, dass diese Bitte nicht ausdrücklich auch das Wort Entschuldigung enthielt und außerdem keine Reparationszusagen in Aussicht stellte. Stellvertretend für die Bundesrepublik Deutschland hatte die Ministerin die politische Verantwortung für die Verbrechen jedoch übernommen und Entwicklungshilfen an Namibia zugesichert.341 Dieser Schritt wurde jedoch nicht als Anerkennung akzeptiert, wie aktuelle Reparationsforderungen mehr als 116 Jahre nach den Verbrechen durch Lothar von Trothas Schutztruppen beweisen.342 Ob jeder Anspruch auf Reparationen allein wegen der Anerkennung der Opferwerdungen und des Opferseins mit dem Hinweis der Verantwortlichkeit für das begangene Unrecht legitimiert ist, muss in öffentlichen Aushandlungsdebatten diskutiert werden dürfen. Am Beispiel der Herero und Nama wird ein Zusammenhang zwischen Entschuldigung und Entschädigungsforderungen sichtbar. Seit einem 2001 von der UN Völkerrechtskommission verfassten Dokument über die „Responsibility of States for 338

Carranza (2015), S. 16. Brooks, R. L. (1999), When sorry isn’t enough: The controversy over apologies and reparations for human injustice. New York: NYU Press. 340 Siehe Engert, S. (2015), Germany – Nambia, The belated apology to the Herero. London/New York: Routledge; Daase, C. et al. (2015), Apology and Reconciliation in International Relations: The Importance of Being Sorry. London/New York: Routledge, S. 124 – 145. 341 Vgl. Pressereaktionen in Deutschland: Porrer, S. (2018), Wieczorek-Zeul bat um Vergeben. Die Welt am Sonntag, https://www.welt.de/print-wams/article114391/Wieczorek-Zeulbat-um-Vergebung.html (Stand 1. 9. 2020); Hoischen, O. (2014), Bitte um Vergebung. Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/aktuell/politik/namibia-bitte-um-vergebung-11 75713.html (Stand 1. 9. 2020). 342 Johnson, D. (2018), Unrecht sühnen. Tageszeitung, 24. 01. 2018, S. 3. 339

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Internationally Wrongful Acts“ werden politische Entschuldigungen durch Staaten als Teil von Reparationen betrachtet, um Genugtuung zu erreichen.343 Selbiges Ziel wurde auch in den UN Basic Principles von 2005 für eine öffentliche Entschuldigung verankert. „Satisfaction should include, where applicable (…): Public apology, including acknowledgement of the facts and acceptance of responsibility.“344 Öffentliche politische Entschuldigungen richten sich an Opfergruppen, die Viktimisierungen im selben Verbrechenskontext gemacht haben.345 Entschuldigungen können das erlittene Unrecht in der Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber zu einer Verbesserung des Miteinanders in der Gegenwart oder Zukunft beitragen. Politische Entschuldigungen durch Staatsoberhäupter unterscheiden sich zu individuellen Entschuldigungen jedoch in den Fragen der Verantwortlichkeit, der Haftbarkeit und der Schulddimension. Konkret übernimmt der Staat meist eine historische Schuld vieler Täter und Täterinnen im Vergleich zur individuellen kriminellen Schuld des Einzeltäters. Aufgrund der zeitlichen Distanz zu den erlebten Verbrechen liegen bei der politischen Entschuldigung meistens die Narrative der Opferberichte vor. Die Entschuldigung des Einzeltäters Al Mahdi im völkerstrafrechtlichen Verfahren trägt hingegen mit der Täterperspektive zur Wahrheitsfindung bei.346 bb) Individuelle Entschuldigungen an internationalen Strafgerichten Die Wirksamkeit von Entschuldigungen von Einzeltätern internationaler Strafverfahren ist in der interdisziplinären Literatur wenig erforscht.347 Dies mag in erster Linie mit der geringen Anzahl geäußerter Entschuldigungen von Einzeltätern gegenüber Opfern zusammenhängen. Im Folgenden sollen eine Entschuldigung vor dem hybriden Khmer-Rouge Tribunal und eine Quasi-Entschuldigung vor dem Adhoc-Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien genauer betrachtet werden, um die Kriterien für Entschuldigungen von Einzeltätern im Allgemeinen und Al Mahdi in der Fallstudie mit Blick auf ihre Qualität als Reparationsmaßnahme zu analysieren. Kaing Guek Eav, besser bekannt unter seinem Kampfnamen Duch, entschuldigte sich vor dem hybriden Strafgerichtshof in Kambodscha bei den Opfern der Roten 343 Adopted by General Assembly Resolution 56/85, 12. 12. 2001 und korrigiert durch A/56/ 49(Vol. I)/Corr.4. 344 UN General Assembly (2005), Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparations for Victims of Cross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law, Resolution 147, A/RES/60/147; 13IHRR 907, 2006, Principle 22 (e). 345 Vergleiche die Typologisierung von Entschuldigungen bei Tavuchis zwischen „One to One“, „One to Many“, „Many to One“, „Many to Many“, siehe Tavuchis (1991), S. 48. 346 Dies wird in Kap. VI. 2. b) noch ausführlich diskutiert werden. 347 Smith, N. (2014), Justice through apologies: remorse, reform, and punishment. Cambridge: Cambridge University Press.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Khmer. Unter der Herrschaft Pol Pots war Duch von 1976 – 1979 Leiter des Gefängnisses S-21 in Phnom Penh und verantwortlich für die Folterungen von Regimegegner_innen. An verschiedenen Punkten des Verfahrens hatte sich Duch bei den Opfern und ihren Familien entschuldigt und schuldig bekannt: „As a perpetrator, I know that I am personally guilty before the entire Cambodian people and nation, before the families of all the victims who lost their lives at S-21 and before my own family (…).“348 In anderen Verfahrensmomenten klangen die Entschuldigungsworte jedoch wenig aufrichtig und sind verbunden mit Versuchen, sich zu rechtfertigen. Seine Erklärungen wie der Befehlsnotstand waren eher verzweifelte Versuche, sich herauszureden, was das internationale Recht aber schon seit den Nürnberger Prinzipien für rechtlich irrelevant erachtete. Dennoch entschied die Trial Chamber im erstinstanzlichen Urteil im Juli 2010 die Namen der Opfer und ihrer verstorbenen Angehörigen zu veröffentlichen und die Entschuldigung des verurteilten Duch auf der Homepage des Gerichtes zugänglich zu machen.349 Von der Appeals Chamber wurde Duch 2012 schließlich für die Ermordungen von mindestens 12.272 Menschen verurteilt.350 Gleichzeitig bestätigte die Kammer die Entscheidung der Trial Chamber zur Distribution der Entschuldigung als Beitrag zu „collective and moral reparations.“351 Dies ist nicht widerspruchsfrei, da die Kammer an anderer Stelle festhält, dass sie die Entschuldigungsworte von Duch nicht als strafmildernd betrachte. Während einer Anhörung vor der Appeals Kammer hatte Duch mehr Zeit darauf verwandt, Verantwortung von sich auf Senior Führungskräfte des Regimes abzuwälzen als seine Entschuldigung zu bekräftigen. So folgerte die Kammer deshalb: „This attitude indicated that he effectively gave up his final opportunity to demonstrate the sincerity of his prior statements on remorse and apology.“352 Schon vor der erstinstanzlichen Kammer hatten die Zivilparteien gefordert, dass die Entschuldigungsworte nur mit Kommentaren der betroffenen Opfer verbreitet werden dürften. Diese Forderung hatte die Trial Chamber mit der Begründung abgelehnt, dass sich die Kommentare von den Entschuldigungsworten des Täters unterscheiden würden und ihre inhaltlichen Argumente nicht näher präzisiert seien.353 Ein „partizipatives Element“ in der Forderung der Zivilparteien hatte auch die Appeals Chamber nicht erkannt: „Apology as a form of reparation does not foresee the participation of victims via their comments on the apologies.“ Es sei nicht die Aufgabe des Gerichts, redaktionell ergänzte Entschuldigungsworte zu publizieren; 348

Compilation of statements of apology made by Kaing Guek Eav alias Duch during the proceedings, Case001 Apology, www.eccc.gov.kh (Stand 1. 9. 2020). 349 Eckelmans, F. (2016), The Duch Case: The ECCC Supreme Court Chamber’s Review of Case 001, in: The Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia. Meisenberg, S./ Stegmiller, I. (Hg.), The Hague: Springer, S. 150 – 179, S. 162. 350 ECCC, Summary of Duch Appeal Judgement, 03. 02. 2012, Case File 001/18-07 – 2007/ ECCCC/SC, para. 3. 351 Eckelmans (2016), S. 177. 352 ECCC, Duch Appeal Judgement, 03. 02. 2012, Case File 001/18-07 – 2007/ECCCC/SC, para. 369. 353 Ebenda, para. 672.

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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vielmehr müsse es dafür Sorge tragen, dass die authentischen Worte des Angeklagten die Würde der Opfer respektierten. Gleichzeitig müsse ein Gericht stets die Rechte des Angeklagten wahren. Kritische Kommentare zur Entschuldigung würden den eigentlichen Zweck der Genugtuung von vorneherein verhindern. Umgekehrt könne die Kammer nicht verbieten, dass Zivilparteien die Veröffentlichung der Entschuldigung kritisch begleiten und öffentlich bewerten. Auch die Aufrichtigkeit der Entschuldigung könne nicht durch kritische Kommentare in irgendeiner Form verändert oder gar erhöht werden.354 Die Appeals Chamber entschied sich auch gegen die Aufnahme von Kommentaren der Opferseite und hielt abschließend fest: „Apology transcends the time and the scene of the courtroom and in this sense contributes to just satisfaction in the long term and beyond the immediate audience, leaving the victims the choice of how to receive it.“355 Ein zweites Beispiel einer Entschuldigung einer Einzeltäterin ereignete sich vor dem Ad-hoc Tribunal für das ehemalige Jugoslawien. Die Aussage der angeklagten ehemaligen Präsidentin der Republik Srpska, Frau Biljana Plavsˇic´, sorgte innerhalb und außerhalb des Gerichts für Aufmerksamkeit. Biljana Plavsˇic´ war ursprünglich wegen Völkermord, Mord als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere Ausrottung, Vertreibung und Verfolgung aus politischen, rassischen, religiösen Gründen angeklagt. Zu letzterem Anklagepunkt bekannte sie sich schuldig, nachdem sie zu Beginn des Verfahrens noch auf nichtschuldig plädiert hatte. Dem Schuldbekenntnis war ein Vergleich mit der Anklagebehörde vorausgegangen – alle anderen Anklagepunkte waren daraufhin fallen gelassen worden. Es kam daher zu keinem Verfahren, sondern nur zu einer Strafanhörung. Darin wiederholte Plavsˇic´ am 17. Dezember 2002 öffentlich verantwortlich für die ihr vorgeworfenen Taten zur Unterstützung der ethnischen Säuberung in Bosnien-Herzegowina durch serbische Truppen zu sein. Während der Aussage zeigte sie zwar Ansätze von Reue, eine Entschuldigung gegenüber den Opfern sprach sie jedoch nicht explizit aus. Frau Plavsˇic´ adressierte die Opfer nicht, sondern war eher bemüht die Serben auch als Opfer und nicht als Täter zu präsentieren. Im weiteren Sinne einer Entschuldigung könnte höchstens folgender Satz ausgelegt werden: „The knowledge that I am responsible for such human suffering and for soiling the character of my people will always be with me.“356 Mit dem nächsten Satz vermittelte sie gar den Eindruck, dass sie erst selbst während des Verfahrens von den tausenden Opferwerdungen überzeugt werden musste: „I have now come to the belief and accept the fact that many thousands of innocent people were the victims of an organized, systematic effort to remove Muslims and Croats from the territory claimed by Serbs.“357 Prominente internationale Experten, wie 354

ECCC, Duch Appeal Judgement, 03. 02. 2012, Case File 001/18-07 – 2007/ECCCC/SC, paras. 675 – 676. 355 Ebenda, para. 677. 356 ICTY, Case Information Sheet, Biljana Plavsˇic´, http://www.icty.org/x/cases/plavsic/cis/ en/cis_plavsic.pdf (Stand 1. 9. 2020). 357 Ebenda.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Madelaine Albright, frühere US-Außenministerin, und Carl Bild, ehemaliger schwedischer Premierminister, hatten sich während der Strafanhörung als konsultierte Experten dennoch dafür ausgesprochen, Plavsˇic´s Aussage als Schritt zur Versöhnung zu bewerten.358 Auch der frühere stellvertretende Vorsitzende der südafrikanischen Wahrheitskommission, Alex Boraine, machte eine einflussreiche Aussage, wonach er die Übernahme von Verantwortung als transformativen Akt der Täterin zur Versöhnung mit den Opfern wertete. Aufgrund dieser Expertenaussagen wurde Biljana Plavsˇic´ schließlich am 27. Februar 2003 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu elf Jahren Haft verurteilt. Das freiwillige „Schuldbekenntnis“ wurde als mildernder Umstand betrachtet, obwohl die Anklägerin, Carla del Ponte, noch betont hatte, dass Plavsˇic´ die erbetene Zusammenarbeit in anderen Fällen verweigert hatte. Die Kammer erkannte jedoch ein Bedauern in der Aussage der Angeklagten und stufte zudem als besondere Umstände „the role of the guilty plea of the accused in establishing the truth in relation to the crimes and furthering reconciliation in the former Yugoslavia“ ein.359 Nachdem sie Zweidrittel ihrer Haftstrafe verbüßt hatte, stimmte der Präsident des ICTY einer vorzeitigen Entlassung im September 2009 zu.360 Biljana Plavsˇic´ kehrte nach Bosnien-Herzegowina zurück. Rückblickend zeigt sich heute, dass die moralisch hoch eingestufte Aussage offensichtlich ein geschickter Schachzug der Angeklagten war. In ihren bereits 2005 veröffentlichten Memoiren nahm sie ihre Reue größtenteils zurück und positionierte sich erneut als nationalistische Hardlinerin. In einem Interview mit der schwedischen Zeitung Vi Magazine im Januar 2009 gab Plavsˇic´ zu, dass sie sich aus pragmatischen Gründen zu einem Straftatbestand schuldig bekannt hatte, damit die anderen Anklagepunkte fallen gelassen werden würden und sie einem langen Verfahren entgehen könnte.361 Die erste (Fehl-)Einschätzung der Kammer bei der Bewertung des Schuldbekenntnisses sollte weniger kritisiert werden, denn eine Kammer bewertet schließlich die Täteraussage als Momentaufnahme und wird dabei von Meinungen konsultierter Experten unterstützt. Als die Entscheidung, die zur vorzeitigen Haftentlassung führte, der Verurteilten jedoch im September 2009 Rehabilitierung attestierte, folgte eine breite Kritikwelle. Schließlich war zu diesem Zeitpunkt bereits aufgrund der publik gewordenen Äußerungen von Frau Plavsˇic´ bekannt, dass das Schuldbekenntnis und die Quasi-Entschuldigung nicht aufrichtig waren.362 Es stellt sich allerdings die Frage, wie die Authentizität einer Entschuldigung beurteilt werden kann, wenn es keine solchen eindeutigen Indizien wie etwa nachträgliche Aussagen der Täterin gibt, welche der ursprünglichen Entschuldigung widerstreiten und sie entwerten. Gerade dies ist aber für die Bewertung einer Ent358

ICTY, Transcripts vom 17. 12. 2002, Sentencing Hearing Biljana Plavsˇic´. ICTY, Summary Judgment vs. Plavsˇic´, 27. 02. 2003. 360 ICTY, Decision of the President on the application for pardon or commutation of sentence of Mrs. Plavsˇic´, IT-00 – 39 & 40/1-ES, 14. 09. 2009. 361 Subotic´, J. (2012), The cruelty of false remorse: Biljana Plavsˇic´ at The Hague, in: Southeastern Europe 36(1), S. 39 – 59. 362 Ebenda, S. 56. 359

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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schuldigung äußerst wichtig – sowohl für Richter_innen einer Kammer bei Strafzumessung und Reparationsanordnung, aber insbesondere auch für die betroffenen Opfer, da hierdurch die Opferanerkennung maßgeblich mitbestimmt wird. Zur Unterscheidung einer echten von einer unechten Entschuldigung können die entwickelten Kriterien des Psychiaters Aaron Lazare herangezogen wird, der „pseudoapologies“ ausfindig machte. Eine Pseudo-Entschuldigung liegt seiner Ansicht nach vor, wenn erstens die Straftat nur vage oder unvollständig anerkannt wird, zweitens, wenn die Entschuldigung in Passivkonstruktionen vorgetragen wird, drittens die Straftat konditional eingeräumt wird, viertens der entstandene Schaden in Frage gestellt wird, fünftens die Straftat heruntergespielt wird, sechstens die Entschuldigungsworte ohne aufrichtige Übernahme von Verantwortung formuliert werden, siebtens die Entschuldigung sich nicht an die richtige Opfergruppe richtet oder achtens, die Entschuldigung für andere Taten ausgesprochen wird.363 Mit einer nach diesen Kriterien echten, verifizierten Entschuldigung bekennt der sich Entschuldigende, dass die eigenen Handlungen Unrecht waren und übernimmt zugleich Verantwortung für die begangenen Taten. Der Unterschied zwischen der politischen Entschuldigung durch staatliche Repräsentanten und der Entschuldigung eines angeklagten Einzeltäters liegt im Grad der Verantwortlichkeit. Während bei letzterem strafrechtliche Konsequenzen zu erwarten sind, ist die politische Entschuldigung ein einziger symbolischer Sprechakt. Beide Formen von Entschuldigungen haben eine wichtige Gemeinsamkeit darin, dass Opfer wieder gleichrangig zu Gesprächspartnern werden. Emcke drückt es so aus, „daß das ehemalige Opfer wieder zu einem Gegenüber wird, dem man etwas schuldet.“ In der Entschuldigung erkennt Emcke daher einen wichtigen „Schritt in Richtung transformierender Anerkennung.“364 f) Zwischenfazit: Opfersein anerkennen In der menschenrechtlichen Diskussion um das Recht auf Reparationen muss dem Opfersein die zentrale Stellung eingeräumt werden. Die Anerkennung der Leiderfahrungen und der Opferwerdung ist die zentrale Sinnebene des Rechts auf Reparationen. Anerkennung – nach Pablo de Greiff als Bedingung und Folge von Gerechtigkeit definiert – ist die Voraussetzung des Menschenrechts auf Reparationen und zugleich ihr gerechtigkeitsschaffendes Prinzip. Es hat sich gezeigt, dass die Berechtigung zur Anerkennung des Opferseins im Recht auf Reparationen in der Achtung und im „Wiedererfahrbarmachen“ der Würde von Opfern liegt.365 Dabei muss betont werden, dass die Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen im Recht auf Reparationen nicht im Konflikt 363

Lazare (2004), S. 86. Emcke, C. (2000), Kollektive Identitäten: sozialphilosophische Grundlagen. Frankfurt am Main: Campus Verlag, S. 337. 365 Alberdi (2017), S. 336 f. 364

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

mit der axiomatischen Achtung der Menschenwürde als Grundprinzip von Menschenrechten steht. Im Gegenteil: Die Achtung der Würde erteilt zugleich eine empirische Aufgabe und impliziert die Anerkennung des Opferseins und der Opferwerdung. Das Opfersein erfasst die Persönlichkeit des betroffenen Menschen stets in seiner Gesamtheit. Würde man einen essenziellen und prägenden Teil der Leiderfahrungen von der Achtung der Menschenwürde ausnehmen, wäre das Recht auf Reparationen seines wesentlichen Sinnes entleert. Insoweit ist daran zu erinnern, dass das Opfersein in den Fällen von Völkerrechtsverbrechen auf schwerwiegendsten Verletzungen der Menschenrechte beruht. In der Anerkennung durch Reparationen wird die Achtung der Menschenwürde für jedes Opfer wieder erfahrbar. Welche Art von Leiderfahrung oder Schaden ein Opfer dabei konkret erfahren hat, ist für die Anerkennung im Recht auf Reparationen nicht relevant, weil die Menschenwürde Menschen stets in ihrer ganzen Betroffenheit anspricht. Dazu gehören alle Formen von Leiderfahrungen, die Menschen aufgrund schwerster Verbrechen gemacht haben. Zur Anerkennung von Opfern und ihren Leiderfahrungen werden die Nicht-Opfer durch die Achtung der eigenen Würde verpflichtet. Im anerkennenden Element des Rechts auf Reparationen werden nicht nur Menschen mit Opfererfahrung wieder auf ihre Würde zurückgeführt. Mit Entschädigungsleistungen betont die Gemeinschaft zugleich die Achtung der Würde aller und erkennt die Leiderfahrungen der Opfer an. Das Opfersein nicht anzuerkennen wäre hingegen eine erneute Missachtung der Würde. Dadurch entstünden weitere psychische Leiden bei den Opfern; zugleich würde ein Verstoß gegen die allgemeine Gerechtigkeit gewissermaßen durch Negierung der Anerkennung der Opfererfahrung sanktioniert. Dem entsprechend fordert Améry mit Recht den Anspruch auf Anerkennung aus der Unrechtserfahrung des Opfers heraus, den grundsätzlich jedes Opfer haben sollte. Ihm folgend muss Anerkennung zum Grundprinzip einer menschenrechtlichen Politik gegenüber Opfern gemacht werden, insbesondere bei Reparationsverfahren, die den Versuch einer wiederherstellenden Gerechtigkeit für Opfer anstreben. Opfer müssen sich ihrer eigenen Würde wieder bewusst werden. Das gerechtigkeitsschaffende Prinzip der Anerkennung im Recht auf Reparationen hat das Potenzial dieses Bewusstsein herzustellen. Anerkennung ist per se immer konditional und prozessual. Anders formuliert: Sie unterliegt Voraussetzungen und formalen Abläufen. Die Analyse der wissenschaftlichen Konzepte um Anerkennung hat gezeigt, dass jede Form von Anerkennung stets an eine bestimmte Kondition gebunden ist und in Verfahren erfolgt. Die Kondition der Anerkennung von Opfern im Menschenrecht auf Reparationen liegt in der Opferwerdung durch ein internationales Verbrechen, dem Opfersein, der verletzten Würde und dem erfahrenen Leid. Jede Anerkennung von Opfern im Recht auf Reparationen ist darüber hinaus ein empirisches Verfahren, das in einer politischen Handlung oder einem juristischen Prozess vollzogen wird.

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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Es hat sich gezeigt, dass wiederherstellende Gerechtigkeit im Recht auf Reparationen nicht ohne Ermittlung von Wahrheit und Schuld zu erreichen ist. 366 Darin liegen die beiden weiteren Sinnebenen des Rechts auf Reparationen. Sowohl die Suche nach Wahrheit als auch die Zuschreibung der Verantwortlichkeit von Taten bieten die Chance zur Partizipation von Opfern. In der aktiven Partizipation von Opfern liegt das bewusstseinsschaffende Potential, die Menschenwürde wieder zu erfahren. Im Recht auf Reparationen werden die Opferwahrheiten über die erlittenen Leiderfahrungen anerkannt und klar eine Grenze zwischen unschuldigen Opfern und verantwortlichen bzw. schuldfähigen Tätern gezogen. Das Recht auf Reparationen hat somit zwei Anerkennungsmotive, die in der Ermittlung der Wahrheit des Geschehenen und der individuellen Schuld einer für das Verbrechen verantwortlichen Person liegen. Wahrheit über schwerste Menschenrechtsverbrechen ist nach Luhmann kein singulärer Wert, sondern ein bestimmter Mechanismus. „(W)ahre Erkenntnis und wahre Gerechtigkeit“ seien das Ziel von allen rechtlich geregelten Verfahren.“367 Wahrheit und Gerechtigkeit bedingen einander. Im aktiven Bemühen, die Wahrheit öffentlich bekundet zu sehen, liegt ein „Empowermentfaktor“ für Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen. Wahrheit heißt aus menschenrechtlicher Sicht die öffentliche und transparente Anerkennung von Leiderfahrungen, die Menschen durch Gewalt unfreiwillig und unschuldig machen mussten. In der Anerkennung der Wahrheit der Opferwerdungen wird der Status des Opferseins bestätigt und ein Teil einer aufklärenden Entschädigung gegenüber den Angehörigen und der (inter-)nationalen Gemeinschaft geleistet. Deshalb wird im interamerikanischen Menschenrechtssystem das Recht auf Wahrheit als wichtiger Bestandteil von Reparationen betrachtet.368 Reparationen sind die materialisierte Schuldigkeit, Schadenersatz für Opferwerdungen zu leisten, nachdem die Staaten beim Schutz und der Achtung von Menschenrechten gravierend versagt haben. Aus jedem staatlichen Versagen leitet sich daher die neue Verpflichtung ab, angemessene Reparationen zu leisten.369 Zugleich ist die Feststellung der Wahrheit der Opferwerdung grundlegend für deren Anerkennung im Reparationsprozess. Im Interesse von Opfern und ihren Angehörigen steht somit die Wahrheit der Opferwerdungen und über das erlittene Unrecht. 366 Wiederherstellende Gerechtigkeit wird in der Praxis als „restorative justice“ bezeichnet. Es hat sich eine Denkschule in der Transitional Justice Debatte entwickelt, deren Experten von folgender Definition ausgehen: „Restorative justice is a theory of justice that emphasizes repairing the harm caused or revealed by criminal behaviour. It is best accomplished through cooperative processes that include all stakeholders. This can lead to transformation of people, relationships and communities.“, http://restorativejustice.org/restorative-justice/about-restorati ve-justice/tutorial-intro-to-restorative-justice/#sthash.zAfeJPc4.dpbs (Stand 1. 9. 2020); siehe auch Resolution des ECOSOC, Restorative justice in criminal matters, 22. 08. 2016, E/RES/ 2016/17. 367 Luhmann (1983), S. 20. 368 Inter-American Commission on Human Rights (2014), The Right to Truth in the Americas, para. 29. 369 Ebenda, para. 122.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Auch wenn die Opferwahrheit im Recht auf Reparationen eine besondere Bedeutung erhält, ist dies kein Ersatz für die strafrechtliche oder sonstige Ermittlung von Wahrheit. Es eröffnet vielmehr den Weg für die Anerkennung der opferzentrierten Wahrheit, die in Form von Reparationsleistungen durch die (inter-)nationale Rechtsgemeinschaft akzeptiert wird. Um eine Anerkennung der Opferwahrheit im Recht auf Reparationen zu erzielen, sind Öffentlichkeit und Transparenz erforderlich. Zur Wahrheit nach schweren Menschenrechtsverbrechen gehört aber auch, dass die individuelle Verantwortlichkeit für die Taten geklärt wird. Für Opfer ist es von großer Bedeutung, wie eine Gesellschaft mit den Tätern umgeht, denn damit wird zugleich auch eine Aussage über die Tat getroffen. Wichtig sei die „Anerkennung, dass ein Verbrechen Unrecht war, nicht Unglück.“370 Darin steckt der Anspruch, die Tat einem verantwortlichen Täter individuell zuzurechnen. Ein klarer Schuldspruch verhindert den Vorwurf einer stillen Zustimmung zur Tat – wie sie einer erlassenen Amnestie oder der Straflosigkeit zu entnehmen wäre. Die Anerkennung von Opferwerdungen nach Unrecht erfolgt somit im Menschenrecht auf Reparationen über die Feststellung von Wahrheit sowie die individuelle Schuldfähigkeit und Zurechnung von Schuld. Auch wenn ein Schuldspruch und die Verurteilung des Täters im Strafverfahren aus Opfersicht ein wesentliches Anerkennungselement darstellen, ist dadurch noch keine Gerechtigkeit für die Opfer wiederhergestellt. Anerkennung ist dabei auf mehreren Ebenen auch prozedural. Der Unrechtscharakter von internationalen Straftaten, die zu Opferwerdungen geführt haben, kann nur in einem rechtmäßigen Verfahren festgestellt werden. Die Anerkennung von Opfern internationaler Verbrechen muss stets normenbezogen definiert sein, um zu einem rechtmäßigen Opferstatus zu führen. Die Achtung der Menschenwürde garantiert die Rechtsstaatlichkeit von Gerichtsverfahren und erlaubt, dass Opfer ebenso aber auch die Täter und Täterinnen als Rechtssubjekte anerkannt werden. Durch die rechtsstaatliche Anerkennung der Opferwerdung kann ein Anerkennungsverfahren einen Beitrag zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit für Opfer leisten. Die Unrechtserfahrungen nach internationalen Straftaten können so gravierend sein, dass sie das Fundament des Zusammenlebens der Menschen erschüttern. Die Vertragsstaaten des Rom-Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs betrachten daher die Anerkennung der Unrechtserfahrungen und ihrer Folgen als ihr Mandat: „Recognizing that such grave crimes threaten the peace, security and well-being of the world.“371 Nicht nur Wahrheits- und Schuldfeststellung, auch der Akt der Anerkennung von Opfern schwerster Menschenrechtsverbrechen durch Reparationen ist immer empirisch prozessual. Die Anerkennung durch Wahrheit und Schuld muss schließlich dazu führen, dass die viktimisierten Menschen ihre Rechtsansprüche auf Reparati370 371

Reemtsma (2002), S. 81. Präambel IStGHSt.

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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onsleistungen geltend machen können. Reparationen selbst sind der materialisierte und formalisierte Ausdruck der Anerkennung des Opferseins und der Leiderfahrungen.

3. Opferanerkennung durch Reparationen In der Opferanerkennung durch Reparationsleistungen finden die beiden Sinnebenen des Rechts auf Reparationen, Wahrheit und Schuldzuschreibung, ihre höchste Form von Durchsetzung. Die Opferanerkennung ist das gerechtigkeitsschaffende Prinzip im Recht auf Reparationen. Ihren materialisierten und damit sichtbaren Ausdruck findet sie in Reparationsleistungen. Der Status des Opferseins kann jedoch erst dann überwunden werden und eine Brücke in die Zukunft ermöglichen, sobald Reparationsleistungen ausgesprochen werden. Zur praktischen Erfüllung der Opferanerkennung bedarf es an jeder justiziellen Institution eines Rechtsanspruchs auf Reparationen (3. a)), der durch aktive Teilhabe der Opfer in einem formalen Verfahren durchgesetzt werden kann (3. b)). Die konkrete Ausgestaltung der Reparation muss die Autonomie der Betroffenen respektieren, um ihre Würde als Menschen erfahrbar zu machen (3. c)). Zugleich darf sie nicht dazu führen, dass die Reparationen neue Ungerechtigkeit und Ungleichheit provozieren (3. d)). a) Reparationen als normativer Anspruch Der „sense of dignity“ ist für Opfer nur empirisch wieder erfahrbar. Im Recht auf Reparationen wird die Anerkennung des Opferseins so zum normativen Anspruch.372 Die Grundlage dieses Anspruchs ist die anerkennende Gerechtigkeit der Opferwerdung durch Feststellung der Wahrheit des Unrechtsgeschehenen und Zuschreibung der Verantwortlichkeit hierfür. Dabei darf der menschenrechtliche Anerkennungsprozess jedoch nicht stehen bleiben. Eine Anerkennung der Opfererfahrung ohne das Element des gerechtigkeitsschaffenden Ausgleichs für das erlittene Leid wäre unvollkommen. Die komplementäre Anerkennung durch Reparationen ist notwendig, um den betroffenen Menschen Selbstachtung und ein Leben in bewusster Würde zu ermöglichen. Zugesprochene Reparationen bekunden so gegenüber den Opfern Respekt und Achtung und bestätigen damit die Anerkennung der Opfererfahrung. Der Anspruch auf Entschädigungsleistungen stellt damit die notwendige Fortführung und Vervollständigung des menschenrechtlichen Anerkennungsprozesses dar.

372 Das Menschenrecht auf Reparationen ist in verschiedenen internationalen und regionalen Menschenrechtskonventionen kodifiziert: Art. 8 AEMR, Art. 2 (3) IPbpR, Art. 6 CERD, Art. 39 CRC, Art. 24 (4) CPPED, Art. 13 EMRK, Art. 41 EMRK.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Dabei liegt ein menschenrechtlicher – und rechtsstaatlicher – Beitrag in Anerkennungsprozessen des Rechts auf Reparationen darin, Opfern ein „Anspruchswissen“ zu vermitteln. Die Verfassungsrichterin Susanne Baer erklärt, dass ein Anspruchswissen nicht das fachliche Wissen ausmacht, sondern das Gefühl, „durchsetzbare Rechte zu haben“. Anerkennungsinstitutionen, wie Wahrheitskommissionen und Strafgerichtshöfe können ebenso wie Anerkennungsakteure, beispielsweise Richter_innen sowie Journalisten und Journalistinnen dazu beitragen, dass eine Selbstmobilisierung der Betroffenen möglich ist, denn so Baer „(u)nterstützte Mobilisierung ist eine wichtige Strategie der Ermächtigung, des empowerment.“373 Das Handbuch über Psychologische Grundbegriffe definiert Empowerment als „den Prozess, durch den Menschen in die Lage versetzt werden, ihre je individuellen Handlungsmöglichkeiten in einer sozialen Situation zu (er-)kennen und im Zusammendenken mit den eigenen Ressourcen und Kompetenzen auch zu ergreifen. (…) Unter Empowerment können alle Möglichkeiten verstanden werden, die es Menschen ermöglichen, Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen und sie bei der Beschaffung von Ressourcen zu unterstützen.“374 Für Opfer von Völkerrechtsverbrechen bedeutet das zunächst einmal die Vermittlung der Kenntnis, ein subjektives Recht auf Reparationen zu haben und dieses einfordern zu können. Das Recht auf Reparationen muss dieses Bewusstsein fördern, um sein emanzipatorisches Potential auszuschöpfen. Entschädigungsleistungen, Rehabilitationsmaßnahmen, Restitutionen und Reparationen tragen darüber hinaus aber vor allem dazu bei, dass Menschen mit Opfererfahrung ihre individuellen Handlungsmöglichkeiten auch ergreifen können. Derartige materielle oder symbolische Leistungen unterstützen sie bei der Beschaffung der notwendigen Ressourcen, um ihr Leben wieder in die Hand nehmen können. Zum Gedanken des Empowerments im Sinne einer Selbstmobilisierung gehört auch, dass die konkreten Bedürfnisse der Opfer bei der Entschädigungsleistung berücksichtigt werden und sie sogar in freier Selbstbestimmung entscheiden können, ob sie Reparationsleistungen überhaupt akzeptieren wollen. In diesem Zusammenhang muss das Missverständnis ausgeräumt werden, das Recht auf Reparationen sei auf die Vergangenheit gerichtet. Sicherlich ergeben sich die Rechtsansprüche aufgrund erlittener Schäden als Folge von zeitlich unter Umständen weit zurück liegenden internationalen Menschenrechtsverbrechen. Grundsätzlich gilt aber, dass das „Recht sich eine Bewältigung des Vergangenen nicht anmaßt […].“375 Recht kann entweder dazu beitragen, Strafverfolgungen durchzuführen, erlittene Schäden zu beseitigen, Opfer zu rehabilitieren oder dazu Amnestien auszusprechen und vergangene Schäden bestehen zu lassen. Abhängig von der 373 Baer, S. (2015), Rechtssoziologie, Eine Einführung in die interdisziplinäre Rechtsforschung. Baden-Baden Nomos, S. 220. 374 Pankover, S./Weber, K. (1987), Empowerment, in: Psychologische Grundbegriffe: Mensch und Gesellschaft in der Psychologie. Grubitzsch, S./Weber, K. (Hg.), Reinbeck bei Hamburg Rowohlt, S. 117 f. 375 Schlink (2002), S. 91.

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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Anwendung des Rechts, so die These von Schlink, kann in einer Gesellschaft eine Erinnerungs- oder Vergessenskultur entstehen.376 „Erinnerungskulturen sind Opferkulturen“, weil sie die Opfer im Hier und Jetzt anerkennen.377 Das Recht auf Reparationen kann somit zum einen das Erinnern von Opfern und Opfergruppen unterstützen und ein Vergessen verhindern. Zugleich ist sein erklärtes Ziel, den Opfern ein selbstbestimmtes Leben in Achtung und Würde zu ermöglichen. Kein anderes Menschenrecht ist so auf die Zukunft von Opfern schwerster Straftaten ausgerichtet. Das Recht auf Reparationen wird so zum Brückenbauer zwischen dem Versuch einer Bewältigung der Vergangenheit und der Eröffnung einer zukunftsgestaltenden Perspektive für Opfer. b) Verfahrensbeteiligung von Opfern Um gleiche Rechtsansprüche zu garantieren, müssen zunächst die objektiven Möglichkeiten so geschaffen sein, dass Opfern ein gleichberechtigter Zugang zum Recht auf Reparationen gewährt werden kann. Eine Anerkennung der Opferwerdung, welche eine offizielle und rechtmäßige Würdigung von Opfern und ihres erlittenen Unrechts ausdrücken kann, muss zwingend durch offizielle und rechtmäßige Verfahren und Institutionen erfolgen. Per se bedingen diese Institutionen und der anzuerkennende Opferstatus einander, weil die Unrechtserfahrungen von Opfern die moralische Legitimation jener Institutionen bilden, die wiederum ihre Anerkennung vollziehen – dies gilt für Wahrheitskommissionen wie für Strafgerichtshöfe oder andere speziell geschaffene Einrichtungen. Ihre politische und rechtliche Legitimation erhalten diese Institutionen durch den politischen Willen von Staaten, die sie dadurch zu offiziellen „Anerkennungsakteuren“ erheben. Den Opfern, aber auch den Tätern muss die Gleichheit vor dem Gesetz bereits eine erste Form von Anerkennung garantieren.378 Den Institutionen zur Durchsetzung des Rechts auf Reparationen für Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen obliegt dabei die Durchführung von Anerkennungsprozessen der Leiderfahrungen und des Opferseins. Zugleich kommt ihnen die Aufgabe zu, die Bürde der Sprachlosigkeit aufzubrechen und den richtigen kommunikativen Umgang mit Opfern zu finden. Reemtsma mahnt diese Herausforderung an: „Die Gewalttat ist nicht bloß etwas zwischen dem, der sie tut und dem, der sie erleidet. Sie ist auch ein kommunikativer Akt, der sich an einen Dritten richtet.“379 Anerkennung von Unrechtserfahrungen und Opfern im Recht auf Reparationen ist auch ein kommunikativer Akt, auf die begangenen Unrechtserfahrungen zu reagieren. In der prozedural vollzogenen Anerkennung der Leiderfah376 377 378

law.“ 379

Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 93. Art. 6 UDHR: „Everyone has the right to recognition everywhere as a person before the Reemtsma, J. P. (2016), Gewalt als Lebensform: Zwei Reden. Stuttgart: Reclam, S. 49.

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rungen und der betroffenen Menschen selbst liegt das Ziel des Menschenrechts auf Reparationen. Die Beteiligung von Opfern an den Anerkennungsverfahren ist nicht nur für die eigene Repräsentation der Opferwerdung notwendig. Aktive Beteiligung kann darüber hinaus noch einen weiteren positiven Effekt auf Opfer haben, wie Reemtsma bemerkt: „To have participatory power is to trust in the system, and vice versa.“380 Durch das Partizipationspotenzial kann das Recht auf Reparationen so dazu beitragen, gesellschaftlich stabilisierend zu wirken und eine menschenrechtliche Ordnung wieder herzustellen. Schließlich hat die Rechtsgemeinschaft auch die Chance, basierend auf den Opferzeugenaussagen Menschenrechtssituationen durch Reparationen gezielt zu adressieren und zu verbessern. Die gesellschaftliche Anerkennung bringt die rechtliche Status-Gleichstellung und die gesellschaftliche Wertschätzung mit sich.381 c) Respektierung der Wünsche und Bedürfnisse der Opfer Im Strafprozess gegen den Angeklagten Dominik Ongwen am IStGH erklärte der Opferzeuge UGA-PTP-P-0330, als 12jähriges Kind von Rebellen in Uganda entführt und zum Kindersoldaten antrainiert worden zu sein. Seine Schulbildung war durch die Entführung früh abgebrochen worden. Er hat zwei Schussverletzungen in Bein und Arm erlitten und vom Gewicht des für ihn viel zu schweren Maschinengewehrs Hüftprobleme. In Albträumen verfolgten ihn die erlebten Geschehnisse. Vom Vorsitzenden Richter Bertram Schmitt wurde der Opferzeuge nach seiner Zukunft gefragt und welche Reparationen er erwarten würde, sollte es dazu kommen. „I think if they can get for me something which can help me to, like, start a business, that is what my interest is, so that I am able to lead a better life and it removes the worries that I would have.“382 Mit der Frage nach den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen wird das Opfer aktiv am Entschädigungsprozess beteiligt. Zugleich reflektiert die Antwort seine Lebenswirklichkeit als Grundlage der konkreten Reparationsleistung. An diesem Vorgang zeigt sich exemplarisch, dass es bei der Anerkennung durch Reparationen primär um die Respektierung des freien Willens von Opfern geht, der sich in ihren Wünschen und Bedürfnissen widerspiegelt. Ein Opfer kann eine Entschädigungsleistung nicht als Anerkennung des erlittenen Leids betrachten, wenn der Wert von ihm als nicht angemessen betrachtet und nicht akzeptiert wird. Die aktive Teilhabe an den Verfahren unter der Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse kann dazu führen, dass Opfer sich wieder als Teil der Gemeinschaft fühlen und sich ihrer Menschenwürde 380

Reemtsma, J. P. (2012), Trust and Violence. Princeton: Princeton University Press, S. 89. Wimbauer, C. (2004), Umverteilung oder Anerkennung? Und wenn: Wovon und durch wen? Theoretische Überlegungen zur aktuellen Debatte um Anerkennung oder Umverteilung. New Haven, Yale University, S. 1 – 91, S. 46. 382 TC IX Ongwen, 14. 03. 2017, ICC-02/04-01/15-T-53-Red-ENG. 381

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bewusst werden. Die Würde soll durch die Anerkennung im Menschenrecht auf Reparationen für Opfer wieder praktisch erfahrbar werden. Diese Erfahrbarkeit wird zwar grundsätzlich verbessert und als besonders fair empfunden, wenn die Anerkennung eine direkte Antwort auf den erlittenen Schaden darstellt, wie Nancy Fraser empfiehlt. Doch nur ein Mensch mit Opfererfahrung selbst weiß, welche Reparationsmaßnahme für ihn eine angemessene Anerkennung des erlittenen Leids sein könnte. Sehr häufig erklären befragte Opfer das Bedürfnis, den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu wollen. Unabhängig zu sein und sich selbst versorgen zu können ist ein Ausdruck von höchster gelebter Autonomie. Dies trägt in besonderem Maße dazu bei, die eigene Würde wieder praktisch erfahrbar zu machen. Wünsche nach Selbstversorgung sind somit ein wesentlicher Baustein im Recht auf Reparationen und dürfen als Maßnahme nicht etwa allein im Bereich von humanitärer Hilfe oder Entwicklungszusammenarbeit verortet werden. Dies wird beispielhaft deutlich an der Aussage der Opferzeugin im OngwenVerfahren UGA-OTP-P-0366. In der Zeit ihrer Gefangenschaft als Kindersklavin war sie von Rebellen der Lord Resistance Army vergewaltigt worden und hatte überwiegend häusliche Tätigkeiten erledigen müssen. Von der Opferanwältin wurde sie am Ende ihrer Aussage gebeten, einen Einblick in ihre Lebensumstände zu geben. Die Frage, ob sie inzwischen über ein eigenes Auskommen verfüge, verneinte sie. Ihre Zukunftspläne gestalteten sich sehr konkret. Sie wünsche sich eine Nähmaschine, nachdem sie in einem Rehabilitationsprogramm bereits einen Nähkurs gemacht hatte: „(I)f I have my own sewing machine then I can sew clothings and have a business.“383 Die Orientierung an den Bedürfnissen der Opfer kann daher als elementares Prinzip im Menschenrecht auf Reparationen angesehen werden. Im „Truth and Reconciliation Act“ von Sierra Leone wurde der Begriff der Reparationen nicht ausdrücklich erwähnt. Die Kommission war aber damit beauftragt, Mechanismen zu entwickeln, die das Ziel hatten „to address the needs of the victims“ und „work to help restore the human dignity of victims“.384 Die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Opfer bei Entschädigungsleistungen stehen somit in direktem Zusammenhang mit der Wiederherstellung ihrer Menschenwürde. Dieses methodische Vorgehen für Reparationsmaßnahmen steht auch im Einklang mit US-Präsident Franklin Roosevelts Rede über die vier Freiheiten, die Hannah Arendt in ihrem Freiheitsverständnis im Essay „Die Freiheit frei zu sein“ aufgegriffen hat. Die Entschädigungsleistungen stellen demnach die Bedingung der Freiheit dar, weil „die Freiheit, frei zu sein, zuallererst bedeutete, nicht nur von Furcht, sondern auch von Not frei zu sein.“385 383

GB T.

TC IX Ongwen, 24. 08. 2018, ICC-02/04-01/15-T-147-Red-ENG WT 24-01-2018 21/97

384 Truth and Reconciliation Commission Sierra Leone (2003), Transcripts of Public Hearings, Volume 2, Chapter 4, para. 5, https://www.sierraleonetrc.org/index.php/view-the-fi nal-report/download-table-of-contents/volume-two/item/witness-to-the-truth-volume-two-chap ters-1-5?category_id=12 (Stand 1. 9. 2020). 385 Arendt, H. (2018), Die Freiheit, frei zu sein. München: dtv, S. 24.

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Teil 1: Grundsatzreflexionen zum „Menschenrecht auf Reparationen“

Zu den elementar wichtigen Dingen zählen Opfer sehr häufig auch die Schulbildung. Gerade Opfer, die selbst ihre eigene Opferwerdung während ihrer Kindheit und Jugend erfahren haben, äußern in den Zeugenaussagen immer ihr Bedauern darüber, dass ihre Schulzeit jäh unterbrochen wurde und sie sich deshalb nicht ausreichend gebildet fühlen. Einfach dort wieder anzufangen, wenn die Schulzeit in der dritten Klasse endete, ist für erwachsene Opfer nicht leicht möglich. Denn im Vordergrund steht eine erwerbstätige Beschäftigung, um sich selbst und Angehörige zu ernähren oder gerade den eigenen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.386 Auch insoweit zeigt sich, dass das emanzipatorische Potential des Rechts auf Reparationen in der Möglichkeit zur Partizipation und Mitbestimmung liegt. Mit- und Selbstbestimmung der Opfer im Recht auf Reparationen bedeutet aber auch zu akzeptieren, wenn sie keine individuelle Entschädigung wollen. Opfer schwerster Menschenrechtsverbrechen, die in eher gemeinschaftlich orientierten Gesellschaften leben, können kollektive Reparationen als gerecht empfinden und deshalb favorisieren. Um Opfer in ihrem Lebensalltag anzusprechen, muss deshalb die Vielfalt des Zusammenlebens in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und ihre jeweiligen Eigenheiten beachtet werden. Zur erfolgreichen Verwirklichung des Rechts auf Reparationen gehört zu akzeptieren, dass in den betroffenen Gemeinschaften oftmals keine Form von Zusammenleben vorherrscht, die eher westlich geprägt ist und die Stärkung des Individuums betont. Dass ein individuelles Opfer nach schwersten Leiderfahrungen keine individuellen Entschädigungsleistungen, sondern kollektive Reparationen bevorzugt, stellt indes aus menschenrechtlicher Sicht kein Problem dar. Weder gibt es individuelle Menschenrechte noch kollektive Menschenrechte per se. Vielmehr ist es der normative Ansatz bei der Menschenwürde, der dem Einzelnen den Rückbezug auf sich selbst oder die Möglichkeit zur Vergemeinschaftung gestattet. Dies illustriert der Fall des Opfers Hassan G. Kanus in Sierra Leone: Opferzeuge Kanu berichtete am 30. April 2003 in seiner Aussage vor der Sierra Leone Wahrheitsund Versöhnungskommission über seine Opfer- und Leiderfahrungen. Bewaffnete Rebellen hatten sein Dorf überfallen und sein Haus niedergebrannt, in dem sich sein Sohn, ein zehn Monate alter Säugling, befand. Danach gefragt, welche Vorstellungen er habe, artikulierte er deutlich, dass es seiner Auffassung nach keine finanziellen Reparationen für den Tod des eigenen Kindes geben könne. „I know that my child is already dead. No amount of money can be equivalent to the life of my child.“387 Eine Art Ausgleich, gar in Form einer lebenswichtigen Notwendigkeit, sah er hingegen in Maßnahmen, die der gesamten Gemeinschaft nützen könnten: „My only recommendation is for the government to assist in the development of my village and the 386

Siehe Opferzeuge UGA-PTP-P-0379, TC IX Ongwen, 21. 03. 2017, ICC-0204-01/15-T58-Red-ENG WT 21-03-2017 4/69 CVZ T. 387 Truth and Reconciliation Commission Sierra Leone (2003), Transcripts of Public Hearings, Volume 2, Appendix 3, S. 13, https://www.sierraleonetrc.org/index.php/view-the-fi nal-report/download-table-of-contents/volume-two/item/witness-to-the-truth-volume-two-chap ters-1-5?category_id=12 (Stand 1. 9. 2020).

III. Sinnebenen des Rechts auf Reparationen

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community as a whole especially, as the rains is fast approaching.“388 Kanus stellte damit die Bedürfnisse der Gemeinschaft über individuelle Entschädigungsleistungen, die ihm gegebenenfalls zugesprochen worden wären. d) Vermeidung neuen Unrechts Das Recht auf Reparationen ist damit ein individuelles Menschenrecht mit einer stark ausgeprägten kollektiven Komponente. Gerade bei Opferwerdungen in Gemeinschaften, sei es in kommunalen Strukturen wie Dörfern oder Städten, oder aber auch in bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppierungen muss bei der praktischen Umsetzung des Rechts auf Reparationen darauf geachtet werden, dass nicht neues Unrecht durch die Reparationsmaßnahmen entsteht. Die Gefahr besteht vor allem in den praktischen Implementierungsprozessen von Reparationsprogrammen. Dies wäre etwa der Fall, wenn nur einem Teil der Gemeinschaft Reparationen zugesprochen werden, sie also als selektiv wahrgenommen werden würden, oder wenn die Reparationen zu einer materiellen Besserstellung des Opfers im Vergleich zu der Zeit vor der Opferwerdung führen. Eine andere Form von Unrecht kann im Recht auf Reparationen entstehen, wenn die Reparationsgesuche nicht ernst genommen werden, wie der Historiker Tobias Winstel in den Wiedergutmachungsakten in Bayern und Westdeutschland analysierte. „Wiedergutmachung“ des NS-Unrechts wurde teilweise „mit absurden Begründungen“ abgelehnt: „Nicht selten hieß es mit Blick auf die emigrierten Juden, sie hätten zwar ihre Häuser und ihr gesamtes Eigentum verlassen müssen, seien aber wenigstens nicht dem harten Bombenkrieg ausgesetzt gewesen.“389 Die Schikane ging einher mit einer diskriminierenden Entschädigungspolitik, die zunächst auf dem Territorialitätsprinzip fußte. Demnach konnten Opfer der NS-Verbrechen außerhalb des deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937 keine Entschädigung erhalten, was gar im zweiten Entschädigungsgesetz von 1965 wiederholt wurde.390 Schließlich muss das Recht auf Reparationen vermeiden, dass verschiedene Opfergruppen faktisch gegeneinander ausgespielt werden. Selbst groß aufgelegten Reparationsprogrammen von Regierungen wie der Bundesrepublik im Nachkriegsdeutschland ist es nicht gelungen, eine „Opferkonkurrenz“ zu verhindern. In den unterschiedlichen Aufarbeitungsphasen bestand diese Konkurrenz zunächst zwischen den verfolgten Opfern des NS-Regimes und den Kriegsopfern, wie Kriegsgefangenen, Vertriebenen und zivilen Kriegsgeschädigten. Winstel bringt es in eine Formel: „Die ,Opfer der Deutschen‘ standen im Schatten der ,deutschen Opfer‘.“391 388

Ebenda, S. 13. Winstel (2009), S. 351. 390 Levy, D./Sznaider, N. (2001), Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 391 Winstel (2009), S. 231. 389

Teil 2

Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi Wie bereits angekündigt soll in diesem Teil eine Überprüfung der ermittelten Grundsatzüberlegungen zum Menschenrecht auf Reparationen an der Einzelfallstudie vorgenommen werden. Die Opfer, die am Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi vor dem Internationalen Strafgerichtshof partizipierten und rechtliches Gehör fanden, haben ihre Opferwerdungen durch den bewaffneten Konflikt in Mali im Jahr 2012 erfahren. In die Auseinandersetzung waren zwei islamistische Rebellengruppen involviert: Auf der einen Seite MNLA (le Movement National pour la Liberation de l’Azawad, in Deutsch: Nationale Bewegung zur Befreiung des Azawad) und Ansar Dine (Verteidiger des Glaubens). Zur Durchsetzung der Scharia verbrüderte sich Ansar Dine mit terroristischen Organisationen, die gemäßigtere MNLA stand dem Vorhaben im Weg und wurde deshalb bekämpft. Im Jahr 2012 kam es im Zuge der sogenannten vierten Tuareg-Rebellion zur Belagerung und Eroberung der Stadt Timbuktu und massiven Verstößen gegen das Völkerrecht, die Gegenstand im Verfahren gegen den Angeklagten Al Mahdi waren. Der bewaffnete Konflikt in Mali 2012 sowie die Dimensionen der Opferwerdungen können nur verstanden und kontextualisiert werden, wenn ein Blick auf seine historisch-politischen Voraussetzungen gerichtet wird (1.). Die unterschiedlichen Konfliktlinien sowie die kulturell-religiöse Bedeutung Timbuktus sind auch deshalb relevant, um die Herausforderungen und Potentiale für die Anerkennung von Opfern durch das Recht auf Reparationen am IStGH zu erörtern. Entschädigungsleistungen gegenüber den Opfern müssen schließlich praktisch vor Ort umgesetzt werden und auf ihr Ziel einer wiederherstellenden Gerechtigkeit hinwirken. Die ökonomische Lage in Mali und Timbuktu vor und während des bewaffneten Konfliktes stellt einen weiteren wichtigen Untersuchungsaspekt des folgenden Kapitels dar, um die praktische Realisierbarkeit der Maßnahmen in der Reparationsanordnung bewerten zu können. Eine gesamtgesellschaftliche Anerkennung durch Reparationen setzt voraus, dass die Opfer keine Besserstellung zum vorherigen Status und ferner gegenüber den Nicht-Opfern erfahren. Reparationen können keinen gerechtigkeitsstiftenden Beitrag in einer Post-Konflikt-Gesellschaft leisten, würden sie in der Wahrnehmung der betroffenen Gemeinschaft erneutes Unrecht erzeugen. Mali hat die auf seinem

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi

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Territorium begangenen Menschenrechtsverbrechen nicht selbst verfolgt, sondern die Ermittlungen hierzu im Jahr 2012 an den IStGH verwiesen. Das wirft die Fragen nach dem politischen System, der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit sowie der Menschenrechtssituation zur Zeit des bewaffneten Konfliktes auf. Warum war Mali nicht in der Lage den Konflikt zu verhindern, oder hinterher selbst für eine justizielle Aufarbeitung nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu sorgen? (2.) Die Antworten auf diese Fragen liefern Erkenntnisse über den Umgang Malis mit dem bewaffneten Konflikt und der Einbeziehung des IStGH in seine – völkerstrafrechtliche – Aufarbeitung (3.). Allerdings ist zu konstatieren, dass als Ergebnis der ersten Stadien dieses Verfahrens vor dem IStGH lediglich die Verbrechen untersucht und angeklagt wurden, die mit der Zerstörung von Weltkulturerbestätten in Timbuktu zusammenhingen. Dies hatte zugleich zur Folge, dass zahlreiche Opferwerdungen (5.), die auf anderen während des bewaffneten Konflikts begangenen Verbrechen, vor allem gegen die körperliche und sexuelle Integrität beruhten, in diesem völkerstrafrechtlichen Verfahren keine Berücksichtigung fanden. Im Rahmen dieser Fallstudie ist es deshalb von besonderer Bedeutung, den politisch-juristischen Prozess zu verstehen, der im Fall gegen Al Mahdi letztlich zu der Fokussierung auf die Zerstörung der Denkmäler in Timbuktu führte (4.).

1. Historisch-politische Einordnung des Staates Mali Die Geschichte Malis zeichnet sich bis zum Beginn der Kolonialzeit durch eine zunehmende Islamisierung und ethnische Konflikte aus. Das westafrikanische Gebiet war bis in die Epoche des europäischen Mittelalters von Berbern, Bambara, Arabern und Malinke besiedelt. Letztere gründeten im 11. Jahrhundert das Handelsreich Mali, dessen Territorium vom Atlantik bis zu den heutigen Grenzen des Niger reichte. Aufgrund seiner hervorragenden geopolitischen Lage in der Sahelzone stieg das Großreich rasch zur einflussreichen Macht durch den Handel mit Gold, Silber, Salz und Sklaven auf. In Mali kreuzten sich die Transsahararoute in den Norden, Richtung des heutigen Marokko und Algerien, mit der Ost-West-Route, die sich zwischen den beiden Ozeanen durch Gesamtafrika zog. Die Handelsleute brachten Bildung und den Islam in die Region. Unter der Herrschaft von Mansa Musa erreichte das Königreich Mali schließlich zu Beginn des 14. Jahrhunderts seine Hochzeit. Musa war es gelungen, staatliche Strukturen zu etablieren und den Handel weiter auszubauen. Als gläubiger Moslem trug er maßgeblich zur Verankerung des Islams in Mali bei und baute Timbuktu zur Gelehrtenstadt für Islamwissenschaften und Islamisches Recht aus.1 Seit dem 15. Jahrhundert gab es bis in die Neuzeit ethnische Spannungen zwischen dem viehhaltenden halbnomadischem Berbervolk, den Tuareg, im Norden und den eher sesshaften Bevölkerungsteilen (Bambara oder Tukulor, Haussa oder Son1 Hoffbauer, M./Münch, P. (Hg.) (2013), Mali Wegweiser zur Geschichte. Paderborn: Schöningh, S. 7 – 34.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

ghay genannt) im Süden. Regelmäßig überfielen die Tuareg die sesshaften Ackerbauern des Südens, erpressten die Bewohner Timbuktus, forderten Nahrung und Schutzzahlungen und verschleppten Menschen. Sklaven galten als Ware und hatten den jahrhundertelangen Handel mitgeprägt. Die Unterjochung ganzer Bevölkerungsteile verschwand nicht mit dem Bedeutungsverlust der Transsahararouten.2 In Europa hatte sich inzwischen ein verklärtes Bild der Tuareg als Wüstenkrieger gefestigt, während diese selbst in ein strenges hierarchisches Kastensystem untergliedert waren und die Sklaverei pflegten.3 Das Großreich zerfiel im 16. Jahrhundert in kleinere Herrschaftsgebiete, die Handelsroute wurde unsicherer und zunehmend auf den Seeweg der westafrikanischen Küste verlegt. Die politische Lage Malis destabilisierte sich weiter, nachdem die europäischen Staaten mehr Einfluss in Westafrika gewannen. Der Beginn der Kolonialzeit führte schließlich zum Bedeutungsverlust Malis in der Region. Frankreich drang ab dem Ende des 19. Jahrhunderts nach Mali vor und gliederte es 1904 seiner Kolonie Französisch-Sudan an, die später zu Französisch-Westafrika wurde. Erst mit Beginn der Entkolonialisierungswelle gelang es auch Mali, sich ab 1958 von Frankreich zu entfesseln.4 Mali schloss sich zunächst dem Senegal an, ehe es nach wenigen Monaten im September 1960 politisch unabhängig wurde. Wie viele andere afrikanische Staaten ist Mali auf dem sprichwörtlichen „Reißbrett“ entstanden. Ein Blick auf die Karte genügt, um die ungewöhnlich geradlinigen Grenzen zu erkennen. Die Vielzahl an Sprachen und Kulturen der vielen Ethnien fand keine Berücksichtigung. Malis erster Präsident, Modiba Keita, strebte im kolonial agrarpolitisch geprägten Land eine Industrialisierung im Rahmen einer sozialistischen Wirtschaftspolitik an. Allerdings konnte er bis 1968 keine ökonomischen Erfolge vorweisen. Es kam zum Sturz der sozialistischen Diktatur Keitas durch eigene Militärangehörige unter Oberst Moussa Traoré, der zum zweiten Präsidenten ernannt wurde. Traoré führte mit einer zweiten Verfassung 1978 das Einparteiensystem ein und schuf die Basis für ein autoritäres Militärregime. Eine echte Nationenbildung mit der Entwicklung einer nationalen Identität war aufgrund der raschen Regierungswechsel, der schwachen Wirtschaftslage und der mangelnden Integration der traditionell ethnisch-kulturell geprägten Bevölkerungsteile nicht möglich.5 So gerieten vor allem die Gruppe der Tuareg und andere Nomaden im strukturschwachen Norden des Landes immer wieder in eine Außenseiterrolle. Bewaffnete Auseinandersetzungen hatte es in der jungen Geschichte des Staates Mali zwischen der Regierung und den Tuareg wiederholt gegeben. Die Tuareg forderten ihrerseits eine Unabhängigkeit des Nordens 2 Hainzl, G. (2013), Die ethnische Dimension des Konfliktes in Mali, in: Mali Wegweiser zur Geschichte. Hofbauer, M./Münch, Philipp (Hg.), Paderborn: Schöningh, S. 111 – 121. 3 Caillié, R. (2006), Reise nach Timbuktu: 1824 – 1828. Heinrich Pleticha (Hg.), Lenningen: Edition Erdmann, S. 235 – 240. 4 Lemke, B. (2013), Mali und die Entkolonialisierung, in: Mali Wegweiser zur Geschichte. Hofbauer, M./Münch, P. (Hg.), Paderborn: Schöningh, S. 49 – 62. 5 Schlichte, K. (2013), Mali unter dem Militärregime Traorés, In: Mali Wegweiser zur Geschichte. Hofbauer, M./Münch, P. (Hg.), Paderborn: Schöningh, S. 63 – 71.

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi

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und einen eigenen Staat namens „Azawad“.6 Das besser ausgerüstete malische Militär beging in den 60er Jahren massive Verbrechen an den Tuareg. Tuaregs wurden in Militärschlägen getötet, öffentlich exekutiert und in Öfen gegrillt, die Frauen vergewaltigt und ganze Viehherden vernichtet. Auch diese Verbrechen blieben straflos.7 Malis Justiz war so schwach wie die Wirtschaft. Obwohl Traoré eine erneute Wende in der Wirtschaftspolitik zurück zur Landwirtschaft und der Förderung von Baumwolle, Reis und Erdnüsse forciert hatte, konnten die soziale Ungleichheit und Armut nicht beseitigt werden. Traditionell prosperierte in Mali eine Selbstversorgungswirtschaft, die überwiegend von Landwirtschaft und Viehzucht geprägt war. An lokalen Märkten wurde Handel betrieben.8 Laut IOM erklärten 2013 86 % der Dörfer in Mali, Schwierigkeiten in der Landwirtschaft und der Viehzucht aufgrund von Dürre und geringen finanziellen Ressourcen zu haben. Von den klimatischen Dürreperioden war besonders der Norden betroffen. Dies hatte Auswirkungen auf die Nahrungssituation und die Lebenserwartung der Menschen.9 Der UNDP Human Development Index stufte Mali 2012 auf Rang 182 von 187 untersuchten Ländern ein. Mali gehörte damit zu den ärmsten Ländern in der Welt.10 Rund 45,6 % der malischen Bevölkerung lebte zu diesem Zeitpunkt laut Bericht der Weltbank unter der Armutsgrenze. Der bewaffnete Konflikt verschärfte die schwierige Wirtschaftslage aufgrund der hohen Anzahl an Binnenflüchtlingen noch weiter. 45 % der IDP Haushalte erklärten sich für bedürftig und benötigten dringend Nahrung und Unterkunft. Doch bereits 71 % der Ortschaften im Norden hatten 2013 extremen Nahrungsmangel.11 Die schlechte wirtschaftliche Situation, aber auch zahlreiche andere strukturelle Ursachen beförderten den bewaffneten Konflikt 2012 ebenso wie die zunehmende Islamisierung in der Region. Der Norden Malis ist geographisch nahezu abgetrennt vom Südwesten, wo die größten Bevölkerungsteile rund um die Hauptstadt Bamako leben. Die Infrastruktur wurde deshalb im Süden weitaus besser ausgebaut als im Norden. Die demographische Verteilung und die klimatisch bedingte unterschiedliche Nutzbarkeit des Landes führten zu einem Gefälle zwischen dem Süden und dem

6 Cline, L. E. (2013), Nomads, Islamists, and soldiers: the struggles for Northern Mali, in: Studies in Conflict & Terrorism 36(8), S. 617 – 634, S. 618. 7 Ebenda, S. 617 – 634. 8 Lemke (2013) S. 60. 9 International Organization for Migration (2014), Mali Displacement Tracking Matric, S. 8. 10 United National Development Programme (2013), Human Development Report 2013, New York. Anm. Im Jahr 2019 war Mali auf Rang 184 von 189 untersuchten Staaten in seiner Entwicklung nahezu gleich schlecht eingestuft. 11 Worldbank (2013), The Malian economy holds steady in the face of crisis, https://www. worldbank.org/en/news/feature/2013/03/14/the-malian-economy-holds-steady-in-the-face-ofcrisis (Stand 1. 9. 2020).

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

Norden Malis.12 Die dort ansässigen Tuareg zogen aus wirtschaftlichen Gründen weiter in den Norden, wo sie in der Ölindustrie Libyens tätig wurden oder als Söldner in der libyschen Armee anheuerten. Nach dem Sturz Gaddafis kehrten ganze Tuareggruppen bewaffneter und gewaltbereiter Männer zurück nach Mali. Eine Überlegenheit gegenüber der malischen Armee war vorgezeichnet.13 Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten trugen unter Traoré zu einer Verschärfung der instabilen Sicherheitslage Malis bei. Nachdem die Verschuldung Malis stark angewachsen war, führten der Druck des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank schließlich in den 80er Jahren dazu, politische und wirtschaftliche Reformen einzuleiten. Dieser Prozess wurde in den Jahren 1989 – 1994 von einem Bürgerkrieg mit den Tuareg im Norden des Landes unterbrochen. Währenddessen wurden die Militärregierung Traorè durch reformorientierte Soldaten abgesetzt, Entwicklungen zur Demokratisierung eingeleitet und 1992 erstmals freie Wahlen durchgeführt. Erst 20 Jahre vor dem hier zu untersuchenden bewaffneten Konflikt entwickelten sich allmählich demokratische Strukturen in Mali.14 Die neue Verfassung betonte die strikte Trennung von Religion und Staat. Artikel 25 der Verfassung verankerte eine laizistische Staatsform nach dem Modell Frankreichs. Rund 90 % der malischen Bevölkerung war 2012 muslimisch, 9 % praktizierten afrikanisch-spirituellen Glauben und 1 % waren Christen. Der malische Islam war jahrhundertelang moderat geprägt. Die monotheistischen Religionen wurden häufig zusammen mit der afrikanischen Spiritualität ausgeübt. In den Dörfern wurden die lokalen Marabouts, die islamischen Heiligen, sowie erfahrene Heiler in allen sozialen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Fragen konsultiert. Eine ähnliche gesellschaftliche Rolle nahmen islamische Imame ein. Islamistische Gruppierungen wurden mit Gewaltanwendung assoziiert und seitens der Bevölkerung abgelehnt.15 Das politische Machtvakuum, das sich durch die schwachen Regierungen in Mali auftat, wurde seit der Herrschaft des Diktators Traoré durch entwicklungspolitische Gelder aus mächtigeren islamischen Staaten wie Libyen und Saudi-Arabien gesteuert. Wahabismus und Sufismus gewannen immer mehr Einfluss gegenüber dem einstigen liberalen Islam in Mali. Die Religion begann zunehmend zu polarisieren und sich zu politisieren, obwohl das Parteiensystem grundsätzlich keine religiösen Parteien zuließ. Dafür wurde der sogenannte Hohe Islamische Rat mächtiger und begann ganze Politikbereiche, wie die Sozialpolitik, zu bestimmen. Der vierte malische Präsident, Mahmoud Dicko, war bereits bekennender Wahabit. 12

Lober, J. (2015), Auf dem Weg zu einer neuen Form des Zusammenlebens, Der innermalische Diskurs über nationale Versöhnung und Erwartungen an die Ausgestaltung eines nationalen Versöhnungsprozesses. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Bamako, S. 10 – 18. 13 Lecocq, B./Klute, G. (2013), Tuareg separatism in Mali, in: International Journal 68(3), S. 424 – 434. 14 Schlichte (2013), S. 63 – 71. Anm.: Alpha Oumar Konaré wurde von 1992 – 2002 der dritte Präsident. 15 Heyl, C./Leininger, J. (2013), Erfolge und Schwächen einer jungen Demokratie, in: Mali Wegweiser zur Geschichte. Hofbauer, M./Münch, P. (Hg.), Paderborn: Schöningh, S. 73 – 84.

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi

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In dieser aufgeladenen religiös-politisierten Stimmung ereignete sich 2012 der Militärcoup und der bewaffnete Konflikt im Norden des Landes.16 Noch wenige Jahre später beschrieb die stellvertretende Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako, Katja Müller, die Situation zwischen Religion und Politik als ein Kräftemessen, das zwischen religiösen Akteuren und dem malischen Staat „in vollem Gange“ sei.17 Nach dem Friedensabschluss von 1996 initiierten die Tuareg ab 2001 das jährliche Musikfestival „Festival au Desert“18, das ab 2003 immer im Januar in Essakane, rund 60 km von Timbuktu mitten in der Wüste, stattfand.19 Quellen belegen, dass ab diesem Zeitpunkt mehr als 10.000 Menschen das Festival besuchten. Die Tuareg wollten ursprünglich nicht nur das Ende der saisonalen Nomadenzeit zelebrieren, sondern vor allem andere malische Ethnien ansprechen und den Frieden feiern, aber natürlich auch die Kultur der Tuareg präsentieren. Reiseführer warben noch bis 2009 für den Besuch des Musikfestivals bei Touristen. Obwohl die Saison mit nur drei Monaten als relativ kurz betrachtet wurde, eröffnete der angestiegene Tourismus einen neuen Wirtschaftszweig, der Finanzen in die Stadt brachte, die Hotelsituation verbesserte und für viele das Auskommen für den Rest des Jahres sicherte.20 Die Oasenstadt Timbuktu war seit dem 9. Jahrhundert ein wichtiger Ort für durchziehende Karawanen. Umgeben von Wüste in einem Talkessel21 liegend, war die besondere geographische Lage der Stadt attraktiv durch die geringe Distanz zum Oberlauf des Flusses Niger. Im 15. Jahrhundert entwickelte sich Timbuktu von einem wichtigen Handelsort zu einem geistigen Zentrum für Musik, Mathematik, Pflanzenmedizin und Islamisches Recht. Die bedeutendste Universität Westafrikas wurde Dank des städtischen Reichtums in Timbuktu errichtet. Koranschulen siedelten sich an, lehrten und erforschten das islamische Recht. Tausende von Manuskripten sind in dieser Zeit entstanden, die in dem Institut der Bibliothek archiviert worden waren, das Ahmed Baba, dem gleichnamigen Islamgelehrten aus dem 16. Jahrhundert, 16 Müller, K. (2016), Kraft- oder Zerreißprobe, Laizität, Staat und Religion in Mali. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Bamakko, http://library.fes.de/pdf-files/iez/12539.pdf (Stand 1. 9. 2020). 17 Ebenda, S. 3. 18 Homepage Festival au desert, www.festival-au-desert.org (Stand 1. 9. 2020). 19 Maclea, R. (2017), Mali cancels return of famous music festival after al-Qaida attach. The Guardian, https://www.theguardian.com/world/2017/jan/30/malis-festival-au-desert-cancelledamid-fears-of-extremist-violence (Stand 1. 9. 2020). 20 UN World Tourism Organization. Country Profile – Inbound Tourism, https://www. unwto.org/country-profile-inbound-tourism (Stand 1. 9. 2020). UNICEF sponsorte das Festival, das sich auch durch den Verkauf von Eintrittskarten finanzierte. Wie die meisten Großereignisse dieser Art, hatte auch das Festival au Desert seine Schattenseiten, die in der hinterlassenen Umweltverschmutzung durch Plastikflaschen und gefallenen Grundwasserspiegel für die dort lebenden Tuareg für den Rest des Jahres sichtbar waren, siehe: Velton, R. (2009), Mali: The Bradt Safari Guide. Guildford: The Globe Pequot Press. 21 Die Übersetzung aus dem Songhay für Talkessel lautet „Tombouctou“.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

gewidmet war. Die religiösen Bauwerke und Stätten wurden zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt. Reiseführer warben für die Besichtigung der Moscheen in Timbuktu: „The 15th-century Sidi Yéhia Mosque, meanwhile, is the least attractive of the three, although there is a wrought-iron door which is as good an example of this feature of the town’s architecture as you’ll find.“22

2. Situation der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Mali 2012 Die ethnischen Konflikte und schweren Menschenrechtsverbrechen endeten in der Staatsgeschichte Malis meist mit Straflosigkeit. Nach dem Konflikt 2012 erklärten internationale und nationale Menschenrechtsorganisationen den Kampf gegen die Straflosigkeit daher zur größten Herausforderung des Landes. Die Justiz war von massiven strukturellen Defiziten geprägt und nicht in der Lage, Strafverfolgungen vorzunehmen und einen Beitrag zum inneren Frieden zu leisten. Es fehlte an der notwendigen technischen Ausstattung, dem juristischen Know-how und dem entsprechenden Fachpersonal. Die Zuständigkeit der Gerichte war auf zu große Gebiete verteilt, um die Dimensionen der Verbrechen zu erfassen. In den nördlichen Gebieten Malis gab es schon vor dem Konflikt 2012 keine funktionierende Gerichtsbarkeit mehr. Erst 2015 entschied der malische Supreme Court, dort wieder Gerichte einzurichten.23 Die Polizei und andere exekutive Kräfte hatten zuvor die Unabhängigkeit der Justiz verhindert, obwohl diese seit 1992 fest in der Verfassung verankert war24 und sich die erste demokratische Regierung seither international immer wieder zur Bedeutung des Rechtsstaates bekannte und justizielle Reformen vorantrieb.25 Die verbreitete Korruption einerseits und geringe finanzielle Ressourcen des Justizapparates andererseits erschwerten die Aufnahme von Gerichtstätigkeiten. Die Voraussetzungen für faire Strafverfahren waren in Mali schon allein infrastrukturell nicht gegeben.26 Eine weitere Ursache ermittelte Johanna Lober in ihrer Studie über die Ausgestaltung eines möglichen Versöhnungsprozesses, die auf Interviews mit mehr als 60 Betroffenen in Mali im Jahr 2014 basiert. Das für strafrechtliche Verfahren notwendige Verständnis eines retributiven Gerechtigkeitsbegriffs, der auf die 22

Velton (2009), S. 246. International Federation for Human Rights und Mali Human Rights Association (2017), Mali: Choosing Justice in the Face of Crisis Report. Bamako, S. 7 – 9. 24 La Constitution du Mali (1992), Article 81: „Le pouvoir judiciare est indépendant des pouvoirs exécutif et législatif.“ (Übersetzung dt. ML: Die Justiz ist unabhängig von Exekutive und Legislative). 25 Republic of Mali (2001), Mali periodic report to the African Commission on Human and Peoples’ Rights relating to the implementation of the African Charter on Human and Peoples’ Rights. Bamako, para. 33. 26 United States Department of State (2013), Country Reports on Human Rights Practices for 2013, Mali Human Rights Report, S. 3 – 7. 23

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi

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Bestrafung von Tätern abzielt, war in der malischen Bevölkerung rechtskulturell nicht verbreitet. Dazu gehört auch die Feststellung von Wahrheit auf verifizierten Fakten und der „Anerkennung der Schuld durch die Verantwortlichen“. Hauptsächlich wird in den malischen Dörfern Wahrheitsfindung aus dem Grund angestrebt, um eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Ursachen des bewaffneten Konfliktes zu erreichen und Genugtuung anzustreben. Lober bezweifelt, dass sich alle Opfer an einem Wahrheitsfindungsprozess vor Ort überhaupt beteiligen könnten. Weibliche Opfer sexualisierter Gewalt hätten keine Möglichkeit, über ihre Gewalterfahrungen zu berichten, „weil ihnen soziale Ausgrenzung und Ächtung drohen.“27 In den traditionellen Strukturen Malis wurden strafrechtliche Fragen immer vor Ort durch die „Village Chiefs“ und die sogenannten „Justices of the peace“ geklärt. Diese Personen vereinten die Aufgaben von Ermittlern, Polizeibeamten und Richtern unisono. Von fairen rechtsstaatlichen Verfahren, die Opfern und Tätern Gerechtigkeit bringen sollten, waren diese Prozesse nach Einschätzung des Menschenrechtsberichts des US State Departments von 2013 weit entfernt.28 Der schlechte Zustand der Rechtsstaatlichkeit spiegelte sich auch bei den Haftbedingungen in den Gefängnissen wider. Inhaftierungen von Verdächtigen wurden grundsätzlich über die gesetzlich festgelegte 48 Stunden Grenze verlängert und Verteidiger_innen kein Zugang zu ihren Mandanten gewährt, wobei hinzukam, dass nicht in allen Landesteilen ausreichend Anwälte zugelassen waren. Die Dauer der Untersuchungshaft wurde in vielen Fällen überschritten und Verfahren wurden, wenn überhaupt, sehr spät eingeleitet. Verdächtige und Angeklagte warteten oft Jahre in den Gefängnissen, bis ihre Prozesse anfingen. Die Todesstrafe ist im Strafrechtskatalog Malis zwar verankert, aber seit 1984 Jahren durch ein de-facto Moratorium ausgesetzt. In den Gefängnissen herrschten schlechte Bedingungen für die Insassen. 2012 waren die staatlichen Haftanstalten mit 4.963 Inhaftierten auf zugelassenen 2.492 Plätzen stark überbelegt. Es gab keine bzw. kaum medizinische Behandlung. Nahrung wurde nur unregelmäßig verteilt. Zugang zu fließendem Wasser war lediglich im Hauptstadtgefängnis in Bamako gewährleistet. Das größte gesundheitliche Problem bestand jedoch darin, dass kein Gefängnis mit sanitären Anlagen ausgestattet war.29 Die Nationale Menschenrechtskommission war 2009 als unabhängige Institution eingerichtet worden. In ihren Zuständigkeitsbereich fielen auch die Prüfung und Berichterstattung der Haftbedingungen in den nationalen Gefängnissen. Berichte oder sonstige Dokumente über Monitoringbesuche lassen sich nicht recherchieren. Eine Homepage der Nationalen Menschenrechtskommission Malis ist nicht zugänglich und die Arbeit auch in anderen Bereichen nicht transparent.30 27

Lober (2015), S. 44 – 47. United States Department of State (2013), S. 7. 29 Ebenda, S. 3 – 7. 30 Republic of Mali (2001), para. 43. Anm.: Die Nationale Menschenrechtskommission ist auch nicht im Network of African National Human Rights Institutions aufgenommen, welches den regionalen Teil von GANHRI, der Globalen Allianz Nationaler Menschenrechtsinstitute, umfasst. 28

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

Die schlechten Haftbedingungen in den Gefängnissen wurden durch die angespannte Sicherheitslage im Land verschärft. Die politische Situation war geprägt durch Gewaltexzesse des malischen Militärs und separatistischen, islamistischen oder anderen Gruppen. Selbstjustiz war eine bekannte Reaktion auf Verbrechen an Mitgliedern einer Ethnie.31 Über die Anwendung von Folter sowohl auf Seiten der staatlichen Sicherheitskräfte als auch auf Seiten der nichtstaatlichen Kombattanten berichteten Menschenrechtsorganisationen schon vor und nach 2012.32 Auch rekrutierten die terroristischen Gruppen häufig Kindersoldaten. Sobald Kindersoldaten von staatlichen Kräften aufgegriffen wurden, landeten sie nicht selten in Gefängnissen, weil keine Rehabilitierungsprogramme vorhanden waren. Die schwache Rechtsstaatlichkeit zeigte sich auch bei der mangelnden Durchsetzung anderer Gesetze, beispielsweise bei der Strafverfolgung von Vergewaltigern, dem konsequenten Verbot der Sklaverei und der Zwangsheirat junger Mädchen.33 Gleichheit vor dem Gesetz gab es für Frauen, Menschen mit Behinderung, Mitgliedern der LGBT Gemeinschaft und andere nicht. Im täglichen Leben waren besonders auch Binnenflüchtlinge benachteiligt, die nach den bewaffneten Konflikten 2012 mit 311.300 Geflüchteten durch die Internationale Organisation für Migration als sehr hoch eingeschätzt worden war.34 Artikel 1 der malischen Verfassung garantiert die Unverletzlichkeit der Menschenwürde und Artikel 2 den Diskriminierungsschutz. Dennoch sind die verbrieften Menschenrechte bis Artikel 24 sehr stark auf das Wohl des Kollektivs ausgelegt. Als Ursachen lassen sich die Traditionen des islamischen Rechts sowie die Einbindung Malis in das afrikanische Menschenrechtssystem ausmachen, obwohl Malis Rechtssystem grundsätzlich an das kontinental-europäische Frankreichs angelehnt ist. In der Präambel der malischen Verfassung findet sich ein Bekenntnis zur Afrikanischen Menschenrechtscharta35 sowie zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Beide erhalten damit formal den gleichen Verfassungsrang.36 Engere inhaltliche Bezüge gibt es jedoch zum afrikanischen Menschenrechtssystem, das traditionell eher kollektivistisch begründet ist. Die Verfasser orientierten die Banjul Charter nach eigenen Angaben an afrikanischen Werten der Familie und Gemeinschaft und prägten damit bewusst das Menschenbild in der Gemeinschaft. Der einzelne Mensch wird in seiner individuellen Persönlichkeit als Teil der Gemeinschaft betrachtet. Die Banjul Charta umfasst Pflichten, die zum Wohl der Allge31

United States Department of State (2013), S. 9. Human Rights Watch (2013), Mali: Two Torture Victims Die in Detention. Nairobi, https: //www.hrw.org/news/2013/04/11/mali-two-torture-victims-die-detention (Stand 1. 9. 2020). 33 United States Department of State (2013), S. 10 – 20. 34 Ebenda, S. 14. 35 Die „African Charter on Human and Peoples Rights“, kurz Banjul Charta, trat am 21. Oktober 1986 in Kraft und ist von allen Mitgliedern der Afrikanischen Union ratifiziert. 36 Artikel 6 der Verfassung schützt beispielsweise das Familienleben; Artikel 22 erklärt die Wehrpflicht zur Verteidigung der Heimat von allen, siehe La Constitution du Mali (1992), Article 1 – 24. 32

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meinheit verrichtet werden sollen. Die Präambel beschreibt die „Rechte der Völker“. Der kollektive Ansatz wurde seit der Proklamation der Banjul Charter 1981 offen und vielfach kritisiert.37 Gabriele Kuhn-Zuber sieht die Ursache dieser Denkweise in der islamischen Gemeinschaft begründet. Die sogenannte „umma“ aller gläubigen Muslime ist das höchste Gut im Kontrast zu den Individualrechten in internationalen Menschenrechtsverträgen. Diesem Verständnis folgend seien Rechte erst nach der vorherigen Erfüllung der gemeinschaftlichen Pflichten zu beanspruchen.38 Der Fokus auf die Gemeinschaft und die Familie zeigte sich auch in der malischen Politik. Beim UPR-Verfahren im UN Menschenrechtsrat wurde Mali 2013 die Empfehlung ausgesprochen, das Familienrecht in Einklang mit der UN Frauenrechtskonvention zu bringen und jegliche rechtliche Diskriminierungen gegenüber Frauen und Kindern gesetzlich zu unterbinden. Mali lehnte die Empfehlung des Menschenrechtsrates mit der Begründung ab, dass es sich dabei um gesellschaftliche Reformen handle, die den sozialen Zusammenhalt gefährden könnten.39 In Bezug auf die Opfer im Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi stellt sich die Frage, ob die gesellschaftspolitische Realität bei der Entschädigung berücksichtigt werden müsste. Vor diesem Hintergrund könnte es beispielsweise eine Rolle spielen, ob kollektive Reparationen gegenüber individuellen zu bevorzugen sind, um die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz zu finden und als tatsächliche Anerkennung der Opfer verstanden zu werden. Auf diese Überlegung wird bei der Diskussion um die Maßnahmen in der Reparationsanordnung für die Opfer zurückzukommen sein. Dies gilt auch für die Frage, ob Reparationsprogramme gezielt eine Verbesserung der Menschenrechtslage vor Ort in den Blick nehmen sollten, beispielsweise mit einem besonderen Fokus auf die Stärkung von Frauen.40 Auch stellt sich die Frage, ob eine Reparationsanordnung am IStGH grundsätzlich die Verbesserung rechtsstaatlicher Strukturen bedenken sollte, zumal der bewaffnete Konflikt 2012 in Mali nicht nur zu unzähligen Opfern, zu einer multidimensionalen politischen Krise, sondern auch zu einem Rückschritt in der Demokratisierung des Landes geführt hat. Dies ergibt sich aus Umfrageergebnissen des Afrobarometers vom Dezember 2012. Nur 62 % der Befragten glaubten damals an die Demokratie als beste Staatsform, während es 2008 noch 72 % waren. Nach der Zukunft Malis befragt, befürworteten im Dezember 2012 38 % einen Krieg gegen die bewaffneten Gruppen im Norden und während 29 % einen Dialog mit den Kämpfern forderten, 37 Naldi, G. J. (2008), The African Union and the regional Human Rights System, in: The African Charter on Human and Peoples’ Rights: The System in Practice 1986 – 2006. Evans, M./ Murray, R. (Hg.), Cambridge: Cambridge University Press, S. 20 – 48. 38 Kuhn-Zuber, G. (2002), Der Islam und die Universalität der Menschenrechte in der Kritik, in: Menschenrechte – Bilanz und Perspektiven. Hasse, J. et al. (Hg.), Baden-Baden: Nomos, S. 307 – 331, S. 322. 39 Human Rights Council (2013), Human Rights Council adopts outcomes of the Universal Periodic Review of Mali, Botswana and the Bahamas, https://newsarchive.ohchr.org/EN/NewsE vents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=13420&LangID=E (Stand 1. 9. 2020). 40 Siehe Kap. VI. 2. a).

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favorisierten 12 % einen starken Staat.41 Die Umfrageergebnisse lassen sich auch mit der schlechten Menschenrechtssituation und der nur schwach ausgeprägten Rechtsstaatlichkeit erklären. So fand die nationale Gerichtsbarkeit im Jahr 2013 nur wenig Akzeptanz bei der malischen Bevölkerung. Nur 59 % der Befragten vertrauten den Gerichten, abgeschlagen hinter anderen staatlichen Institutionen wie Polizei, Gemeinderäten und der Nationalversammlung.42 Ein Grund dafür ist, dass es im malischen Justizsystem keine Möglichkeiten für Opfer gab, rechtliches Gehör zu finden und Opferschutzmechanismen in Anspruch zu nehmen. Opferzeugen und Zeuginnen wurde vor Polizei und Gericht kein Schutz vor den Verdächtigen und Familien der Angeklagten gewährt.43 Es verwundert deshalb nicht, dass die Opfer nur wenig Vertrauen in die nationale Strafjustiz hatten und ihre Bereitschaft, sich als Zeuginnen oder Zeugen zur Verfügung zu stellen, gering war. Der in der Praxis quasi nicht-vorhandene Opferschutz lässt die einleitenden Worte der Verfassungspräambel, mit denen gleich zu Beginn an die Opfer der Repression erinnert wird, die im Kampf für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefallen sind, als reines Lippenbekenntnis erscheinen.44 Die Arbeitsgruppe des UN Menschenrechtsrates kam im Dezember 2012 im Rahmen des Universal Periodic Review Prozesse folgerichtig zu dem Schluss, „Mali is finding it difficult to fulfil its human rights obligations“. Als Ursache wurde das bisherige politische Versagen des Landes im Schutz der Menschenrechte angeführt, aber auch der bewaffnete Konflikt im Norden des Landes im selben Jahr.45

3. Bewaffneter Konflikt 2012 und seine Folgen Im April 2012 erfolgte der Sturz des Präsidenten Amadou Toumani Touré durch einen Militärcoup malischer Soldaten, die ihm vorgeworfen hatten, den islamistischen Rebellen zu wenig entgegenzusetzen. Das neu entstandene Machtvakuum verschlimmerte die angespannte politische Lage und gab islamistischen Gruppie41 Coulibaly, M./Bratton, M. (2013), Crisis in Mali: Ambivalent popular attitutes on the way forward. Afrobarometer (Hg.), https://afrobarometer.org/sites/default/files/publications/Briefing paper/afrobriefno113en.pdf (Stand 1. 9. 2020). 42 Dulani, B. (2014), Afrobarometer Policy Paper 12: Malian Democracy Recovering, Military Rule Still Admired. Afrobarometer (Hg.), S.15, https://afrobarometer.org/sites/default/ files/publications/Briefing paper/ab_r5_policypaperno12.pdf (Stand 1. 9. 2020). 43 UN Human Rights Council (2015), Report of the independent expert on the situation of Human Rights in Mali, Suliman Baldo, A/HRC/28/83, 9. 01. 2015, para. 48. 44 La Constitution du Mali 1992 Preambule, „Le peuple Souverain du Mali, fort de ses traditions de lutte héroique, engagé a rester fidèle aux idéaux des victimes de la répression et des maryrs tombés sur le champ d‘honneur pour l’avènement d’un Etat de droit et de démocratie pluraliste“. (Übersetzung dt. ML: Das souveräne Volk von Mali, stark in seinen Traditionen des heroischen Kampfes. Verpflichtete sich, den Idealen der Opfer der Repression und der Märtyrer, die auf dem Feld der Ehre für das Entstehen eines Rechtsstaates und einer pluralistischen Demokratie gefallen sind, treu zu bleiben). 45 UN Human Rights Council, A/HRC/WG.6/15/MLI/1, 04. 12. 2012.

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rungen Raum in die Region Timbuktu vorzudringen. In den Städten Goa und Timbuktu vertrieben die Islamisten nicht nur die Tuareg, sondern auch die einheimische Bevölkerung. Mehr als 168.000 Malier waren in der Folge der Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und Islamistengruppen gezwungen nach Mauretanien zu fliehen.46 Islamistische Terrorgruppen, allen voran Ansar Dine, versuchten mit Gewalt die Scharia einzuführen. Sie zerstörten Moschen und Grabmäler. Sie attackierten die historische Bibliothek in Timbuktu mit ihren Manuskripten über Islamstudien und islamisches Recht. Unterstützt von ECOWAS Truppen übernahm schließlich das französische Militär die Luft- und Bodenangriffe zur Befreiung des besetzten Timbuktu. Die Anklagebehörde des IStGH veröffentlichte am 24. April 2012 eine Mitteilung, wonach es Hinweise aus zuverlässigen Quellen gäbe, darunter auch Beobachtungen von UN Mitarbeiter_innen, dass auf dem nördlichen Staatsgebiet von Mali massive Verbrechen von verschiedenen bewaffneten Gruppierungen begangen wurden, wie Missbrauch, Vergewaltigungen, Rekrutierung von Kindern. Die Anklagebehörde kündigte an, zu erwägen, ob sie offizielle Ermittlungen (gemäß Art. 15 (1) und Art. 53 (1) Rom Statut) erheben werde.47 Dies wäre auf der Grundlage des sogenannten proprio motu-Verfahrens möglich gewesen, wonach die Anklägerin aus eigener Initiative und ohne Überweisung durch einen Vertragsstaat oder den UNSicherheitsrat Ermittlungen nach Art. 13c und Art. 15 IStGHSt einleiten kann, sofern es sich um Informationen über der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegende Verbrechen handelt. Die Ermittlungen durch die Anklagebörde aus eigener Initiative sind einer von drei sogenannten Trigger-Mechanismen, welche die Gerichtsbarkeit und ein Verfahren des IStGH auslösen können.48 Die beiden anderen sind die Unterbreitung einer Situation durch den UN Sicherheitsrat49 oder durch einen Vertragsstaat des IStGHSt50, wobei der Vertragsstaat, der ein Verfahren initiieren will, nicht zwangsläufig der betroffene „Tatortstaat“ selbst sein muss.51 Die staatliche Selbstüberweisung hat sich in der bisherigen Praxis des IStGH als der am 46

UN Human Rights Council (2014), Report of the independent expert on the situation of Human Rights in Mali, Suliman Baldo, A/HRC/25/72, 10. 01. 2014, para. 80. 47 International Criminal Court. (2012), Statement from the Office of Prosecutor, 24. 04. 2012, https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=160324-otp-stat-al-Mahdi (Stand 1. 9. 2020). 48 Art. 13 IStGHSt. 49 Art. 13 (b) IStGHSt. 50 Art. 13 (a) IStGHSt. 51 Die ursprüngliche Vorstellung der Verfasser des IStGHSt war es, dass ein nicht betroffener Vertragsstaat eine Situation unterbreitet, der ein Interesse daran hat, dass in einem anderen Vertragsstaat begangene oder mutmaßlich von Staatsangehörigen eines anderen Vertragsstaates verübte Menschenrechtsverbrechen, untersucht werden. Eine derartige interessensbezogene Staatenbeschwerde eines Vertragsstaates hat es in der bisherigen Geschichte des IStGH erst einmal im Fall von Venezuela gegeben. Am 27. September 2018 war eine Staatenbeschwerde von Argentinien, Kanada, Peru, Kolumbien, Chile und Paraguay bei der Anklagebehörde des IStGH in Bezug auf die Opferwerdungen auf dem Staatsgebiet von Venezuela eingegangen.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

häufigsten forcierte Mechanismus herausgestellt – dies gilt auch für das zu untersuchende Verfahren, wie im Folgenden näher erläutert wird.52 Menschen, die eine Opfererfahrung erlitten haben, aber auch Opferorganisationen, können dem Gerichtshof lediglich Informationen unterbreiten, die es ermöglichen, ein Verfahren einzuleiten, wenn die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen vorliegen. Sie haben dagegen kein im IStGHSt verbrieftes Recht, sich selbst an den Strafgerichtshof zu wenden und ein Verfahren auszulösen. Weder ist eine Individualbeschwerde, wie sie beispielsweise von verschiedenen UN Konventionen oder vom EGMR bekannt ist,53 am IStGH möglich, noch eine Kollektivbeschwerde, wie sie beispielsweise durch das Zusatzprotokoll der Europäischen Sozialcharta gesichert ist54 und mit Blick auf die hohen Opferzahlen bei schweren Menschenrechtsverbrechen nach Artikel 5 des IStGHSt eher in Betracht zu ziehen wäre. Dies folgt daraus, dass Opfer und ihre Vertreter_innen sowie NGOs in den in Art. 13 IStGHSt enumerativ aufgeführten Auslösungsfällen nicht genannt sind.55 a) Überweisung an den IStGH In einem förmlichen Schreiben an die Chefanklägerin des IStGH überwies der Justizminister von Mali, Malick Coulibaly, gemäß Artikel 14 IStGHSt die Situation der begangenen Verbrechen auf dem Territorium der Republik Mali seit Januar 2012 offiziell an die Anklagebehörde mit der Bitte um Untersuchung.56 Ein zeitliches Enddatum begangener Verbrechen war nicht vermerkt. Mit dieser Vertragsstaatenunterbreitung kam Mali einer möglichen proprio motu-Untersuchung durch die Anklagebehörde zuvor. Im Rahmen dieser „Selbstbeschwerde“ konnte Mali nur eine sogenannte Situation mit einer bestimmten zeitlichen Referenz und räumlichen Eingrenzung an den IStGH verweisen, nicht aber bereits konkrete Taten und Täter nennen. Damit wollten die Verfasser des IStGHSt eine möglicherweise politisch motivierte Auswahl von konkreten Taten und/oder mutmaßlichen Tätern durch den betroffenen Vertragsstaat verhindern. Vielmehr dient die Unterbreitung lediglich dazu, die Anklagebehörde zu ersuchen, zu ermitteln, ob konkrete Taten festgestellt und bestimmte Personen angeklagt werden können.57

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Siehe Kap. III. 3. a). Folgende Internationale Menschenrechtsverträge erlauben eine Individualbeschwerde oder die Kontaktaufnahme von individuellen Opfern: ICCPR, CERD, CAT, CEDAW, CRPD, CED, ICESCR, CRC. 54 Europäischen Sozialcharta (1965), Zusatzprotokoll über Kollektivbeschwerden vom 9. 11. 1995. 55 Dies ergibt sich ferner aus Art. 19 (3) IStGHSt, der zwischen Stellungnahmen durch Überweisungsakteure nach Art. 13 und solchen von Opfern unterscheidet. 56 International Criminal Court. Referral Letter Mali. 13. 07. 2017. 57 Art. 14 (1) IStGHSt. 53

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Das IStGHSt selbst definiert nicht, was unter einer Situation genau zu verstehen ist, bzw. welche Kriterien ein Vertragsstaat beachten muss, damit von einer „Situation“ gesprochen werden kann.58 Eine „Situation“ nennt Gewalttaten und nennt dokumentierte Opferwerdungen, ohne sie bereits konkreten Verbrechen zuzuordnen oder sie räumlich und zeitlich eng einzuschränken. Gleichzeitig steckt die Situation die juristischen Parameter für die Zuständigkeit des IStGH ab.59 Da Artikel 14 (2) als Kriterien folgendes beschreibt: „(a)s far as possible, a referral shall specify the relevant circumstances (…)“, müssen die Opfererfahrungen nicht konkreter aufgeführt werden. Wäre dies gewünscht, müsste der Begriff „Situation“ unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung und Literatur so definiert sein, dass eine Situation den zeitlichen und geographischen Rahmen schwerer Verbrechen, die zur Opferwerdung vieler Menschen geführt haben, klar beschreibt.60 Nachdem es keine rechtlich verbindliche Definition gibt, welche auf die Opfer Bezug nimmt, ist natürlich auch nicht bestimmt, dass eine „Situation“ die Interessen von Opfern und deren Erfahrungen berücksichtigen muss. Eine Situation ist weder aus der Perspektive der Menschen mit Opfererfahrung erstellt, noch beachtet sie deren Interessen oder Rechtsansprüche. Allerdings geht es bei der Selbstüberweisung eines Staates und der Beschreibung einer erfolgten menschenrechtsverletzenden Situation um den Versuch, die Strafverfolgung wegen Makroverbrechen zu initiieren. Dahinter steckt die Opferwerdung zahlreicher Menschen und zugleich der Versuch, Straflosigkeit als weitere Menschenrechtsverletzung zu verhindern. In dem Überweisungsschreiben61 verwies der malische Justizminister einleitend darauf, dass die malische Justiz zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage sei, die mutmaßlichen Täter anzuklagen. Der UN Sonderberichterstatter zur Menschenrechtssituation in Mali, Suliman Baldo, bestätigte, dass das malische Justizsystem nicht die Kapazitäten und fachlichen Qualifikationen habe, die schweren Straftaten im Norden Malis eigenständig zu bewältigen: „(T)he judicial system faces a number of challenges that limit its ability to function.“62 Nachdem Makroverbrechen stets in einem politischen Kontext verübt werden, und der Staat Mali wie jeder Staat eine institutionalisierte verkörperte politische Ordnung zur Wahrung des inneren und äußeren Friedens ist, muss auch die Über58

Marchesi, A./Chaitidou, E. (2016), Article 14, in: The Rome Statute of the International Criminal Court. Triffterer, O./Ambos, K. (Hg.), Oxford, Baden-Baden: V.H.Beck, Hart, Nomos, hier Art. 14, para. 27. 59 Rastan, R. (2011), Situation and case: defining parameters, in: The International Criminal Court and Complementarity: From Theory to Practice. Stahn, C. (Hg.), Cambridge: Cambridge University Press, S. 421 – 459, S. 422. 60 Safferling, C. (Hg.) (2011), Internationales Strafrecht. Springer: Heidelberg, S. 279 f.; Bock (2010), Das Opfer vor dem Internationalen Strafgerichtshof, Berlin: Duncker & Humblot, S. 270. 61 ICC, 45 Rules of Procedure and Evidence (hier kurz: RPE) besagt, dass die Überweisung einer Situation schriftlich erfolgen muss. 62 A/HRC/25/72, 10. 01. 2014, p. 35.

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weisung einer Situation als politische Handlung betrachtet werden. Die Selbstüberweisung an den IStGH wird in der wissenschaftlichen Literatur überwiegend kritisch betrachtet, so auch von Völkerstrafrechtler Christoph Safferling, der die Meinung vertritt, dass die eingestandene „Hilflosigkeit“ eines Staates bei der eigenen Strafverfolgung nicht ohne Gründe erfolgt.63 Näheres hierzu wird in der Selbstüberweisung Malis nicht weiter aufgeführt. Der Selbstüberweisung war jedoch ein Kabinettsbeschluss vom 30. Mai 2012 in Bamako vorausgegangen.64 Das Überweisungsschreiben von Mali skizziert in einem Absatz kurz die begangenen Taten, die massive Menschenrechtsverbrechen und Verbrechen gegen das Humanitäre Völkerrecht umfassen. Insbesondere im Norden Malis seien aus der Sicht des Justizministers Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 RS) und Kriegsverbrechen (Art. 8 RS) verübt worden. Die verübten Straftaten wurden genannt: Hinrichtungen von Soldaten der malischen Armee, Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen, Massaker an der Zivilbevölkerung, Rekrutierung von Kindersoldaten, Folter, Plünderung von Eigentum – sowohl Staatseigentum als auch privates Eigentum –, erzwungenes Verschwindenlassen und Zerstörung von staatlichen Symbolen, von Gebäuden, Krankenhäusern, Gerichten, Rathäusern, Schulen, Gebäuden von Nichtregierungsorganisationen und internationalen Hilfsorganisationen. Zuletzt wird die Zerstörung von Kirchen, Mausoleen und Moscheen genannt.65 Ein derartiges Überweisungsschreiben ist ein einziges Eingeständnis des staatlichen Versagens beim Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger, dennoch wird Staatenverantwortlichkeit nicht einmal bei der Übernahme der Kosten möglicher Hilfs- oder Beteiligungsmaßnahmen für Opfer ausgelöst. Die schriftliche Überweisung der Situation ist eine unilaterale Handlung, die für den Vertragsstaat jedoch eine bindende Wirkung hat.66 Schließlich liegen die notwendigen Voruntersuchungen ab dem Zeitpunkt der Überweisung im Verantwortungsbereich der Anklagebehörde, die dann wiederum entscheidet, ob sie gemäß Art. 53 IStGHSt offiziell ermitteln wird.67 Mit der Überweisung der Situation hat der 63

Safferling (2011), S. 280. International Criminal Court. Press release. 18. 07. 2012. ICC Prosecutor Fatou Bensouda on the Malian State referral of the situation in Mali since January 2012, ICC-OTP-20120718PR829. 65 International Criminal Court. Mali, 13. Juli 2017. 66 Triffterer (2016), Art. 14, para. 22. 67 In der bisherigen Praxis ist es noch nicht vorgekommen, dass ein Vertragsstaat die Überweisung einer Situation wieder zurückgezogen oder im Nachhinein anders zeitlich oder räumlich eingeschränkt hat. Ein denkbares, dennoch hypothetisches Szenario wäre beispielsweise, dass sich die innerstaatliche Lage derart verbessert hätte, dass doch eine Strafverfolgung auf der nationalen Ebene erfolgen kann. Zu Recht verweisen Kommentatoren zum entsprechenden Artikel, Antonio Marchesi und Eleni Chaitidou, darauf, dass es bisher keine Rechtsprechung zu dieser Frage gibt, weil eine derartige „Rückholung“ einer Situation in einen Vertragsstaat noch nicht vorgefallen ist. „To what extent, if any, the referral can be unilaterally withdrawn by the referring State is nowhere regulated in the statutory documents.“, Triffterer (2016), Art. 14, para. 23. 64

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Vertragsstaat Mali einen operativen Prozess in Gang gesetzt, der durch die Regularien des IStGH vorgegeben ist. Nachdem die Anklägerin den Eingang der Selbstüberweisung öffentlich in einer Pressemitteilung bestätigte, empfing sie am selben Tag, dem 18. Juli 2012, eine Delegation der malischen Regierung, darunter auch Justizminister Malick Coulibaly. Im Gepäck hatte die malische Delegation nicht nur das relevante Schreiben, sondern auch Dokumente, die an die Anklagebehörde übergeben wurden.68 Damit folgte die malische Regierung der in Art. 14 (2) Rom Statut vorgesehenen Möglichkeit, soweit wie möglich die maßgeblichen Umstände anzugeben und die zur Verfügung stehenden Unterlagen beizufügen. Die Staatenunterbreitung zwingt die Anklagebehörde zum Handeln. Ebenfalls am 18. Juli 2012 informierte die Anklägerin69 den damaligen Präsidenten des IStGH, Sang-Hyun Song, über den Eingang der Selbstüberweisung der Situation in Mali seit Januar 2012.70 Die Präsidentschaft des IStGH verwies die Situation am 19. Juli 201271 an die Vorverfahrenskammer II, die ab diesem Zeitpunkt für alle im Vorverfahren fallenden Entscheidungen zuständig war.72 In der Zwischenzeit hatte die Anklägerin explizit in einer Pressemitteilung vom 1. Juli 2012 auf Medienberichte Stellung bezogen, wonach islamistische Kämpfer einer Gruppierung namens Ansar Dine direkt die Stätten muslimischer Heiliger in der Stadt Timbuktu in Mali attackiert und zerstört hätten: „These acts may constitute War Crimes under the Rome Statute.“73 Die Chefankläger, Fatou Bensouda, verband diese Aussage mit einer Warnung: „My message to those involved in these criminal acts is clear: Stop the destruction of the religious buildings now: This is a War Crime which my Office has authority to fully investigate.“74 In ihrem Jahresbericht 2012 bemerkte die Anklagebehörde darüber hinaus, dass der Untersuchungszeitraum nicht zeitlich begrenzt sei, weil die Selbstüberweisung kein Enddatum enthielt.75 Außerdem fiel die Situation nach Artikel 12 (2)(a) in den Zuständigkeitsbereich des IStGH, weil die mutmaßlichen Verbrechen auf dem Staatsgebiet des Vertragsstaates Mali begangen wurden. 68

ICC, Press release, 18. 07. 2012, ICC-OTP-20120718-PR829. ICC, 45 Regulation of the Court (hier kurz: RoC) und ICC, 25(2) Regulation of the Office of the Prosecutor (hier kurz: RoP). 70 Im selben Schreiben wurde die damalige Verwalterin des IStGH, Silvana Arbia, ebenfalls über den Selbstüberweisung der Situation in Mali informiert, siehe ICC-01/12-1-Anx 19 – 07 – 2012. 71 ICC-01/12. 72 ICC, 46(2) RoC. Die Zusammensetzung der Vorverfahrenskammer wurde am 3. Juli 2014 geändert, nachdem Richter Hans-Peter Kaul aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt zurückgetreten war. Ab diesem Zeitpunkt setzte sich die Vorverfahrenskammer aus Richter Cuno Tarfusser, Richterin Ekaterina Trendafilova und Richterin Christine Van den Wyngaert zusammen, siehe ICC-Pres-01 – 04. 73 OTP-Briefing 126, 20 June-3 July 2012. 74 Ebenda. 75 OTP 2012 Report on Preliminary Examinations, 22. 11. 2012. 69

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

Die Anklagebehörde sah die Gerichtsbarkeit für alle Tatvorwürfe unter Artikel 8, IStGHSt, Kriegsverbrechen, gegeben.76 Entgegen der Ansicht der malischen Regierung fand die Anklagebehörde allerdings keine Hinweise für die Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Art. 7.77 Auch Berichte von NGOs, darunter auch Human Rights Watch, hatte die Anklagebehörde zwar ausgewertet, aber als nicht ausreichend eingestuft. „At this stage the information is insufficent to conclude that these alleged acts were committed in the context of a widespread or systematic attack against the civilian population and in furtherance of a State or organizational policy.“78 b) Offizielle Ermittlungen Die Voruntersuchungen waren abgeschlossen als am 16. Januar 2013 offizielle Ermittlungen eröffnet wurden.79 Dieser Schritt folgte den Bestimmungen in Artikel 53 (1) Satz 1 IStGHSt, wonach die Anklägerin die vorliegenden Informationen ausreichend geprüft haben muss, um festzustellen, dass es eine hinreichende Grundlage für die Verfahrenseinleitung gibt. Bei dieser Entscheidung musste die Anklägerin nach Art. 53 (1) Satz 2 IStGHSt beurteilen, ob hinreichende Verdachtsgründe vorliegen, dass ein der Gerichtsbarkeit des IStGH unterliegendes Verbrechen begangen wurde und das Verfahren nach Art. 17 zulässig ist, wie im Folgenden zu erörtern sein wird. aa) Zuständigkeitsprüfung Bevor offizielle Ermittlungen eingeleitet wurden, hatte die Anklagebehörde geprüft, ob der IStGH zuständig für die Verbrechen ist. Für die Zuständigkeitsprüfung sind drei Kriterien relevant: Erstens, die sogenannte Jurisdiction ratione temporis80. Sie klärt, ob die betreffenden Verbrechen zeitlich in die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen. Bereits seit der Entstehung des IStGHSt am 17. Juli 1998 ist Mali ein Vertragsstaat und hatte die notwendige Umsetzung ins innerstaatliche Recht am 16. Juli 2000 vollzogen.81 Mali war daher gemäß Art. 11 (1), IStGHSt zur Selbstüberweisung

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Konkret Mord (Artikel 8 (2)(e)(iv)), Attacken gegen geschützte Gebäude, insbesondere historische und religiöse Gebäude (Artikel 8 (2)(e)(iv)), Plünderung (Artikel 8 (2)(e)(v)) und Vergewaltigung (Artikel 8 (2)(e)(vi)) sowie die Rekrutierung von Kindersoldaten (Artikel 8 (2)(e)(vii)). 77 Ebenda, Rn. 181. 78 ICC (2013), Office of the Prosecutor, Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, Rn. 132. 79 Ebenda. 80 Art. 11 IStGHSt. 81 ICC (2003), Mali, https://asp.icc-cpi.int/en_menus/asp/states parties/african states/Pages/ mali.aspx (Stand 1. 9. 2020).

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der Situation begangener Taten nach dem 1. Januar 2012 auf seinem Territorium berechtigt.82 Die sogenannte Jurisdiction ratione loci oder die Jurisdiction ratione personae83 stellt den Bezug zwischen dem Ort der begangenen Verbrechen bzw. der Staatsangehörigkeit der mutmaßlichen Täter und der Zuständigkeit des Gerichts her. Der IStGH ist, von einer Überweisung durch den UN Sicherheitsrat abgesehen, nur berechtigt, Makroverbrechen auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates oder begangen durch Staatsangehörige eines Vertragsstaates zu untersuchen, was im Fall von Mali in Bezug auf ratione loci zu diesem Zeitpunkt der Ermittlungen zutraf. Die Anklagebehörde hatte Verbrechen in den nordmalischen Städten Gao, Timbuktu und Kidal, sowie Einzelfälle in den südmalischen Orten Bamako und Sévaré untersucht.84 Die sogenannte Jurisdiction ratione materiae85 stellt sicher, dass die Art der Verbrechen in die Zuständigkeit des Gerichtes fällt.86 Die Anklagebehörde selbst ging von fünf Kriegsverbrechen nach Artikel 8 (2)(c) IStGHSt aus, die in einem bewaffneten Konflikt begangen worden waren, der keinen internationalen Charakter hatte: Morde, außergerichtlich durchgeführte Exekutionen, Verstümmelungen, grausame Behandlungen und Folter, Attacken und Zerstörungen von geschützten Gebäuden, Plünderungen und Vergewaltigungen. Von Menschenrechtsverbrechen als Kriegsverbrechen kann erst dann gesprochen werden, wenn ein Kriegszustand vorgelegen hat.87 Eine viel zitierte Definition von Kriegszustand lieferte das Urteil im Verfahren gegen Tadic´ am ICTY: „[a]n armed conflict exists whenever there is a resort to armed force between States or protracted armed violence between governmental authorities and organized armed groups or between such groups within a State.“88 Letzteres traf für die Situation in Mali zu, die sich als ein bewaffneter Konflikt verschiedener Gruppen innerhalb eines Staates darstellte. Dabei ist es irrelevant, ob die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgruppen

82

ICC (2013), Office of the Prosecutor. Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, Rn. 5, Rn. 44. 83 Art. 12 IStGHSt. 84 ICC (2013), Office of the Prosecutor. Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, Rn. 6, Rn. 45, Rn. 48. 85 Entsprechend Art. 5 – 8 IStGHSt. Seit der 16. Vertragsstaatenversammlung im Dezember 2017 fällt ebenfalls das Verbrechen der Aggression unter die Gerichtsbarkeit des IStGH. 86 ICC (2013), Office of the Prosecutor, Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, Rn. 7. 87 Elements of Crimes, Art. 8 IStGHSt. 88 International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia. Prosecutor v Tadic´. Case No. IT-94 – 1, „Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction“, 2 October 1995, para. 70. Diese Definition hat auch die Vorverfahrenskammer am IStGH im Verfahren gegen Jean-Pierre Bemba Gombo aufgegriffen, siehe ICC-01/05-01/08-424, 15. 06. 2009, Rn. 229.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

und anderen organisierten Gruppen erfolgten oder nur – wie in der Mali-Situation – zwischen organisierten Gruppen untereinander.89 bb) Zulässigkeitsprüfung Im Rahmen der Zulässigkeit nach Artikel 17 (1) IStGHSt erfolgt die Prüfung der sogenannten „Komplementarität“, um auszuschließen, dass Mali bereits selbst Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchgeführt hatte. Denn der IStGH darf eine Situation und ein Verfahren nur an sich ziehen, wenn die nationale Justiz nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Menschenrechtsverbrechen selbst zu verfolgen. Die Anklagebehörde griff dabei auf Auskünfte und Informationen zurück, die von den malischen Behörden selbst stammten. Zwei der untersuchten Verbrechen durch die Anklagebehörde fielen nach der Komplementaritätsprüfung für die weiteren konkreten Ermittlungen weg, nachdem in Mali bereits verschiedene Maßnahmen in die Wege geleitet worden waren, diese selbst strafrechtlich oder (zunächst) administrativ zu verfolgen.90 Ausschlaggebend für die Einstellung dieser Ermittlungen war jedoch folgendes Argument: „The Malian authorities have indicated that the alleged acts of torture and enforced disappearances of Red Berets are the subject of a national investigation.“91 Darüber hinaus gehende weitere Strafverfolgungsmaßnahmen durch malische Behörden konnte die Anklagebehörde jedoch nicht feststellen. Sie schloss auch aus, dass zum Zeitpunkt der Einleitung von

89 Einen bewaffneten Konflikt, der nicht sichtbar in einem internationalen Kontext verübt wurde, definierte die Vorverfahrenskammer im Verfahren gegen Jean-Pierre Bemba Gombo „(…) by the outbreak of armed hostilities of a certain level of intensity, exceeding that of international disturbances and tensions, such as riots, isolated and sporadic acts of violence or other acts of a similar nature, and which takes place within the confines of a State territory.“, siehe PTC Bemba, ICC-01/05-01/08-424, 15. 06. 2009, Rn. 229. 90 Dies waren Verbrechen von Folter und erzwungenes Verschwindenlassen durch die sogenannten „Red Berets“, den Leibwächtern des Präsidenten, die auch unter dem Namen „Regiment of Paratrooper-Commandos (RCP)“ bekannt waren. Die Red Berets hatten laut OTP-Bericht einen „internal dispute“ mit den sogenannten Green Berets, einer Militärjunta, im Süden von Mali. Diese Auseinandersetzung fiel in denselben Ermittlungszeitraum der Verbrechen im Norden Malis, weshalb er zunächst Beachtung gefunden hatte. Die Anklagehörde konnte jedoch keine Verbindung zu dem bewaffneten Konflikt in Gesamt Mali feststellen und nicht von Kriegsverbrechen ausgehen. Auch in Bezug auf die Tötung von 16 muslimischen Predigern in Diabali am 9. September 2012 hatten die malischen Behörden Ermittlungen eingeleitet, siehe ICC (2013), OTP. Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, Rn. 87 f., Rn. 136 – 141. 91 ICC (2013), OTP. Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, Rn. 139. Anm.: In Mali wurden die „Red Berets“-Verbrechen Soldaten vorgeworfen. Ende 2012 hatte das Verteidigungsministerium die Fälle von 10 Soldaten an das Justizministerium zur Anklage verwiesen. Ein Großteil der verdächtigen Soldaten war auf Anordnung des Interimsstaatspräsidenten Diouncounda Traoré allerdings rasch wieder freigelassen worden, siehe United States Department of State (2013), S. 3.

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi

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offiziellen Ermittlungen bereits Verfahren in einem anderen Vertragsstaat erfolgt waren.92 Als zweites Zulässigkeitskriterium prüfte die Anklagebehörde die Schwere der Verbrechen nach Artikel 17 (1)(d). Unter Berücksichtigung der Schwere des Verbrechens und der Interessen von Opfern nahm die Anklägerin zu diesem Zeitpunkt an, dass eine offizielle Aufklärung der Verbrechen der Gerechtigkeit dienen werde.93 „My Office will ensure a thorough and impartial investigation and will bring justice to Malian victims by investigating who are the most responsible for these alleged crimes“, kündigte Bensouda daher in einer Pressemitteilung an.94 Demnach wurden die Verbrechen als so schwerwiegend eingestuft, dass weitere Aktivitäten des Gerichtshofes gerechtfertigt waren:95 „(…) the Office shall consider various factors including their (crimes) scale, nature, manner of commission, and impact.“96 Nach diesen vier Punkten erfolgte die Bewertung der Schwere aller mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Mali. Zu diesem Zeitpunkt ging die Anklagebehörde immer noch von fünf unterschiedlichen Kriegsverbrechen aus, die alle für die Gesamtbetrachtung der Opfersituation relevant sind, auch wenn am Ende nur eines dieser Verbrechen angeklagt und abgeurteilt wurde.

4. Fokussierung auf die Zerstörungen in Timbuktu Die faktische Opferwerdung malischer Bürger_innen ereignete sich während des bewaffneten Konflikts im Norden Malis im Jahr 2012 im Rahmen dieser fünf Verbrechenskomplexe, die eine Vielzahl von Verletzung unterschiedlichster Rechtsgüter aufwiesen. Genaue Angaben, wie viele Menschen tatsächlich Opfer der fünf Verbrechenskomplexe wurden, lagen nicht vor. Es besteht ein vorgegebenes Nadelöhr der internationalen Strafgerichtsbarkeit für die Anerkennung von Opferwerdungen im Recht auf Reparationen. Die ganze Bandbreite der erlittenen Viktimisierungen eines Konflikts wird vom IStGH nicht erfasst. Ein Strafverfahren kann erst dann beginnen, wenn ausreichend Beweise vorliegen und ein Verdächtiger überstellt ist. Während der offiziellen Ermittlungen ist die Anklagebehörde dazu berechtigt, ihre Einschätzungen zur Beweislage zu revidieren. Darüber hinaus müssen die ermittelten Verbrechen nicht zwangsläufig auch später alle angeklagt werden. Vielmehr hat die Anklagebehörde ein Auswahlermessen; sie kann sich aus Gründen der Prozessökonomie oder der Beweisbarkeit vorbehalten, nur eine Auswahl der 92

ICC (2013), OTP. Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. Januar 2013, Rn. 10, Rn. 134; OTP Report Preliminary examinations 2013, Rn. 232. 93 Artikel 53 (1) RS; ICC Office of the Prosecutor, Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, Rn. 11 – 13. 94 ICC, Press release, 16. 01. 2013. ICC-OTP-20130116-PR869. 95 ICC (2013), OTP. Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, Rn. 11. 96 ICC, 29 (2) RoP.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

Straftaten anzuklagen.97 All dies kann dazu führen, dass die Opferwerdungen im völkerstrafrechtlichen Verfahren nur eingeschränkt reflektiert werden. Neben diesen rein juristisch legitimen und nachvollziehbaren Gründen für eine Begrenzung des Verfahrens, gab es im Fall Al Mahdi jedoch noch andere, politische Faktoren, welche die Auswahl der Tatbestände in diesem Fall beeinflusst haben. So hatte sich die internationale Aufmerksamkeit während des bewaffneten Konflikts in Mali im Jahr 2012 rasch auf zwei Verbrechen konzentriert: auf die Zerstörung der Weltkulturerbestätten in Timbuktu und die Verbrechen der sexualisierten Gewalt gegen Frauen. Die UN Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten, Margot Wallström, bestätigte bereits im April 2012, dass es eine hohe Anzahl von sexualisierter Gewalt gegen Frauen gegeben hatte: „Allegations include abductions, public rapes and subjecting women and girls to acts of sexual violence in front of family members.“98 Obwohl die Anklagebehörde zu diesem Zeitpunkt sehr detaillierte Hinweise auf Vergewaltigungen vorliegen hatte, deren Anzahl sie im Rahmen der Situation auf 50 bis 100 einstufte, wurden diese Taten zunächst nicht offiziell weiter verfolgt. Dass den sexuellen Verbrechen keine Priorität eingeräumt wurde, ist besonders mit Blick auf das bekannte Urteil im Fall gegen Jean Paul Akayesu am Ruandatribunal unverständlich, als die Hauptverfahrenskammer Vergewaltigung und sexuelle Verbrechen als „one of the worst ways of inflict[ing] harm on the victim as he or she suffers both bodily and mental harm“ bewertet hatte.99 Von Seiten der Sonderorganisationen und thematischen Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen war die Aufmerksamkeit hingegen stärker auf die Zerstörung der Weltkulturerbestätten in Timbuktu gerichtet – einer Opferwerdung, die sehr viel sichtbarer war. Der damalige UN Generalsekretär, Ban Ki-moon, hatte sich bereits am 8. August 2012 im Rahmen einer Sitzung des Sicherheitsrates öffentlich besorgt über die Situation in Mali geäußert.100 Zur Stimme der historischen und religiösen Gebäude wurde in den folgenden Monaten jedoch die UNESCO. Deren Generaldirektorin Irina Bukova betonte, dass die Stätten in Timbuktu „essential to the preservation of the identity of the people of Mali and of our universal heritage“ seien.101 Der Sicherheitsrat hatte zuvor aus Anlass der sich verschlechternden hu97

OTP Report Preliminary examinations 2013, Rn. 231; ICC (2013), OTP. Situation in Mali, Article 53 (1) Report, 16. 01. 2013, para. 135. 98 UN News (2012), Senior UN official condemns ,alarming‘ reports of sexual violence in Mali, https://news.un.org/en/story/2012/04/408252 (Stand 1. 9. 2020). 99 ICTR, Trial Judgment in the Jean-Paul Akayesu Case (Sept 2, 1998), ICTR 96 – 4-T, Rn. 731. 100 UN News (2012), Mali: at Security Council meeting, Ban urges more action, including targeted sanctions. Aufgerufen unter: https://news.un.org/en/story/2012/08/417222, zuletzt am 24. 07. 2020. 101 UN News (2012), Head of UN cultural agency urges warring factions in Mali to safeguard Timbuktu, https://news.un.org/en/story/2012/04/407852-head-un-cultural-agency-urgeswarring-factions-mali-safeguard-timbuktu (Stand 1. 9. 2020).

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi

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manitären Lage in Mali die Warnung der UNESCO aufgegriffen und vor Kämpfen an den historischen Gebäuden gewarnt.102 Die UN Sonderberichterstatter für kulturelle Menschenrechte, Farida Shaheed, und für das Recht auf Religions-, Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit, Heiner Bielefeldt, warnten in einer Pressemittelung vor einer dunklen Zukunft der malischen Lokalbevölkerung nach der Zerstörung der heiligen Grabmäler. Auch beide UN Sonderberichterstatter hatten aufgrund ihrer Mandate die Folgen der Zerstörungen in Bezug auf die Opferwerdung von Menschen im Blick. „The destruction of tombs of ancient Muslim saints in Timbuktu, a common heritage of humanity, is a loss for us all, but for the local population it also means the denial of their identity, their beliefs, their history and their dignity“, so Shaheed. Bielefeldt ergänzte, dass die Zerstörung von Gebetsstätten und die Schändung von Friedhöfen nicht die Rechte eines einzelnen Gläubigen verletzen, sondern gesamte Gemeinden betreffen. Konsequenterweise differenzierte Bielefeldt zwischen den betroffenen Gruppen daher: „(T)he destruction of the tombs is the deprivation of an immense wealth to local populations, all Malians and the global community.“103 Auch die African Commission on Human and Peoples’ Rights reagierte auf den internationalen Druck und forderte in einer Stellungnahme zum Abschlussbericht der eigenen Untersuchungen in Mali im Januar 2013 die Zusammenarbeit aller Beteiligten mit dem IStGH, um Straflosigkeit zu verhindern und „(…) towards bringing the perpetrators of serious crimes to justice.“104 Die Anklagebehörde des IStGH, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem Vorwurf der einseitigen Auswahl von Fällen in einem afrikanischen Kontext konfrontiert sah105, wurde in der Mali-Situation politisch maßgeblich von der Afrikanischen Union unterstützt. Die AU hatte die begangenen Straftaten im Norden Malis 2012 bereits öffentlich in einer Presseerklärung vom 19. Juli 2012 missbilligt. Keiner der Verbrechenskomplexe wurde darin explizit beschrieben. Allgemein hieß es nur, die AU verurteile „the serious violations of human rights perpetrated in the northern part of Mali.“106 Energisch kritisierte die AU hingegen die „senseless and unacceptable destruction by the armed, terrorist and criminal groups active on the ground of the cultural, spiritual and historical heritage of this region, notably in Timbuktu“ 102 UN News (2012), Security Council concerned over deteriorating humanitarian situation in Mali, https://news.un.org/en/story/2012/04/408042-security-council-concerned-over-deteri orating-humanitarian-situation-mali (Stand 1. 9. 2020). 103 OHCHR (2012), ,A very dark future for the local populations in Northern Mali‘, warn UN experts, https://www.modernghana.com/news/405382/a-very-dark-future-for-the-local-po pulations-in.html (Stand 1. 9. 2020). 104 African Commission (2013), Statement on the present Human Rights situation in Mali, 18. 01. 2013, https://reliefweb.int/report/mali/statement-african-commission-present-humanrights-situation-mali (Stand 1. 9. 2020). 105 Nanjala, N. (2012), Does the ICC have an African Problem? Global Policy Forum. Aufgerufen unter: https://www.globalpolicy.org/international-justice/the-international-criminalcourt/general-documents-analysis-and-articles-on-the-icc/51456-does-the-icc-have-an-africaproblem.html, zuletzt am 26. 07. 2020. 106 Assembly/AU/Decl.1(XIX), 19. 07. 2012.

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und forderte „[…] that the perpetrators be brought to justice before the relevant international jurisdictions.“107 Zur selben Zeit forderte die Mali Kontaktgruppe unter der Leitung der ECOWAS108 die bewaffneten Gruppen auf, die Zerstörung der historischen Monumente in Timbuktu zu beenden. Von der internationalen Staatengemeinschaft erbat sie sich die Errichtung eines Fonds zum Wiederaufbau. An den IStGH richtete die Kontaktgruppe die Bitte „(…) to launch the necessary enquires in order to identify the perpetrators of these war crimes and to initiate the necessary legal proceedings against him.“109 Die Zerstörung der historischen und religiösen Gebäude in Timbuktu hatte somit eine große mediale Aufmerksamkeit erhalten, die über die genannten politisch-internationalen Institutionen und Organisationen hinausging. Zudem war der gemeinschaftliche politische Wille zur strafrechtlichen Verfolgung dieser Taten bei den zuständigen Akteuren vorhanden – den internationalen gouvernementalen Organisationen, den Nicht-Regierungsorganisationen und dem Vertragsstaat Mali. Insbesondere die öffentliche Unterstützung durch die Afrikanische Union dürfte jedoch den Ausschlag gegeben haben, dass die Anklagebehörde sich zunächst auf diesen Verbrechensblock konzentrierte. Einen weiteren Vorteil stellte insoweit die gut dokumentierte Beweislage gegen den Verdächtigen dar. Menschenrechtspolitik braucht starke Fürsprecher, um kontinuierlich betrieben zu werden. Der vorliegende Fall zeigt, dass eine solche Lobbyarbeit auch dabei helfen kann, dass Menschenrechtsverbrechen strafrechtlich untersucht werden. Noch mehr als die Lobbyarbeit einzelner Organisationen war es allerdings der politische Wille zur strafrechtlichen Verfolgung der Täter, der im Fall von Mali und den zerstörten Mausoleen dazu geführt haben dürfte, dass der IStGH sehr zeitnah einen Haftbefehl gegen den Hauptverdächtigen Ahmad Al Faqi Al Mahdi ausstellte. Dies erfolgte zu einem Zeitpunkt als Niger, wohin Al Mahdi geflohen war und inzwischen in Haft saß, die Überstellung des Beschuldigten bereits an den ICC vorbereitete.110 Der Haftbefehl vom 18. September 2015 warf Al Mahdi vor, die Zerstörung der Gebäude in Timbuktu als Kriegsverbrechen nach Artikel 8 (2)(e)(iv) eigenständig nach Artikel 25 (3)(a) oder gemeinschaftlich nach Artikel 25 (3)(c) und Artikel 25 (3)(d) begangen zu haben.111 Timbuktu war in dem enggefassten Zeitraum der Verbrechen vom 30. Juni bis zum 12. Juli 2012 unter der Belagerung von terroris107

Assembly/AU/Decl.1(XIX), 19. 07. 2012, para. 5. Der Präsident von Burkina Faso, Blaise Compaoré, leitete die Mali Kontaktgruppe, die aus den Präsidenten Benins, der Elfenbeinküste, Niger, Nigerias und Togos bestand. Die Mali Kontaktgruppe veröffentlichte eine ausführlichere Stellungnahme nach ihrem zweiten Treffen am 07. 07. 2012. 109 2nd meeting of the regional contact group on Mali, Ouagadougou, Burkina-Faso, 07. 07. 2012, www.thenigerianvoice.com (Stand 1. 9. 2020). 110 International Federation for Human Rights, The Al Mahdi case at the ICC, siehe https: //www.refworld.org/docid/57baa9d84.html (Stand 1. 09. 2020); ICC, Press release, 26. 09. 2015, ICC-CPI-20150926-PR1154. 111 PTC I, Al Mahdi, 18. 09. 2015, ICC-01/12-01/15-1-Red 28 – 09 – 2015 1/10 RH PT. 108

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tischen Gruppen – darunter der Al-Quaida, der Ansar Dine und Tuareg-Verbindungen mit der AQMI. Die Belagerung Timbuktus war ein Teil des bewaffneten internationalen Konflikts, der seit Januar 2012 in Gesamt-Mali stattfand. Während des Belagerungszustandes der Stadt erfolgten die Zerstörungen der historischen und religiösen Gebäude, die größtenteils als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt worden waren.112 Der Haftbefehl wurde auf Antrag der Anklagebehörde erlassen113 und umfasste den vollständigen Namen der beschuldigten Person sowie andere relevante Informationen, welche seine Identifizierung ermöglichten.114 Al Mahdi wurde rund 100 Kilometer westlich von Timbuktu geboren, war in seinen Dreißigern, Tuareg, Mitglied der Ansar Dine. Er wird als versierte Respektsperson in religiösen Fragen bezeichnet.115 Aufgrund der Beweislage nach Artikel 58 (1)(a) lag ein begründeter Verdacht vor, dass Al Mahdi die betreffenden Verbrechen im Rahmen der Zuständigkeit des IStGH begangen hatte.116 Die Beweise für die ihm zur Last gelegten Taten basierten auf Zeugenaussagen und Protokollen mit Vertreter_innen nationaler Behörden in Mali.117 Demnach gab es Berichte, dass Al Mahdi als Führer der sogenannten Hesbah118 – einer Organisationseinheit der Ansar Dine – die Durchführung der Zerstörungen überwacht und teilweise selbst aktiv mit vorgenommen hatte. Später wurden auch TV-Interviews, die Al Mahdi gegeben hatte, und Filmanalysen auf denen er zu sehen war, zu den wichtigsten Beweisstücken.119 In der nach Abschluss der Ermittlungen erhobenen Anklage gegen Al Mahdi bestätigte die Anklagebehörde den Vorwurf aus dem Haftbefehl, Kriegsverbrechen im Zeitraum vom 30. Juni bis 11. Juli 2012 begangen zu haben. Die Anklageschrift enthielt entsprechend Regulation 52 eine klare Beschreibung der genauen zeitlichen und räumlichen Umstände der begangenen Straftaten. Zur Last gelegt wurden Al Mahdi Kriegsverbrechen, die zwar keinen unmittelbaren körperlichen Schaden an Menschen verursacht haben, sondern bei oberflächlicher Betrachtung lediglich „Sachschäden“ zur Folge hatten. Dennoch benennt die Anklägerin Bensouda einen 112

Rn. 6. 113 114

S. 3. 115

Rn. 7. 116

PTC I, Al Mahdi, 18. 09. 2015, ICC-01/12-01/15-1-Red 28 – 09 – 2015 1/10 RH PT, ICC, 53 RoP. Artikel 58 (3)(a) IStGHSt; Transcript vom 30. 09. 2015, ICC-01/12-01/15-T-1-ENG, PTC I, Al Mahdi, 18. 09. 2015, ICC-01/12-01/15-1-Red 28 – 09 – 2015 1/10 RH PT,

Ebenda, Rn. 4. Ebenda, Rn. 3. 118 Das Konzept der Hesbah findet sich im Koran und ist in vielen islamischen Institutionen zu finden. Allgemein formuliert, beauftragt es Gläubige, Gutes zu tun und verbietet Böses, siehe ausführlich dazu: Badar, M./Higgins, N. (2017), Discussion Interrupted. The Destruction and Protection of Cultural Property under International Law and Islamic Law – the Case of Prosecutor v. Al Mahdi, in: International Criminal Law Review 17. Leiden, S. 486 – 516, S. 494. 119 Dies veranlasste den Einzelrichter zu der Annahme, dass Al Mahdi strafrechtlich für die ihm vorgeworfenen Taten verantwortlich sei, siehe ebenda, Rn. 9. 117

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

gemeinsamen Nenner mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, der in den Folgen besteht, die zur Opferwerdung von Menschen führten: „They inflict irreparable damage to the human persons in his or her body, mind, soul and identity.“120 Im konkreten Fall sah die Anklägerin Verletzungen der Menschenwürde und der Identität einer ganzen Bevölkerung sowie Verletzungen ihrer Religion und ihrer historischen Wurzeln.121 Mit diesen Aussagen verdeutlichte die Anklägerin, dass sie die Interessen der Menschen mit Opfererfahrung vertrat, die zu diesem Zeitpunkt noch keinen Rechtsbeistand hatten. Konkret wurde Al Mahdi vorgeworfen, als Leiter der Hesbah alleine oder gemeinsam mit anderen folgende Gebäude unter Zuhilfenahme von Fahrzeugen, Waffen und Werkzeugen, wie Pickel und Eisenstangen, attackiert und zerstört zu haben: - das Sidi Mahmoud Ben Omar Mahamed Aquit Mausoleum - das Sheikh Mohamed Mahmoud Al Arawani Mausoleum - das Sheikh Sidi El Mokhtar Ben Sisi Mouhammad Al Kabir Al Kounti Mausoleum - das Aloha Moya Mausoleum - das Sheikh Mouhamad El Micky Mausoleum - das Sheikh Abdoul Kassim Attouaty Mausoleum - das Sheikh Sidi Ahmed Ben Amar Arragadi Mausoleum - die Tür der Sidi Yahia Moschee - zwei Mausoleen angrenzend an die Djingareyber Moschee, das Ahamed Fulane Mausoleum und das Bahaber Babadié Mausoleum Als Gemeinsamkeit hatten alle diese Stätten, dass „(t)hese sites were buildings dedicated to religion and historic monuments and did not constitute military objectives.“122 Mit Ausnahme des Sheikh Mohamed Mahmoud Al Arawani Mausoleum waren alle Gebäude zudem als Weltkulturerbe gelistet. Der entscheidende Faktor für den Weltkulturerbestatus ist „the concept of outstanding universal value“.123 Die Anklägerin verdeutlichte, welche Opferwerdungen bei dieser Art von Verbrechen entstanden waren: „Let us be clear: What is at stake here is not just walls and stones. The destroyed mausoleums were important from a religious point of view, from an historical point of view and from an identity point of view. Such an attack against buildings dedicated to religion and historic monuments falls into the category of crimes that destroy the roots of an entire people and profoundly and irremediably affect its social practices and structures.“124 120 121 122 123 124

PTC I, Al Mahdi, Transcript vom 01. 03. 2016, S. 12. Ebenda, S. 13 f. Ebenda, S. 7. TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 23. 08. 2016, S. 49. Ebenda, S. 13.

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi

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Die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von Al Mahdi war in der Anklage noch weiter gefasst als zuvor im Haftbefehl. Mit Rücksicht auf seinen maßgeblichen Tatbeitrag habe er die Verbrechen direkt selbst, gemeinschaftlich mit anderen oder durch andere begangen.125 Er habe zu den Verbrechen aufgerufen,126 bzw. dazu Beihilfe geleistet127 oder auf eine andere Art und Weise die Begehung der Verbrechen gefördert.128 Al Mahdi war nach Anklage in alle Phasen der Zerstörungen involviert, angefangen von der Planung bis zur Überwachung und aktiven Durchführung. Al Mahdi hatte danach die religiösen Gebäude und Monumente als visualisierte Untugenden verstanden. Aus diesem Grund fiel die Aufgabe der Zerstörung in die Verantwortung der sogenannten Hesbah, der Moralbrigade, der Al Mahdi vorstand. Al Mahdi wurde vorgeworfen, aktiv die destruktiven Aktionen initiiert zu haben. Er habe die Auswahl der Gebäude getroffen und sich schon zuvor mit religiösen Führungspersonen auseinandergesetzt, um diese zu überzeugen, die bisherigen religiösen Praktiken an den Mausoleen so nicht mehr durchzuführen. Am Vorabend der Attacke wurde eine Predigt über die Zerstörung der Gebäude verlesen, die von Al Mahdi verfasst worden sei. Gemeinsam mit anderen habe Al Mahdi schließlich den Plan der Zerstörung umgesetzt und dabei die personelle, materielle und finanzielle Organisation der Angriffe vorbereitet und ihre Durchführung selbst überwacht. Er habe den Tätern Anweisungen erteilt haben und sei selbst aktiv an der Zerstörung von mindestens fünf historisch-religiösen Gebäuden beteiligt gewesen. Als Ansprechpartner für Presseanfragen hatte er im Fernsehen die Zerstörungsangriffe erläutert und gerechtfertigt.129 Die Anhörung zur Bestätigung der Anklagepunkte begann am 1. März 2016 vor der Vorverfahrenskammer. Ihr oblag es zu verifizieren, ob und gegebenenfalls inwieweit ausreichende Beweise für den dringenden Verdacht vorliegen, dass der Beschuldigte die ihm zur Last gelegten Verbrechen begangen hat, die zu konkreten Opferwerdungen geführt haben.130 Dies wurde von den Richtern bestätigt. Dadurch wurde der mutmaßliche Verdächtige zum Angeklagten der ihm vorgeworfenen Verbrechen. Die Leid- und Unrechtserfahrungen der Opfer blieben zu diesem Zeitpunkt noch unspezifisch.131 Mit der bestätigten Anklage wurde allerdings der formale und wichtige Schritt in Richtung Gerechtigkeit, Wahrheit und Reparationen für Opfer am IStGH gelegt.

125

Art. 25 (3)(a) IStGHSt. Art. 25 (3)(b) IStGHSt. 127 Art. 25 (3)(c) IStGHSt. 128 Art. 25 (3)(d) IStGHSt. 129 Ebenda, S. 8 f. 130 Art. 61 (7) IStGHSt. 131 Die IStGH Präsidentschaft setzt eine Hauptverfahrenskammer gemäß Artikel 61 (11) IStGHSt ein, die mit dem weiteren Verfahren beauftragt wird. (Im Folgenden Trial Chamber VIII, kurz TC VIII). 126

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

5. Opferwerdung – Erlittene Schäden im Fall Al Mahdi Bereits die Begehung der internationalen Verbrechen führt in einem strafrechtlichen Sinne zur Opferwerdung von Menschen. Sie manifestiert sich in den unmittelbaren Schäden, die die Menschen als Folge der Tat erlitten haben und die materieller, physischer oder psychischer Art sein können.132 Die Individualität der Menschen spiegelt sich in ihrem individuellen Empfinden wider. Die erlittenen Schäden können daher vollständig unterschiedlich empfunden und wahrgenommen werden, insbesondere wenn es um die weniger sichtbaren und schwer messbaren psychischen Folgen der Taten geht. Dies demonstrierte schon der Vergleich der Opferwerdungen von Améry und Klüger. Insoweit müssen deshalb die individuellen Erfahrungen der Menschen in Timbuktu in den Blick genommen werden. Die Mausoleen waren Kulturstätten und zugleich besondere religiöse Orte für Gläubige. Im Alltag hatten die Mausoleen jedoch auch einen Einfluss auf das soziale Leben in Timbuktu. Die Mausoleen waren zentrale Orte für die Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen. Inhaltlich ging es dabei nicht nur um die Vermittlung von geschichtlichem Wissen, sondern auch um soziale Werte und den Umgang miteinander. Nach der Zerstörung der Mausoleen war daher das soziale Leben vollkommen lahmgelegt.133 Allein durch ihren Standort in einer bestimmten Gemeinde, haben religiöse Einrichtungen und Kulturstätten zudem per se eine identitätsstiftende Wirkung auf die dortige Bevölkerung. Auch die Menschen in Timbuktu definierten ihre Identität durch die religiöse und kulturelle Bedeutung der geschützten Gebäude. Die Mausoleen hatten aufgrund ihrer beschützenden Funktion für die Stadt und ihre Einwohner eine positiv-identitätsstiftende Wirkung.134 Diesen ideellen, die Gemeinschaft stärkenden Wert, beurteilte ein Opfer mit drastischen Worten: „And when it came to the destruction of the Timbuktu mausoleums, this was indeed a matter of an activity of war to psychologically kill the people of Timbuktu, destroying the property or buildings for which they had an effective attachment.“135 Die psychischen Folgen der Zerstörung der Mausoleen wurden zudem von der Bevölkerung als beschämend und schändlich beschrieben.136 Woher das Gefühl der Scham kommt, das auch in den Ausführungen der Opfer auftaucht, erklärte der 132

Bock (2007), S. 664. TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 23. 08. 2016, S. 77. 134 Ebenda, S. 81. 135 Ebenda, S. 89. 136 „I am the Legal Representative of the Victims of Timbuktu who have in their totality had to bear a shameful experience, shame that was brought upon them by Mr Al Mahdi and the members of Ansar Dine in the course of the events of 2012 (…).“, in: TC VIII, Al Mahdi, Transcript, 23. 08. 2016, S. 19; „(I)t is shame and the suffering that have been experienced by the victims arising from the destruction which amounts to moral prejudice directly linked to the crime committed by Mr Al Mahdi and the members of Ansar Dine.“, in: TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 24. 08. 2016, S. 20. 133

IV. Opferwerdung im Fall gegen Ahmad Al Mahdi

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rechtliche Vertreter: „In Timbuktu those alive stood helplessly as their saints were being attacked and that is the source of the shame that the victims feel, shame in relation to their saints for some and shame in relation to their ancestors for others.“137 Aufgrund der Zerstörung der Mausoleen hatten die direkten Nachfahren der Heiligen ihre Vorfahren ungeschützt und entmystifiziert wahrgenommen. Noch deutlicher beschreibt der Opferanwalt das Schamgefühl: „the shame that the victims have experienced by seeing their saints stripped naked and the shame experienced by their powerlessness, the helplessness that arose because they could not do anything.“138 Die Störung der Totenruhe betraf die direkten Nachfahren der Heiligen, aber auch die Bevölkerung von Timbuktu in besonderem Ausmaß. „(…) (T)he victims felt that attacking the dead, Mr Al Mahdi and his group actually attacked the living.“139 Zwischen den Heiligen der Mausoleen als Hüter der Stadt und den Gläubigen bestand eine Verbindung, die unwiderruflich zerstört war – selbst nachdem die Bauten durch die UNESCO zu Prozessbeginn wieder rekonstruiert worden waren.140 „All the physical persons who I today represent before you did indeed have a key, a symbolic key which is the link between the living and the spirits“, erklärte der Opferanwalt vor der Kammer.141 Mit der Metapher des Schlüssels wird die Verbindung nachgezeichnet, welche die Wächterfamilien über die Heiligen zu Gott hatten. Diese Verbindung wurde generationenübergreifend seit Jahrhunderten weitergegeben. Sie war vor allem mit den im Originalzustand befindlichen historischen Gebäuden verknüpft, welche durch Neuerrichtung nicht wiederhergestellt werden kann. Im Wert der symbolischen Bedeutung liegt die Grundlage für die religiöse und historisch-kulturelle Identität der Menschen, die durch die Zerstörung der Grabmäler eine Opfererfahrung machen mussten. Betroffen waren daher nicht nur die Nachfahren der Heiligen und die Einwohner Timbuktus, sondern aufgrund der Verletzung der kulturellen und religiösen Identität auch die Bevölkerung von Gesamt-Mali. Auch wenn danach die emotionalen und seelischen Leiderfahrungen von besonderer Bedeutung für die Opfer sind, dürfen die finanziellen Einbußen, die die Bewohner_innen Timbuktus hinnehmen mussten, nicht außer Acht gelassen werden. Für viele Menschen waren die Mausoleen eine wichtige unmittelbare oder mittelbare Einnahmequelle. Bei den finanziellen Einkommen handelt es sich allerdings nicht um ein reguläres fixes Gehalt in einem westlichen Verständnis, sondern um Einnahmen, die nur aufgrund der Existenz der Mausoleen gemacht werden konnten. Darunter fielen z. B. auch die Einnahmen, die durch die Touristen entstanden sind.142 137

TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 24. 08. 2016, S. 21. Ebenda, S. 21. 139 Ebenda, S. 26 f. 140 UNESCO (2017), UNESCO’s Role and Action to Preotect and Safeguard Cultural Heritage and to Promote Cultural Pluralism in Crisis Situation, Case Study: Lessons Learned from Mali, http://www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/IOS/images/PI_159_Ma li_Case_Study.pdf (Stand 1. 9. 2020). 141 TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 24. 08. 2016, S. 26. 142 Ebenda, S. 20, S. 32 f. 138

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

Nachdem die Stadt ihrer wichtigsten Sehenswürdigkeiten beraubt war, blieben die Touristen auch aufgrund des zeitgleich gestiegenen Sicherheitsrisikos aus. Vor 2012 war die Stadt dagegen eine touristische Destination in der Sahelzone gewesen. „Numerous pilgrims with a kounta background in particular, in particular coming from Marocco, Algeria, Niger, Libya, Mali and Tunisia would make a pilgrimage to this site.“143 Der Tourismus sicherte vielen Familien in Timbuktu das Einkommen und damit das finanzielle Überleben. Auch durch die Zerstörung von Sachwerten erfolgt somit die individuelle Opferwerdung, die insoweit im Entstehen eines materiellen Schadens besteht. Die Maurer, die für den Erhalt der baulichen Substanz der Mausoleen zuständig waren, erhielten keine direkte Bezahlung von den Wächterfamilien. Vielmehr waren sie eng in das soziale gemeinschaftliche Leben der Mausoleen eingebunden und wurden deshalb von der Gemeinde versorgt. Vor Ort geben die Maurer ihr Handwerk stets von Vater zu Sohn weiter, weshalb ganze Familiengenerationen direkt an dem Erhalt der Mausoleen mitwirkten. Ihre Arbeit wird als Beitrag am Gemeinwohl der gesamten Gemeinschaft betrachtet. Auch die Wächterfamilien erhielten keine unmittelbaren und regelmäßigen finanziellen Einnahmen für ihre Dienste an den Mausoleen, die zugleich im westlichen Verständnis als öffentliche Gebäude gelten, aber nicht als staatliche Einrichtungen unterhalten werden. Die Wächterfamilien leisteten wie die Handwerker einen gemeinschaftlichen Beitrag, der ihnen innerhalb der Gemeinde Einkünfte sicherte, die allerdings nicht in einem monatlichen Gehalt messbar sind.144 Unabhängig von der Frage der konkreten Messbarkeit ist zunächst festzuhalten, dass den Einwohnern Timbuktus sowie den Wächterfamilien und den Maurern erhebliche finanzielle Einbußen entstanden sind, welche für viele existenzbedrohend waren, da sie die einzige Einkommensquelle bedeuteten. Ein materieller Schaden liegt selbstverständlich auch dann vor, wenn das eigene Vermögen als Folge von Opfererfahrungen reduziert wurde. Eine individuelle Opferwerdung aufgrund materieller Schäden erfolgt insoweit auch durch die Beschädigungen des gemeinschaftlichen Eigentums. Zu den individuellen Opferwerdungen kamen in der belagerten und von Zerstörungen betroffene Stadt Timbuktu auch kollektive Leiderfahrungen hinzu. Während der Anhörung zur Überprüfung der Anklage sprach die Chefanklägerin, Fatou Bensouda, zuallererst die Opferrolle der Stadt Timbuktu an. Dabei zitiert sie einen Bürger: „Timbuktu is about to lose its soul. Timbuktu is under the threat of outrageous acts of vandalism. Timbuktu has on its throat the sharp knife of coldblooded assassins.“145 Die Opfer hatten daher die Erwartung an den IStGH, dass von

143 144 145

TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 01. 03. 2016, S. 29. TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 23. 08. 2016, S. 95. TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 01. 03. 2016, S. 12.

V. IStGH als Anerkennungsort des „Opferseins“

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dem Verfahren ein klares Signal ausgehen müsse, dass Verbrechen an den religiösen Orten und Kulturstätten nicht ungestraft bleiben.146

V. IStGH als Anerkennungsort des „Opferseins“ Am IStGH erfuhr das Recht auf Reparationen seinen bisher höchsten Grad an institutioneller Verankerung sowie Verrechtlichung im Internationalen Strafrecht. Dies war nicht nur eine normative, sondern vor allem auch eine politische Leistung, die als wesentliche Errungenschaft für die Opferrechte eingestuft werden kann. Zugleich wurden hierdurch allerdings bei Opfern und Opferorganisationen verständlicherweise hohe Erwartungen geweckt. Der Gerichtshof wird vor allem auch daran gemessen werden, wie erfolgreich er die rechtlichen und institutionellen Vorgaben praktisch umsetzt. So erklärte die Berufungskammer im Lubangaverfahren folgerichtig: „The success of the Court is, to some extent linked to the success of its system of reparations.“147 Es stellt sich allerdings die Frage, ob die vorhandenen Strukturen und Verfahren am IStGH überhaupt so ausgelegt sind, dass eine Anerkennung des Opferseins im Recht auf Reparationen erfolgen kann. Die Beantwortung dieser Frage wird im Folgenden anhand der (1.) normativen und (2.) der institutionellen Verankerung des Rechts auf Reparationen im Rom-Statut-Systemdiskutiert.

1. Normative Verankerung im Rom-Statut Der besondere „Mischcharakter des IStGH als straf- und völkerrechtliches Gericht“ zeigt sich gerade in der normativen Verankerung des Rechts auf Reparationen und seiner institutionellen Durchsetzung.148 Reparationen für Opfer sind in Artikel 75 IStGHSt geregelt. Bevor eine nähere Betrachtung der einzelnen Vorschriften erfolgt (1 d)), muss Klarheit hinsichtlich des Inhalts und der Weite des Opferbegriffs als Voraussetzung für jede Form von Reparation am IStGH gewonnen werden (1 a)). Besondere Bedeutung bei der konkreten Interpretation der die Rechte der Opfer – und damit gerade auch Artikel 75 IStGHSt – definierenden Normen besitzt Artikel 21 (3), der bestimmt, dass der Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung des IStGHSt internationale Menschenrechtsstandards zu beachten hat. Dies gilt für alle Phasen des Strafverfahrens und für alle kodifizierten Menschenrechte, die sowohl in Verträgen als auch im Völkergewohnheitsrecht verankert oder ius cogens sind. Gerade in dieser menschenrechtlichen Generalklausel manifestieren sich die Men146

TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 24. 08. 2016, S. 31. AC, Lubanga, Order for reparations, 03. 03. 2015, ICC-01/04-01/06-3129-AnxA, para. 3. 148 Safferling (2011), S. 273. 147

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

schenrechte der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparationen (1 b)). Ein Anerkennungsverfahren wird allerdings für Opfer nur dann gerecht sein, wenn es auch fair gegenüber dem Angeklagten ist und dessen Rechte wahrt (1 c)). a) Die rechtliche Definition von Opfern Das IStGHSt und alle anderen internationalen Rechtsdokumente verwenden ausschließlich den Terminus „Victims“. Es gibt keine andere Formulierung, die sich eher der Bedeutung von „survivors“ annähern und dem deutschen Ausdruck der „Überlebenden“ entsprechen würde. „Victims“ ist auch der juristische terminus technicus, der von allen Organen und Institutionen des Rom-Statut-Systems verwendet wird. Doch weder in der Präambel noch im Statut selbst wird klar definiert, welche Personen im völkerstrafrechtlichen Verständnis genau als „Opfer“ verstanden werden. Eine Definition findet sich allerdings in den zeitlich später verfassten Regeln zur Beweis- und Verfahrensordnung. Rule 85 legt in zwei Paragraphen fest, dass der Gerichtshof Opfer wie folgt definiert: (a) „Victims“ means natural persons who have suffered harm as a result of the commission of any crime within the jurisdiction of the Court; (b) Victims may include organizations or institutions that have sustained direct harm to any of their property which is dedicated to religion, education, art or science or charitable purposes, and to their historic monuments, hospitals and other places and objects for humanitarian purposes.149 Bemerkenswert an dieser Definition ist, dass der Opferbegriff in Absatz (b) auch Organisationen und Institutionen erfasst, die unmittelbaren Schaden an ihrem Eigentum oder historischen Monumenten, Krankenhäusern oder humanitären Zielen dienenden Objekten erlitten haben, wenn diese der Religion, Kunst, Wissenschaft oder Wohlfahrt gewidmet sind. Dies heißt natürlich, dass eine Kammer auch Organisationen und Institutionen Reparationen zusprechen kann. Gerade diese Erweiterung des Opferbegriffs hat im Fall Al Mahdi, bei dem es um die Zerstörung von Weltkulturerbe ging, eine wesentliche Rolle gespielt. Die Definition des Opferbegriffs für natürliche Personen in Absatz (a) wirkt demgegenüber allerdings etwas unspezifisch und bedarf der Interpretation und Ausfüllung. Es verwundert deshalb nicht, dass die Kammer im Verfahren gegen Thomas Lubanga, die erstmalig mit der Beteiligung von Opfern konfrontiert war, den Terminus Opfer auf der Grundlage von Artikel 21 (3) IStGHSt unter nahezu wörtlicher Berücksichtigung der „UN Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law“ von 2005 ausgelegt hat:

149

ICC, 85 RPE.

V. IStGH als Anerkennungsort des „Opferseins“

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„For purposes of the present document, victims are persons who individually or collectively suffered harm, including physical or mental injury, emotional suffering, economic loss or substantial impairment of their fundamental rights, through acts or omissions that constitute gross violations of international human rights law, or serious violations of international humanitarian law. Where appropriate, and in accordance with domestic law, the term ,victim‘ also includes the immediate family or dependants of the direct victim and persons who have suffered harm in intervening to assist victims in distress or to prevent victimization.“150 „A person shall be considered a victim regardless of whether the perpetrator of the violation is identified, apprehended, prosecuted, or convicted and regardless of the familial relationship between the perpetrator and the victim.“151

Diese weite Definition des „Opfers“ ist in mehrfacher Hinsicht eine Errungenschaft. Zunächst einmal hebt sie unabhängig von Art und Umfang der Viktimisierung die Differenzierung zwischen kollektiv und individuell gemachten Leiderfahrungen auf, was mit den in dieser Forschungsarbeit gewonnen theoretischen Erkenntnissen übereinstimmt und sich praktisch gerade auch im Verfahren gegen Al Mahdi gezeigt hat. Noch wichtiger ist jedoch der deutliche Hinweis der Lubanga-Kammer, dass Menschen auch dann als Opfer bestimmter Verbrechen betrachtet werden sollen, wenn die allgemeine Frage der Schuld noch nicht geklärt oder die konkrete Schuldzuschreibung zu einem Täter noch nicht erfolgt ist. Diese Auslegung ebnet den Weg für eine Partizipation der Opfer im gesamten völkerstrafrechtlichen Verfahren, bevor die Schuld des Angeklagten rechtskräftig festgestellt ist; sie legitimiert sogar eine Beteiligung der Opfer bereits in früheren Verfahrensstadien, in denen konkrete Personen noch nicht beschuldigt sind. In den Regulations des TFV wird für die Opfer, die tatsächlich Reparationsleistungen erhalten, mit „Beneficiaries“ ein weiterer Begriff eingeführt, der jedoch keine Änderung des Opferbegriffs beinhaltet, sondern lediglich die Opfer bezeichnet, welche tatsächlich Leistungen aus dem Trust Fund erhalten. Regulation 42 er150 UN General Assembly (2005), Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law, A/60/147, 16. 12. 2005, para. 8; kurz UN Basic Principles. 151 Ebenda, para. 9. Auch wörtlich zitiert in Lubanga (ICC-01/04-01/06), 18. 01. 2008. Schabas verweist noch auf die abweichende, gar weitergehende Meinung von Richter Blattmann, der betonte, dass ein Verweis auf die UN Basic Principles während der Entwicklung des Rom-Status stets diskutiert, aber in der finalen Fassung nicht mehr aufgenommen worden war. Die Entscheidung der Trial Chamber, auf die UN Basic Principles zu verweisen, wurde schließlich von der Lubanga Appeals Chamber bestätigt, siehe ICC-01/04-01/06 OA 9 OA 10, 11. 07. 2008. Hier ein Vergleich zur Definition in den UN Basic Principles von 1985: „,Victims‘“ means persons who, individually or collectively, have suffered harm, including physical or mental injury, emotional suffering, economic loss or substantial impairment of their fundamental rights, through acts or omissions that are in violations of criminal laws operative within Member States, including those laws proscribing criminal abuse of power.“, siehe UN General Assembly (1985), Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crimes and Abuse of Power, A/RES/40/34, 29. 11. 1985, para. 1.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

klärt, dass „(t)he resources of the Trust Fund shall be for the benefit of victims of crimes within the jurisdiction of the Court“. Ein Verweis auf Rule 85 greift an dieser Stelle jedoch auf die ursprüngliche Definition von Opfern in der Verfahrensordnung des IStGH zurück, welche qua Rechtsprechung des Gerichtshofs wie dargelegt durch die UN Basic Principles ergänzt wird. b) Rechte der Opfer Artikel 21 (3) IStGHSt zur Achtung der internationalen Menschenrechte hat einen bindenden Charakter für den IStGH. Mit diesem Artikel verpflichtet die internationale Staatengemeinschaft den Gerichtshof bei Entscheidungen, die Auslegungen von menschenrechtlichen Normen sowie die dazu ergangene Rechtsprechung zu berücksichtigen.152 Damit sind auch die Menschenrechte der Opfer erfasst. Dies gilt in diesem Kontext insbesondere für die Konventionen, welche das Menschenrecht auf Reparationen enthalten. Dessen Ursprünge gehen auf Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zurück. Im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte erklärt Artikel 2, „any person whose rights or freedoms as herein recognized are violated shall have an effective remedy“. Der korrespondierende General Comment stellt schließlich eine Verbindung zwischen „remedy“ und „reparations“ her und erklärt „Article 2, paragraph 3 requires that States Parties make reparation to individuals whose Covenant rights have been violated.“153 Die UN Anti-Folterkonvention (Art. 14), die UN Anti-Rassismuskonvention (Art. 6), die UN Kinderrechtskonvention (Art. 39) und Artikel 24 (4) der UN Konvention gegen Verschwindenlassen formulieren das Recht auf Reparationen. Gerade letztere mit den Worten „Each state party shall ensure in its legal system that the victims of enforced disappearance have the right to obtain reparation and prompt, fair and adequate compensation“ ist die deutlichste menschenrechtliche Verankerung. In der Rechtsprechung des IStGH hat die Berufungskammer des Lubangaverfahrens bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 2006 folgende bedeutende Interpretation festgehalten: „Human rights underpin the Statute; every aspect of it, including the exercise of the jurisdiction of the Court. Its provisions must be interpreted and more importantly applied in accordance with internationally recognized human rights.“154 Dies entspricht der Ansicht des Völkerstrafrechtlers Otto Lagodny, der bereits 2001 in Bezug auf des IStGH erklärte, dass das Ziel von In-

152 Zeegers, K. (2016), International Criminal Tribunals and Human Rights Law. The Hague: T. M. C. Asser Press, S. 64 – 90. 153 UN CCPR, General Comment No. 31, 2004, CCPR/C/21/rev.1/Add.13, para. 16. 154 AC Lubanga, Judgement on the Appeal of Mr. Thomas Lubanga Dyilo against the Decision on the Defense Challenge to the Jurisdiction of the Court pursuant to Article 19 (2)(a) of the Statute of 3 October 2006, 14. 12. 2006, ICC-01/04-01/06-772, para. 37.

V. IStGH als Anerkennungsort des „Opferseins“

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ternationalem Strafrecht ein „victim-oriented retributive concept embedded in human rights“ sei.155 Folgerichtig erlaubt Artikel 21 (3) dem IStGH keinen Entscheidungsspielsraum, sondern gilt als verpflichtend bei der Anwendung und Auslegung aller Normen des IStGHSt. Mit den Worten von Daniel Sheppard könnte Artikel 21 (3) gar als „quasiconstitutional provision“ des IStGHSt bezeichnet werden.156 In dieser menschenrechtlich-positiven Interpretation von Artikel 21 (3) gehören zu den unmittelbar anwendbaren mindestens diejenigen Rechtsdokumente, die Artikel 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs als „applicable international law“ beschreibt: (a) internationale Konventionen, die allgemein gehalten sind oder besondere Menschenrechte oder Gruppen schützen; (b) internationales Völkergewohnheitsrecht; (c) allgemeine Rechtsgrundsätze, die von demokratischen Staaten akzeptiert sind; (d) internationale, regionale und nationale Rechtsprechungen sowie relevante akademische Veröffentlichungen.157 In der bisherigen Rechtsprechung hat der IStGH noch nicht eindeutig definiert, ob die Formulierung „international recognized human rights“ von Artikel 21 (3) lediglich die UN Menschenrechtskonventionen, die regionalen Menschenrechtskonventionen und die dazugehörige Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichtshöfe umfasst oder auch die Empfehlungen und General Comments der UN Treaty Bodies. Allerdings spricht der Umstand, dass der Gerichtshof zur Ausfüllung des Opferbegriffs auf die UN Basic Principles zurückgegriffen hat, dafür, dass die Kammern tendenziell zu einer weiteren Interpretation neigen könnten. Freilich gibt es Stimmen, die letzteres nicht in Betracht ziehen wollen und eine engere Auslegung von Artikel 21 (3) fordern.158 Diese lassen jedoch außer Acht, dass dieser Artikel ohne jede Einschränkung fordert, dass die Anwendung und Auslegung des Rechts des IStGH mit international anerkannten Menschenrechten übereinstimmen muss. Dazu gehören jedenfalls die Rechtsdokumente, die das IStGHSt selbst in Artikel 38 für anwendbar erklärt. Dies spricht für eine weite Auslegung, die sich über die im internationalen Recht kodifizierten Menschenrechte hinaus auch auf deren inhaltliche Bestimmung durch Menschenrechtsgerichtshöfe erstreckt und die General Comments und Empfehlungen der UN Treaty Bodies zumindest als Auslegungshilfe hinzuzieht. Das allen Menschenrechten übergeordnete Ziel ist die Menschenwürde. In der Akzeptanz als Rechtssubjekt des Rechts auf Reparationen bringt die internationale Rechtsgemeinschaft die Achtung der Menschenwürde im Opfersein zum Ausdruck. In den 2006 durch die Vereinten Nationen angenommenen UN Basic Principles wird der Auftrag erteilt: „victims should be treated with humanity and respect for their 155 Lagodny, O. (2001), Legitimation und Bedeutung des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofes, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 113(4), S. 800 – 826. 156 Sheppard, D. (2010), The International Criminal Court and „Internationally Recognized Human Rights“: Understanding Article 21 (3) of the Rome Statute, in: International Criminal Law Review 10, S. 43 – 71, S. 46. 157 Artikel 38 (1), Statute of the International Court of Justice. 158 Sheppard (2010), S. 52 – 54.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

dignity and human rights“.159 Damit wird die Achtung der Würde zum unabdingbaren Bestandteil des Umgangs mit Opfern völkerstrafrechtlicher Verbrechen erklärt. Von herausgehobener Bedeutung ist für Menschen, die Opfer internationaler Straftaten im Rahmen der Zuständigkeit des IStGH geworden sind, sodann der Anspruch auf drei fundamentale Rechte: das Recht auf Wahrheit, das Recht auf Gerechtigkeit und das Recht auf Reparationen.160 Besonders die Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs hat in der Vergangenheit nicht nur mehrfach demonstriert, dass alle diese drei Rechte eng miteinander verwoben sind, sondern, dass das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit Bestandteil des Rechts auf Reparationen ist.161 Als elementar zeigt sich für Opfer das Recht auf Wahrheit. Es findet seinen Ursprung beim Verbrechen des Verschwindenlassens und den Forderungen von Angehörigen, die Wahrheit über das Schicksal ihrer Familienmitglieder zu erfahren. Während der Straftatbestand des „gewaltsamen Verschwindenlassens“ heute nicht nur Gegenstand einer Konvention und kodifiziertes Recht im IStGHSt ist, entwickelte sich das Recht auf Wahrheit in Bezug auf andere schwere Menschenrechtsverletzungen weiter. Der UN Menschenrechtsrat stellte einen Bezug zu Reparationsleistungen her und erklärte „(t)he payment of monetary compensation without full public exposure of the truth is not sufficient to discharge this obligation.“162 Das Recht auf Wahrheit ist primäres Interesse der nahestehendsten Familienmitglieder und Angehörigen, es erstreckt sich aber auch die (inter)nationale Gemeinschaft. Die gewünschten Effekte auf die Umsetzung des Rechts auf Wahrheit unterscheiden sich jedoch zwischen Opfern und internationaler Gemeinschaft. Während Opfer durch Wahrheit ein Ende der Ungewissheit und persönliche Genugtuung erfahren können, betont der Interamerikanische Menschenrechts-Gerichtshof in Bezug auf die internationale Staatengemeinschaft das Ziel der Präventivwirkung: „Society has the right to know the truth regarding such crimes, so as to be capable of preventing them in the future.“163 Internationale Organisationen, wie 159

UN General Assembly (2005), Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparations for Victims of Cross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law, Resolution 147, A/RES/60/147; 13IHRR 907, 2006. 160 Ebenda. 161 IACtHR, Blake v. Guatemala, Judgement, 22. 01. 1999, Series C, No. 48, para. 97; Caracazo v. Venezuela, Reparations and Costs, 29. 08. 2002, IACtHR, Series C, No. 95, para. 118. 162 UN Human Rights Council (2013), Report of the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, Framework Principles for securing the accountability of public official for gross or systematic human rights violations committed in the contect of State counterterrorism initiatives, 01. 03. 2013, A/HRC/22/52, para. 23. 163 IACtHR, Bamaca-Velasquez v. Guatemala, ,reparations and costs‘, 22. 02. 2002, Series C, No. 91, para. 78.

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der IStGH, können der Aufgabe nach Ermittlung von Wahrheit nachkommen, wenn ein Staat kein Interesse an der Aufklärung der Wahrheit hat. Wahrheitskommissionen, internationale Straftribunale und andere internationale Untersuchungskommissionen können und müssen in diesem Fall die eigentliche staatliche Aufgabe übernehmen und die Wahrheitsermittlung voranbringen. Zu diesem Ergebnis kam der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im Urteil El Masri gegen die frühere jugoslawische Republik Mazedonien. Erstmals hatte der EGMR darin ein Interesse der „general public who had the right to know the truth“ unter Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention bescheinigt.164 Die Wahrung des Menschenrechts auf Wahrheit mit seiner individuellen und internationalen-kollektiven Dimension soll auch dazu führen, Straflosigkeit zu verhindern und den Glauben der betroffenen Opfer wie der Staatengemeinschaft an Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Dazu gehört auch die prinzipielle Achtung des zweiten wichtigen Menschenrechts für Opfer: das Recht auf Gerechtigkeit, das schon durch Artikel 2 des UN Zivilpaktes kodifiziert wurde.165 Dieses garantiert Opfern schwerster Verbrechen Zugang zu einem Gericht und die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Durch die Strafverfolgung der Verbrechen, die unter die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen, setzt der Gerichtshof das Recht auf Gerechtigkeit um. Hierzu gehört in erster Linie die Ermittlung der Verbrechen, ein faires Gerichtsverfahren und die Bestrafung des schuldigen Täters. Dass die Durchführung eines fairen Verfahrens auch für Opfer gilt, hat wiederum der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich festgehalten. In der Reparationsentscheidung Loayza Tamayo gegen Peru wurde erklärt, dass der Zugang zur Gerichtsbarkeit für alle Individuen schnell und einfach in Anspruch genommen werden soll, sei es für diejenigen die aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden sollen, aber auch für diejenigen, die Reparationen für die erlittenen Schäden erhalten sollen.166 Die Strafverfolgung eines Täters und dessen Rechte werden mit dieser Entscheidung gleichgestellt mit dem Anspruch von Opfern, Reparationen zu erhalten. In anderen Entscheidungen ging der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof sogar noch einen Schritt weiter und beurteilte die Strafverfolgung und Bestrafung von Tätern als eigenständige Form von Reparationsleistungen. „The Court indicated that the Judgement on the Merits should be considered itself a type of reparation and give significant moral satisfaction to the families of the victims as the Judgement recognized the State’s violation of Mr. Velásquez Rodríguez’s human rights.“167 Diese Position der Richter_innen im bereits ausführlich skizzierten Fall Velásquez Rodríguez findet sich auch in anderen Entscheidungen des lateinamerikanischen 164

ECtHR, El Masri v. the former Yugoslav Republic of Macedonia, Application No. 39630/09, Judgement 13. 12. 2012, para. 191. 165 Art. 2, International Covenant on Civil and Political Rights (1966), (hier kurz: ICCPR). 166 IACtHR, Loayza Tamayo v. Peru, Reparations, 27. 11. 1998, Series C, No. 88, para. 168. 167 IACtHR, Velásquez Rodríguez v. Honduras, Reparations, Costs, Judgement, 21. 07. 1989, ser. Ck, No. 7.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

Gerichtshofes. Diese Auffassung entspricht zwar nicht dem Normengefüge des IStGHSt, das Wahrheitsermittlung und Schuldfeststellung im Hauptverfahren und Reparationen, die hierauf aufbauen, als unterschiedliche Verfahrensabschnitte behandelt und voneinander trennt. Aus menschenrechtlicher Sicht trifft jedoch die Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs den Kern dessen, was das Menschenrecht auf Gerechtigkeit in Reparationsprozessen am IStGH ausmacht: Die Anerkennung der Opferwerdung durch Wahrheit und Feststellung der individuellen Schuld in einem gerichtlichen, offiziellen und transparenten Verfahren. Es lässt sich somit festhalten, dass das Recht auf Gerechtigkeit und das Recht auf Wahrheit unabdingbare Voraussetzungen für das Menschenrecht auf Reparationen sind. Dies gilt gerade auch am IStGH, der mit seinen aufwendigen Verfahren einen wesentlichen Beitrag zur Wahrheitsermittlung leisten vermag. Alle erhobenen Beweise unterliegen der kritischen Überprüfung durch Parteien und Richter_innen in einem rechtsstaatlichen Prozess. Die Aussagen von Opferzeugen und Zeuginnen erfolgen zudem unter Eid, weshalb sie selbst strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden können, sofern sie nicht die Wahrheit sagen. Die unter diesen formalisierten Voraussetzungen gewonnenen Erkenntnisse des Gerichts besitzen hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes eine höhere Zuverlässigkeit als etwa solche von Wahrheitskommissionen, vor denen unwahre oder zumindest „geschönte“ Angaben keine strafrechtlichen Konsequenzen haben. Am Ende eines Verfahrens steht am IStGH im Falle einer Verurteilung des Angeklagten eine ausdrückliche und begründete Schuldfeststellung. Damit wird einem essenziellen Anliegen der Opfer entsprochen, für die die Schuldzurechnung des erlittenen Leids zu einer konkret verantwortlichen Person unabdingbar für die Anerkennung des Opferseins ist. Zugleich wird die Akzeptanz, die strafrechtliche Aufarbeitung als gerecht zu empfinden, erhöht.168 Diese enge Verwobenheit zwischen Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparationen hat auch der IACtHR immer wieder verdeutlicht: „the reparations that must be made by the State necessarily include effectively investigating the facts, punishing all those responsible, and disseminating the results of the investigation. (…) The right that every person has to the truth (…) is a means of reparations“.169 Für die Reparationen selbst gilt, dass sie mit Blick auf die Schwere der erlittenen Opferwerdungen von Menschen internationaler Straftaten verhältnismäßig sein müssen. Hierzu wurden in den Basic Principles fünf grundlegende Richtlinien festgehalten, wonach Reparationen (a) die Rückerstattung des Zustands vor der Viktimisierung garantieren sollen, (b) finanzielle Entschädigung, (c) Rehabilitation (dies umfasst medizinische wie psychologische Versorgung), (d) Genugtuung sowie (e) Garantien der Nicht-Wie-

168

Siehe Kap. III. 2. d). IACtHR, Bamaca-Velasquez v. Guatemala, ,reparations and Costs‘, 22. 02. 2002, Series C, no. 91, paras. 73, 76. 169

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derholung.170 Im Reparationsurteil Velásquez Rodríguez wurden folgende ergänzende Gesichtspunkte erfasst: „reparations of harm (…) includes the restoration of the prior situation, the reparation of the consequences of the violation, and indemnification for patrimonial and non-patrimonial damages, including emotional harm.“171 Die Rechtsprechung der Internationalen Menschenrechtsgerichtshöfe, insbesondere des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes, hat eine immense Vorarbeit zur Durchsetzung der Menschenrechte auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Reparationen von Opfern geleistet. Der IStGH sollte diese vorhandene Rechtsprechung zur Durchsetzung der Opferrechte hinsichtlich Beteiligung und Reparationen besser als bisher berücksichtigen. Dies stünde zudem im Einklang mit dem Ziel des IStGHSt, künftige Massenverbrechen verhindern zu wollen. c) Rechte des Angeklagten Ein völkerstrafrechtliches Verfahren kann nur dann den Anspruch erheben, Anerkennungsprozess für Opfer schwerster Taten zu sein, wenn es ebenso vollständig die Würde und Rechte des angeklagten Täters wahrt. Grundlage der Rechte des Angeklagten ist die Gleichheit vor dem Gesetz. Diese Gleichheit wird jedem Angeklagten als menschenrechtliche Norm vom ersten Verdachtsmoment über den Haftbefehl und die Anklage hinaus bis zum Strafspruch gewährt.172 Sie findet ihren Ausdruck auch in der Einleitung zu Art. 67 (1) IStGHSt welcher dem Angeklagten seine Mindestrechte „in full equality“ zusichert. Dieses Recht bleibt für die verurteilte Person während der Reparationsphase bestehen wie sich aus einer Entscheidung im Verfahren gegen Thomas Lubanga ergibt.173 Erst das Wissen um die ihm zustehenden Rechte eröffnet dem Angeklagten die Möglichkeit, von ihnen Gebrauch zu machen. Die Aufklärungspflicht über die Rechte – unabhängig davon, ob der Betroffene je nach Verfahrensstadium Verdächtiger, Angeklagter, Verurteilter oder im Reparationsstadium Haftender ist – liegt grundsätzlich beim IStGH. Während seines ersten Erscheinens vor Gericht wurde Al Mahdi dementsprechend informiert. Dazu gehörte vor allem auch die Aufklärung

170

Artikel 9, UN General Assembly (2006), Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparations for Victims of Cross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law, Resolution 147, A/RES/60/147; 13IHRR 907. 171 IACtHR, Velásquez Rodríguez v. Honduras, Reparations, Costs, Judgement, 21. 07. 1989, ser. Ck, No. 7, para. 26. 172 Zappalà, S. (2003), Penalties, Enforcement Mechanisms, and the Rights of the Convicted, in: Human Rights in International Criminal Proceedings. Oxford, S. 195 – 217, S. 217. 173 TC I, Lubanga, 31. 08. 2011, ICC-01/04-01/06-2800, para. 45, Trial Chamber I ,Decision reviewing the Registry’s decision on legal assistance for Mr Thomas Lubanga Dyilo pursuant to Regulation 135 of the Regulations of the Registry‘ 31 August 2011.

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über die ihm vorgeworfenen Verbrechen,174 da dies die Grundlage jeder Verteidigung bildet. Die grundlegende Vorschrift, welche die Rechte des Angeklagten sichert, findet sich wie erwähnt in Artikel 67 IStGHSt. Wie sich aus dem Einleitungssatz des Artikels ergibt, sind darin internationale menschenrechtliche Mindeststandards normiert, welche durch weitere Vorschriften des Statuts ergänzt werden.175 Ihr übergeordnetes Ziel ist es, dem Angeklagten ein faires und unparteiisches Verfahren zu garantieren. Das Konzept des „fairen Verfahrens“ ist in zahlreichen internationalen und regionalen Menschenrechtsverträgen verankert.176 Als Prinzip der sogenannten Waffengleichheit zwischen den beteiligten Parteien versteht der General Comment Nr. 32 des UN Menschenrechtsausschusses „that the same procedural rights are to be provided to all the parties unless distinctions are based on law and can be justified on objective and reasonable grounds, not entailing actual disadvantage or other unfairness to the defendant.“177 Das aus der angloamerikanischen Rechtstradition entlehnte Prinzip des fairen Verfahrens ist damit auf die Balance, die sog. Waffengleichheit, zwischen den klassischen Prozessparteien Anklage und Verteidigung ausgelegt. Es verfolgt dagegen nicht das Ziel, eine Balance zwischen dem Angeklagten und seiner Verteidigung einerseits und der Opferseite andererseits herzustellen. Die Beteiligung der Opfer am Verfahren des IStGH macht es allerdings notwendig, das Prinzip des fairen Verfahrens auch im Verhältnis zwischen der Verteidigung und Opfervertretung zu regeln. Artikel 64 (2) des IStGHSt bestimmt insoweit als eine Aufgabe der Hauptverfahrenskammer „to ensure that a trial is fair and expeditious and is conducted with full respect for the right of the accused and due regard for the protection of victims and witnesses“.178 Zwar hat die Kammer danach nicht die offiziellen Prozessparteien, sondern auch den Schutz von Opfern und Zeuginnen in den Blick zu nehmen. Ein inhaltlich unbedingtes Recht auf Opferbeteiligung und Entschädigung wird den Opfern damit allerdings nicht gewährt. Vielmehr wird den Rechten der Angeklagten insofern Vorrang gegenüber denjenigen der Opfer eingeräumt, als sie in vollem Umfang und damit uneingeschränkt zu respektieren sind. Dies ergibt sich auch aus Artikel 68 (3), der sich explizit zur Opferbeteiligung äußert und daher als „klassi174

PTC I, Al Mahdi, ICC-01/12-01/15-T-1-ENG, Transcript vom 30. 09. 2015, S. 7 f. „In the determination of any charge, the accused shall be entitled to a public hearing, having regard to the provisions of this Statute, to a fair hearing conducted impartially, and to the following minimum guarantees, in full equality“., Art. 67 (1) IStGHSt. 176 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte erachtet es in Artikel 10 als essenzielle Norm, ebenso der Internationale Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte in Artikel 14. In Europa findet sich eine Verankerung in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, genauso wie in Artikel 6 der Afrikanischen Menschenrechtscharta für Afrika, siehe Art. 10 UDHR, Art. 14 ICCPR, Art. 6 EMRK, Artikel 7 ACHPR. 177 UN Human Rights Committee ,General Comment No. 32; Article 14: Right to equality before courts and tribunals and to a fair trial, 23. 08. 2007 CCPR/C/GC/32, para. 13. 178 Art. 64 (2) IStGHSt. 175

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sches Opferrecht“ eingestuft werden kann. Auch in dieser Vorschrift wird deutlich, dass die „views and concerns“ der Opfer im Verfahren zwar berücksichtigt werden können und sollten, dass dies aber nicht zwingend ist. Vielmehr werden auch hier die Rechte der Angeklagten vorrangig betont. Denn jede Form der Beteiligung der Opfer am Verfahren steht unter dem Vorbehalt, dass sie mit den Rechten des Angeklagten auf ein faires und unparteiisches Verfahren im Einklang stehen.179 Konkret sichert Artikel 67 (1) IStGHSt dem Angeklagten eine Reihe von Rechten zu, die internationalen menschenrechtlichen und strafrechtlichen Standards entsprechen. Im Folgenden soll auf die Einzelrechte eingegangen werden, welche im Fall Al-Mahdi verfahrensrechtlich eine Rolle gespielt haben. Ein wesentlicher Bestandteil der gebotenen Fairness des Prozesses ist, dass die einzelnen Anhörungen während des Hauptverfahrens öffentlich erfolgen. Die Öffentlichkeit besitzt eine Kontrollfunktion für die Rechtmäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Transparenz und Öffentlichkeit der internationalen Strafverfahren werden auch an anderen Stellen des IStGHSt garantiert, beispielsweise in Artikel 64 (7). Ein Ausschluss der Öffentlichkeit, die etwa zum Schutz der Opfer, aber auch des Angeklagten notwendig werden kann, muss die Ausnahme sein.180 Im Fall Al-Mahdi fand dem entsprechend an drei Tagen eine öffentliche Hauptverhandlung statt.181 Die weiteren Rechte, die Artikel 67 IStGHSt dem Angeklagten zusichert, sind ein Spiegelbild der menschenrechtlichen Normen von Artikel 14 des UN Zivilpakts. Artikel 67 (1)(a) räumt dem Angeklagten das Recht ein, in einer ihm verständlichen Sprache über die vorgeworfenen Verbrechen informiert zu werden. Ergänzt wird dies durch Artikel 67 (1)(f) wo dem Angeklagten das Recht auf einen Dolmetscher und Übersetzung der wesentlichen Dokumente eingeräumt wird.182 Das Recht, dem Verfahren in einer von ihm sicher beherrschten Sprache folgen zu können, ist deshalb so wichtig, weil es dem Angeklagten erst den Zugang zu seinen anderen Rechten ermöglicht. Es gilt auch während der Reparationsphase des Verfahrens. Im Übrigen muss die Übersetzung dem Angeklagten kostenfrei ermöglicht werden und darf auch nicht die möglichen Reparationsleistungen der Opfer schmälern. Dieses Recht erlangte praktisch im Verfahren Al Mahdi eine besondere Bedeutung, da der Beschuldigte keine der beiden Arbeitssprachen des Gerichthofes, d. h. Englisch oder Französisch, sondern Arabisch spricht.183 Für das Verfahren bedeutete dies, dass dem Angeklagten die wesentlichen Dokumente, aus denen sich die strafrechtlichen Vorwürfe gegen ihn ergaben, in die arabische Sprache zu übersetzen waren, ferner, dass bei den Anhörungen für ein simultanes Dolmetschen zu sorgen war.184 179

Art. 68 (3) IStGHSt. Art. 64 (7) IStGHSt. 181 TC VIII, Al Mahdi, Transcripts vom 22. – 24. 08. 2016. 182 Art. 67 (1)(f) IStGHSt. 183 Art. 50 (2) IStGHSt, siehe ICC-01/12-01/15-T-1-ENG, Transcript vom 30. 09. 2015, S. 3; siehe Art. 60 (1) IStGHSt. 184 ICC, 42 RPE. 180

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Um sich ausreichend auf das Strafverfahren vorbereiten zu können, gewährt Artikel 67 (1)(b) dem Angeklagten den Zugang zu den Beweisen und Dokumenten, aus denen sich die strafrechtlichen Vorwürfe gegen ihn ergeben sowie das Recht auf ausreichende Zeit und notwendige Ausstattung für seine Verteidigung sowie auf vertrauliche Kommunikation mit seinem Anwalt. Dementsprechend beauftragt Rule 20 (1)(e) der Verfahrensregeln den Registrar, sicherzustellen, dass die Verteidigung sämtliche Zugangsrechte erhält, um sich ihre Verteidigungsstrategie für den Angeklagten zu erarbeiten. Artikel 67 (1)(c) gesteht dem Angeklagten das Recht zu, „to be tried with undue delay“ und normiert damit den Beschleunigungsgrundsatz, der auch in menschenrechtlichen Rechtsrahmen eine herausragende Bedeutung besitzt.185 Dies beruht vor allem darauf, dass die Zeit der Untersuchungshaft des bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig geltenden Angeklagten so kurz wie nach den Umständen nur möglich sein soll.186 Dem IStGH wurde oft durchaus zu Recht vorgeworfen, dass seine Verfahren gerade nicht mit der danach gebotenen Beschleunigung durchgeführt wurden.187 Im Fall Al-Mahdi hat dieser Gesichtspunkt allerdings keine Rolle gespielt. Vor allem auch weil der Angeklagte ein vollumfängliches Geständnis abgelegt hatte, wurde das Verfahren gegen ihn von der Überstellung an den Gerichtshof am 18. September 2015 bis zum rechtskräftigen Urteil am 27. September 2016 nach internationalen strafgerichtlichen Maßstäben gemessen in Rekordzeit durchgeführt. Allerdings ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass es – abgesehen vom Fall Al Mahdi – in völkerstrafrechtlichen Verfahren gerade mit Blick auf den Beschleunigungsgrundsatz zum Konflikt zwischen den Menschenrechten des Angeklagten und denjenigen der Opfer kommen kann. Dies betrifft die Diskussion über das Aussetzen eines Verfahrens wegen der Verletzung von Verteidigungsrechten. Kritik wird von Opferseite schon grundsätzlich wegen der Länge von Verfahren am IStGH vorgebracht. Das Aussetzen eines laufenden Verfahrens auf Antrag einer der beiden Hauptprozessparteien stellt insoweit jedoch noch einmal eine Steigerung dar, da es nicht nur zu einem partiellen Stillstand führt, sondern darüber hinaus ein Element der Ungewissheit des Ausgangs für Opfer mit sich bringt. So hatte die Hauptverfahrenskammer im Verfahren gegen Thomas Lubanga das Aussetzen des Verfahrens entschieden. Ein Opfervertreter hatte selbige Entscheidung als „dispro185

Siehe Art. 5 und 6 (1) EMRK. Der UN Menschenrechtsausschuss interpretierte diese grundlegende menschenrechtliche Norm „not only designed to avoid keeping persons too long in a state of uncertainty about their fate and, if held in detention during the period of the trial, to ensure that such deprivation of liberty does not last longer than necessary in the circumstances of the specific case, but also to serve the interest of justice.“, UN Human Rights Committee ,General Comment No. 32; Article 14: ,Right to equality before courts and tribunals and to a fair trial‘, 23 August 2007 CCPR/ C/GC/32, para. 35. 187 Henzelin, M./Rordorf, H. (2014), When does the length of criminal proceedings become unreasonable according to the European Court of Human Rights?, in: New Journal of European Criminal Law 5(1), S. 78 – 109; Ford, S. (2014), Complexity and Efficiency at International Criminal Courts, in: Emory International Law Review 29, S. 1 – 69. 186

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portionate, premature and unjustified“ bezeichnet. Durch ein Aussetzen eines Verfahrens würde Opfern ihr erstes grundlegendes Recht auf Zugang zur Justiz verweigert werden, so die Argumentation des Opferanwalts.188 Die Berufungskammer folgte dem und hob die Aussetzung des Verfahrens auf.189 Die Aussetzung widerspräche den Grundprinzipien der Präambel des Rom-Statuts. Sie sei eine außerordentliche Maßnahme und daher nur in absoluten Ausnahmefällen zulässig, und zwar dann, wenn die Gefahr besteht, dass kein faires Verfahren mehr durchgeführt und die Angeklagtenrechte nicht garantiert werden könnten.190 Dem Angeklagten steht das Recht zu, während des Verfahrens anwesend zu sein und seinem Verteidiger Anweisungen zu geben. Sofern der Angeklagte nicht über ausreichende eigene finanzielle Mittel verfügt, sichert ihm Artikel 67 (1)(d) finanzielle Hilfe zu, um den Rechtsbeistand zu bezahlen.191 Sollte der Angeklagte keine eigene Verteidigung gewählt haben, ist klar geregelt, wie weiter vorgegangen werden muss, um einen Rechtsbeistand zu nominieren.192 Die Wahl eines Rechtsbeistandes betrachtet auch der UN Menschenrechtsausschuss als einen sehr wesentlichen Aspekt der Angeklagtenrechte: „The availability or absence of legal assistance often determines whether or not a person can access the relevant proceedings or participate in them in a meaningful way.“193 Art. 67 (1)(e) IStGHSt gibt dem Angeklagten neben dem Recht, eigene Beweismittel vorzubringen,194 das Recht, die gegen ihn vorgebrachten Zeugen und Zeuginnen zu befragen oder durch seinen Anwalt befragen zu lassen. Dieses sogenannte Konfrontationsrecht ist wesentlicher Bestandteil einer effektiven Verteidigung und entspricht menschenrechtlichen Standards.195 Es ist zugleich das Recht des Angeklagten, das am deutlichsten in Opferrechte eingreift, sofern das Opfer auch als Zeuge oder Zeugin in dem Verfahren auftritt. Es bedeutet, dass ein Opferzeuge oder eine Opferzeugin die Befragung durch die Verteidigung nicht vermeiden kann, 188 Observations of Victims represented by Mr Walleyn, para. 15, zitiert in: AC Lubanga, ICC-01/04/-01/06 OA 18, 08. 10. 2010, para. 41. 189 AC Lubanga, 08. 10. 2010, ICC-01/04/-01/06 OA 18, para. 55. 190 Ebenda, para. 61. 191 Der Verteidiger muss grundsätzlich gewisse Qualifikationen und Erfahrungen vorweisen, um für die Verteidigung in Betracht zu kommen. So muss er auf einer Liste des IStGH stehen, welche Verteidiger erfasst, die Erfahrung mit internationalen Strafverfahren haben, siehe List of Counsels https://www.icc-cpi.int/about/registry/Pages/list-of-counsel.aspx (Stand 1. 9. 2020). 192 ICC, Rules 22, 20 (3), 21, RPE. 193 UN Human Rights Committee ,General Comment No. 32; Article 14: Right to equality before courts and tribunals and to a fair trial‘, 23. 12. 2007, CCPR/C/GC/32, para. 10. 194 Schabas, W. A./Dermott, Y. (2016), Article 67 (1)(e), in: The Rome Statute of the International Criminal Court. Triffterer (2016), para. 36. 195 Vgl. etwa Art. 6 III (d) EMRK. Der UN Menschenrechtsausschuss garantiert das Recht zur Zeugenbefragung durch einen Angeklagten auch ausdrücklich im General Comment No. 32, siehe UN Human Rights Committee ,General Comment No. 32, Article 14: Right to equality before courts and tribunals and to a fair trial‘, 23. 08. 2007, CCPR/C/GC/32, para. 13.

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auch wenn die Konfrontation mit dem Angeklagten eine zusätzliche psychische Belastung darstellt, zumal dabei die Darstellung des Zeugen regelmäßig in Zweifel gezogen wird. Darüber hinaus dürfen mögliche Schutzmaßnahmen, um die Identität einer Opferzeugin geheim zu halten, dem Angeklagten keinen Nachteil verschaffen und dürfen nicht im Widerspruch zu einem fairen Verfahren stehen. Dies kann aber mit dem Schutz- und Sicherheitsbedürfnis von Opferzeuginnen und Zeugen kollidieren, die fürchten, dass ihre Aussage sie oder ihre Familie gefährden könnte. Zahlreiche prozessuale Regulierungen in den Verfahrensregeln des Gerichtshofes sollen allerdings dazu beitragen, dass das Angeklagtenrecht gesichert wird bei gleichzeitig bestmöglichem Schutz der Opfer. So sind etwa Befragungen von Opferzeuginnen via Video-Link zulässig; auch dürfen frühere Zeugenaussagen unter bestimmten Voraussetzungen in die Verhandlung eingeführt werden.196 Im Fall AlMahdi spielten derartige Abwägungen zwischen dem Konfrontationsrecht des Angeklagten und Zeugenschutzmaßnahmen keine Rolle, da die Anklagebehörde im Hauptverfahren wegen des Geständnisses des Angeklagten keine Opferzeuginnen benannt hatte, sondern nur Experten-Zeugen.197 Jeder Angeklagte hat ferner das Recht, zu schweigen, ohne dass dies gegen ihn verwandt werden darf.198 In der Freiheit, freiwillig auszusagen oder zu schweigen liegt ein fundamentaler menschenrechtlicher Grundsatz. Im Fall Al Mahdi hat sich der Angeklagte schuldig bekannt. Dadurch fiel es in den Aufgabenbereich der Hauptverfahrenskammer darüber zu entscheiden, wie mit diesem Schuldbekenntnis weiter umzugehen ist.Dies ist ausdrücklich in Art. 65 IStGHSt geregelt.199 Während des Reparationsverfahrens gibt es keine klar definierten Rechte im Rom-Statut, die nur für den verurteilten Täter gelten. In diesem Stadium ist die Rechtsstellung der Opfer im Verhältnis zum Angeklagten deutlich aufgewertet. Dennoch gibt es Rechte des Verurteilten, die gewährleistet werden müssen. Vor allem gelten in der Reparationsphase weiterhin das Recht auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren. d) Recht auf Reparationen im Rom-Statut Die wichtigste normative Verankerung des Rechts auf Reparationen für Opfer im IStGHSt findet sich in Artikel 75, der in sechs Paragraphen die Aufgaben des Ge196

So können etwa unter den Voraussetzungen des Art. 56 IStGHSt sowie Rule 68 (1) im Ermittlungsverfahren unter Wahrung der Verteidigungsrechte durchgeführte Vernehmungen in die Hauptverhandlung eingeführt werden; dies gilt gleichermaßen für Vernehmungsprotokolle in den in Rule 68 (2) und (3) genannten Fällen. ICC-ASP/12/Res.7 listet eine Reihe weiterer möglicher Szenarien auf unter Sicherung der Angeklagtenrechte. 197 Der Angeklagte hätte allerdings die Möglichkeit gehabt, die von der Hauptverfahrenskammer gehörten Zeugen in der Hauptverhandlung zu befragen. Al Mahdi’s Verteidigung machte von diesem Recht aber keinen Gebrauch, siehe TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 22. 08. 2016, S. 3. 198 Art. 67 (1)(g) IStGHSt. 199 Siehe Kap. VI. 2. a).

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richtshofes bestimmt. Inwiefern Artikel 75 zugleich den wichtigsten, rechtlichen Referenzpunkt für das Recht auf Reparationen am IStGH liefert, soll im Folgenden durch die Auslegung der Norm200 ermittelt werden. Der Gerichtshof wird in Art. 75 (1) verpflichtet, Grundsätze zu Reparationen aufzustellen, die an die Opfer oder in Bezug auf die Opfer zu leisten sind: „The Court shall establish principles relating to reparations to, or in respect of, victims, including restitution, compensation and rehabilitation. On this basis, in its decision the Court may, either upon request or on its own motion in exceptional circumstances, determine the scope and extent of any damage, loss and injury to, or in respect of, victims and will state the principles on which it is acting.“201

Wie diese Grundsätze („principles“) lauten sollen, wird hingegen im IStGHSt nicht vorgegeben. Es war weder während der Rom-Konferenz 1998 noch in den ersten Jahren nach In-Kraft-Treten des Statuts gelungen, eine Einigkeit über derartige Grundsätze zu erzielen. Einheitliche, Fälle-übergreifende Prinzipien, die das Recht auf Reparationen für Opfer verbindlich regeln, gibt es daher nicht. Aus einer rein wörtlichen Lesart von Artikel 75 lässt sich auch nicht direkt folgern, welches Organ des Gerichtshofes für die Aufstellung dieser Grundsätze zuständig ist. In allen Paragraphen des Artikels wird stets „the Court“ als gesamte Institution genannt. Dies würde es daher theoretisch ermöglichen, alle Organe des Gerichtshofs in die Ausgestaltung der Grundsätze einzubeziehen. Dieser Gedanke wäre besonders in Bezug auf diejenigen Organe und Arbeitseinheiten interessant, die unmittelbaren Kontakt mit den Opfern und damit eine besondere Expertise haben: die Victims Participation and Reparation Section der Kanzlei sowie der Trust Fund for Victims. Allerdings ist Artikel 75 systematisch in Kapitel 6 eingeordnet, welches das Hauptverfahren („Trial“) beschreibt, für dessen Durchführung die Hauptverfahrenskammern zuständig sind.202 Außerdem steht Artikel 75 zwischen Artikel 74 („Requirements for the decision“) und Artikel 76 („Sentencing“), die sich als aufeinander folgende Verfahrensabschnitte explizit an die Trial Chambers richten. Aufgrund dieser Zuordnung nimmt Donat-Cattin naheliegend an, dass es in erster Linie den Trial Chambers zufällt, die in Artikel 75 (1) geforderten Prinzipien zu formulieren. Die Kammern erhalten dadurch einen großen Freiraum zur Ausgestaltung dieser Grundsätze, mit dem sie richtungsweisend die Reparationen für Opfer bestimmen sollen.203 Der zweite Satz von Paragraph eins gibt dem Gerichtshof noch weitere Entwicklungsmöglichkeiten, die Reparationspolitik für die Opfer inhaltlich zu gestalten, indem das Recht eingeräumt wird, „den Umfang und das Ausmaß des Schadens,

200

Art. 31, Art. 32 Vienna Convention on the Law of Treaties (1980). Art. 75 (1) IStGHSt. 202 Die Aufgaben und Befugnisse der Trial Chamber, bzw. Hauptverfahrenskammer in der Deutschen Übersetzung, sind in Artikel 64 IStGHSt geregelt. 203 Donat-Cattin, D. (2016), Article 75, in: Triffterer (2016), para. 10. 201

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Verlustes oder Nachteils festzustellen“.204 Damit obliegt dem Gerichtshof, die erlittenen Schäden der Opfer festzustellen und in Bezug auf die Gesamtheit der entstandenen Schäden zu bewerten. Der letzte Teilsatz von Paragraph eins hebt die Bedeutung der Prinzipien noch einmal hervor. Dort heißt es, dass der Gerichtshof verpflichtet sei, die Grundsätze zu erläutern, welche die Handlungsgrundlage seiner Reparationspolitik bilden. Besonders dieser Aspekt macht deutlich, dass die „Principles“ in erster Linie gerichtsinterne Adressaten haben und nicht etwa an die internationale Staatengemeinschaft, einzelne Vertragsstaaten oder Opferorganisationen gerichtet sind. Diese allgemeinen Reparationsgrundsätze sind klar zu unterscheiden von der Entscheidung der Kammern zu spezifischen Reparationen für Opfer.205 Im Verfahren gegen Thomas Lubanga definierte die Appeals Chamber die Principles einleitend folgendermaßen: „Principles should be general concepts that, while formulated in light of the circumstances of a specific case, can nonetheless be applied, adapted, expanded upon, or added to by future Trial Chambers.“206

Doch wenn die Reparationsprinzipien interne Adressaten haben, stellt sich die Frage, an wen sie gerichtet sein sollen und für welchen Zweck. In erster Linie sind sie für die Zusammenarbeit mit dem Trust Fund for Victims relevant, dem sie als Maßstab für seine Implementierung der spezifischen Reparationen für Opfer dienen. Zahlreiche Autorinnen und Autoren vertreten allerdings klar die Meinung, dass sich die Grundsätze unbedingt auch an Vertragsstaaten richten sollen. Der britische Rechtsberater bei der Konferenz von Rom 1998, Christopher Muttukumaru, forderte für die Reparations-Grundsätze des Gerichtshofes „(they) must be sufficently practicable, clear and precise to be capable of enforcement in the courts of, or by the other relevant national authorities of, the States Parties“.207 Diese Haltung vertritt auch Donat-Cattin, wenn er den Grundsätzen eine richtungsweisende Funktion für nationale Entschädigungsverfahren einräumt oder sie als Ausgangsbasis für mögliche Kooperationen in internationalen Entschädigungsausschüssen betrachtet.208 Eine Staatenverantwortlichkeit für die finanzielle Kostenübernahme der Reparationen kann an dieser Stelle jedoch definitiv nicht abgeleitet werden, wie Art. 75 (2) später noch zeigen wird. Eine noch weiter gehende Ansicht vertreten diejenigen Autorinnen und Autoren, die als Adressaten der Grundsätze Akteure außerhalb der Gerichtsorgane und des Rom-Statut-Systems sehen – wie Nicht-Regierungsorganisationen, internationale

204

Deutscher Bundestag. Drucksache 14/2682; Artikel 75 (1) IStGHSt. Schabas, W. A. (2017), Introduction to the International Criminal Court. Cambridge: Cambridge University Press, S. 351. 206 ICC-01/04-01/06, 7. 08. 2012, para. 53. 207 Muttukumaru (1999), S. 267. 208 Triffterer (2016), Art. 75, para. 9. 205

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Institutionen oder die internationale Staatengemeinschaft.209 Der Terminus „on this basis“ zu Beginn des zweiten Satzes lässt die Interpretation zu, dass es im Sinne der Mütter und Väter des IStGHSt war, die Reparations-Grundsätze einmalig und allgemein für alle Einzelfälle zu erstellen. Damit wäre die Grundlage für eine einheitliche „Reparationspolitik“ des gesamten Gerichtshofes gelegt gewesen. Die Gefahren von am Einzelfall orientierten Grundsätzen, wie es der aktuellen Praxis am IStGH entspricht, bestehen nun aber darin, dass sie von unterschiedlichen Kammern auch bei gleichen Leiderfahrungen und Schäden stark voneinander divergierend gestaltet werden. Für diese Gefahr sehen Gilbert Bitti und Gabriela González Rivas die Appeals Chamber als übergeordnete Instanz in der Verantwortung, die Grundsätze zu harmonisieren.210 Doch ungeachtet von der Zuständigkeit, stellt sich weiterhin die Frage wie die Reparationsgrundsätze aussehen sollen. Als absolutes übergeordnetes Reparationsziel der Grundsätze stuft Donat-Cattin „re-integrating victims in their status quo ante“ ein.211 Fünf Punkte sollen in den Grundsätzen stets enthalten sein: 1) die Rückgabe von Eigentum, 2) die Bezahlung des erlittenen Schadens oder Verlustes, 3) die Unkostenerstattung in Bezug auf Ausgaben, die durch die Opferwerdung entstanden sind (vor allem auch hinsichtlich der rechtlichen und medizinischen Ausgaben), 4) die Erbringung von Serviceleistungen und 5) die Wiederherstellung von Rechten.212 Allerdings erscheint die Reintegration in einen früheren Status-quo bereits im Ansatz als illusorisch, wenn man sich die Dimensionen von Viktimisierungen, die Menschen durch bewaffnete Konflikte erleiden, vor Augen hält. Insofern ist dieses Reparationsziel demselben Einwand ausgesetzt wie die Verwendung des Begriffes „Wiedergutmachung“ in der deutschen Übersetzung.213 Hinzu kommt, dass die vorgeschlagenen Empfehlungen von Donat-Cattin einen rein administrativen Charakter besitzen, kollektive Reparationen ausblenden und die für die Opfer essenzielle Anerkennung durch die ermittelte Wahrheit und Schuldzuschreibung während des völkerstrafrechtlichen Prozesses nicht in den Blick nehmen.

209

Jorda, C./de Hemptinne, J. (2002), The Status and Role of the Victim, in: The Rome Statute oft he International Criminal Court, A commentary. Cassese, A. et al. (Hg.), Oxford: Oxford University Press, S. 1387 – 1420, S. 1410; Dwertmann, E. (2010), The Reparation System of the International Criminal Court: its Implementation, Possibilities and Limitations. Leiden/Boston: Martinus Nijhoff Publishers. 210 Bitti, Gilbert/González Rivas, Gabriela, in: Oxford 2006 (2006), The Reparations Provisions for Victims under the Rome Statute of the International Criminal Court, in: Redressing Injustices through Mass Claims Processes – Innovative Responses to Unique Challenges. The International Bureau of the Permanent Court of Arbitration. Arbitration (Hg.), Oxford: Oxford University Press, S. 299 – 322. 211 Donat-Cattin, D. (2016), Article 75, in: Triffterer, O./Ambos, K. (Hg.), The Rome Statute of the International Criminal Court. Oxford, Baden-Baden: V.H.Beck, Hart, Nomos, Art. 75, para. 9. 212 Ebenda. 213 Siehe Teil 1 II.

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Welche Gesichtspunkte in die Reparationsanordnung konkret einfließen sollten, wird in Rule 97 der Rules of Procedure and Evidence präzisiert. Aus Rule 97 (1) ergibt sich, dass der Gerichtshof individuelle und kollektive Reparationen, auch gleichzeitig, anordnen kann und dabei Umfang und Ausmaß der entstandenen materiellen und körperlichen Schäden zu berücksichtigen hat. Um diese festzustellen, kann das Gericht gemäß Rule 97 (2) auf Antrag oder aus eigenem Antrieb Sachverständige bestellen, die zugleich Vorschläge zu den angemessenen Reparationsmaßnahmen machen können. Die Berufungskammer des Lubanga-Verfahrens war erstmals praktisch mit der Erstellung von Reparationsgrundsätzen in einer Reparationsanordnung konfrontiert. Sie stellte fünf Punkte heraus, die bei der Reparationsanordnung zu beachten sind: (1) So soll jedes erste Element einer Reparationsanordnung klar festhalten, dass sich diese an den verurteilten Täter richtet. (2) Dieser muss, zweitens, über seine Verantwortlichkeit gegenüber den Reparationen für Opfer informiert werden. Die zuständige Kammer muss daher die Fragen von Haftung sowie die Haftungssumme klären. (3) Das dritte Element erfordert von der Reparationsanordnung, die verschiedenen Typen und Arten von Reparationen zu bestimmen. (4) Der erlittene Schaden muss differenziert zwischen direkten und indirekten Opfern als Folge der verurteilen Taten aufgelistet sein. (5) Die Opfer, die unter eine Reparationsanordnung fallen, müssen klar identifiziert sein.214 Ausdrücklich betont Artikel 75 (1), dass die Reparationsprinzipien „to, or in respect of victims“ zu erstellen seien. Damit wird die Reichweite des Opferkreises offen gelassen. Allerdings enthielt der ursprüngliche Entwurf dieses Artikels von Frankreich und Großbritannien die hinsichtlich der Inhaltsbestimmung wichtige Formulierung, Reparationen sollen nicht nur an die direkt von den Schäden betroffene Opfer geleistet werden, sondern auch für eine breitere Opfergruppe, welche die Angehörigen und Nachkommen von Opfern umfasst. Der Entwurf griff damit eine Ansicht auf, die bereits seit der UN Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power215 von 1985 im internationalen Recht bestand und von der Working Group während der Rom-Konferenz ausdrücklich in einer Fußnote als Bezugsquelle erwähnt wurde. Dies spiegelt sich im Originaltext des IStGHSt freilich nicht wider. Allerdings fand ein weites Verständnis des Opferbegriffs später doch noch Eingang in das Regelwerk des IStGH, als die Definition der Opfer durch die Vertragsstaatenversammlung in Rule 85 der Rules of Procedure and Evidence für den Gerichtshof verabschiedet wurde.216 214

AC Lubanga, 03. 03. 2015, ICC-01/04/-01/06 A A 2 A 3, S. 23 – 89. UN General Assembly (1985), Declarations of Basic Principles of Justice for Victims of Crimes and Abuse of Power, A/RES/40/34. 216 Indem Rule 85 (a) Opfer als natürlich Personen definiert, die durch das Völkerrechtsverbrechen Leid erlitten haben, werden auch mittelbar betroffene Person sowie Angehörige und ihre Nachkommen erfasst. Daraus ergibt sich, dass das IStGHSt ungeachtet der im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf weniger deutlichen Formulierung in Art. 75 (1) von dem weiteren Opferbegriff ausgeht, wie sich auch in der bereits erwähnten Entscheidung der Appeals 215

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Schabas betrachtet die Formulierung „in respect of victims“ grundsätzlich kritisch, nämlich als eine Art Platzhalter, der den Richterinnen und Richtern der einzelnen Kammern einen Spielraum einräumt, über den tatsächlich zuzulassenden Verwandtschaftsgrad von Opfern zu entscheiden. Aus der Sicht von Schabas könnten Richter_innen auf die jeweilige nationale Gesetzgebung zurückgreifen beispielsweise, wenn es um erbrechtliche Fragen geht. Dies könnte aber wegen der Uneinheitlichkeit zwischen den nationalen Gesetzgebungen zu einem hohen Grad an Ungerechtigkeit führen.217 Dagegen ist einzuwenden, dass Viktimisierung sich nicht auf die Personen beschränkt, an denen das Verbrechen unmittelbar begangen wurde, sondern sich selbstverständlich auch auf ihnen nahestehende Personen erstreckt. Man denke insoweit etwa nur an Eltern, Geschwister, andere nahe Angehörige oder Partner einer getöteten Person. Dass der Kreis der mittelbar betroffenen Opfer nicht im Vorhinein definiert werden kann, hängt mit der großen Bandbreite denkbarer Lebensverhältnisse zusammen, die gerade auch kulturell bedingt sind. Es ist deshalb durchaus sinnvoll, den Opferbegriff flexibel zu verstehen, um ihn an die individuellen Gegebenheiten anpassen und damit den jeweils betroffenen Menschen gerecht werden zu können. Die zu leistenden Reparationen richten sich ausschließlich an die verurteilte Person und nicht etwa an den Staat, wo das Verbrechen stattgefunden hat, oder an das Herkunftsland der verurteilten Person. Ein vor der Rom-Konferenz angedachter Absatz, der den Gerichtshof ermächtigt hätte Reparationen eines Staates anzuordnen, wurde im Juli 1998 schließlich gestrichen und ist heute nur in Archiven der Entwürfe des Preparatory Committee zu finden.218 Eine Staatenverantwortlichkeit für das Zahlen von Reparationen an Opfer besteht daher nicht. Dort wo es angemessen ist, darf der Gerichtshof gemäß Art. 75 (3) die Vergabe von Reparationen durch den Trust Fund anordnen. Zur Umsetzung des Rechts auf Reparationen für Opfer ist die Zusammenarbeit mit den Vertragsstaaten des Rom-Statut-Systems allerdings zwingend notwendig. Der Gerichtshof kann gemäß Art. 75 (3) und (4) Vertragsstaaten um Kooperation ersuchen, um eine Reparationsanordnung durchzusetzen. Insofern ist vor allem an die Sicherstellung von Vermögenswerten des verurteilten Angeklagten zu denken, welche den Opfern als Reparationen zur Verfügung gestellt werden sollen. Insofern sind die Vertragsstaaten gemäß Art. 93 (1)(k) IStGHSt verpflichtet, Eigentum und Vermögenswerte des Angeklagten zu identifizieren, nachzuverfolgen und zu beschlagnahmen, um ihren späteren Verfall zugunsten der Opfer zu ermöglichen. Praktisch betraf dies in den bisherigen Fällen unter Personalitäts- und TerritorialiChamber im Fall Lubanga ergibt, siehe Donat-Cattin, D. (2016), Article 75, in: Triffterer (2016), para. 10. 217 Schabas, W. A. (2017), Introduction to the International Criminal Court. Cambridge: Cambridge University Press, S. 882. 218 UN Diplomatic Conference of Plenipotentiaries on the Establishment of an International Criminal Court (1998), S. 177, https://legal.un.org/icc/rome/proceedings/E/Rome Proceedings_ v3_e.pdf (Stand 1. 9. 2020).

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tätsgesichtspunkten in erster Linie diejenigen Staaten, auf deren Staatsgebiet die Verbrechen begangen wurden oder deren Staatsangehöriger der Angeklagte war. Die Kooperationsverpflichtung erstreckt sich indes auf alle Vertragsstaaten, die Zugriff auf Vermögenswerte des Angeklagten haben können. Schabas vertritt allerdings in einer Form von Fundamentalkritik die Ansicht, dass Artikel 75 nur aus dem Grund im IStGHSt verankert sei, um Opfern die Möglichkeit für Entschädigungsklagen vor nationalen Gerichten zu geben. Als Begründung fügt er an: „It may simply be unrealistic to expect the new Court to be able to locate and seize substantial assets of its prisoners.“219 Abgesehen davon, dass sich diese Einschätzung in ihrer Allgemeinheit nicht aufrecht erhalten lässt,220 zeigt die Einrichtung des TFV, dass es gerade um ein im System des IStGH verankertes Reparationsregime geht, das zudem nicht von der Verwertung von Vermögenswerten des Angeklagten abhängt. Es verwundert deshalb nicht, dass individuelle Entschädigungsklagen der Opfer vor nationalen Gerichten keine praktische Rolle spielen. Schließlich darf gemäß Art. 75 (6) keiner der Absätze des Artikel 75 so ausgelegt werden, dass die Rechte von Opfern im nationalen oder internationalen Recht beeinträchtigt werden. Internationale menschenrechtliche Regelwerke wie etwa die UN Basic Principles sind daher in vollem Umfang anwendbar und dürfen in ihrer Reichweite nicht beeinträchtigt werden. Dies macht deutlich, dass das IStGHSt hinsichtlich des Opferschutzes und bei der Implementierung des Menschenrechts auf Reparationen von einem Höchststandard ausgeht.

2. Institutionelle Verankerung im Rom-Statut-System Um ein realistisches Bild der Effektivität des IStGH als Anerkennungsort des Opferseins zu gewinnen, muss jenseits des normativen Regelungsgefüges die institutionelle Implementierung einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Bei der Normumsetzung des Rechts auf Reparationen wirken verschiedenste Organe unter dem Dach des IStGHSt mit. Zum „Rechtsstab“ gehören der IStGH selbst, insbesondere die Anklagebehörde (Office of the Prosecutor, OTP), die Kammern (Chambers) und die Kanzlei (Registry) mit ihren verschiedenen Unterabteilungen, aber auch die rechtlichen Vertreter der Opfer. Diese Organe werden durch den Trust Fund for Victims (kurz TFV), welcher für die Verwaltung und Verteilung der finanziellen Mittel sowie die praktische Umsetzung der Reparationsmaßnahmen zuständig ist, um einen wesentlichen Akteur erweitert. Das gesamte Rom-StatutSystem ist darüber hinaus von der gegenseitigen Kooperation mit den Vertragsstaaten, sei es bei der Auslieferung eines inhaftierten Verdächtigen oder bei der 219

Schabas (2017), S. 361 – 362. Im Verfahren gegen Jean-Pierre Gombo Bemba wurden zahlreiche Eigentumswerte und Vermögen eingefroren. Nach dem Freispruch am 8. Juni 2018 müssen allerdings die Fragen der Rückerstattung geklärt werden, siehe AC, Decision Bemba, 08. 06. 2018, ICC-01/05-01/083636-Red. 220

V. IStGH als Anerkennungsort des „Opferseins“

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Ausreise von Opferzeugen und Zeuginnen, aber auch der Finanzierung, abhängig. Durch diese Akteursvielfalt begleitet die Durchsetzung des Rechts auf Reparationen für Opfer eine Reihe von Abläufen, die im Folgenden einer politikwissenschaftlichen, empirisch-analytischen Untersuchung bedürfen. Dabei sollen Erkenntnisse gewonnen werden, wie die unterschiedlichen Akteure an der Umsetzung mitwirken, um der normativen Verankerung des Rechts auf Reparationen im IStGHSt gerecht zu werden. a) Anklagebehörde Die Anklagebehörde leitet aufgrund ihres Mandats unabhängig221 von den Kammern und der Kanzlei Ermittlungen ein. Sie ist damit das erste Organ, das Kontakt zu Opfern bewaffneter Konflikte im Zuständigkeitsbereich des IStGH hat. Die Anklagebehörde ist zugleich auch das Nadelöhr für die tatsächlich anzuklagenden Verbrechen. Aus den ursprünglich fünf Tatkomplexen im bewaffneten Konflikt in Mali 2012 wurde wie erläutert zunächst der Fokus auf die Zerstörung der Weltkulturerbestätten und Schäden der Bewohner_innen Timbuktus gelegt. Die Auswahl auf bestimmte Anklagepunkte reduziert im Verständnis von Luhmann lediglich das Komplexe. Nicht jede Reduzierung ist in einem Verfahren negativ zu bewerten, sondern als ein Ausdruck von Autonomie zu betrachten.222 Am IStGH demonstriert dies grundsätzlich die Unabhängigkeit der Anklagebehörde. Das IStGHSt bestimmt für die Anklagebehörde bereits in dem frühen Ermittlungsstadium, die Interessen von Opfer zu beachten. Gemäß Art. 54 (1)(b) gehört es zu den Aufgaben der Anklägerin, Maßnahmen zur Ermittlung und Strafverfolgung nur unter Respektierung der Interessen von Opfern und ihren persönlichen Umständen zu ergreifen. Auch während aller weiteren Verfahrensschritte ist die Anklagebehörde zur Wahrung der Interessen von Opfern verpflichtet.223 Von Beginn muss deshalb die Ermittlungsabteilung Opfer sowie Zeuginnen und Zeugen schützen und detaillierte Strategien zu deren Sicherheit ausarbeiten.224 Während der allerersten Phase der Investigation nehmen die Ermittler_innen der Anklagebehörde Aussagen von Zeuginnen und Zeugen vor Ort auf, um die Beweislage zu sichern. Jegliche Retraumatisierung von Opfern ist dabei zu vermeiden. Spezialisten beraten die Befragung von Kindern und Opfern sexualisierter Gewalt.225 Die Anklagebehörde muss befragte Opfer schon beim ersten Aufeinandertreffen über ihre Partizipationsrechte und die Möglichkeiten informieren, Reparationen zu erlangen. Dazu gehört auch die Aufklärung über die Verwendung ihrer Daten und deren Weitergabe

221 222 223 224 225

Art. 42 (1) IStGHSt. Luhmann (1983), S. 70. ICC, 16 RoP. ICC, 8 RoP. ICC, 35 RoP.

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an die zuständige Victims Participation and Reparation Section (VPRS) der Kanzlei.226 Sobald sich Opfer mit Beginn des Vorverfahrens tatsächlich für die Beteiligung registriert haben, steht es der Anklagebehörde ebenso wie der Verteidigung zu, die Registrierungsformulare zu prüfen und gegebenenfalls Einwände zu äußern.227 Die binäre Parteienstruktur zwischen Anklagebehörde und Verteidigung zeigt sich im fortlaufenden Prozess der Opferbeteiligung auch daran, dass beide Seiten zu jedem schriftlichen Antrag, der von der Opfervertretung eingebracht wurde, Stellung nehmen dürfen. Obwohl die Anklagebehörde in erster Linie für die Ermittlung und Strafverfolgung zuständig ist, kommt ihr schon früh eine weitere Aufgabe in Bezug auf mögliche Reparationen zu. Ihr obliegt es, Vermögenswerte potenzieller Verdächtiger und anzuklagender Personen zu ermitteln, die gegebenenfalls durch die Kammer beschlagnahmt und so für die Entschädigung der Opfer gesichert werden können.228 Die Sicherung der finanziellen Mittel für tatsächliche Reparationsleistungen ist ein wichtiger Schritt zur Anerkennung von Opfern.229 In der eigentlichen Reparationsphase spielt die Anklagebehörde dann allerdings keine Rolle mehr, da der Angeklagte schuldig gesprochen wurde und keine Beweise mehr zum Schuldnachweis erbracht oder dahingehende Anträge der Verteidigung bewertet werden müssen. b) Kanzlei Die Kanzlei (Registry) ist für die Verwaltung des IStGH zuständig.230 Anders als etwa in Deutschland die Gerichtsverwaltung ist sie ein Servicedienstleister, der allen Parteien und Beteiligten sowie den Kammern zur Verfügung steht und deren Unabhängigkeit achten muss. Als Dienstleister des Gerichtshofes ist die Kanzlei unter anderem für das Personalwesen, die Übersetzung von Dokumenten, das Dolmetschen im Gerichtsaal sowie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Bei der Opferbeteiligung und der Umsetzung des Rechts auf Reparationen spielt die Kanzlei ebenfalls eine bedeutende Rolle. Die Unterabteilungen der Victims and Witness Unit (VWU) und der Victims Participation and Reparation Section (VPRS) sind zuständig für die praktische Umsetzung von Schutzmaßnahmen, die Betreuung von Opferzeugen sowie die Kommunikation zwischen den Opfern und dem Gerichtshof.231

226

ICC, 37 RoP. ICC, 89 RoP, Art. 68 (3) IStGHSt. 228 ICC, 54 RoP, Zuständigkeit der Pre-Trial Chamber unter Art. 57 (3)(e) IStGHSt. 229 Siehe De Greiff (2006), S. 461 f. 230 Art. 43 IStGHSt. 231 ICC, Victims and Witness Unit (hier kurz: VWU) Rule 16 – 19, RPE; Victims Participation and Reparation Section (hiert kurz VPRS); ICC, 86 (9) RoC; ICC, 37 RoP. 227

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Dafür erarbeitet die Kanzlei eine übergeordnete Gesamtstrategie aus, um die Identität von Opfern vor und während der Verfahren zu schützen.232 Insoweit steht die VWU im engen Austausch mit der Anklagebehörde, der zuständigen Kammer und der Verteidigung. Die Regulations verpflichten die Kanzlei zu einem Diskriminierungsverbot bei der Behandlung von Opfern. Es soll sichergestellt werden, dass alle Opfer Zugang zu den notwendigen Serviceleistungen des IStGH erhalten, sobald sie als Zeugen aussagen. Für eine Zeugenaussage in Den Haag kümmert sich die VWU um Transport und Unterkunft sowie die psychologische Betreuung und Gesundheitsversorgung von Opfern.233 Unter dem Grundsatz der Gleichbehandlung obliegt es der Kanzlei zu ermitteln, für welchen Lohnausfall den Opferzeuginnen und Zeugen finanzieller Ausgleich zu erstatten ist.234 Bei gefährdeten und bedrohten Opfern kann die VWS gar die Umsiedlung von Opfern betreuen. Die Kanzlei assistiert Opfern darüber hinaus in allen prozessualen Fragen während des Verfahrens.235 Zu dieser allgemeinen Assistenz der Opfer kommt unter bestimmten Voraussetzungen eine rechtliche Repräsentanz hinzu. Solange keine offizielle rechtliche Vertretung (Legal Representative of Victims, kurz LRV) eingesetzt ist, repräsentiert die gerichtsinterne Opfervertretung (Office of the Public Councel for Victims, kurz OPCV) die Interessen von Opfern.236 Während es ehrenwert anmutet, den Opfern eine_n rechtlichen Berater_in zur Seite zu stellen, stößt diese Rechtspraxis häufig auf Kritik, sobald der Eindruck entsteht, dass die OPCV Opfer lediglich aus gerichtsinternen statistischen Gründen vertritt.237 Ein Kompetenzgerangel zwischen dem externen LRV und der internen OPCV über Zuständigkeiten und konkrete Opfervertretungen war auch im Verfahren gegen Al Mahdi zu beobachten, erweckte die OPCV doch den Eindruck ihre institutionelle Daseinsberechtigung immer auch selbst verteidigen zu müssen. Dies ist auch auf die geänderten Zuständigkeiten durch die aktualisierten Regulations seit 2012 zurückzuführen. Ursprünglich hatte die OPCV in den ersten Regulations von 2004 das eingeschränkte Ziel, den externen LRVs zu assistieren.238 Auch in der revidierten und ergänzten Fassung von Regulation 81 (4) ist zwar als erste Aufgabe die Unterstützung der externen rechtlichen Vertreter aufgeführt. Allerdings ist es der OPCV auch gestattet, selbst vor Gericht aufzutreten (b), Anträge einzureichen (c), als Rechtsbeistand nach der Benennung 232

ICC, 79 Regulations of the Registry (hier kurz RuR). ICC, 79 – 83 RuR; ICC, 89 RuR. 234 ICC, 85 RuR. 235 ICC (2016), The Registry. Comprehensive Report on the Reorganisation of the Registry of the International Criminal Court, The Hague 2016, para. 490. 236 ICC (2014), The Office of the Public Counsel for Victims. Representing Victims before the International Criminal Court, A Manual for legal representatives, The Hague. 237 Haslam, E./Edmunds, R. (2017), Whose Number is it Anyway? Common Legal Representation, Consultations and the ,Statistical Victim‘, in: Journal of International Criminal Justice 15(5), S. 931 – 952. 238 ICC, 81 RoC, amended 2. 11. 2011. 233

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durch die Kammer selbst aufzutreten (d), und darüber hinaus (d) ein Opfer oder Opfergruppen durch ein komplettes Verfahren hinweg zu vertreten (e). Das institutionelle Kompetenzgerangel zwischen externen Opferanwältinnen und Anwälten, die häufig aus der Region der betroffenen Opfergruppen stammen, und den gerichtsinternen Mitarbeiter_innen von OPCV ist somit rechtlich und institutionell vorprogrammiert. Die Nichtregierungsorganisation International Federation for Human Rights (FIDH) hat sich mehrfach für ein „mixed system“ aus beiden Akteuren, dem externen LRV und der gerichtsinternen OPCV, ausgesprochen. Ein derartiges Mischsystem „should not prioritise internal knowledge about the Court over knowledge from the field.“239 c) Kammer In jeder Stufe des völkerstrafrechtlichen Verfahrens werden die Rechtsfragen, welche die Opferbeteiligung und Reparationen betreffen, von den Kammern entschieden. Während der Ermittlungsphase bis zur Bestätigung der Anklage liegt die Verantwortung bei der aus drei Richter_innen bestehenden Vorverfahrenskammer. Mit Ausnahme der ersten möglichen Kontaktaufnahme durch die Anklagebehörde, ordnen stets die Kammern jede weitere Kommunikation mit den Opfern an. Die Vorverfahrenskammer bestellt auch den rechtlichen Vertreter.240 Ab diesem Zeitpunkt ist er zugleich Sprachrohr für die Opfer und Ansprechpartner für die Organe des IStGH. Stellt er Anträge in ihrem Namen, obliegt es der jeweiligen Kammer diesen stattzugeben oder sie abzulehnen. Jede Entscheidung muss allerdings stets die Interessen der Opfer wahren. Für das Hauptverfahren bis zum Urteil und für eine sich im Fall eines Schuldspruchs anschließende Reparationsphase ist die ebenfalls aus drei Richter_innen bestehende Hauptverfahrenskammer zuständig. Diese wird damit zum wichtigsten Akteur des Anerkennungsverfahrens am IStGH als Entscheider über Opferbeteiligung, Wahrheitsfeststellung, Schuldzuschreibung und Reparationsanordnung. Dabei ist Opferschutz eine der zentralen Aufgaben der Hauptverfahrenskammer.241 Aus Opferperspektive stellt der Opferschutz das Pendant zur Achtung der Angeklagtenrechte für das übergeordnete Ziel eines fairen Verfahrens dar, wie dies Artikel 64 (2) IStGHSt formuliert. Die Hauptverfahrenskammer bestimmt darüber hinaus die methodische Herangehensweise der Entschädigung von Opfern und legt die einzelnen Reparationsmaßnahmen nach erfolgtem Schuldspruch eines Täters fest.242 Inzwischen wurden drei Reparationsanordnungen am IStGH gegen verurteilte Täter erlassen. Doch noch 239

S. 21. 240 241 242

FIDH (2014), Five myths about victim participation in ICC proceedings. No. 649a, ICC, 90(2), RPE. Art. 57 (2) IStGHSt; Art. 64 (2) IStGHSt. Art. 75 (1) und (2) IStGHSt; Rule 97, RPE.

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immer ist nicht klar, welche Funktionen und Effekte die Reparationen für Opfer haben sollen. Als besonders herausfordernd zeigt sich in der Praxis inzwischen auch der Umgang mit den Erwartungen von Opfern, die sich jahrelang an den Verfahren beteiligen und wie Opfer 480 nach einem erstinstanzlichen Schuldurteil gegen den Angeklagten verständlicherweise davon ausgehen, Reparationen zu erhalten. Doch Jean-Pierre Bemba Gombo wurde von der Berufungskammer am 8. Juni 2018 freigesprochen und das Schuldurteil damit aufgehoben. Da Reparationen am IStGH stets an die nachgewiesene individuelle Verantwortlichkeit eines Täters gebunden sind, zählt die Entscheidung der letzten Instanz. Eingangs zitiertes Opfer 480 kann nach dieser finalen Entscheidung, zumindest am IStGH, für das erlittene Leid und die gesundheitlichen Folgen keine eigentlichen Reparationsleistungen mehr erhalten, sondern lediglich Hilfe durch das Assistenzmandat des Trust Funds.243 Die Konflikte mit dem Reparationssystem am IStGH offenbaren sich in diesem Fall schon allein beim Blick in die verschiedenen veröffentlichten Dokumente – der von drei Richter_innen getragene Freispruch, das Urteil, die abweichende Dissenting Opinion der Minderheit, die Separate Opinion von zwei Mehrheitsrichtern sowie die Concurring Opinion eines Mehrheitsrichters. Diese zeigen nicht nur eine erstaunliche Uneinigkeit der Mitglieder der Berufungskammer, sondern machen zugleich deutlich, dass ein Teil der Richterschaft des IStGH ein grundsätzliches Problem mit dem Reparationssystem hat. In ihrer „Separate Opinion“ forderten etwa zwei Richter der Mehrheitsentscheidung des Bemba-Freispruchs: „What we do suggest is that we stop viewing the International Criminal Court’s reparation procedures as (part of) a mechanism to restore social justice and to heal the wounds of societies that have been torn apart by aggression, genocide, crimes against humanity or war crimes.“244 Da die betreffenden Richter_innen keine alternative Sicht zu Sinn und Zweck des Reparationsverfahrens anbieten, stellt sich unweigerlich die Frage, welche Funktion aus ihrer Perspektive den Reparationen am IStGH selbst beigemessen werden soll. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Reparationen für Opfer im Rechtssystem des IStGH nach einem langen Verhandlungsprozess an vielen Stellen ausdrücklich kodifiziert wurden.245 Der darin zum Ausdruck kommende Wille der Gründungsväter und Mütter des Rom-Statuts kann und sollte nicht qua Rechtsprechung ausgehebelt oder gar ignoriert werden. Richter Chile Eboe-Osuji hatte sich in der genannten Entscheidung der Berufungskammer der Mehrheit angeschlossen, allerdings in einer separaten Meinung ausgeführt, dass das Leid der Opfer trotz des Freispruchs nicht in Frage zu stellen sei, obwohl diese nun keine Reparationsleistungen mehr erhalten würden. Opfer hätten jegliche Rehabilitation verdient und das nicht nur von Regierungen und der internationalen Gemeinschaft, sondern auch von einzelnen Individuen, darunter dem freigesprochenen Angeklagten Bemba selbst. Er hoffe, so Richter Chile Eboe-Osuji, der freigesprochene Bemba „become an ambassador for 243

Siehe Kap. V. 2. e). AC Bemba, Separate opinion, Judge Christine Van den Wyngaert and Judge Howard Morrision, ICC-01/05-01/08-3636-Anx2, para. 75. 245 Siehe Kap. IV. 1. c). 244

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lasting peace and human development in his country and continent.“246 Dies erscheint vor dem Hintergrund bemerkenswert und könnte von den betroffenen Opfern durchaus als zynisch empfunden werden, dass Bemba von einer anderen Kammer des IStGH rechtskräftig wegen Zeugenbeeinflussung in dem Hauptverfahren, in dem der Freispruch durch die Berufungskammer erging, verurteilt wurde.247 Zur Ermittlung der Gründe für die sehr unterschiedliche Entscheidungspraxis am IStGH einerseits zugunsten von Opfern oder andererseits zur engen Auslegung ihrer Rechte wurden bisher noch keine qualitativen wissenschaftlichen Studien durchgeführt. Eine Untersuchung wäre dahingehend interessant, ob die individuellen Ermessensspielräume zugunsten von Opfern eher von denjenigen Richter_innen ausgeübt werden, die einen beruflichen Werdegang zuvor in dem mit Opferrechten vertrauten kontinentaleuropäischen Rechtssystem hatten, während Richter_innen mit einem common law Hintergrund eher zu einer restriktiven Auslegung der Opferrechte neigen. In der Hauptverfahrenskammer des Angeklagten Al Mahdi waren zwei Richter aus dem kontinentaleuropäischen Rechtssystem vertreten und ein Richter aus dem „common law System“.248 d) Vertreter der Opfer Opfer beteiligen sich – sofern sie nicht als Zeugen aussagen – nie direkt und in persona an den Verfahren, sondern werden regelmäßig kollektiv durch einen gesetzlichen Vertreter, sprich einen Anwalt oder eine Anwältin, vertreten (in Engl. Legal representatives for victims, kurz LRV). Dies erscheint mit Rücksicht auf die regelmäßig exorbitant hohen Opferzahlen unabdingbar, um die Effektivität der Verfahren zu gewährleisten. Um so wichtiger ist es allerdings, dass der Opfervertreter oder die Opfervertreterin bereit und in der Lage ist, erforderlichenfalls über Mittelsmänner und Frauen mit einer Vielzahl von Opfern zu kommunizieren, um deren Anliegen vor Gericht bestmöglich geltend machen zu können. Dazu gehören neben den selbstverständlichen juristischen Qualitäten regelmäßig auch kulturelle und sprachliche Kompetenz. Vor allem ist es aber wesentlich, dass der Opfervertreter das Vertrauen der Opfer genießt, was eine Wahlfreiheit durch die Opfer impliziert. Dem entspricht, dass Opfer gemäß Rule 90 (1) ihren Vertreter grundsätzlich selbst wählen können: „a victim shall be free to choose a legal representative“. Im Al Mahdi Verfahren ernannte allerdings die Kammer am 8. Juni 2016 den Juristen Mayombo Kassongo (nachfolgend LRV) zum rechtlichen Vertreter für alle Opfer, nachdem die ersten drei Opfer ihn in ihren Registrierungsformularen zur

246

AC Bemba, Concurring Separate Opinion of Judge Eboe-Osuji, ICC-01/05-01/08-3636Anx3., para. 1. 247 TC VII, Judgement Bemba et. al, 16. 10. 2016, ICC-01/05-01/13-1989-Red. 248 Trial Chamber VIII bestand aus den Richtern Raul C. Pangalangan, Antoine Kesia-Mbe Mindua und Bertram Schmitt.

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Opferbeteiligung als ihren favorisierten Anwalt angegeben hatten.249 Vor der Entscheidung der Kammer stellte die Kanzlei sicher, dass der favorisierte Rechtsbeistand auf der Liste der zugelassenen IStGH Anwälte und Anwältinnen stand. Mit dieser Grundvoraussetzung sollen auch die notwendigen fachlichen Qualifikationen der Opferverteidigung garantiert sein. Die Kanzlei des IStGH ist in ihrem Regelwerk allerdings auch dazu aufgefordert, Opfern die Liste aller zugelassenen rechtlichen Vertreter zur Verfügung zu stellen.250 Dies scheint im vorliegenden Fall nicht geschehen zu sein. Zumindest geben die veröffentlichten Schriftsätze keine Auskunft darüber, ob es zur Konsultation zwischen Kanzlei und weiteren Opfern kam, ehe die Kammer entschied, dass Kassongo auch für künftige Opfer im gesamten Hauptverfahren der Rechtsbeistand sei. Zur Wahlfreiheit des Rechtsbeistands in Rule 90 (1) erklärte die Al Mahdi Kammer „that this right is not absolute and that, where there are a number of victims‘ and ,for the purposes of ensuring the effectiveness of the proceedings‘, a legal representative can be chosen by the Court, taking into consideration the distinct interests of the victims and avoiding any conflict of interest.“251 Die Kammer nutzte den Entscheidungsspielraum von Rule 90 – zwischen der Wahlfreiheit eines eigenen Rechtsbeistandes durch Opfer einerseits und der Effizienz und Schnelligkeit der Verfahren andererseits – nicht zu Gunsten der Opfer und verband nach Regulation 79 die Bestellung eines gemeinsamen Opfervertreters mit den Registrierungsanträgen der Opferbeteiligung.252 Mit dieser Entscheidung wurde den Opfern ein elementares Recht zur Wahlfreiheit eines eigenen Rechtsbeistandes genommen. „The Chamber does not consider it necessary to appoint more than one legal representative“, lautete die schlichte Begründung, obwohl zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar sein konnte wie viele Opfer sich an dem Reparationsverfahren beteiligen würden und ob diese unterschiedlichen Interessen hätten.253 Im Fall von Opfer a/35008/16 wurde diese Entscheidung konkret angewandt als der Einzelrichter erklärte, dass auch für dieses Opfer – in diesem Fall eine viktimisierte Organisation – als Rechtsbeistand der von der Kammer zugelassene LRV 249

TC VIII, Al Mahdi, Public redated version of Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 38. 250 „In order to assist victims in choosing a legal representative or representatives, the Registry may provide victims with the list of councel (…).“, ICC, Regulation 112, RoR. 251 TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims‘, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 36. 252 Regulation 79 RoC: „The decision of the Chamber to request the victims or particular groups of victims to choose a common legal representative or representatives may be made in conjunction with the decision on the application of the victim or victims to participate in the proceedings.“ 253 TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims‘, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 38.

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bestimmt wird, obwohl a/35008/16 sich ausdrücklich als Vertretung die gerichtsinterne Office of Public Counsel for Victims gewünscht hatte. In einem eigenen Memorandum hatte die OPCV ihre Zuständigkeit ausführlich erläutert und damit begründet, dass zu diesem Opfer schon früher eine direkte Beziehung bestanden hatte.254 Durch die Vorgabe eines einzigen LRV und der verweigerten Zustimmung zur Repräsentanz durch die interne OPCV oder eine andere rechtliche Vertretung wurde diesem Opfer das entscheidende Recht zur freien Wahl eines eigenen Rechtsbeistandes verwehrt, das in Art. 25 im UN Zivilpakt und prozessual am IStGH in Rule 90 (1) gesichert ist. Die Menschenrechtsorganisation Redress kritisierte schon 2015, dass es gängige Praxis am IStGH sei, dass die jeweilige Kammer über die rechtlichen Opfervertreter entscheiden, auch wenn das Regelwerk eine andere Interpretation zulassen würde.255 Der IStGH versäumt es, durch die vorenthaltene Entscheidungsfreiheit einer eigenen rechtlichen Vertretung, Opfern Selbstbestimmtheit zurückzugeben und sie als volle Rechteinhaber anzuerkennen.256 Obwohl die umfangreiche Studie des Human Rights Center in Berkeley 2015 mit Opfern aus Fällen des IStGH gezeigt hat, dass sich nur wenige Opfer der über 600 Befragten eine direkte Kommunikation mit dem IStGH gewünscht hätten,257 beeinträchtigt die missachtete Wahlfreiheit eines eigenen Rechtsbeistands auch das Recht auf rechtliches Gehör. Redress betonte aus Umfragen mit Intermediaries, dass sich Opfer oft unzufrieden mit der Wahl ihres Rechtsbeistands zeigten.258 Die Entscheidungspraxis am IStGH ist besonders wenig nachvollziehbar, wenn man die Kriterien zur Bestimmung eines rechtlichen Vertreters für Opfer betrachtet, wonach sichergestellt sein muss, dass dieser ausdrücklich die Interessen von Opfern vertritt, bei der Ausübung des Mandats keinen Interessenkonflikt eingehen darf und die besonderen Bedürfnisse und Wünsche von Opfern respektieren muss.259 Eine derartige Bewertung können Opfer oder Opferverbände am Besten vornehmen. Das Anforderungsprofil von Rechtsbeiständen für Opfer unterscheidet sich ansonsten 254 TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Second Decision on Victim Participation at Trial‘, 12. 08. 2016, ICC-01/12-01/15-156-Red, para. 11. 255 Redress (2015), Representing Victims before the ICC: Recommendations on the Legal Representation System, S. 8, https://redress.org/wp-content/uploads/2017/12/1504reprentingvic tims.pdf (Stand 1. 9. 2020). Während des Hauptverfahrens gegen Jean-Pierre Bemba verstarb einer der beiden ernannten LRVs, woraufhin die Kammer entschied die zweite große Opfergruppe zugleich durch den verbliebenen Anwalt repräsentieren zu lassen. 256 Einen Vergleich über die unterschiedlichen Entscheidungen der Kammern hinsichtlich eines gemeinsamen LRV bietet eine Studie von Human Rights Watch. Human Rights Watch (2017), Who will stand for Us? Victims’ Legal Representation at the ICC in the Ongwen Case and Beyond, S. 16 f. 257 Human Rights Center (2015), The Victims’ Court. Berkeley: Human Rights Center, UC Berkeley School of Law, S. 71 – 74. 258 Redress (2015), Representing Victims before the ICC: Recommendations on the Legal Representation System, S. 11 ff., https://redress.org/wp-content/uploads/2017/12/1504reprent ingvictims.pdf (Stand 1. 9. 2020). 259 ICC, 90(4) RPE; ICC, 79(2) RoC.

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nicht von demjenigen für die Verteidigung des Angeklagten. Strafrechtliche oder völkerstrafrechtliche Fachkompetenz muss ebenso vorgewiesen werden, wie die gerichtliche Praxiserfahrung und zwar unabhängig ob in der Staatsanwaltschaft, als Richter oder Richterin oder Anwalt oder Anwältin. Als sprachliche Voraussetzungen muss mindestens eine der beiden Amtssprachen des Gerichts, Englisch oder Französisch, beherrscht werden. Außerdem dürfen keine Vorstrafen vorliegen.260 Redress kritisiert zu Recht, dass der IStGH nicht zwischen den fachlichen Qualifikationen für die Verteidigung des Angeklagten und des Rechtsbeistands für Opfer differenziert. Schließlich sind die rechtlichen Vertreter_innen von Opfern nicht nur mit einer großen Anzahl an Menschen konfrontiert, was schon eine kommunikative Herausforderung als solche darstellt. Die schweren Leiderfahrungen erfordern auch psychologische Kenntnisse im Umgang mit traumatisierten Menschen. Auch bei der Frage nach der fachlichen Qualifikation der LRVs zeigt sich, dass der IStGH primär die Rechte des Angeklagten und die Strafverfolgung im Blick hat. Nachdem im Fall Al Mahdi der LRV Kassongo benannt war, wurde ihm formal die Unterstützung von OPCV in der Entscheidung der Kammer zugesichert. Gleichzeitig wurden dem LRV die Rechte eingeräumt, Einblick in alle Schriftsätze zu haben, allen öffentlichen und nicht-öffentlichen Anhörungen beizuwohnen, schriftliche Anträge an die Kammer zustellen und auf selbige zu antworten.261 In derselben Entscheidung wurde dem LRV gestattet, vertrauliche Informationen auch an seine Klienten, die Opfer der angeklagten und später verurteilten Verbrechen, weiterzugeben. Die Weitergabe von physischen oder digitalen vertraulichen Dokumenten war davon ausgeschlossen.262 Der LRV betrachtete sich selbst als Stimme der Opfer, die er in dem Verfahren vertrat: „I am the spokesperson for the victims of Timbuktu, I am the voice of the monuments and mausoleums tolling here on behalf of these victims, tolling here that you may hear their cause and also the cause of the entire international community.“263 e) Treuhandfonds für Opfer Für die Umsetzung der Reparationen hat das Rom-Statut durch Artikel 79 den Treuhandfonds für Opfer (in Engl. Trust Fund for Victims, kurz TFV) geschaffen. Dies stellt eine institutionelle Verankerung der Opferbelange dar und verbessert ihren rechtlichen Status in internationalen Strafverfahren in erheblichem Maße. Trotz seiner Bedeutung für Gerechtigkeit und Effektivität des Systems für Reparationen 260 ICC, 22 RPE; ICC, 67 RoC; Kriterien im Detail, https://www.icc-cpi.int/get-involved/ Pages/legal-professionals.aspx (Stand 1. 9. 2020). 261 TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims‘, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, paras. 39 – 40. 262 Ebenda, para. 41. 263 TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 24. 08. 2016, S. 19.

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am IStGH haben Tätigkeit und Wirken des TFV bisher kaum wissenschaftliche Beachtung gefunden.264 2002 berief die Vertragsstaatenversammlung erstmals das Gremium des „Board of Directors“ des TFV auf der Grundlage von Artikel 79 ein.265 Geeignete Kandidaten sollten ab sofort durch die ASP benannt und gewählt werden. Das Wahlprocedere der fünf Board-Mitglieder erinnert an die Richter_innenwahl. Die Board-Mitglieder unterscheiden sich in Bezug ihres Mandats aber schon allein deshalb wesentlich von einem einzelnen IStGH-Richter bzw. einer Richterin, weil sie unentgeltlich und ehrenamtlich lediglich für drei Jahre tätig sind.266 Das Pro-Bono-Mandat könnte nach Ablauf einmalig von der ASP durch Wiederwahl verlängert werden. Eine Quote garantiert nicht nur eine gleichberechtigte Geschlechterbilanz unter den BoardMitgliedern, sondern eine Ausgewogenheit in Bezug auf die nationale und regionale Herkunft sowie die Repräsentanz der unterschiedlichen Rechtssysteme. Ein weiteres Kriterium erfordert von den Board-Mitgliedern „to be of high moral character, impartiality and integrity and shall have competence in the assistance to victims of serious crimes.“267 Nach ihrer Wahl sind die Board-Mitglieder von der ASP damit betraut, Aktivitäten zu entwickeln und über den Einsatz der Gelder des Opferfonds zu entscheiden. Die Regulations des TFV fordern, dass die Entscheidungen im Konsens, mindestens aber mit absoluter Mehrheit erfolgen.268 Das BoD ist ein inhaltliches Beratungsgremium und zugleich die administrative Kontrollinstanz über die Finanzen. Das BoD ist allerdings keine operativ tätige Institution. 2002 war sich die ASP noch unklar, ob eine Arbeitseinheit des TFV mit einer Geschäftsführung innerhalb oder außerhalb der Kanzlei sein sollte. 2004 wurde dann entschieden, dass „for administrative purpose the Secretariat and its staff shall be attached to the Registry of the Court and that, as part of the staff of the Registry and, as such, of the Court.“ Das Sekretariat des TFV ist seither für die tägliche Arbeit zuständig und wird samt Personalausgaben vollständig vom Gesamtbudget des IStGH finanziert. Organisatorisch steht das Sekretariat allerdings „under the full authority of the Board of Directors“.269 Damit war der TFV mit seinen zwei Einheiten, BoD und Sekretariat, gegründet und zugleich seine Konstruktionsfehler geschaffen. Denn organisatorisch ist es bis heute nicht eindeutig geklärt, zu welchem Organ des IStGH der TFV zu zählen ist: das BoD untersteht klar der ASP, das Sekretariat dem BoD und zugleich der Kanzlei 264 Dwertmann, E. (2010), The Reparation System of the International Criminal Court: its Implementation, Possibilities and Limitations. Leiden/Boston: Martinus Nijhoff Publishers, S. 265 – 291. 265 ICC-ASP/1/Res.6, 09. 09. 2002. 266 ICC, 16 Regulations of the Trust Fund for Victims (hier kurz RoTFV). 267 ICC-ASP/1/Res.7, 10. 09. 2004, para. 6. 268 ICC, 13 RoTFV. 269 ICC-ASP/3/Res.7, 10. 09. 2004, para. 2, para. 4.

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des Gerichts. Dies zeigt sich schon an der öffentlichen Darstellung in den Organigrammen. Auf der einen Seite stellt die ASP den TFV, unterteilt in seine zwei Organe, dem BoD und dem Sekretariat des TFV vollständig in das Organigramm ihrer Arbeitseinheiten, neben dem Committee on Budget and Finance und anderen.270 Auf der Homepage des IStGH ist der TFV hingegen ebenso deutlich klar als eigenständige Institution neben der ASP zu finden. Nicht nur der direkte Zugriff auf eine eigene Webpage des TFV verdeutlicht dies, sondern auch die Auflistung unter „How the Court works“, die als vier Organe des IStGH die Präsidentschaft, die „Judicial Divisions“, die OTP und die „Registry“ ausweist, während der TFV unmittelbar nachfolgt.271 Somit ist schon in der Außendarstellung völlig unklar, ob der TFV als Teil der ASP oder des Gerichtshofs anzusehen ist oder einen völlig unabhängigen und eigenständigen Charakter besitzt. Es verwundert nicht, dass diese Unklarheit über den Status Verwerfungen in der praktischen Umsetzung der Reparationen zur Folge hat. Artikel 79 IStGHSt, der den Auftrag zur physischen Errichtung des TFV „for the benefit of victims of crimes within the jurisdiction of the Court, and of the families of such victims“ erteilte, lässt sich hingegen im Kapitel „Penalties“ des IStGHSt finden und steht damit im engen Bezug zum Strafverfahren. Es gehört an dieser Stelle weder zum Tätigkeitsbereich der Kanzlei noch zu den Kooperationsverpflichtungen der Vertragsstaatenversammlung. In den Regulations des TFV wird die Unabhängigkeit des Sekretariats auf der einen Seite betont, aber die enge Anbindung an die Kanzlei gewahrt, beispielsweise wenn es um die regelmäßige Berichtspflicht des TFV geht. Das Sekretariat des TFV „shall consult the Registrar on all administrative and legal matters for which it receives the assistance of the Registry.“272 In der Praxis können das BoD und der Executive Director des Sekretariats zwar frei über die Finanzen des TFV entscheiden, sie jedoch nicht eigenständig anweisen. Jede finanzielle Anweisung wird von der Kanzlei des Gerichtshofes geprüft und genehmigt. Auch die Einreichung von Schriftstücken an eine Kammer, kann der TFV nie direkt, sondern nur über die Kanzlei des IStGH vornehmen.273 Dass der TFV in allen Verwaltungsfragen vollkommen an die Kanzlei des IStGH gebunden ist, mag in Bezug auf die Einstellung von Personal, die Vertragsgestaltungen mit den sogenannten „Implementing Partners“ – meist lokalen Nicht-Regierungsorganisationen an den Wohnorten von Opfern – oder sonstigen Dienstleistern, noch akzeptabel und sinnvoll erscheinen. Als problematisch erweist sich die Abhängigkeit von der Kanzlei des IStGH aber beim Einwerben von Spenden und anderen finanziellen Zuwendungen für den Opferfonds. Der TFV hat bis heute keine eigene Rechtspersönlichkeit, sondern teilt die des IStGH, die in Artikel 4 des IStGHSt festgelegt ist. Der Executive Director des TFV erklärte im Mai 2018 „as subsidiary Organ of the Assembly, the 270 271

2020). 272 273

Siehe ASP Organigramme, www.asp.icc-cpi.int (Stand 1. 9. 2020). Siehe „How the Court works“, https://www.icc-cpi.int/about/how-the-court-works (1. 9. ICC, Regulation 19, RoTFV. Siehe Draft Implementation Plan, ICC, Regulation 57, RoTFV.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

TFV has no separate legal identity from the Court.“274 Als Unterorgan des IStGH kann der TFV dadurch keine steuerabzugsfähigen Spenden von privaten Unternehmen, private Stiftungen oder Privatpersonen einwerben, obwohl der BoD in den Regulations 23 und 24 ausdrücklich dazu aufgefordert ist. Entsprechend schwierig gestaltet sich die Finanzsituation des TFV, der seit seiner Gründung nur Zuwendungen von einzelnen Vertragsstaaten des IStGHSt einnehmen kann. Dieses zunächst banal klingende administrative Problem hat jedoch gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung und vor allem die Finanzierung von Aktivitäten des TFV. Erst seit 2018 ist die Frage nach einer eigenen Rechtspersönlichkeit des TFV auch bei dem zuständigen Committee on Budget on Finance der Vertragsstaatenversammlung angekommen. Seither wird in langwierigen Arbeitsgruppen zwischen IStGH und TFV diskutiert, ob die Errichtung eines Art Fördervereins („Friends of the TFV“) oder das Engagement eines „Fiscal sponsor, a proxy recipient of tax deductible donations“ die richtigen Varianten wären, um der Arbeit des TFV durch eine eigene Rechtspersönlichkeit mehr Möglichkeiten für Fundraising zu verschaffen.275 Die bis heute undurchdachten Konstruktionsfehler des TFV setzen sich fort, wenn eine der wichtigsten Regulierungen des Reparationsmandats betrachtet wird. Regulation 56 räumt dem BoD nämlich vollständige Autorität in Bezug auf die Finanzierung der Reparationen ein. „The Board of Directors shall determine whether to complement the resources collected through awards for reparations with ,other resources of the Trust Fund‘ and shall advise the Court accordingly.“276 Mit dieser Regel ist der BoD mit einer absoluten Macht über die Finanzierung der Reparationsanordnungen der Kammern ausgestattet. Dies steht jedoch in eklatantem Widerspruch zum Anspruch der Kammern, selbst Vorgaben zur Verwendung der angeordneten Reparationen zu machen. Obwohl der BoD bisher in allen drei Reparationsverfahren den Anträgen der jeweiligen Kammer zugestimmt hat, die Reparationssumme vollständig oder größtenteils aufzubringen, um nicht vorhandene Haftungssummen gegen einzelne Verurteilte auszugleichen, besteht mit Blick auf die ihm in Regulation 56 gewährte Finanzautorität die rechtliche Möglichkeit, dass er der Bitte einer Kammer nicht nachkommt, was zu nur schwer auflösbaren Konflikten zwischen Gericht und BoD führen würde. Im Fall Al Mahd gab der BoD zunächst 800.000,00 EUR aus der Reserve frei,277 ein Jahr später dann 1.350.000,00 EUR.278 Eine Restsumme in Höhe von 550.000,00 EUR muss immer noch durch freiwillige 274 ICC-ASP/17/5, Report of the Committee on Budget and Finance on the work of its thirtieth session, 31. 05. 2018, para. 129. 275 ICC-ASP/17/5, Report of the Committee on Budget and Finance on the work of its thirtieth session, 31. 05. 2018, para. 129. 276 ICC, Regulation 56, RoTFV. 277 ICC-ASP/17/14, Report to the Assembly of States Parties on the projects and the activities of the Board of Directors of the Trust Fund for Victims for the period 1 July 2017 to 30 June 2018, 23. 07. 2018, para. 15, para. 54. 278 ICC-ASP/18/14, Report to the Assembly of States Parties on the projects and the activities of the Board of Directors of the Trust Fund for Victims for the period 1 July 2018 to 30 June 2019, 26. 07. 2019, para. 65.

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Zuwendungen finanziert werden, um die gesamte Haftungssumme des mittellosen Al Mahdi in Höhe von 2,7 Millionen EUR aufzubringen.279 Zugleich nimmt der TFV eine Zwitterstellung zwischen der jeweiligen Kammer eines Falles, die alleine für die rechtliche Anwendung des Rechts auf Reparationen verantwortlich ist, und den Erwartungen der Opfer(gruppen) ein. Der TFV gilt als das Umsetzungsorgan von Reparationsentscheidungen des IStGH. Dennoch ist der TFV unter dem Reparationsmandat für die Umsetzung der verabschiedeten Reparationsanordnungen der jeweiligen Kammern in vielfältiger Weise an diese gebunden. Nach einer richterlichen Reparationsentscheidung ist der TFV verpflichtet, einen sogenannten Draft Implementation Plan (DIP) zu entwickeln. Die verschiedenen Parameter des DIP sind konkret in der Reparationsanordnung enthalten, sei es die Frage, in welcher Form und wann der DIP bei der jeweiligen Kammer einzureichen ist, oder in welchen Abständen die Reparationsmaßnahmen durch den TFV zu beobachten und der Kammer in Berichtsmodalitäten zu übermitteln sind. Besonders wichtig sind für die Ausgestaltung des DIP die festgestellten Leiderfahrungen und konkreten Schäden, die Opfern dieses Falles nachweislich zugefügt worden sind.280 Der TFV nimmt neben dem Reparationsmandat auch ein sogenanntes Assistenzmandat wahr. Dieses ist im IStGHSt nicht ausdrücklich vorgesehen. Es wird lediglich auf Rule 98 (5) gestützt, die von „other resources“ spricht, was eine sehr schwache Rechtsgrundlage darstellt.281 Vermutlich ist die Erstreckung der Tätigkeit des TFV dem Umstand geschuldet, dass der IStGH in den ersten Jahren seiner Existenz noch keine Fälle und dementsprechend keine Reparationsverfahren hatte, weshalb das Assistenzmandat als Substitut fungiert hat. Normative Grundlage lieferte die UN Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power von 1985, die Assistenz als eine wichtige Handlung gegenüber Verbrechensopfern akzeptierte.282 Das Assistenzmandat kann nur aktiviert werden, sobald der IStGH eine Situation unter seiner Gerichtsbarkeit identifiziert.283 Das Assistenzmandat gestattet dem BoD und dem Sekretariat des TFV ein initiatives und unabhängigeres Agieren von den Kammern, weil es nicht an einen konkreten Fall und oder ein laufendes Verfahren oder an eine Verurteilung gebunden ist. Mit diesem Mandat kann sich der TFV unterstützend an diejenigen Opfer und deren Familien wenden, die mutmaßlich unter die Gerichtsbarkeit des IStGH fallen. Opfer, die Assistenzmaßnahmen erhalten, müssen sich zudem nicht offiziell an einem Verfahren registriert haben. Gleichwohl gibt es ein prozessuales Vorgehen, das den TFV verpflichtet, etwaige Assistenzmaßnahmen an die zuständige Vorverfahrenskammer 279 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, Situation in the Republic of Mali in the case of the Prosecutor v. Ahmad Al Faqi Al Mahdi, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 134 (hier kurz: Reparations Order). 280 ICC, Regulations, 54 – 55 und 57 – 58, RoTFV. 281 ICC, 47 – 48, RoTFV. 282 UN General Assembly (1985), Declarations on Basic Principles of Justice for Victims of Crimes and Abuse of Power, A/RES/40/34, paras. 14 – 17. 283 Rules 98 (5), Art. 11 – 15 IStGHSt.

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

zu melden. Damit soll sichergestellt werden, dass der TFV nicht die Unschuldsvermutung potenzieller Verdächtiger und späterer Angeklagter verletzt, oder durch Assistenzmaßnahmen Tatsachen schafft, die einer späteren Eröffnung oder Durchführung eines fairen Verfahrens widersprechen würden.284 In der Praxis des TFV wird zwischen drei verschiedenen Kategorien des Assistenzmandats differenziert: Physische Rehabilitation, psychische Rehabilitation und materielle Unterstützung.285 Unter physische Rehabilitation fallen Maßnahmen rekonstruktiver Chirurgie sowie andere chirurgische Eingriffe nach schwersten körperlichen Verletzungen, beispielsweise das Entfernen von Patronenkugeln oder Splittern, die durch Detonationen entstanden sind. Aber auch die Behandlung von gesundheitlichen Folgen, die aus einer HIV-Infizierung herrühren, fällt unter diese Kategorie. Als psychologische Rehabilitation werden unter dem Assistenzmandat des TFV individuelle sowie Gruppengesprächstherapien, Traumatherapien, aber auch gemeinschaftliche Aktivitäten gefasst, die zur Befriedung und Versöhnung von Menschen nach schweren bewaffneten Konflikten beitragen sollen. Bewusstseinsbildende Maßnahmen werden zur psychologischen Rehabilitation meist auf ganze Gemeinschaften ausgerichtet.286 Auch die notwendigen Kommunikationsmaßnahmen, um Dorfgemeinschaften oder bestimmte ethnische oder sonstige Gruppen zu erreichen – in afrikanischen Regionen meist über das Radio – werden als psychologische Rehabilitation betrachtet. Sexualkunde wird nach sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen als Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt. Im Übrigen entsteht gerade im Bereich der Bildung der Brückenschlag zur materiellen Unterstützung von Opfern, sei es durch die Ausstattung mit Schulmaterialien für Betroffene und deren Kinder oder die tatsächliche Durchführung von berufsbildenden Trainings zur Aus- und Weiterbildung. Materielle Unterstützung wird als notwendig betrachtet, um Opfer in die Lage zu versetzen, wieder selbst für den eigenen Lebensunterhalt tätig zu werden. Es muss allerdings hinterfragt werden, ob das „dual mandate“ wirklich eine Stärke des TFV darstellt, die es ihm erst aufgrund der Kombination von Reparationsund Assistenzmandat ermöglicht, den Bedürfnissen von Opfern gerecht zu werden, um als übergeordnetes Ziel „transformative change“ zu erreichen.287 Eine Schwäche des Assistenzmandats besteht nämlich gerade darin, dass es nicht wie das Reparationsmandat an die Verurteilung eines konkreten Beschuldigten geknüpft ist. Aufgrund der fehlenden Zuschreibung von Schuld erfolgt dabei nicht die umfassende Anerkennung ihres Opferseins. Das Assistenzmandat gerät so leicht zu einem 284

ICC, Regulation 50 (a)(ii) und (iii), RoTFV. ICC, Regulation 50 (a)(i), RoTFV. 286 Siehe das Projekt „A l’ecole de la paix“ in der Demokratischen Republik Kongo des TFV, TFV, Assistance and Reparations, Programme Progress Report 2015, Den Haag 2015, S. 24. 287 Peschke, K. (2013), The roles and mandates of the ICC Trust Fund for Victims, in: Victim of International Crimes: An Interdisciplinary Discourse. Bonacker, T./Safferling, C. (Hg.), Den Haag: Springer, S. 317 – 327, S. 323. 285

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Auffangbecken und einer Art „Reparationen zweiter Klasse“, wenn ein Angeklagter, wie Jean-Pierre Bemba Gombo im Hauptverfahren zunächst schuldig und dann im Revisionsverfahren freigesprochen wird, die Richter_innen aber zugleich den TFV um Assistenzmaßnahmen für die Opfer bitten.288 Gerade in dieser Entscheidung der Bemba-Appeals-Chamber zeichnet sich die vorhandene Tendenz auch unter der Richterschaft ab, das Assistenzmandat des TFV zu aktivieren, wenn die Kammer selbst keine Mehrheitsentscheidung zur Bestätigung der Schuld des Angeklagten finden konnte. Das evozierte Assistenzmandat liest sich dann wie der Ausdruck eines schlechten Gewissens den Opfern gegenüber.289 Wenige Tage nach dem Freispruch Bembas kündigte das BoD des TFV in einem Schreiben an den Präsidenten der ASP an, ein neues Assistenzprogramm in der Zentralafrikanischen Republik aufzusetzen. „In doing so, the Board takes notice of the wealth of information related to the scope and types of harms suffered by the victims in the context of the case of The Prosecutor v. Jean-Pierre Bemba, as well as of its own earlier harm assessments of the situation.“290 Der BoD wurde im Fall Bemba somit auch eigenständig aktiv und stellte mit den Assistenzmaßnahmen Quasi-Entschädigungen in Aussicht. Bei einer wertenden Betrachtung stellen derartige Leistungen bei einem Freispruch zwar keine vollständige Anerkennung des Opferseins dar. Allerdings erfolgen sie immerhin auf der Grundlage der Wahrheit der Opferwerdung, sofern diese wie im Fall Bemba im gerichtlichen Urteil festgestellt ist und tragen in einem solchen Fall dem Bedürfnis der Opfer nach materieller Unterstützung Rechnung. Eine direkte Bitte für Assistenz äußerte die Kammer im Fall Al Mahdi. Die Richter baten den TFV Assistenzleistungen für diejenigen Opfern zu ermöglichen, die Leiderfahrungen nach Verbrechen gemacht haben, die entweder bereits nicht angeklagt oder dem Angeklagten nicht eindeutig nachgewiesen werden konnten. So wurde Al Mahdi nicht für körperliche Schäden an Menschen verurteilt, ebenso wenig wie für den zuvor angeklagten Vorwurf der Beschädigung oder Verlust von Eigentum. Die Kammer gestand an dieser Stelle der Reparationsanordnung den engen Fokus der Anklage im Vergleich „to the wider range of human rights violations alleged to have occurred in Timbuktu and elsewhere throughout Mali.“291 Nachdem der IStGH keine ausdrückliche rechtliche Grundlage für die Anordnung von Assistenzleistungen durch den TFV an Opfer hat, lautete die Formulierung dezent wie folgt: „(…) the Chamber encourages the TFV to consider acting under Rule 98 (5) of the Rules to provide general assistance to those affected.“292 Der Ausdruck „victims“ wird an dieser Stelle von der Kammer bewusst vermieden, was allerdings lediglich 288

AC, Bemba, ICC-01/05-01/08 A, 8. 06. 2018. Siehe AC, Bemba, Separate opinion, Judge Christine Van den Wyngaert and Judge Howard Morrision, „This does not mean that emotionally we do not empathise with the pain and loss of victims.“, ICC-01/05-01/08-3636-Anx2, para. 79. 290 TVF, BoD notification letter to ASP President, 13. 06. 2018. 291 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 108. 292 Ebenda. 289

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Teil 2: Einzelfallstudie: Das Verfahren gegen Ahmad Al Mahdi am IStGH

dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass es für das Assistenzmandat keine ausdrückliche Vorschrift gibt, in der der Begriff Opfer verwendet wird. In Assistenzmaßnahmen kann die internationale Rechtsgemeinschaft des IStGH ihre Solidarität und Mitverantwortung gegenüber Opfern demonstrieren. Die „metaphysische Schuld“ der Staatengemeinschaft führt zu der moralischen Verpflichtung, Opfern zu helfen.

Teil 3

Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH VI. Völkerstrafrechtliches Verfahren als Anerkennungsprozess des Opferseins Inwiefern das Menschenrecht auf Reparationen auf den im Verlauf dieser Arbeit ermittelten Sinnebenen am IStGH Beachtung findet, soll in diesem Teil 3 untersucht werden. Bereits die Gerichtsverfahren am IStGH stellen – unabhängig von der Aussicht auf Reparationsleistungen – einen Anerkennungsprozess für die Opfer internationaler Verbrechen dar, weil sie das Recht auf Gerechtigkeit und das Recht auf Wahrheit realisieren, welche die wesentlichen Bestandteile der Anerkennung der Opferwerdung bilden.1 Anders als vor den Ad-hoc Tribunalen zum ehemaligen Jugoslawien oder Ruanda sowie bei den Nürnberger Prozessen können sich Opfer aktiv am Verfahren beteiligen; sie sind keine passiven Beobachter des Verfahrens, sondern nehmen eine Subjektstellung mit eigenständigen Rechten ein. Am IStGH weist die den Opfern rechtlich zugestandene Beteiligung in den unterschiedlichen Verfahrensabschnitten verschiedene Partizipationsgrade auf; abgesehen von der Reparationsphase2 manifestieren sich diese Beteiligungsrechte und werden nach außen sichtbar vor allem im Hauptverfahren, weshalb auf dieses Verfahrensstadium ein besonderes Augenmerk zu legen ist (1.). Die Beteiligung gestattet es jedem Opfer, die eigene Identität und die eigene Opferwerdung gegenüber der internationalen Rechtsgemeinschaft bekannt zu machen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Anerkennung des Opferseins durch Feststellung der Wahrheit im gerichtlichen Prozess der Aufklärung der Verbrechen, an der die Opfer als Zeugen mitgewirkt haben (2.). Auch wenn die Partizipation damit unabhängig vom Verfahrensausgang eigenständige Bedeutung für die Opfer besitzt, erlangt die Zuschreibung zu einem verantwortlichen Täter allerdings einen besonderen Wert (3.).

1 2

Siehe Kap. II. 2. Siehe Kap. VI.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

1. Opferbeteiligung Hinsichtlich des Rechts der Opfer zur Beteiligung im Verfahren vor dem IStGH, wechseln sich aktivere Partizipationsformen mit passiven ab. Die Beteiligung für Opfer schwerster Verbrechen am IStGH erinnert damit an das grundlegende Partizipationsverständnis, das sich auch bei verschiedenen Menschenrechten zeigt, wie etwa die gleichberechtigte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern am politischen Prozess durch das aktive und das passive Wahlrecht. Auch bei der Umsetzung des Rechts auf Entwicklung empfahl der UN Menschenrechtsrat die Abwechslung von aktiven und passiven Partizipationsarten. Während passive Beteiligungsformen lediglich bestimmte technische Maßnahmen umfassen, um betroffene Menschen in ein Verfahren zu integrieren, streben aktive Beteiligungsformen das „Empowerment“ der Betroffenen an. Dazu zählt beispielsweise das Recht auf rechtliches Gehör.3 Bei den Ausführungen zum Recht auf Entwicklung lieferte der UN Menschenrechtsrat zugleich eine Definition für Beteiligung: „Participation is also the principal means by which individuals and peoples collectively determine their needs and priorities, and ensure the protection and advancement of their rights and interests.“4 Ein menschenrechtliches Verständnis von Beteiligung an völkerstrafrechtlichen Verfahren vor dem IStGH muss dabei in der Autonomie und Selbstbestimmtheit als wesentlichem Bestandteil der Menschenwürde begründet sein. Die Achtung der Würde liefert den empirischen Auftrag für die Anerkennung des Opferseins. Um die konkrete Handhabung der Opferbeteiligung im Fall Al Mahdi zu verstehen und den Wert des Anerkennungsprozesses beim Recht auf Reparationen einordnen zu können, muss zunächst der rechtliche Rahmen diskutiert werden. Der maßgebliche Art. 68 IStGHSt gibt den Richterinnen und Richtern ein breites Ermessen, wie eng oder weit sie die Rechte der Opfer im Verfahren interpretieren. Dieser Ermessensspielraum ist aus Sicht der Opfer nicht unproblematisch (1. a)). Auf dieser Grundlage lassen sich die praktischen Fragen nach der Identität der sich am Verfahren beteiligenden Opfer (1. b)) und deren Schutz vor Repressalien erörtern (1. c)), bevor schließlich auf die spezielle Rolle der UNESCO im Verfahren Al Mahdi näher eingegangen wird (1. d)). a) Der rechtliche Rahmen der Opferbeteiligung Die Beteiligung von Opfern an den Verfahren ist in verschiedenen Artikeln des IStGHSt und Regeln der Verfahrensordnung festgelegt – unabhängig davon, ob die Beteiligung von Opfern wegen eines Interesses an der Wahrheitsfindung im Hauptverfahren oder des Bemühens um Entschädigungsleistungen während der Reparationsphase beabsichtigt ist. Opfer internationaler Straftaten, die vor dem IStGH verhandelt werden, müssen sich nicht zwangsläufig von Anfang an am 3 4

UN E/CN.4/1990/9/Rev.1, 1990, para. 117. Ebenda, para. 150.

VI. Völkerstrafrechtliches Verfahren als Anerkennungsprozess des Opferseins

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Verfahren beteiligen, um Reparationsansprüche zu erheben. Spätestens müssen sie sich jedoch ab dem Zeitpunkt eines Schuldspruches registrieren lassen, sobald eine Entschädigung vom verurteilten Täter tatsächlich erwartet werden kann. In allen Verfahrensstufen stellt Artikel 68 (3) des IStGHSt die grundlegende Norm für die Beteiligung der Opfer dar. Dessen Wortlaut muss daher im Folgenden genauer betrachtet werden: „Where the personal interests of the victims are affected, the Court shall permit their views and concerns to be presented and considered at stages of the proceedings determined to be appropriate by the Court and in a manner which is not prejudicial to or inconsistent with the rights of the accused and a fair and impartial trial.“5

Auf den ersten Blick scheint die Vorschrift den Opfern hinsichtlich ihrer Beteiligung am Verfahren eine starke Rechtsposition einzuräumen. Der Begriff des „persönlichen Interesses“, welcher grundsätzlich das Zulassungskriterium für die Beteiligung von Menschen mit Opfererfahrung konstituiert, ist weit zu interpretieren. Das naheliegende Interesse von Opfern, weshalb sie sich an einem Strafverfahren beteiligen, dürfte in den persönlich erlittenen Leid- und Unrechtserfahrungen liegen, die unmittelbar durch eine Straftat oder als deren Folge entstanden sind. Dabei handelt es sich um diejenigen Opfererfahrungen, die mit dem Verständnis von Emcke als zivilisatorischer Bruch des Unrechts zu sich selbst und zur Außenwelt beschrieben werden können. Allein durch die erlittene Opferwerdung ist somit schon ein Interesse von Opfern an einer aktiven Partizipation begründet. Die Al Mahdi Kammer griff dies auf: „The Chamber stresses that applicants must have personally suffered harms.“6 Häufig begibt sich der IStGH in seiner Rechtsprechung nach einer Motivsuche, die das Interesse von Opfern erklären soll. So wird auch das Streben nach der öffentlichen Wahrheit als persönliches Interesse betrachtet, das als übergeordnetes Ziel des gesamten Internationalen Strafgerichtshofes gilt7 – dies korrespondiert mit dem Individualinteresse des einzelnen Opfers an der Anerkennung durch Wahrheit und den im theoretischen Teil 1 gewonnenen Erkenntnissen. Weitere Motive, die das Interesse von Opfern an der persönlichen Teilhabe an den Verfahren beschreiben, werden mit dem Recht auf Gerechtigkeit („right to justice“) und dem Recht auf Reparationen begründet. Die Aussicht auf Reparationsleistungen am Ende eines Prozesses werden ebenfalls als legitimes und berechtigtes Motiv für ein persönliches Interesse von Betroffenen an der Opferbeteiligung eingestuft.8 Auch das Recht auf Gerechtigkeit selbst, das nicht nur durch Artikel 2 des UN Zivilpakts9, sondern auch 5

Art. 68 (3) IStGHSt. TC VIII, Al Mahdi, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 20. 7 PTC III, Bemba, 12. 12. 2008, ICC-01/05-01/08, para. 14; Donat-Cattin, D. (2016), Article 68, in: Triffterer, O./Ambos, K. (Hg.), The Rome Statute of the International Criminal Court. Oxford, Baden-Baden: V.H.Beck, Hart, Nomos, para. 10. 8 PTC III, Bemba, 12. 12. 2008, ICC-01/05-01/08, para. 90. 9 Art. 2 ICCPR. 6

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

in den verschiedenen die Opferrechte betreffenden UN Berichten definiert ist, akzeptiert Reparationen als persönliches Interesse. Schließlich umfasst das Recht auf Gerechtigkeit das Recht auf Zugang zu Gerichtsbarkeit, das Recht auf Wahrheit und das Recht auf Reparationen selbst.10 Diejenigen Opfer, die als Zeugen oder Zeuginnen Gehör finden oder einen Beitrag zur Wahrheit leisten wollen, können sich früh an dem Verfahren beteiligen. Aber auch denjenigen Opfern, die unabhängig von einer Zeugenschaft ein primäres persönliches Interesse an Entschädigungsleistungen haben, steht der Weg für eine Beteiligung im Vor- und Hauptverfahren offen. Das Interesse von Opfern an der Beteiligung am Verfahren gegen Al Mahdi bringt der LRV am dritten Verhandlungstag auf den Punkt: „That is what the victims of Timbuktu want to shout out so that they may be heard and understood“.11 Der wichtigste formale Schritt zur Anerkennung der Opfer ist damit bereits eingeleitet, sobald die Sprachlosigkeit der Opferwerdungen beendet wird und die Opfer(interessen) rechtliches Gehör vor dem Internationalen Strafgerichtshof finden. Sind nun die persönlichen Interessen der Opfer in dem beschriebenen, weit verstandenen Sinne betroffen, muss das Gericht sie gemäß Art. 68 (3) entsprechend am Verfahren beteiligen („shall“). Die Art und Weise der Beteiligung steht jedoch weitestgehend im Ermessen des Gerichts, welches darüber befindet, ob und inwieweit sie diese für geeignet („appropriate“) erachtet. Untermauert wird Art. 68 (3) in der Praxis durch Rule 89 (1), die eine wichtige Kernregelung für die Opferbeteiligung im eigentlichen Prozess darstellt, weil sie der zuständigen Kammer gestattet, über die Art und Weise der Opferbeteiligung selbst zu entscheiden. Hinzu kommt, dass die Richter nach dem Wortlaut von Art. 68 (3) dafür Sorge zu tragen haben, dass durch die konkrete Beteiligung nicht die Rechte des Angeklagten sowie die Fairness und Unparteilichkeit des Verfahrens beeinträchtigt werden. Es liegt auf der Hand, dass die unbestimmten Begriffe der „Fairness“ und der „Unparteilichkeit“ des Verfahrens unterschiedlich interpretiert werden können und in der Rechtsprechung des IStGH bislang auch unterschiedlich interpretiert wurden. Das Statut sagt insoweit nichts darüber aus, wie die Abwägung zwischen Angeklagten- und Opferrechten auszusehen hat. Es ist die Aufgabe der jeweiligen Kammer nach Abwägung der Angeklagtenrechte mit den Opferinteressen ein faires, unabhängiges und zügiges Verfahren unter Beteiligung der Opfer zu garantieren.12 Bei der Entscheidung über Anträge von Opfervertretern zeigt sich die Abwägung besonders. Jede Kammer kann selbst über die Art der Fragestellungen, die Anzahl der zugelassenen Fragen und der Anträge bestimmen.13 Richter_innen sind auch hier die alleinigen Entscheider über den Grad der Opferbeteiligung. Der Auslegungsspielraum erklärt, weshalb in den gleichen Verfahrensstadien der bisherigen Fälle teilweise sehr unterschiedliche 10 11 12 13

Siehe Kap. IV. 1. b). TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 24. 08. 2016, S. 19. Siehe Kap. V. ICC, Rule 91 (3)(b), RPE; Art. 64 IStGHSt.

VI. Völkerstrafrechtliches Verfahren als Anerkennungsprozess des Opferseins

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Entscheidungen zur Opferbeteiligung erlassen wurden.14 Es obliegt ausschließlich der jeweiligen Kammer, ob sie in dem Verfahren eine aktivere Beteiligung von Opfern zulässt oder nicht.15 Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass sich der Grad der Opferbeteiligung in der Rechtsprechung des IStGH nach dem jeweiligen Verfahrensstadium unterscheidet. Dies beruht auf der Überlegung, dass die „personal interests“ der Opfer, von denen Art. 68 (3) IStGHSt spricht, mit fortschreitendem Verfahren im Verhältnis zu den damit abzuwägenden Rechten des Angeklagten mehr Gewicht erlangen. So wird Opfern und ihrem rechtlichen Vertreter im Vorverfahren eine eher beobachtende Rolle zugestanden, obwohl bereits diese frühe Beteiligung Opfern die Möglichkeit eröffnet, ihre „Interessen“ zu wahren und ihre Ansichten an den Gerichtshof heranzutragen. Eine frühzeitige Beteiligung kann den IStGH und vor allem die Anklagebehörde bei der Beweisermittlung unterstützen. Zugleich ist sie im Interesse der Opfer, da sie schon frühzeitig zur Ermittlung der Wahrheit beiträgt. Ein höherer Partizipationsgrad wird dann nach der Rechtspraxis des IStGH erreicht, sobald Anklage erhoben, ein Verfahren tatsächlich eröffnet wird und die Opfer ihre Leid- und Unrechtserfahrungen vorbringen können. Zwar bleibt festzuhalten, dass der jeweiligen Hauptverfahrenskammer auch hier ein weiter Handlungsspielraum eingeräumt wird, der sich etwa auf so symbolträchtige Beteiligungsformen wie die eines Eröffnungsstatements und eines Plädoyers seitens der Opfervertreter erstreckt.16 Die Beteiligungsformen sind im Hauptverfahren jedoch prinzipiell aktiver als im Vorverfahren; so wird beispielsweise grundsätzlich zugelassen, dass Opfervertreter_innen Zeuginnen und Zeugen befragen.17 Regulation 56 gestattet auch Fragen, die speziell Reparationen betreffen.18 Allerdings sind auch hier juristische Zustimmungshürden der Kammern eingebaut worden. Immer wenn der LRV selbst die Befragung eines Zeugen vornehmen will, sei es die einer Opferzeugin, eines 14 An dieser Stelle sei nur ein Beispiel genannt: Im Vorverfahren im Fall Lubanga musste der Opferanwalt für anonyme Opfer jedes Mal einen schriftlichen Antrag stellen, ehe er intervenierte. Erst nach der schriftlichen Entscheidung der Kammer konnte der Anwalt sein Anliegen während der Anklageanhörung vorbringen. (PTC I, Lubanga, Decision on the Arrangements for Participation of Victims a/0001/06, a/0002/06 and a/0003/06 at the Confirmation Hearing, 22. 09. 2006, ICC-01/04-01/06-462-tEN, page 7). Im Fall Ongwen musste der Opferanwalt im Vorverfahren hingegen keine Erlaubnis einholen, um mündliche oder schriftliche Anträge zu stellen (PTC II, Ongwen, Decision on contested victims’ applications for participation, legal representation of victims and their procedural rights, 27. 11. 2015, ICC02/04-01/15-350, para. 33). 15 Eine Besonderheit der Opferbeteiligung eröffnet Rule 93, RPE. Demnach können in Verfahren auch diejenigen Opfer berücksichtigt werden, die keine offizielle Beteiligung für sich gefordert haben: „a Chamber may seek the views of other victims, as appropriate“. Dadurch kann die Basis für die Wahrheitsfindung durch Opferbeteiligung vergrößert werden. 16 Weitere Regeln wie Rule 50 (1) oder Rule 59 (1)(b), RPE, werden aktiviert, sobald bestimmte prozessuale Verfahren in Art. 15 (3) und 19 (3) IStGHSt angestoßen werden. 17 Rule 91 (3), RPE. 18 Regulation 56.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

Experten oder des Angeklagten selbst, muss er oder sie eine vorherige Genehmigung der Kammer einholen. Der LRV muss insoweit nachweisen, dass die Zeugenaussage im Interesse der Opfer liegt. Die Kammer kann den LRVauffordern, die Fragen vorab schriftlich ausformuliert einzureichen, um sie gegebenenfalls der Anklagebehörde und der Verteidigung mit der Möglichkeit zur Stellungnahme zu übermitteln.19 In diesem Zusammenhang erhielt die Opferbeteiligung am IStGH auch Gegenwind durch Entscheidungen von Richter_innen, welche die Befragungsrechte der Opfervertreter inhaltlich einschränkten. So wurden ihnen nicht gestattet, Fragen an die Zeugen zu richten, welche die konkreten Tatbeiträge und damit die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten betrafen; erlaubt wurde ihnen nur, Fragen zu dem persönlichen Leid zu stellen, das sie erlitten hatten. Die Richter und Richterinnen sahen in einer weiter gehenden Partizipation der betroffenen Menschen im Hauptverfahren die Gefahr, dass die Opfervertretung zu einer Art Hilfs- oder zusätzlicher Staatsanwaltschaft wird und wollten damit verhindern, dass die Angeklagten sich gleich mit zwei „gegnerischen“ Parteien konfrontiert sahen: der Opfervertretung und der Anklagebehörde. Intention dieser IStGH-Entscheidungen war es, die Rolle der Opferbeteiligung klar von den Aufgaben der Anklagebehörde abzugrenzen. Opfer sollten demnach weder „auxiliary prosecutors“ sein noch „support to the prosecution“, um die Waffengleichheit zwischen den Parteien und die in Art. 68 (3) genannten Rechte des Angeklagten zu wahren.20 Allerdings ist kritisch anzumerken, dass mit einer derartigen Einschränkung der mögliche Beitrag der Opfervertretung zum Recht auf Wahrheit in nicht vertretbarer Weise entwertet wird, da es ihm verwehrt ist, Fragen zum Ablauf des Kerngeschehens zu stellen, das dem Angeklagten vorgeworfen wird. Dass die Richter_innen des IStGH die Opferbeteiligung nach ihrem Ermessen eng oder weit auslegen können, hat den Nachteil einer uneinheitlichen Rechtsprechung zu dieser Frage. Damit können auch Art und Weise sowie Umfang der Beteiligung der Opfer in einem konkreten Verfahren kaum sicher vorhergesagt werden. Eine restriktive Auslegung der Beteiligungsrechte ist aus menschenrechtlicher Sicht zu kritisieren. Im Triffterer-Kommentar zum IStGHSt wird zu Recht eine opferfreundliche und großzügige Interpretation gefordert, wonach Opfer stets als „potential parties“ in allen Verfahrensstufen betrachtet werden sollten.21 Ihre Qualifizierung als „Parties“, d. h. ,Parteien‘ und nicht als bloße ,participants‘, also ,Beteiligte‘ würde automatisch mit sich bringen, dass ihre Rechte im Verfahren denen der anderen Parteien – Anklagebehörde und Verteidigung – angeglichen werden, mithin im Vergleich zur derzeitigen Rechtspraxis deutlicher ausgeprägt wären. Hinter Entscheidungen des Gerichtshofs, welche die Opferbeteiligung extensiv interpretieren, steht häufig ein Verweis auf die Achtung der Menschenrechte von Opfern. So haben einzelne Vorverfahrenskammern in ihren Entscheidungen die Bedeutung der 19

Rule 91 in Verbindung mit Rule 67, Rule 68, RPE. TC II, Katanga & Ngudjolo, 01. 12. 2009, ICC-01/04-01/07-1665-Corr, para. 22; TC II, Bemba, 19. 11. 2010, ICC-01/05-01/08-1023, para. 17. 21 Donat-Cattin, D. (2016), Article 68, in: Triffterer (2016), para. 10. 20

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universellen Menschenrechte für die Opferbeteiligung am IStGH betont. Artikel 21 (3) des IStGHSt erlaubt es ausdrücklich, die international und national verankerten Menschenrechte als Normen für die Rechtsprechung zu berücksichtigen. Dieses gilt für die Menschenrechte des Angeklagten wie für die der Opfer. In verschiedenen Fällen wurde festgehalten, dass dazu das Recht auf Wahrheit, Zugang und Gleichbehandlung vor Gericht sowie das Recht auf Entschädigung gehören.22 Den Opfern werden dann in der Reparationsphase im Vergleich zum Hauptverfahren deutlich mehr Beteiligungsrechte eingeräumt. Das binäre Parteiensystem zwischen Anklage und Verteidigung ist aufgehoben und die Opfer werden nunmehr zur eigenständigen Verfahrenspartei.23 Auch die Al Mahdi-Kammer betonte zu Beginn der Reparationsphase die neue Parteienstruktur ausdrücklich: „For purposes of reparations proceedings, the parties are understood as the Defence and the Legal Representative of the Victims.“24 In der Reparationsanordnung stärkte die Kammer die Partizipationsrechte der Opfer: „Victims should be able to participate throughout the reparations process and they should receive adequate support in order to make their participation substantive and effective.“25 Diese stärkere Rechtsstellung der Opfer im Reparationsverfahren beruht darauf, dass die Beweisaufnahme gegen den Angeklagten abgeschlossen ist26 und er wegen der Straftaten zu Lasten der Opfer bereits verurteilt wurde. Deshalb besitzen seine Rechte gegenüber den Rechten der Opfer nunmehr ein deutlich geringeres Gewicht als zum Zeitpunkt des Hauptverfahrens, als noch zu seinen Gunsten die Unschuldsvermutung galt. Das bedeutet nicht, dass der Angeklagte im Reparationsverfahren rechtlos gestellt ist und die Opferbeteiligung keinen Grenzen mehr unterliegt. Es ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte im Ergebnis für finanzielle Reparationsleistungen haftbar gemacht werden kann. Dies macht es erforderlich, ihm auch in diesem Verfahrensstadium rechtliches Gehör zu gewähren.27 Im Berufungsverfahren dürfen Opfer, die bereits am Vor- und Hauptverfahren partizipiert 22 PTC I, Abu Garda, Decision on victims’ modalities of participation at the Pre-Trial Stage of the Case, 06. 10. 2009, ICC-02/05-02/09-136, para. 5; PTC I, Mbarushimana, Decision on the 138 applications for victims’ participation in the proceedings, 11. 08. 2011, ICC-01/04-01/10351, para. 23. 23 TC I, Lubanga, Decision establishing the principles and procedures to be applied to reparations, 07. 08. 2012, ICC-01/04-01/06-2904, para. 267; AC, Lubanga, Decision on the admissibility of the appeals against Trial Chamber I’s „Decision establishing the principles and procedures to be applied to reparations“, 14. 12. 2012, ICC-01/04-01/06-2953, para. 67. 24 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Phase Calendar, 29. 09. 2016, ICC-01/12-01/15-172, Fn. 3. 25 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 30. 26 Artikel 69 (3) gestattet Opfern aber die Einreichung eigener Beweise – allerdings nur auf explizite Aufforderung der jeweiligen Verfahrenskammer. Wie alle Beweismaterialien können auch die von Opfern eingebrachten Beweise zur Wahrheitsfindung herangezogen werden. 27 Rule 20 differenziert in der Verantwortung des Registrar gegenüber den Rechten der Verteidigung nicht zwischen Verdächtigem, Angeklagten und verurteilten Täter, siehe Kap. V. 1. c), Rechte des Angeklagten.

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haben, nach einer Entscheidung der Berufungskammer des Gerichtshofs, welche anderslautende frühere Rechtsprechung geändert hat, automatisch teilnehmen.28 b) Identität beteiligter Opfer Der erste Schritt zur Opferbeteiligung ist in allen Verfahrensstufen eine rein formale Registrierung durch die Opfer selbst oder ihren Opfervertreter. Dieser administrative Akt besitzt große praktische Relevanz, da er den Opfern erst die Partizipation am Verfahren und gegebenenfalls das Recht auf Reparationen eröffnet. Zugleich wird damit die Identität der einzelnen Opfer festgehalten. Die Beteiligung gibt Opfern die Chance, eine Anerkennung des Opferseins zu erfahren, indem sie namentlich die persönlich erlittenen Leiderfahrungen beschreiben. Sobald Ermittlungen der Anklagebehörde offiziell gestattet sind, können sogenannte „application forms“ von Opfern eingereicht werden.29 In den verschiedenen Fällen haben Kammern bisher unterschiedliche Herangehensweisen gewählt, um Opfer(gruppen) den praktischen Zugang zu den Verfahren zu ermöglichen. Um möglichst auch effizient auf die hohe Zahl an Registrierungsformularen zu reagieren, empfahl die ASP in einer Resolution 2011 die bisherigen Entscheidungen zu überprüfen und durchaus verschiedene praktische Herangehensweisen mit Opferbeteiligten vorzunehmen.30 Wie im Prozess gegen Al Mahdi präferierten die Kammern häufig Einzelfallprüfungen der individuellen Registrierungsformulare von Opfern. Dieses Vorgehen ist aufwendiger als eine Bündelung von Opfergruppen mit ähnlichen Leiderfahrungen in einem einzigen Registrierungsformular wie beispielsweise im Prozess gegen Ggabgo. Im Verfahren gegen die kenianischen Angeklagten, Ruto, Sang und Kenyatta, wurde hingegen eine hybride Herangehensweise für die Opferbeteiligung gewählt, wonach sich Opfer zunächst in Gruppen zu registrieren hatten, im Hauptverfahren aber weitere individuelle Opferbeteiligungen möglich waren.31 Im Fall gegen Al Hassan wurde wiederum eine neue Herangehensweise für die Opferbeteiligung gewählt, weil die Kammer die gemeinsame Registrierung von Familien oder von Opfervereinigungen erlaubte.32 28 AC, Gbagbo & Blé Goudé, Decision on the „Request for the recognition of the right of victims authorized to participate in the case to automatically participate in any interlocutory appeals arising from the case and, in the alternative, application to participate in the interlocutory appeal against the ninth decision on Mr. Ggagbo’s detention, 22. 07. 2015, ICC.02/1101/15-158. 29 Rule 89 bis 91 legen das Verfahren unter Art. 68 (3) der Opferbeteiligung fest. Regulation 86 bestimmt den Umgang mit den Applications durch die Kanzlei. 30 ASP, Resolution ICC.ASP/10/Res.5, para. 49. 31 Human Rights Center (2015), The Victims’ Court. Berkeley: Human Rights Center, UC Berkeley School of Law, S. 26 – 28. 32 PTC I, Prosecutor v. Al Hassan, Decision Establishing the Principles Applicable to Victims’ Applications for Participation, ICC-01/12-01/18-37-tENG, 24. 05. 2018, paras. 34 – 36. Anm.: Das Verfahren The Prosecutor v. Al Hassan wurde am 14. 07. 2020 eröffnet. Al

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Die gewählte Herangehensweise des Registrierungsvorgangs trifft keinerlei Aussage über die Anerkennung der einzelnen Leiderfahrungen von Opfern, sondern konstituiert nur den präferierten Verwaltungsakt. Auch wird die Wahrscheinlichkeit von Reparationsleistungen nicht erhöht, wenn sich Opfer individuell oder im Kollektiv an dem sie betreffenden Verfahren beteiligen. Als Gemeinsamkeit haben alle Herangehensweisen, dass durch diesen Schritt die Identitäten der Opfer am IStGH – als Einrichtung der internationalen Rechtsgemeinschaft – gesichert werden. Nach Bilbao Alberdi bleibt Anerkennung kein theoretisches Konzept, sobald Opfer namentlich registriert sind. Ihre Leid- und Unrechtserfahrungen werden zugleich in einen Zusammenhang mit den angeklagten Verbrechen gebracht. Die Opferbeteiligung am IStGH bedeutet auch, dass die persönlichen Identitäten betroffener Opfer außerhalb des Konfliktortes der Verbrechen bekannt sind. Die Beteiligung sichert somit die Opferidentitäten als Bestandteil der gesamten Wahrheit der am IStGH angeklagten internationalen Verbrechen. Zur Registrierung müssen Opfer ihre Identität gegenüber dem IStGH verifizieren: „The burden of proof lies with the victim applicant requesting to participate in the precent case.“33 Weder im Statut noch in den Verfahrens- und Beweisregeln ist klar bestimmt, welche Nachweise von Opferseite gebracht werden müssen, um den Antrag auf Teilnahme am Reparationsverfahren erfolgreich bestätigt zu bekommen.34 Die Nachweise müssen in der Praxis pragmatisch und alltagstauglich an die jeweilige Konfliktregion angepasst sein, wenn man den Registrierungsvorgang nicht zum Ausschlussverfahren machen will. Die meisten Opfer internationaler Straftaten stammen – wie im vorliegenden Untersuchungsfall – aus langjährigen Kriegs- und Konfliktgebieten mit schwachen Regierungs- und Verwaltungssystemen. Auch Mali verfügt über keine flächendeckende Verwaltungsstruktur, die jedem Bürger und jeder Bürgerin eine Geburtsurkunde oder einen Personalausweis als Identitätsnachweis garantiert. Für die Registrierung mussten die Kammern deshalb in den bisherigen Fällen Dokumente bei der Überprüfung großzügig zulassen, welche die Identität von Opfern belegen. Diesbezüglich verwies die Al Mahdi Hauptverfahrenskammer auf frühere Entscheidungen, die auch Parteimitgliedschaftsnachweise oder Schulzeugnisse erlaubten.35 Selbst eine eingereichte Erklärung über die Identität eines einzelnen Opfers durch zwei Personen, die sich wiederum selbst ausweisen können, Hassan Ag Abdoul Aziz ist als zweite Mitglied der Ansar Dine für die Verbrechen in Timbuktu angeklagt. 33 PTC III, Bemba, Fourth Decision on Victims’ Participation, 12. 12. 2008, ICC-01/05-01/ 08-320, para. 31. 34 Jorda/Hemptinne (2002), S. 1387 – 1420. 35 Neben den klassischen Identitätsnachweisen wie Reisepass, Geburtsurkunde, Personalausweis, Führerschein, Wahlkarte, Heiratsurkunde, Konsulatsausweis, und Sterbeurkunde wurden auch Dokumente über medizinische Behandlungen, Rehabilitation oder Ausbildung, Mitgliedskarten der Kirche, Familienstammbuch, Mitarbeiterausweise, Mitgliedskarten einer politischen Partei oder Rentenhefte gestattet, siehe: Ggbabo Victim Decision, ICC-02/11-01/ 11-800, para. 31, zitiert in: TC VIII, Al Mahdi, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 18.

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wurde als Identitätsnachweis akzeptiert.36 Im Al Mahdi Hauptverfahren beteiligten sich zunächst lediglich acht Opfer37, im Reparationsverfahren hat sich diese Zahl auf 139 erhöht.38 Aus Gründen des Datenschutzes und des Opferschutzes werden die Applications mit den persönlichen Angaben der Opfer bei der zuständigen VPRS des IStGH verwaltet und zunächst nicht mit den beteiligten Hauptprozessparteien, Anklage und Verteidigung, geteilt. Erst im nächsten Schritt erfolgt eine Vorprüfung, ehe die Formulare an die Kammer weitergeleitet werden. Bei unvollständig ausgefüllten Applications soll sich die VPRS direkt an die betroffenen Opfer wenden, um diese zu informieren.39 Der IStGH kommt an dieser Stelle seiner Informationspflicht aus Rule 92 gegenüber den Opfern nach.40 Die Opferbeteiligung durch den Registrierungsakt ist sehr „westlich-bürokratisch“ organisiert. Das Registrierungsformular wird online auf der Homepage des IStGH zugänglich gemacht und zugleich in den verschiedenen lokalen Sprachen der Opfer durch die „Field Offices“ in der (ehemaligen) Konfliktregion verteilt. Für die Online-Registrierung ist es zwingend notwendig, eine gewisse Medienkompetenz mitzubringen, um sich auf der IStGH-Homepage zu Recht zu finden. Von einer leichten oder gar barrierefreien Zugänglichkeit kann hier nicht die Rede sein. Weder die Webseite des IStGH noch die des Opferfonds gestatten dem Betroffenen ein rasches Auffinden dieses Formulars, das dann als PDF ausgedruckt, gefaxt oder direkt online ausgefüllt werden kann. Auch die Navigation im Hauptmenü, ein Zugriff unter den Shortcuts oder „Resources for“ ermöglicht keinen unmittelbaren Zugang für Opfer und ihre Vertreter. So sind weder die Homepage des IStGH noch die des Treuhandfonds für Opfer besonders „opferfreundlich“ gestaltet, da sie die persönlichen Umstände der potentiellen Opfer und ihre Lebenswirklichkeit nicht hinreichend berücksichtigen.41 Sie genügen daher nicht den Anforderungen, die an einen effektiven Zugang von Opfern zur Beteiligung an völkerstrafrechtlichen Verfahren zu stellen sind. Unabhängig davon würde die Registrierung allein über ein Internetportal der Lebenssituation der Opfer internationaler Straftaten in den Konfliktländern oftmals nicht gerecht werden. Dies zeigt in besonderem Maße der Fall gegen Al Mahdi. Direkte Opfer, die sich registrieren konnten, stammten aus Timbuktu in Mali. Für 36 PTC III, Bemba, Fourth Decision on Victims’ Participation, 12. 12. 2008, ICC-01/05-01/ 08-320, para. 37. 37 TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims‘, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red. 38 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 9. 39 TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims‘, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 11. 40 ICC, Rule 92, RPE. 41 www.icc-cpi.int (Stand 1. 9. 2020).

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Gesamtmali ermittelte die Weltbank im Jahr 2012 allerdings eine Quote von lediglich knapp 3 % der Gesamtbevölkerung, die einen Zugang zum Internet hatte.42 Zu Beginn der offiziellen Ermittlungsphase hatte der IStGH 2013 noch kein Fieldoffice in Bamako in Mali errichtet. Der zeitliche Aufwand war deshalb für den einzelnen Opfervertreter höher, er hatte vor Verfahrensbeginn keine Vor-Ort-Unterstützung durch die zuständigen Abteilungen des IStGH. So erklärt sich, dass sich in der Vorverfahrenskammer keine Opfer zur Beteiligung registrieren konnten.43 Der Nachweis der eigenen Identität ist der Zugangsschlüssel zur Partizipation von Opfern am IStGH. Dennoch stellt unabhängig von der Verfahrensstufe die Frage nach der Preisgabe der Identität von Opfern an die Verteidigung und den Angeklagten den IStGH vor schwierige praktische und rechtliche Herausforderungen. Dies gilt besonders wenn es sich um die Identität von Opfern handelt, die eine Zeugenaussage gemacht haben oder tätigen werden. Abzuwägen sind dabei der Opferschutz, der wegen der Gefahr der Verfolgung und Einschüchterung, ja sogar Ermordung, eine möglichst weitgehende Geheimhaltung gebieten kann, und das Recht des Angeklagten auf Verteidigung, das bei anonym bleibenden Zeugen nicht effektiv gewährleistet ist. Der IStGH differenziert in seiner Rechtspraxis insoweit zwischen den verschiedenen Verfahrensstufen. Im Fall Al Mahdi gab der zuständige Einzelrichter im Vorverfahren dem Antrag der Anklage statt, wonach die Identität eines Opferzeugen aus Sicherheitsgründen in ausgewählten Dokumenten nicht an die Verteidigung übermittelt werden durfte. Zugleich wurde festgehalten, dass jede Entscheidung über die Wahrung der Anonymität oder Weitergabe der Identität stets von Fall zu Fall zu treffen sei.44 Wenn im Vorverfahren nicht geklärt ist, ob überhaupt eine Anklage erhoben werden kann, ist es nur schwer nachvollziehbar, warum Opfer ihre Identität auch gegenüber der Verteidigung und damit dem Verdächtigen offenlegen sollten. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bis zur Bestätigung der Anklage weitgehend um ein schriftliches Verfahren handelt, in dem etwa die persönliche Befragung von Zeugen und Zeuginnen durch die Verteidigung noch keine Rolle spielt. Seit dem Verfahren gegen Jean Pierre Bemba wird daher die Anonymität von Opfern in der Vorverfahrenskammer gewahrt, wenn dies nach Einschätzung von Anklagebehörde und Gericht geboten ist. Diese Entscheidung des deutschen Einzelrichters, Hans-Peter Kaul, die häufig unter ihrem Ansatz „systematic approach“ in nachfolgenden Fällen zitiert wird, legte die Marschroute für künftige Beteiligungsentscheidungen am IStGH fest: „(…) no differentiation is

42 Im Jahr 2018 lag die Quote bereits bei 13 % in Bezug auf die Gesamtbevölkerung, https: //data.worldbank.org/indicator/IT.NET.USER.ZS?end=2014&locations=ML&start=2012 (Stand 1. 9. 2020). 43 PTC I, Al Mahdi, Decision on schedule of the hearing on the confirmation of charges against Ahmad Al Faqi Al Mahdi, 23. 02. 2016, ICC-01/12-01/15-77; PTC I, Al Mahdi, Decision on the confirmation of the charges against Ahmad Al Faqi Al Mahdi, 24. 03. 2016, ICC01/12-01/15-84-Red. 44 PTC I, Al Mahdi, 08. 12. 2015, ICC-01/12-01/15, public redacted version.

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made between victims whose identity is known to the Defense and those for whom anonymity has been granted by the chamber.“45 Dies ändert sich, sobald das Verfahren nach Bestätigung der Anklage die Schwelle zum Hauptverfahren überschritten hat. Tendenziell gilt die Entscheidung aus dem Lubanga-Verfahren: „The greater the extent and the significance of the proposed participation, the more likely it will be that the Chamber will require the victim to identify himself or herself.“46 Die Identitäten der sogenannten „dual status victims“47, derjenigen Opfer, die auch als Zeugen im Verfahren gegen den mutmaßlichen Täter aussagen, werden immer an die Verteidigung weitergeleitet. Opferzeugen und Zeuginnen sind dann automatisch namentlich dem Angeklagten bekannt.48 Insofern geht man davon aus, dass nur so das Recht des Angeklagten, die gegen ihn auftretenden Zeugen und Zeuginnen befragen zu dürfen, gewahrt werden kann.49 Die Kehrseite besteht in der Gefährdung von Zeugen und Zeuginnen. Der Zeugenschutz muss in diesen Fällen durch den Gerichtshof auf anderen Wegen gewährleistet werden, die allerdings im Einzelfall einen hohen logistischen Aufwand bis zu einer Umsiedlung erfordern, wie sogleich noch zu zeigen sein wird.50 Im Reparationsverfahren ist es üblich, dass die beiden Hauptprozessparteien, Anklage und Verteidigung, vor der Entscheidung der Kammer selbst einen Blick auf die Registrierungsformulare werfen und gegebenenfalls Anmerkungen machen, die an die Kammer weitergeleitet werden. Die Identität von Opfern ist der Verteidigung und dem Angeklagten in der Regel bekannt. Opfer, die beim Zuspruch möglicher monetärer oder anderer individueller Reparationsleistungen berücksichtigt werden wollen, müssen bereit sein, ihre Identität gegenüber dem Gerichtshof zu offenbaren. Anders als im Verfahren gegen Germain Katanga entschied die Al Mahdi Kammer, nicht den Vorgaben zu folgen, die Rule 94 umfasst, wonach jede individuelle Bewerbung der Opferbeteiligung vor der eigentlichen Reparationsanordnung durch den Verurteilten geprüft werden kann. Rule 94 gibt außerdem vor, dass ausschließlich diejenigen Personen einen Anspruch auf die Leistungen haben dürfen, die ihre Opfererfahrung und erlittenen Schäden durch die verurteilten Taten nachweisen konnten. Die Kammer hatte sich zwar darauf geeinigt, dass sie individuelle und geprüfte Einzelbewerbungen vor der Verkündung der Reparationsanordnung ak45 PTC III, Bemba, Fourth Decision on Victims’ Participation, 12. 12. 2008, ICC-01/05-01/ 08-320, para. 99. Anm.: Auf diese Entscheidung wird in den anderen, zeitlich nachfolgenden Verfahren immer wieder Bezug genommen. 46 TC I, Lubanga, Decision on victims’ participation, 18. 01. 2008, ICC-01/04-01/06-1119, para. 131. 47 Der Begriff „dual status“ victims hat sich eingebürgert für diejenigen Zeugen, die sich zugleich als Opfer an den Verfahren beteiligen, https://www.icc-cpi.int/about/witnesses (Stand 1. 9. 2020). 48 TC VI, Ntaganda, Decision on victims’ participation in trial proceedings, 06. 02. 2015, ICC-01/04-02/06-449, paras 24 – 26. 49 Art. 67 (1)(e) IStGHSt; vgl auch Art. 6 III (d) EMRK. 50 Siehe nachfolgendes Kap. VI. 1. c).

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zeptieren würde, aber gleichzeitig betont, dass sie sich vorbehalte, ob und inwieweit diese Bewerbungen berücksichtigt werden würden. Die Kammer hatte die individuellen Bewerbungen daher nicht geprüft und nicht in die Reparationsanordnung aufgenommen. Die 139 eingegangen Bewerbungen wurden alle durch den gemeinsamen Opferanwalt vertreten. Bei den Opfern liegt grundsätzlich die Verpflichtung nachzuweisen, dass die erlittenen Schäden tatsächlich eine Verbindung zu den jeweiligen Verbrechen haben. Die Opfer stehen so in einer Art Nachweispflicht.51 Bei der Entscheidung über die Beteiligung von Opfern werden die Identitäten der Opfer in Verbindung mit den gemachten Leiderfahrungen aufgrund der angeklagten (im Hauptverfahren) bzw. verurteilten Verbrechen (im Reparationsverfahren) gebracht.52 Diese nachweisbare Verbindung zu den angeklagten bzw. den verurteilten Verbrechen ist für die Rechtfertigung des Reparationssystems als Ausgleich für mögliche erlittene Viktimisierung aber auch für die Rechte des Täters wichtig. Hinsichtlich des Leids individueller Opfer entschied die Al Mahdi Kammer: „The Chamber finds it sufficient that an applicant demonstrates, for example, that the alleged crimes could have objectively contributed to the harm suffered. Accordingly, the crimes charged do not have to be the only cause of the harm suffered by the applicant.“53 Auch Institutionen und Organisationen können einen Opferstatus erlangen. Für sie wurden die Nachweiskriterien grundlegend in der ersten Entscheidung im Fall Al Mahdi zur Opferbeteiligung bestimmt: erstens musste glaubwürdig belegt sein, dass es sich bei der Organisation um eine besondere Einrichtung handelt „dedicated to religion, education, art or science or charitable purposes, and to their historic monuments, hospitals and other places and objects for humanitarian purposes.“54 Die Person, die eine Organisation oder Institution vertritt, muss nicht nur die eigene Identität ausweisen und damit die Kriterien der individuellen Opfer erfüllen, sondern eine Vollmacht als beglaubigter Vertreter dieser Einrichtung vorlegen. Beim Schadensnachweis muss der reine Schaden beschrieben und ein Zusammenhang zu den angeklagten bzw. verurteilten Verbrechen nachgewiesen werden.55 Als direkten Schaden an den Mausoleen und sonstigen Einrichtungen in Timbuktu akzeptierte die Kammer „(…) applications emanating from organisations/institutions which properties have sustained direct harm.“56 Materieller Schaden an den Gebäuden wurde 51

TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 61. TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims‘, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 17. 53 Ebenda, para. 22. 54 Ebenda, para. 23. 55 TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims‘, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 23. 56 Ebenda, para. 26. 52

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von der Kammer unmittelbar akzeptiert. In der ersten Entscheidung über drei einzelne Anträge zur Opferbeteiligung hielt sie allerdings auch fest „(…) that the applicants have also suffered moral harm as a result of the destruction of the Buildings.“57 Durch die Registrierung werden also am Ende die erlittenen Leiderfahrungen in messbare Schäden übersetzt. Als solche stellt die Registrierung zwar eine formale Hürde und ein Nadelöhr für Opfer dar, zugleich fördert sie aber die freiwillige Beteiligung und den eigenen Entscheidungswillen von Opfern. Durch dieses formalisierte Vorgehen kann so auch ein gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess von Versöhnung und Heilung eingeleitet werden. Auch wenn Opfer verstorben sind, kommt eine – stellvertretende – Beteiligung in Betracht. Wenn ein verstorbenes Opfer sich nicht mehr am Verfahren beteiligen kann, dürfen seine Rechte von einer anderen Person wahrgenommen werden.58 In einer weiteren Entscheidung wurde klargestellt, dass die „Vertretung“ der Interessen, nicht der Rechte, an die indirekten Opfer, die Opferangehörigen, nach dem Todesfall des direkten Opfers abgegeben wird: „(…) that the successors of the deceased should have the right to represent the interests of the deceased person as well as their own; not only in the reparation phase of the proceedings, but also in the current phase.“ Im Al Mahdi-Verfahren genehmigte der Einzelrichter den Antrag des Opfervertreters über die Nachricht des Todesfalls einer Opferbeteiligten an den Entschädigungsverfahren und die Zulassung der Tochter als Nachfolgerin. Die Verteidigung des Angeklagten hatte zuvor keinen Widerspruch gegen diese Weitergabe eingelegt.59 Dieser Vorgang demonstriert wie zahlreiche andere internationale Konflikte, etwa die an früherer Stelle dieser Arbeit diskutierte Opferwerdung der Herero und Nema, die Weitergabe des gefühlten Opferseins und der Opferwerdungen an nachfolgende Generationen. Der Tod eines direkten Opfers beendet das Opfersein nicht. Die Frage nach der Identität von Opfern muss daher zwangsläufig über die Feststellung der formalen Personalien von überlebenden Opfern hinausgehen. c) Schutz von Opfern Bei der Entscheidung über die aktive Opferbeteiligung müssen auch stets Schutzmaßnahmen für die Opfer erwogen werden. Bereits bei den Registrierungsformularen gilt es zu entscheiden, ob die Identität der Opfer stets der Verteidigung bekannt gemacht werden muss. Sobald ein Opfer Sicherheitsbedenken äußert, wird ein Registrierungsformular meist in redigierter Form an die Verteidigung weitergegeben.60 Welches Dilemma dennoch in der Praxis entstehen kann, zeigt die Re57

Ebenda, para. 32. PTC III, Bemba, 12. 12. 2008, ICC-01/05-01/08, para. 44. 59 TC VIII, Al Mahdi, 02. 06. 2017, ICC-01/12-01/15, para. 4. 60 TC VIII, Al Mahdi, Public redacted version of ,Decision on Victim Participation at Trial and on Common Legal Representation of Victims‘, 08. 06. 2016, ICC-01/12-01/15-97-Red, para. 13. 58

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gistrierung von Opfer a/35008/16. Die Person entschied sich im Laufe des Al MahdiVerfahrens erst dazu, die eigene Beteiligung als Opfer zurückzuziehen, nachdem die Registrierung zuvor positiv bewilligt, d. h. auch den beiden Prozessparteien im Hauptverfahren, Anklage und Verteidigung, unredigiert zugänglich gemacht worden war. Über den Antrag befand die Kammer, dass dem Wunsch des Opfers entsprochen und die Beteiligung rückgängig gemacht wird. Die neue Entscheidung lautete, die Kammer „orders the Registry to remove Mr Kassongo’s access to the victim’s unredacted application and corresponding Registry report (…) and orders Mr Kassongo to destroy all hard copies of these same fillings forthwith.“61 Die Identität war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon an die Verteidigung weitergeleitet worden, was nicht mehr ungeschehen zu machen war. Die sogenannten „protective measures“ während des Verfahrens – sei es die stimmliche Verfremdung und/oder Verpixelung des Gesichts auf dem Bildschirm, die Nutzung eines Pseudonyms oder das Verlegen der Verhandlung in den Modus der sogenannten „private“ oder „closed session“ – dienen nur dem vermittelten Schutzgefühl der Opferzeugen.62 Einen echten Schutz vor Verfolgung vor der Anreise nach Den Haag oder nach der Rückkehr bieten diese „protective measures“ nicht, da ihre Identität durch diese Maßnahmen nur der Öffentlichkeit verborgen bleibt, nicht aber aus den bereits erörterten Gründen der Verteidigung und dem Angeklagten. Die „dual status“ victims werden auf ihre Zeugenaussage im Gericht spätestens nach ihrer Ankunft vor Ort vorbereitet. Die zuständige VWU zeigt Filme, welche den Ablauf einer Zeugenbefragung im Gerichtssaal illustrieren und organisiert eine Begehung des Gerichtssaals. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass die Zeugen und Zeuginnen bei dieser Gelegenheit die sie in der Verhandlung befragenden Ankläger und Verteidiger bei einem kurzen Treffen kennenlernen. All diese Maßnahmen dienen dazu, den Opferzeugen so weit wie möglich die Ängste vor der Aussage in einer ihnen völlig fremden Umgebung nach ihnen unbekannten Regeln zu nehmen. Zudem werden sie in speziellen Wohnungen psychologisch betreut und mit allem Notwendigen versorgt, was die Umstellung auf einen Aufenthalt in Den Haag erfordert.63 Für den zeitlichen Aufwand der Zeugenaussage werden Opfer, ebenso wie Experten aus Wissenschaft und Praxis und andere Zeugen, finanziell entschädigt.64 Für den entstehenden Aufwand zur Registrierung bei einer reinen Opferbeteiligung ist keine finanzielle Kompensation vorgesehen. Dies gilt für die Opferbeteiligung in allen Verfahrensstufen, d. h. dem Vor- und dem Hauptverfahren wie auch in der 61

TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 22. 08. 2016, S. 3. Siehe Protective measures, ICC, Regulation 94, RoR. 63 TC I, Lubanga, VWS report on practices used to prepare and familiarize witnesses for giving testimony at trial, 31. 10. 2008, ICC-01/04-02/06. 64 Gemäß Regulation 84 (2) und 85 (3)(a) RoR werden die Raten für die finanzielle Zeugenentschädigung jährlich je nach Herkunftsland überprüft, siehe Table of Allowences, https: //www.icc-cpi.int/about/witnesses/Pages/allowance-table.aspx (Stand 1. 9. 2020). 62

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Reparationsphase. Die reine Opferbeteiligung ist freiwillig und daher entschädigungslos. d) UNESCO: Partizipation oder Interessenswahrnehmung? Die Sonderorganisation der Vereinten Nationen, UNESCO, hatte sich im Verfahren Al Mahdi nie als Opfer registrieren lassen, sondern war stets in der Rolle als Expertin in das Verfahren eingebunden.65 UNESCO hatte sich aktiv durch ein sogenanntes amicus curiae an dem Verfahren beteiligt. Das internationale Strafverfahrensrecht ermöglicht mit dem amicus curia eine offizielle Beteiligung am Verfahren. Unbeteiligten Dritten ist es nach Zustimmung der jeweiligen Kammer gestattet ihr Fachwissen in ein Strafverfahren einzubringen. Amicus curiae ist stets unentgeltlich und öffentlich und wird außerdem als Schriftsatz eingereicht. Die Schriftsätze können unterschiedliche Inhalte und verschiedenen Umfang aufweisen. Von einzelnen Angaben zu Fakten bis zu ausführlicheren Stellungnahmen können die Beiträge der amicus curiae daher von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein. Durch die Einreichung eines amicus curiae bleibt der Verfasser weiterhin eine unbeteiligte Person und wird nicht etwa gar automatisch zu einer Partei in dem Verfahren. Die amicus Curiae Person oder Institution erhält daher keine weiteren Rechte, sich in das völkerstrafrechtliche Verfahren einzubringen. Umgekehrt kann ihr der IStGH auch keine Pflichten auferlegen. Mit der Einreichung besteht auch kein Anspruch darauf, dass die Kammer ihrerseits eine Stellungnahme zum amicus curiae veröffentlicht oder dieses in irgendeiner Form bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt. Grundsätzlich besteht keine Verpflichtung der amicus Curiae wahrheitsgemäß auszusagen. Bei einer internationalen Organisation wie der UNESCO ist davon auszugehen, dass wahrheitsgemäße Angaben gemacht werden. Ungeachtet dessen ist davon auszugehen, dass amicus curiae einen starken Einfluss auf die richterliche Normbildung haben können.66 Quasi doppelt wurde der UNESCO durch die Zeugenaussage von Francesco Bandarin, dem Stellvertretenden Generalsekretär von UNESCO, während des Hauptverfahrens am 23. August 2016, Raum zur Stellungnahme gegeben. Wie bei jeder Zeugenaussage war Bandarin zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet, gleichzeitig wurde der Charakter dieser Expertenaussage zu Beginn betont und darauf hingewiesen, dass der UNESCO-Repräsentant „not to be asked questions on the manner in which the sites were destroyed or the persons responsible.“67 Lediglich Fragen zur rechtlichen68 und politischen Einordnung der Weltkulturerbestätten in 65 TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 23. 08. 2016, S. 21 ff. ist die Zeugenaussage von Franceso Bandarin, dem stellvertretenden Generaldirektor der UNESCO, zu lesen. 66 Kühne, U. (2015), Amicus Curiae: Richterliche Informationsbeschaffung durch Beteiligung Dritter. Tübingen: Mohr Siebeck. 67 TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 23. 08. 2016, S. 22. 68 Zur Hauptaufgabe der UNESCO gehört unter anderem die Überwachung der sechs internationalen Konventionen zum Schutz von Weltkulturerbe: die Haager Konvention zum

VI. Völkerstrafrechtliches Verfahren als Anerkennungsprozess des Opferseins

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Mali waren gestattet. Seine Aussagen ermöglichten es den kollektiven Charakter der Opferwerdungen durch die zerstörten Mausoleen zu erfassen als er ein jährliches Ritual schilderte, das die Bewohner_innen Timbuktus ausführen, um die Gebäude und Kulturstätten gegenüber den ständigen Hitze-, Dürre- und Sandsturmschäden zu restaurieren. So seien etwa Frauen eingebunden, um Tonballen zu formen, die an die Wände angebracht wurden, um die wetterbedingten Folgeschäden zu beheben.69 Die UNESCO wurde durch die Zerstörung der Weltkulturerbestätten in Timbuktu in erheblichem Maße selbst getroffen. Die Zerstörung der Mausoleen hatte weltweite Reaktionen hervorgerufen, gerade weil der Weltkulturerbestatuts dieser Einrichtungen zu Recht das internationale kulturelle Bewusstsein und Interesse der Weltgemeinschaft repräsentiert. Die enge Einbindung der UNESCO in das Hauptverfahren bringt diesen Blickwinkel mit ein. „I think the entire community that believed that heritage is a fundamental component of cultural, modern cultural life, is suffering.“70 Immer wieder wird der Ausdruck der „international community“ während des Verfahrens betont, der sich nicht nur in zahlreichen Resolutionen der Generalversammlung und des Sicherheitsrates findet, sondern dem Handlungsauftrag der UN mit der UN Charta im Ganzen entspricht. Das Konzept der „international community“ hat aber nicht nur politische Anknüpfungspunkte, sondern auch konkrete rechtliche Begründungen, wie in Fällen des Internationalen Gerichtshofes entschieden wurde. Mit Blick auf die Verbrechen gegen Weltkulturerbe ist es daher nur legitim, dass die UNESCO nicht nur als Interessenvertreter, sondern als Repräsentant der internationalen Gemeinschaft wahrgenommen wurde.71

2. Feststellung der Wahrheit In seinen Entscheidungen erklärt der IStGH die Suche nach der Wahrheit zu seinem wichtigsten Anliegen. „The Chamber further emphasises that the search for truth is the principal goal of the Court as a whole.“72 Der Gerichthof kommt damit dem menschenrechtlichen Grundsatz im Recht auf Wahrheit nach. Die Wahrheit über internationale Verbrechen liegt sowohl im Interesse der internationalen Staatengemeinschaft als auch der Opfer selbst. Opfer können am IStGH aktiv daran partiziSchutz von Welterbe im bewaffneten Konflikt (1954), Pariser Konvention für den Kampf gegen den illegalen Handel von Weltkulturerbe (1970), die Konvention für den Schutz von natürlichem und kulturellem Erbe (1972), Konvention for the safeguard of intangible heritage (2003), Konvention für archäologische Unterwassererbe (2001), Konvention zum Schutz und der Förderung der Diversität von kulturellen Ausdrücken (2005). Die UNESCO überwacht die Einhaltung der Konventionen, für den Schutz der Weltkulturerbestätten ist allerdings die jeweilige Regierung zuständig. 69 TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 23. 08. 2016, S. 39. 70 Ebenda, S. 39. 71 Ba, O. (2019), Who are the Victims of the Crimes Against Cultural Heritage?, in: Human Rights Quarterly, Volume 41, Number 3, S. 578 – 595, hier S. 587 f. 72 PTC III, Bemba, 12. 12. 2008, ICC-01/05-01/08, para. 11.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

pieren, die Wahrheit über ihre Viktimisierung einzufordern und deren öffentliche Würdigung zu erfahren. Das Strafverfahren des IStGH entspricht insoweit Luhmanns geschlossenem System von Wahrheitssuche, das in einem rechtlich formalisierten Prozess der Wahrheitsfindung erfolgt. Die so ermittelte Wahrheit ist erkenntnistheoretisch fundiert, da sie in einer Analyse der erhobenen Beweise – Zeugen, Sachbeweise, Urkunden – und deren Gesamtbewertung besteht. Insofern steht sie im Gegensatz zur rein subjektiven Interpretation der Wirklichkeit und entspricht dem Konzept der Tatsachenwahrheit, wie es von Hannah Arendt beschrieben wurde. Dennoch belässt sie den Richtern bei der Bewertung grundsätzlich einen Beurteilungsspielraum dahingehend, was als richtig und wahr zu gelten hat; dies beruht vor allem darauf, dass die von den Parteien vorgelegten Beweise regelmäßig kontradiktorisch sind und deshalb der individuellen Würdigung der Richter und Richterinnen bedürfen.73 Im Fall Al Mahdi war dieser Beurteilungsspielraum und damit die Unsicherheit darüber, was als „wahr“ zu gelten hat, jedoch deutlich eingeschränkt. Dies lag vor allem daran, dass zwischen den Parteien kein Streit über die Fakten und die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten bestand. Vielmehr vereinbarten die Anklagebehörde und die Verteidigung die Anerkennung einer Fülle von Tatsachen, welche die tatsächliche Grundlage des ausführlichen, noch eingehend zu untersuchenden Schuldeingeständnisses74 des Angeklagten bildete. Außerdem einigten sie sich auf eine Liste von Beweismitteln, welche die zugestandenen Tatsachen und die Richtigkeit des Geständnisses von Al Mahdi bestätigten; hierzu gehörten die Berichte malischer Behörden und des malischen Geheimdienstes, Fotos und Videomaterial, Berichte der UNO und der UNESCO sowie die Zeugenaussagen eines UNESCO-Mitarbeiters, eines malischen Experten zu kulturellen Angelegenheiten und eines Ermittlers.75 Darüber hinaus führte die Hauptverfahrenskammer eine Beweisaufnahme durch, um auch selbst das Schuldeingeständnis des Angeklagten ergänzend auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen; besondere Erwähnung verdient die Vernehmung von Experten zum historischen, kulturellen und sozialen Wert der zerstörten Denkmäler für die betroffene Bevölkerung, welche den Fokus auf die Opferperspektive legte. Es lässt sich somit feststellen, dass der im Urteil der Hauptverfahrenskammer im Fall Al Mahdi bestätigte, dem Schuldspruch zugrunde liegende Sachverhalt einen hohen Wahrheitsgehalt hinsichtlich der angeklagten Taten besitzt. Die im gerichtlichen Verfahren festgestellte Wahrheit birgt damit auch für die Opfer der Verbrechen ein hohes Anerkennungselement in sich.

73 74 75

Siehe Kap. III. 2. c). Siehe Kap. VI. 2. a). TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 23. 08. 2016, S. 21 ff.

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a) Schuldbekenntnis Zur Wahrheitsermittlung trug im Fall von Al Mahdi ganz besonders dessen Schuldeingeständnis bei. Am ersten Verhandlungstag, am 22. August 2016, bekannte sich Al Mahdi mit folgenden Worten schuldig: „Your Honour, regrettably I have to say that what I have heard so far is accurate and reflects events. I plead guilty.“76 Mit dem Schuldbekenntnis übernahm Al Mahdi die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für die ihm vorgeworfenen Taten. Dem war eine schriftliche Vereinbarung vorausgegangen, die das von dem Angeklagten zu verantwortende Geschehen wie auch die Viktimisierung der Bevölkerung im Einzelnen dokumentierten und deren Richtigkeit der Angeklagte, wie auch sein Verteidiger und der Staatsanwalt, mit ihrer Unterschrift beglaubigten. Derartige rechtliche Vereinbarungen unterwandern nicht etwa das völkerstrafrechtliche Verfahren als Anerkennungsmechanismus für Opfer schwerster Verbrechen am IStGH, sondern verbessern die Quellenlage für die Wahrheitsfindung, wenn sie – wie im Fall Al Mahdi – auf konkrete Tatsachen und Beweismittel gestützt sind und vom Gericht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Nach dem Verständnis von Jaspers kann dieses individuelle Bekenntnis auch als Übernahme „moralischer Schuld“ der begangenen Taten bezeichnet werden.77 Die „moralische Schuld“ erfordert laut Jaspers eine Verantwortung gegenüber dem eigenen Gewissen. Dies war auch bei Al Mahdi zu finden als er sich selbst verpflichtete, die Wahrheit zu sagen: „We have to be truth – true to ourselves, even that truthfulness would burn our hands.“78 Zudem zeigte sich Al Mahdi verantwortlich gegenüber seinem Glauben und Allah: „All we who believe stand up firmly for justice as witnesses to Allah, even as against yourselves or your parents or your next of kin.“79 Darüber hinaus machte Al-Mahdi in seiner Wortwahl deutlich, dass das Schuldeingeständnis aus voller Überzeugung und freiwillig erfolgte. Auf die Nachfrage der Kammer bestätigte Al Mahdi folgendes: „This is a voluntary admission from the bottom of my heart.“80 Al Mahdi adaptierte das in Mali verbreitete traditionelle Verständnis von Gerechtigkeit, wonach ein Schuldiger stets öffentlich die Wahrheit zu sagen habe. Traditionell folgt dabei in einem Wahrheitsbekenntnis auf die Bestätigung der Fakten die Anerkennung der Schuld und die Rehabilitierung der Opfer. Wichtigster Punkt ist jedoch das öffentliche Bekenntnis selbst – eine Öffentlichkeit, die für Transparenz und Aufrichtigkeit steht.81 Diese Faktoren tragen

76 77 78 79 80 81

TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 22. 08. 2016, S. 7. Siehe die Ausführungen zu Jaspers Schulddimensionen Kap. III. 2. d). TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 22. 08. 2016, S. 8. Ebenda, S. 8. TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 22. 08. 2016, S. 10. Lober (2015), S. 45 f.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

dazu bei, das Geständnis Al-Mahdis – neben der strafrechtlichen Verantwortlichkeit – auch als Übernahme moralischer Schuld im Sinne Jaspers zu qualifizieren. Ob es sich bei Al Mahdi um ein echtes und wahrhaftes Eingeständnis von „moralischer Schuld“ handelt, wurde von den Experten des Human Rights Centre der Queen’s University Belfast und der NGO Redress allerdings in Frage gestellt. Als Begründung ihres Zweifels führten sie an, dass Al Mahdi die Zerstörung der Mausoleen auch aufgrund seines religiösen Verständnisses durchführen ließ. Im Verfahren hierzu befragt, merkte Al Mahdi an, dass dies aus einem rechtlichen und politischen Standpunkt betrachtet falsch gewesen sei. Daraus folgerten die Experten, dass Al Mahdi seine Taten zwar als illegal bewerte, nicht jedoch als moralisch falsch betrachte.82 Bei dieser Einschätzung wird jedoch außer Acht gelassen, dass Al Mahdi nicht nur seine persönliche Schuld eingestand, sondern eine Vielzahl von Fakten einräumte, welche ganz maßgeblich zur Feststellung der Tatsachenwahrheit in diesem Fall beitrug. Darüber hinaus schloss er eine Entschuldigung an, welche das Schuldbekenntnis untermauerte, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird.83 Al Mahdi zeigte sich gar geläutert, wenn er darauf hoffte, dass die anstehende Zeit im Gefängnis zu einer Art Reinigung von dem Bösen beitragen wird.84 Die vom IStGH konsultierten Experten des Human Rights Centre in Belfast und Redress interpretieren diesen Abschnitt im Schuldbekenntnis jedoch komplett anders. Sie resultierten: „(…) he also focuses on his own pain in having to plead guilty, and his sadness in contemplating a lengthy jail term.“85 Sicherlich ist unbestritten, dass eine Entschuldigung nicht als Absolution betrachtet werden kann, wonach alle begangenen Taten vergeben und vergessen sind – wie durch eine Art Reinigungsritual. Auch ist klar, dass ein Gewissen trotz eines öffentlichen Schuldbekenntnisses unergründlich bleibt. Allerdings kann eine Entschuldigung des Täters bei den Opfern auch nicht einfach ohne nähere Analyse ihres Wortlauts und den Umständen, unter denen sie abgegeben wurde, als zweck- und ichorientiert abgetan werden. Die Interpretation von Redress und HRC ist aufgrund ihrer einseitigen Betrachtungsweise zu kritisieren. Sie lässt den Beitrag Al Mahdis zur Tatsachenwahrheit außer Acht und nimmt eine Bewertung vor, ohne den genauen Wortlaut zugrunde zu legen, den Al Mahdi in seinem Schuldbekenntnis und seiner Entschuldigung verwendet hat. Mit der sehr freien Interpretation verlassen die Experten die Analyse der Fakten, oder kommunikativ betrachtet die Sachebene und bewerten eine Gefühlsebene. Schließlich berücksichtigen sie nicht, dass Al-Mahdi in seinem Schuldbekenntnis sogar noch einen Schritt weiter ging, in dem er in einem der letzten Sätze seiner 82 Queen’s University Belfast Human Rights Centre and the Redress Trust observations pursuant to Article 75 (3) of the Statute and Rule 103 of the Rules, 2. 12. 2016, ICC-01/12-01/ 15-188, para. 84. 83 Siehe Kap. V. 3. b). 84 TC VIII, Al Mahdi, Transcripts vom 22. 08. 2016, S. 9. 85 Queen’s University Belfast Human Rights Centre and the Redress Trust observations pursuant to Article 75 (3) of the Statute and Rule 103 of the Rules, 2. 12. 2016, ICC-01/12-01/ 15-188, para. 84.

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Erklärung einen Aufruf an seine muslimischen Glaubensgenossen richtete: „In conclusion, I would like to make – to give a piece of advice to all Muslims in the world not to get involved in the same acts I got involved in because they are not going to lead any good for humanity.“86 Damit übernimmt Al Mahdi nicht nur die Verantwortung für die begangenen Taten, sondern distanziert sich von dem religiös politischen Kontext, in dem er sie begangen hat. Dies widerspricht der Auffassung von Redress, ein Eingeständnis moralischer Schuld könne nicht angenommen werden, da Al Mahdi seine Taten aus religiösen Motiven begangen hat. Vielmehr erlauben eine Analyse des Wortlauts der Erklärung Al Mahdis im Gerichtssaal sowie sein Beitrag zur Tatsachenwahrheit durch Beglaubigung aller wesentlichen für die Feststellung des Sachverhalts erforderlichen Fakten eine Einstufung seines Schuldeingeständnisses als Übernahme „moralischer Schuld“ nach dem Verständnis von Jaspers. Jenseits dieser moralischen Schuld für das Geschehen obliegt im völkerstrafrechtlichen Verfahren die normative, strafrechtliche Bewertung des Schuldbekenntnisses den Richtern der zuständigen Kammer. Diese gingen im Fall Al Mahdi davon aus, dass das Geständnis vollständig und echt sowie vom Wunsch getragen war, für die von ihm begangenen Taten Verantwortung zu übernehmen.87 Mit der Übernahme der „moralischen Schuld“ ebnete Al Mahdi den Weg für die Kammer, die „kriminelle Schuld“ zu bestimmen.88 Dass auf diese Weise die begangenen Taten einem konkret verantwortlichen Täter individuell zugerechnet werden, ist für die Opfer im Anerkennungsprozess von eminenter Bedeutung. b) Bitte um Entschuldigung Nach dem Schuldbekenntnis wurde dem Angeklagten Al Mahdi auch die Möglichkeit eingeräumt, eine Erklärung abzugeben, die er für eine öffentliche Entschuldigung an die Opfer nutzte. Diese Entschuldigung erlangte in der Reparationsanordnung eine besondere Bedeutung, weshalb ihr Gehalt und vor allem ihre Bewertung durch Gericht und Opfer im Folgenden eingehend untersucht werden sollen. Mit diesen Worten wandte sich Al Mahdi an die Opfer: „I am really sorry. I am really remorseful and I regret all the damage that my actions have caused. I regret what I have caused to my family, my community in Timbuktu, what have caused my home nation, Mali, and I’m really remorseful about what I had caused the international community as a whole.“89

In dieser Aussage zeigte Al Mahdi Reue und erklärte sein Bedauern gegenüber den Folgen, die seine Handlungen verursacht haben. Gleichzeitig führte er die drei 86

TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 22. 08. 2016, S. 9. TC VIII, Al Mahdi, Judgement and Sentence, 27. 09. 2016, ICC-01/12-01/15-171, para. 100. 88 Siehe die Ausführungen zu Jaspers Schulddimensionen in Kap. III. 2. d). 89 TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 22. 08. 2016, S. 8. 87

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

Opfergruppen an: die Stadtgemeinde in Timbuktu, die Bevölkerung in Mali und die internationale Gemeinschaft. Durch das Personalpronomen „my“ betonte Al Mahdi in dem frei vorgetragenen Statement sein Bekenntnis zu den Bewohnern der Stadt Timbuktu („my community in Timbuktu“) und der malischen Bevölkerung („my home nation, Mali“). In einem weiteren Satz wandte er sich schließlich direkt an die Opfer der Attacke: „My regret is directly – or, is directed particularly to the generations, the ancestors of the holders of the mausoleums that I have destroyed.“90 Die individuell angesprochenen Opfer bat Al Mahdi um Vergebung: „I would like to seek their Pardon, I would like to seek the pardon of the whole people of Timbuktu, I would like to make them a solemn promise that this was the first and the last wrongful act I will ever commit.“91 Der Bitte um „Pardon“, das im Deutschen mit Vergebung übersetzt werden könnte, schloss Al Mahdi die Bitte um das verwandte „forgiveness“ an, das in seiner Bedeutung jedoch noch einmal sehr viel stärker ist. „I seek their forgiveness and I would like them to look me as a son that has lost his way and consider me part of the social fabric of Timbuktu and must not forget what I have contributed in the past to Timbuktu.“ Indem er sich selbst als „Sohn“ bezeichnet, unternahm Al Mahdi den Versuch, erneut ein Mitglied der Bevölkerung von Timbuktu zu werden. Durch die verübten Taten hatte er sich dieser Gemeinschaft selbst entzogen. Seinen Wunsch nach Zugehörigkeit untermauerte er als er mit dem nächsten Satz darum bat, „part of the social fabric of Timbuktu“ zu sein. Al Mahdi sieht das Prinzip zur Vergebung im Islam verankert und hoffte darauf, dass ihm seine Mitbürger_innen verzeihen. Lazares und Tavuchis Kriterien können unstrittig und geradezu idealtypisch auf die Entschuldigung von Al Mahdi angewendet werden, um ihre Aufrichtigkeit zu bestätigen. Der Angeklagte räumte die ihm vorgeworfenen Straftaten in vollem Umfang, detailreich und bedingungslos ein. Seine Entschuldigung erfolgte in der Ich-Form, zeigte Verantwortung und richtete sich ausdrücklich an die individuell betroffenen Opfer, wie auch kollektiv an die Bewohner der Stadt Timbuktu und die gesamte malische Bevölkerung. Zwar nimmt der Angeklagte nach dem Verständnis der Prozessparteien von Luhmann per se auch nur „seine Rolle“ des Sündigers ein; und die Entschuldigung könnte dadurch nichts anderes als eine zu erwartende mögliche Reaktion auf die Anklage sein. Entschuldigung und Schuldbekenntnis sind danach so erwartbar wie die gegenteilige Reaktion des Sich-Nicht-Schuldigbekennen, so Luhmann.92 Al Mahdi hatte sich allerdings bereits mit seinem eingehenden, die Anklage in vollem Umfang bestätigenden Geständnis den Vorteil einer milderen Strafe ermöglicht. Die Vereinbarung zwischen Verteidigung und Anklagebehörde, die auch auch einen bestimmten Strafrahmen von neun bis elf Jahren betraf und das Zugeständnis, dass eine innerhalb dessen verhängte Strafe nicht mit der Berufung angefochten werden würde, war nur mit dem Ablegen eines Geständnisses kondi90 91 92

Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 8. Luhmann (1983), S. 46 f.

VI. Völkerstrafrechtliches Verfahren als Anerkennungsprozess des Opferseins

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tional verknüpft. Einer darüber hinaus gehenden Entschuldigung bei den Opfern hätte es daher aus prozessualen Gründen nicht bedurft; vor allem aber musste vor diesem Hintergrund keine Entschuldigung von der „Qualität“ und Eindrücklichkeit abgegeben werden, wie dies Al Mahdi letztendlich getan hat.93 Von den Anwesenden im Gerichtssaal wurde die Entschuldigung Al Mahdis als echte und aufrichtige Anerkennung der verübten Verbrechen und des zugefügten Leids wahrgenommen. Daher beschäftigte sich die Kammer mit der Entschuldigung von Al Mahdi während des Verfahrens an zwei verschiedenen Stellen. Zum einen in der Urteilsbegründung, als es darum ging, das Strafmaß zu ermitteln und zum anderen bei der Reparationsanordnung, als sie die mögliche Rolle der Entschuldigung als eigene Reparationsmaßnahme für die Opfer eruierte. Für die Ermittlung des Strafmaßes konzentrierte sich die Kammer allein auf die Täterperspektive der Entschuldigung. Für die Einstufung der Entschuldigung im Reparationsprozess betrachtete die Kammer hingegen die Opferperspektive. Im Urteil gegen Al Mahdi erklärte die Kammer öffentlich, dass sie die Entschuldigung als echt bewerte. Al Mahdi habe aus der Sicht der Kammer die von ihm begangenen Taten aufrichtig bedauert. Des weiteren heißt es im Urteil: „(T)he Chamber does note that Mr Al Mahdi has expressed sentiments of empathy towards the victims of the crime he committed.“94 Die Richter berücksichtigten auch den Aufruf des Angeklagten, den er am Ende seiner Entschuldigungsworte geäußert hatte.95 Eine Entschuldigung enthält ebenso wie das Schuldbekenntnis das strafrechtliche Prinzip der Übernahme individueller rechtlicher Verantwortung, das in den unterschiedlichen Rechtssystemen in irgendeiner Form verankert ist. Richter_innen eines strafrechtlichen Verfahrens werden deshalb einer Entschuldigung des Angeklagten tendenziell immer einen hohen Stellenwert einräumen. Bei einer echten Entschuldigung kann ferner davon ausgegangen werden, dass der mutmaßliche Täter nicht rückfällig wird, keine weiteren Straftaten begeht und resozialisiert werden kann, wobei allerdings eingeräumt werden muss, dass die Resozialisierung des Täters im Vergleich etwa zum nationalen Strafprozess in Deutschland nicht im Vordergrund eines völkerstrafrechtlichen Verfahrens steht.96 Die Bewertung der

93

Die Schuldbekenntnisse und „Entschuldigungen“ von Duch und Plavsˇic´ können demgegenüber als systemadäquates Verhalten im Gerichtssaal eingestuft werden. Derartige Entschuldigungen können daher für den Reparationsprozess und die Anerkennung keine Rolle spielen, weil Opfer sie gar nicht annehmen würden, siehe Carranza, R. et al. (2015), More than words: Apologies as a form of reparation, in: International Center for Transitional Justice, S. 1 – 20. 94 TC VIII, Al Mahdi, Judgement, ICC-01/12/01/15/171, para. 104. 95 TC VIII, Al Mahdi, Transcript vom 22. 08. 2016, S. 9. 96 Diese Haltung vertritt auch die Kammer, siehe Urteil, para. 67, als sie auf die Entscheidung im Fall Katanga verweist, siehe Katanga Sentencing Decision, ICC-01/04-01/073484-tENG-Corr, para. 38.

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Entschuldigung durch die Al Mahdi-Kammer ist final daran sichtbar, dass sie diese wie hier als mildernden Umstand für das ermittelte Strafmaß einstufte.97 Mit einer ausgesprochenen Entschuldigung und ihrer normativen Anerkennung durch das Gericht geht jedoch nicht automatisch eine Akzeptanz derselben auf Seiten der Opfer einher. Diesem Gedankengang folgte auch die Kammer in der Reparationsanordnung im Verfahren gegen Al Mahdi, als sie entschied, dass es jedem individuellen Opfer überlassen sei, die Entschuldigung von Al Mahdi als ausreichend und zufriedenstellend zu betrachten. Gleichzeitig gab die Kammer zu bedenken, dass es vermutlich Opfer gäbe, die mit keiner Art von Entschuldigung zufrieden sein können.98 Die Kammer ordnete als eine Maßnahme symbolischer Reparation an, dass die Entschuldigung allen Opfern zugänglich gemacht werden müsse: „as a symbolic measure to ensure that all victims have access to Mr Al Mahdi’s apology, the Chamber order the Registry to produce an excerpt of the video of Mr Al Mahdi’s apology and post it on the Court’s website with the corresponding transcript translated into the primary languages spoken in Timbuktu. If any of the victims wish to receive a hard copy of the apology in a language they fully understand and speak, the Registry shall make this available to them upon request.“99

Die Kammer nahm mit dieser Entscheidung eine Position ein, die auch der erste UN Special Rapporteur on the promotion of truth, justice, reparation and guarantees of non-recurrence, Pablo de Greiff, vertrat, wonach eine öffentliche Entschuldigung eine kollektive Reparationsmaßnahme sein kann. Eine Entschuldigung verfolgt das Ziel, die Opfer anzuerkennen, die verletzten Normen zu bestätigen und damit Opfer als Rechteinhaber einzustufen.100 Später führt de Greiff in seinem Bericht an die Generalversammlung an, was eine echte Entschuldigung ausmacht: „Just as something does not count as an apology unless it involves an acknowledgement of responsibility for wrong doing – the very sense of an apology depends on such recognition.“101 Ohne eine deutliche Bestätigung der verursachten Schäden, wäre Al Mahdis Statement der Ausdruck eines Bedauerns oder eine simple Rechtfertigung gewesen. Erst die Übernahme von Verantwortung ermöglichte es, die Entschuldigung als Reparationsmaßnahme zu interpretieren. De Greiff nimmt damit auch Bezug auf Prinzip 22 der UN Basic Principles, wonach eine öffentliche Entschuldigung stets aus der Anerkennung der Fakten und der Akzeptanz von Verantwortung besteht.102 Entschuldigung und Schuldbekenntnis bilden durch die richterliche Verifizierung den Kern der ermittelten Wahrheit in diesem Prozess.

97

TC VIII, Al Mahdi, Judgement, ICC-01/12/01/15/171, para. 105. TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 69. 99 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 71. 100 Report, UN Special Rapporteur on the promotion of truth, justice, reparation and guarantees of non-recurrence, Pablo de Greiff, A/69/518, 8 October 2014, para. 39. 101 Ebenda, para. 63. 102 Principle 22 (e), A/RES/60/147. 98

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aa) Entschuldigung – heilende Effekte, ein Schritt zur Versöhnung oder Reparationsmaßnahme? Eine Entschuldigung ist per se ein freiwilliger individueller Sprechakt. Ein konstituierender Einfluss auf das Recht auf Reparationen kann der Entschuldigung daher nicht eingeräumt werden. Schließlich kann der Täter rechtlich nicht verpflichtet werden, eine echte Entschuldigung auszusprechen. Den Opfern kann umgekehrt kein Rechtsanspruch zugestanden werden, eine echte Entschuldigung zu erhalten. Eine Entschuldigung ist lediglich ein Element, das in den praktischen Reparationsprozess aufgenommen werden kann und sollte, sobald sie wie im Fall Al Mahdi erfolgt ist und von der Kammer als echt eingestuft wird. Was mit einer Entschuldigung erreicht werden kann, ist in den UN Basic Principles klar definiert. Primär soll die Befriedung der verfeindeten Parteien erzielt werden. In der Hierarchie der UN Basic Principles wird dieses Ziel jedoch nicht so hoch eingestuft wie die Wiedergutmachung und die finanzielle Entschädigung. Rein völkerrechtlich betrachtet, gibt es keine normative Regelung, die Entschuldigungen als ausschließliche Reparationsmaßnahmen akzeptiert. Es muss daher betont werden, dass die Entschuldigung keine Alternative zur finanziellen Entschädigung darstellt, sondern allenfalls als komplementär zu diesen Reparationsmaßnahmen zu sehen ist. Das Ziel der individuellen Entschuldigung des Einzeltäters Al Mahdi darf dabei nicht alleine in einer Art Versöhnung liegen, die als verordnete soziale Harmonie verstanden wird und damit unter Umständen die individuellen Reparationsrechte des Einzelnen bedrohen kann, sondern eher im Sinne von John Rawls „civic friendship“.103 Ein Kausalzusammenhang zwischen Entschuldigung, Bestrafung und Versöhnung kann nicht automatisch angenommen werden, die Entschuldigung ist schließlich kein Akt der Selbstreinigung. Safferling schließt sogar aus, dass ein Versöhnungsprozess zwischen „einer Vielzahl von Opfern und einem einzelnen“ überhaupt erfolgen kann.104 Die kategorische Ansicht von Janna Thompson, dass Entschuldigungen immer einen Beitrag zur „restorative justice“ leisten, weil sie die Würde der Opfer bekräftigen und gleichzeitig als Entschädigung fungieren, ist daher zu bezweifeln.105 Vielmehr kommt es – wie dargelegt – auf den konkreten Inhalt der Entschuldigung und vor allem deren Wahrnehmung und Bewertung aus Sicht der Opfer an. Die Kammer stufte Al Mahdis Entschuldigung als einen wichtigen Teil der Reparationen ein. Im konkreten Untersuchungsfall des Verfahrens gegen Al Mahdi war dies sinnvoll geboten, da die Entschuldigung – wie dargelegt – als authentisch zu qualifizieren war und ebenso wie das Schuldbekenntnis einen entscheidenden Ein103

S. 90. 104

Rawls, J. (1999), A Theory of Justice. Cambridge: Cambridge University Press, S. 5,

Safferling, C. (2010), Die Rolle des Opfers im Strafverfahren – Paradigmenwechsel im nationalen und internationalen Recht?, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 122(1), S. 87 – 116, S. 115. 105 Siehe u. a. Thompson, J. (2008), Apology, Justice, and Respect: A critical defense of political apology, in: The Age of Apology. Gibney, M. (Hg.), Philadelphia: University of Pennsylvania Press, S. 31 – 44, S. 34.

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fluss auf den Prozessverlauf und die Anerkennung der Opfer in ihrem „Opfersein“ hatte. Dem reinen moralischen Sprechakt der Entschuldigung wurde dadurch ein hoher symbolischer Bedeutungswert zugemessen. Die Entscheidung der Kammer, in der Reparationsanordnung die aufgezeichnete Entschuldigung weit zu verbreiten, könnte Auswirkungen auf die Entwicklung der Narrative der Verbrechen und Opferwerdungen in Timbuktu haben, die heute noch gar nicht absehbar sein können.106 Wie die unmittelbaren Effekte der Entschuldigung auf die gesamte Opfergemeinschaft tatsächlich aussehen, kann jedoch noch nicht vorhergesehen werden. Dies hängt in erster Linie von der Übermittlung der Entschuldigung ab, und vor allem von der Akzeptanz und Bereitschaft zur Vergebung auf der Opferseite.107 bb) Bewertung der Entschuldigung durch die Opfer Die Reparationsanordnung berücksichtigte Al Mahdis Entschuldigung als Reparationsmaßnahme und legte damit zugleich den Opfern die moralische Verpflichtung auf, sich mit der Entschuldigung selbst und der Frage ihrer Akzeptanz auseinanderzusetzen.108 Die Akzeptanz muss allerdings nicht gleichbedeutend mit einer Vergebung einhergehen. Umgekehrt kann es auch in der Entscheidungsfreiheit der Opfer liegen zu vergeben, ohne eine vorherige Entschuldigung des Täters gehört zu haben. Jedes betroffene Opfer muss die individuelle Entscheidungsfreiheit haben, die Entschuldigung Al Mahdis zu akzeptieren oder individuell vergeben oder nicht vergeben zu dürfen. Im Reparationsprozess wäre es dennoch einseitig, wenn die Entschuldigung von Al Mahdi lediglich mit wissenschaftlichen Kriterien nach ihrer Echtheit untersucht und ihre normative Bewertung durch die Kammer am IStGH einfach nachvollzogen werden würde. Das moralische Gewicht in der Bewertung obliegt schließlich der Opferseite. Im Vergleich zur normativen Bewertung durch eine Strafkammer, könnte sich die Einschätzung der Entschuldigung durch Opfer auch im Laufe der Zeit verändern. Die Bewertung durch Opfer erfolgt nach Kriterien, die sich weit weniger leicht messen lassen, da hier eine hohe emotionale Komponente hinzu kommt. Dies untermauert folgende Aussage eines Opfers, die der Anwalt der Opfer in seiner Submission an die Al Mahdi-Kammer zitierte: „While forgiveness comes out my mouth, it does not come from the bottom of my heart.“109 Das Hauptanliegen des Opfervertreters galt dem Punkt, dass die Entschuldigung keine Auswirkungen auf die rechtliche Haftbarkeit von Al Mahdi haben dürfe, höchstens auf das Strafmaß. Seine Klienten hatten nach der Ansicht des Opfervertreters unterschiedlich verhalten auf die Entschuldigung des Angeklagten reagiert und ihre Aufrichtigkeit in Frage ge106 „[…] That it appears on public record is the apologetic fact“, schlussfolgert Tavuchis, siehe Tavuchis (1991), S. 102. 107 Siehe Kap. VII. 2. b). 108 Tavuchis (1991), S. 35. 109 TC VIII, Al Mahdi, 25. 07. 2017, ICC-01/12-01/15-190-Red-tENG, S. 15.

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stellt. Zwar räumte der Anwalt der Opferseite ein, dass Vergebung ein wichtiges Gebot im Islam sei, dem sich Opfer auch verpflichtet fühlten, diese jedoch nicht vorbehaltlos erteilen könnten. Der Anwalt forderte im Namen der Opfer, dass den Worten auch Taten folgen sollten, um Vergebung zu erreichen: „Apologies alone, as sincere as they may be, cannot make amends for the harm suffered and allow the victims to return to their previous lives and regain their dignity.“110 Die ausgesprochene Entschuldigung selbst führt allerdings zu einer Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Täter und Opfer. Der Täter bekennt sich schuldig und bittet um Verzeihung für seine begangenen Taten, während die Opfer in der Position sind, zu entscheiden, ob sie die Entschuldigung annehmen oder nicht und ob sie eine Beziehung zu dem Täter herstellen wollen. Diese Entscheidungsfreiheit kann zum Empowerment von Opfern beitragen. Das Empowerment kann sich aufgrund der individuellen Akzeptanzfreiheit der Entschuldigung der Opfer in vollkommen gegensätzlichen Handlungen zeigen. Die einen Opfer werden „empowert“, weil sie selbstbestimmt entscheiden, die Entschuldigung zu akzeptieren, die anderen, weil sie entscheiden, sie nicht zu akzeptieren. Tavuchis schlussfolgert daher: „[..] (T)he victim alone holds the keys of redemption and reconciliation.“111 Dies widerspricht der Fehleinschätzung der Experten im Fall Biljana Plavsˇic´, die der Täterin alleine durch das Schuldbekenntnis und ohne Berücksichtigung der Opferperspektive den Schritt in Richtung Versöhnung zusprachen. Die Kommunikationsart einer Entschuldigung ist in jeder Gesellschaft institutionalisiert.112 Opfer und Täter entstammen im Untersuchungsfall aus demselben Kulturkreis, weshalb grundsätzlich angenommen werden kann, dass eine ausgesprochene Entschuldigung auch genauso von den Adressaten empfangen werden kann wie sie vom Entschuldiger gemeint war.113 Ungeachtet dessen liegt es allerdings in der Entscheidungsfreiheit der Opfer, die Entschuldigung zu akzeptieren oder dem Täter gar zu vergeben. Beides, Akzeptanz und Vergebung können nicht institutionalisiert werden, oder im Falle des IStGH gar gerichtlich angeordnet werden. Al Mahdis Entschuldigung in der Reparationsanordnung zu berücksichtigen war dennoch ein notwendiger Schritt. Umgekehrt legt diese Entscheidung den Opfern die moralische Forderung auf, sich mit der Entschuldigung selbst und der Frage ihrer 110

Ebenda. Tavuchis (1991), S. 35. 112 Goffmann, E. (1965), Verhalten in sozialen Situationen. Basel: Birkhauser, S. 41. 113 Lazare und Tavuchis nehmen beide die Entschuldigung Japans nach dem Zweiten Weltkrieg als Grundlage, um zu diskutieren, wie schwierig der Prozess des Entschuldigens sein kann, wenn Adressat der Entschuldigung und Entschuldiger aus unterschiedlichen Kulturkreisen und unterschiedlichen Muttersprachen miteinander kommunizieren, siehe Lazare (2004); Tavuchis (1991). Andere Autoren führen die Schwierigkeiten in der Entschuldigungsformulierung durch Japan und einer Akzeptanz durch die Opfer, in Nord- und Südkorea, China und den Philippinen auf das dominierende Schamverhalten in der japanischen Gesellschaft zurück, siehe: Engert, S. (2015), Japan – China and the Two Koreas, in: Apology and Reconciliation in International Relations: The Importance of Being Sorry. Daase, C. et al. (Hg.), London/New York: Routledge, S. 237 – 258. 111

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

Akzeptanz auseinandersetzen zu müssen. Zugleich kann die Antwort auf diese Frage Schlüssel zum „Empowerment“ der Opfer sein und einen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess fördern. cc) Öffentlichkeit und Transparenz Die völkerstrafrechtlichen Verfahren am IStGH sind durch ein hohes Maß an Öffentlichkeit und Transparenz gekennzeichnet. Die Verhandlungen sind vor Ort in Den Haag für jede Person zugänglich; dort befindet sich auch ein Media Center für Journalistinnen und Journalisten. Darüber hinaus wird durch die Online-Übertragung die Öffentlichkeit weit über diesen physischen Zugang hergestellt. Dies ist von besonderer Bedeutung, da die Opfer in ihrer überwältigenden Mehrheit viele tausend Kilometer entfernt vom Gerichtshof leben und nur auf diese Weise dem Verfahren folgen können. Da sehr viele von ihnen nicht die medialen Möglichkeiten besitzen, die hearings online zu verfolgen, organisiert die Kanzlei in den betroffenen Gemeinschaften öffentliche Übertragungen, die man sich wie ein „public viewing“ vorstellen kann.114 Opfergemeinschaften haben daher die Möglichkeit, die Verfahren inhaltlich zu verfolgen, wobei es nicht auf eine Registrierung oder aktive Opferbeteiligung ankommt. Einschränkungen bestehen lediglich zum Schutz von Zeugen und Zeuginnen, die aufgrund des Inhalts ihrer Aussage gefährdet erscheinen sowie zum Schutz ihrer Intimsphäre, etwa wenn es um die Schilderungen von sexueller Gewalt geht. Insoweit kann die Kammer je nach Sachlage die Öffentlichkeit ausschließen, indem sie eine sogenannte „private session“ anordnet. Durch niederschwellige technische Maßnahmen, wie das Verpixeln des Gesichts oder Verzerrung der Stimme, wird versucht, den Schutz und die Sicherheit der Opferzeugen und Zeuginnen zu wahren und zugleich die Öffentlichkeit des Verfahrens zu gewährleisten. Kameras und Mikrophone zeichnen im Gerichtssaal Bild und Ton von allen Prozessbeteiligten auf. Die Übertragung beginnt an jedem Verhandlungstag mit dem Eintreten der Richter_innen und endet sobald sie den Gerichtssaal wieder verlassen. Die Geschäftsordnung der Kanzlei enthält Vorgaben, wonach weder die Zuschauer in der Public Gallery direkt aufgenommen werden dürfen, noch die Beratungen der Verteidigung, Anklage oder Kammer. Die Ausstrahlung der Anhörungen erfolgt mit einer 30-minütigen Verzögerung, um zu verhindern, dass versehentlich in den Verhandlungen geäußerte Informationen die Identifizierung geschützter Opfer ermöglichen und gegebenenfalls durch redaktionelle Überarbeitungen sicherzustellen, dass der Opferschutz gewahrt wird. Die zeitliche Verzögerung gilt nicht beim ersten Auftritt des Angeklagten.115 Auch die Verkündung der Urteile der Haupt- und Berufungskammern muss live und in Echtzeit übertragen werden.116 114

Ogora, L. O. (2019), Trial Fatigue: Is the Public still interested in Following Ongwen’s Case? International Justice Monitor, https://www.ijmonitor.org/2019/03/trial-fatigue-is-the-pu blic-still-interested-in-following-ongwens-case/ (Stand 1. 9. 2020). 115 Art. 60 (1) IStGHSt.

VI. Völkerstrafrechtliches Verfahren als Anerkennungsprozess des Opferseins

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Das Foto-, Bild- und Tonmaterial wird insbesondere vom Auftakt eines Verfahrens, den Schlussplädoyers und der Urteilsverkündung archiviert und auf der Homepage des IStGH veröffentlicht. Auf einem youtube-Kanal werden die zusammengeschnittenen Videos der Verhandlungstage und der Öffentlichkeit in Englisch und in Französisch zugänglich gemacht.117 Auf diese Weise besteht nicht nur die Möglichkeit, den Lauf der Verfahren tagesaktuell zu verfolgen, sondern sich jederzeit darüber zu informieren. Durch alle diese Maßnahmen gewährleistet der IStGH eine hohe Transparenz seiner Verfahren und seiner Arbeitsweise. Die Maßnahmen garantieren das Recht auf Information für betroffene Opfer(gruppen), aber auch für die allgemeine internationale Rechtsgemeinschaft. Die ständige Beobachtung der Prozessparteien ermöglicht ein faires Verfahren für den Angeklagten und die Opfer. Die Transparenz sichert außerdem die Glaubwürdigkeit des IStGH als Einrichtung der internationalen Rechtsgemeinschaft, Verbrechen anzuklagen und Straflosigkeit verhindern zu wollen. Das European Network of Councils for the Judiciary erklärte 2019 einen weiteren anzustrebenden Effekt durch Transparenz und Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren: „Equally, an open and transparent system of justice is a further precondition for establishing and maintaining the Public trust in justice, which is a cornerstone of legitimacy of justice.“118 Dem mit den Opferwerdungen einhergegangenen Vertrauensverlust in Gerechtigkeit und (internationale) Gerichtsbarkeit wird durch das hohe Maß an Transparenz am IStGH begegnet. Die freizugängliche Dokumentation der Gerichtsakten untermauert dieses Ziel und sichert zugleich den Anspruch der Opfer auf Wahrheit. Eine Besonderheit stellen dabei die sogenannten Transcripts dar, die Wortprotokolle der öffentlichen Verhandlungen sind. Für die Feststellung der Wahrheit der Opferwerdungen kommt ihnen eine enorme Bedeutung zu. Schließlich dokumentieren sie alle Befragungen von Opferzeugen und Zeuginnen, Angeklagten und Experten während des Prozesses. Veröffentlichte Transcripts unterscheiden sich manchmal nach dem Suffix „corr“, wenn sie Korrekturen auf Antrag einer der Prozessparteien enthalten oder nach dem Suffix „red(acted)“, wenn sie redaktionell bearbeitet wurden, weil sie zuvor aus Versehen beispielsweise Informationen über die Identität von Opferzeugen beinhalteten, die gelöscht werden mussten. Die Transcripts geben als Protokolle mit korrekten Angaben von Datum, Uhrzeit, Pseudonyme der Opferzeugen und Namen der Verfahrensbeteiligten detaillierte Auskunft über die Verhandlungen und die getätigten Aussagen. Diese Wortprotokolle manifestieren die Zeugenschaft der Opferwerdungen und verdeutlichen zugleich, dass das völkerstrafrechtliche Verfahren am IStGH einen wichtigen Beitrag dazu leistet, die Sprachlosigkeit von 116

Art. 74 (5), Art. 83 (4) IStGHSt. YouTube Channel des ICC, https://www.youtube.com/user/IntlCriminalCourt (Stand 1. 9. 2020). 118 European Network of Councils for the Judiciary (2019), ENCJ report on Public Confidence and the Image of Justice, Report 2018 – 2019, https://www.encj.eu/articles/72 (Stand 1. 9. 2020). 117

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

Opfer(gruppen) zu überwinden. Die Wortprotokolle und die gesamte Datenbank der Gerichtsdokumente, der sogenannte Record-Manager, fördern das „Recht auf Information“ von Opfern, das als elementares Menschenrecht zur Verhinderung von Straflosigkeit gilt.119 Bereits die Joinet-Prinzipien von 1997 erklärten den engen Zusammenhang zwischen dem Recht auf Information und der Archivierung von Materialien, die Menschenrechtsverstöße dokumentierten.120 Die festgestellte Wahrheit wird in den Archiven nachhaltig und dauerhaft für Opfer gesichert. Die Datenbank des IStGH bietet somit auch den Nachfahren von Opfern die Möglichkeit, sich zu erinnern und in den Wortprotokollen Opferzeugenaussagen nachzulesen und die festgestellte juristische Wahrheit in den Gerichtsdokumenten bestätigt zu finden. Diese praktische Form der Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz sichert die Anerkennung der Opfer der Verbrechen über das Verfahrensende hinaus. Diese transparente Form von Wahrheit mag schließlich auch dazu beitragen, dass Opfer ihr Leben fortsetzen können.121

3. Schuldspruch: Feststellung des Opferseins Al Mahdis Schuldbekenntnis beendete den begonnenen Strafprozess nicht, obwohl die Kammer im Urteil erklärte, dass sie diesem einen hohen Stellenwert einräumte. Ein Schuldeingeständnis des Angeklagten sei grundsätzlich im Interesse von Gerechtigkeit und „(…) can contribute to the search for the truth (…)“.122 Erst wenn allerdings das Strafverfahren durch Überprüfung der Richtigkeit des Geständnisses fortgesetzt wird, wird schließlich das Recht von Opfern auf Feststellung der Wahrheit umgesetzt.123 Dem entsprach auch die weitere Verfahrensweise der Hauptverfahrenskammer am IStGH. Das Schuldeingeständnis des Angeklagten löste zum ersten Mal ein Vorgehen nach Art. 65 IStGHSt aus, der das einzuhaltende Verfahren nach einem Geständnis regelt. Die Kammer gab sich nicht mit der eingeräumten Schuld des Haupttäters und der Absprache zwischen Anklagebehörde und Verteidigung zufrieden, sondern überprüfte selbst die Freiwilligkeit des Angeklagten beim Ablegen des Geständnisses und verifizierte dieses mit zusätzlich vorgebrachten Beweismitteln. „(…) Article 65 also requires the Chamber to conclude that the ad119

UN ECOSOC (2005), Report of the independent expert to update the Set of Principles to combat impunity, Diane Orentlicher. E/CN.4/2005/102,18.02.2005, paras. 17 – 35. 120 UN ECOSOC (1997), Final report prepared by Mr. Joinet pursuant to Sub-Commission decision 1996/119, E/CN.4/Sub.2/1997/20, para. 25. 121 Die Transparenz des Verfahrens wird deutlich geringer, sobald die „Implementation Plans“ des TFVentschieden werden. Die starken redaktionellen Eingriffe durch Schwärzungen ganzer Abschnitte erlauben es daher kaum die Umsetzung der Reparationsmaßnahmen zu bewerten. 122 TC VIII, Al Mahdi, Judgement and Sentence, 27. 09. 2016, ICC-01/12-01/15-171, para. 28. 123 Safferling, C. (2010), Die Rolle des Opfers im Strafverfahren – Paradigmenwechsel im nationalen und internationalen Recht?, in: ZStW 122, S. 87 – 116, S. 113.

VI. Völkerstrafrechtliches Verfahren als Anerkennungsprozess des Opferseins

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mission is ,supported by the facts of the case‘ (…)“.124 Die Feststellung der Leiderfahrungen von Opfern überließ die Hauptverfahrenskammer somit nicht dem rein formal einzustufenden Schuldeingeständnis des Täters, sondern nahm selbst eine inhaltliche Überprüfung vor. Durch dieses Vorgehen wird eine Anerkennung der Opfer durch die internationale Rechtsgemeinschaft – vertreten durch Trial Chamber VIII des IStGH – erreicht, die nicht allein auf der Wahrheitsversion des Täters beruht.125 Zur Feststellung der Wahrheit hatte die Kammer während des Verfahrens drei Expertenzeugen angehört und hunderte von Dokumenten, die von der Anklagebehörde vorgebracht und vom Angeklagten nicht abgelehnt worden waren, analysiert.126 Die selbständige Prüfung der Fakten, welche die Grundlage des Geständnisses bildeten, war die Voraussetzung dafür, dass die Kammer die kriminelle Schuld einem Einzeltäter nach dem Verständnis von Jaspers zuschreiben konnte. Dabei ergab sich, dass die Beweislage gegen Al Mahdi erdrückend war. Von besonderer Bedeutung waren verschiedene Interviews, die er gegenüber Journalisten vor den einzelnen Attacken gegeben hatte.127 In einem dieser Interviews hatte Al Mahdi vor der Tür der Sidi Yahia Moschee erklärt, dass diese deshalb seit 500 Jahren nicht geöffnet worden war, weil nach dem verbreiteten Glauben in Timbuktu und Mali dann das jüngste Gericht beginne. In derselben Interviewpassage hatte Al Mahdi während der laufenden Zerstörung eine Begründung geliefert, warum sich die Hesbah entschieden hatte, die Tür zu zerstören: „Over time, a myth took hold, claiming that the Day of Resurrection would beginn if the door were opened. We fear that these myths will invade the belief of people and the ignorant who, because of their ignorance and their distance from religion, will think that this is the truth. So we decided to open it.“128

Die Interviews, die Al Mahdi mit dem Ziel der Öffentlichkeitsarbeit während des bewaffneten Konflikts gegeben hatte, wurden deshalb zu den stärksten Beweisen gegen ihn, weil sie demonstrierten, dass er die ihm vorgeworfenen Taten aus freien Stücken begangen hatte. So konnte Al Mahdi ganz im Verständnis von Kant als freie Person betrachtet werden, die nicht unter Zwang, Einfluss von Drogen oder aufgrund psychischer Probleme die Taten begangen hat. Al Mahdi wird mit dem Urteil als causa libera für die ihm zurechenbaren Handlungen bewertet. Er ist als einzelner 124 TC VIII, Al Mahdi, Judgement and Sentence, 27. 09. 2016, ICC-01/12-01/15-171, para. 27. 125 Siehe Kap VI. 2. b). 126 TC VIII, Al Mahdi, Judgement and Sentence, 27. 09. 2016, ICC-01/12-01/15-171, para. 29. 127 Al Mahdi war eine Art Pressesprecher vor Ort. Die Kammer stellte im Urteil daher fest: „he was responsible (…) for communicating with journalists to explain and justify the attack.“, siehe TC VIII, Al Mahdi, Judgement and Sentence, 27. 09. 2016, ICC-01/12-01/15-171, para. 40 (v). 128 TC VIII, Al Mahdi, Judgement and Sentence, 27. 09. 2016, ICC-01/12-01/15-171, para. 38 (viii).

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

Mensch verantwortlich und nicht etwa die Hesbah oder eine andere Organisationseinheit der Ansar Dine, der er angehörte. In einem weiteren Interview hatte Al Mahdi gegenüber der Presse geäußert, dass die Zerstörung der religiösen Gebäude eine Konsequenz der vorhergehenden, viermonatigen Versuche seitens der Hesbah darstelle, der Bevölkerung zu erläutern, was richtig und was falsch sei. Dabei verhöhnte er den lokalen Glauben an die Heiligen und die Verehrung der Grabmäler.129 Die bewusste religiöse Diskriminierung der Gläubigen in Timbuktu und Mali berücksichtigte die Kammer im Urteil als sie folgendes festhielt „(…) the discriminatory religious motive invoked for the destruction of the sites is undoubtedly relevant to its assessment of the gravity of the crimes.“130 Die auf diesen Aussagen und dem detaillierten Geständnis beruhende individuelle Schuldzuschreibung Al Mahdis wird an verschiedenen Stellen im Urteil thematisiert: Al Mahdi „agreed to conduct the attack“, „wrote a sermon dedicated to the destruction of the mausoleums, which was read at the Friday prayer at the launch of the attack“, „personally determined the sequence in which the buildings/monuments were to be attacked“131, „personally participated in the attack that led to the destruction of at least five sites“.132 Am 27. September 2016 sprach die Kammer Ahmad Al Mahdi schuldig, Kriegsverbrechen nach Art. 8 (2)(iv) und Art. 25 (3)(a) begangen zu haben, indem er im Zeitraum vom 30. Juni 2012 bis zum 11. Juli 2012 den Angriff auf religiöse und kulturelle Gebäude in Timbuktu organisierte und durchführte. Neun Mausoleen und die historische Eingangstür einer Moschee waren zerstört oder schwer beschädigt worden: das Sisi Mahamoud Ben Omar Mohamed Aquit Mausoleum, das Sheikh Mohamed Mahmoud Al Arawani Mausoleum, das Sheikh Sisi El Makhtar Ben Didi Mouhammad Al Kabir Al Kaunti Mausoleum, das Alpha Moya Mausoleum, das Sheigh Mouhamad El Mikki Mausoleum, das Sheikh Abdoul Kassim Attouaty Mausoleum, das Sheikh Sidi Ahmed Ben Amar Arragadi Mausoleum und die Tür der Sidi Yahia Moschee sowie die beiden der Djingareyber Moschee, das Ahmed Fulane Mausoleum und das Bahabar Babadié Mausoleum.133 Der Schuldspruch ist am IStGH ein öffentlicher Akt, der die Anerkennung der Opfer der verurteilten Verbrechen bestätigt. Die Öffentlichkeit konnte der Verkündung des Schuldspruchs online oder vor Ort live beiwohnen. Ein höchster Grad an Öffentlichkeit wird auch durch die Transcripts erreicht, die alles wörtlich Gesprochene der Verhandlung wiedergeben, sowie durch das schriftliche Urteil, das in Englisch und Französisch auf der Homepage des IStGH veröffentlicht wird. Mit 129 130 131 132 133

Ebenda, para. 41. Ebenda, para. 81. Ebenda, para. 37. Ebenda, para. 40 (iv), paras 83 – 85. Ebenda, para. 63.

VII. Opferanerkennung durch Reparationen: die Realität am IStGH

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einem Schuldurteil am IStGH bestraft die internationale Rechtsgemeinschaft den verantwortlichen Täter und erklärt sich solidarisch mit den Opfern. Das Schuldurteil ist ein Anerkennungsakt der Opfer, weil es die ermittelte Wahrheit manifestiert und die Verantwortlichkeit eines Täters erklärt. Für die Zerstörung der historischen und kulturellen Gebäude wurde Al Mahdi zu neun Jahren Gefängnis verurteilt.134 Erst im Mai 2019 veröffentliche der IStGH schließlich eine Pressemitteilung, die nachträglich verkündete, dass Al Mahdi bereits im August 2018 an ein Gefängnis in Großbritannien überstellt worden war. Die Kammer wahrt die Menschenrechte des Angeklagten auch mit der Wahl des Vertragsstaates oder Landes, wo die Haftstrafe verbüßt werden muss. In Großbritannien drohen dem verurteilten Täter keine grausamen und unmenschlichen Behandlungen – wie die Alltagssituation in malischen Gefängnissen beschrieben wird.135 Zeitgleich lief das Reparationsverfahren für die Opfer weiter.

VII. Opferanerkennung durch Reparationen: die Realität am IStGH Die rechtlichen und administrativen Vorgänge am IStGH stellen einen diametralen Gegensatz zu den Opferwerdungen dar, die während und nach dem bewaffneten Konflikt in Mali 2012 mit psychischen, physischen, materiellen und anderen Gewalterfahrungen einhergegangen sind. Diese Viktimisierungen sind individuell oder kollektiv erfahren worden. So sachlich die Reparationsanordnung und der Implementierungsplan im Fall Al Mahdi zu lesen und in ihrer Nüchternheit auch zu kritisieren sind, so sehr verdeutlichen sie doch auch zugleich eine Rückkehr zu einer formalen Normalität der Gleichbehandlung der Opfer, die während der Opferwerdung Unrecht und Ungleichheit erlebt haben. In der Reparationsanordnung erklärte die Kammer einleitend ihr Funktionsverständnis von Reparationen: „Reparations in the present case are designed (…) to relieve the suffering caused by the serious crime committed, address the consequences of the wrongful act committed by Mr. Al Mahdi, enable victims to recover their dignity and deter future violations.“ 136 Mit welchen Reparationsmaßnahmen und welcher Herangehensweise die Richter der Al Mahdi-Kammer diese Ziele erreichen wollen und auch ob sie der Forderung von De Greiff nachkommen, Repa-

134

Ebenda, para. 109. Abdallah, F. E. (2019), Ahmad Al Faqi Al Mahdi transferred to UK prison facility to serve sentence, siehe ICC, Press Release, https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=pr14 51 (Stand 1. 9. 2020). 136 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 28. 135

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

rationen „as an effort to achieving justice“ zu gestalten, soll im Folgenden analysiert werden.137 Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit die in dieser Forschungsarbeit herausgearbeitete zentrale Sinnebene im Recht auf Reparationen – die Anerkennung von Opferwerdungen und Opfern durch die internationale Rechtsgemeinschaft – durch die Kammer Rechnung getragen wird. In der Analyse der Reparationsanordnung ist daher von besonderem Interesse, ob die Kammer die ermittelte Wahrheit und die zugeschriebene Schuld des völkerstrafrechtlichen Verfahrens als wichtige Anerkennungsmotive von Opfern berücksichtigte. Der zweite Teil des Funktionsverständnisses von Reparationen deutet erst einmal nicht darauf hin, wenn es in der Anordnung heißt „Reparations may also assist in promoting reconciliation between the victims of the crime, the affected communities and the convicted person.“138 Dieser Satz liest sich mehr wie ein Wunsch aus einem Handbuch der Transitional Justice Lehre als fallbezogen ausgearbeitete Ziele für die Opfer in Mali und insbesondere in Timbuktu.

1. Reparationsanordnung gegen den verurteilten Al Mahdi Die Reparationsanordnung selbst ist ein richterlicher Akt, der die Grundsätze festlegt, wonach die Umsetzung des Rechts auf Reparationen in bestimmten Reparationsmaßnahmen erfolgen soll. Völkerstrafrechtlicher Angelpunkt ist allerdings die Feststellung der individuellen Haftung des verurteilten Täters.139 Damit Opfer ihren Rechtsanspruch auf Reparationen in einem völkerstrafrechtlichen Verfahren vor dem IStGH wie im Untersuchungsfall gegen den schuldig gesprochenen Al Mahdi geltend machen können, sind zwei Schritte festgelegt: Erstens, der Gerichtshof muss durch die zuständige Kammer die Schäden ermitteln, die aufgrund des verurteilten Verbrechens entstanden sind. Zweitens, die Opfer und ihre rechtlichen Vertreter müssen nachweisen, einen oder mehrere der ermittelten Schäden erlitten zu haben. Die erste Identifizierung der Schäden, die als Folge der verurteilten Verbrechen entstanden sind und zur Opferwerdung geführt haben, erfolgte bereits während der Urteilsfindung durch die Kammer. Die eigentliche Schadensermittlung 137 A769/518, Report by the Special Rapporteur on the promotion of truth, justice and reparation and guarantees of non-recurrence, 8. 10. 2014, para. 23; Anm.: Dies stünde nicht nur im Einklang mit dem IStGHSt, sondern auch mit dem internationalen Strafrecht, das die Opfergerechtigkeit als erklärtes Ziel anstrebt, siehe: Safferling (2011), S. 72. 138 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 28. 139 „The present order is made against Mr Al Mahdi only.“, siehe TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 50. Anm.: Art. 75 (2) IStGHSt, Rule 98 (1) gestattet der Kammer die direkte Anordnung von Reparationen von dem verurteilten Täter an die betroffenen Opfer, in diesem Fall ist der TFV nicht involviert. Art. 75 (2) IStGHSt, Rule 98 (2) und (3) ermöglicht die indirekte Anordnung von Reparationen durch den TFV.

VII. Opferanerkennung durch Reparationen: die Realität am IStGH

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ist dann Bestandteil der Reparationsanordnung.140 Im Vergleich zu den regionalen Menschenrechtsgerichtshöfen benennt der IStGH nicht ausdrücklich die Menschenrechtsverletzungen, die insgesamt auch als Folge des bewaffneten Konflikts in Mali 2012 entstanden sind. Bei der Schuldfrage des Einzeltäters geht es im strafrechtlichen Verfahren schließlich um Individualverantwortung und nicht um Staatenverantwortung. Der IStGH bestimmt daher die Auswirkungen der internationalen Straftaten des konkret verurteilten Täters, dem bestimmte Schäden zugeordnet werden. Diese Schadensermittlung wirkt aus menschenrechtlicher Sicht befremdlich, weil die Opfer von der Zuschreibung zu dem Täter abhängen und sich an zweiter Stelle hinter den so festgestellten Schäden verbergen. Dieser Vorgang ist vergleichbar mit einem zivilrechtlichen Prozess in Deutschland bzw. einem sogenannte „Adhäsionsverfahren“ zur Entschädigung eines Verletzten im Rahmen eines Strafprozesses.141 Die Schadensermittlung ist am IStGH versachlicht und objektiv, die Menschen, die Opfer geworden sind, werden in ihrer Subjektstellung nicht ins Zentrum gerückt. Schon dadurch deutet sich an, dass es im völkerstrafrechtlichen Reparationsverfahren am IStGH viel mehr um die Anerkennung der Opferwerdungen als die Opfer selbst geht. Die Reparationsanordnung gegen Al Mahdi unterscheidet sich von den bisherigen gegen Katanga und Lubanga erlassenen gravierend: Sie stellt ein Novum in Bezug auf die Bestimmung der Haftung dar (1. a)), auf deren Grundlage die Haftungssumme für die anerkannten Schäden und Opferwerdungen (1. b)) eruiert wird. Die Kammer führte außerdem eine neue Herangehensweise ein, wie die Berechtigung zur Teilnahme an Reparationsleistungen für Opfer auszusehen hat. Eine besondere Herausforderung der Reparationsphase liegt somit für den IStGH darin, dass die aktuelle politisch-gesellschaftliche Situation Malis berücksichtigt werden muss, ohne diese ausdrücklich in der Reparationsanordnung gegen den verurteilten Einzeltäter zu thematisieren. Ein erhöhter Wissens- und Kenntnisstand war daher notwendig, um die Angemessenheit der Reparationsmaßnahmen mit Blick auf die aktuelle politisch-gesellschaftliche Situation in Mali einzuschätzen. Die ökonomischen Umstände der Opfer sind dabei von Interesse, besonders aber auch die Lage der geflüchteten Opfer. Die Frage nach den Auswirkungen der Opferwerdungen geht somit über die erlittenen Schäden zum Zeitpunkt des verurteilten Verbrechens hinaus. Die Al Mahdi-Kammer ist diesem Informationsbedarf durch Einholung von Expertengutachten und amicus curiae nachgekommen.142 Zu kritisieren ist die Auswahl der Experten, die keine religiöse Einordnung der Schäden

140

ICC-01/04-01/06-3129, para. 181. Vgl. §§ 403 ff., StPO. 142 TC VIII, Al Mahdi, ICC-01/12-01/07-3533, „invites interested organisations to request leave to make submissions (…).“ Anm.: Anhand der zahlreichen Fußnoten in der Reparationsanordnung auf die sehr stark geschwärzten und kaum auswertbaren Expertenberichte lässt sich aber deren Bedeutung ablesen, die ihnen die Kammer eingeräumt hat. 141

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

ermöglichte, weil keine entsprechende islamwissenschaftliche Fachexpertise vertreten war. a) Haftung von Al Mahdi Die Experten bewerteten in erster Linie die Ausmaße der Schäden, wie die immaterielle Bedeutung der Zerstörung der religiösen und historischen Gebäude in Timbuktu, die ökonomischen Folgen sowie die „moral harms“. Reparationsprinzip zwei verpflichtet die jeweilige Hauptverfahrenskammer, den Verurteilten über den Haftungsumfang in der Reparationsanordnung zu informieren. Die Kammer setzte die gesamte Summe bei 2,7 Millionen EUR für Al Mahdi an. Bei der Ermittlung der Haftungssumme wurden die beiden Grundprinzipien Rechenschaft (accountability) und Verhältnismäßigkeit (proportionality) der Reparationen berücksichtigt.143 Die festgestellte Haftung bekräftigt die Zuschreibung der Verantwortung des Einzeltäters in der bestätigten Schuld. Das Prinzip der eindeutigen Zurechnung stellt sicher, dass sich die Reparationen nur auf die nachgewiesenen Verbrechen beziehen, für die Al Mahdi tatsächlich schuldig erklärt wurde. Für die Opfer wird die Zurechnung der Schuld in den Reparationen materialisiert und als Anerkennung der Opferwerdungen ausgedrückt. Die Kammer erinnerte in der Reparationsanordnung daran, dass die verurteilten Verbrechen Schäden bei der Bevölkerung von Timbuktu, der Bevölkerung von Mali und der internationalen Gemeinschaft verursacht haben. Allen drei Opfergruppen wird mit der Reparationsanordnung damit ausdrücklich der Opferstatus zuerkannt. Letzteren beiden Opfergruppen wurde allerdings lediglich eine Art „symbolischer Opferstatus“ eingeräumt, weil ihnen nur eine Entschädigung im Wert von jeweils einem symbolischen Euro zugesprochen wurde. Stellvertretend für die gesamte Bevölkerung von Mali soll dieser symbolische Euro an die malische Regierung gehen.144 Die internationale Organisation UNESCO erhält einen zweiten symbolischen Euro im Namen der internationalen Gemeinschaft.145 Diese Entscheidung kann so interpretiert werden, dass es der Kammer offenbar vor allem darum ging, die Opferwerdung der Bevölkerung von Mali und der internationalen Gemeinschaft zwar anzuerkennen, andererseits aber einen deutlich abgeschwächten Opferstatus zuzusprechen.146 Die materiellen Reparationsleistungen sollen ausschließlich den unmittelbar betroffenen Bevölkerungsgruppen von Timbuktu zukommen. Ihr Opferstatus erfährt dadurch automatisch eine höhere Anerkennung. Dies rechtfertigt sich daraus, 143 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 50, para. 134. 144 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 106. 145 Ebenda, para. 107. 146 Drumbl, M. A. (2019), From Timbuktu to The Hague and Beyond: The War Crime of Intentionally Attacking Cultural Property, in: 17, Journal of International Criminal Justice 77, S. 77 – 99.

VII. Opferanerkennung durch Reparationen: die Realität am IStGH

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dass die Einwohner_innen von Timbuktu deutlich stärker und direkter von den Verbrechen betroffen waren. Unter der Gesamtsumme der 2,7 Millionen EUR sind die Opferwerdungen nach Schäden in drei Kategorien differenziert, die im Folgenden noch ausführlicher diskutiert werden müssen (1. b)): Zerstörung der Weltkulturerbestätten, wirtschaftliche Folgeschäden sowie die Verletzung der religiösen und kulturellen Identität von Menschen als moral harms. Die gerichtlich anerkannten Opfer der Stadt Timbuktu haben Opferwerdungen durch einen oder mehrere dieser drei Schäden erlitten. Weder hier noch in einem anderen Dokument finden sich Berechnungen, wie es zu den veröffentlichten Zwischensummen von 97.000,00 EUR147 für die zerstörten Gebäude, 2.120.000,00 EUR148 für die wirtschaftlichen Einbußen und Verluste oder den 483.000,00 EUR149 für die moral harms kommt. Eine transparente Kalkulation veröffentlichte diese Kammer im Vergleich zu derjenigen im Fall Katanga nicht.150 In der Reparationsanordnung wurde der verurteilte Al Mahdi für mittellos erklärt. Die Richter haben rein normativ betrachtet keinerlei Entscheidungshoheit über eine anschließend anzuordnende Finanzierung durch den TFV. Daher entspricht der Originalwortlaut an dieser Stelle vielmehr einer Bitte: „The Chamber encourages the TFV to complement the individual and collective awards to the extent possible. And to engage in fundraising efforts to the extent necessary to complement the totality of the award.“151 Nach dieser richterlichen Aufforderung liegt es im Verantwortungsbereich des Board of Directors des TFV, über die Bereitstellung der finanziellen Mittel für die Reparationen der Opfer zu bestimmen. Im Reparationsverfahren am IStGH entscheidet somit eine „quasi-politische“ Zustimmung des BoD über die Reparationsleistungen für die Opfer eines verurteilten Täters. Unabhängig von dieser fragwürdigen prozessualen und institutionellen Umsetzung des Reparationsverfahrens am IStGH, die die finale Entscheidung über Reparationen an ein politisches Gremium (BoD) zurückverweist, wie an anderer Stelle bereits ausführlich erörtert worden ist,152 richtet sich die weitere Aufmerksamkeit in der Reparationsanordnung primär auf die Verantwortlichkeit des verurteilten Täters für die Reparations- bzw. Haftungssumme. Auch im offiziellen Abschnitt des völkerstrafrechtlichen Verfahrens am IStGH mit der Reparationsanordnung, das ausdrücklich auf die Opfer ausgerichtet sein soll, werden zuvorderst die Rechte des verurteilten Täters betont.153 Primär findet das Rechtsprinzip der Verhältnismäßig-

147 148 149 150 151 152 153

TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 118. Ebenda, para. 128. Ebenda, para. 133. TC II, Katanga Reparation Order, 24. 03. 2017, ICC-01/04-01/07-3728-tENG. TC VIII, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 133. Siehe Kap. V. 2. e). TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 37.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

keit Anwendung in Bezug auf die Schwere der Tat, die nachgewiesene Tatbeteiligung sowie die verursachten Schäden, und wird stets zugunsten Al Mahdis ausgelegt.154 Es ist ausschließlich der schuldig gesprochene Al Mahdi, der für die zugefügten Schäden an Opfern haftet und die Summe von 2,7 Millionen Euro grundsätzlich aufbringen muss. Das Schuldurteil gegen den Einzeltäter wird in dieser Reparationssumme für Opfer materialisiert. Doch auch wenn die angesetzte Summe den tatsächlich zugefügten und verursachten Schäden entsprechen mag, ist die Höhe weit entfernt von der Lebenswirklichkeit des singulären Täters, der voraussichtlich bis zum Jahr 2025 seine Haftstrafe verbüßt und als gelehrter Islamwissenschaftler vermutlich nicht ansatzweise derartiges Vermögen anhäufen wird, um die Haftungssumme jemals zurückzuzahlen. Während bei der Frage der Schuldzuschreibung der durch Verbrechen eines Einzeltäters entstandenen Vielzahl an Opfern nicht die Proportionalität im Vordergrund steht, weil eine einzelne Person, wie bei Al Mahdi nachgewiesen, eben die Opferwerdungen vieler verantworten kann, stellt sie sich sehr wohl bei der Diskussion um die Haftung. Mit Aristoteles Überlegungen zur Proportionalität in der Nikomachischen Ethik wird dies gar zu einer Frage der Gerechtigkeit „im Wiederherstellen“.155 Die gesetzgebenden Staaten haben mit der Schaffung des IStGHSt hierin aber kein Gerechtigkeitsproblem erkannt und daher befunden, dass allein der schuldige Täter für die Haftungssumme aufkommen muss. Die Einzelfallstudie zeigt, dass es im Ergebnis dann doch den Vertragsstaaten obliegt, durch freiwillige Zahlungen die Haftungssumme aufzubringen, weil Al Mahdi wie die anderen zuvor zu Reparationen verurteilten Täter am IStGH mittellos ist. Eine verpflichtende „staatliche Haftung“ zur finanziellen Übernahme dieser Haftungssumme würde sowohl den Opfern wie dem verurteilten Einzeltäter gerecht werden. Jedoch sehen auch die anderen Regularien des Rom-Statut-Systems sie nicht vor. Hier liegt insgesamt ein Schwachpunkt des institutionellen Anerkennungsgefüges des IStGH, der eine Ungewissheit für die gesamte Durchsetzung von Reparationsleistungen darstellt. Die menschenrechtliche Diskussion des Rechts auf Reparationen erfordert es an dieser Stelle nicht nur die Sinnebenen der Anerkennung von Opfern durch Wahrheit und Schuld im Recht auf Reparationen am IStGH zu analysieren, sondern auch die institutionellen Durchsetzungsmechanismen kritisch zu bewerten. Dem empirischreparativen Anerkennungsprozess von Opfern wird an dem entscheidenden Punkt der Finanzierung eine hohe praktische Realisierungshürde aufgestellt. Sofern diese nicht überwunden wird, bleibt das Gesamtverfahren bei der Feststellung von Wahrheit und Schuldzurechnung mit der Verurteilung stehen. Dabei sollten die Idee und Umsetzung des Rechts auf Reparationen nicht von der Bereitschaft einzelner Staaten bzw. partikularer Interessen abhängen, welche die freiwilligen Zahlungen übernehmen möchten.156 154 155 156

Lubanga Reparations AO, ICC-01/04-01/06-3129-ANxA, paras. 20 – 21. Aristoteles (1909), Nikomachische Ethik. Jena, S. 102. Siehe Kap. VII. 2. c).

VII. Opferanerkennung durch Reparationen: die Realität am IStGH

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b) Anerkannte Schäden – Anerkannte Opferwerdungen In der Reparationsentscheidung folgte die Kammer der Methodik der ersten beiden „Reparationskammern“, welche die Schäden der Verbrechen ins Zentrum stellten und nicht die Menschen mit Opfererfahrung, die einen dieser Schäden erlitten haben. Eine derartige Strukturierung und Hervorhebung der Opfer der verurteilten Verbrechen wäre rein verfahrenstechnisch möglich und völkerstrafrechtlich auch zulässig. Ein eindeutiger Fokus auf die Opfer würde zudem ihre Anerkennung durch die Rechtsgemeinschaft des IStGH sichtbarer machen. Explizit als direkte Opfer genannt sind in der Reparationsanordnung157 neben den Familien der Nachfahren der Heiligen (paras. 90, 145), die sogenannten „Macons“, die als Wächter auf die Mausoleen achten und ihre Geschichte und Geheimnisse wahren (para. 145). Die Macons selbst sind keine direkten Nachfahren der Heiligen, sondern von diesen als Wächter bestimmt. Als Opfer der verurteilten Verbrechen gelten auch diejenigen Bewohner_innen Timbuktus, deren Einnahmen indirekt von den Mausoleen abhingen, genaugenommen sind es „business owners (…) whose only purpose is to sell sand perceived as holy from the sites of the Protected Buildings“ (para. 81). Die noch in Timbuktu lebende Bevölkerung gehört ebenso zur anerkannten Opfergruppe wie die Vertriebenen und Flüchtlinge (para. 90).158 Wegen der stärkeren Betroffenheit und höheren Grade an Opferwerdungen durch die Verbrechen begrenzte die Kammer die Schadensermittlung ausschließlich auf die Stadt Timbuktu als direktes Opfer – und nicht auf die indirekten Opfer, den Staat Mali und die internationale Gemeinschaft. Die Herangehensweise könnte daher als „community approach“ bezeichnet werden.159 Beabsichtigt war es außerdem, eine hohe Effektivität der Reparationen zu gewährleisten.160 Die UN Sonderberichterstatterin für kulturelle Rechte, Karima Bennounce, hatte erklärt: „(S)ince ultimately it is the local population that is in the best position to preserve the heritage in question, therefore the measures of reparation might most sensibly be aimed at strengthening their capacity to do so.“161

157 Es gibt eine klare Voraussetzung für Opfer Reparationen zu erhalten: „To be eligible for reparations, a victim must have suffered harm as a result of the commission of the crime of which Mr Al Mahdi was convicted.“ Siehe TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 42. 158 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, paras. 81, 90, 145. 159 Ebenda, para. 55; Dixon, Peter J. Reparations and the politics of recognition, in: De Vos, Christian/Kendall, Sara (Hg.): Contested Justice, The Politics and Practice of the ICC Interventions, Cambridge 2015, S. 326 – 351. 160 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, paras. 55 – 56. 161 Bennoune, K. (2017), UN Special Rapporteur in the Field of Cultural Rights, Expert Appointed by the International Criminal Court in the Case of The Prosecutor v. Ahmad Al Faqi Al Mahdi, ICC-01/12-01/15-214-AnxI-Red3, 14. 08. 2017, S. 28.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

Auf Grundlage der Schadensermittlung, die erstmalig im Verfahren den Umfang und das Ausmaß der Opferwerdungen eruiert, können verfahrenstechnisch die Reparationsmaßnahmen aufgestellt und angeordnet werden. Die Reparationsanordnung vom 17. August 2017 umfasst das Analyseergebnis der Schäden und definiert gleichzeitig die Reparationsmaßnahmen.162 Bei der Schadensermittlung ist eine Kammer nicht auf diejenigen Schäden begrenzt, die sie während des Hauptverfahrens zur Urteilsfindung bereits diskutiert hat. Konsequenterweise muss sich die Kammer auch nicht allein auf die Beweise und Zeugenaussagen des Hauptverfahrens beschränken, sondern kann weitere Informationsquellen163 heranziehen, um zu eruieren, welche Schäden die Opfer erfahren haben: „Recalling that reparations findings are not limited to admissible evidence.“164 Diese Entscheidung gestattet es, auch diejenigen Opferwerdungen aufzunehmen, die erst in der Folge entstanden sind oder bei Personengruppen, die nicht während des Verfahrens als primäre Opfergruppen betrachtet wurden. Rein prozessual betrachtet eröffnet sich hier die Möglichkeit zur breiteren Anerkennung von Opfern, die eine Opferwerdung als Folge der verurteilten Verbrechen erfahren haben. In der Auflistung der gesamten Informationsquellen, die Grundlage der Reparationsanordnung sind, zeigt sich bereits, dass die Kammer den Registrierungsanträgen der Opfer keine gesonderte Bedeutung einräumte.165 Dies entspricht der schwachen Partizipation der Opfer in der wichtigen Reparationsphase, die weiterhin nur indirekt über den LRV erfolgt. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen den erlittenen Schäden und der begangenen bzw. verurteilten Tat muss nachgewiesen sein. Weder das IStGHSt noch die Verfahrensregeln definieren allerdings klar, was unter einem Schaden zu verstehen ist. Die Al Mahdi Kammer griff daher auf die Definition zurück, die schon die Berufungskammer im Verfahren gegen Thomas Lubanga aufgestellt hatte. Danach ist ein Schaden simpel gekennzeichnet durch „hurt, injury and damage.“166 Die Opfer müssen den Schaden nicht zwangsläufig direkt erlitten haben, aber „it must have been personal to the victim.“167 Schäden oder – im weniger juristischen Fachjargon – Leiderfahrungen können materieller, physischer oder psychischer Art sein. Einen besonderen Stellenwert erhalten separat die „moral harms“, die stets unabhängig von der wirtschaftlichen Situation zu bewerten sind.168 Aus den ursprünglich fünf verschiedenen Schadensarten, die die Opferwerdungen hervorbrachten, akzeptierte die Kammer drei als unmittelbare Folge der Verbrechen: erstens, Schäden an den geschützten Weltkulturerbestätten, zweitens, wirtschaftlicher Verlust von Individuen und der Bevölkerung von Timbuktu, der als Folge nach der Zerstörung der Mau162

TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236. AC Lubanga, 03. 03. 2015, ICC-01/04-01/06-3129, para. 185. 164 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 57. 165 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 57. 166 AC Lubanga, 03. 03. 2015, ICC-01/04-01/06 A A 2 A 3, para. 183. 167 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 43; siehe AC Lubanga, 03. 03. 2015, ICC-01/04-01/06 A A 2 A 3, para. 183. 168 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 43. 163

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soleen und dem Ausbleiben der Einnahmen entstanden ist, und drittens, „moral harms“ bei Individuen und der Bevölkerung Timbuktus. Als „moral harms“ werden psychische bzw. seelische Schmerzen und Angstzustände, Verlust der Jugend und Kindheit, verpasste Lebenschancen und Beziehungen für diejenigen, die Timbuktu aufgrund der Attacken verlassen sowie die Störung der Kulturstätten erlebt haben, beschrieben.169 Alle Opfer haben „moral harms“ erlitten, befand die Al Mahdi Kammer. Das sind die Leiderfahrungen, die am engsten den Verlust oder die Verletzung der Würde beschreiben.170 Die Würde kann durch die Anerkennung der Opferwerdungen im Menschenrecht auf Reparationen für die Opfer Timbuktus wieder praktisch erfahrbar werden, sobald die Reparationen eine direkte Antwort auf den erlittenen Schaden darstellen. Verletzt wurde die Würde der Bürger_innen Timbuktus durch die Zerstörungen der Weltkulturerbestätten und die nachfolgend entstandenen Folgeschäden, auch die wirtschaftlichen. Besonders bei Opferwerdungen aufgrund wirtschaftlicher Schäden stellt sich jedoch die Frage, ob die Wiedererfahrbarkeit der eigenen Würde alleine durch individuelle finanzielle Entschädigungsleistungen ermöglicht werden kann. Dies kategorisch auszuschließen könnte eine westliche Perspektive materieller Sicherheit demonstrieren. Schließlich hat die Auswertung von Opferzeugenaussagen aus völkerstrafrechtlichen Fällen und Berichten von Wahrheitskommissionen im theoretischen Teil dieser Arbeit ergeben, dass Betroffene häufig den Wunsch äußern, wieder ihrem Lebensunterhalt nachkommen zu wollen, nachdem sie schwerste Viktimisierungen erlitten haben. Ökonomische individuelle Reparationsmaßnahmen könnten unter bestimmten Umständen auch zur Wiedererfahrbarkeit der Würde beitragen. Die Art der Reparationsmaßnahme ist dabei entscheidend. So ist es ein Ausdruck der wiedererlangten Selbstbestimmtheit von Opfern, wenn sie ihren Lebensunterhalt beispielsweise durch Mikrokreditsysteme bestreiten. Einmalige individuelle finanzielle Leistungen sind reine materielle Einmalentschädigungen, denen keine zusätzlichen Funktionen wie die Wiedererfahrbarkeit der Würde zuzurechnen sind. Bei der folgenden Analyse der anerkannten Schäden muss daher hinterfragt werden, inwieweit die aufgestellten Reparationsmaßnahmen die Wünsche und Bedürfnisse von Opfern berücksichtigen und die Wiedererfahrbarkeit ihrer Würde ermöglichen. aa) Schäden an den geschützten Gebäuden Aufgrund des politischen Willens der malischen Regierung, den Fall zu überweisen und der eindeutigen Beweislage, standen die denkmalgeschützten Gebäude in Timbuktu im Zentrum der Anklage und mehr noch: „The attacks on the Protected Buildings (…) form the basis for Mr Al Mahdis conviction.“171 Als Hauptschäden galten daher auch die an den Gebäuden begangen Zerstörungen, obwohl das Ziel ja 169 170 171

Ebenda, para. 85. Dwertmann (2010), S. 80. TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 64.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

primär die Bevölkerung Timbuktus und deren praktizierter Islam an den Mausoleen war. Das völkerstrafrechtliche Verfahren betrachtet die materiellen Zerstörungen als unmittelbare Sachschäden und erst in der Folge auch die menschlichen Opferwerdungen. Trotz der Tatsache, dass die zerstörten Gebäude inzwischen durch die UNESCO wieder errichtet wurden, bleibt der Verurteilte für alle Schäden haftbar.172 Seine Verantwortlichkeit für die Zerstörung der Mausoleen wurde klar erwiesen und im Urteil bestätigt.173 Kollektive Reparationen sind aus Kammersicht das angemessene Mittel, um auf die erlittenen Schäden an den geschützten Gebäuden zu reagieren. „(T)he appropriate modality of reparations shall be measures aimed at rehabilitating the Protected Sites with effective measures to guarantee non-repetition of the attacks directed against them.“174 Die Anordnung „measure to guarantee non-repetition“ aufzustellen, ist insofern innovativ, weil diese Reparationsart zuvor keine Kammer bedacht hatte, vielleicht auch aus dem Grund ihrer schwierigen Realisierbarkeit. Garantien der Nicht-Wiederholung umfassen schließlich nicht nur Elemente von Entschädigung, sondern auch konkrete Ansätze zur Vorbeugung von erneuter Gewalt.175 Die UN Basic Principles liefern konkrete Vorschläge wie dies aussehen könnte: von Menschenrechtsbildung bis zur Stärkung der Gerichtsbarkeit wäre ein tiefes Eingreifen in nationale Politikfelder erforderlich.176 Diese Maßnahmen sollen nach Anordnung der Al Mahdi-Kammer daher erst nach Gesprächen mit der Regierung und den zuständigen Ministerien in Mali ausgearbeitet und umgesetzt werden.177 Der TFV wird nicht nur damit, sondern mit der gesamten Umsetzung der Reparationsanordnung beauftragt.178 Diese Konsultationsgespräche sollten allerdings um die beteiligten Opfer(vertreter) erweitert werden und lokale religiöse und traditionelle Persönlichkeiten einbeziehen. Bei der Entwicklung von Reparationen in Reaktion auf die „moral harms“ ist es auch relevant, die lokalen traditionellen und religiösen Strukturen und Entscheider in den Blick zu nehmen. Neben den Imamen als religiöse Oberhäupter 172

Ebenda, para. 65. Hingegen konnten nicht genügend Beweise während des Verfahrens erbracht werden, dass Al Mahdi auch für die Zerstörung von direkt an die Denkmäler angrenzenden Grabesstätten verantwortlich gemacht werden kann; insoweit hatte auch keiner der Antragssteller für Reparationen einen Anspruch formuliert, für die Zerstörung von Grabesstätten von Vorfahren und Angehörigen entschädigt zu werden, siehe TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 66. 174 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 67. 175 Capone, F. (2018), An Appraisal of the Al Mahdi Order on Reparations and Its Innovative Elements, in: Journal of International Criminal Justice, S. 1 – 17. 176 UN General Assembly (2005), Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparations for Victims of Cross Violations of International Human Rights Law and Serious Violations of International Humanitarian Law, Resolution 147, A/RES/60/147; 13IHRR 907, 2006, Principle 23. 177 Ebenda, para. 67. 178 Ebenda, para. 67. 173

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gehören hierzu die sogenannten Cadis. Diese Scharia-Richter gelten als Respektspersonen und Autoritätsfiguren. Die sogenannten Gripts sind hingegen Mediatoren, deren Rolle in der Vermittlung zwischen den Kasten bestehen.179 Doch auch bei Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Entscheider in Timbuktu und Mali bleibt bei der Umsetzung sämtlicher Reparationsmaßnahmen, ausgenommen der symbolischen Euros, die Herausforderung der männlich-patriarchalischen Strukturen. Die traditionelle Rolle von Frauen und Mädchen wurde weder bei der Feststellung der Schäden, noch bei der Ermittlung der Reparationsmaßnahmen berücksichtigt, obwohl die Expertin für Weltkulturerbestätten, Marina Lostal, in ihrem Bericht dies ausdrücklich empfohlen hatte. „(I)t seems that women are not allowed into the mausoleums unless they are above certain age. They nevertheless play an essential role as transmitters of culture to children.“180 bb) Wirtschaftliche Schäden Bereits im Urteil stellt die Kammer fest, dass Al Mahdi individuelle wirtschaftliche Schäden als Folge der Zerstörung der Gebäude verursacht hat.181 Menschen, die ökonomische Schäden erlitten hatten, baten in ihren Anträgen um finanzielle Entschädigung. Doch die verschiedenen Opfergruppen haben unterschiedliche Grade von wirtschaftlichen Schäden erfahren müssen. Diejenigen, die unmittelbar ihr Einkommen aus der Existenz der Mausoleen bezogen, sind stärker davon betroffen als andere mit weiteren Einnahmequellen. Dabei handelt es sich um drei Berufsgruppen: die Wächter der Mausoleen, die Maurer, die für den materiellen Erhalt der Mausoleen zuständig waren, sowie die Inhaber von Geschäften, die direkt von den Mausoleen abhingen.182 Die Zerstörung der Mausoleen nahm vielen die Geschäftsgrundlage, nachdem der Tourismus stark eingebrochen war und mit den Touristen die kaufstärkste Gruppe ausblieb. Pilger hatten zusätzlich durch ihre Spenden Einnahmen erbracht, die nunmehr wegfielen.183 Die Kammer sprach den unmittelbar geschädigten Opfern individuelle Reparationen für die erlittenen wirtschaftlichen Schäden zu, die in individuellen Entschädigungszahlungen oder in kollektiven Reparationen in der Form von Rehabilitierung angemessen umgesetzt werden sollen. Die wirtschaftlichen Schäden, die durch den Einkommensausfall provoziert wurden, sind materielle Folgeschäden. Diese sind differenziert aufgelistet und von der Kammer mit finanziellen Entschädigungsleistungen angemessen bewertet. Materiell Messbares sollte auch materiell bzw. finanziell entschädigt werden. Erleidet ein Opfer aufgrund der Zerstörung der Welt179

Lober (2015), S. 29. Lostal, M., Expert Report, Reparations Phase The Prosecutor v. Ahmad Al Faqi Al Mahd, ICC-01/12-01/15, amended 03. 05. 2017, para. 86. 181 TC VIII, Al Mahdi, Judgement and Sentence, 27. 09. 2016, ICC-01/12-01/15, para. 108. 182 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 73. 183 TC VIII, Al Mahdi, Judgement and Sentence, 27. 09. 2016, ICC-01/12-01/15, para. 43. 180

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kulturerbestätten einen finanziellen Verlust X pro Tag, weil der Tourismus für Y Tage einbricht, wäre es nur gerecht, wenn das Opfer den Ausgleich von X Mal Y erhielte. Anders als im Verfahren gegen Germain Katanga und Thomas Lubanga setzte die Kammer allerdings keine Mindest- oder Höchstsumme für die zu zahlenden finanziellen Entschädigungen an und überließ diese Aufgabe dem TFV. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass die verursachten wirtschaftlichen Schäden grundsätzlich einen kollektiven Charakter haben. Aufgrund dieser Entscheidung können die Reparationen nicht nur auf die 139 eingegangenen Einzelantragsteller konzentriert werden. Umgekehrt werden die wirtschaftlichen Schäden in Timbuktu langfristig zu spüren sein und Auswirkungen auf die gesamte Stadtbevölkerung haben. Kollektive finanzielle Reparationsmaßnahmen sollten daher auch auf die Rehabilitierung der Bevölkerung der Stadt Timbuktu insgesamt abzielen.184 Die Kammer unterbreitete einige Vorschläge, wie diese kollektiven Reparationsmaßnahmen aussehen könnten: Lokale Bildungsprogramme, die das Wissen um die Bedeutung des kulturellen Erbes Timbuktus fördern. Aber auch Initiativen für Rückkehrer sollten erwogen werden, um neben einem zu etablierendem Mikrokreditsystem die Bevölkerung dahingehend zu unterstützen, selbst für ihr tägliches Einkommen zu sorgen.185 cc) Moral harms „Moral harms“ können im Deutschen nicht mit „moralische Schäden“ übersetzt werden; vielmehr sind damit im weitesten Sinne psychische Negativfolgen der Verbrechen gemeint. Unter den moral harms werden die Aussagen von Opfern berücksichtigt, die unmittelbar ihre Gefühls- und Gemütslage im Kontext der erfolgten Attacken auf die Mausoleen beschrieben. Folgende Zeugenaussage würde die Einstufung als moral harms rechtfertigen: „I was a victim of the destruction of the mausoleum, upset and shaken in my body and to the depths of my being.“186 Für die Ermittlung der „moral harms“ sind besonders aber auch die Aussagen relevant, die Verstöße gegen Menschenrechte beschreiben. Bei der Bewertung der Menschenrechtsverletzungen übernahm die Kammer die Einschätzung aus einem Expertenbericht, ohne eine eigene normative Begründung zu liefern. Demnach stufte Marina Lostal als gravierendste Menschenrechtsverletzung den verhinderten Zugang zu den Kulturdenkstätten ein und leitete daraus Verstöße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Religions-, Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit sowie das Recht auf Bildung ab.187 184

83. 185

TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, paras. 82 –

Ebenda, paras. 81 – 83. Ebenda, para. 85. 187 Lostal, M., Expert Report, Reparations Phase The Prosecutor v. Ahmad Al Faqi Al Mahd, ICC-01/12-01/15, amended 03. 05. 2017, para. 54. 186

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Im Fall Al Mahdi wurde primär die Religionsfreiheit der Opfer verletzt. Nach der Zerstörung der Mausoleen war die Ausübung der religiösen Praktiken nicht mehr möglich.188 Noch entscheidender ist allerdings das Argument, dass mit der Attacke die vom Sufismus geprägte Heiligenverehrung abgeschafft werden sollte. Opfer erklärten, dass ihr Glaube durch die erlebten Verbrechen tatsächlich zutiefst erschüttert wurde. Sie dokumentierten die eigene Zeugenschaft über die Verletzung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit, die am IStGH, wie gesagt, in Form der „moral harms“ Eingang fand. „My faith shattered and my belief unsettled.“ Eine andere Person bezieht sich in der Opfererfahrung auf die ganze Stadtbevölkerung von Timbuktu: „The whole city suffered on the day the mausoleums were destroyed. I wept and many others wept, because we were in great pain. The saints are all important to us. They are ancestors of all of us. We used to seek blessings from them and make offering to them at every milestone in our lives: births, deaths, sickness, travel, etc. That’s why the destruction harmed us. We didn’t think it was possible.“189

Die zerstörten Mausoleen hatten innerhalb der Bevölkerung Timbuktus zudem die symbolische Bedeutung als Beschützer der Gemeinschaft. Ihnen kam die Aufgabe zu, Schaden von Timbuktu und seinen Menschen fernzuhalten. Dieser symbolische Wert der Mausoleen, der neben ihrer historischen, kulturellen und religiösen Bedeutung existiert, hat in hohem Maße zu den moral harms beigetragen. Die Zerstörung der Monumente ließ die Bevölkerung in einem Gefühl der Unsicherheit, Hilflosigkeit und Schutzlosigkeit zurück. „The attack on the Protected Buildings not only destroyed cherished monuments, but also shattered the community’s collective faith that they were protected.“190 Obwohl die gesamte Bevölkerung von Timbuktu derartige moral harms erlitten hatte, waren die Nachfahren der Heiligen der Mausoleen noch mehr und unmittelbarer betroffen als der Rest der Bevölkerung, da sie eine direkte und besonders emotionale Beziehung zu den Grabstätten hatten. Für diesen Personenkreis entschied die Kammer daher individuelle Reparationen, die in der Form von individueller Entschädigung ausgezahlt werden sollen. Kollektive Reparationen werden zusätzlich angeordnet, um die restliche Bevölkerung von Timbuktu zu rehabilitieren.191 Mit Blick auf die Bedeutung der Mausoleen als Beschützer aller Bewohner von Timbuktu hätte sich jedoch insoweit auch ein Absehen von der Differenzierung zwischen unmittelbar und mittelbar betroffenen Personen gut begründen lassen. Doch die Kammer wählte stattdessen den Weg, zusätzliche kollektive Reparationen anzuordnen, um die restliche Bevölkerung von Timbuktu zu entschädigen. „As for the modalities, the Chamber considers collective reparations through rehabilitation 188 Siehe Aussagen von Opfern, TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC01/12-01/15-236, para. 85. 189 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 85. 190 Ebenda, para. 86. 191 Ebenda, para. 90.

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(to be appropriate) to address the emotional distress suffered as a result of the attack on the Protected Buildings. These collective reparations can also include symbolic measures – such as a memorial, commemoration or forgiveness ceremony – to give public recognition of the moral harm suffered by the Timbuktu community and those within it.“192 In diesem Zusammenhang verdient auch die Entschuldigung von Al Mahdi als Reparationsmaßnahme Beachtung. Diese ist nicht nur generell als wahrheitsstiftender Anerkennungsakt der Opfer durch den Täter, sondern auch in ihrer konkreten Wortwahl als Anerkennung des erlittenen Leids der Bevölkerung zu werten und insoweit geeignet, die psychischen Folgen der Taten zu lindern. Die Hauptverfahrenskammer erklärte sich mit der erbrachten Entschuldigung von Al Mahdi zufrieden und bemerkte in der Reparationsanordnung: „The Chamber does not consider that a further apology above and beyond what Mr Al Mahdi has already given to be necessary.“193 Die gerichtliche Entscheidung erscheint hier mit Rücksicht auf die gegebene Begründung und unter Anwendung der Kriterien von Lazare194 als konsequent und nachvollziehbar. dd) Nicht-anerkannte Schäden Die zwei nicht-berücksichtigen Schadensarten betrafen Körperverletzungen und materielle Schäden, die nicht ausdrücklich an den geschützten Gebäuden erfolgt sind. Opfer, die diese Schadensarten erfahren haben, werden in den Reparationsleistungen nicht berücksichtigt oder nur in dem Fall, dass sie auch andere Schäden erlitten haben. Die Kammer begründet ihre Entscheidung, Körperverletzungen als Schaden nicht anzuerkennen nachvollziehbar damit, dass Al Mahdi tatsächlich nicht wegen Verbrechen gegen die Person verurteilt wurde und die Kammer während des Verfahrens keine Beweise diesbezüglich feststellte.195 Dass andere materielle Schäden als Zerstörungen an den geschützten Mausoleen entstanden sind, hielt die Kammer für grundsätzlich möglich. Beispielsweise hatten Opfer angegeben als Folge der Flucht aus Timbuktu ihren kompletten Haushalt zurückgelassen oder Schaden an ihrem Eigentum erfahren zu haben. Jedoch konnte auch insoweit nicht zweifelsfrei erwiesen werden, dass diese materiellen Schäden wirklich als unmittelbare Folge auf die Taten von Al Mahdi entstanden sind und nicht während anderer Verbrechen, die im selben Zeitraum des bewaffneten Konfliktes ebenfalls in Timbuktu begangen wurden. Al Mahdi konnte daher für diese materiellen Schäden nicht zur Verantwortung gezogen werden.196 Die Kammer stufte in dem gesamten Verfahren die Bedeutung von „cultural property“ höher ein als individuelles Eigentum. 192 193 194 195 196

Ebenda, para. 90; siehe Kap. VI. 2. b). TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 71. Lazare (2004), siehe ausführlich Kap. III. 2. e). TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 93. Ebenda, paras. 102 – 103.

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2. Umsetzung der Reparationsanordnung Die Sicherheits- und Menschenrechtslage hatte sich besonders im Norden Malis seit dem bewaffneten Konflikt 2012 und der Opferwerdung in Timbuktu nicht verbessert, als die aktive Umsetzung der Reparationsleistungen anstand. Der Friedensvertrag von Burkina Faso war nicht eingehalten worden und verbündete AlQuaida-Gruppen hatten wiederholt bewaffnete Kämpfe mit Tuareg und anderen Gruppierungen ausgetragen. Berichte von Entführungen ausländischer Hilfskräfte hatten sich zudem gehäuft197, während die MINUSMA regelmäßig von außergerichtlichen Erschießungen durch islamistische Gruppen erfuhr.198 Laut Bericht des Internationalen Weltwährungsfonds von 2017 hat sich auch die gesamte ökonomische Situation in Mali nicht gebessert. Der fragile Staat hatte seit 2012 aufgrund der angespannten Lage die entsprechenden Sicherheitsausgaben erhöht. Eine auf drei Jahre ausgelegte Finanzstrategie sollte eigentlich die regionale Entwicklung in ländlichen Gegenden, darunter auch Timbuktu, fördern. Der Friedensvertrag von 2015 hatte die Zentralregierung in Bamako verpflichtet bis 2018 rund 30 % des Gesamthaushaltes an die Regionalregierungen zu transferieren.199 Die Dezentralisierung ist aber gescheitert. Auch dies ist ein Grund, weshalb es im August 2020 erneut zu einem Staatsstreich durch Militärangehörige und der Absetzung von Präsident Keita kam. Eine Übergangsregierung steht am Ende dieser Forschungsarbeit im September 2020 an der Spitze des Staates.200 Die Diskussion um die praktische Umsetzung der individuellen, kollektiven und symbolischen Reparationsmaßnahmen findet am IStGH und dem zuständigen TFV vor dem Hintergrund dieser gesamtpolitisch Situation in Mali statt. Etwaige Konsultationen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren müssen ebenso in dieser unsicheren Lage erfolgen wie die Partizipation von Opfern. Nach der Verkündung der Reparationsanordnung verlässt das Reparationsverfahren mit der Implementierungsphase das sichere Terrain des IStGH als Ort der Rechtsprechung. Der Erfolg, ob die Opfer tatsächlich Reparationsleistungen erhalten, hängt primär von der politischen Unterstützung der malischen und internationalen Akteure und der Finanzierung durch freiwillige Gelder ab.

197

Human Rights Watch (2017), World Report 2017: Mali, https://www.hrw.org/world-re port/2017/country-chapters/mali (Stand 1. 9. 2020). 198 UN General Assembly (2013), Fourth Annual Progress Report of the Secretary General on the implementation of the global field support. Minusma, https://www.un.org/en/ga/search/ view_doc.asp?symbol=A/68/637 (Stand 1. 9. 2020). 199 International Monetary Fund (2017), Mali: IMF Country Report No. 17/209. Washington, S. 7 – 12. 200 ECOWAS fordert Freilassung des gestüzten malischen Präsidenten, In: https://www.zeit. de/politik/ausland/2020-08/mali-ecowas-keita-militaer-putsch-freilassung (Stand 1. 9. 2020); Nach dem Putsch. Wohin führt Malis weg?, in: https://www.tagesschau.de/ausland/mali-zu kunft-101.html (Stand 15. 9. 2020).

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

a) Individuelle und kollektive Reparationen In Artikel 75 sieht das IStGHSt zwar das Recht auf Reparationen vor. Dieses aber ausschließlich als symbolhafte kollektive Reparationen zu verstehen, wie zunächst im Urteil gegen Thomas Lubanga, ist weder in weiteren Artikeln noch in der Verfahrensordnung so angedacht. Zur Beurteilung der Reparationen gibt Rule 97 (Assessment of reparation) vor, „the Court may award reparations on an individualized basis or, where it deems it appropriate, on a collective basis or both.“ Verschiedene Autoren vertreten die Auffassung, dass mit einem derartigen ersten Reparationsurteil im Lubanga-Verfahren die Gefahr einer symbolpolitischen Wahrnehmung des gesamten IStGH-Systems bestehen könnte. Symbolische Reparationsmaßnahmen sind hingegen keine reine Symbolpolitik; sie allein rein negativ zu betrachten, wäre daher einseitig.201 Die individuelle monetäre Entschädigung schließt nicht aus, dass zugleich Reparationen an Opfergruppen verteilt werden. Aus menschenrechtlicher Sicht stellt die Durchsetzung des Rechts auf Reparationen für kollektive Gruppierungen kein Problem dar. Weder gibt es individuelle Menschenrechte noch kollektive Menschenrechte per se. Vielmehr ist es der Ansatz bei der Menschenwürde, der einerseits dem Einzelnen den Rückzug auf sich selbst oder die Vergemeinschaftung ermöglicht. Der menschenrechtliche Freiheitsanspruch gestattet beides.202 Die wissenschaftliche Diskussion um praktische Reparationsmaßnahmen ist auch eine Diskussion um Kategorien und Begrifflichkeiten, sei es im menschenrechtlichen Kontext geprägt von den UN Basic Principles in die Einordnung als Rehabilitation, Restitution, Entschädigung, Genugtuung oder Nicht-Wiederholung, oder die Debatte um individuelle, kollektive oder symbolische Reparationsleistungen im Bereich des Völkerstrafrechts. Jeder Diskurs hat seine normative Begründung und seine akademische Daseinsberechtigung und systematisiert das, was Opfer in Zeugenaussagen als Entschädigungen erwarten. Doch letztendlich kann das Prinzip der Anerkennung im Recht auf Reparationen nur dann seine Wirksamkeit entfalten, wenn Opfer tatsächlich eine unmittelbare Antwort auf ihre Wünsche und Vorstellungen und eine direkte Reaktion auf die erlittenen Verbrechen erhalten. Lisa Laplante weist in ihrer Theorie nach, dass gerade der Mix von verschiedenen Maßnahmen – seien es kollektive, individuelle oder symbolische – am Besten geeignet sind, um Opfern Gerechtigkeit durch Reparationen widerfahren zu lassen.203 Die Frage muss daher nicht

201

Lostal, M., Expert Report, Reparations Phase The Prosecutor v. Ahmad Al Faqi Al Mahdi, ICC-01/12-01/15, amended 03. 05. 2017. 202 Bielefeldt (1998), S. 126. 203 Laplante, L. (2015), Just Repair, in: Cornell International Law Journal Vol 48, S. 513 – 578.

VII. Opferanerkennung durch Reparationen: die Realität am IStGH

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lauten individuelle versus kollektive Maßnahmen, sondern wie lassen sich individuelle und kollektive Maßnahmen vereinbaren.204 Ein Kriterium von Reparationsmaßnahmen, das weniger Beachtung findet, ist das der zeitlichen Wirksamkeit. Individuelle Einmalzahlungen an Opfer zur Entschädigung ihrer finanziellen Einbußen und Verluste könnten nicht nur rascher organisiert werden als kollektive Rehabilitationsmaßnahmen unter Einbezug vieler Akteure. Opfer würden zugleich ein Signal der Anerkennung erhalten, das in seiner Bedeutsamkeit durch ein internationales Gericht unmittelbare Wirkung erzielen könnte. Die Wiedererfahrbarkeit der verletzten Würde von Opfern lässt sich allerdings durch eine Einmalzahlung kaum ermöglichen. Hingegen wäre der zeitliche Wirkungseffekt von kollektiven Reparationsmaßnahmen, wie die Errichtung von Denkmälern oder Mahnmalen, ein langfristiger. Die Ergebnisse empirischer Untersuchungen zur Errichtung von Gedenk- und Erinnerungsorten weisen auf eine Durchschnittsdauer von 20 – 25 Jahre hin – dies gilt bereits für die Phasen nach singulären und, im Verhältnis betrachtet, Einzelstraftaten wie die Ermordung von J. F. Kennedy oder Martin Luther King.205 Erst nach dem Zeitraum von 20 – 25 Jahren sind Abwehrhaltungen gegenüber dem Aufbau von Gedenkstätten geringer, weil dann keine Personen mehr regieren oder einflussreiche Positionen ausüben, welche die Taten geschehen ließen oder gar eine gewisse (zumindest moralische) Mitverantwortung tragen.206 Der unterschiedliche zeitliche Wirkungseffekt zwischen der Adressierung an einzelne Individuuen oder an die gesamte kollektive Opfergemeinschaft zeigt sich auch an einer einzigen Reparationsmaßnahme. Die Psychologin Angela Kühner weist nach, dass es im Fall von individuellen Opfern inzwischen akzeptiert ist, dass Therapeuten zu einer Retraumatisierung der Opfer beitragen können, wenn sie die Aufarbeitung der erlittenen Leiderfahrungen zu früh einfordern, „ohne davor für ausreichende Sicherheit zu sorgen“.207 Kühner kommt in ihrer Studie demgegenüber zu dem Ergebnis, dass Aufarbeitungsprozesse von Verbrechen auf der kollektiven gesellschaftlichen Ebene eine andere Dimension als auf der individuellen Ebene haben. „Einzelne Traumaphänomene können also auf kollektiver Ebene zu etwas qualitativ Anderem werden.“208 Das Rachegefühl ist ein Beispiel, welches das Individuum vereinsamen lässt, Opfergruppen hingegen vereint und zu einer Aufar-

204

Bennoune, K. (2017), UN Special Rapporteur in the Field of Cultural Rights, Expert Appointed by the International Criminal Court in the Case of The Prosecutor v. Ahmad Al Faqi Al Mahdi, 14. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-214-AnxI-Red3, S. 42. 205 Pennebaker, J./Banasik, B. (1997), On the Creation and Maintenance of Collective Memories: History as a Social Psychology, in: Collective Memory of Political Events, Social Psychological Perspectives. Pannebaker, J. W. et al. (Hg.), Mahwa/New Jersey: Lawrence Erlbaum Associates, S. 3 – 20. 206 Kühner (2007), S. 87. 207 Ebenda, S. 88. 208 Ebenda, S. 91.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

beitung beiträgt.209 Die Differenzierung nach der zeitlichen Wirksamkeit einer Reparationsmaßnahme, abhängig ob diese individuell oder kollektiv ausgesprochen ist, zeigt sich insoweit auch bei den symbolischen Reparationen. b) Symbolische Reparationen Die in der Reparationsanordnung zugesprochenen kollektiven Reparationen für die „moral harms“ sollen als symbolische Reparationen umgesetzt werden. Darunter fallen in erster Linie Al Mahdis Entschuldigung sowie öffentliche Gedenk- und Versöhnungszeremonien in Timbuktu.210 Die Moral harms unterscheiden sich im Fall Al Mahdi von den anderen mehr wirtschaftlich und materiell geprägten Schadensformen, weil sie die religiöse, kulturelle und soziale Identität der Opfer und damit direkt ihre Würde betreffen. Daher soll ihnen im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aber auch aus einem weiteren Grund ist den symbolischen Reparationen mindestens ebenso hoher Stellenwert zuzumessen wie den individuellen und anderen kollektiven Maßnahmen. Denn sie bieten die Chance, die Zivilgesellschaft, die keine direkte Opferwerdung erfahren hat, in den Prozess einzubeziehen. Ein weiterer positiver Effekt von symbolischen Reparationen liegt in ihrem öffentlichen erinnungskulturellen Beitrag. Direkt betroffene Opfer sind dadurch nicht mehr allein mit der Erfahrung der eigenen Opferwerdung, sondern erleben durch das öffentliche Gedenken eine Solidarität der Gemeinschaft. Opfern wird es durch die geteilte Last des Erinnerns so leichter möglich sein, in die Zukunft zu blicken.211 Gleichzeitig sichern symbolische Reparationen die Zeugenschaft der Opfer und verhindern, dass weitere Leiderfahrungen geschehen können, weil die Gemeinschaft „vergibt und vergißt“. Dies hatte bereits Améry als schmerzhafte Gefahr einer Folge-Leiderfahrung angemahnt.212 Symbolische Reparationsmaßnahmen sichern somit auch die Zeugenschaft und beugen einem Vergessen der Gemeinschaft vor. Emcke kommt zu dem Fazit, dass die „symbolische Dimension“ nicht nur ein Nebenprodukt seien, „sondern mitunter Kern der Forderungen.“213 In keinem der bisherigen Fälle vor dem IStGH wurden die Feststellung der Wahrheit über die Opferwerdungen sowie die Zuschreibung der Schuld als wichtige Reparationsmaßnahmen bedacht. Beides böte jedoch einen idealen Ansatz, um die justiziell verifizierte Wahrheit in symbolische Reparationen umzusetzen und so die Anerkennung der Opfer und ihrer Leiderfahrungen auch in der Gemeinschaft zu fördern. De Greiff schlägt als symbolische Reparationsmaßnahme die Übergabe

209

Ebenda, S. 91. TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 90. 211 A769/518, Report by the Special Rapporteur on the promotion of truth, justice and reparation and guarantees of non-recurrence, 8. 10. 2014, paras. 33 – 34. 212 Améry (1997c), S. 120, siehe oben Kap. III. 1. a). 213 Emcke (2000), S. 338. 210

VII. Opferanerkennung durch Reparationen: die Realität am IStGH

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eines Berichts von Wahrheitskommissionen vor.214 Diese Empfehlung ließe sich ohne weiteres auf den IStGH übertragen und durch die archivierten Transcripts des völkerstrafrechtlichen Verfahrens sowie das schriftliche Urteil gegen Al Mahdi leicht umsetzen. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Zeugenschaft am IStGH in einem justizförmigen Verfahren zustande kommt, das durch seine Ausgestaltung in hohem Maße eine Wahrheitsgewähr bietet; denn Zeugen und Zeuginnen müssen – anders als vor Wahrheitskommissionen – ihre Aussage beeiden. Doch diese naheliegende Möglichkeit, Wahrheit als Anerkennungsmotiv in Reparationsmaßnahmen zu verbreiten, nutzte weder die Al Mahdi Kammer noch der TFV bei der tatsächlichen Ausgestaltung. Beide hätten diesen inhaltlichen Gestaltungsspielraum durch solche Maßnahmen zur Anerkennung von Opfern durch die festgestellte Wahrheit beizutragen. aa) Symbolischer Euro Mit der Entscheidung, symbolische Euros als Reparationen anzuordnen, erweiterte die Kammer den anerkannten Opferkreis der direkten Opfer um die Bevölkerung des Landes Mali und die internationale Staatengemeinschaft. Die Kammer ordnete die Auszahlung jeweils eines symbolischen Euros für die malische Bevölkerung an, überwiesen an den malischen Staat sowie an die internationale Gemeinschaft, stellvertretend überwiesen an die UNESCO.215 Besonders kritisch erscheint an dieser Stelle die Auszahlung des symbolischen Euros an den malischen Staat. Es darf in Frage gestellt werden, ob dieser der richtige Empfänger von symbolischen Reparationen im Fall der Zerstörung der Weltkulturerbestätten und den Opfererfahrungen der Bevölkerung Timbuktus ist, schließlich ist es dieselbe Regierung, die ihre Bürger_innen nicht vor dem bewaffneten Konflikt und der Belagerung der Stadt schützen konnte. Es ist derselbe Staat, dessen rechtsstaatliche Strukturen so schwach sind, dass sie weder die Durchführung eines fairen Strafverfahrens noch das Verbüßen der Haftstrafe des verurteilten Al Mahdi ermöglichen, noch Entschädigungsforderungen von Opfern zulassen. Daher stellt sich die Frage von welcher Symbolkraft in diesem konkreten Fall überhaupt ausgegangen werden kann. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung Malis nicht – etwa vertreten durch ein Ministerium oder die Regierung – an dem völkerstrafrechtlichen Reparationsverfahren gegen Al Mahdi teilgenommen hatte, ebenso wenig wie die internationale Gemeinschaft, während sich die Stadtbevölkerung Timbuktus offiziell als Opfer beteiligt hatte.216 Das genuine Anliegen der Kammer, den anerkannten Opferkreis durch diese symbolische Reparationsentscheidung auf die übernationale Staatengemeinschaft 214

A769/518, Report by the UN Special Rapporteur on the promotion of truth, justice and reparation and guarantees of non-recurrence, 8. 10. 2014, para. 33. 215 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, paras. 106 – 107. 216 Ebenda, para. 52.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

auszuweiten, ist dagegen grundsätzlich sinnvoll, da die Weltkulturerbestätten weltweit für die religiöse Identität von Menschen stehen. bb) Zugänglichkeit der Entschuldigung für Opfer Von der Kanzlei wurde ein Kurzvideo von Al Mahdis Entschuldigung produziert und auf der Homepage des Gerichtes in Englisch, Französisch und Arabisch veröffentlicht.217 Eine Abschrift verbesserte außerdem die Zugänglichkeit für die Opfer. Eine Printausgabe sollte Opfern die Lesbarkeit der Entschuldigung in ihrer Sprache garantieren.218 Letzteres macht insbesondere Sinn, nachdem in Timbuktu, dem Ort der Attacke und dem heutigen Wohnort, mindestens 90 % der Opfer keinen Internetzugang haben.219 Nicht weiter erläutert ist in der Reparationsanordnung die Zugänglichkeit der Entschuldigung für Menschen mit einer Behinderung oder für diejenigen, die unter Analphabetismus leiden. Gerade letzteres ist kein unerheblicher Punkt, denn schließlich weisen verschiedene Statistiken für Gesamt-Mali Analphabetisierungsraten von 58 – 66 % auf. Der Unterschied zwischen Frauen und Männern zeigt dann noch einmal, dass die Analphabetisierungsquote bei Frauen doppelt so hoch ist im Vergleich zu Männern.220 Auch wenn keine genaue Statistik für die Bewohner_innen der Stadt Timbuktu zu finden ist, ist doch davon auszugehen, dass die Alphabetisierungsrate vergleichbar mit der von Gesamt-Mali ist. Sehr allgemein wird der Trust Fund for Victims in der Reparationsanordnung aufgefordert, die Entschuldigung in der Implementierungsphase zu berücksichtigen.221 Doch dieser gerichtlichen Anordnung widersprach der Trust Fund in seinem Updated Implementation Plan von 2017 und erklärte die Entschuldigung nicht weiter als Reparationsmaßnahme zu berücksichtigen, weil sich einige Opfer dagegen ausgesprochen hätten.222 Obwohl die Reparation Order eine gerichtliche Anordnung ist, trifft der TFVan dieser Stelle eine eigenmächtige Entscheidung, die ihm in keinen Regularien zusteht. Hier stellt sich die Frage, wer über die Bedeutung von Reparationsmaßnahmen am IStGH tatsächlich entscheidet. Aus menschenrechtlicher Sicht ist es zu begrüßen, dass der TFV die Opfersicht einbezieht. Allerdings sind diese Umfragen wonach „a significant amount of victims express reservations

217

https://www.youtube.com/watch?v=Regsy114ovI&feature=youtu.be (Stand 1. 9. 2020). TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 71. 219 Im Jahr 2016 hatten rund 11 % der Bevölkerung in Mali einen Internetzugang, siehe Datenbank der Weltbank, https://data.worldbank.org/indicator/IT.NET.USER.ZS?end=201 6&locations=ML&start=1990&view=chart (Stand 1. 9. 2020). 220 UNESCO Institute for Statistics, https://en.unesco.org/countries/mali (Stand 1. 20. 2020); CIA World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ ml.html (Stand 1. 9. 2020). 221 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 71. 222 TFV, Updated Implementation Plan, 14. 10. 2019, ICC-01/12-01/15-291-Red3, para. 167. 218

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concerning Mr Al Mahdis apology and others reject it“223 nicht veröffentlicht. Die Transparenz des bisherigen Verfahrens endet beim Trust Fund insgesamt. Nachfahren der Opfer könnten vielleicht ein anderes Empfinden haben und die Entschuldigung in einigen Jahren eine andere Bedeutung erlangen. Entschuldigungen und Vergebung initiieren schließlich langsame Trauerprozesse, wie der Psychiater und Trauerexperte Vamik Volkan erklärt. Volkan plädiert deshalb dafür, Entschuldigungen nicht als Wundermittel zu betrachten.224 Zugleich hieße das aber auch, die Effekte der Entschuldigung Al Mahdis als wichtiger Bestandteil der Feststellung von Wahrheit langfristig anzustreben. Die Einschätzung des TFV scheint daher falsch zu sein, zumal sie sich auch klar über die gerichtliche Anordnung hinwegsetzt. cc) Finanzierung der Reparationen Der Verteidiger von Al Mahdi forderte, dass der Treuhandfonds für Opfer, falls sich die finanzielle Situation Al Mahdis, der zum Zeitpunkt der Reparationsanordnung als mittellos eingestuft wurde, ändern sollte, nur innerhalb einer begrenzten Zeitspanne Anspruch auf Rückerstattung erheben dürfe. Nur dies würde es Al Mahdi ermöglichen, so die Argumentation der Verteidigung, sich nach dem Verbüßen der Strafe wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Um die Integration in die Gesellschaft zu realisieren, könne die Verpflichtung zur Rückzahlung der Haftungssumme dann nicht dauerhaft bestehen bleiben. Eine zeitlich unbegrenzte Aufrechterhaltung der Rückforderungen durch den TFV würde als ungerecht empfunden werden.225 Mit dieser Argumentationsstrategie des Verteidigers sollte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch in Bezug auf die lebenslangen Auswirkungen einer Reparationsanordnung in Frage gestellt werden. Aus Sicht der Opfer muss aber der Grundsatz der Verantwortlichkeit das Prinzip der Verhältnismäßigkeit an dieser Stelle übertrumpfen. Die Kammer entschied über dieses Argument des Verteidigers unmittelbar und erklärte, dass sie von dem Antrag der Verteidigung nicht überzeugt sei und dass es nicht in der Kompetenz der Kammer liege, über diese Frage zu entscheiden. Die Kammer führt weiter aus: „Even if setting such a limitation was permissible, the Chamber considers it would be unfair for it to do so. After all, it is Mr Al Mahdi – not the TFV who is responsible for the harm caused to victims“.226 Mit dieser Entscheidung wurde die fortgesetzte Gewährleistung und Förderung des Prinzips der individuellen strafrechtlichen Verantwortung betont sowie die Verpflichtung des 223

TFV, Updated Implementation Plan, 14. 10. 2019, ICC-01/12-01/15-291-Red3, para. 167. 224 Volkan, V. D. (2006), What some monuments tell us about mourning and forgiveness, in: Taking wrongs seriously: apologies and reconciliation. Barkan, E./Karn, A. (Hg.), Stanford: Stanford University Press, S. 115 – 131, S. 130. 225 Defence: Al Mahdi ,General Defence observations on reparations‘ Situation in the Republic of Mali in the case of the Prosecutor v. Ahmad Al Faqi Al Mahdi, 2. 12. 2016, ICC-01/ 12-01/15-191, para. 41. 226 TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 115.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

Verurteilten, den bezifferten Schaden für die Verbrechen, für die er ausdrücklich verurteilt wurde, zu beheben. Der TFV, der gerichtsintern gerne nur als „implementing agency“ der Reparationsanordnung bezeichnet wird,227 hat enormen Einfluss auf die praktische Umsetzung von Reparationsmaßnahmen. Im Fall des mittellosen Al Mahdi wird der TFV zur Fundraisingagentur, die freiwillige Gelder einwerben muss, um die gerichtlich angesetzte Summe zu finanzieren. Zugleich wird der TFV zum Kreditinstitut des verurteilten Täters, der trotz seiner finanziellen Mittellosigkeit für die bestätigte Gesamtsumme von 2,7 Millionen Euro haftbar bleibt. Der TFV geht in finanzielle Vorleistung während Al Mahdi seine Haftstrafe verbüßt. Sara Kendall spricht von der „Donors’ Justice“, die den TFV des IStGH in Bezug auf die Opfergerechtigkeit wie andere internationale hybride Strafgerichtshöfe in Sierra Leone und Kambodscha abhängig von den freiwilligen Zahlungen von Staaten macht.228 Während das Gesamtbudget des IStGH jährlich bei der Vertragsstaatenversammlung für das kommende Haushaltsjahr verabschiedet wird, ist die Grundfinanzierung aller beteiligter Organe des IStGH sowie die administrativen Kosten für Sekretariat und BoD des TFV durch die Anbindung an vereinbarte Prozentsätze des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts gesichert. Nur rund 2 % des Gesamtbudgets des IStGH fallen auf die Verwaltung des TFV.229 Das notwendige Budget des TFV für angeordnete Reparationsleistungen oder Maßnahmen für Opfer im Rahmen des Assistenzmandats ist davon nicht erfasst und erfordert daher freiwillige Zuwendungen von Staaten. Auch in Zukunft kann nicht mit einem festen Etat zur Finanzierung der Reparationen kalkuliert werden. Zugleich räumt dieser Umstand, als alleiniger Beitragszahler am „freiwilligen“ Geldhahn zu sitzen, den Vertragsstaaten starken Einfluss auf die Gestaltung des Reparationsregimes ein. Eine wahre Anerkennung von Opfern kann die Rechtsgemeinschaft der Vertragsstaatenversammlung nur erreichen, wenn die Finanzierung des TFV dauerhaft in den Gesamthaushalt des IStGH aufgenommen wird und Reparationen nicht als Investment oder Spende einzelner Staaten oder Spender betrachtet werden. Zur Finanzierung muss außerdem die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten institutionellen Organen des IStGH gesichert sein, um dauerhaft das Einkommen und Vermögen des aktuell inhaftierten Al Mahdis zu beobachten – auch nach Verbüßung seiner Haftstrafe. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Gericht sind Staaten nach Art. 93 (1)(k) IStGHSt zu Folgendem verpflichtet: „The identification, tracing and freezing or seizure of proceeds, property and assets and instrumentalities of crimes for the purpose of eventual forfeiture, without prejudice to the rights of bona fide third 227

TC VIII, Al Mahdi, Reparations Order, 17. 08. 2017, ICC-01/12-01/15-236, para. 136. Kendall, S. (2011), Donors’ Justice: Recasting International Criminal Accountability, in: Leiden Journal of International Law 24(3), S. 585 – 606. 229 Schwöbel-Patel, C. (2016), Spectacle in international criminal law: the fundraising image of victimhood, in: London Review of International Law 4(2), S. 247 – 274. 228

VIII. Resümee

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parties.“ Die Rückfinanzierung der Reparationssumme muss auch nach der teils erfolgten Vorfinanzierung durch den TFV im Fokus des Reparationsverfahrens sein. Diese Norm ist schließlich nicht zeitlich befristet, sondern erstreckt sich über den Urteilsspruch und die Festsetzung der Reparationssumme fort. Zu ihrer Durchsetzung haben sich die Vertragsstaaten des Rom-Statuts mit dessen Ratifizierung verpflichtet – so auch Mali. Am IStGH liegt es im Aufgabenbereich der Präsidentschaft, für die Überwachung der finanziellen Situation Al Mahdis auch nach seiner Haft zu sorgen. Dies ist eine langfristige Aufgabe, für die der IStGH derzeit weder die finanzielle Ausstattung hat noch über eine gesonderte Arbeitseinheit der finanziellen Ermittlung verfügt. Die internationale Institutionalisierung des Rechts auf Reparationen für schwerste Verbrechen ist für Opfer selbstverständlich mit Erwartungen verbunden sobald es zur Anklage kommt. Reparationsmaßnahmen nicht ausreichend im Gesamtbudget zu finanzieren, bringt eine institutionelle Schlechterbehandlung der Opfer mit sich. Auch im Jahresbericht des TFV über die eingenommenen freiwilligen finanziellen Zuwendungen zeigt sich die Tendenz, dass Staaten bevorzugt diejenigen Assistenzleistungen finanziell fördern, die ausdrücklich nicht Teil der Reparationsanordnungen sind. Dahinter steckt die politische Haltung, keine Reparationsleistungen finanzieren zu wollen, für die ein Einzeltäter schuldig gesprochen wurde. Eine Einbindung in den Haushaltstitel für den TFV im Gesamtjahresbudget würde die Finanzierungslücke und den Druck zu erfolgreichem Fundraising vermeiden.

VIII. Resümee Im Laufe einer Studie, die sich wie diese mit Reparationen nach internationalen Menschenrechtsverbrechen beschäftigt, trifft man unweigerlich auf die unterschiedlichsten Facetten individuellen und kollektiven Leiderfahrens sowie die Versuche, diese juristisch und institutionell aufzuarbeiten. Die Komplexität dieses menschenrechtlichen Themas hat einen interdisziplinären Zugang erfordert, welcher die Grenzen zwischen den Fächern überwindet. Die Arbeit hat sich aus diesem Grund mit verschiedenen Disziplinen auseinandergesetzt, wie etwa der Philosophie als erkenntnistheoretische Grundlage von Wahrheit und Schuld, der Psychologie, um die Traumatisierung der Opfer zu verstehen, der Rechtswissenschaft, um die strafrechtliche Dimension von Opferwerdungen und die Fragen der Entschädigung am IStGH einzuordnen, der Neueren Geschichtswissenschaft, um die historische Dimension von Opferberichten zu erfassen und selbstverständlich der Politikwissenschaft, um die Bewertung des bewaffneten Konflikts in Mali vorzunehmen und die tatsächlichen institutionellen Herausforderungen für Opferentschädigung durch den IStGH zu diskutieren. Durch dieses Vorgehen konnten neue Erkenntnisse zur normativen Überzeugungskraft (1.) des Menschenrechts auf Reparationen gewonnen werden. Das hat es ermöglicht, die praktische Umsetzung am Internationalen Strafgerichtshof kritisch zu würdigen (2.).

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

1. Normative Überzeugungskraft des Rechts auf Reparationen als Menschenrecht Die Exegese der zahlreichen Opferzeugenaussagen aus Fällen vor dem IStGH, aber auch den anderen internationalen Gerichtshöfen und Wahrheitskommissionen, war in Teil 1 der Versuch, die Unfassbarkeit der Leiderfahrungen einzufangen und zu ergründen, welche Bedeutungen Opfer dem Ruf nach Reparationen beimessen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Forderung von Reparationen infolge von internationalen Straftaten keine sprachlichen, religiösen, ethnischen oder sonstigen Grenzen kennt. Sie findet sich gleichermaßen durch die Zeiten, überall, weltweit. So erweist es sich, dass die Forderung nach Reparationen ein grundsätzliches Bedürfnis von Menschen darstellt, die Opfer geworden sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass das Recht auf Reparationen als grundsätzliches Rechtsprinzip verstanden wird, das in den verschiedensten Rechtssystemen und Rechtsordnungen verankert ist. Seine Aufnahme in das Rom-Statut ist hingegen für das internationale Strafrecht innovativ. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass das Recht auf Reparationen dem Menschen nicht inhärent ist, sondern erst schwerste Leiderfahrungen durchlebt werden müssen, um als Opfer überhaupt zum Rechtssubjekt zu werden. Politik und Recht haben im bestehenden internationalen Ordnungssystem von Nationalstaaten immer massiv versagt, wenn Menschen gravierende Verbrechen verüben konnten, die ihre Mitmenschen zu Opfern machten. Die nach internationalen Straftaten aufgrund schwerster physischer, psychischer Leiderfahrungen sowie materieller Schäden entstandenen Opferwerdungen viktimisieren Menschen ihr Leben lang. Die Opferwerdung ist eine unumkehrbare Zeitenwende im Leben der Betroffenen. Ihr Leben wird nie mehr unbeeinträchtigt sein. Die unmittelbaren Leiderfahrungen und das erlittene Unrecht sind daher zwangsläufig der Ausgangspunkt des Rechts auf Reparationen. Die entstandene Opferwerdung zeigt sich jedoch nicht immer in sichtbaren und messbaren Schäden. Besonders das Leid im Inneren, das Menschen durch internationale Straftaten erfahren mussten, erschütterte das Vertrauen zu sich selbst und dem sozialen Umfeld. Diese innere Opferwerdung äußert sich gerade auch in dem verletzten oder gar verlorenen Bewusstsein der eigenen Würde, wie zahlreiche Zeugnisse deutlich gemacht haben. Während den messbaren Schäden auch bezifferbare Entschädigungsleistungen gegenübergestellt werden können, haben die nichtmessbaren Viktimisierungen eine andere Dimension und sind sehr viel schwieriger erfassbar – für Betroffene, wie für Außenstehende. Die Forderungen von Opfern nach Entschuldigung, finanzieller Entschädigung, medizinischer Betreuung, der Erstattung des zerstörten Eigentums oder anderem eint der Drang nach offizieller Anerkennung der sichtbaren und nicht-sichtbaren Leiderfahrungen. In der Anerkennung der Opferwerdungen und des Opferseins liegt der eigentliche Kern des Rechts auf Reparationen. Ihre Legitimation fußt auf der Achtung und dem „Wiedererfahrbarmachen“ der Würde von Opfern. Die Achtung

VIII. Resümee

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der Würde ist eine axiomatische Vorgabe und zugleich ein empirischer Erfüllungsauftrag, der die Anerkennung des Opferseins und der Opferwerdung impliziert. Er richtet sich nach internationalen Straftaten an die internationale Rechtsgemeinschaft. In der Anerkennung durch Reparationen kann die Achtung der Menschenwürde für jedes Opfer wieder erfahrbar werden. Die Anerkennung der Leiderfahrungen in der Opferwerdung ist nicht nur die zentrale Sinnebene des Rechts auf Reparationen, sondern zugleich ihr gerechtigkeitsschaffendes Prinzip. Doch Gerechtigkeit wird durch Anerkennung erst mit der festgestellten Wahrheit und der artikulierten Verantwortung bzw. zugeschriebenen Schuld für die Viktimisierung hergestellt. Das Leben von Menschen mit Opfererfahrung ist schließlich geprägt von der eigenen Gewissheit, selbst nichts falsch gemacht zu haben und nur aufgrund der Umstände und des erlittenen Leids quasi schicksalshaft fortan ein anderes Leben führen zu müssen. Das Empfinden des an ihnen begangenen Unrechts spiegelt sich in der neuen Opferidentität wider, die nie freigewählt ist. Jede Suche nach der eigenen Identität beginnt mit Wahrheit. Sei es die Wahrheit über die eigene Herkunft oder die Wahrheit der eigenen Abstammung oder eben die der Opferwerdung. Diese Wahrheit müssen Opfer bestätigt bekommen, aber auch ihr unmittelbares Umfeld sowie die gesamte nationale wie auch internationale Gemeinschaft, um weiterleben zu können. In jedem Reparationszuspruch kommt die Wahrheit über die Opferwerdung zum Ausdruck. Die Wahrheit über die Folgen der schweren Straftaten schafft für Opfer eine neue Orientierung, die sich auch an die gesamte Gesellschaft richtet. Es stellt somit keine unangemessene Hürde dar, wenn im Reparationsprozess des IStGH die Feststellung der Wahrheit über die Opferwerdungen, über das Leid und das erlittene Unrecht unabdingbare Voraussetzungen sind, um Reparationen zu erhalten. Die Wahrheit ist vielmehr fester Bestandteil der Anerkennung im Recht auf Reparationen. Zur Wahrheit nach schweren Menschenrechtsverbrechen gehört aber auch, dass die individuelle Verantwortlichkeit für die Taten geklärt wird. Für Opfer ist es von großer Bedeutung, dass die Taten einem konkreten Täter als Unrecht zugerechnet werden können und nicht lediglich gewissermaßen schicksalhaft als „Unglück“ zu werten sind. Erst die klare Feststellung der Verantwortung oder Schuld kann Opfern inneren Frieden verschaffen. Dazu braucht es die öffentliche Verkündung, dass die Taten kein Unglück und keine Naturkatastrophe waren und keinen höheren Kräften, keinem religiösem Glauben oder einer Weltanschauung, dem Schicksal oder dem Zufall angerechnet werden. Diese Taten, die zu den Opferwerdungen geführt haben, wurden von anderen Menschen begangen. Aus der Perspektive des individuellen Opfers ist es daher besonders wichtig, dass nicht irgendjemand, ein Unbekannter verantwortlich ist, sondern ein Mensch, der als ein verantwortliches Gegenüber greifbar wird. Das Unbegreifliche bekommt so ein Gesicht. Dieser für die Opfer so wichtige Aspekt wird noch verstärkt, wenn der Angeklagte eine genuine Entschuldigung ausspricht.

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Teil 3: Umsetzung des Menschenrechts auf Reparationen am IStGH

Der Anerkennungsgrad ist umso höher, je öffentlicher und fairer ein Verfahren zur Feststellung von Wahrheit und Nachweis von Schuld erfolgt. Wahrheit und Schuld sind elementare Bestandteile im Anerkennungsprinzip des Rechts auf Reparationen. Prozedural erfordert sowohl die Feststellung der Wahrheit als auch die Zuschreibung der Verantwortlichkeit von Taten die Beteiligung von Opfern am Verfahren. Erst durch eine solche Partizipation am Reparationsverfahren kann das Bewusstsein der eigenen Würde erfahrbar werden. Insoweit stellt das Mandat der Zeugenschaft der Opfer einen wesentlichen Legitimationsaspekt für das Menschenrecht auf Reparationen dar. Ihm wohnt die normative Kraft inne, die Sprachlosigkeit von traumatisierten Opfern zu überwinden, Opfern Gehör zu schenken, die Opferwerdungen dem Vergessen zu entreißen und das Verdrängen und Verschweigen auf Täterseite und in der Gesellschaft zu beenden. Dabei ist es nur natürlich, dass die Anerkennung im Recht auf Reparationen konditional an die Feststellung von Opferwerdungen gebunden ist. Anerkennung erfolgt immer empirisch in Anerkennungsprozessen. Gerade Öffentlichkeit und Transparenz sind deren unabdingbare Voraussetzungen. Zudem kann die aktive Partizipation zu einem Prozess des „Empowerment“ führen, welcher den Opfern wieder volle Selbstbestimmung über ihr eigenes Leben zurückgibt und so die Menschenwürde wieder bewusst macht. Öffentliche und formal-transparente Verfahren gewährleisten, dass Opfer wie auch Täter als Rechts- bzw. Verantwortungssubjekte anerkannt werden. Der Anspruch auf Entschädigungsleistungen stellt die notwendige Fortführung und Vervollständigung des menschenrechtlichen Anerkennungsprozesses dar. Denn wenn auch Wahrheitsfeststellung und Schuldspruch mit der Verurteilung des Täters im Strafverfahren aus Opfersicht wesentliche Anerkennungselemente sind, ist dadurch noch keine ausreichende Gerechtigkeit für die Opfer wiederhergestellt. Schließlich sind durch die Viktimisierung auch messbare und nicht-messbare Schäden entstanden. Eine Anerkennung der Opfererfahrung ohne das Element des gerechtigkeitsschaffenden Ausgleichs für das erlittene Leid wäre unvollkommen. Erst die Reparationsleistungen bestätigen die Wahrheit der Viktimisierung und die Verantwortlichkeit der Täter. Umgekehrt stellt es eine erneute Missachtung der Würde dar, Opfern die Chance auf Anerkennung durch Reparationen vorzuenthalten. Daher ist die komplementäre Anerkennung durch Reparationen unabdingbar, um den betroffenen Menschen Selbstachtung zu ermöglichen und zugleich eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, die ihnen ein Leben in wiedererfahrbarer, bewusster Würde erlaubt. Indem die Würde durch die Entschädigungsleistungen empirisch erfahrbar wird, wird die Anerkennung des Opferseins im Recht auf Reparationen zum normativen Anspruch. Bei der Anerkennung durch Reparationen im Sinne von Entschädigungsleistungen muss vor allem der freie Wille der Opfer berücksichtigt werden, an Verfahren zu partizipieren und ihre individuellen wie kollektiven Bedürfnisse zu äußern. Die aktive Teilhabe an dem Reparationsverfahren kann dazu führen, dass Opfer sich

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wieder als Teil der Gemeinschaft fühlen. Insoweit liegt das emanzipatorische Potenzial des Menschenrechts auf Reparationen kulturübergreifend gerade auch in der Möglichkeit zur Vergemeinschaftung. Das Recht auf Reparationen ist somit ein individuelles Menschenrecht auf umfassende Anerkennung des Opferseins mit einer sehr stark ausgeprägten kollektiven Komponente in Bezug auf die Opfergemeinschaft. Die Einzelfallstudie des Al Mahdi Verfahrens hat diese Erkenntnis unterstrichen. Der Begriff des Opfers ist affirmativ, sobald die Betroffenen die Möglichkeit haben, ihre Leiderfahrungen zu äußern und Anerkennung durch Reparationen erfahren. Dennoch muss man sich darüber im Klaren sein, dass Reparationen das eigentliche Opfersein nicht auflösen. So erklärt beispielhaft Améry: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt, auch dann wenn keine klinisch-objektiven Spuren nachzuweisen sind.“230 Die Arbeit hat jedoch gezeigt, dass der Anerkennungsprozess, namentlich die Anerkennung durch Wahrheit, Schuldzuschreibung und Reparationen dazu beitragen kann, dass die Opfer ihre Viktimisierung nicht mehr als stigmatisierend, sondern als Teil ihres Menschseins empfinden. Reparationen können die Folgen der Viktimisierung lindern und die verlorene Würde wieder erfahrbar machen.

2. Praktische Herausforderungen am IStGH Der IStGH ist der rechtspolitische Anerkennungsort für Opfer. Das institutionalisierte Reparationssystem am IStGH stellt einen Meilenstein auf dem Weg zur Verbreitung des Menschenrechts und der Anerkennung der Opfer dar. Dies lässt sich bereits aus der Tatsache folgern, dass erstmals in der Geschichte internationaler strafgerichtlicher Tribunale ein Recht auf Reparationen für Opfer normiert wurde. Auch ist als positiv zu vermerken, dass die Kammer bei ihrer Reparationsanordnung im Fall Al Mahdi die ganze Bandbreite sinnvoller individueller und kollektiver Reparationsmaßnahmen in den Blick genommen und dabei auch dem Umstand Rechnung getragen hat, dass in der traditionell-malischen Kultur Gemeinschaftsaspekte eine große Rolle spielen; dies zeigt exemplarisch, dass den theoretischen Überlegungen zum Menschenrecht auf Reparationen in allen Kulturen praktische Geltung verschafft werden kann. Um schließlich die konkrete Umsetzung des Rechts auf Reparationen am IStGH und am TFV zu analysieren, genügt es nicht, die einzelnen Entscheidungen als solche zu vergleichen. Vielmehr sollte die Implementierung künftig als eigener Prozess (value chain process) verstanden werden, der das gesamte Verfahren vom Beginn der Ermittlungen der Anklagebehörde, über die Zustimmung der Vorverfahrenskammer zur offiziellen Einleitung eines Verfahrens bis zum tatsächlichen Start des Hauptverfahrens, einer Verurteilung des Angeklagten und der Reparationsanordnung 230

Améry, J. (1965), S. 634.

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reicht. Die Akteure am IStGH sollten während aller Verfahrensstufen ein mögliches Reparationsverfahren fest im Blick haben und dabei – soweit erforderlich und rechtlich zulässig – miteinander zusammenwirken. Dadurch könnten die verschiedenen Akteure mit ihren Entscheidungen zum erfolgreichen Durchsetzen der Reparationen insgesamt beitragen. Obwohl die Reparationen in einem separaten Verfahren entschieden werden, tragen verschiedenste Entscheidungen im eigentlichen Strafverfahren gegen den Angeklagten schon zu einer späteren Reparationsumsetzung bei, beispielsweise wenn die Vertragsstaaten durch die Staatenkooperation, Art. 93 (1) (k), Eigentum und Gelder mutmaßlicher Täter aufspüren und einfrieren müssen oder die Auswahl der Anklagepunkte durch die Anklagebehörde, welche sich nicht nur an Effektivität und Realisierbarkeit, sondern sich auch an den Dimensionen der Opfererfahrungen orientieren sollte. Hierdurch würde die oft nur proklamierte Opferorientierung zu einem genuinen Anerkennungsprozess. Ungeachtet dessen existieren bei der Umsetzung des Rechts auf Reparationen allerdings zahlreiche Herausforderungen. Zudem wird es durch eine Reihe struktureller, aber auch extern-politischer Probleme eingeschränkt, welche seine normative Überzeugungskraft beeinträchtigen. Das Menschenrecht auf Reparationen stößt am IStGH vor allem auf Begrenzungen, die durch den Rechtsrahmen des Römischen Statuts und seine Ausfüllung durch die Anklagebehörde vorgegeben sind. Die Anknüpfung an ein juristisches Verfahren mit all den verschiedenen ermittlungs- und verfahrenstaktischen Entscheidungen führt dazu, dass die Zahl der Betroffenen, die tatsächlichen Entschädigungsleistungen erhalten, immer geringer sein wird als all diejenigen, die in demselben Konflikt Opfer schwerster Verbrechen geworden sind. Das System der Reparation eines internationalen Strafverfahrens am IStGH ist ein äußerst selektives System für Opfer eines bewaffneten Konflikts. Diese Selektivität ergibt sich bereits aufgrund der Fallauswahl der Anklagebehörde, der Zusammenarbeit mit dem betroffenen Land, den tatsächlich bestätigten Anklagepunkten bis zur nachgewiesenen Schuld eines Täters. Einer Verurteilung gehen, in der chronologischen Reihenfolge eines Strafverfahrens, das Einleiten einer Ermittlung, das Ausstellen eines Haftbefehles, die Verhaftung eines mutmaßlichen Täters, die Überstellung an den IStGH, die Einleitung des Verfahrens und das Verfahren selbst voraus. Auf jeder einzelnen Stufe des völkerstrafrechtlichen Prozesses wird im Bezug auf den eigentlichen Gesamtkonflikt eine Auswahl getroffen, welche Opfer ausscheidet, die zwar grundsätzlich von Verbrechen betroffen sind, aber keinen Schaden durch den mutmaßlichen Täter erlitten haben. Verantwortlich dafür ist vor allem die Auswahl der Fälle und Anklagepunkte, die weitestgehend im Ermessen der Anklagebehörde steht. Hinter der im Statut verankerten Idee, am Beginn von (Vor-)Ermittlungen zunächst einmal eine Gesamtsituation zu untersuchen, die alle potentiellen Menschenrechtsverbrechen aller an einem Konflikt beteiligten Parteien in den Blick nimmt, steht der zutreffende Gedanke, dass man nur durch eine solche holistische Betrachtung den Dimensionen und

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Unrechtserfahrungen eines Konflikts gerecht werden kann, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, buchstäblich „Partei“ zu ergreifen. Ein konkretes Strafverfahren vor dem IStGH, an dessen Endpunkt eine Reparationsentscheidung stehen könnte, setzt jedoch voraus, dass sich die Ermittlungen soweit konkretisiert haben, dass aus Sicht der Anklagebehörde bestimmte Verbrechen konkreten Beschuldigten strafrechtlich zugeordnet werden können. Durch die Entscheidung, einen Haftbefehl gegen eine konkrete Person zu beantragen und sie bestimmter Menschenrechtsverbrechen anzuklagen, wird nicht nur der Umfang des Strafverfahrens vor dem IStGH bestimmt. Zugleich findet dadurch in mehrfacher Hinsicht eine merkliche Verengung des ursprünglich umfassend verstandenen Konflikts statt, welcher die Opferwerdungen einer Vielzahl von Opfern ignoriert. So zeigt die Erfahrung mit den bisher am IStGH verhandelten Fällen, dass die Beschuldigten stets lediglich einer der an einem Konflikt beteiligten Parteien angehörten, und zwar regelmäßig derjenigen, die bei einer historischen Betrachtung als unterlegene Konfliktpartei bezeichnet werden kann. Das bedeutet, dass deren Opfer, wenn man so will, strukturell am IStGH begünstigt werden, während die Opfer der anderen Partei jedenfalls im Reparationsverfahren am IStGH keine Berücksichtigung finden. Das ist, da es sich um denselben Konflikt handelt und aus Opferperspektive keine rechtfertigende Differenzierung erkennbar ist, mit Blick auf wiederherstellende Gerechtigkeit unbefriedigend. Diese Selektivität der Fälle stellt dennoch die Legitimität der Reparationen am IStGH nicht grundsätzlich in Frage. Sie hat den rein praktischen Grund, dass der IStGH als intergouvernementale Organisation nur den Fokus auf die schwersten Verbrechen legen kann. Die Selektivität ist auch dadurch bedingt, dass der Gerichtshof – so banal das klingt – ein Strafverfahren nur gegen Personen durchführen kann, derer er habhaft wird und gegen die genügend Beweise vorliegen. Anders formuliert: Entweder wird dieser bestimmte, wenngleich möglicherweise kleine, Ausschnitt des Gesamtkonflikts einem Strafverfahren zugeführt, oder der Konflikt wird insgesamt nicht strafrechtlich aufgearbeitet und keiner der ihm zum Opfer gefallenen Menschen hat die Aussicht auf Reparationen. Zwar muss an sich jeder Vertragsstaat in der Lage sein, völkerstrafrechtliche Verfahren zur Ermittlung von Wahrheit und Feststellung von Schuld selbst durchzuführen. Dabei darf allerdings mit Blick auf das Komplementaritätsprinzip nicht vergessen werden, dass es bei den Situationen und Fällen, die vor dem IStGH verhandelt werden, gerade um solche geht, bei denen die zuständigen Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, selbst Verfahren durchzuführen. Zum anderen, und das fällt noch weit mehr ins Gewicht, wird die gerichtlich festgestellte Viktimisierung und das Recht auf Reparationen für den Personenkreis, der Opfer der Straftaten des verurteilten Angeklagten geworden ist, nicht dadurch in Frage gestellt, dass es noch weitere Opfer gibt, deren Opfererfahrungen aus den unterschiedlichsten Gründen, etwa wegen unzulänglicher Zusammenarbeit mit dem betreffenden Staat und dadurch folgender fehlender Beweisbarkeit, unberücksichtigt bleiben. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die im rechtsstaatlichen Verfahren vor dem IStGH erfolgte Feststellung eines Sachverhaltes, welcher die Grundlage für die Verurteilung des Angeklagten und die

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Reparationen der Opfer bildet, in hohem Maße eine Wahrheitsgewähr besitzt, welcher die Opferansprüche legitimiert. Auf größere Bedenken stößt die Praxis der Anklagebehörde, aus Opportunitätsgründen die Anklagepunkte unter Umständen drastisch zu reduzieren, wie dies im Fall Al Mahdi geschehen ist. Sofern dies nicht Gründen der Beweisbarkeit bestimmter Straftaten geschuldet ist, sondern lediglich darauf beruht, dass die Anklagebehörde durch die Fokussierung auf bestimmte Vorwürfe ein Verfahren rasch zum Ende führen will, um in der Öffentlichkeit einen Erfolg vorweisen zu können, erscheint die dadurch zwangsläufig bedingte Reduzierung auf wenige Opfer nicht gerechtfertigt. Der Zugang für Opfer zu Reparationsleistungen am IStGH ist per se exklusiv. Sie müssen schließlich noch nachweisen, direkten Schaden durch Handlungen der verurteilten Person erlitten zu haben, um Reparationen zu erhalten. Nur Opfer, die Leiderfahrungen unter den tatsächlich verurteilten Verbrechen erlitten haben, werden vor dem IStGH bei der Umsetzung des Rechts auf Reparationen berücksichtigt. Insoweit darf allerdings nicht aus dem Blick verloren werden, dass die durch die Beteiligung am Strafverfahren und die Einleitung des Reparationsprozesses nach einer erstinstanzlichen Verurteilung geweckten Erwartungen der Opfer unter Umständen bitter enttäuscht werden, wenn im Berufungsverfahren, wie im Fall Bemba geschehen, ein Freispruch erfolgt. Das kann zwar systemisch schwerlich kritisiert werden, da Reparationen nun einmal an eine rechtskräftige Verurteilung des Angeklagten gebunden sind. Es wird jedoch von den Opfern nach einem jahrelangen Verfahren mit Recht als unbefriedigend empfunden, wenn zwar gerichtlich festgestellt ist, dass ihre Opfererfahrungen zutreffen, eine strafrechtliche Zurechnung zum Angeklagten aber nicht möglich ist. Das subsidiär eingreifende Assistenzmandat vermag zwar das fehlende Anerkennungselement der Schuldzuschreibung zu einem bestimmten Täter nicht vollständig zu ersetzen. Es stellt aber eine sinnvolle Maßnahme dar, um in dieser Situation die materielle Not der Opfer zu lindern. Die Bindung der Reparationen an die Feststellung individueller Schuld kann auch aus Sicht des Angeklagten nicht als unproblematisch angesehen werden. Insoweit stehen sich oftmals die Schuld des einzelnen Täters und die Dimension der Opferwerdungen sowie dadurch begründeten Ansprüche auf Reparationen einander unverhältnismäßig gegenüber. Die verurteilte Person wird gewissermaßen stellvertretend für Verbrechen haftbar gemacht, die regelmäßig von einer Vielzahl von Personen begangen wurden. Dies hat sich auch in der Fallstudie erwiesen, da Al Mahdi tatsächlich die Taten nicht allein durchgeführt hat. Darüber tröstet nicht hinweg, dass die Verurteilten regelmäßig die Kosten der Reparationen nicht selbst tragen, sondern diese aus den Mitteln des TFV beglichen werden, da dies die grundsätzlich disproportionale Haftung als solche nicht berührt. In der internationalen Strafgerichtsbarkeit bedeutet die Klärung der juristischen Schuldfrage zudem nicht automatisch die Akzeptanz auf nationaler Ebene. Die Vorwürfe afrikanischer Staaten gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof, nur

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„Afrikaner“ zu verfolgen, demonstrieren, dass das Prinzip der individuellen Verantwortlichkeit und damit auch der individuellen Schuldfrage von Staatsoberhäuptern sowie anderen Tätern nicht unabhängig von einer nationalen und politischen Identität der Angeklagten akzeptiert werden. Die praktische Umsetzung von Reparationen rückt dann in weite Ferne, wenn ihr Realpolitik entgegen steht oder nationale Interessen ausgespielt werden. Eine Anerkennung von Opfern durch Reparationen kann auf diese Weise praktisch nicht erfüllt werden. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass bei der formal-juristischen Einordnung der Verbrechen bestimmte menschenrechtliche Dimensionen unberücksichtigt bleiben. Dies zeigt sich exemplarisch an dem dieser Studie zugrundeliegenden Fall Al Mahdi. Dort hat die Kammer den Fokus der vorwerfbaren Schuld auf die Zerstörung des Weltkulturerbes und die dadurch bedingten materiellen und psychischen Folgen für die Bevölkerung gelegt. Dies ist vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass es sich dabei um den für das Strafverfahren maßgeblichen strafrechtlichen Vorwurf eines Kriegsverbrechens nach Art. 8 (2)(a)(ix) Rom-Statut handelte. Nicht genügend Aufmerksamkeit erlangte dabei jedoch, dass die Zerstörung der Bauwerke lediglich Teil eines umfassenden Plans war, eine bestimmte Form der Religionsausübung gewaltsam zu unterdrücken und der Bevölkerung eine andere, von den neuen Machthabern vorgegebene, aufzuzwingen. Dieser Aspekt der Unterdrückung religiöser Identität wurde von den Bewohnern von Timbuktu als besonders schmerzhaft empfunden. Die darin liegende fundamentale Verletzung des Menschenrechts auf freie Religionsausübung hat jedoch im Strafverfahren und bei der Umsetzung der Reparationen nicht die Bedeutung erlangt, wie dies aus Opferperspektive erforderlich gewesen wäre. Die konkrete Umsetzung des Rechts auf Reparationen und deren Finanzierung obliegt dem TFV. Mit dessen Errichtung wurden die Opferbelange im Reparationsstadium institutionalisiert und damit wesentlich gestärkt. Dieser innovative Ansatz verbessert den rechtlichen Status der sich am Verfahren beteiligenden Opfer und kann deshalb in seiner Bedeutung für Akzeptanz und Verbreitung des Menschenrechts auf Reparationen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Leider wurden bei der Gestaltung des Rechtsrahmens, in dem der TFV agiert, Fehler begangen, welche seine Effektivität merklich beeinträchtigen. Der Kardinalfehler besteht darin, dass organisatorisch bis heute nicht geklärt ist, ob der TFV der ASP oder dem Gerichtshof zuzuordnen ist. Während der BoD als Aufsichtsorgan des TFV etwa eindeutig der ASP unterstellt ist, sieht der Gerichtshof den TFV als eines seiner vier Organe.231 Dies kann zu unnötigen Verwerfungen bei der Implementierung der Reparationen führen. So besitzt zwar der BoD grundsätzlich die alleinige Autorität, wie und wofür die vorhandenen finanziellen Mittel einzusetzen sind, jedoch erheben die Kammern in ihren Entscheidungen den Anspruch, selbst Vorgaben zu machen. Insoweit erweist sich, dass der TFV keineswegs unabhängig agieren kann, sondern vielfältigen richterlichen Bindungen unterliegt. Die Kammern behalten sich näm231

Neben Registry, OTP und Judiciary.

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lich – wie dies auch in der Fallstudie geschehen ist – nicht nur vor, die Parameter der Implementierung zu genehmigen, sondern auch deren Umsetzung zu kontrollieren. Die rechtliche Grundlage dieses Anspruchs erscheint jedoch zweifelhaft, wenn man die in den Regularien vorgesehene alleinige Definitionsmacht des BoD des TFV bei der Implementierung berücksichtigt. Die ungeklärte Stellung und Rechtsnatur des TFV wirkt sich auch auf dessen Finanzierung aus. So banal es klingen mag: Der TFV kann den sich am Verfahren beteiligenden Opfern nur effektiv Reparationen zukommen lassen, wenn er über ausreichende finanzielle Mittel verfügt. Da in der Praxis regelmäßig der Angeklagte als Finanzierungsquelle ausscheidet bzw. bei weitem unzureichend ist, ist der TFV darauf angewiesen, Spenden einzuwerben. Insoweit wirkt sich jedoch negativ aus, dass der TFV keine eigenständige Rechtspersönlichkeit besitzt. Dieser auf den ersten Blick unscheinbare Umstand hat jedoch weit reichende praktische Konsequenzen. Da der TFV vom Gerichtshof rechtlich nicht unabhängig ist, vermag er keine steuerabzugsfähigen Spenden einzuwerben. Der gesamte weltweite „Markt“ an Stiftungen, Organisationen oder aber reichen Privatleuten, die grundsätzlich als Geldgeber in Betracht kämen, bleibt ihm damit verschlossen. Die als Einnahmen im Wesentlichen verbleibenden Zuwendungen einzelner Vertragsstaaten sind zwar willkommen, reichen aber nicht aus, um den Anspruch der zahlreichen Opfer auf Reparationen zu erfüllen. Als Konsequenz hieraus ist zu fordern, dass die Stellung des TFV im Gesamtgefüge von ASP und IStGH rechtlich eindeutig geregelt werden muss. Insbesondere ist klarzustellen, dass der TFV, und nicht die Kammern, die Gestaltungsmacht hinsichtlich der Implementierung der Reparationen besitzt. Zudem ist es geboten, dem TFV eine eigenständige Rechtspersönlichkeit zu verschaffen, damit er seine Finanzierungsbasis im Sinne der Opfer erweitern kann. Nur durch diese Maßnahmen kann gewährleistet werden, dass das Menschenrecht auf Reparationen am IStGH sein Potential für die Opfer ausschöpft. Der hohe Legitimationsgrad, den das Recht auf Reparationen durch seine Normierung im Römischen Statut und seine institutionelle Verankerung im Trust Fund for Victims erfahren hat, kann zu seiner Bedeutung und Verbreitung in Zukunft beitragen – trotz der derzeitigen praktischen Umsetzungsprobleme am IStGH. Die Menschenrechtsdebatte hat es bereits nach drei abgeschlossenen Fällen bereichert.

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Sachwortverzeichnis Afrikanische Union 145 Al Mahdi, Ahmad Al Faqi 147 Al Hassan, Ag Abdoul Aziz 196 Anerkennung 58, 62, 64, 71, 117, 119, 221 Angeklagtenrechte 161 Anklage 148 Anklagebehörde 173 Ansar Dine 135, 139 Apartheid 72, 108 Arendt, Hannah 103 Armenier 74 Assistenz-Mandat 185, 186, 187 Auschwitz-Prozess 101 Azawad 127 Banjul-Charta 132 Bemba, Jean-Pierre 177 Board of Directors 184, 225 Bosnien und Herzegowina 55, 111 Brandt, Willy 107 Dual-status victims Duch 109 Eichmann 49 Entschuldigung Focˇ a

105, 209, 215

Haftung 224 Hesbah 147, 219 Herero und Nama 108

Jaspers 101 Jugoslawien 43, 53, 55, 75, 189 Joinet-Prinzipien 218

153, 161, 165, 170, 228

Mali 125 Mausoleen 148, 220, 229 Maya 52 Moral harms 229, 232 Plavsˇic´, Biljana

111, 112

Rache 103 Rechtliches Gehör 124, 190 Reparationen 25, 222, 236, 239 Reparationsanordnung 222 Ruanda 34, 55, 144, 189

52, 72, 90

Internationaler Strafgerichtshof

Lubanga, Thoma Luhmann 206

Ongwen, Dominic 121, 193 Opfer, Beteiligung 119, 190 Opfer, Definition 16, 154 Opfer, direkte 227 Opfer, Identität 196 Opfer, indirekte 227 Opferwerdung 33, 57, 73, 80, 244

200, 203

55

Guatemala

Kammern 176 Kanzlei 174 Kant 103 Kambodscha 110 Katanga 194, 232 Khmer-Rouge-Tribunal 109 Kniefall 107 Kollektiv 37, 132, 237 Kriegsverbrechen 34, 94, 140, 251

153, 173

Schäden 150, 201, 223, 226 Scham 151 Schuld 100, 103, 218 Schuldbekenntnis 207 Sierra Leone 122 Sprachlosigkeit 52

266

Sachwortverzeichnis

Tavuchis 106 Timbuktu 129, 149, 151 Treuhandfonds für Opfer 155, 181 Trust Fund for Victims 155, 181 Tuareg 126, 129 UNESCO 144, 204, 230 Umma 133 van Boven-Prinzipien 212, 230 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 34, 56 Verfahrensbeteiligung 119 Vertreter/in der Opfer 178, 181 Völkermord 26, 47, 80

Wahrheit 81, 205 Wahrheitskommission 52, 72, 88, 91, 94, 239 Weltkulturerbe 144 Wiedergutmachung 26, 123 Wortprotokoll 217 Würde 75, 122 Zeugen 42 Zulässigkeitsprüfung 142 Zuständigkeitsprüfung 140 Zurechnung 93, 103