Das letzte Wort: Der Richter späte Gewalt [1 ed.] 9783428512362, 9783428112364

Die Judikative wird bisher vor allem in ihrer Unabhängigkeit betrachtet, im Übrigen in den Einzelheiten ihrer Organisati

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Das letzte Wort: Der Richter späte Gewalt [1 ed.]
 9783428512362, 9783428112364

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WALTER LEISNER . DAS LETZTE WORT

Das letzte Wort Der Richter späte Gewalt

Von

Walter Leisner

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-11236-9 Gedruckt auf alterungs beständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Vorwort Die Judikative wird bisher vor allem in ihrer Unabhängigkeit betrachtet, im Übrigen in den Einzelheiten ihrer Organisation und ihres prozessualen Wirkens. Es gilt jedoch, sie als solche systematisch vertiefend zu untersuchen: Ist dies eine "Verfassungsgewalt"? Das wird hier versucht, in der Begründung vor allem folgender Thesen: - Rechtsprechende Tätigkeit lässt sich in der Vielfalt ihrer Rechtswirkungen nicht erfassen. Funktional ist eine "Dritte Gewalt" nicht zu definieren. - Am nächsten kommt dem noch ein Hinweis auf das "Letzte Wort", das den Richtern vorbehalten ist. "Unabhängig" ist auch manch andere Staatsinstanz. - Die Gerichtsbarkeit ist wesentlich und vielfach "verschränkt" mit Legislative und Administrative, deren Entscheidungen sie verendgültigt. - Richterrecht ist notwendig; "Gesetz" ist für die Bürger das abschließende Richterwort. - Verfassungsgerichtsbarkeit ist eine Form von Judikative sui generis, etwas wie eine eingeschränkte Verfassungsgesetzgebung, verfassungssouverän im Sinn des Dezisionismus. - "Macht der Richter" gibt es als solche so wenig wie einen "Richterstaat". Dem auf den Einzelfall gerichteten Richterturn ist (durch)brechend-flächendeckender Gewalteinsatz fremd. Richter handeln kaum je machtbewusst. - Gerichte sind Instanzen "moralisierender" Staatsgewalt. Doch aus Moral erwächst nicht Richtermacht. - Richterliche Gewalt kommt notwendig und überzeugend spät - oft zu spät. Dies nimmt ihr entscheidend Mächtigkeit, die sie mit Recht der Gründlichkeit opfert. - Richter brauchen nicht Reformen, sondern Ruhe. Nach einem langen Leben im Raum des Rechts sei dies ein bescheidener, kritischer Dank an viele meiner Schüler und ihre zahllosen urteilenden Kollegen. Ob es "noch Recht" gibt, mag manch einer zu Zeiten bezweifeln,

Vorwort

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wenn Richter es ihm nicht geben, wird ihn dies schmerzen. Doch ohne Schmeichelei lässt sich hinzufügen, jenseits einer problematischen "Richterlichen Gewalt": "Es gibt noch Richter ... " München, den 7. März 2003

Walter Leisner

Inhaltsverzeichnis A. Rechtsprechende Gewalt - Judikative als Verfassungs-Pouvoir . . . . .. . .. 1. Die Richter - nächste Gewalt beim Bürger, auch beim Volk? ........ 1. "Gewalt" als Zwangsmacht ................................... 2. Judikative als verdeckte Reservegewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Richtermacht als "flächendeckende Gewalt"? ................... 11. Der "Richterstaat" - historisch-dogmatische Bewusstwerdung einer Judikative als Gewalt ........................................... 1. Die Antike: Richterturn in "Staats-Dimension" .................. 2. Feudalismus: Vom Richterkönigtum zum Aufstand der Legisten ... 3. Die Bewusstwerdung der Richterlichen Gewalt im Konstitutionalismus........................................................ 4. Die Bewusstwerdung des Richterstaats in der Verfassungsgerichtsbarkeit ..................................................... 5. Die Behandlung der "Richterlichen Gewalt" in der Verfassungsdogmatik - fehlende Gewaltspezifik ........................... III. Judikative und "Gewalt als Verfassungsbegriff' .................... 1. Funktionales oder organisatorisches Verständnis des Gewaltbegriffs ....................................................... 2. Montesquieus Gewaltbegriff - funktional gedacht ............... 3. Das organhafte Verständnis der "Gewalt" - Anleihe bei Parlament und Regierung .............................................. 4. "Den Richtern anvertraute rechtsprechende Gewalt" - eine Verfassungstautologie? ............................................. B. Funktionale Kriterien der rechtsprechenden Gewalt - das "Wesen des Richtens" .......................................................... 1. Judikative als Rechtsanwendung? ................................ 1. Der Richter als "Normsprecher"? .............................. 2. Rechtsanwendung auch durch andere Staatsorgane .. . . . . . . . . . . . .. H. "Kontradiktorisches Verfahren" - eine Besonderheit des Richtens? ... 1. Gerichtliche Verfahrensgrundsätze als Verfassungsrecht . . . . . . . . . .. 2. Parlamentarische Kontradiktorietät ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Administrative Kontradiktorietät . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. Rechtsprechende Gewalt als "Macht des Letzten Wortes" ........... 1. Das "Letzte Wort" des Richters - Recht der "endgültigen Antwort" auf Rechtsfragen ............................................ 2. Die Unabänderlichkeit der Entscheidung - Richten für die Vergangenheit .....................................................

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Inhaltsverzeichnis

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IV.

V.

VI.

3. Richterliche Gewalt im Dialog mit anderen Rechts-Gewaltträgem 4. Exkurs: Rückwirkung der Gesetze und Gerichtsbarkeit für die Vergangenheit .................................................. 5. Die Verfassungsgerichtsbarkeit - eine neue Dimension Richterlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 6. Die Gerichtsbarkeit: in ihrem "Letzten Wort" Verfassungssouverän? Eine dezisionistische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Judikative als "neutrale Gewalt" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Gerichtsbarkeit als Pouvoir neutre ............................. 2. Richterliche Neutralität - auch anderer Verfassungsgewalten ...... a) Parlament - eine "unbeteiligte", richterliche Instanz. . . . . . . . . .. b) Die richterähnliche Administrative im Rechtsstaat ............ c) Das Staatsoberhaupt - traditioneller Pouvoir neutre ........... Judikative: wesentlich unabhängige Staatsgewalt - die Unabhängigkeit richterlicher Tätigkeit ........................................... 1. Der Begriff der Unabhängigkeit ............................... 2. Unabhängiges Entscheiden - eine Besonderheit gerade der Judikative? ....................................................... a) Unabhängigkeit und Autonomie ............................ b) Beamtliche Unabhängigkeit ................................ c) Besondere, unabhängige Staatsorgane ....................... d) Staatsoberhaupt ........................................... e) Parlamentarische Unabhängigkeit ........................... 3. Kritische Betrachtung der "sachlichen Unabhängigkeit" der Richter: ihre Bindung an das Gesetz ............................... 4. Persönliche Unabhängigkeit der Richter - ein Konstitutivkriterium der Dritten Gewalt? .......................................... 5. Richterernennung durch die Exekutive ......................... 6. Gewählte Richter - unabhängig? ...................... . ....... 7. Judikative Selbstrekrutierung .................................. 8. Unabhängigkeit der Richter und Demokratie .................... Problematisches Ergebnis funktionaler Betrachtung: Richtertätigkeit in Gewaltenverschränkung oder als "offene Gewalt" .................. 1. Ein komplexes - wenn überhaupt ein - Gesamtergebnis .......... 2. Gewaltenteilung in Gewaltenverschränkung? ................... . 3. Verschränkung der Judikative mit der Legislative - das "Richterrecht" ...................................................... 4. Verschränkung der Zweiten und der Dritten Gewalt: Judikative als Verendgültigung der Administrative ............................ 5. Judikative als "offene Gewalt" ................................

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C. Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt ...................... 119 I.

11.

"Gewalt": Notwendigkeit einer organisatorischen Einheit? ........... 119 Antihierarchische Wesenszüge richterlicher Entscheidungstätigkeit? .. 121 1. Gerichtsbarkeit - ohne hierarchische Beamtenorganisation ........ 121

Inhaltsverzeichnis

III. IV.

V.

2. Die "angerufene" Richterliche Gewalt - nicht als Gewalt organisiert? ....................................................... Verfahrensdifferenzierung gegen Gewalteinheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unabhängigkeit - die organisatorische Einheit der Gerichtsbarkeit ... I. Der einheitliche Richterstatus ................................. 2. Der Instanzenzug: Grundlage der einheitlichen Judikative ........ 3. "Gemeinsame Senate" - organisatorische Selbstkoordinierung der Judikative ................................................... 4. Konzentration einer Gewalt in der Verfassungs gerichtsbarkeit .... . Fazit: Organisationsrechtliche Einheit der Dritten Gewalt - und doch funktionale Uneinheitlichkeit ....................................

D. Gerichtsbarkeit als Machtausübung - Richter und Macht ............. I. Die Fragestellung: Richterliche "Gewalt"-Ausübung in Machtbewusstsein? .......................................................... I. Das Problem: Machtgewicht der Judikative ..................... 2. Machtbewusstsein: eine politische oder (auch) rechtsdogmatische Kategorie? .................................................. 3. Was ist, wohin führt den Richter ein Machtbewusstsein? ......... 11. Gerichtsbarkeit und Macht: in antithetischer Spannung .............. 1. Der historische Primat der richterfreien Macht .................. 2. Rechtsanwendung als Machtausübung - Richter als Machtträger .. 3. Gerichtsbarkeit - typisch delegierbare Macht .................... 4. Die Richter und der "Rückzug der Macht auf die Geschenke" .... 5. Der Richter als Machtverwalter, -erhalter? ...................... 6. Die Erwartung an die Richter: Gerichtsbarkeit als "Machtbremse" . III. Die Machtfeme des Richtens .................................... 1. Die "Gegnerfreiheit" der Judikative ............................ 2. Richtertätigkeit: wesentlich in Kontinuität ...................... 3. Die Richteraufgabe: Bewältigung des "machtfernen Einzelfalles" .. 4. Zeitlose Gerichtsbarkeit: von "lebenslanger richterlicher Bewahrung" zur Überzeitlichkeit des Rechts .......................... 5. Fazit: Rechtsprechende Gewalt - Gewalt in Machtfeme .......... IV. Der Richter zwischen dem Macht-Dienst des Legisten und einem "Richteraufstand" .............................................. 1. Rechtsprechende Gewalt: unter die Macht gebeugt . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Jurist als Legist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. "Richteraufstand" ........................................... . V. Der Richter als (nicht-)"öffentliche Person" in der Öffentlichkeit der Demokratie .................................................... 1. Der Richter im öffentlichen Prozess ........................... 2. Keine Machteignung der Judikative als einer nicht-öffentlichen Gewalt ..................................................... 3. Gerichtsbarkeit: fern von allem Staatstheater ................... . 4. Richter und Medien - verschränkte Gewalten zur Macht? ........

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Inhaltsverzeichnis Gerichtsbarkeit: - gestaltungs(un)fähig? ........................... 1. Gestaltung als Machtausübung ................................ 2. Die Richter - ohne Gestaltungsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Richter: die unflexible, planungsunfähige Rechtsgewalt .......... 4. Iudex non calculat ........................................... VII. Ein Epilog: Verfassungsrichter doch als Machtträger? .............. . 1. Verfassungsgerichtsbarkeit: Richterliche Machtentscheidung über Recht? ..................................................... 2. Verfassungsrichter: nicht die idealen "Machtträger im Recht" ..... 3. Verfassung: eine Grundlage für Machtentscheidungen? ........... VIII. Die Richter und die (Macht der) Moral ........................... 1. Moralisierendes Richtertum ........................... . ...... . 2. Richterliche Individual- und Kollegialmoral ..................... 3. Moralisierungen nach Instanz-Stufen ........................... 4. Moralwirkungen nach Rechtsmaterien .......................... 5. Der Richter und die politisierte Moral .......................... 6. Gesetzgeberisches, administratives - und richterliches Moralisieren 7. Moral als (Richter-)Macht? ...................................

VI.

E. Die späte Macht der Judikative . ..................................... I. Rechtsentscheidungen: "Grundsätzlich außerhalb der Zeit", "ohne Zeitgefühl" ........................................................ 1. Die Problematik "Recht und Zeit" - nur punktuelle Rezeption der Zeit ins Recht .............................................. . 2. "Verspätete Rechtsentscheidung" - mit Blick auf die gesetzliche Rechtslage ................................................. . 3. Verzögerung der Rechtsentscheidung: Rechtsrichtigkeit vor Rechtssicherheit .................................................. . H. Der Prozess - ein wesentlich zeitferner Vorgang ................... 1. Prozess als Ereignis - aus der Zeit gehoben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Prozessstoff - "aus der Zeit herausgehoben" ................ 3. Der "zeitlose gerichtliche Verfahrensablauf" .................... III. Das zeitlose Denken der Richter ................................. 1. Neutralität: "Zeitdistanz" ...................... . .............. 2. Zeitlose Gründlichkeit des "letzten Wortes" ............. . ...... . IV. Instanzenzug als Entzeitlichung .................................. 1. Gerichtlicher Instanzenzug - Grundentscheidung für Rechtsrichtigkeit gegen Rechtzeitigkeit .................................... 2. Höhere Instanz: Potenzierte Richtermentalität ................... 3. Instanzenzug - schwerwiegende Verspätung einer Gewalt ........ 4. Verspätender rechtsstaatlicher Instanzenzug: Misstrauen gegen die Dritte Gewalt ............................................... V. Verfassungsgerichtsbarkeit als späte - weiter verspätende - Judikative 1. Die Grundkonzeption der zeitnahen Verfassungskontrolle .........

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Inhaltsverzeichnis 2. Die Verfassungs beschwerde - Verfassungs gerichtsbarkeit als verspätende Gewalt ............................................ . 3. Die unerträgliche Verspätung der Gesetzeskorrektur .............. 4. Ex-tunc-Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen: aufgeholte Verspätung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Verfassungsgerichtliche Orientierungen späterer Gesetzgebung .... 6. Von der "späten Gewalt" zur "negativen Macht judikativer Verunsicherung" ............................................... . VI. Faktischer Wirkungs verlust als Machtverlust der Gerichtsbarkeit .... . 1. Ökonomische Schnelllebigkeit - judikative Lebensferne ......... . 2. Das rasche Menschenleben und die langsame Justiz . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausweichen - der Dritten Gewalt .............................. 4. In schnelllebiger Zeit: Gerichtsbarkeit als Pouvoir inutile? ........ VII. Gegensteuern - aus der Verspätung? ............................. . 1. Die Richter: eingerichtet in Ruhe ............................. . 2. Zeitnähe durch Gerichtsorganisation ........................... 3. Zeitnähe durch Gesetzgebung ................................. 4. Die Beteiligten - ein zeitliches Straffungspotenzial? .......... . .. VIII. Späte Gewalt - Schicksal und Machtverlust der Richter . . . . . . . . . . . . . 1. Fazit: Systemimmanente judikative Verspätung .................. 2. Späte Gewalt als Macht? ..................................... F. Judikative als Gewalt in der gewaltenteilenden Demokratie? ........... I. Dritte Gewalt - ein Pouvoir? .................................... 1. Das Ergebnis der Betrachtungen .............................. . 2. Gerichtsbarkeit - eine zusammengeordnete Institutionenstruktur .. . 3. Dritte Gewalt - eine historisierende Überzeichnung .............. 4. Gewaltenteilung - auch in der Judikative problembeladen ........ 11. Judikative als "antipolitische Gegenkraft" ......................... 1. Gerichtsbarkeit als Verstärkung der Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Judikative als anti(partei)politische Kraft ....................... III. Ausblick: Gerichtsbarkeit auf dem Grat zwischen gemäßigter Staatsform und entarteter Demokratie ................................. . 1. Gerichtsbarkeit: Entscheidende Mäßigung der Volksherrschaft . . . . . 2. Richterart gegen Entartung der Staatsform ..................... .

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Zusammenfassung der Ergebnisse ...................................... 282

A. Rechtsprechende Gewalt Judikative als Verfassungs-Pouvoir In modernen demokratischen Verfassungen heißt es, die "rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut". Darin liegt ein Wesenselement dessen, was als "Gewaltenteilung", "Gewaltentrennung" oder auch "Gewaltenverschränkung" ein oberstes Strukturprinzip des rechtsstaatlichen Verfassungsrechts und seiner Organisation darstellt. Gewiss bezieht sich diese Trennung der Gewalten, historisch und dogmatisch, zuallererst auf das Verhältnis von Legislative und Administrative. Doch ohne Einbeziehung der richterlichen Gewalt erschiene Gewaltenteilung im herkömmlichen Sinn als unvollständig gerade im Sinne jenes Rechts, welches sie doch als oberstes Organisationsprinzip in die Politik einführen soll: Die Richter allein sind es, welche die Trennung der bei den anderen Gewalten sanktionieren und damit rechtlich erst fassbar werden lassen. Durch ihre Entscheidungen allein wird die Gewaltenteilung aus einer politischen Proklamation zum Rechtsprinzip. In diesem Sinne ist also die Judikative die erste und wichtigste Verfassungsinstitution überhaupt, mit ihr beginnt Verfassungsrecht. Im 20. Jahrhundert ist durch die Verfassungsrechtsprechung die Legislative, das Parlament als spezifische Gewalt ins rechtliche Bewusstsein getreten. Ein Jahrhundert früher bereits hatten die Richter die Administrative als eine besondere Staatsgewalt bewusst werden lassen: Erst als die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Unterordnung der Zweiten unter die Erste Gewalt in eine rechtlich sanktionierte Realität wandelte, wurde aus dieser Exekutive, der früheren staatlichen Vollgewalt - nur mehr "eine Gewalt neben anderen". Die Judikative ist also schlechthin die "Gewalt der Bewusstwerdung des Gewaltbegriffs" als solchen. In diesem Sinne mag sie in der dogmatischen Betrachtung der Gewaltenteilung herkömmlich am Ende erscheinen, in Wahrheit steht sie an ihrem Anfang, dogmatisch gesehen; und dies ist noch immer die "Wahrheit des Rechts". Die anderen Gewalten mögen als solche hinterfragt werden, in Abgrenzungsschwierigkeiten stehen, wie sich dies ja in neuerlichen Betrachtungen für die "Krise des Gesetzes" und die "Undefinierbare Verwaltung" deutlich gezeigt hat. Wenn es aber überhaupt einen Pouvoir gibt, der für sich in Anspruch nehmen kann, "Definitionsgewalt der Gewalten zu sein", so ist es eben die Judikative, und solange sie noch rechtlich wirksam ist, auf der Grundlage der höchsten Normen der Verfassung, bestehen Definitions- und

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A. Rechtsprechende Gewalt - Judikative als Verfassungs-Pouvoir

Wirkungschancen auch für die anderen Gewalten; solange es eine Judikative gibt und soweit dies rechtlich überzeugend feststellbar ist, gibt es eine Gewaltenteilung. Sollte sich aber in den folgenden Betrachtungen, die gerade diesem politischen und rechtlichen Phänomen gewidmet sind, eine Wirkungsschwäche auch dieser Gewalt zeigen, so muss dies Krisenerscheinungen der anderen Gewalten nur noch verstärken, wenn es eben auch den Richtern nicht gelingt, deren Gewaltstruktur mit rechtlicher Eindeutigkeit laufend ins Bewusstsein zu heben. So wird denn jede Krisenerscheinung der Judikative zugleich zu einer solchen der anderen Gewalten. Am klassischen Ausgangspunkt der modemen Lehre von der Gewaltenteilung hat Montesquieu die Richterliche Gewalt bezeichnet als einen "Pouvoir en quelque fa~on nul", in heutigem Verständnis also als eine "gewichtslose Gewalt". Damit spielte er an auf zwei Wesenselemente allen Richtens: zum einen auf dessen wesentliche Schiedsfunktion, in welcher die Judikative die anderen Gewalten vor allem und eben ganz wesentlich "auseinander hält", zwischen sie tritt, um ein englisches Beispiel zu gebrauchen: im Ring nicht Schläge austeilt, sondern lediglich die Kämpfenden trennt. Zum anderen sollte damit eine damalige politische Realität zum Ausdruck gebracht werden, welche auch heute noch festzustellen ist: "Politisch" setzen die Richter nicht etwas ein, was als "eigentliche Macht" wirkt auf den Bürger und seine vielfachen gesellschaftlichen Beziehungen, jedenfalls nicht im Sinne einer flächendeckenden Ordnungsgewalt. Von diesem fast schon Paradox nehmen die folgenden Betrachtungen zur Judikative als Gewalt ihren Ausgang: Einerseits gibt es Gewalt nicht ohne Richterliche Gewalt - zum anderen aber weckt dieser Pouvoir in einer eigenartigen Zurückgezogenheit, als eine wirkliche Reservegewalt in einem besonderen Sinn verbreiteter politischer Unfühlbarkeit. Deshalb soll nun zunächst die Problematik der "Judikative als einer Gewalt" beleuchtet werden, was wiederum eine Auseinandersetzung mit dem Gewaltbegriff erforderlich werden lässt.

I. Die Richter - nächste Gewalt beim Bürger, auch beim Volk? 1. "Gewalt" als Zwangsmacht

Dem rechtliche Gewaltbegriff muss, wenn er sich überhaupt definitorisch fassen lässt, eines stets eigen sein: die Wirkung einer Beugung fremden Willens, eben anderer Willensmacht, mit einer gewissen, wenn auch nicht notwendig absoluten, Endgültigkeit. In diesem Sinne ist auch bereits vor

l. Die Richter - nächste Gewalt beim Bürger, auch beim Volk?

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fast einem Jahrhundert die Diskussion um die "sozialen Gewalten" aufgekommen, seither zwar verbal zurückgetreten, nicht aber in der Sache je abgeschlossen worden: Auch wirtschaftlich überlegene Bürger oder ihre verbandlichen Zusammenschlüsse setzen eben jene Beugegewalt ein gegen ihre Rechtsgenossen, welche das Recht mit seinen Institutionen mit einer gewissen Endgültigkeit umgibt, der es jedenfalls in vielen Fällen nicht entgegentritt. Wenn also die Gewalt sich wesentlich als "Macht des Zwingens" zeigt, so ist die Richterliche Gewalt, wie es scheint, ein Pouvoir par excellence; gleich was sie entscheidet - ihr Wesen geradezu liegt im Zwingen, so endgültig, wie es eben das Recht überhaupt vennag. Dass dann diese Dezisionen des polizeilichen oder gar militärischen Armes der Staatsgewalt bedürfen, um sich den Bürgerwillen faktisch zu unterwerfen, wenn er sich nicht von selbst beugt, mag, aus rechtlicher Sicht, als sekundär, wenn nicht gar als unbeachtlich erscheinen. Dieses Recht ist die Ordnung des "Sollens", nicht die des "Seins", nach noch immer ganz herrschender Auffassung. Das Sollen aber verkündet der Richter; ob das Sein ihm folgt, mit der Gewalt der Polizei, ist für das Recht nur eine Zufälligkeit. Und es sollte stets deutlich bleiben, dass die Gewaltenteilung nicht in dem eigenartigen bisherigen Synkretismus von politischer und rechtlicher Sicht weiter betrachtet werden darf, der immer auch sogleich auf faktische Mechanismen und Wirkungen abhebt, nicht auf die Sollensordnung des Rechts. Wenn diese Letztere eindeutig in den Vordergrund gestellt wird, so sind die Richter nicht eine gewichtslose, sie sind rechtlich "die Gewalt" schlechthin, Macht des rechtlichen Zwingens, wenn auch nicht die Macht des rechtlichen Zwangs. 2. Judikative als verdeckte ReservegewaIt

Der Judikative fehlt ein Wesenszug, welcher der Staatsgewalt, einigennaBen unkritisch und oft auch stillschweigend, aber doch immer zugeschrieben wird: sie ist nicht allgegenwärtig. Jene theologische Grundvorstellung von der Allmacht des Schöpfers, die ihren Niederschlag in so vielen Vorstellungen von der Souveränität des Staates als des "Gottes auf Erden" gefunden hat, beinhaltete jedoch stets auch jene Omnipräsenz, welche eben der Omnipotenz bildhaft den Raum bieten sollte. Der allgegenwärtige Staat ist nicht nur eine faktische Realität, sondern zugleich auch ein rechtlicher Anspruch: die Staatsgewalt durchwirkt alles, sie strebt nach Aktualität, nicht nur nach Potentialität, in der Effektivität unzähliger von ihr laufend gesetzter und sanktionierter Daten. Von der Gerichtsbarkeit lässt sich all dies schwerlich behaupten. Sie tritt vornehm zurück in ihre Paläste und Gerichtssäle, sie muss angegangen wer-

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A. Rechtsprechende Gewalt - Judikative als Verfassungs-Pouvoir

den von jenem Bürger, dessen Gehorsam sie das erste Ordnungs-Wort stets grundsätzlich lässt, oder, indirekt, von einer Staatsgewalt, welche den Gewaltunterworfenen zwingt, sie zu seinem Schutze anzurufen. So wirkt sie nicht nur als eine im Ganzen durchaus unspektakuläre Reservegewalt, da sie weder der großen Inszenierungen des Parlamentstheaters bedarf noch der Martialität regierungsamtlicher Machtdemonstrationen. Doch damit sollte "Gewalt" im Staat nicht verwechselt werden, und nicht einmal aus theologischer Sicht würde sich dies rechtfertigen, ist doch auch dort, gerade in neuerer Zeit, der "Dieu cache" entdeckt worden, jener heimliche Gott, der seit dem Deismus das All durchwirkt, den Menschen Macht oder Illusion ihres freien Willens belassend. Auch ihr Reservecharakter als Macht der "immer nur Angegangenen", nimmt den Richtern nicht grundsätzlich staatliche Mächtigkeit. Dass sie erst auf den Plan treten, wenn der Bürger sich dem Gesetz nicht unterwirft, wenn er sich mit seinesgleichen nicht zu verständigen vermag, lässt die richterliche Aktion keineswegs als kümmerlichen Ersatz erscheinen. Gerade in einer freiheitlichen Staatsordnung, in welcher allein ja Gewaltenteilung gedacht werden kann, muss jedenfalls alle "Vorläufige Gewalt", eben auch die Macht, sich zunächst einmal in einem bestimmten Sinn zu verhalten und damit Voraussetzungen für die Anwendung von Normen zu schaffen, dem Bürger zustehen, dem Rechtsgenossen, der sich nicht in primären Staatsräumen bewegt, sondern vielmehr mit seiner großen Freiheit dem Staat erst dessen Aktionsräume erschließt, in denen dieser nur eingreift, wenn es erforderlich wird. Diese eigenartige Subsidiarität der Gerichtsbarkeit als einer wesentlich angerufenen Gewalt spiegelt also nur das Wesen des liberalen Rechtstaats als solchen wider. Gegen die Richterliche Gewalt als eine Staatsmacht, gegen ihre Gewichtigkeit in diesem Sinne besagt dies allein noch nichts. Alle Gewalt im Rechtsstaat der Freiheit ist stets immer nur eine gerufene, für den Fall, dass in Freiheit nicht vorher bereits geordnet wurde.

3. Richtermacht als "flächendeckende Gewalt"? Etwas von einer Allgegenwärtigkeit muss allerdings, nach modernem Staatsverständnis der Souveränität, aller wirklichen Staatsgewalt doch wohl eigen sein: eine wenigstens virtuell flächendeckende Omnipräsenz, ein Ordnungsbemühen, in welchem die entschiedene Einzelheit zur größeren, weiteren Gestaltung emporwächst. In diesem Sinne sind die Richter, im allgemeinen Bewusstsein wie in dem der Juristen, gewiss nicht der Prototyp staatlicher Ordnungsgewalt. Der Einzelfall ist ihr Gegenstand, und dies wird die Betrachtungen im Folgenden stets begleiten, unter dem Gesichtspunkt der "Verfassungsgewalt" immer wieder erschweren. Wenig Sinn hat

I. Die Richter - nächste Gewalt beim Bürger, auch beim Volk?

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es, hier sogleich jene Konsequenzialität zu beschwören, welche zwar keinem Richter als solche unbekannt ist, welche den Entscheidenden der ersten wie der höchsten Instanz immer begleitet, wenn er diesen Namen verdient. Dennoch ist es die Gerechtigkeit im Einzelfall, ja eine eigentümliche "Gerechtigkeit des Einzelfalles", eine aus ihm zu entwickelnde, welche seine Machtausübung primär orientiert. Recht spricht er "Im Namen des Volkes", aber nicht zugleich "Für das Volk". Jene wenigen Bürger, welche vor ihm stehen, denen er seinen Willen im Namen des Staates aufzwingt, sind zwar kleine Teileinheiten des Volkssouveräns, dessen Ordnung der Staat zu bewahren und zu bewähren hat, aber sie sind nicht "das Volk". Und die Rechtskraft, in deren Rahmen die Richterliche Gewalt grundsätzlich allein wirkt, schließt eben den allgemeinen Ordnungsanspruch des Präjudizes grundsätzlich aus. Darin unterscheiden sich die kontinentaleuropäischen Richter, es unterscheidet sich alle judikative Gewalt außerhalb des angelsächsischen Rechtskreises von jener grundsätzlich eben doch normsetzenden und damit allgegenwärtig ordnenden Richtergewalt, wie sie der englischen Tradition entspricht. Für sie ist die Entscheidung des Einzelfalles zugleich stets auch eine gesellschaftsordnende Dezision von flächendeckender Mächtigkeit. Doch es sollte nicht sogleich am Anfang dieser Betrachtungen versucht werden, in kontinentaleuropäischer Einzelfalljudikatur ein Wesenselement der Richterlichen Gewalt als einer eigenartigen, begrenzten oder gar amputierten Staatsgewalt zu sehen. Vielmehr soll ein Vorverständnis zum Folgenden herausgestellt werden: Die Judikative wirkt in ihrer wesentlichen "Macht der Verbreiterung" ihrer Einzelfallentscheidungen eben doch auch rechtlich als flächendeckende Staatsgewalt, vom Bürger aus erreicht sie das Volk. Ob dies über Präjudizen gelingt oder in Formen eines wie immer definierten "Richterrechts", oder einfach über die Gleichheit, mag an dieser Stelle noch gleichgültig sein. Letztlich ist dies doch nur Ausdruck eines eigenartigen Reservecharakters, in einer verspäteten oder auch nur späteren Wirkung dieser Gewalt, ihren Charakter als den eines wahrhaften StaatsPouvoir stellt es noch nicht grundsätzlich in Frage. In einer Demokratie mag dem gar noch eines hinzugefügt werden: Letztlich ist der Volkssouverän in einer solchen Ordnung "ganz in jedem seiner Glieder", der Staat in jedem seiner Bürger, und diese Grundstimmung verbreitet sich zusehends heute in der Gemeinschaft. Wer einem Unrecht tut, schlägt alle, an ihm "muss ein Exempel statuiert werden", und eben dies ist zuallererst Aufgabe der Richter. So gewähren sie in eigentümlicher Weise eine letzte Einheit von Bürgern, Volk und Staat, wie es eben dem Bürger-Staat der Demokratie entspricht. Gestellt ist und bleibt also zunächst die Frage nach der Richterlichen Gewalt im vollen Sinne einer Zwangsmacht des Staates. Gerade heute zeigt 2 Leisner

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A. Rechtsprechende Gewalt - Judikative als Verfassungs-Pouvoir

sie sich, nachdem sie, in der Verfassungsgerichtsbarkeit vor allem, erst vor kurzem voll in das rechtliche Bewusstsein der Allgemeinheit getreten ist, aber auch, weil die anderen Staatsgewalten, definitorisch und in ihrer Wirksamkeit, mit immer schwereren Problemen belastet sind - eine Gesetzgebende Gewalt, welche in ihrer Normenflut unterzugehen droht, eine Administrative, welche in antiobrigkeitlichen Entwicklungen immer weiter zurückgedrängt wird. So ist eben das Grundproblem der folgenden Betrachtungen dieses: Bietet die Richterliche Gewalt demgegenüber das Bild einer voll legitimierten, voll wirksamen, einer echten "Gewalt" im Sinne der Gewaltenteilung, und: vermag sie gerade darin Probleme der anderen Gewalten zu entschärfen, rechtlich gesehen zu relativieren? Oder bewegt sich auch sie auf Wegen einer "prekären Gewalt", welche den Staat in seiner Gewaltstruktur nicht halten, sondern eher noch weiter schwächen, ins Zwielicht rücken könnte? Gerade was die Gerichtsbarkeit anbelangt, kommt vieles im heutigen Verständnis aus weithin unreflektierten Eindrücken und Einzelerlebnissen; eine eigentliche Dogmatik der Richterlichen Gewalt als solche bringen weder grundSätzliche Einzeluntersuchungen noch Kommentierungen von Verfassungsbestimmungen oder Prozessgesetzen. Hier will die folgende Betrachtung eine staatsgrundsätzliche und damit durchaus auch eine verfassungsrechtliche Lücke wenn nicht schließen, so doch bewusst werden lassen.

11. Der "Richterstaat" - historisch-dogmatische Bewusstwerdung einer Judikative als Gewalt 1. Die Antike: Richtertum in "Staats-Dimension"

a) Die Antike, welche mit ihren Staatsgedanken so bedeutsam bis ins 20. Jahrhundert wirken sollte, hat insoweit etwas wie eine Richterliche Gewalt im Staat bereits gekannt und anerkannt, als sie von einer gewissen Fraktionierung der staatlichen Vollgewalt ausging. Im Namen der Freiheit hatte die athenische Demokratie zwar die Vollgewalt in die Volksversammlung verlagert, zugleich jedoch im Aeropag eine Institution geschaffen, in der wohl das erste Mal in der weiter wirkenden bekannten Geschichte etwas wie eine als Staatsgerichtsbarkeit funktionierende, auf höchster Ebene des Gemeinwesens angesiedelte - also eine wahre "Gewalt" im Sinne der Aufklärung tätig war. Ob ein justizielles Denken, wie es darin zum Ausdruck kam, sich letztlich doch herausentwickelt hat aus einem noch älteren Richterkönigtum, wie es bereits in der Souveränität des Letztes Gerichts der Drei weisen Totenrichter bildhaft zum Ausdruck kommt - dies ist nun wirklich eine historische, wenn auch geistesgeschichtlich bedeutsame Frage.

II. Der "Richterstaat"

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Sicher dürfte auch sein, dass in griechischer Frühzeit die Vorstellung von einer Verbindung gesetzgeberischer und justizieller Weisheit grundsätzlich eine enge war, und dass sich in ihr die Vorstellung von einem Recht als Grundordnung auch der politischen Gemeinschaft verbreiten konnte. Darin mögen dann auch durchaus Erscheinungen einer zugleich politischen und staatsgrundsätzlichen Frontstellung "Richter gegen Gesetz" festzustellen sein. Den staatsgrundsätzlichen Staatsprozess, mit der Wirkung eines Urteils als Fortentwicklung oder gar Veränderung der Staatsordnung bis hin zu revolutionsähnlichen Umwälzungen - das alles hat es im Athen des Ostrakismus laufend gegeben, nicht erst im geistigen Staatsprozess des Sokrates. Doch all dies hat auf neuere und neueste Zeit nicht in institutioneller Renaissance gewirkt, sondern allenfalls mit den geistigen Dimensionen eines Denkens, das im Humanismus eben alles ernst nahm und weiterverfolgte, was die Weisheit der Alten gedacht hatte; und eine Besonderheit einer Aufklärung, in welcher das modeme Staatsrecht entstanden ist, lag sicher darin, dass auch die Praxis jener frühen antiken Periode als staatsrechtliches Lehrbuch gewertet wurde. Doch solche Weiterwirkungen entziehen sich juristischer Fassbarkeit. b) Römisches Richterturn als Gewalt, das Römische Reich als Richterstaat - das sind keine "Institutionen des Römischen Rechts", welche als solche staatsrechtlich in eine Neuzeit weiter hinein gewirkt hätten, die sich doch so intensiv gerade mit dieser Staatlichkeit beschäftigt, in ihr die Historia magistra schlechthin gesehen hat. Die Entwicklung des Römischen Staatsrechts bietet dafür eine einfache Erklärung: Dort ist die freiheitlichrepublikanische Zeit eine zwar stets besonders interessierende, insgesamt aber doch so eng begrenzte Periode geblieben, dass sich in ihr institutionell verfestigte Vorstellungen, wie sie gerade für eine Richterliche Gewalt einer gewissen längeren Kontinuität bedürfen, nicht derart haben verfestigen können, dass sie auf der Ebene der Staatsverfassung in die Zukunft hinein hätten wirken können.

Im aristokratischen altrömischen Militärstaat lag die Vollgewalt, nach der königlichen Periode, zunächst für Jahrhunderte bei einem Senat, der auch stets oberster Staats-Gerichtshof war, diese Macht jedoch als Teil staatsleitender Gesamtgewalt ausübte, aus richterähnlicher Besonnenheit allenfalls Legitimationen für seine politischen Entscheidungen zog. Gewiss kam es dann, mit dem Erstarken plebejischer Macht, zu einer Institutionalisierung dieser Volks-Gegengewalt in den institutionellen Formen einer echten "Volks-Anwaltschaft". Das Volkstribunat führte bald zu etwas wie echten Staatsprozessen zwischen den Pouvoirs der aristokratischen, senatorialen Optimaten und der aufbegehrenden, ihre Rechte verteidigenden plebejischen Masse. Doch es waren dies weit mehr politische Kämpfe zwischen den Gewalten, die in Friedenschlüssen immer wieder beigelegt wurden, am 2*

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Ende in blutigen Bürgerkrieg ausarteten, als dass dort ein Senat etwas wie eine wirkliche staatsbefriedende Richterliche Gewalt hätte ausüben können. Anwälte gab es auf bei den Seiten - Staatsrichter kennt dieses vorimperiale Römische Staatsrecht nicht. Erst in jenem erregenden und begeisternden ersten Jahrhundert vor Christus, in welchem die Bürger-Republik durchbrach - und entscheidend geschlagen wurde - kam es zu echten Staatsprozessen, zu jenem gerichtlichen Kampf State versus Man, der nun eigentlich Staatsgerichtsbarkeit und damit eine Judikative als Staatsgewalt hätte hervorbringen müssen. Doch eben dies gelang nicht, aus einer der Schwächen der Republik heraus, an denen sie sterben sollte: Es fanden sich die Staats-Richter nicht, es fanden sich nur große Advokaten. An den Rostra, im Senat als oberstem Staatsgericht wurde rechtlich geredet, von den Verrinen bis zu den Catilinen des Cicero; doch was dort sich als Recht entfaltete, und wirklich als Staats-Recht, das fand immer nur politische Richter, institutionell sollte es mit ihnen vergehen. Eine Richterliche Gewalt der großen Anwälte hat es in Rom in dieser wahrhaft klassischen Zeit gegeben, eine große Staatsgewalt von Richtern blieb diesem Imperium versagt. Die Imperatoren unterwarfen sich die staatsrechtlichen Institutionen, vom Senat über das Tribunat bis hin zur prätorischen Gewalt, und sie drängten sie ab in die Niederungen juristischer Machtverstärkung im Staat, zur Rechtsprechung zwischen machtlosen, allein in ihren wirtschaftlichen Angelegenheiten noch unpolitisch mächtigen Bürgern. Und dies war wohl von Anfang an der zweite entscheidende Grund dafür, dass Rom ein beispielloses Recht entwickeln konnte, nicht aber beispielhafte Richter: Von den Anfängen dieses seines Rechts an lag dies in den Händen seiner Tatsachen feststellenden, kleinen Bürger, und in denen der um nicht viel mächtigeren Prätoren. Sie entwickelten Rechtssätze auf Ebenen, welche römische Macht in einzelnen Ordnungen befestigen mochten, sich jedoch nie zu wirklicher politischer Mächtigkeit an der Staatspitze erhoben. Solange diese Prätoren Aristokraten waren, sahen sie die eigentliche Staatsgewalt in ihrer Fülle bei ihresgleichen im Senat - und sodann wurden sie Rechtstechniker auf der Ebene eines Zivilrechts, das sich für Jahrhunderte den Militär-Kaisern nicht mehr entgegenstellen durfte. In diese Groß-Entwicklung reiht sich letztlich auch die Global-Kompilation des Justinian ein. Wohl war inzwischen das "Recht zwischen Bürgern" im ökonomisierten Römischen Weltreich in die Dimension politischer Mächtigkeit hinaufgewachsen. Gewiss hatten auch seine berühmten Legisten bereits staatspolitische Bedeutung erlangt. In der Abschwächung oder Brutalisierung der Militär-Imperialität hatte sich etwas wie geistig-zivile Mächtigkeit als Ordnungsfaktor in all dem entfalten können. Legisten als Ratgeber auch des Kaisers übten sicher immer mehr etwas aus, was sich Richterlicher Gewalt im heutigen Verständnis näherte. Doch institutionali-

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siert war es ebenso wenig, wie es eine rechtlich-verbindliche Verfassung nur in femen Ansätzen gab, nachdem die eigentliche Verfassung noch immer im Imperator lag und seinem allmächtigen Militär. So hat denn diese Antike im Ganzen einen großen Reichtum des Rechts der Nachwelt überlassen, nicht einen Reichtum an Richtern. 2. Feudalismus: Vom Richterkönigtum zum Aufstand der Legisten Die Frage nach einer Richterlichen Gewalt auf der Ebene dessen, was heute Staatsverfassung bedeutet, lässt sich gewiss nicht auf wenigen Seiten für ein Jahrtausend beantworten, vom Corpus Iuris bis zu den Kämpfen der französischen Parlements gegen den gallischen Absolutismus. In vielfachen Verschlingungen ist diese Problematik ja auch verbunden mit dem Auf und Ab der Kämpfe zwischen jenem Adel, der immer wieder wesentlich richterlich denken und politisch handeln wollte, und einem Königtum, das für sich die unausgeschiedene Vollgewalt politischer Herrschaft beanspruchte. In zwei großen staatsgrundsätzlichen Denkstrukturen kommen jedoch diese vielfältigen Denkformen klar zum Ausdruck, auf sie seien sie hier zurückgeführt: a) Richterkönigtum hat die Gewalt des angewandten Rechts immer wieder und über Jahrhunderte hinweg aufgenommen, gewissermaßen global institutionalisiert. Von merovingischer Epoche bis zu Ludwig XIV. spannt sich hier ein großer feudaler Bogen, der von den Königen, vor allem in Frankreich, stets auch als ein solcher gesehen, auf dem sie ihre immer absolutere Macht errichteten. Die Summa Potestas, zu welcher Bodin das alte karolingische Kaisertum im französischen Königtum wieder steigern wollte, beinhaltete eben, gerade im Geiste dieses größten der französischen Legisten, ein Richterkönigtum, in welchem der Monarch letztlich nicht mehr nur als fons honorum, sondern geradezu, wie sein iustinianischer Vorgänger, als fons Iuris erschien. Quod Principi placuit legis habet vigorem - darin fielen gesetzgebende und Richterliche Gewalt grundsätzlich zusammen. So entfaltete sich denn in dieser Ordnung der Begriff der Delegation in allen Richtungen, in denen heute Staatsgewalten institutionalisiert sind, insbesondere erschien die Richterliche Gewalt, in all ihren Ausprägungen, als Delegation aus der monarchischen Vollgewalt. Im Namen dieser staatsrechtlichen Beauftragung konnte jedoch die Richterliche Vollgewalt eben auch in jedem beliebigen Sinne eingegrenzt, spezialisiert und damit abgeschwächt werden. Zu einem wahrhaften Pouvoir durften sich die königlichen Richter nicht entwickeln, solange sie nur abgeleitete Einzelkompetenzen aus der königlichen Vollgewalt ausübten, solange eben überall etwas

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wirksam war wie eine reale juristische Vollgewalt, welche aus der politischen Vollgewalt heraus sich entfaltete. Im England der Magna Carta wendete sich Adelsrichtertum erfolgreich gegen die Monarchische Vollgewalt, nicht eigentlich Richterliche Gewalt als solche. Doch in der damit verbundenen ersten Schwächung der Monarchie, in der Institutionalisierung persönlicher Garantien für den Einzelnen, öffnete sich der Weg zu einer echten Richterlichen Staatsgewalt; er ist unumkehrbar gegangen worden. Durch brechen aber konnten solche Vorstellungen in weiteren Dimensionen erst, nachdem sich neben dem König das Parlament als wirklicher neuer, als politischer Pouvoir entwickelte - nun war, deutlich im 17. Jahrhundert, politisch jene Gewaltenteilung Realität geworden, welche erstmals den Begriff einer "Gewalt" ins staatsrechtliche Denken eingeführt hat, wenn auch noch ohne Verfassung und spezielle normative Grundlagen. Wie im Parlament hatte sich auch in der Gerichtsbarkeit ein Teil der alten Vollgewalt quasi-institutionell verselbständigt. Diese königlichen Richter waren selbst zu kleinen Richterkönigen geworden. Seit wenig mehr als drei Jahrhunderten erst gibt es damit etwas wie eine Richterliche Gewalt im Staatsrecht der Modeme. b) Diese königlichen Richter blieben aber noch immer zugleich die Legisten der königlichen Vollgewalt, des Staates als solchen, die staatsrechtlichen Berater der Staatlichkeit, am deutlichsten wohl im englischen Oberhaus als Oberstem Gerichtshof. Ihr Selbstbewusstsein baute sich langsam auf in der Erkenntnis des Gewichts ihrer unabhängigen Entscheidungen persönlicher und wirtschaftlicher Probleme eines erstarkenden Bürgertums und all dies verstärkte ihre faktische Macht in der Gemeinschaft. Der Rückzug der Monarchen auf die Domaines reserves der Außen- und Militärpolitik ließ sie immer mehr tatsächlich zu etwas Neuem werden, weithin mit Einfluss auf eine sich entfaltende Verwaltung: zu bedeutsamen Gewaltträgem einer Innenpolitik. In all dem verstärkte sich ihre Verselbständigung gegenüber dem Monarchen, und durchaus nicht nur in heute geläufigen verfahrensrechtlichen Formen. In diesen Gerichten setzte sich eben etwas fort von der Gewaltenkonfusion in der Person des Monarchen. In England schufen sie über ihre Entscheidungen als Präjudizien ein echtes Richterrecht, in Frankreich hatten sie, darin nicht unähnlich den Römischen Prätoren der alten Zeit, das grundsätzliche Recht der "Registrierung der Normen", welche sie sodann anwendeten, damit gaben sie den eigentlichen Gesetzesbefehl. Aus dieser durchaus nicht etwa gewaltenteilend gedachten Grundkonzeption heraus traten nun die Richter erstmals im Großen als eine Macht an sich zum gewaltenteilenden Kampf an gegen die frühere Vollgewalt des Monarchen, welche sich bereits faktisch immer mehr zu einer exekutivischadministrativen gewandelt und sich darin im Absolutismus gar noch verstärkt hatte.

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Gewiss waren die alsbald nach dem Ende des Sonnenkönigs wieder beginnenden Richteraufstände der französischen Parlements nicht so sehr Ausdruck eines gewaltmäßig gedachten typisch richterlichen Selbstverständnisses; in ihnen kam es zu Neuauflagen aristokratisch-monarchischer Kämpfe der Fronde-Zeit, angereichert um zünftisch-neobürgerliche Elemente eines Selbstbewusstseins neuer Stände. Einen nunmehr staatsinstitutionellen Ausdruck fand aber diese Bewegung in der Opposition von Notabeln, die als Richter einer anderen Staatsgewalt, der Exekutive entgegentraten und auch der Legislative, welche beide die absolute monarchische Gewalt für sich in Anspruch nehmen wollten. Auch dieser Kampf hat sich wiederum in zwei Phasen entfaltet: Zunächst wendeten sich die Opponenten im Namen ihrer judikativen Rechte als solcher gegen die königliche Macht, sie traten ihr schlechthin als Richter, damit aus der Ansprüchlichkeit einer besonderen Staatsgewalt entgegen, eben als eine andere Staatsgewalt. Dies war eine echte Organstreitigkeit im gegenwärtigen Sinne der Staatsgerichtsbarkeit - die als solche aber eben keinen Richter fand. Da diese Vertreter eines noch älteren Regimes gegen das monarchische Ancien Regime im Namen dieser Traditionalität kein hinreichendes politisches Gewicht gewinnen konnten, riefen sie nun die demokratischen Geister einer Aufklärung, welche sodann ihrer Gewalt wie der des Monarchen in der Französischen Revolution ein Ende setzten sollte: Sie forderten die Einberufung der Generalstände als Gesetzgeber. Dies war ein eindeutig erster Akt auf einer Szene, auf welcher fortan im kontinentaleuropäischen Staatsrecht Gewaltenteilung gespielt werden sollte, mochte auch bereits der erste Aufzug faktisch das Ende einer eigenständigen richterlichen Gewalt bedeuten, in der vollen Unterwerfung der Richter unter den republikanisch-demokratischen Gesetzgeber. Verfassungshistorisch gesehen lässt sich in dieser Entwicklung gewiss etwas feststellen wie eine erste, deutlich institutionelle Bewusstwerdung Richterlicher Gewalt als solcher. Doch dieser Bewusstwerdungsprozess weist eine wohl entscheidende Besonderheit auf: Er kam aus den Organträgern selbst, welche da versuchten, sich als Pouvoirs im Staat zu etablieren, er wuchs nicht heraus aus einem allgemeinen, gewissermaßen außerinstitutionell-politischen Bewusstsein, wie es sich etwa zu gleicher Zeit in der Aufklärung zugunsten des von Bürgern beschlossenen Gesetzes entwickelte. Damit war diese Richterliche Gewalt nicht getragen von jener allgemeinen politischen Überzeugungskraft, welche die volksgewählten Parlamente für Jahrhunderte nun wirklich zu Gewaltträgern hat werden lassen, bis hin zur Übernahme der entscheidenden Kompetenzen früherer fürstlicher Vollgewalt. Die Parlernents de France haben gewiss im 18. Jahrhundert Zuständigkeiten für sich in Anspruch genommen, welche man heute als die einer Ver-

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fassungs gerichtsbarkeit werten würde, von richterlichen Organen, in denen, wie sich im Folgenden zeigen wird, eine neue und entscheidende Bewusstwerdung dessen sich vollziehen sollte, was man heute "Richterliche Gewalt" nennt. In diesem Sinne ist, rechtlich-institutionell gesehen, die Auseinandersetzung der Französischen Staats gewalten vor der Großen Revolution ein wahrer Vorläufer all dessen, was an Gestaltungen und Problemen mit dem Begriff der Richterlichen Gewalt seither verbunden ist. Aber noch hatte sich eben die eigentliche Gewaltenteilung nicht durchgesetzt, jene Trennung zwischen parlamentarischer und exekutivischer Macht, welche ab dem 19. Jahrhundert, vor allem in Deutschland, das Verfassungs denken auch für die Richterliche Gewalt prägen sollte. Zuerst musste also die Gewaltenteilung als solche, die klassische zwischen der Ersten und der Zweiten Gewalt, sich durchsetzen, bevor etwas wie eine "Richterliche Gewalt" als solche in dieses Konzert eintreten und dort ein wichtiges, zuzeiten übertönendes Instrument spielen konnte. Daraus lässt sich ein bedeutsames historisch fundiertes Ergebnis ableiten: Richterliche Gewalt ist immer zu sehen in der Dimension, ja im Kontext der Teilung der anderen beiden Gewalten, der rechtlichen Beziehungen derselben zueinander. Sie stellt sich stets dar als etwas wie eine Fortsetzung, vielleicht Vervollständigung dieses Denkens in juristische Systematik hinein - und sie wird daher auch ganz natürlich beeinflusst, in Mitleidenschaft gezogen dort, wo die Gewaltenbalance zwischen den anderen Verfassungsmächten im Staat sich gestört zeigt.

3. Die Bewusstwerdung der Richterlichen Gewalt im Konstitutionalismus a) Für konstitutionalistisches Denken, vor allem in Deutschland und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, wurde die Richterliche Gewalt nicht eigentlich und als solche zum verfassungs rechtlichen Problem. In dieser ganzen Periode ging es wesentlich stets um die Beziehungen zwischen Erster und Zweiter Gewalt, konkret meist um die Abschwächung der Letzteren in den Händen der Fürsten, durch Bindung der Verwaltung an das Gesetz. Gerade dies Letztere ließ sich jedoch rechtlich nur verfestigen über die Entscheidungen einer Gerichtsbarkeit, welche vor allem die Verwaltung laufend und flächendeckend in ihre gesetzlichen Schranken wies. So entfaltete sich denn die Verwaltungsgerichtsbarkeit im 19. Jahrhundert durchaus als eine "politische Instanz" im weiteren Sinne, und der Liberalismus hat in ihr einen Sieg jener Rechtsstaatlichkeit zutreffend gesehen, als deren wesentlicher Bestandteil, wenn nicht Grundlage, die Gewaltenteilung erschien. Dennoch vollzog sich diese Entfaltung gewissermaßen auf leisen Sohlen, im Sinne einer Art von Perfektionierung der allgemeineren zivilgericht-

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lichen Zuständigkeit der Richter, welche ja auf lange Tradition zurückblicken konnte. Dass diese dann im Bereich der klassischen Trias der zivilrechtlichen Zuständigkeiten des Öffentlichen Rechts ebenfalls ausgebaut werden konnte, bei den Entscheidungen über Enteignungsentschädigung, Amtshaftung und vermögensrechtlichen Ansprüchen der Beamten - all dies führte in immer neuen Schritten die Richterschaft als solche ein in Prozesse von politischem Gewicht, in einem weiteren Sinn. Gewiss hat dies auch das allgemeine juristische Bewusstsein im 19. Jahrhundert tief geprägt. Nun erschienen die Richter als entscheidende Garantie gegen jede Art von exekutivischer Willkür, und damit als eine besonders organisierte Form der Gewaltausübung im Bürger-Staat. Doch eines fehlte zur klaren Bewusstwerdung der Richterlichen Gewalt als einer solchen: Dies alles war rein funktional gedacht, nicht organisationsrechtlich verfestigt, ein eigentlicher Gewaltträger des Richterturns im verfassungsrechtlichen Sinn fehlte. Die wenigen und meist recht wirkungsschwachen Ansätze zu einer Staatsgerichtsbarkeit konnten dies gewiss nicht ersetzen. Parlament und Fürst waren institutionell greifbar, rechtlich organisiert und verfestigt, die Richter als solche waren es nicht, Gerichtsbarkeit blieb vielfach zersplittert, horizontal und vertikal, und sollte wirklich der "kleine Amtsrichter" Organ oder gar Träger einer Dritten Gewalt sein? Weit überzeugender konnte man in Richtern etwas sehen wie Hilfsorgane der Gesetzgebung, welche deren Entscheidungen in freiheitlicher Weise realisierten. Und so finden sich denn auch in den staatsrechtlichen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts Ausführungen zur richterlichen Gewalt nur dort, wo man eben von der Gewaltenteilung als solcher, theoretisch betrachtet, ausgeht und diese naturgemäß nicht vorstellbar ist ohne eine auch richterliche Gegenwart in dieser Organisationsstruktur des Staates. b) In der Anerkennung der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit als solcher wurde dennoch eine weitere Stufe der Bewusstwerdung Richterlicher Gewalt erreicht. Die richterliche Unabhängigkeit, wie sie sich im Konstitutionalismus herausgebildet hat und zu einem tragenden Verfassungsprinzip dieser Ordnung geworden ist, hat zweifellos eine wirklich "gewaltkonstituierende rechtliche Bedeutung". In funktionaler wie in organisatorischer Hinsicht handelt es sich um eine eindeutige, ja geradezu typische gewaltenteilende Gestaltung: Die Richter werden außerhalb des Bereiches exekutivischer Organisationsgewalt tätig, auch wenn sie noch von dieser bestellt werden, sie nehmen ihre Funktionen ohne Einflussnahme anderer Staatsgewalten wahr. Dieser Grundsatz wirkt normativ so allgemein, dass hier die Funktionstrennung gleichzeitig zu einer organisationsrechtlichen Gewaltenteilung wird. Darin hat sich eine weitere Stufe der Bewusstwerdung eigenartiger richterlicher Gewaltausübung normativ verfestigen können.

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Dennoch war damit nicht ohne weiteres etwas wie die Vorstellung von einem selbständigen Pouvoir verbunden, wie noch vertiefend darzulegen sein wird. Gewährleistet war zunächst nur eine gewisse Form von Autonomie, und nicht jede Form derselben, etwa die kommunale Selbstverwaltung, ist herkömmlich als "Staatsgewalt" verstanden worden. Stets wurde ja immer noch eine Ausprägung zusammengeballter Gewichtigkeit mit der Vorstellung von einer "Gewalt" verbunden. Zum anderen war diese richterliche Unabhängigkeit im grundSätzlichen Rechtsdenken des Konstitutionalismus eben doch stets nur verstanden als eine Gewährleistung der Gesetzesunterworfenheit aller Staatsgewalt und der gesamten Bürgerschaft. Die Vollendung des Sieges des Gesetzes war das eigentliche geistige Phänomen dieser Periode, nicht eine Verteilung und damit Minimierung der Staatsgewalt. c) Allerdings ist eine "Macht der Richter" als solche in jener Zeit gerade darin ins Bewusstsein getreten, dass deren Aktion als etwas wie eine Fortsetzung gesetzgeberischer Gewaltausübung deutlich wurde. Der Richter als Herr der Gesetzeslage, jedes einzelne Organ der Richterlichen Gewalt in dieser Position, wurde zunächst schon deutlich in jenem Pandektismus, welcher rechtsprechende Gewalt sogar noch außerhalb parlamentsgesetzter Normen gestattete. Hier entfaltete sich Richterliche Gewalt weithin sogar gegen das "kleine", nun neuerdings parlamentsgesetzte Recht, in gewissem Sinne verstanden sich alle Richter als Bewahrer einer geistigen Normenpyramide, an deren Spitze die große, herkömmliche Normativität des gemeinen Rechts stand, mochte ihm auch "geltungsmäßig" das staatsgesetzte vorgehen. Gewiss wurden die Richter im Namen der Gesetzesbindung auf dem Kontinent, vor allem unter französischem, hier deutlich gewaltenteilendem geistigen Einfluss, streng an das Gesetz gebunden, der Code civil untersagte ihnen interpretatorische Rechtsfortbildung im heutigen Sinn. Geistig ist es in Frankreich nie voll gelungen, diese Unterordnung des Richterwillens unter den des souveränen Gesetzgebers mit dem Prinzip der Gewaltenteilung in Einklang zu bringen; und deshalb galt dieses denn auch nicht, ebenso wenig wie die in der Revolution nur in Ansätzen verwirklichte Grundrechtlichkeit, als ein typisches Prinzip der tradition n!publicaine et revolutionnaire. Dennoch führten gerade die großen Kodifikationen in Frankreich, wie ein Jahrhundert später auch in Deutschland, alsbald und unmittelbar zu einer Interpretationsgewalt der Gerichtsbarkeit, aller ihrer Organe: In einer stets noch rascher sich wandelnden industriell-liberalen Welt drängte der faktische Fortschritt den verfestigten, verkrusteten Willen des Gesetzgebers in immer neue interpretatorische Verständnisse. Wiederum auf leisen Sohlen, denen der Auslegung, wuchs die Richterliche Gewalt zu einer Nebengewalt der allmächtigen Gesetzgebung hinauf. In Frankreich führte dies, schon an der Wende zum 20. Jahrhundert, zu einer größeren Bewegung von geradezu staatsgrundsätzlicher Dimension:

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Par le Code au-deUt du Code. In der deutschen Freirechtsbewegung nach jener Jahrhundertwende fand dies einen noch weit grundsätzlicheren Ansatz; es entstand die Vorstellung von einem aus dem Gesetzesrecht herauswachsenden, von ihm letztlich sich aber doch ablösenden Richterrecht. So wenig sich dies durchsetzen konnte, schon angesichts der neuen Volkssouveränität, welche in der Gesetzgebung der Weimarer Republik ihren Ausdruck fand - etwas von jener Richterschaft als Organ, als Träger des "Kampfes des Rechts gegen die Gesetze" hat sich, wenn auch unterschwellig, im juristischen Bewusstsein des 20. Jahrhunderts, stets erhalten. Allerdings war es wiederum mehr eine Vorstellung von para-gesetzgeberischer Mächtigkeit bestimmter Organwalter des Staates als die von einer einheitlichen Verfassungs gewalt, welche hier zum Ausdruck kam, war sie doch entstanden jenseits allen Verfassungsrechts und wirkte über alle Verfassungsbriiche des 19. und 20. Jahrhunderts in eigenartiger Kontinuität hinweg. Immerhin hatte sich in dieser Entwicklung ein Bewusstsein in der Allgemeinheit der Bürgerschaft verbreiten können, dass Staatsgewalt eben auch Richterliche Gewalt sei, dass das Monopol der staatlichen Gerichtsbarkeit mehr bedeute als eine zufällig öffentlich-rechtliche Form von Schiedsgerichtsbarkeit für Private und zwischen diesen. Mit der Abschwächung der monarchischen, den Staat als solchen repräsentierenden, allgemeinen, flächendeckenden Gewaltvorstellung konnten diese, wenn auch in Deutschland durchaus zunächst kleinen Richterkönige, neue Achtung und auch etwas wie staatsrechtliche Bedeutung in außerrechtlich-politischem Bewusstsein erlangen.

4. Die Bewusstwerdung des Richterstaats in der Verfassungsgerichtsbarkeit a) Schon in der Verfassungsdoktrin des 19. Jahrhunderts war, auch ohne kontinentaleuropäische Beispiele, ein rechtliches Phänomen als Prototyp eigenständiger richterlicher Verfassungsgewalt zunehmend erwähnt und auch vertiefend betrachtet worden: die langsam sich entfaltende nordamerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit des Supreme Court. Hier schienen doch alle Voraussetzungen für die Anerkennung einer echten Staatsgewalt im Sinne europäischer Legislativen und Exekutiven verwirklicht: die letzte Einheit in einem höchsten Staatsorgan auf grundsätzlicher Verfassungsebene wie auch die funktionale, para-legislative Wirkung dieser obersten Richterspriiche. Gewiss war dies Letztere das Ergebnis angelsächsischen Präjudizien-Denkens, und es erschien als solches, gegenüber den Antithesen der französisch beherrschten kontinentalen Verfassungslehre, als eine auf den Kontinent unübertragbare Besonderheit; damit ließ sich auch nordamerikanisches Denken in solchem Richterrecht nicht nach Europa verpflanzen.

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Im Gegenteil: Diese Gewalt der Richter erschien als eine derartige Eigenheit einer anderen Verfassungskonzeption, dass eben dies geradezu als eine Sperre wirkte gegen Entwicklungen zur Anerkennung einer richterlichen Verfassungsgewalt. b) Das amerikanische Vorbild mochte in Tocquevilles "Demokratie in Amerika" bereits früh politologisch ernst genommen worden sein, amerikanischer Föderalismus beeinflusste nicht tiefergreifend die Verfassungsentwicklung in jenem deutschsprachigen Raum, von dem einst, zuzeiten des Federalist, Grundvorstellungen des zerfallenden Alten Reiches über den Atlantik gewirkt hatten. Erst nach der demokratischen Wende von Weimar trat, mit Georg Jellineks Untersuchung, nordamerikanische Grundrechtlichkeit ins hellere Licht auch deutscher Verfassungsentwicklung, damit aber ganz natürlich auch die Mächtigkeit jener Richter, welche diese Normen erst in gesetzliche Wirksamkeit übersetzen konnten. Vom Schweizer Bundesgericht bis zum deutschen Reichsgericht begannen die obersten Gerichte, wenn auch mit gebotener judikativer Vorsicht, den Aufstand echter Verfassungsgerichtsbarkeit zu proben, in der Nichtanwendung niederrangiger Normen. Im Österreichischen Verfassungsgerichtshof brach Norrnkassation auf Verfassungseben durch, im Deutschen Staatsgerichtshof wurden die obersten Richter als Hüter der Gewaltenteilung bewusst. c) Noch immer aber war nicht eigentlich von einem "Richterstaat" die Rede. Erst als in dem Widerstand des Obersten Gerichtshofs gegen den amerikanischen New Deal in den 30er Jahren ein echter juristisch-politischer Machtkampf zwischen obersten Staatsgewalten in der Ordnung der neuen Weltmacht jenseits des Atlantik entbrannte, konnte Edouard Lambert über das "Gouvernement des Juges" schreiben. Bewusstwerdung eines Problems, Bewusstwerdung vielleicht in vollem Sinne erst der Gewaltenteilung - so mochte man dies werten, doch Kriegswirren und die Fortsetzung der III. Französischen Republik in ihrer IV. Nachfolgerin ließen all dies eher als ein furchterregendes Menetekel an den Wänden einer immer noch volkssouveränen Demokratie erscheinen. Erst mit den neuen Verfassungen Italiens und der Bundesrepublik Deutschlands, mit der Übernahme amerikani scher Gerichtsbarkeitsvorstellungen in eine nun als echte Verfassungsgewalt ausgestaltete Verfassungsgerichtsbarkeit konnte erstmals auch auf dem Kontinent eine Entwicklung beschworen werden mit den Worten "Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat" (Rene Marcic). Doch wiederum war all dies geprägt von alten Ängsten, wie sie seit der Französischen Revolution das kontinentale Staatsrecht stets begleitet hatten: dass den Richtern nun das Letzte Wort im Staat, die Entscheidung über den Ausnahmezustand im Sinne von earl Schmitt zukomme, dass sie damit die wirklichen Souveräne in einer Demokratie geworden seien, welche nicht mehr dem Allgemeinen Willen des Volkssouveräns zuallererst und endgültig gehorche.

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Diese These vom Richterstaat ist letztlich nicht Ausdruck einer neuen Vorstellung von der Gewaltenteilung, sondern von einer massiven, jene Gestaltung geradezu aufhebenden Gewaltenverschiebung. In der folgenden jahrzehntelangen Diskussion um Grenzen verfassungsgerichtlicher Kompetenzen sind zahlreiche Einzelheiten diskutiert, es ist aber keine grundsätzliche, allgemein anerkannte Schranke dieser neuen richterlichen Gewalt gezogen worden. Sie selbst, und darauf wird noch zurückzukommen sein, hat nicht ohne Ängstlichkeit dem Gesetzgeber immer wieder Raum gewährt, sie hat den ihren nicht in einer anerkannten, allgemein-grundsätzlichen Dogmatik der Richterlichen Gewalt gefunden. Zwischen Randkorrektur und Bremswirkung schwanken die Ergebnisse einer vielfach im Einzelnen bewerteten, kaum je allgemein vertieften judikativen Praxis. Im allgemeinen Bewusstsein drücken sich diese Schwankungen aus in weithin unklaren Vorstellungen, die geprägt sind einerseits von einem Prestige, welches sich diese Verfassungsgerichtsbarkeit unzweifelhaft im allgemeinen Bewusstsein hat schaffen können, und einer radikaldemokratischen Besorgnis, es könne gerade dies zur Verlagerung der großen Politik in die Beratungszimmer einiger Staatsnotabeln führen, den souveränen Bürger von dem neuen Betätigungsfeld seiner Mündigkeit, der Teilhabe an staatlichen Grundsatzentscheidungen, fernhalten. Kurz gesagt: Im allgemeinen politischen und auch juristischen Bewusstsein hat sich die Richterliche Gewalt als eine Erscheinung etabliert, welche in der Verfassungsgerichtsbarkeit als ein wahrer Pouvoir wirkt, in der juristischen Dogmatik ist dies aber noch längst nicht in überzeugender Abgrenzung gelungen. 5. Die Behandlung der "Richterlichen Gewalt" in der Verfassungsdogmatik - fehlende Gewaltspezifik a) Das deutsche Grundgesetz erwähnt ausdrücklich eine "rechtsprechende Gewalt", welche es den Richtern anvertraut, und dies in einem Grundsatz, der wohl sogar von der verfassungsrechtlichen Ewigkeitsgarantie erfasst ist, jedenfalls über die Rechtsstaatlichkeit unabänderlich wirkt. Damit scheint für gängige Verfassungsdogmatik die Frage entschieden und gar nicht mehr weiter vertiefungsbedürftig, ob denn diese rechtsprechende Gewalt eine derartige Qualifikation grundsätzlich verdiene, und wie ein solcher Pouvoir, wenn es ihn denn gibt, zu den beiden anderen der Gewalten der klassischen Gewaltenteilung in Beziehung zu setzen sei. Denn dass dies nicht ohne weiteres in abkürzendem Hinweis auf Vorstellungen Montesquieus und anderer ferner Vergangenheit möglich ist, zeigen doch bereits die soeben dargestellten vielfachen Entwicklungen der letzten bei den Jahrhunderte: Heute ist die Gerichtsbarkeit als ein Pouvoir bewusst und politische Realität in der Ver-

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fassungs gerichtsbarkeit, nie ist sie es als solche einheitlich für alle Richter und Gerichte gewesen. Darin bereits unterscheidet sich doch, das mag bereits hier betont sein, eine derartige Gewaltvorstellung grundsätzlich vom "Modell" der anderen Gewalten, insbesondere der Legislative: sie weist eine gänzlich andere organhafte und auch funktionale Konzentration im Parlament auf, und selbst die Zweite Gewalt, mag sie nun auch zunehmend in vielfachen Entwicklungen zerfallen, war doch ursprünglich eindeutig vorgestellt als eine hierarchisch zusammengefasste exekutivische Vollgewalt, an deren Spitze der Fürst stand oder auch ein volksgewählter Präsident, eine alle Aktivitäten zusammenfassende Regierung mit grundsätzlicher Befehlsgewalt. Von all dem kann, gerade aus der richterlichen Unabhängigkeit heraus, bei der Dritten Gewalt auch nicht ansatzweise die Rede sein. Schon deshalb also stellt sich die verfassungsgrundsätzlich drängende Frage nach auch nur der Möglichkeit einer wirklichen Dogmatik der Dritten Gewalt der Verfassung. b) Diese Mängellage der Verfassungsdogmatik kommt deutlich zum Ausdruck in den herkömmlichen Kommentierungen der Verfassungstexte, darüber hinaus in der Befassung mit der Organisation der Gerichtsbarkeit und deren Funktionen im Schrifttum. Auffallen sollte hier jedoch vor allem eines: Von einer "richterlichen Gewalt", vom Problem der "Verfassungsgewalt" in diesem Zusammenhang ist als solchem nur in femen Ansätzen gelegentlich die Rede, und dabei wiederum nur in zwei Zusammenhängen: - Behandelt wird, in immer weiter ausfaltender Breite, das Problem der richterlichen Unabhängigkeit, vor allem gegenüber exekutivischen Übergriffen. Gewiss ist dies, wie bereits dargestellt, eine wichtige Vorfrage von gewaltenkonstituierender Bedeutung. Doch die Untersuchung bricht meist ab am entscheidenden Punkt: mit welchem Gewicht denn nun diese Verfassungsgewalt tätig werde, im Verhältnis zu den anderen beiden Staatsgewalten, ob sich ihre Wirkungen zusammenfassen, hochrechnen lassen, zu etwas, das den Namen der "Gewalt" wahrhaft verdient, wie er im Bereich der anderen Gewalten sich entwickelt und damit zum Konstitutivprinzip moderner freiheitlicher Staatlichkeit geworden ist. Hier ist es nicht damit getan, einzelne Grenzen aufzuzeigen, bis zu denen der Gesetzgeber oder die Exekutive vordringen können, in Organisation, Ernennung oder funktionalen Vorgaben für die Richter. Die Frage "der Gerichtsbarkeit als solcher" muss gestellt werden, ihre Wirkung in einer wie immer gearteten Einheit. Und vor allem muss das nonnative und zugleich politische Gewicht näher bestimmt werden, welches gerade einer in Unabhängigkeit verfassten Gerichtsbarkeit zukommt; zu fragen ist, ob es aus eben dieser Unabhängigkeit wirklich erwächst, ob diese Gewichtigkeit nicht durch andere, gerichts spezifische Erscheinungen wiederum wesentlich abgeschwächt wird. Wie immer man zu diesen Problemen steht, um die es auch im Folgenden stets von

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neuem gehen wird - sie können nicht ausgeblendet und nicht allein in einer Behandlung richterlicher Unabhängigkeit beantwortet werden, mag diese auch immer wieder einen bedeutsamen Beitrag zur Erkenntnis dessen liefern, was dann wirklich als "Richterliche Gewalt" in der Verfassung zu verorten ist. - Der zweite Komplex, welcher den herkömmlichen Gegenstand dogmatischer Behandlung im Bereich der richterlichen Gewalt bildet, sind die Prozessgesetze, in deren Raum sich die Gerichtsbarkeit bewegt, in dem ihre Äußerungen für Bürger und andere Staatsgewalten in Erscheinung treten. Hier ist sicher Verfassungsdogmatik gefordert, nicht nur im Bereich jener Gerichtsverfassung, die herkömmlich prozessgesetzlich eingebunden ist, sondern auch in der Bestimmung von verfahrensrechtlichen Formen und anschließender Entscheidungswirksamkeit all dessen, was Richter mit staatlicher Macht entscheiden. Doch auch dies kann nicht "die ganze Lehre von der richterlichen Gewalt sein". Prozessgesetze werden immer nur einfaches Gesetzesrecht bieten - gefordert ist aber, im Namen verfassungsrechtlicher Gewaltenteilung, spezifisches, von auch herkömmlicher Prozessgesetzlichkeit unabhängiges Gerichtsverfassungs- und gerichtliches Verfahrensrecht. In anderen Bereichen, insbesondere der Grundrechte, ist diese Notwendigkeit eines eigenständig-spezifischen Verfassungsrechts längst zur Selbstverständlichkeit geworden; Gerichtsbarkeit in Verfassungssicht zeigt noch immer weithin das Bild einer "Verfassung nach Gesetz". Und dies erscheint schon fast als ein dogmatisches Schicksal dieser Materie, sind es doch im Wesentlichen bedeutende Vertreter des Prozessrechts, damit der einfachen Gesetzlichkeit, welche hier zu Wort kommen, ihre Lösungen und Theorien nur zu oft hinaufprojizieren in die Verfassung oder sich doch mit kürzeren Bemerkungen darüber begnügen, ob diese oder jene einfachgesetzliche Gestaltung "noch" mit der Verfassung vereinbar sei. Traditionalität, wie sie gerade im Prozessrecht zurecht herrscht, kann jedoch eigenständige Dogmatik einer richterlichen Gewalt nicht ersetzen. So muss denn hier weiter ausgeholt, die Frage nach der Verfassungsspezifik richterlicher Tätigkeit und gerichtlicher Organisation gestellt werden. Dies ist umso dringender, als sich ein Rechtsbewusstsein herkömmlich weiter verbreiten und auch in der freiheitlichen Verfassungsordnung halten konnte: dass Gerichtsbarkeit, schon aus ihrem Wesen heraus, eine derartige Politikferne aufweise, so weitgehend legislaturübergreifend, ja regimeübergreifend kontinuierlich weiterwirke, dass hier Verfassungsmaßstäbe für einfache "Gerichtsgesetzgebung" nur als alleräußerste Grenzen erforderlich und traditionell wirksam seien. Entspricht es nicht verbreiteter Überzeugung, dass es die neue demokratische Freiheit zu verteidigen gilt, gegen die Zweite, neuerdings vielleicht auch noch gegen eine übermächtig sich entfaltende Erste Gewalt, nicht aber doch gegenüber jenen Richtern, welche ge-

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A. Rechtsprechende Gewalt - Judikative als Verfassungs-Pouvoir

rade ihre Garanten sind, die man daher auch in ihrer traditionellen Ruhe belassen, weiter für Recht und Freiheit arbeiten lassen sollte? Mit jeder Verfassungsdogmatik sind notwendig, ja unausweichlich politische Positionen im weiteren Sinn verbunden. Sollten sie nicht in Distanz sich halten zu dem wesentlich Apolitischen, wenn nicht Antipolitischen, welches Gerichtsbarkeit im Rechtsstaat charakterisiert? Dennoch, dieses weithin neue Feld von Betrachtungen über eine Verfassungsdogmatik der Judikative als einer Verfassungsgewalt muss betreten werden, gerade weil auch dieser Pouvoir, wenn er denn ein solcher ist, von Politik, ja Parteipolitik immer stärker erfasst wird - und mag dies auch leichthin als ein Beweis dafür bereits gewertet werden, dass hier eben doch etwas sei wie eine wirkliche Verfassungsgewalt.

III. Judikative und "Gewalt als Verfassungsbegrifr' 1. Funktionales oder organisatorisches Verständnis des Gewaltbegriffs

"Gewalt", gerade im Sinne einer "Verfassungsgewalt" kann, nach allgemeinem, außerrechtlichem Sprachgebrauch, durchaus in einem doppelten Sinn begrifflich gebraucht werden: - Am nächsten liegt wohl ein organisationsrechtliches Verständnis, welches alle Tätigkeiten, insbesondere Entscheidungen, eines bestimmten Organträgers im Begriff der Gewalt zusammenfasst, diese auf solche Weise also organisationsrechtlich definiert. Eine solche Vorstellung entspricht insbesondere dem - wiederum außerrechtlich verstandenen - Rechtsbegriff des Pouvoir, der eben einen Träger bezeichnet, ihn aus dessen Machtfülle heraus definiert. Der Begriff Verfassungsgewalt beinhaltet dann die Existenz jener "besonderen Organe", denen nach dem Grundgesetz diese Gewalt anvertraut ist, und ausdrücklich wird dies ja gerade für die Richter und ihre rechtsprechende Gewalt im organisationsrechtlichen Teil des Grundgesetzes wiederholt: Was Richter tun, alles was sie entscheiden, und auch nur dies, ist dann eben Ausdruck Richterlicher Gewalt; das Organisationsrecht der Gerichtsbarkeit definiert die Dritte Gewalt im Staat. Zu fragen ist aus Sicht der Verfassung nur mehr nach den Grenzen, welche jene der staatlichen Organisationsgewalt im Bereich der Judikative setzt. - Doch "Verfassungsgewalt" kann eben auch in einem anderen Sinne als diesem organhaften, gewissermaßen mithin organisationsunabhängig gedacht werden. Dies ist jene Betrachtungsweise, welche man die funktionale, wenn nicht funktionalistische zu nennen pflegt. Für sie ist dann alles Gerichtsbarkeit, was einem bestimmten Inhalt des Begriffs des "Richtens" ent-

III. Judikative und "Gewalt als Verfassungsbegriff'

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spricht, der damit wesentlich von seiner Wirkung her bestimmt werden muss, nicht nach den Organträgern, von denen die Entscheidung ausgeht. Auch für dieses Verständnis mag der Verfassungstext bemüht werden, wenn dort von einer "rechtsprechenden Gewalt" die Rede ist, die eben doch als eine bestimmte Funktion "den Richtern anvertraut ist", also mit besonderen Organen in Verbindung gebracht wird. Dann aber stellt sich deutlich die Frage nach nicht organisationsrechtlichen, sondern inhaltlich-materiellen Kriterien, nach deren Vorliegen und Wirksamkeit eine solche Machtausübung zu beurteilen ist. Und dies ist nicht nur eine dogmatische Grundsatzfrage, die sich übrigens für alle drei Verfassungsgewalten gleichmäßig stellt: Kann es genügen, sie unter Hinweis auf ihre Träger zu bestimmen, oder müssen sie nicht, zugleich oder gar ausschließlich, nach rechtlichem Wesen und politischem Gewicht ihrer Entscheidungen definiert werden? Eine derartige funktionale Betrachtung ist mit weit größeren Problemen belastet als die organisationsrechtliche eben erwähnte: Hier genügt nicht der Hinweis auf bestimmte, im Allgemeinen ja klar erkennbare Organisationsentscheidungen, hier müssen die Aktionen der betreffenden Gewalt von denen der anderen Gewalten abgegrenzt, damit aber vorgängig in ihrem rechtlichen Wesen, in ihrer systematischen Verfassungsbedeutung erkannt werden. Bei funktionaler Betrachtung könnten etwa parlamentarische Untersuchungsbefugnisse, Vereidigungsmöglichkeiten als Ausdruck einer richterlichen Gewalt erscheinen, während organisationsrechtliches Verständnis sie eindeutig der Ersten Gewalt zuordnet. Die Problematik kompliziert sich vor allem dadurch, dass der Verfassungstext grundsätzlich offen ist für beide Deutungen, ja dass er sogar, gerade für die Richterliche Gewalt, so verstanden werden könnte, als gehe er von einer Verbindung organisationsrechtlichen und funktionalen Verständnisses aus: Dann würde die Judikative zu definieren sein zugleich aus dem Organisationsrecht der Richter wie auch aus dem Wesen von deren Entscheidung - es gälte dann weiter, diese beiden Kriterien zur Deckung zu bringen, nur das wirklich Richterliche auch in die Organisation zu verlagern. In den bisherigen Betrachtungen zur Ersten, vor allem aber zur Zweiten Gewalt, wurde, mit einer wohl am weitesten verbreiteten Auffassung, von funktionalen Bestimmungsversuchen ausgegangen, deren weithin negatives Verständnis sodann jedoch auch organisationsrechtlich noch untennauert und es ergab sich eben, dass nach keinem dieser Kriterien heute mehr von einer Zweiten Gewalt in einem wie immer gearteten einheitlichen Verständnis ausgegangen werden kann. Ein ähnlicher methodischer Weg soll auch hier beschritten werden, als Ausgangspunkt mag im Folgenden eine mögliche funktionale Betrachtung der Judikative gewählt werden. Dies erscheint umso sachgerechter, als eben bei dieser Gewalt eine rein organisationsrecht3 Leisner

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A. Rechtsprechende Gewalt - Judikative als Verfassungs-Pouvoir

liche Betrachtung rasch bei etwas enden könnte wie einer "Dritten Gewalt nach einfachem Gesetz", nachdem gerade die Organisation der Gerichtsbarkeit herkömmlich, und zwar durchaus auch nach aus vorverfassungsrechtlicher Epoche stammenden Vorstellungen, weithin eben dem einfachen Gesetzgeber anvertraut ist. Zuvor seien jedoch noch einige Missverständnisse aufgeklärt, welche die erwähnten Bestimmungsversuche gerade im Falle der Judikative belasten. 2. Montesquieus Gewaltbegriff - funktional gedacht Erstaunlich mutet es an und es zeugt wohl auch von einer gewissen abkürzenden Oberflächlichkeit, dass der Begriff der Gewaltenteilung, bei dem die Gewalt herkömmlich im Sinne des französischen Terminus Pouvoir definiert und dieser dann in andere Sprachen übersetzt wird, eine Diktion einführt, welche gerade nicht auf denjenigen zurückführt, welchem ebenso herkömmlich die eigentliche Patenschaft der Lehre von der Gewaltenteilung zugeschrieben wird. Im entscheidenden Kapitel des "Geistes der Gesetze" werden diese "Gewalten" von jenem Autor gerade nicht als Pouvoirs bezeichnet, er verwendet dafür vielmehr den Ausdruck puissance. Dieser Begriff bezeichnet im damaligen wie auch im heutigen Sprachgebrauch jedoch etwas anderes als pouvoir. Wo immer im Einzelnen die Unterschiede liegen mögen - der puissance fehlt jener organhafte, in heutiger Sicht organisationsrechtliche Bezug auf einen Träger, der eben den Pouvoir nicht nur hat und einsetzt, der er vielmehr "ist" im eigentlichen Sinne des Wortes. Bei Montesquieu liegt nichts Personifizierendes in dieser Gewaltenteilung, und daher müsste zuerst versucht werden, seine puissance korrekt zu übersetzen. Dann aber würde dies etwa zu einem Begriff der "Rechts macht" führen, denn der Autor denkt hier in Begriffen der Mächtigkeit, damit aber in solchen der sachlichen Entscheidungskompetenz. Richterliche Gewalt ist für ihn also nicht ein Gewaltträger, sondern alles, was Ausdruck einer Rechtsrnacht ist, einer Zuständigkeit, in einer mithin eindeutig funktionalen Betrachtung. Organisationsrechtliche Bestimmungsversuche können sich daher von vorneherein auf diese Quelle nicht berufen. Im Übrigen sei gerade zur Judikative ergänzend angemerkt, dass Montesquieu sie nicht nur als "gewissermaßen gewichtslos" bezeichnet, was erst recht unterstreicht, dass er in ihr einen Pouvoir im heutigen verfälschenden Sinn der Übersetzung als Gewalt nicht sehen will. Seine Ausführungen zur Gewaltenteilung ergeben darüber hinaus deutlich, dass für ihn der Richter letztlich nichts anderes ist als der Mund des Gesetzes, la bouche de la Loi, und mit seiner Dogmatik des Geistes der Gesetze hat er ja in erster Linie dem souveränen Gesetz, der Norm und ihrer Anwendung, den Weg öffnen wollen. Darin haben ihn die französischen Revolutionäre richtig verstanden,

III. Judikative und "Gewalt als Verfassungsbegriff'

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darin war er wahrhaft der Vater ihres politischen Denkens. Allenfalls könnte man ihn noch in Anspruch nehmen als Gewaltenteiler zwischen Erster und Zweiter Gewalt, die Richter stehen in seinen Texten eindeutig an einem Platz nur: auf der Seite des Gesetzes. Selbst wenn man aber dies als sprachliche Feinheiten abtun und am Begriff des Pouvoir als montesquieuschem Denken entsprechend festhalten wollte, so würde der französische Sprachgebrauch dennoch kein anderes Ergebnis bringen: Pouvoir ist dort bis auf den heutigen Tag der Ausdruck für Rechtsrnacht geblieben, für "Befugnis" im deutschen Rechtssinn; die traditionelle bevollmächtigende Formulierung französischer Urkunden lautet nach wie vor "Bon pour pouvoir". Wie aber Befugnis und Vollmacht einen wesentlich funktionalen Bezug haben, so gilt dies eben auch für alles, was man pouvoir nennt, selbst wenn man es mit einem großen Buchstaben beginnt. So zeigt also literarhistorische Betrachtung am Anfang der heute noch wirkenden Gewaltenteilungslehre eine klar funktionale Betrachtungsweise.

3. Das organhafte Verständnis der "Gewalt" Anleihe bei Parlament und Regierung In der französischen Rechtsprache, bis hin zur Verfassungsdogmatik ist, soweit ersichtlich, nirgends der Pouvoir-Begriff im Sinne der Gewaltenteilung ausschließlich und durchgehend organisationsrechtlich verstanden und gebraucht worden. Allenfalls ist von autorite die Rede, und auch dieser Begriff lässt sich eher übersetzen mit "Befugnisträger" - wiederum in deutlich funktionaler Akzentuierung. Dass dennoch nicht der Begriff der puissance, sondern der des pouvoir im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung seit Jahrhunderten gebraucht wird, hat wohl einen besonderen Grund: Die Gewaltenteilung hat sich herkömmlich in dieser ganzen langen Periode immer wesentlich mit den Beziehungen zwischen Erster und Zweiter Gewalt beschäftigt. Für diese beiden Pouvoirs stehen dann jedoch, als Anknüpfungspunkte auch für ein verfassungsdogmatisches allgemeines Verständnis in späterer Zeit, herkömmliche organisationsrechtlich fassbare Gewaltträger zur Verfügung: Der Monarch auf der einen Seite, das Parlament, als Zusammenfassung physisch greifbarer Volksvertreter auf der anderen. Für eine politische Betrachtung ging es also historisch gesehen nicht um Beziehungen zwischen "Rechtsrnächten", sondern deren physisch fassbaren traditionellen Trägem; und so wurde ihre funktional zu betrachtende Rechtsrnacht zugleich zu einer organhaft zu bestimmenden Rechtsträgerschaft. Da König und Parlament organverknüpfte Gewalten waren, als solche getrennt werden mussten, 3*

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A. Rechtsprechende Gewalt - Judikative als Verfassungs-Pouvoir

hat in die Dogmatik der Gewaltenteilung zugleich auch eine organhafte Betrachtung Eingang gefunden und sich, wenn auch in meist unklarer Weise, der erwähnten funktionalen Betrachtungsweise überlagert. Für die Judikative ist eine solche Entwicklung kaum festzustellen, und sie wäre in diesem Bereich auch nicht eigentlich nachvollziehbar. Denn die Richterliche Gewalt - das ist eben, personifiziert in Organrechtlichkeit, eine kaum übersehbare Vielfalt ganz verschiedener, auf völlig unterschiedlichen Ebenen politischer Mächtigkeit angesiedelter Organwalter, welche als solche, als wirkliche Machtträger, doch nicht zusammengeordnet, in einem politischen Entscheidungskontext gesehen, oder gar als mit einer Stimme sprechend erkannt werden kann; weshalb es denn auch in der Verfassung heißt, diese Gewalt sei "den Richtern" anvertraut, den dort aufgezählten Gerichten. Von vorneherein erscheint es daher als problematisch, von einer organisationsrechtlichen Betrachtung der Dritten Gewalt auszugehen, die Geschichte lehrt, dass dies wohl nur Fortsetzung vielfacher Missverständnisse sein könnte. Aufgegeben bleibt also, jedenfalls am Ausgangspunkt der Betrachtung, die Suche nach einheitlichen funktionalen Kriterien dieser wenn schon nicht Gewalt, so doch vielleicht Macht im Staate. 4. "Den Richtern anvertraute rechtsprechende Gewalt" eine Verfassungstautologie ?

a) Geht man davon aus, dass eine Richterliche Gewalt rein organisationsrechtlich, also dadurch bestimmt ist, dass sie, aber auch nur sie, von gewissen speziellen Organen ausgeübt wird, etwa unabhängigen Letztentscheidenden, so wird die Verfassungsaussage zum Problem: Rechtsprechende Gewalt ist dann eben diejenige, und sie allein, welche "den Richtern anvertraut" ist; die Richter als Verfassungsorgane in einem weiteren Sinne definieren die Richterliche Gewalt. Ein derartiges Verständnis kann nicht überzeugen. Es läuft hinaus auf eine Verfassungs-Tautologie, auf eine inhaltsleere Aussage; denn es ist dann ja selbstverständlich, dass eine Gewalt, welche sich lediglich daraus definiert, dass sie von Richtern ausgeübt wird, auch diesen anvertraut ist. Diese Kritik der Tautologie ist schon von Klaus Stern angebracht worden und sie ist überzeugend. Ein derartiges Verfassungsverständnis wäre aber nicht nur sinn-, weil inhaltslos, es verstieße auch gegen eine Rechtsstaatlichkeit, welche normative Tautologie als unnötig und nicht einmal klärend verbietet, darüber hinaus gegen jenen seit der Weimarer Zeit obersten Verfassungsgrundsatz, nach welchem jede Verfassungsbestimmung im Sinne größtmöglicher normativer Wirksamkeit zu interpretieren ist; und dieses

III. Judikative und "Gewalt als Verfassungsbegriff'

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Prinzip kann doch nicht auf Grundrechte beschränkt sein. Eine derartige tautologische Bestimmung der Richterlichen Gewalt hätte jedoch keinerlei normative Wirksamkeit mehr. Jede "rechtsprechende Gewalt", welche den Richtern nach der Verfassung anvertraut ist, muss also, dies verlangt bereits logische Interpretation, inhaltlich durch andere als organisationsrechtliche Kriterien bereits bestimmt sein, bevor sie "besonderen Organen" anvertraut wird. Daher kommt einem nicht tautologischen Verständnis dieser Formel doch eine fassbare Bedeutung zu: Sie schließt eben eine rein organisationsrechtliche Definition der Judikative von vorneherein aus. Die Tätigkeit der Richter, die Ausübung ihrer rechtsprechenden Kompetenz im Sinne Montesquieus, muss daher notwendig zumindest auch, ja zunächst, nach funktionalen Kriterien bestimmbar sein. b) Dies muss nicht bedeuten, dass Staatsorganisationsrecht in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr spielte. Vorstellbar ist ja, dass eine wie immer funktional definierte rechtsprechende Gewalt sodann bestimmten Organträgern anvertraut wird, welche organisationsrechtlich definiert werden, dass also der Judikative nur zugeordnet wird, was sowohl funktionalen als auch organisationsrechtlichen Kriterien entspricht. Gewisse nur funktional betrachtet richterliche Zuständigkeiten, wie etwa Prüfungsentscheidungen, könnten dann aus dem Begriff der Judikative ausgeklammert werden. Diese wäre in einer kombinierten funktionalen und organisationsrechtlichen Betrachtung zu bestimmen. Eine derart kombinierte Definition dieser Verfassungsgewalt, wie sie der Wortlaut des Grundgesetzes nahe zu legen scheint, begegnet allerdings einem Bedenken: Soll der organisationsrechtliche Normgeber darin frei sein, welche Formen rechtsprechender Gewalt er den von ihm organmäßig bestimmten "Richtern" zuweist - oder muss er sich bei dieser seiner Zuordnungsentscheidung nicht an das Ergebnis funktionaler Betrachtung der rechtsprechenden Gewalt halten, mit der Rechtsfolge, dass sich eben doch die Organisation nach der Funktion zu richten hat, damit die Funktion durchgehende Bedeutung gewinnt? Dafür spricht der Verfassungstext des Art. 92 GG eindeutig. Die "rechtsprechende", also doch die ganze Richterliche Gewalt, ist "den Richtern anvertraut". Funktionales Richten durch organisationsrechtliche Nichtrichter ist verfassungswidrig. Nur zugleich funktional und organisatorisch bestimmte Richtertätigkeit ist der Judikative zuzurechnen. Eine Bedeutung mag aber, jenseits dieser Problematik, einer unterscheidenden Betrachtung organisationsrechtlicher und funktionaler Kriterien der Richterlichen Gewalt immerhin zugeschrieben werden: Auch wenn man von einem Primat des Funktionalen ausgeht, die rechtsprechende Gewalt also funktional bestimmt und sie erst sodann Richtern anvertraut, deren Organstruktur nichts anderes bedeutet als Sicherung, Verfestigung, Reali-

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A. Rechtsprechende Gewalt - Judikative als Verfassungs-Pouvoir

sierung dieser funktionalen Wirkungsweise, wenn man also auf solche Weise die Organisation in vollem Umfang aus der Aufgabenerfüllung heraus definiert - selbst in diesem Fall bleibt organisationsrechtlicher Betrachtungsweise als solcher noch immer ein bedeutsames Gewicht: Nur auf ihrer Grundlage lässt sich ja die Frage überzeugend beantworten, ob so definiertes Richtertum auch wirklich als eine "Verfassungsgewalt" bezeichnet werden kann, was doch immerhin einen organisationsrechtlichen Zusammenhang anzusprechen scheint, eine gewisse Einheit wenn schon nicht von hierarchisch geordneten Gewaltträgem, so doch einer gewissen richterlichen Kompetenzträgerschaft. Die folgenden Betrachtungen gehen daher davon aus, dass im Sinne der hier entwickelten Fragestellung die Dritte Gewalt zunächst einmal aufgesucht werden sollte in der Bestimmung von inhaltlichen Kriterien des Richtens, in einer funktionalen Betrachtung (im Folgenden B). Sodann ist zu prüfen, inwieweit sich diese so bestimmte staatliche Aufgabenerfüllung, im Sinne einer inhaltlich einheitlichen Staatsfunktion, organisationsrechtlich zusammengeordneten Organträgem im Sinne einer "Gewalt" zuordnen lässt (im Folgenden C). Auf diesen dogmatischen Grundlagen lassen sich dann die weiteren Fragen nach der rechtlichen Mächtigkeit dieser wie immer näher definierten Staatsgewalt, insbesondere nach deren Machtbewusstsein (0) und schließlich die nach einer dem Richtertum eigenartigen "Machtverzögerung aus Verspätung" (E) beantworten.

B. Funktionale Kriterien der rechtsprechenden Gewalt das "Wesen des Richtens" I. Judikative als Rechtsanwendung? Das funktionale Wesen der Judikative, die Erfüllung von Staatsaufgaben gerade in richterlicher Form, ist als solche, soweit ersichtlich, keines der großen Themen des Verfassungsrechts in letzter Zeit gewesen. Wie bereits erwähnt, kreisen die Überlegungen zur Richterlichen Gewalt im Wesentlichen immer um Betrachtungen dessen, was diesen Staatsorganen an Unabhängigkeit garantiert sein müsse, damit sie ihre Aufgaben erfüllen - doch zu diesen Aufgaben selbst ergibt sich daraus kaum etwas, jedenfalls keine systematische Aussage. Die Allgemeine Staatslehre hat sich immerhin in früherer Zeit mit dieser zentralen Problematik des Öffentlichen Rechts, zu dem eben alles staatliche Richten wesentlich gehört, vertiefend beschäftigt: Vor allem Hans Kelsen ist der Frage nachgegangen, worin sich denn Normanwendung in den Bereichen der Administrative wie Judikative unterscheide. Dies sei auch hier Ausgangspunkt der Überlegungen. 1. Der Richter als "Normsprecher"?

a) Nach herkömmlichem, einigermaßen untechnischem Verständnis obliegt den Richtern die Anwendung des Gesetzes wenn nicht ausschließlich, so doch im Sinne einer deutlichen Wesentlichkeit ihrer Tätigkeit. So werden sie gelobt als viva vox Legis, als bouche de la Loi, eines Gesetzes, das ohne ihr Wort "stumm bleibt" (Larenz), dessen Stimme also erst sie zum Leben erwecken. Die normativen Folgerungen aus dieser Konzeption sind wohl kaum je voll durchdacht worden. Sie müssten ja bedeuten, dass "das Gesetz ohne die Richter" nicht nur stumm, sondern eben tot wäre, ein rechtliches Nullum, da doch seine Imperative die Gewaltunterworfenen an sich gar nicht erreichten, wenn eben nicht über das Richterwort. Ein derartiges Verständnis der Richterlichen Gewalt ist jedoch mit dem heutigen Normbegriff und mit den Grundvorstellungen des Bürgerstaates unvereinbar. Die Norm wirkt grundsätzlich, durchgehend, auch ohne Richter, auch ohne sein Letztes Wort. Wollte man vom Gegenteil ausgehen, so wäre nicht nur der Richter der letztlich entscheidende, unabdingbare "Normverwirklicher" im Sinne eines Normgebers, es wäre dies, vielleicht

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

noch mehr, der Gerichtsvollzieher, die Polizei als letztlich normvollziehende, als normeffektuierende Gewalt. Dem gegenüber geht der modeme Gesetzesbegriff davon aus, dass das Gesetz auch ohne Sanktion gilt. Es gibt hinreichend Leges imperfectae, welche judikativer Anwendung überhaupt nicht zugänglich sind, dennoch aber als Normen gelten. Schon daran scheitert ein Bestimmungsversuch der Judikative allein aus Gesetzesanwendung. Darüber hinaus, und dies ist von praktisch weit größerer Bedeutung, ist das Gesetz auch ohne jeden Richter rechtliche Realität, normative Wirklichkeit darin, dass sein Imperativ meist ohne letztes judikatives Wort vom Bürger befolgt wird. Gesetzesanwendung im demokratischen Staat ist in erster Linie der Normgehorsam des Bürgers, der in den allermeisten, ja in fast allen Fällen, im Idealfall schlechthin durchgehend dem Gesetz sich beugt. Die Gerichtsbarkeit kann nicht definiert werden als Rechtsanwendung im Sinne der Rechtseffektuierung; sie wäre dann nichts als eine Gewalt, deren Überflüssigkeit Gegenstand demokratischer Überzeugung wäre, welche doch den Bürger als Rechtsbefolger grundsätzlich unterstellt und ständig lobt. Rechtsanwendung erfolgt denn auch tagtäglich in unzähligen Fällen, vor allem im Bereich jenes Zivilrechts, in welchem die Bürger das Bürgerliche Recht konkretisieren, fortsetzen in ihren Verträgen, welche dann im schönen französischen Wortsinn la Loi des parties werden. Rechtsanwendung durch Bürgergehorsam - dies allein schließt es also bereits aus, die richterliche Rechtsanwendung zum Wesen dieser Gewalt zu erklären. 2. Rechtsanwendung auch durch andere Staatsorgane

Rechtsanwendung könnte nur dann ein Kriterium gerade der Richterlichen Gewalt sein, wenn andere Staatsorgane, insbesondere die übrigen, in Gewaltenteilung stehenden Organträger, wesentlich "Recht nicht anwendeten". Der Begriff der Rechtsanwendung wäre dabei in dem Sinne zu verstehen, dass Rechtsbeziehungen irgendwelcher privater oder öffentlicher Rechtsträger nach staatlichen Normen beurteilt, deren Rechtspositionen dadurch im Ergebnis geschaffen, verändert oder auch nur präzisierend festgestellt werden. In diesem Sinne kann jedoch von einem Monopol richterlicher Rechtsanwendung nicht die Rede sein. a) Zweifelhaft mag allerdings sein, ob das Parlament "Recht anwendet", im Wege der einfachen Gesetzgebung. Dies müsste bei solchem Verständnis als eine Anwendung von Verfassungsrecht begriffen werden. Derartiges entspricht der strengen Normstufenvorstellung Kelsens, nach welcher die Normen der höheren Verfassungsstufe nicht nur Normen der nächst-niedrigen hervorbringen, diese letzteren vielmehr zugleich in Anwendung höherer

I. Judikative als Rechtsanwendung?

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Nonnen erlassen werden. Eine solche, in sich konsequente Konzeption liegt jedoch heutigem Verfassungsverständnis, jedenfalls dem des freiheitlichen Rechtsstaats, nicht zugrunde. Die Verfassung mag noch als nonnative Ermächtigung der einfachen Gesetzgebung gesehen werden, doch diese letztere erschöpft sich nicht nur nicht in einer "Anwendung" von Verfassungsnonnen, sie stellt eine solche ihrem Wesen nach nicht dar. Denn dies würde ja voraussetzen, dass alle Wirkungen einfacher Gesetzgebung bereits in der Verfassung nonnativ angelegt wären und in der einfachen Gesetzgebung lediglich entfaltet, vielleicht gar nur konkretisiert würden, wie immer man diesen wenig klaren Begriff verstehen mag. So aber sind weder die Verfassungsnonnen über das Gesetzgebungsverfahren zu begreifen, noch die materiellrechtlichen Bestimmungen der Verfassung, insbesondere die Grundrechte. Herrschender Lehre und durchaus auch der allgemeinen rechtlichen Überzeugung entspricht es vielmehr im liberalen Rechtsstaat, dass die Verfassung zwar Gesetzgebung ennöglicht, in diesem Sinne auch zu ihr ermächtigt, dass diese Setzung einfacher Nonnen durch einfache Mehrheit des Parlaments aber nicht Verfassungs anwendung darstellt, vielmehr Nonnsetzung im Rahmen der höheren Nonnschicht. Dieser Letzteren kommt also eine wesentliche Schrankenfunktion zu, nicht aber die einer primären Nonnsetzung, welche dann durch niederrangige Nonnen nur ausgefüllt würde. Nicht einmal im Verhältnis des einfachen Gesetzes zu der durch diese ennächtigten Verordnunggebung kann von Gesetzesanwendung im eigentlichen Sinn die Rede sein, vielmehr findet auch hier "Gesetzgebung in Stufen", nicht Rechtsanwendung im gängigen Sinne statt. Allenfalls könnte man diese Ausfüllung höherrangiger Nonnen durch niederrangige Bestimmungen als eine Rechtsanwendung im rein organrechtlichen Sinne verstehen: die höheren Nonnen werden dem Bürger gegenüber durch die niederrangigen nicht etwa angewendet, sondern verdeutlicht, konkretisiert, ihm gegenüber aber erst dadurch eben anwendbar, während im Verhältnis des niederrangigen zum übergeordneten Nonnsetzer etwas wie eine verfahrensmäßige, vielleicht gar materielle Normanwendung von jenem gesetzter Bestimmungen stattfindet. Nachdem jedoch der Begriff der Nonnanwendung als solcher dogmatisch in dem Sinn besetzt ist, dass er Schaffung oder Veränderung von Rechtspositionen beinhaltet, kann der Begriff der Rechtsanwendung, jedenfalls in diesem Sinne, nicht gelten für die Anwendung von Gesetzen durch Verordnungen und auch nicht von Verfassungsnonnen durch einfaches Gesetzesrecht. Denn diese Rechtspositionen werden durch die jeweils niederrangigen Nonnen erst geschaffen, diese werden nicht auf sie angewendet, nachdem sie nonnativ hervorgebracht worden sind. Allenfalls könnte also, wie oben angedeutet, einfache Gesetzgebung oder Verordnunggebung als Nonn-

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

anwendung gesehen werden in einem eingeschränkten, gewissermaßen organisationsrechtlichen Sinn, in welchem Gesetzgebungsrecht und Verordnunggebungsrecht, vom jeweils höheren Gesetzgeber gesetzt, vom jeweils niederrangigen angewendet werden. Gegenüber allen übrigen Normadressaten dagegen findet hier Normanwendung im eigentlichen Sinn zweifellos nicht statt. b) Dennoch ist Normanwendung, auch in diesem Sinne verstanden, keineswegs ein Privileg der Richterlichen Gewalt. Auch die Verwaltung, die Exekutive jedenfalls überall dort, wo sie Einzelentscheidungen trifft, vollzieht Rechtsanwendung im eigentlichen, allgemein anerkannten Sinn der Schaffung, Veränderung oder zur Feststellung von Rechtspositionen. Dies gilt, bei richtigem Verständnis, auch für jene gestaltende Verwaltungstätigkeit, welche sich als Ausführung von Haushaltsgesetzen darstellt. Dabei kommt es auf die rechtliche Endgültigkeit derartiger Entscheidungen nicht an, welche übrigens in den meisten Fällen gegeben ist, faktisch, durch Passivität der dagegen nicht protestierenden Normadressaten oder geradezu von Gesetzes wegen. Selbst Rechtsanwendung mit nur vorläufiger Wirksamkeit verdient im dogmatischen Sinn diesen Namen, auch die vorläufige, sehr häufig ja dann auch endgültige Wirkung solcher Rechtsanwendung erfüllt die Kriterien dieses Begriffes. Daraus ergibt sich eindeutig, dass jene Richterliche Gewalt, welche erst vor zwei Jahrhunderten aus der größeren, globalen Rechtsanwendungsgewalt der fürstlichen Vollautorität heraus entwickelt worden ist, auch heute nicht als eine wesentliche Macht der Rechtsanwendung verstanden, aus diesem Begriff allein definiert werden kann. Dass dies Letztere aus einer speziellen Qualifikation solcher Rechtsanwendung, etwa ihrem endgültigen Charakter, also aus dem Richterwort als einem Letzten, versucht werden kann, ist damit noch nicht entschieden und wird Gegenstand weiterer Betrachtungen sein. Rechtsanwendung allein jedoch konstituiert rechtsprechende Tätigkeit als solche nicht, noch weniger definiert sie eine Richterliche Gewalt. c) Nun mag man eine Besonderheit rechtsprechender Tätigkeit in einer Form der Rechtsanwendung sehen, welche gerade der Dritten Gewalt eigentümlich sei: Bringt sie nicht ein Beurteilungs-Ermessen zum Einsatz, welches gesetzgeberische Entscheidungen nicht nur endgültig, sondern in einer eigentümlich-unüberprüfbaren Weise fortsetzt? Der Strafrichter füllt den gesetzlichen Strafrahmen aus, Verwaltungsgerichtsbarkeit bietet die letzte, damit die eigentliche Beurteilung in Räumen, welche der Gesetzgeber der Administrativnormen nicht selbst vorgenommen hat, insbesondere etwa zum Verständnis des jeweiligen Gesetzesbegriffs des Öffentlichen Interesses. Liegt nicht in dieser Beurteilungsfunktion typisch richterlicher Gewalteinsatz?

11. "Kontradiktorisches Verfahren" - eine Besonderheit des Richtens?

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Auch dies überzeugt nicht. Was das richterliche Ennessen im Verwaltungsrecht anlangt, so gilt ihm gegenüber das eben zur Vorläufigkeit Ausgeführte: Auch die Administrative beurteilt ja, zunächst einmal, selbst wenn ihre Entscheidung sodann der Kontrolle des Verwaltungsrichters unterliegt. Vorläufigkeit schließt eben Rechtsanwendung auch durch die Zweite Gewalt keineswegs aus. Selbst dort aber, wo die Dritte Gewalt nicht über vorgeschaltete Verwaltungsbeurteilung richtet, wo diese jedenfalls, etwa von der Staatsanwaltschaft in der Anklage vorgenommen, allein noch keine Rechtswirkung hervorbringt, zeigt sich keine Fonn eigenartiger Rechtsanwendung, welche anderen Gewalten völlig verschlossen wäre. Auch die Administrative verfügt, wenn auch nur in bestimmten, ihr gesetzlich eröffneten Räumen, über eine vergleichbare, wenn auch regelmäßig gegenständlich begrenzte endgültige Beurteilungsgewalt, man denke nur an Prüfungsentscheidungen oder sich entfaltendes Technikrecht, in welchem die Verwaltung zunehmend nur in weiten Grenzen richterlicher Überprüfung unterliegt. Andererseits ist auch die Strafgewalt des Richters durch das Gesetz lediglich in engen Grenzen zum Einsatz eigenen Beurteilungsennessens berechtigt, innerhalb von Strafrahmen eben, deren rechtstaatliche Bestimmtheit gerade neuerdings überzeugend betont wird. Es findet also Rechtsanwendung statt "im Rahmen des Gesetzes" und eben in Verwirklichung von dessen Nonnbefehlen, in gewissem organisationsrechtlichem Sinn im Bereich der Ersten, allgemeiner in dem der Zweiten und sodann ganz generell im Raume der Anwendung Richterlicher Gewalt. Damit erscheint es als ausgeschlossen, Rechtsanwendung als solche als Kriterium der Judikative einzusetzen.

11. "Kontradiktorisches Verfahren" eine Besonderheit des Richtens? 1. Gerichtliche Verfahrensgrundsätze als Verfassungsrecht Dass die Dritte Gewalt in einer speziellen, besonders intensiven Art in der Ausübung all ihrer Befugnisse nicht nur verfahrensorientiert, sondern verfahrensgebunden ist, stellt nicht mehr als eine banale Feststellung dar. Das Römische Recht lehrt bereits in seiner institutionellen Entfaltung, dass Verfahrensrecht häufig, wenn nicht regelmäßig oder gar wesentlich vor dem sodann durch die Gerichtsbarkeit anzuwendenden materiellen Recht entstand, dass dies Letztere sich aus jenem entwickelt hat. Der Richter ist gewissennaßen "Verfahrensperson" in allem und jedem, er ist personifiziertes Verfahren. Subsumtionsmaschine mag er für das materielle Recht nicht

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

überall sein, gegenüber dem Verfahrensrecht zeigt er sich gewiss weitestgehend als derartig vermenschlichter Anwendungsapparat. Keine andere Staatsgewalt ist jedoch auf vergleichbarer Weise über diese Verfahrens-Bindung an die Gesetzgebung angebunden, in deren Rahmen allein zum Einsatz von Staatsgewalt legitimiert. Die Grundstrukturen dieses gerichtlichen Verfahrens könnten also prinzipiell durchaus Ausgangspunkt für eine Definition der Gerichtsbarkeit sein, und es konnte ja auch bereits festgestellt werden, dass sich die Dogmatik der Dritten Gewalt, wo sie sich überhaupt mit diesem Begriff als solchem beschäftigt, die herkömmlichen Prozessgesetze und ihre Grundstruktur sinnvoller Weise zum Gegenstand nimmt. Doch dem kann nun nicht sogleich auch ein weiterer dogmatischer Schritt folgen: hin zur Bestimmung des Wesens der Gerichtsbarkeit aus Grundprinzipien des gerichtlichen Verfahrens, und seien sie noch so deutlich in einfacher Gesetzgebung traditionell vorgezeichnet. Denn hier fände ja dann nichts anderes statt als "Verfassung nach Gesetz" in großem Stil, die meist durchaus als Einzelheiten und in Einzelheiten geregelten Prozessgrundsätze würden global und eo ipso zu Verfassungsgrundsätzen. Zumindest müsste also jeweils bewiesen werden, dass sich aus eigenständigem Verfassungsrecht gerade eine derartige "Definition der Judikative nach ihrem Prozessrecht" notwendig ergeben müsse, dass also das Verfassungsrecht dieses Verfahrensrecht, in seinen Grundzügen, in seine Normen, insbesondere seiner Rechtsstaatlichkeit, gewissermaßen rezipiert habe. Derartiges ist nun zwar, wie das Gesagte ergibt, begründungspflichtig, lässt sich aber grundsätzlich nicht ausschließen. Deshalb sei hier versucht, einem solchen Definitionsversuch für jenes Kriterium nachzugehen, welches als der Gerichtsbarkeit in besonderem Maße wesentlich allgemein erscheinen dürfte: dem des kontradiktorischen Verfahrens, in welchem Entscheidungen im Dreitakt von Rede, Gegenrede und abwägender Entscheidung der Instanzen ergehen. Es fragt sich mithin, ob dieses Verfahren, mehr noch eine solche Entscheidungsmethode, ausschließlich der Dritten Gewalt oder ihr doch in besonderer Ausprägung eigentümlich ist, ob es genügen könnte, daraus eine wirkliche Staatsgewalt sui generis zu entwickeln. Dagegen bestehen jedoch entscheidende Bedenken. 2. Parlamentarische Kontradiktorietät

Der Dreitakt der Kontradiktorietät begegnet nicht nur im Bereich der Dritten Gewalt, mag er dort auch am deutlichsten das Verfahren beherrschen. Die beiden anderen großen Verfassungsgewalten kennen ebenfalls dieses "Verfahren im Widerspruch", die Legislative von jeher, die Administrative in zunehmendem Maße.

11. "Kontradiktorisches Verfahren" - eine Besonderheit des Richtens?

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Parlamentarische Kontradiktorietät ist von jeher das verfahrensrechtliche Grundprinzip des zentralen Staatsorgans der Ersten Gewalt. Die parlamentarische Versammlung ist ihrem Wesen nach ein "Raum der Aussprache", daraus zieht dieses Gremium seine Legitimation, das gehört zu seinem Wesen, wenn dieser Begriff im Organisationsrecht überhaupt etwas bedeutet. Rede und Gegenrede sind dort in rechtlich streng geordneten Bahnen vorgesehen, die dies garantierenden Geschäftsordnungen gelten gerade deshalb mit Recht als notwendige normative Verfassungsbestandteile, als Konkretisierungen von Verfassungsnormen im engeren Sinn. Wie vor Gericht geht es hier darum, die Gegenseite zu überzeugen, und nur dadurch unterscheidet sich dieses "Verfahren im Widerspruch" von dem der Gerichte, dass "Richter" im Parlament, jedenfalls im gegenwärtigen europäischen Verfassungsstaat, nicht eine dritte Instanz ist, sondern die Mehrheit, also der Großteil der Gesprächspartner. Doch diese Mehrheit als solche, der "parlamentarische Richter", welcher letztlich entscheidet, soll ja erst auf Grund des Kontradiktorischen hergestellt werden, in dessen Widersprüchlichkeiten eben diese Majorität sich bilden, überzeugt werden, um sodann zu entscheiden. Amerikanischer Parlamentsgebrauch zeigt dies noch heute deutlich: Offen gehen die Mitglieder des Repräsentantenhauses und die Senatoren in viele, entscheidende Abstimmungen, und erst in deren Verlauf, in der offenen Aussprache im Parlament, in seinem Plenum und seinen Ausschüssen, wie in der verdeckten der parlamentarischen Lobbies, bildet sich sodann die entscheidende Mehrheit heraus. Lediglich in partei politisch verfestigten Mehrheitskonstellationen um sie nicht verkrustet zu nennen - funktioniert alles nach prästabilierten Mehrheiten, orientiert sich das Verfahren in Parteidisziplin. Dies aber ist eine Degeneration des Parlamentarismus, nicht sein ursprüngliches Wesen, es widerspricht seiner eigentlichen Legitimation. Und noch immer gibt es auch in Europa ein Aussprache-Verfahren ohne Einpeitscher, jene allzu selten ausgerufene "Entscheidung nach dem Gewissen der Abgeordneten". Man wähne nicht, auch dort verlaufe alles nach vorbestimmten oder gar vorgefertigten Überzeugungen, die sich eben nun nicht auf Parteidisziplin, sondern auf das Abgeordneten-Gewissen zurückführten. Auch diese Dezisionen bilden sich dann eben in parlamentarischen Kontakten, im Gespräch mit Parlamentskollegen - im Hin und Her der Kontradiktorietät. Diese gewinnt in solchem parlamentarischen Verfahren noch viel weitere Räume als in Gerichtssälen, wo durch Prozessrecht alles in Anträgen und Einwendungen enger kanalisiert ist. Im weitem, wenn nicht eigentlichem Sinn lässt sich also die Kontradiktorietät eher dem parlamentarischen als dem gerichtlichen Verfahren zuordnen. Dasselbe gilt übrigens weithin für jene Öffentlichkeit der Kontradiktorietät, welche nach allen geltenden Prozessrechten eng mit dem Widerspruch-

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

Prinzip verbunden ist. Dogmatisch stellt sie zwar einen VOn jenem zu trennenden Grundsatz dar, sie fügt dem Verfahren der Gegenrede noch einen Umstand hinzu. Doch dieser soll nicht nur den kontradiktorischen Ablauf kontrollieren und damit gewährleisten, seine Überwachung soll auch sicherstellen, dass hier die Kontradiktorietät voll in ihre Rechte tritt, indem sie wirklich mit der Absicht und der Eignung zu wahrer Überzeugung der Gegenseite auftritt. Man mag sogar darüber streiten, ob diese parlamentarische Kontradiktorietät historisch nicht sogar der gerichtlichen vorangeht, oder ob sie sich parallel mit ihr entwickelt hat, in Senaten, Volksversammlungen und Aeropagen. Gewiss war ihre Verfahrensordnung stets rudimentärer, es fehlte ihr die Strenge der gerichtsverfahrensmäßig geordneten Rede und Gegenrede; doch im Grunde war es stets dieselbe Überzeugung von der Überzeugungskraft der Rede, die gleiche Rationalität im Bereich unterschiedlicher Staatsorgane, welche dieses Verfahren rechtfertigte und durchgehend beherrschte. Man darf also VOn bereichsspezifischer Kontradiktorietät im Bereich der Ersten wie der Dritten Gewalt sprechen, dieses Prinzip aber auf diese letztere nicht begrenzen; und aus bestimmten typischen, einfachgesetzlich spezifizierten Eigenarten gerade des Gerichtsverfahrens lässt sich gewiss nicht etwas wie eine große Verfassungsgewalt konstituieren. 3. Administrative Kontradiktorietät In einem gerichtlichen Sinne beherrschte Kontradiktorietät früher sicher nicht wesentlich die Aktionsräume der Administrative. In ihr herrschte eine Arkanstaatlichkeit, in einer Form, welche nur allzu oft und vor allem in früheren Zeiten sogar noch den Ablauf des gerichtlichen Verfahrens der Öffentlichkeit, ja den Parteien entzog. Gerichtsbarkeit ist, im Laufe der letzten Jahrhunderte, gerade deshalb entwickelt worden, um ihre spezielle, bis ins Einzelne geordnete öffentliche Kontradiktorietät wenigstens in diesen Bereichen der Anwendung der Staatsgewalt durchzusetzen, wenn schon die Administrative ihr Staatsgeheimnis, bis hin zur "Geheimen Reichssache" der Hohen Politik, nicht oder doch nicht in allen Phasen des Entscheidungsverfahrens preisgeben wollte. Doch eine gewisse Kontradiktorietät hat es auch, jedenfalls in der neueren Verwaltung, im Bereich einer wie immer bestimmten Zweiten Gewalt stets gegeben, und gerade aus ihr hat sich dann eben eine Gerichtsbarkeit nicht selten entfaltet; man denke nur an das Beispiel des französischen Verwaltungsrechts, in welchem die letzte Entscheidung über bestimmte Anträge bereits seit napoleonischer Zeit und dann in immer weiterer Öffnung jenem Conseil d'Etat überlassen wurde, der zunächst den Souverän beraten sollte, sich dann immer mehr in eigengewichtiges Verfahrensrecht und da-

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mit in Kontradiktorietät zurückzog. Eine entscheidende neue Phase wurde im 20. Jahrhundert eingeleitet und bereits weitgehend abgeschlossen, mit der Entfaltung jenes gesetzlichen Verwaltungsverfahrensrechts, in dem das traditionelle rechtliche Gehör der Gerichtsbarkeit in die Verwaltung hinein verbreitert wurde - im Namen einer entsprechenden Ausweitung des Begriffs des rechtlichen Gehörs im Verfassungsrecht. Nun findet etwas wie wahre Kontradiktorietät in jedem Verwaltungsverfahren statt. Der Betroffene wird angehört als stehe er vor Gericht, und das Verfahren unterscheidet sich nur darin von dem der Judikative, dass die jeweilige Gegenseite entweder durch Gesetz als "Beteiligter" näher bestimmt ist - was Kontradiktorietät keineswegs ausschließt - oder dass die vorläufige Richterbank durch Vertreter der Gegenseite besetzt ist. Doch eben diese vorläufig richterlich Entscheidenden sind durch Gesetz wiederum streng verpflichtet, die Argumente beider Seiten, nicht nur die des von ihnen vertretenen Staates zu wahren. In vielen und zahlenmäßig zunehmenden Auseinandersetzungen, in welchen die Verwaltungsinstanzen als Schiedsrichter zwischen Privaten auftreten, unterscheidet sich also dieses Verwaltungsverfahren nicht mehr grundsätzlich von dem nicht selten nachfolgenden judikativen Prozess. Auch in den anderen Fällen der Interessenidentität der Organvertretung einer der Seiten mit der Entscheidungsinstanz bleibt doch gerade die Kontradiktorietät ebenfalls erhalten, eben in der Verpflichtung der Entscheidenden, beide Seiten gleichmäßig zu berücksichtigen. Allenfalls liegt also hier ein Unterschied noch in der BeteiligtensteIlung der Entscheidungsinstanz, damit stellt sich die Frage nach der "Beteiligung" der Richter, auf welche noch zurückzukommen sein wird. Insgesamt lässt sich aber, im heutigen Stand der Entwicklung des Verwaltungsverfahrens, kaum mehr sagen, dass Kontradiktorietät eine spezifische Eigenheit gerade der Dritten Gewalt darstelle. Ihre Entfaltung im Namen der allgemeineren Rechtsstaatlichkeit erfasst alle drei klassischen Gewalten, allerdings mit jener Bereichsspezifik, von welcher im parlamentarischen Zusammenhang bereits die Rede war, die aber weder dort noch im Raum der Administrative ein allgemeines Definitionskriterium gerade einer Judikative als eigenständiger Staatsgewalt liefern kann.

111. Rechtsprechende Gewalt als "Macht des Letzten Wortes" Die Bestimmung der rechtsprechenden Gewalt nach einem Kriterium liegt dogmatisch nahe und hat wohl auch im allgemeinen Bewusstsein die Anerkennung einer Dritten Gewalt, aus einer echten Besonderheit derselben heraus, stets begründet: Die rechtsprechende Gewalt als die Macht der Endgültigkeit, als Gewalt des letzten Wortes im Einzelfall. In der Ausweitung

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

dieses Begriffs des Einzelfalls auf die normativ flächendeckenden Entscheidungsgegenstände der Verfassungsgerichtsbarkeit scheint sich dabei geradezu eine entscheidende Mutation der Bedeutung des letzten Wortes zu ergeben: hin zur Endgültigkeit ganzer Ordnungskomplexe. Hier muss weiter ausgeholt werden. 1. Das "Letzte Wort" des Richters Recht der "endgültigen Antwort" auf Rechtsfragen

a) Das "Letzte Wort" erscheint in besonderer Weise als Ausdruck einer Rechtsrnacht. Im Recht als solchem, in jeder Entscheidung, die in seinem Namen fällt, liegt eine grundSätzliche Unzeitlichkeit, ja Überzeitlichkeit: Als Rechtsentscheidung kommt derartiger Dezision grundsätzliche Endgültigkeit zu, wenn sie sich nicht selbst wieder in den Formen des Rechts zeitlich relativiert. Vorläufigkeit als Rechtsbegriff mag es geben, aber nur, wo eine solche Schranke der Wirksamkeit rechtlicher Entscheidungen speziell vorgesehen ist, zu vermuten ist sie nirgends. Faktische Wirkkraft rechtlicher Dezisionen mag eingeschränkt sein, durch das allgemeine Gesetz des "Vorübergehens" aller diesseitigen Dinge - das Recht will seine Wirkungen aus diesem Strom herausheben, gerade darin sich als eigentümliche Macht bewähren. Wenn es also nach der letzten Entscheidung des höchsten Richters ein weiteres letztes Wort im Recht nicht geben kann, so ist seine Entscheidung zweifelsfrei Ausdruck einer Rechtsrnacht im eigentlichen, im engsten Sinne des Wortes. b) Das "Letzte Wort" als Ausdruck des Rechts par excellence erscheint allerdings, zumindest rechtstatsächlich betrachtet, von vorneherein darin relativiert, dass nicht selten das "Erste Wort" bereits das Letzte ist. Diese Erscheinung, die bereits in früheren Betrachtungen begegnete, müsste hier vertieft werden im Sinne einer dogmatischen Untersuchung der Bedeutung der "rechtlichen Entscheidungsinitiative als Rechtsrnacht": In zahlreichen Fällen ist es eben die Initiative, welche von Anfang an mit ihrem ersten Schritt eine entscheidende Kanalisierung später einzusetzender und wirkender Rechtsrnacht bringt. Im parlamentarischen Bereich wird so immerhin eine formalisierte Grundlage für das gesamte spätere Verfahren geschaffen, verändert werden kann sie nur durch weitere "Erste Worte", Zusatzinitiativen; freie Entscheidungen über rechtlich völlig Verschiedenes sind bereits durch diese "Ersten Worte" ausgeschlossen, welche damit rahmenmäßig zu "letzten Worten" werden. Diese fallen dann nach verfahrensrechtlichen Zwischenschritten, welche die "Ersten Worte" verändern oder auch aufheben mögen, sich aber stets in ihrem Rahmen zu bewegen haben. Nichts anderes erfolgt im judikativen Bereich. Die Antragsteller bestimmen das letzte Wort des Richters; er bleibt an die Grundmaxime seiner ge-

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samten Gewalt gebunden, dass er nicht ultra petita partium gehen und dort entscheiden darf. Seltene, speziell durch prozessrechts- oder verfahrensrechtsgleiche Gerichtsübung vorgesehene oder zugelassene Ausnahmen ändern daran nichts: Es ist eben stets der Antrag der Staatsorgane vor dem Bundesverfassungsgericht, der Kläger vor den zivilgerichtlichen Instanzen, der Staatsbehörden, der Staatsanwaltschaft vor straf- und anderen öffentlichrechtlichen Gerichtsinstanzen, der das "Letzte Wort der Richter" zugleich hervorruft und wesentlich beschränkt - auf jenen Einzelfall, den sie wesentlich entscheiden. Erstes Wort als letztes Wort, Antrag, Einzelfall diese Begriffe beschränken die rechtsprechende Gewalt als eine solche, nur in ihrem Rahmen steht ihr das letzte Wort zu. Von vorneherein ist sie in einen Dialog gestellt mit anderen Staatsgewalten, den antragstellenden Verfassungsorganen, den Instanzen der Administrative und mit all jenen Bürgern, welche sie anrufen. Eine Definition der rechtsprechenden Gewalt aus ihrer "Macht des Beurteilens als solchen" wäre jedenfalls zu weit. Die Gewalt der Frage steht anderen Rechtsträgem und auch Staatsgewalten zu, letzthin all jenen, welche Subjekte des Rechts und von diesem mit rechtlichen Befugnissen ausgestattet sind. Nur das Recht der letzten Antwort kommt dem Richter zu. Daraus ergibt sich also eine Relativierung der richterlichen "Macht des Letzten Wortes" - gerade sie aber könnte nun Element einer Definition der Gerichtsbarkeit sein, im Rahmen einer Gewaltenteilung, welche durchaus andere Staatsgewalten und überhaupt Rechtsmächte, wie eben die des Bürgers, außerhalb der Dritten Gewalt anerkennt. Aus Sicht einer Betrachtung der Rechtsmacht, wie sie bei Verfassungsgewalten gefordert ist, darf dann die (einschränkende) Definition der rechtsprechenden Gewalt nicht aus dem Begriff des Einzelfalls als solchem gewonnen werden, sondern aus dem damit verbundenen Begriff der reaktiven, der antwortenden Staatsgewalt - auf Fragen des Rechts, welche andere Gewalten stellen. Letztlich ist es also der Begriff der "reaktiven Gewalt", der die Dritte Gewalt definieren kann, und er charakterisiert ja in der Tat Richtermacht, wo immer sie vorgesehen ist, auch und gerade im angelsächsischen Bereich. c) In diesem Sinn des Rechts zur letzten Rechts-Antwort kommt diese Macht in der Tat den Richtern zu, wenn sie denn gefragt werden. Die Erste Gewalt, das Parlament, gibt Antworten, mehr oder weniger bestimmt, auf künftige mögliche Rechtsfragen, die endgültige Antwort aber steht nicht ihm zu, sondern eben der Dritten Gewalt, welche aus den Rechtsmöglichkeiten die Rechtsentscheidung werden lässt. Die Verwaltung mag in zahllosen Fällen das letzte Wort behalten, dies ist wiederum nur Ergebnis der Entscheidung einer anderen Instanz, welche hier gewissermaßen die klassischen Verfassungsgewalten voneinander abgrenzt: die irgend eines Rechts4 Leisner

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trägers, welcher gegen Administrativentscheidungen den Richter nicht anruft. Die sogenannte Richterliche Gewalt ist also, so verstanden, nicht zu bestimmen als eine spezifische Gewalt im Konzert lediglich mit zwei anderen Verfassungsgewalten; sie übt vielmehr Staatsgewalt aus im Dialog von Frage und Antwort zwischen Rechtsträgem, indem sie eine letzte Antwort gibt im Einzelfall, indem sie die vorläufigen Ordnungsentscheidungen der gesetzgebenden wie der administrativen Gewalt in begrenzte, aber endgültige Erkenntnisse verwandelt. So scheint also doch der Begriff der Endgültigkeit, dem als solchem, wie dargelegt, im Recht zentrale Bedeutung zukommt, Ausgangspunkt für eine klare funktionale Bestimmung der rechtsprechenden Gewalt zu sein jedenfalls einer rechtsprechenden Funktion, bei der allerdings noch geklärt werden muss, ob sie die Eigenschaften einer "Staatsgewalt" besitzt, welche sich mit den jener Ersten und Zweiten Gewalt vergleichen lassen, von denen der Gewaltbegriff einst ausgegangen ist.

2. Die Unabänderlichkeit der EntscheidungRichten für die Vergangenheit Eine erste und wichtige Einschränkung des Begriffs des richterlichen "Letzten Wortes" wurde vorstehend darin gefunden, dass dieses immer nur ein "Wort der Antwort" sein kann. Eine weitere, in ihrer Bedeutung durchaus vergleichbare Relativierung erfährt der Begriff des "letzten Wortes des Richters" aus der typisch richterlichen Wirkung der Entscheidung: für eine Vergangenheit allein, über die eben der Richter "seine Akten schließt". Angemerkt sei im Rahmen dieser allgemeinen Betrachtung eines vorweg: Wenn im Folgenden von einem einheitlichen Begriff der rechtsprechenden Gewalt der Richter ausgegangen wird, so geschieht dies zunächst einmal in Unterstellung einer organisationsrechtlichen Einheit der Judikative, welche im Sinne der Pyramide all ihrer Instanzen verstanden wird. Dass also einem bestimmten Urteil Vorläufigkeit darin zukommt, dass es von höherer Instanz aufgehoben werden kann, soll im vorliegenden Zusammenhang nicht als für das Wesen dieser Staatsgewalt bedeutsam betrachtet werden, mag auch später, bei einer gewaltspezifischen Wertung, dieser Überlegung Gewicht zukommen. a) Jenes letzte Wort der Richter, das wie ausgeführt, nur eine Antwort auf Rechtsfragen darstellt, welche andere Rechtsträger und Staatsgewalten stellen, schließt seinem Wesen nach lediglich rechts-feststellend die Vergangenheit ab. Für eine Ordnung der Zukunft hat es nur insoweit Bedeutung, als diese auf vergangenen Lagen aufbaut und in ihr weiter davon ausgegan-

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gen werden muss, die vom Richter bestimmte und abgegrenzte Vergangenheit sei so gewesen und nicht anders. Dies ist der Sinn der Rechtskraft, welcher klarer noch im Begriff der res iudicata zum Ausdruck kommt - in jenem sprachlichen Perfekt, welches einerseits abgeschlossene Tatbestände bezeichnet, zugleich aber auch solche, welche weiterwirken, immer jedoch nur mit der Macht der Vergangenheit, einer Richterlichen Gewalt, eben darin und nur auf solche Weise in die Zukunft hinein wirkt. Eine Sprachkategorie des Futur kennt die Gerichtsbarkeit nur insoweit, als sie anordnet, was in der Vergangenheit rechtlich gegolten und sich entwickelt habe, müsse nun auch in der Gegenwart realisiert werden, damit es als solches in die Zukunft wirke. Darin zeigt sich, dass der Gerichtsbarkeit nun wirklich ein "Letztes Wort" zusteht, eine Entscheidung eben, welche der Vergangenheit die ihr zukommende Mächtigkeit zuspricht, der jedoch kein aus dieser zu entwickelndes weiteres "Wort" zugestanden ist. Diese Vergangenheitsdefinition allen Richtens ist bisher, soweit ersichtlich, noch nicht vertiefend betrachtet worden, auch nicht dort, wo die neuerdings wiederentdeckte Problematik "Zeit und Recht" im Mittelpunkt stand. Wenn es etwas im Verfassungs sinne Gewaltkonstituierendes gibt, so ist es, eben für die Dritte Gewalt, diese zeitliche, damit aber auch durchaus beschränkte Dimension. Das letzte Wort ist, das sei schon hier gesagt, damit nicht eo ipso auch das Höchste, mit solcher Kraft weiterwirkende, sondern zuallererst das "Letzte" in zeitlicher Hinsicht. Seine Mächtigkeit reicht nur soweit, wie eine Ordnung der Zukunft auf dieser Vergangenheit aufbaut, nur über sie, durch sie kanalisiert zukünftig wirkt. In diesem Sinne ist funktional gesehen Gerichtsbarkeit eine wirkliche Rechts-Gewalt - aber eben nur eine Gewalt aus der Vergangenheit. b) Das Urteil des Richters bedeutet daher nur eines: Es war so von Rechts wegen, nicht: Es wird weiter so sein, es muss so sein, so und nicht anders befiehlt es die Rechtsordnung. In dieser Entscheidung liegt sogar etwas von einem "es ist gerade noch so", in jenem Augenblick eben, der für alles richterliche Urteilen entscheidend ist: gerade noch im Moment der Entscheidung. Man mag darin vielleicht sogar ein für das Recht dogmatisch Typisches erkennen: das rechtliche Ordnen als etwas wesentlich Gegenwärtiges, die Richterliche Gewalt dann nicht so sehr als eine solche "für die Vergangenheit", als welche sie soeben erschien, sondern als die eigentliche Gegenwartsgewalt eines Rechts, das seinerseits die Zeit nicht kennt, nur in einer zeitlosen Gegenwart lebt und sich entfaltet. Hier nun öffnet sich ein tiefer Unterschied, ein geistiger Graben geradezu zwischen einer faktisch-ablaufenden geschichtlichen Betrachtung und jener des zeitlos Rechtlichen: Für Erstere ist die Gegenwart ein Nichts, ein nur gedachter Augenblick zwischen Vergangenheit und Zukunft, welche in4*

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einander übergreifen. Eigenart, aber auch geistige Kraft des Rechtes zeigt sich demgegenüber darin, dass es diesen Augenblick im Richterspruch, genauer mit dem Eintritt seiner endgültigen Rechtskraft festhält, verewigt, unwiderruflich werden lässt, das rechtlich Entschiedene damit den Strömen der Zeit und ihrer Wandlungen endgültig entzieht. Der in der Rechtstheorie oft beschworene "logische Augenblick", der für rechtliche Betrachtungen und Gestaltung so wichtig werden kann, wächst hier, so mag es scheinen, zu geradezu konstituierender Kraft einer Verfassungsgewalt empor - die aber eben auch nur und gerade darin wirksam ist. Diese Gerichtsbarkeit, die wesentlich antwortende Gewalt, bedeutet für die fragenden Rechtsträgern und Gewalten nur eines: dass sie für alle Zukunft von dieser durch sie festgestellten Gegenwart auszugehen haben, welche die Vergangenheit abschließt. Gegenwartsgewalt mag also das dogmatische Wesen des Richterspruchs bedeuten - aus der Sicht einer Ablaufbetrachtung, welche der Richter als solche ja nicht rechtlich ausschließen kann, ist aber diese präsente Mächtigkeit doch nichts anderes als eine abgeschlossene Vergangenheit, nicht eine zeitlose, unendlich fortdauernde Gegenwart. Der Richter gibt den fragenden Gewalten nur eine Antwort: Sie sollen für alle Zukunft von einer bestimmten Rechtslage ausgehen, aber diese ist als solche in den ganzen, großen Prozess des Werdens und Vergehens geworfen, darin relativiert und irgendwann dem allmächtigen Vergessen unterworfen. c) Nun stellt sich aber einer vertiefenden Betrachtung Richterlicher Gewalt eine grundsätzliche, nicht leichte und bisher wenig beachtete Frage: wie es diese rechtliche Dogmatik denn halte mit dem Recht als einer Sollensordnung? Als eine solche tritt es doch, und nicht nur in der Theorie eines Kelsen, der Seinsordnung gegenüber, und selbst jene Rechtssoziologie, welche die Kluft zwischen Sein und Sollen zu überwinden trachtet, muss diese beiden Welten als polare Ausgangspunkte ihrer Betrachtung unterstellen. Dieses Sollen aber ist, wie immer man es im Einzelnen bestimmen mag, eines sicher: wesentlich zukunftszugewandt, nicht rückwärts in die Vergangenheit gerichtet oder auch nur begrifflich aus dieser heraus wirkend. Es beginnt mit einer bestimmten Gegenwart, in welche es gesetzt wird, von der aus es in die Zukunft hinein wirkt, aber seine Macht entfaltet es doch im Wesentlichen pro futuro. Diese Problematik zeigt also eine Richterliche Gewalt, die mit ihren Rechtswirkungen die Vergangenheit abschließt, sich in ihrem Sollens-Befehl auf dessen festigende Weiterwirkung beschränkt - ein Wesen rechtlicher Entscheidung, welches jedoch einem ganz anderen gegenüber steht, mit dessen Hilfe übrigens allein wirksam werden kann: der gesetzlichen Norm, welche dieses selbe Weiterwirken anordnet. Darin erweist sich, dass dieses Gesetz, ohne welches Richterliche Gewalt und alle Rechtskraft ein

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Nullum wären, seinerseits von einer ganz anderen rechtlichen Qualität ist: wesentlich zukunfts zugewandt, nur im Futur überhaupt wirkmächtig. Zugespitzt ausgedrückt: Die richterliche Betrachtung wird immer die eines "Justice est faite" sein, die rechtliche Wirksamkeit der Entscheidung anderer Gewalten, insbesondere der Gesetzgebung dagegen, stets die einer Anordnung des Sollens für die Zukunft; darin allein verleiht dieses Wesen der Gesetzesentscheidung dem Richterspruch erst seine beschränkte, antwortende und vergangenheitszugewandte Mächtigkeit. Rechtliche Betrachtung der Richterlichen Gewalt muss sich also immer bewusst sein, dass sie das Recht zunächst in Statik sieht, als ob es ewig dauere, die Zeit nicht kenne - während doch alles Recht stets als eine Sollensordnung "in die Zukunft gedacht ist", denn anders als zukunfts zugewandt kann man eben den Begriff des Sollens nicht verstehen. Dem Urteil eines "Es ist so" steht eine Ordnung der Ersten und Zweiten Gewalt gegenüber mit ihren "Es sei so" - in Zukunft, bis auf weiteres, bis die Lex posterior neue Anordnungen bringt, wie sie die res iudicata begrifflich nicht kennt. Darin liegt also verüberzeitlichende Kraft und verfestigende Schwäche zugleich einer funktional betrachteten richterlichen Gewalt. d) Diese Relativierung der Richtergewalt darf nun aber ihrerseits nicht nur gesehen werden, als sei alles Recht typisch und ausschließlich "statisch"; sie muss auch gewertet werden mit Blick auf eine zukunftsoffene Dynamik des Rechts der Gesetze, als einer rechtlich möglichen Zukunft. Dann aber zeigt sich, dass die Dritte Gewalt zwei grundsätzlichen Einwänden ausgesetzt ist, welche ihre Wirksamkeit als die einer "Verfassungsgewalt" relativieren könnten: - Zum einen ist die Macht der Richter rechtswesentlich eine rein konservierende, eine konservative Gewalt. Noch so umstürzend mag sie in der Praxis wirken, in Abänderung etwa einer ständigen, bisher festen Judikatur - auch dies geschieht im Namen eines von jeher vom Recht so Gewollten, eines nach seiner Ordnung "an sich, zeitlich, und eben wesentlich für die Vergangenheit Richtigen". Rechtshistorisch oder rechtstatsächlich, aus der Sicht auch politologischer Betrachtung, mag untersucht werden, welches jeweils der Neuerungsgehalt, die progressive Wirkung der Judikatur ist - dies alles bleibt aber letztlich im rechtspolitischen Raum; rechtsdogmatisch ist alles Urteilen der Dritten Gewalt stets und ausschließlich ein konservatives Phänomen. Damit ist es belastet mit einem Vorwurf, der ja von jeher, zunehmend seit dem wilhelminischen Konstitutionalismus, der "Bürgerlichen Richterkaste" gemacht wurde, der sich in der Eigentumsrechtsprechung der Weimarer Zeit verfestigt hat und selbst mit dem Eindringen "progressiver" Elemente in den Personalkörper der Richterschaft in den letzten Jahrzehnten nie überzeugend ausgeräumt werden konnte. Und in einer durch ständige Konfrontation angeblich oder wirklich konservativer und progressiver

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Kräfte geprägten Rechtsentwicklung wiegt ein solcher Vorwurf nicht leicht; zumindest rechtspolitisch gesehen begrenzt er Ansehen, Prestige und damit letztlich eben doch auch Verfassungsgewalt der Richter. - Eine weitere bedeutsame Relativierung verbindet sich gerade in gewaltenteilender Sicht mit dieser Feststellung: Je schneller die bei den anderen Gewalten, insbesondere die der Normgebung, die Rechtsordnung weiterentwickeln, desto mehr gewinnt jene Zukunft des Sollens die Oberhand in der Wirksamkeit des Rechts, welche sich ablöst von den Grundlagen seiner Vergangenheit, und mögen diese auch unabänderlich von der Dritten Gewalt befestigt worden sein. Was sich für die Vergangenheit im Namen der Rechtskraft nicht mehr ändern lässt, kann aber doch zukunftsoffen durch die Lex posterior reformiert, anders gestaltet werden. Damit wird die Macht des Letzten Wortes der Richter in ihrer Wirkung als Staatsgewalt normativ abgeschwächt, unterlaufen, nicht selten gebrochen. Zu wenig ist bisher beachtet worden, dass die Gesetzesflut eine die Gewaltenbalance sicher verschiebende Wirkung zeitigt: Sie relativiert die Effekte der Rechtskraft, schafft immer neue Zukünfte nach immer schwächeren Vergangenheiten des Rechts. Zutreffend sehen also politische Kräfte, welche sich in einer Demokratie als "fortschrittlich" selbst bezeichnen und es vielleicht rechtstatsächlich auch in besonderem Maße sind, ihre eigentliche Entfaltungschance in jener parlamentarischen Gesetzgebung, welche nicht nur in ständigem Dialog der Rechtsanwendung steht mit der Dritten Gewalt, sondern darin deren Macht auch laufend auf eine immer schwächere Vergangenheit beschränken kann. Da die Dynamik dieser Normentwicklung, bis in die Krise des Gesetzes, laufend zunimmt, sieht sich die Richterliche Gewalt, entgegen manchen oberflächlichen Betrachtungen, insgesamt eher auf dem Rückzug, was ja wiederum demokratisch nur legitim sein kann, in einer Ordnung, welche noch nicht zur laufenden, kurzfristigen Volks- oder Abgeordnetenwahl aller Richter übergegangen ist. Erst in der Auflösung des Normenstaates in fortschreitender Gesetzeskrise kann eine solche Bewegung zum Stillstand kommen oder gar sich umkehren, weil eben dann gerade die Dritte Gewalt sich zunehmend berufen fühlt, eine Überdynamik in herkömmliche Ruhe der Rechtsentwicklung zurückzuführen. Der zweiten hier vorausgestellten Relativierung der Richterlichen Gewalt - neben der einer "Macht der Antwort" - in der Erkenntnis des Richterturns als einer "Vergangenheitsgewalt", kommt also jedenfalls, politisch wie dogmatisch, eine wesentliche Bedeutung zu: Selbst wenn darin aber eine eigenständige Staatstätigkeit erkennbar wird, bleibt die weitere Frage, ob hier denn ein echter Verfassungs-Pouvoir wirke, ob er die Bezeichnung einer wahren "Gewalt" verdiene.

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3. Richterliche Gewalt im Dialog mit anderen Rechts-Gewaltträgern a) Der Richterlichen Gewalt ist eine spezifische dogmatische Struktur ihrer Aufgabenerfüllung eigen, welche sich insbesondere aus der eben dargelegten Vergangenheitsorientierung ihrer Entscheidungen ergibt: Sie steht in ständigem Dialog mit anderen Rechts-Mächten, staatlichen Gewaltträgem und Bürgern, welche ihr laufend verbindliche Vorgaben ihrer Entscheidungen liefern. In diesem Sinne ist dies eine echte Dialoggewalt, und sie unterscheidet sich dadurch doch grundsätzlich von Staatsfunktionen, welche in Bereichen der anderen Verfassungsgewalten laufend erfüllt werden. Die Erste Gewalt, das Parlament, mag anhören und diskutieren, sodann aber entscheidet es frei über den Inhalt seiner Normgebung. Nicht nur, dass frühere parlamentarische Entscheidungen hier prinzipiell nicht binden, die gesetzgebende Volksvertretung ist auch grundsätzlich und allenfalls noch in weiten Verfassungsschranken freie Herrin der rechtlichen Zukunft, ihre Entscheidungen werden mit Wirkung für diese in keiner Richtung relativiert, sieht man von eigenartigen und engen Wirkungen eines Bürgervertrauens ab. Dasselbe gilt auch für eine Zweite Gewalt, soweit sie normgebunden ist, darüber hinaus erst recht in ihrer normfreien administrativen Gestaltung. Anders die Dritte Gewalt: Als eine wesentlich rückwärtsgewandte vermag sie auch darin jedenfalls eines nicht zu bewirken: die Änderung der vollendeten Tatsachen, und in die Zukunft gesehen können veränderte gesetzliche und privat-autonome vertragliche Vorgaben die Wirkungen ihrer Rechtsentscheidungen weitestgehend neutralisieren oder gar annullieren für eine Zukunft, von welcher damit andere Instanzen in ihrer Rechtsausübung die Richter abschneiden. Jedenfalls aber findet mit jenen ein ständiger Dialog der Gerichtsbarkeit statt, welche nicht nur wesentlich eine Antwortgewalt, sondern zugleich immer auch die wesentliche Gewalt des rechtlichen Hörens ist, auf vielfache normative und normähnliche Vorgaben. Schon während des gerichtlichen Verfahrens hat diese Richterliche Gewalt laufend Entwicklungen jener tatsächlichen Verhältnisse zu berücksichtigen, auf deren Ordnung ihre Macht gerichtet ist. Was sich tatsächlich erledigt hat, ist es auch im Sinne des Rechts und für den Richter. Er vermag es nicht, wie es immerhin dem Gesetzgeber, ja sogar der Privatautonomie gegeben ist, durch juristische Konstruktionen, bis hin zur Fiktion, für seine Entscheidungen wieder zum Leben zu erwecken; die Fiktion ist eben kein dogmatisches Instrument der Richterlichen Gewalt, jedenfalls nicht in jener Allgemeinheit, mit welcher sie im Bereich der Norm- und Vertragssetzung wirken kann. Der Richter steht in einem ständigen Dialog mit einer insbesondere in der Gegenwart rasch wechselnden Wirklichkeit, und er ist es ja

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nur zu oft zufrieden, wenn sie ihm die Last des Letzten Wortes in tatsächlicher Erledigung abnimmt. Der Begriff der vollendeten Tatsache setzt darin bereits dieser Dritten Gewalt unübersteigbare Schranken. Und diese Vollendung kann sich ja auch noch nach Abschluss des Verfahrens ergeben, dessen Entscheidung im Nachhinein alle rechtliche Wirksamkeit nehmen, allein schon dann, wenn sich die Tatsachenlage, selbst ohne Zutun von Beteiligten, anders entwickelt, als der Richter sie zugrunde legen musste. Dies hat deutlich judikative Auswirkungen schließlich in einer weiteren Fallkonstellation, wenn nämlich eine andere Tatsachenlage nach Eintritt der Rechtskraft die Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigt. Hier gerade zeigt sich die Gerichtsbarkeit als eine Instanz des Dialogs mit vollendeten Tatsachen, welche sie stets nur hinnehmen, rechtlich ratifizieren, nicht mit ihrer Gewalt hervorbringen kann. In diesem Sinne mag also zwar den Richtern das Letzte Wort zukommen, das allerletzte spricht aber doch jene Realität, welche ihnen die Materie ihrer Entscheidungen unwiderruflich vorgibt. In einer viel weitergehenden Weise ist also diese Staatsgewalt tatsachenabhängig, jedenfalls verglichen mit der normgebenden Ersten Gewalt im Staat, und dies findet ja nicht umsonst seinen Niederschlag darin, dass die Trennung von Tatbestand/Sachverhalt und rechtlicher Begründung eine Eigenheit der Judikative, von dieser auf die richterähnlichen Entscheidungen der Zweiten Gewalt übertragen worden ist, während sie im Raum von deren freier Entscheidung sich vergleichbar nicht findet. Gesetzgebungslehre versucht immer wieder, auch das Parlament über richterähnliche Gesetzesbegründungen auf Tatsachenanalyse hin zu verpflichten - zu Recht ist dem die Verfassungsrechtsprechung stets unter Berufung auf eine gesetzgeberische Prognosegewalt entgegengetreten. In dieser kommt eben der wesentlich zukunfts gewandte Charakter der Normsetzung deutlich zum Ausdruck; eine Tatsachenverhaftung, wie sie die Richter in ihrer Gewaltausübung beschränkt, ist dem schlechthin fremd. b) Judikative als eine derart realitätsbegrenzte Gewalt ist aber nur eine Seite der Relativierung dieser Dritten Gewalt durch von ihr zu beachtende Vorgaben. Ihre wesentliche Gesetzesunterworfenheit bedeutet, dass sie noch in einem anderen Sinne in ständigem Dialog mit den beiden übrigen Staatsgewalten steht, ja mit all ihren klagenden oder beklagten Bürgern: Sie geben ihr laufend den rechtlichen Raum ihrer Entscheidung vor, in ihrer Normsetzung, ihren Administrativentscheidungen und ihren privatautonomen Gestaltungen. Die Macht des Letzten Wortes des Richters endet nicht nur dort, wo ihm ausdrücklich eine Frage nicht mehr gestellt wird, sondern auch, wo ihm ein anderer Rechts- oder Machtträger die juristische Grundlage seiner Antwort entzieht, schon vor der Frage, vor der Entscheidung, oder auch nach dieser.

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"Erledigen" kann ein Verfahren weithin eine Gesetzgebung, welche ihm schon für den Augenblick des Richterspruchs die Wirksamkeit durch Normänderung nimmt, oder gar, ausnahmsweise, durch echte Rückwirkung auch auf abgeschlossene Tatbestände. Tritt diese Gesetzesänderung erst nach Rechtskraft ein, bedeutet dies jedenfalls den Verlust jener Präjudizienwirkung für die Zukunft, und damit, wie sich noch zeigen wird, eines wesentlichen Teils politisch-tatsächlicher richterlicher Mächtigkeit, das Ende jedenfalls eines aus solchen Entscheidungen entwickelten Richterrechts. Hinsichtlich dieser Wirkungen ist die Judikative in einen Dialog eingebunden, den sie dann vielleicht auch mit dem neuen Gesetz fortsetzen mag, dieses wiederum im früheren Sinne interpretierend. Vollentscheidungen aber kann sie auch nicht einstweilen treffen, so wie es jedenfalls dem Parlament erlaubt ist, bis der Richter sich in Letztentscheidungen einmischt, in die Wirksamkeit der Gesetzesfolgen. Und diese Macht steht vergleichbar auch einer Verwaltung zu, welche mit ihren Hoheitsakten dem Gegenstand judikativer Machtentscheidung Grenzen setzt, sie verändern kann und zu erledigen vermag. Im Bereich des Zivilrechts und seiner privatautonom zulässigen Gestaltungen kommt schließlich diese Vorgaben-Gewalt auch jenen Privaten zu, mit welchen auf solche Weise der Richter im laufenden Frageund Antwortspiel der Tatbestandsveränderung steht, bis hin zur Erledigung der Sache. Diese Gerichtsbarkeit als Dialoggewalt lässt sich nicht ohne weiteres vergleichen mit jenem rechtlichen Zwiegespräch, wie es letztlich auch zwischen dem Normgeber, dem Normanwender und dem Normbefolger stattfindet. Gewiss wird der Erstere auf Auslegung, Normverständnis und Norrnreaktion der anderen Rechtsträger reagieren und Rücksicht nehmen, gegebenenfalls auf Normveränderungen in der Praxis mit Normänderungen im Parlament antworten. Doch der Ablauf ist hier ein anderer: Die Reaktion der Gesetzgebung ist als solche keine rechtliche Notwendigkeit, durch Normen ist sie nicht in der Weise erzwungen, wie sie dem Richter in seiner Normunterworfenheit geradezu zwingend vorgegeben ist. Jedenfalls einer Ersten Gewalt gegenüber und gegenüber einer Zweiten dort, wo diese nicht in gleicher Weise gesetzesunterworfen tätig wird, zeigt sich daher bei der Judikative als einer rechtlichen Dialoggewalt, gegenüber der Wirklichkeit wie der Rechtssetzung anderer Rechtsträger, eine durchaus eingeschränkte, ihrem Wesen nach ratifizierende Gewaltbeschränktheit. Wenn es anderen Rechtsgewaltträgern eigen ist, dass sie laufend etwas schaffen und ausbauen, was man als die "Welt des Sollens", als das "Reich des Rechts" mit hohen theoretischen Worten bezeichnen könnte, fehlt diese Macht der Gerichtsbarkeit im allgemein-herkömmlichen Sinn durchgehend. Und dies kommt wohl, wenn auch meist unbewusst, darin zum Ausdruck, dass ihr, recht allgemein, die "Macht der Gestaltung" nicht zuerkannt wird. Dieses "rechtliche Gestalten", ein juristisch sicher noch immer unklarer Begriff,

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könnte aber vielleicht in dogmatischer Vertiefung näher erfasst werden, sähe man es, gewissermaßen negativ, aus der Sicht einer lediglich dialogierend ratifizierenden Judikative. 4. Exkurs: Rückwirkung der Gesetze und Gerichtsbarkeit für die Vergangenheit Die Urteile der rechtsprechenden Gewalt schließen, wie dargelegt, mit rechtswirksamer Entscheidung einer bestimmten Gegenwart die Vergangenheit einer Angelegenheit ab. Denn der Richter ist nur an die jeweils für diese Vergangenheit geltenden Gesetze gebunden. Im Übrigen entscheidet der Gesetzgeber für die Zukunft in einer Rechtsordnung, welche, wie die deutsche, Rückwirkung auf abgeschlossene Sachverhalte grundsätzlich ausschließt - und es ist eben gerade Aufgabe der Judikative, diesen Abschluss der Vergangenheit unwiderruflich festzustellen, "echte Rückwirkung" insoweit auszuschließen. Was von diesem Zeitpunkt an dennoch frühere Entscheidungen in ihrer Fortwirkung beeinflusst, etwa einstige Kalkulationen von Investitionen fraglich oder gar hinfällig werden lässt, ist als "unechte Rückwirkung" grundsätzlich zulässig, mag die Verfassungsrechtsprechung hier auch, zur Vermeidung schwerer Vertrauensverluste, eine letzte Abwägung von Interessen der Betroffenen gegenüber denen am Inkrafttreten reformierender Gesetzgebung vorschreiben. In engen Ausnahmefällen kann darüber hinaus der Gesetzgeber mit seinen Anordnungen auf eine Vergangenheit zurückwirken, welche er durch seine Normen selbst als eine abgeschlossene bestimmt, den Richter eben daran gebunden und ihm die Aufgabe gesetzt hat, diese endgültige Beendigung des Vergangenen dann auch rechtskräftig festzustellen. Im Rahmen dieser "echten Rückwirkung", der Rückanknüpfung von Rechtswirkungen an abgeschlossen-vergangene Sachverhalten, wird aber die Dritte Gewalt dennoch nicht aus der Zukunft heraus oder gar für diese retroaktiv tätig. Der Gesetzgeber war es ja in diesen Fällen, welcher die Vergangenheit rechtlich umgestaltet hat. Gewiss ist dies durch etwas geschehen wie eine rechtliche Fiktion, im Namen eben jener juristischen Qualifikationsmacht, welche zwar Tatsachen nicht ändern, aber aus ihnen abzuleitende Rechtsfolgen in weitgehender Freiheit bestimmen kann. Und da es der Richter ist, welcher nicht etwa Realitäten gestaltet, sondern aus ihnen Rechtsfolgen gewinnt, kann die Dritte Gewalt durch die Rechtsordnung der Gesetze auch daran gebunden sein; die Abschlussentscheidung der Vergangenheit, welche der Gesetzgeber trifft, muss sie hinnehmen. Denn auch insoweit steht ihr ja nur ein Letztes Wort zu, welches das qualifizierende Wort des Gesetzgebers verendgültigt. Die Bedeutung des Letzten Wortes des Richters ändert sich durch solche Rückwirkung, aus der Sicht einer möglichen Definition dieser

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Gewalt, keineswegs; auch echte Rückwirkung von Normen tut seiner nur für die Vergangenheit geltenden Abschlussrnacht keinen Abbruch. In der Vergangenheit und für sie galt dann in einem solchen Fall eben - und gilt auch - was als Recht erst in der Zukunft gesetzt wurde, aber für die Vergangenheit. Diese Gestaltungsmacht steht dem Gesetzgeber zu, sie greift als solche in die Richterliche Gewalt begrifflich nicht ein. Rechtsprechende Gewalt bestimmt sich also zwar aus dem Begriff eines Letzten Wortes, das in Antwort auf Rechtsfragen eine Vergangenheit unwiderruflich abschließt. Diese Antworten ergehen aber aufgrund von Gesetzen, welche früher oder später ergangen sein können. Zu trennen sind streng die Fragen: Wann wird eine Norm gesetzt? und: Ab wann soll sie wirken? Der Richter überlässt beide Antworten dem Gesetzgeber, welcher sie, in den engen Verfassungs grenzen der echten Rückwirkung, eben auch unterschiedlich beantworten kann. Ihm ist die Antwort auf die Frage nach dem Zeitpunkt der Setzung grundsätzlich gleichgültig, wenn die Voraussetzungen echter Rückwirkung gegeben sind; auch die zweite Frage nach dem Eintritt der Rechtswirkungen der Norm ist für ihn bindend durch den Gesetzgeber entschieden. Erst auf dieser ihm vorgegebenen Grundlage ergeht sein Letztes Wort - mit Wirkungen für eine abgeschlossene Vergangenheit, die als solche zu definieren Aufgabe der Ersten Gewalt ist. Daraus ergibt sich: Die Rückwirkungsdogmatik, ihre Unterscheidungen und immer feineren Ausformungen laufen grundsätzlich an der Problematik einer Begriffsbestimmung der Dritten Gewalt vorbei. Was "Vergangenheit" ist, bleibt dieser vorgegeben durch Verfassung und Gesetzgebung, daran erst schließt sich dann das Letzte Richterwort in seiner Unabänderlichkeit an. 5. Die Verfassungsgerichtsbarkeit - eine neue Dimension Richterlicher Gewalt Nachdem es nun immerhin gelungen ist, ein wesentliches Begriffselement für die Definition einer Dritten Gewalt aufzufinden, mag es auch als solches vielfachen Relativierungen unterliegen, stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob dieses Letzte Wort der Richter durch jene Entwicklung neuerer Zeit, welche zur Verfassungs gerichtsbarkeit geführt hat, nur einfach bestätigt worden ist, ausgedehnt vielleicht auf neue Entscheidungsmaterien oder ob sich eben darin etwas zeigt wie eine wahrhaft neue Dimension der Gerichtsbarkeit als solcher, vor allem auch als einer echten Verfassungs gewalt. Dies könnte dann auch dogmatische Auswirkungen zeitigen auf den Begriff des gerichtlichen Urteilens überhaupt. Immerhin war es ja, wie bereits dargestellt, gerade die Entwicklung dieser Form rechtsprechender Gewalt, welche die Frage nach einem Richterstaat und damit nach dem

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

Hinaufwachsen der Dritten Gewalt in eine Verfassungshöhe vor kurzem eindrucksvoll gestellt hat; und nachdem die Normstufe der Verfassung insgesamt doch etwas hervorgebracht hat wie ein "Neu es Öffentliches Recht", könnte wohl angenommen werden, dass in der Verfassungsgerichtsbarkeit etwas entstanden sei wie eine neue Richterliche Gewalt. a) Eine Untersuchung dieser Problematik hat auszugehen von den beiden Komplexen richterlichen Entscheidens, welche heute, meist allzu leichthin und ohne hinreichende dogmatische Vertiefung, im Begriff einer einheitlichen Verfassungs gerichtsbarkeit zusammengefasst werden: Die hier zu untersuchende Frage muss für Staatsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle getrennt in den Blick genommen werden. Der heute bereits klassische Begriff der Staatsgerichtsbarkeit, mit seinen Zentren des Bund-Länder-Streites und der Organstreitigkeiten, bietet auf den ersten Blick das Bild herkömmlicher gerichtlicher Entscheidung rechtlicher Kontroversen in Einzelfällen. Hier gibt es Kläger und Beklagte, an den Richter werden Fragen zu einer konkreten Normanwendung, eben der Verfassung, gestellt, als gehe es um Meinungsverschiedenheiten zwischen Vorstand und Aufsichtsrat oder zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft. Auf den ersten Blick ist hier nichts zu entdecken, was für eine besondere, neue Qualität staats gerichtlichen Urteilens als Ausübung einer speziellen, höchsten Verfassungsgewalt sprechen könnte. Auch hier ist es jener Einzelfall, in welchem eine vom Richter abzuschließende, von der Verfassung normativ bereits abgeschlossene Vergangenheit verendgültigt wird. Und doch ist bereits in dieser Staatsgerichtsbarkeit eine neue, weitere Dimension des Richtens angelegt. Wenn ein Land sich gegen den Oberstaat wendet, weil es ihm Gesetzgebungs- oder Verordnungs kompetenzen grundsätzlich bestreiten will, auch wenn dies nicht im Rahmen einer Normenkontrolle erfolgt, so gehen eben die Auswirkungen hier weit über einen Einzelfall hinaus, der als solcher bereits eine oft sehr weitgefasste Globalität in der Zukunft wirkender Entscheidungen beinhaltet. Greift eine Parlamentsgruppierung, Regierungskoalition oder Opposition, über Organstreitigkeit ein Staatsoberhaupt an, um es zur Ausfertigung eines Gesetzes zu zwingen oder ihm eine solche zu untersagen, so reichen wiederum die Wirkungen dieser Entscheidung unmittelbar hinein in den Bereich einer Gesetzgebung, welche für die Zukunft wirkt; der "damit abgeschlossene Sachverhalt" der Meinungsverschiedenheit über eine konkrete Unterschrift ist nur ein Anlassfall, er beschreibt, begrenzt, ja betrifft die eigentliche Rechtswirkung der Entscheidung nicht. Läuft ein Verfahren auf Verbot einer politischen Partei vor der Staatsgerichtsbarkeit ab, so geht es zwar ebenfalls, äußerlich betrachtet, lediglich um die Verfassungsmäßigkeit des Handeins einer bestimmten Bürgergruppierung bis zu einem durch das Verfassungsurteil festgelegten Zeitpunkt. Doch auch dies wirkt sogleich in die politische Zukunft

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der Gesetzgebung, der Staatspolitik überhaupt, bedeutsam hinein, im Ergebnis damit in eine unabsehbare Zukunft. Gewiss lässt sich Derartiges auch für ein Zivilurteil behaupten, welches einen Vorstand in seiner Zusammensetzung und seinen Rechten bestätigt, damit heute gerichtlich abgeschlossene Vergangenheit zu laufender gesellschaftsrechtlicher Wirksamkeit steigert. Doch gerade diese Beispiele zeigen auch die Besonderheit der Staatsgerichtsbarkeit eben als einer Verfassungsgerichtsbarkeit, in der Anwendung "ganz anderer Normen", als es die eines gesellschaftsrechtlichen einfachen Gesetzes oder gar einer privatrechtlichen Satzung sein können: Mit diesen letzteren Entscheidungen steht die Gerichtsbarkeit, mag sie auch für eine punktuelle Gegenwart entschieden haben, in jenem ständigen Dialog mit anderen Gewalten und sogar Rechtsträgern, welche für die Zukunft nahezu alles und jedes ändern können, worauf sich die Richterliche Gewalt in ihrem Abschluss einer Vergangenheit gestützt hat - eben die "einfache Rechtslage" der Gesetze, der Verordnungen oder gar der privatautonomen Gestaltungen. Völlig anders stellt sich die Situation im Falle der Staatsgerichtsbarkeit dar. Nicht nur, dass das "politische Gewicht" von deren Entscheidungen ein "ganz anderes", ein eben über die Allgemeinheit der hiermit bestimmten Kompetenzen flächendeckend auf die Staatsordnung wirkendes ist. Vor allem ist diese staatsgerichtliche Entscheidung, welche sich ja sogar in einem sodann mit (Verfassungs-)Gesetzeskraft wirkenden Satz zusammenfassen lässt, als solche gesetzesgleich alle Behörden und Bürger bindet, "Anwendung" von Normen, die sich eben nicht mit solcher Leichtigkeit verändern lassen, wie etwa im Falle gesellschaftsrechtlich-zivilistischer Richteraussprüche. Aus der erschwerten Änderbarkeit der Verfassung, welche hier bereits der vom Richter zu konkretisierenden Normlage als solcher eine gewisse Endgültigkeit verleiht, erwächst eine neue Dimension der Endgültigkeit auch des konkretisierenden Richterworts. Es gilt eben, solang die von ihm angewendete Rechtsnorm Bestand hat, und dies ist politisch-faktisch, wie eben auch nun mit dogmatisch-rechtsgrundsätzlicher Auswirkung, eine prinzipiell unbegrenzte Zukunft. Damit wirkt das Wort der staatsgerichtlichen Exekutive in die Zukunft hinein, als sei es ein Wort des Verfassunggebers, als werde hier ein Gesetz erlassen - und noch nicht einmal ein einfaches, sondern ein solches, welches alle nachgeordneten, nicht verfassungsrechtlichen Normen bricht. Dogmatisch betrachtet mag eine so eröffnete richterliche Zukunftsdimension, eine wahrhaft normgleiche Rechtsetzungsmacht, lediglich als faktisches Ergebnis nur politisch bedingter erschwerter Abänderbarkeit der Verfassung betrachtet werden. Hier aber ist denn doch ein Punkt erreicht, wenn es ihn je fassbar geben kann, in welchem die Normative Kraft des Faktischen nicht nur deutlich wirksam, sondern auch rechtlich fassbar und -

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eben auf die Ebene der Verfassungsnormen - eingrenzbar wird. Die in einer parlamentarischen Demokratie erschwerte Abänderbarkeit der Verfassung, welche eine höhere Mehrheit, etwa von zwei Drittel der Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaft, zur Änderung der Verfassungslage verlangt, bringt mehr als eine nur politisch relevante Unterscheidung in die staatliche Normgebung. Es ist letztlich eben doch ein anderes politisches, damit auch verfassungsrechtliches - ein anderes juristisches Regime, in welchem man sich bewegt, wenn eine solche Verfassungsänderung in wahrhaft kontroversen, politisch gewichtigen und nicht nur klärend-randkorrigierenden Fragen möglich werden soll. Damit ist also bereits in der Staatsgerichtsbarkeit dem Letzten Richterwort eine neue Dimension eröffnet; und noch deutlicher zeigt sich dies, wird Verfassungsgerichtsbarkeit in allgemeinere Normenkontrolle hinein erweitert. b) Ist einer gerichtlichen Instanz die Befugnis zuerkannt, bestimmten Äußerungen der Ersten Gewalt die Rechtswirksamkeit zu versagen, so liegt in einem solchen Letzten Wort nicht mehr die Entscheidung eines Einzelfalles. Seinem Wesen nach kann die gesetzliche Norm, welche für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen gelten will und dies ganz wesentlich für eine unabsehbare, jedenfalls meist nicht definierte Zukunft, nicht als ein "Einzelfall" angesehen werden. Der Gegenstand bereits des richterlichen, unwiderruflichen Entscheidens ist seinem Wesen nach gar nicht abschließ bar, auf eine wie immer zu bestimmende Vergangenheit in seinen Auswirkungen nicht zu beschränken. Morgen wird diese Entscheidung genauso, gesetzeslegitimierend, gesetzesflankierend, normbestätigend "zusammen mit dem für verfassungsmäßig erklärten Gesetz angewendet", wie umgekehrt, im Falle der Verfassungswidrigkeit, dessen Normen schlechthin außer Kraft treten. Im ersteren Fall hat die Dritte Gewalt das Gesetz bestätigt, es erst durch ihr Letztes Wort auch völlig unwiderruflich werden lassen - vor dieser Entscheidung ist dies nichts anderes als eine vorläufige Normsetzung unter dem Vorbehalt anderer, auch verfassungsrichterlicher - pro futuro. c) Auch Instanzgerichte können eine Art von Verfassungsgerichtsbarkeit ausüben, wenn ihnen das Recht der bestätigenden Anwendung oder auch der verwerfenden Nichtanwendung von Normen im Einzelfall zusteht. Für niederrangiges Recht gilt dies in Deutschland, für alle im Rang unter der Bundesverfassung stehenden Normen etwa in den Vereinigten Staaten. Spätestens bei Nichtanwendung eines Gesetzes durch die höchste Gerichtsinstanz verliert es dort, über die Präjudizienwirkung, seine Geltung; in Deutschland wird die betreffende Verordnung ebenfalls rechtsunwirksam, denn jeder Anwendungsversuch wird am Ende an der erneuten Nichtanwendung durch die oberste Instanz scheitern. Dass diese zwischenzeitlich ihre Rechtsauffassung ändern könnte, unterscheidet diese "Verfassungsgerichts-

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barkeit durch Nichtanwendung im Einzelfall" im Ergebnis nicht von der normkassierenden Verfassungsjudikatur - auch sie könnte ja - theoretisch im Verlauf eines erneuten Verfahrens über ein bereits kassiertes, von hartnäckigen Staatsinstanzen aber dennoch angewendetes Gesetzes, auf ein anderes Verfassungsverständnis einschwenken. Nichtanwendungserlasse der Verwaltung gegen Nichtanwendung von Normen können ebenfalls den Eintritt von deren Rechtsunwirksamkeit allenfalls verzögern. Auch von diesen Formen "indirekter Normenkontrolle" gehen also die gleichen paralegislativen Rechtswirkungen aus - wenn auch oft mit zeitlicher Verzögerung - wie von der Judikatur der Verfassungsgerichte, welche übrigens auch gegen solche Entscheidungen wieder im Wege der Urteilsverfassungsbeschwerde angerufen werden können. In dieser Sicht stellt sich also auch das Normverwerfungsrecht als eine Grundentscheidung zur Gewaltenteilung dar, welche die Gerichtsbarkeit nicht nur gegenüber der Legislative aufwertet, sondern die dogmatische Abgrenzung der beiden Staatsgewalten erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Zu Recht ist daher gerade für dieses amerikanische Nichtanwendungssystem einst das Wort vom Gouvernement des Juges geprägt worden. Verfassungsgerichtsbarkeit als paragesetzgeberische oder gar überlegislative Gewalt oder auch nur als Verwerfungsrecht von Normen - mit beiden Befugnissen treten Richter als Gewalt in einer eigenartigen Funktion neben die des Gesetzgebers, in einer Weise, die sich mit den herkömmlichen Vorstellungen von der Gewaltenteilung nur schwer bewältigen lässt und bisher als solche in ihrer Problematik gar nicht voll erfasst worden ist. Hier treten nicht nur Abgrenzungsschwierigkeiten auf, will man bei der herkömmlichen Vorstellung von einer horizontalen, also irgendwie doch gleichordnend/unterscheidenden Gewaltenteilung stehen bleiben. Es stellt sich sogar die Frage: Verfassungs gerichte als souveräne Verfassungs gewalt?

6. Die Gerichtsbarkeit: in ihrem "Letzten Wort" Verfassungssouverän? Eine dezisionistische Betrachtung a) Das Letzte Wort steht nicht nur zeitlich betrachtet am Ende staatlicher Machtäußerungen in einem bestimmten Bereich; es könnte damit zugleich Ausdruck der höchsten Entscheidungsgewalt werden, eine Anordnung, über welcher keine andere Befehlsmacht mehr rechtlich vorstellbar ist. Gerade im Bereich der Judikative wird dies herkömmlich und in besonderer Weise deutlich: die Entscheidungen der höchsten Instanz sind endgültig, die formale Rechtskraft bedeutet vor allem, dass dagegen Berufung zu keiner anderen Instanz mehr stattfinden kann. Bisher wurde das richterliche Wort nur in seinem zeitlich abschließenden Charakter als ein typisches Definitionsmerkmal gerade der Judikative be-

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trachtet. In einem rechtlichen Denken, das, wie bereits angedeutet, wesentlich außerhalb der Zeitdimension angesiedelt ist, verwandelt sich jedoch diese zeitliche Punktualität gewissermaßen in eine dogmatische Vertikale, in einer pyramidalen Vorstellung von Mächtigkeit, in welcher die Unanfechtbarkeit einer bestimmten Entscheidung zählt. Und dies selbe Kriterium drängt sich ja auch bei einer im herkömmlichen Sinn politischen Beurteilung auf, welche eben auch das Letzte Wort als das höchste begreift. b) Eine solche "Theorie der Letztentscheidung als Höchstentscheidung" könnte, je nach der Funktion der einzelnen Gerichtsbarkeiten, auf sie alle grundsätzlich angewendet werden: Auch letztentscheidende Instanzgerichte schließen jedenfalls ihre kleine Vergangenheit des Einzelfalles in solcher Weise ab, mit Wirkungen, welche keine noch höhere Macht im Staat als solche mehr beseitigen oder auch nur verändern kann. In einem viel weiteren Sinn gilt das jedoch überall dort, wo die Dimension der Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere in der Normenkontrolle, erreicht wird: dann ist wirklich keine andere Gewalt auf Erden mehr vorstellbar, welche das Ordnungswort der Judikative gestern, heute oder in aller Zukunft beseitigen oder abändern dürfte. Soweit der Richter hier in echter Normgebung wirkt, wie bei jeder normkassierenden, normverwerfenden, aber auch in jeder gesetzesorientierenden Entscheidung, ist das Verfassungsgericht nicht nur der letzte, sondern der höchste Normgeber. Damit aber wird es, mit der alles Recht setzenden, konkretisierenden und beherrschenden Gesetzgebungsgewalt ausgestattet, zur höchsten Staatsgewalt schlechthin. Erstaunlich ist, dass dies zwar in der rechtsdogmatischen Erörterung um die Verfassungsgerichtsbarkeit nirgends auch nur ansatzweise im Grundsatz bestritten wird, dass es jedoch weder mit diesen Denkkategorien noch mit denen politologischer Betrachtungsweise bisher vertieft und in seiner regimeprägenden Bedeutung näher ausgefaltet worden ist. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit wie die deutsche, welcher sogar die allerhöchste Macht gegeben - besser von ihr selbst sich zugeschrieben worden - ist, auch noch originäre Verfassunggebung an ewig geltenden Normen zu messen, sie ist nun wirklich nicht nur die allerletzte, sondern die allerhöchste Staatsgewalt schlechthin. Hier muss das Wort vom Gouvernement des Juges wahrhaft über die Staatlichkeit als solche geschrieben werden, und es bedeutet weit mehr als eine "Regierungsgewalt", welche doch, in einem herkömmlichen Denken in Gewaltteilungskategorien, keineswegs als allerhöchste gedacht ist. Mag sein, dass man dieser Gerichtsbarkeit ursprünglich zwar eine hohe, aber doch nur eine Macht von der Art zuerkennen wollte, wie sie gegen Mitte des 20. Jahrhunderts, gewaltenteilend vorstellbar erschien - man hat ihr aber in Wahrheit die fürstliche Vollgewalt des Absolutismus im Sinne des Ancien Regime übertragen. Etwas von diesem Absolutismus hat in der

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verfassungsgerichtlichen Judikative eine eigenartige Staatsrenaissance zwar nicht gefeiert, aber in der typisch stillen Weise des Rechts gefunden jedenfalls im Lichte dogmatischer Rechtskategorien betrachtet. Dass es verfassungspolitisch nicht vertieft, nicht in seiner ganzen letztlich doch wahrhaft spektakulären Bedeutung betont worden ist, mag den Grund der politischen Vorsicht für sich haben: Nur indirekt demokratisch legitimierte Richter, Juristen, Legisten der Macht ihrer Herkunft nach, scheuen verständlicher Weise den frontalen Zusammenstoß mit dem unruhigen, bis zur Revolution stets virtuell gewalttätigen Volkssouverän und seinen ihm darin nur wenig nachstehenden Vertretern. Dass also diese Höchst-Macht weder voll ausgenützt noch auch, gerade wegen dieses Fehlens von Anlassfällen, voll dogmatisiert worden ist, spricht keineswegs gegen ihre wahrhaft souverän sich darstellende mögliche Wirksamkeit. Dem lässt sich nicht einmal überzeugend entgegenhalten, ihr fehle doch die gestalterische Weite positiver gesetzlicher Ordnungsrnacht in der Gemeinschaft, sie könne immer nur Bedenken äußern, randkorrigieren, allenfalls noch voll kassieren. Selbst diese Fonnen judikativer, negativer höchster Nonnsetzung könnten an sich ohne weiteres verdichtet werden, in einer systematisch-flächendeckenden Entscheidungspraxis, welche den anderen Staatsgewalten nur mehr die gestaltende Ratifizierung dessen übrig lässt, was die Verfassungsrichter noch nicht als verfassungswidrig kritisiert haben. Gerade im Falle des amerikanischen New Deal ist es zu einem derartigen frontalen Zusammenstoß zwischen dem Obersten Gerichtshof und dem Präsidenten gekommen. Seit überdies die Verfassungsgerichtsbarkeit gerade in Deutschland zu positiven Orientierungsentscheidungen übergeht, offen also die Alternativen aufzeigt, welche sie noch als verfassungskonfonn anzusehen bereit ist, verändert sich der gesetzgeberische Gestaltungsraum in vielen und gerade grundsätzlichen Fällen derart, dass den Vertretern des souveränen Volkes nichts anderes mehr übrig bleibt, als einen rechtlich vorgezeichneten Weg zu gehen. Die Weite der grundrechtlichen Imperative und der organisationsrechtlichen Grundsätze, wie etwa der Rechtsstaatlichkeit, setzen hier der Verfassungsgerichtsbarkeit dogmatisch-theoretisch kaum mehr fassbare Schranken, mögen solche auch in der politischen Praxis noch bestehen. Nicht einmal in dieser Praxis wirken diese Grenzen übrigens, soweit die Richter nur eines venneiden: Entscheidungen gegen weitverbreitete oder tief im Denken der Gemeinschaft verankerte Überzeugungen, etwa religiöser Art. Dies aber ist bereits jenem faktischen Bereich zuzuordnen, der zwar ausnahmsweise in rechtliche Wirksamkeit hinaufwachsen kann, die organisationsrechtliche Höchstgewalt der Verfassungsauguren aber nicht wesentlich einzuschränken vennag. In "reinen Rechtskategorien betrachtet" ist also diese Macht wirklich souverän im freiheitlichen Rechtsstaat. 5 Leisner

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c) Man mag dies nun als ein verfassungstheoretisches Ergebnis sehen, gerade als ein solches darf, muss es sogar in Verbindung gebracht werden mit jener Normtheorie, für welche das Letzte Wort eben schon in einer gewissermaßen vorjudikativen Zeit von Weimar auch das Höchste war, rechtlich wie politisch: den Dezisionismus. Carl Schmitt hat gelehrt - und darin ist er bis heute unwidersprochen geblieben - souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide. Dies wurde zwar alsbald verbreitert in einer Weise, welche einen entscheidungsförmigen Wirkungsgehalt in allen Verfassungsnormen aufzuspüren versuchte und nach diesem Kriterium ihre Bedeutung im Gesamtzusammenhang einer Verfassungsordnung gewichtete. In diesem Sinne ist der Dezisionismus eine Wirkungslehre des Verfassungsrechts stets gewesen, hat als solche auch die faktischen Effekte der normativen Mächtigkeiten einbezogen und konnte darin auch politologische Betrachtung orientieren. Entscheidend blieb aber stets die Frage nach jenem höchsten, Letzten Wort, welches der Souverän im Ausnahmezustand sprechen durfte, ja zu sprechen hatte. Die Souveränitätsfrage nach der höchsten Gewalt im Staat, welche seit Hegel zugleich die nach der höchsten rechtlichen Macht schlechthin war, verfolgte wie ein Menetekel gerade das deutsche Staatsrecht und seine Allgemeine Staatslehre; denn diese Souveränität war damals, noch in Weimarer Zeit und der darauffolgenden Epoche, ein gutes, fleißig gesuchtes und definiertes Wort, bis es nach dem Zweiten Weltkrieg langsam aber sicher der Abwertung durch Supranationalität verfiel. Damit war eine Entwicklung eingeleitet, welche nicht nur den Dezisionismus grundsätzlich zurückdrängte, ihn weithin dem Vergessen überließ; es wurde auch die Frage nach der souveränen Macht der eben neu geschaffenen Verfassungsgerichtsbarkeit aus diesem Grunde wohl nicht mehr in voller Klarheit gestellt. Sollte gerade diese Instanz, welche doch als letzter Hort der Bürgerfreiheit gedacht war, Ausdruck einer höchsten, gar nicht mehr beschränkbaren staatlichen Mächtigkeit sein? Folgerichtig verbreitete sich dogmatisches Stillschweigen um die letzten Konsequenzen des Letzten Wortes der Verfassungsrichter und damit der Richter überhaupt. Nachdem sie in freiheitlicher Linientreue insgesamt ihre eben erwähnte wahrhaft souveräne Macht flächendeckend nie einsetzen, gab es eben nicht jene Fälle, von denen eine vertiefende und dann auch kritische Betrachtung solcher Rechtssouveränität ihren Ausgang hätte nehmen können. Verfassungsrichter, Richter überhaupt blieben weithin die leisen, wenn nicht geradezu stummen Inhaber souveräner Gewalt, das Wort Souveränität wurde von ihnen als das Letzte im Ausnahmezustand nicht gesprochen. Dabei war doch, in den rechtlich turbulenten Sechziger Jahren mit der Notstandsverfassung, noch einmal die juristische Frage des Ausnahmezustands im Sinne von Carl Schmitt deutlich gestellt worden, als eben staatliche Souveränität in das

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bisher besetzte Deutschland wieder zurückkehrte. Nach der Wiedervereinigung, als dies nun endlich in vollem Sinne anzunehmen war, stellte sich die Frage nach einem solchen Ausnahmezustand bereits nicht mehr, schien er doch in neuer Supranationalität geregelt, im Sinne einer Mächtigkeit, welche aus dem deutschen Staat hinauf in die Gemeinschaft Europas verlegt war. Dennoch ist diese dezisionistische Grundfrage für die Verfassungs gerichtsbarkeit jedenfalls noch immer, und durchaus wohl nicht nur theoretisch, zu stellen: Sie entscheidet wirklich im Ausnahmezustand und über diesen, weil ihr ja rechtlich gegeben ist, eben diesen Ausnahmezustand durch ihre Entscheidung zu definieren, ja geradezu "herbeizuentscheiden". Und die Deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit hat immerhin, wenn auch in gebotener Vorsicht und Verklausulierung, einen letzten Spalt offen gelassen, in der Kontrolle der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft, der ihr noch für lange Zeit ein allerallerletztes Wort, selbst über Souveränitätsansprüche aus Europa ermöglicht. Aus dieser Reserve staatlicher Souveränität heraus wirkend kann nationale Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem System auch heute noch für sich die Souveränität des letzten, höchsten Richterworts in Anspruch nehmen, welches den Ausnahmezustand schafft und in ihm entscheidet. Ob diese "reine Verfassungstheorie" bereits durch normative Kräfte entscheidend relativiert ist, welche aus der Faktizität die verfassungstheoretische Höhe erreichen, oder auf diese gewissermaßen "von unten her wirken", mit der Relativierungskraft spezialisierender Verfassungsgestaltungen, die dann die "höchsten Befugnisse" letztlich als "nur mehr theoretisch" erscheinen lassen - all dies wird am Ende dieser Betrachtungen noch beschäftigen. Daraus, wie vor allem aus der späten Macht der Richter, mag sich dann eine auch verfassungstheoretisch zu berücksichtigende Relativierung, wenn nicht gar Abwertung dieser Macht ergeben, von der aber immerhin, am Ende dieses Kapitels zu sagen ist: Sie ist nicht eine Gewalt im Staat, sie ist die höchste, die souveräne schlechthin.

IV. Die Judikative als "neutrale Gewalt" Im "Letzten Wort" mag sich ein Definitionselement einer speziellen Richterlichen Gewalt gefunden haben - es bleibt schon grundsätzlich belastet mit der Problematik, dass es mehr definieren könnte, als ihm eine Gewaltenteilung vorgibt: Diese soll doch den Pouvoir der Richter auf horizontaler Ebene neben andere Gewalten stellen - ergeben hat sich, jedenfalls in "theoretischer Betrachtung", eine virtuelle Höchstgewalt, welche sich jederzeit über alle anderen zu stellen vermag. Doch zugleich haftet diesem Definitionselement noch die Schwäche an, dass es sich in der Praxis, in der 5*

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Vorsicht einer offene Souveränitätsansprüche venneidenden Verfassungsgerichtsbarkeit kaum auffinden lässt. Wenn aber Richterliche Gewalt als eine solche des bewussten Letzten Wortes, selbst an der verfassungsgerichtlichen Spitze praktisch kaum feststellbar bleibt, so ist wiederum schwer zu vennitteIn, dass eben dieses Definitionskriterium der Judikative im Sinne der horizontalen Gewaltenteilung durchgehend überzeugen sollte. Deshalb bereits, aber auch weil andere Kriterien ebenfalls mit gewichtigen Gründen seit langem in Diskussion stehen, seien hier die Betrachtungen fortgesetzt zu weiteren möglichen Definitionselementen, beginnend mit einem solchen, welches in besonderer Weise dem allgemeinen Sprachgebrauch und damit auch der rechtlichen und politischen Überzeugungslage in der Gemeinschaft nahe kommt: Gerichtsbarkeit als eine "neutrale Gewalt". 1. Gerichtsbarkeit als Pouvoir neutre

a) Eine überzeugende Theorie der Neutralität ist vor allem in langer Entwicklung bereits im Völkerrecht entfaltet, im 19. Jahrhundert über den "Pouvoir neutre" in das innere Staatsrecht des Liberalismus übernommen worden. Ausgangspunkt war damals, und muss auch hier sein, die NeutralitätsvorsteIlung des Internationalen Öffentlichen Rechts. Neutralität definiert sich aus Krieg, aus der Existenz von Streitteilen, welche ihrerseits wieder den Streitgegenstand und damit den Prozess zur Entscheidung über ihn bestimmen. Dieser Krieg, der neuerdings als unfriedliche Streiterledigung verhannlosend bezeichnet wird, lässt sich in den dogmatischen Begriff des Rechtsstreits ohne weiteres übertragen, übersetzt man den militärischen Einsatz in die Verfahrens schritte des Rechtsprozesses. Und dies ist ja, grundsätzlich und jedenfalls für die Vorphasen kriegerischer Auseinandersetzungen, auch bereits in der internationalen (Schieds-)Gerichtsbarkeit jedenfalls versucht worden, zu Zeiten gelungen. Damit tritt aber die Neutralität in eine veränderte Dimension ein: Sie charakterisiert nicht mehr nur das Verhalten derjenigen, welche an der Streiterledigung nicht teilnehmen, weil sie sich aus dem Streit heraushalten; nun ist es eine Macht in Vennittlung oder eben bereits eine gerichtliche Instanz in Entscheidung, welche sich, in derartiger Unbeteiligtheit, in den Streit einschaltet. Wie am Ausgangspunkt der Neutralitätsdoktrin ist aber auch für diese Fonn der Neutralität ein Doppeltes entscheidend: ein Streit zwischen Streitteilen und unbeteiligte Stellung der streitentscheidenden Gewalt. Es fragt sich im vorliegenden Zusammenhang, ob gerade die Richter als solche, aus einer wesentlich unbeteiligten Stellung heraus, diese Voraussetzung erfüllen, und, darüber hinaus, ob diese Fonn eines Pouvoir neutre

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ihnen allein eigentümlich, ja rechtlich wesentlich ist. Hier erheben sich aber nun doch gewisse grundsätzliche Bedenken, gerade aus herkömmlichem Verfassungsrecht heraus. b) Zunächst muss bereits dieser Begriff der "unbeteiligten Gewalt" jedenfalls abgegrenzt werden von dem einer unabhängigen Machtträgerschaft, der in der Folge noch beschäftigen wird. Es entspricht ja geltendem Verfassungsrecht nicht nur in Deutschland, sondern zunehmend auch in anderen freiheitlichen Staatsordnungen, dass die mangelnde Beteiligung, dass Unbeteiligtheit, begrifflich keineswegs zusammenfallen muss mit Unabhängigkeit. Diese Letztere mag der weitere Begriff sein, jedenfalls sind unabhängige Gewalten geläufig, bei denen von einer mangelnden Beteiligung an Streitigkeiten nicht die Rede sein kann. Die Unabhängigkeit setzt eben lediglich den Ausschluss von Einwirkungsmöglichkeiten anderer Instanzen auf Entscheidungen der independenten Gewalt voraus, was auch immer diese nun zu leisten hat. Neutralität dagegen verlangt überdies noch eine typische Streitentscheidungsaufgabe, die ihrerseits wieder Streit und Parteien dieser Auseinandersetzung voraussetzt. Eine Zentral bank mag ohne weiteres in voller Unabhängigkeit entscheiden, wie dies nach dem bundesdeutschen Modell stets der Fall war und auf die Europäische Zentralbank übertragen wurde. Dennoch kann bei ihren Entscheidungen von Streit von Parteien und damit Nicht-Beteiligung der entscheidenden Zentralbankorgane in keinem Sinne gesprochen werden. Eine neutrale Notenbank gibt es nicht, die Unabhängigkeit einer solchen Einrichtung bestimmt sich allein im Verhältnis zur Exekutive und im weiteren Sinne auch gegenüber der Legislative. Selbst die staatliche Rechnungsprüfung und ihre nunmehr schon herkömmlich mit Richterqualität ausgestatteten Organe entscheiden nicht als solche Rechtstreitigkeiten. Die Rechnungshöfe kontrollieren vielmehr die Handlungsweise von Staatsorganen, gewiss auch im Bereich rechtlicher Kontroversen, vor allem aber und wesentlich deren Ausgabegebaren und, umgekehrt, ihr Sparverhalten in der Regel ohne jeden "Kläger". Mit Streitentscheidungen hat all dies nichts zu tun. Einem möglichen Definitionskriterium der Gerichtsbarkeit aus deren Neutralität heraus muss also mehr und anderes eigentümlich sein als lediglich Unabhängigkeit - was nicht ausschließt, dass richterliche Unabhängigkeit im Folgenden doch als eine spezifisch judikative Form dieser Independenz als Definitionskriterium der Dritten Gewalt in Betracht kommen könnte. c) Verengt man nun die Definition der Neutralität auf Streitentscheidung und fehlende Beteiligung der richterlich Entscheidenden an solchen Auseinandersetzungen, so mag dies auf den ersten Blick ohne weiteres die ge-

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samte herkömmliche Judikative in all ihren Handlungen und Verhaltensweisen charakterisieren. Immerhin findet sich hier ja weit mehr als die bereits behandelte Kontradiktorietät, welche auch bei anderen Staatsorganen neuerdings eine wesentliche Rolle spielt. Entscheidend ist vielmehr, für die Dritte Gewalt, dass ihre Organe in keiner wie immer gearteten Weise, ein Interesse am Ausgang eines Streites haben dürfen, ja nicht einmal an seiner Existenz, daran, dass die Fragen "doch nun besser einmal gerichtlich entschieden werden". Solche Überlegungen mögen überlastete Richter, in Hoffnung auf höherinstanzliche Grundsatzentscheidungen, durchaus hegen und auch zum Ausdruck bringen - letztlich bleiben sie aber unbeteiligt an der Auseinandersetzung, nimmt man das erwähnte Interesse daran aus, dass ihnen solche Streitigkeiten nicht noch weitere Arbeit bringen mögen. Inhaltlich jedenfalls gibt es ein Richterinteresse am Entscheidungsergebnis in keiner Weise. Hier stellt sich allerdings ein Problem, gerade für jene Gerichtsbarkeit, in welcher sich die Dritte Gewalt in neue Dimensionen hineinentwickelt hat: in der normkontrollierenden Verfassungsgerichtsbarkeit. Bei der Richtervorlage der konkreten Normenkontrolle sind zwar Anträge vorgesehen, die Streitteile des Ausgangsprozesses treten jedoch vor den Verfassungsgerichten als solche nicht auf, dort läuft ein eigentlicher streitiger Prozess nicht ab. Dennoch lässt sich auch dieses Verfahren charakterisieren aus der wesentlichen Nicht-Beteiligung der judikativen Entscheidungsträger heraus. Hier läuft ja etwas ab wie eine aus der Instanzgerichtsbarkeit heraus verlagerte, isolierte richterliche Spezialentscheidung reiner normativer Rechtsfragen; in diesem Verfassungsprozess setzt sich also gewissermaßen der Streit der Parteien fort, und letztlich wird er ja dann auch auf der Grundlage dieser Urteile richterlich beendet. Schwerer fällt es allerdings, bei einer abstrakten Normenkontrolle doch noch einen "Streit" mit Parteien zu konstruieren: Hier gibt es keine Streitteile und auch keinen eigentlichen Streit, welchen die Richter mit ihrem Urteil, also in typisch prozessualer, judikativer Form, zu entscheiden hätten. Man muss schon zu der ins Fiktive vordringenden Konstruktion Zuflucht nehmen, es werde auf diese Weise gewissermaßen antizipierend künftiger Rechtstreit zwischen noch unabsehbaren Parteien entschieden. Dies selbe allerdings gilt auch in jedem Fall der Normenkontrolle, sie wirkt auch dort in diesem Sinne über Streitentscheidung hinaus, wo sie auf Richtervorlage ergeht, ja wo sie die Antwort auf einen Antrag der Verfassungsbeschwerde darstellt. Die überschießende Tendenz der Normenkontrolle, ihr wichtiger und zentraler Inhalt, geht wesentlich über Streitentscheidung und Parteienkontroverse hinaus, er wirkt eben paragesetzlich. Dann aber wird schon deshalb "mangelnde Beteiligung" problematisch als Definitionselement jedenfalls dieser Form der Gerichtsbarkeit.

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Man mag also gerichtsfönnige Entscheidungen im Bereich von Instanzgerichten, sogar in einer Freiwilligen Gerichtsbarkeit, welche Administrativcharakter trägt, wegen ihres Einzelfallcharakters noch durchaus als Streitentscheidung qualifizieren, hier den Bürger im Gegensatz sehen zur hoheitlichen Staatsgewalt, von der gewisse Entscheidungen verlangt werden. Unbeteiligtes Entscheiden kann dann ein Definitionskriterium der herkömmlichen Instanzgerichtsbarkeit sein - gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit versagt es weithin; und dies unterstreicht wiederum die bereits herausgestellten wesentlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Fonnen der Judikative. Damit verdichten sich übrigens auch Bedenken gegenüber der Möglichkeit einer einheitlichen Definition dessen, was Richterliche Gewalt sein könnte, übergreifend über Verfassungsgerichtsbarkeit und Instanzgerichtsbarkeit, wie sie sich bereits aus der unvergleichlichen Machtfülle der Verfassungsgerichtsbarkeit ergeben hatten. Man darf den Richtern durchwegs Nichtbeteiligung an den Interessenlagen von ihnen entschiedener Streitigkeiten unterstellen, auch dort, wo sie von politischen Instanzen gewählt oder von der Exekutive irgendwann einmal ernannt worden sind. Es kann wohl auch davon ausgegangen werden, dass sich etwas in der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit entwickelt hat, wie eine wirkliche Interessenabwägung nach zivilrichterlichem Vorbild, zwischen öffentlichem Interesse und privaten Interessen, und dass auch hier etwa die Verwaltungsrichter keinem von beiden grundsätzlichen Vorrang einräumen, ja dass es überhaupt möglich ist, diese Interessen gegenüberzustellen und abzuwägen, wogegen immerhin gewichtige grundsätzliche Bedenken bestehen. Dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit gerade dafür geschaffen ist und Derartiges auch laufend versucht, kann nicht zweifelhaft sein. Eine andere Problematik jedoch ist im vorliegenden Zusammenhang zu vertiefen: ob das mögliche Kriterium mangelnder Beteiligung an den Interessenlagen, welche sich gegenüber stehen - ob eine solche Neutralität sich nun wirklich begrifflich gerade auf die Judikative beschränken lässt. 2. Richterliche Neutralität - auch anderer Verfassungsgewalten a) Parlament - eine "unbeteiligte", richterliche Instanz

Rechtlich überzeugend lässt sich, so scheint es auf den ersten Blick, für die Vertretungskörper des Volkssouveräns eine "Beteiligung an Rechtsstreitigkeiten" ausschließen. Fehlt es hier nicht bereits an jenen rechtlichen Streitigkeiten und Parteistellungen, einer Schiedsrichterposition über ihnen, was aber, wie dargelegt, den hier untersuchten Beteiligungsbegriff konstituiert? Das Parlament ist rechtlich nicht Schiedsrichter bei Interessengegensätzen; die Träger dieser Interessen hört es zwar an, die von ihm gesetzten Nonnen

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

beseitigen auch Gegensätze zwischen diesen Positionen nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die normativ geregelte Zukunft. Im prozessualen Sinn ergehen damit aber keine "Entscheidungen", weder zeitlich nach rückwärts orientiert, noch nach vorwärts. Damit lässt sich der Begriff der Beteiligung beim Parlament allerdings nur ausschließen, wenn er bereits aus der Sicht jenes Prozessrechts bestimmt wird, das eben ausschließlich der Judikative zugeordnet ist; dieser Zusammenhang wurde schon im Zusammenhang mit der Kontradiktorietät klar. Hier liegt aber ein Zirkelschluss: Weil die von den Volksvertretungen getroffenen Entscheidungen nicht im prozessualen Verfahren ergehen, eben dem der Judikative - deshalb soll es sich auch nicht um Formen der Gerichtsbarkeit handeln, in welche aber schon vorher ein Negativurteil über die Richterqualität der Parlamentarier hineingedacht wurde. Dann aber bleibt die Frage, ob die Parlamente nicht doch aufgerufen sind, in Schiedsrichterrollen tätig zu werden, ob deren Wahrnehmung nicht in der Demokratie zunehmend zu ihrer eigentlichen Aufgabe wird. Wenn dies auch nicht voll prozessrechtlich verfestigt ist - werden Interessenpositionen nicht doch von der Volksvertretung und in ihr, gerade im gegenwärtigen Parlamentarismus, immer häufiger und auch deutlich gerichtSähnlich beurteilt? Und führt dies dann nicht auch zu einer richterähnlichen Unbeteiligtheit, zu etwas wie einer "parlamentarischen Neutralität"? - Da entfaltet sich ein Lobbyismus von Pressure Groups, welche zunehmend verbandiich fest und auf Dauer organisiert sind. In ihnen hat etwas wie eine Partei stellung eben doch bereits ihren Ausdruck gefunden, mag ihr auch ein rechtlich festgelegtes Antragsrecht, ein Anfragerecht fehlen, wie es dem Kläger des Gerichtsverfahrens zuerkannt ist - aber wiederum nur durch die typisch judikativen Prozessgesetze. Der Verbändestaat als solcher ist noch nicht zur verfassungsrechtlichen Figur verdichtet, die Verbände sind nicht zu "Verfassungsorganen" geworden. Könnte dies aber gerade nicht darin seine Legitimation finden, und dann auch eine nähere institutionelle Ausformung, dass diese Vereinigungen eben - zu Parteien werden im Sinne eines typisch judikativen Verfahrens? - Der Lobbyismus, in seiner modemen Entfaltung vom politischen Zufallsdruck zur organisierten Interessenvertretung, setzt sich bereits - und nun auch schon juristisch fassbar - ins Parlament hinein fort, indem ein Teil der dort Entscheidenden von der einen, ein anderer von der Gegenpartei beeinflusst, oft geradezu benannt wird. Interessenverflechtungen der Abgeordneten mag das Parlamentsrecht bekämpfen - ausschließen kann es sie nicht, und so ist die Ordnung des Abgeordnetenrechts denn auch offen dazu übergegangen, nichts mehr anderes zu verlangen als eben - die Offenlegung solcher Verbindungen. In einer Demokratie sind sie grundsätzlich

IV. Die Judikative als "neutrale Gewalt"

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schon deshalb nicht zu beanstanden, weil das Parlament der Ausdruck jenes peuple en miniature ist, in welchem die Interessen entstehen und ihre Gegensätze sich formieren. Also ist es doch nur sinnvoll und es legitimiert geradezu die Volksvertretung, dass diese Interessenvertretungen dann, über abgeordnete Interessenvertreter, auch im Parlament entscheiden. - Aus judikativer Sicht betrachtet bedeutet dies letztlich, dass ein Teil der Entscheidenden von vorneherein als "Richter" der einen, ein anderer als Entscheidungsträger für die andere "Partei" fungiert. Im Schiedsgerichtsverfahren ist etwas Derartiges eine Selbstverständlichkeit, und selbst in richterlichen Gremien, wie etwa seit langem dem französischen Conseil d'Etat oder, in leicht veränderter Form, neuerdings im Europäischen Gerichtshof, begegnen Figuren wie die eines "Regierungsvertreters", des Commissaire du Gouvernement oder des Generalanwalts, jedenfalls für das Öffentliche Interesse, und mit starkem Einfluss auf die endgültige, und durchaus richterliche Entscheidungsfindung. Dass dann, jenseits dieser typisch parlamentarischen Interessenvertretungen, letztlich doch eine Gruppe "neutraler" Volksvertreter die Mehrheit herstellt und damit die Entscheidung fällt, indem sie gewissermaßen in der Rolle eines Vorsitzenden des Schiedsgerichts einer der beiden Parteien zur Mehrheit verhilft, ist ebenfalls eine durchaus judikativ geläufige Erscheinung. So laufend prägt sie die parlamentarische Praxis, dass jene freie Gewissensentscheidung, welche die Verfassungen als den Prototyp des Abgeordnetenverhaltens noch immer herausstellen, auch der Interessenvertretung, und nicht nur dem Fraktionszwang gegenüber zur Seltenheit geworden ist. Und: Warum sollte es übrigens nicht auch im Parlament einen "Streit der Gewissen" geben, "apolitische Gewissensvertreter" - in allen europäischen Staaten ist dies doch in den Religionskriegen vielfältig erlebt worden, und es ist noch heute eine nationale wie internationale Normalität, die im Glücksfall zu "distanzierter Entscheidung" führt, in einem sogar judikative-ähnlichen Verfahren. - Anhörungen sind ein weiterer Schritt in eine judikative Richtung, diese modeme parlamentarische Figur ist richterlich gedacht und ausgestaltet. Streng gewaltenteilendes Denken mag auch dabei Unterschiede zum Gerichtsverfahren konstruieren. Dennoch zeigt sich hier "typisch prozessualJudikatives" in der zeugenähnlichen Stellung von (Tat-)Sach(en)verständigen, welche den Sachverhalt ermitteln helfen, wie in der Anhörung jener Rechtsexperten, welche bereits die Begründungen vorbereiten. So reicht die eigentliche sachliche Funktion der Anhörungen, verglichen mit einem ordentlichen Gerichtsverfahren, vom (Ersatz des) Ortstermin(s) bis zu einer eigentümlichen Form der öffentlichen Vorberatung des Urteils. Jedenfalls wird damit ein bedeutsamer Abschnitt des Ablaufs judikativer Prozesse gewissermaßen im Parlament nachgespielt - oder normativ vorgespielt. In diesem Zusammenhang erscheinen dann die Abgeordneten, welcher "Partei" immer

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

sie nahe stehen mögen, als die unbeteiligten Richter, die Sachverständigen nur zu oft als Parteienvertreter. Dass darin eine Judikativierung des Parlamentsrechts insgesamt stattfindet, damit letztlich doch etwas wie eine Einebnung der Gewaltenteilung, kann kaum zweifelhaft sein. - Untersuchungsausschüsse gewinnen zunehmend an Bedeutung, werden neuerdings zu Enquete-Kommissionen erweitert, in etwas wie objektivierten Normprüfungsverfahren, wie sie auch die Verfassungsgerichtsbarkeit kennt. Vergleicht man ihre heutige Bedeutung mit ihrem Gewicht in einem 19. Jahrhundert, in dem sie entstanden sind, so zeigt sich auch hier eine klare Judikativierung des Parlamentsrechts, jedenfalls in der Praxis: Parallelen zu oft gleichzeitig ablaufenden Strafverfahren werden deutlich, immer schwerer fällt es, die Wirkungen des einen Verfahrens vom anderen abzugrenzen. Abgeordnete als Richter erscheinen der Allgemeinheit im zunehmendem Maße als Staatsanwälte und Strafrichter mit den (falschen) Bärten - wenn auch nicht Richter-Perücken - der Volksvertreter, und es fehlt hier nur mehr der rechtlich letztentscheidende Richterspruch, ausgestattet mit der Überzeugungskraft von "Unbeteiligten". Beteiligte also spielen Richtertum - aber als wären sie unbeteiligt, was sie von Rechts, ja von Verfassungs wegen auch sein sollten, mögen sie auch die Bürgerschaft davon noch nicht voll überzeugen, in ihren meist kontroversen Abschlußberichten. Ein Weg in die Gerichtsbarkeit wird hier vom Parlament durchaus beschritten, und zwar sogar mit einem Anspruch von Neutralität. - Schließlich stellt sich die parlamentarische Entscheidung in einer zunehmenden Zahl von Einzelfällen - anwachsend mit der krisenhaften Normlawine - als spezialisierende, und damit immer mehr richterähnliche Einzelentscheidung dar, zwischen deutlichen Interessengegensätzen. Die grundsätzlich akzeptierte Rechtsfigur des Maßnahmegesetzes war und ist nichts anderes als eine Einzelfall-Gesetzgebung, die sich oft aber nicht mehr von judikativen Erkenntnissen unterscheiden lässt und als eine solche selbst die Richter bindet. Die komplizierten und wenig überzeugenden Differenzierungsversuche zwischen Einzelfall- und Einzelpersonengesetz zeigen bereits das Dilemma: mit dem Einzelfallgesetz ist die Grenze zur Judikative auch schon begrifflich überschritten. - Und wie viele Gesetze sind heute nur verdeckte Einzelfallgesetze. "Partikularinteressengesetze" tragen vielleicht nicht diesen Stempel, doch ist dies nicht nur Ausdruck noch geschickteren Gesetzgebungstechnik? Gewiss soll noch immer die Norm eine bei ihrem Erlass unbekannte, nicht vorauszusehende Vielzahl von Fallkonstellationen virtuell entscheiden - in der Praxis aber gilt sie doch nicht selten nur mehr für ganz bestimmte, den Abgeordneten durchaus auch gegenwärtige Einzelfälle, denen gegenüber alle übrigen nur Begründungsverstärkung sind oder Alibi. Entschieden werden diese Fälle immer noch normativ in der Wirkung, singulär aber

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häufig im Anlass, wenn nicht gar im eigentlichen Grund des parlamentarischen Tätigwerdens. Was unterscheidet nun wiederum diese Konstellation von der einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle, welche ebenfalls von einem Einzelfall ausgeht und diesen sodann, in judikativer Entscheidung, normativ in alle Zukunft hinein fortdenkt? In all diesen Erscheinungen zeigt sich eine zunehmende Judikativierung der Ersten Gewalt. Soweit diese überhaupt noch politisch zu überzeugen vermag, muss sich in ihr auch ein Zug zu gerichtsähnlichem Verfahren und, was hier vor allem von Belang ist, zur Anerkennung einer Unbeteiligtheit des Tätigwerdens und des parlamentarischen Entscheidens verstärken. Wer den "gläsernen Abgeordneten" will, den wahrhaft unabhängigen, der in allem und jedem mehr und mehr nur nach seinem Gewissen entscheidet, der endet doch nicht nur in ferner Zukunft, sondern bereits in institutionalisierter Gegenwart bei nichts mehr anderem als einer Richterpersönlichkeit im herkömmlichen, geradezu klassischen Sinn. Also kann es schon deshalb nicht Unbeteiligtheit sein, aus der heraus sich gerade und allein Judikative heute als Verfassungs gewalt definieren lässt. Es bedarf dann nicht einmal mehr des Hinweises auf die ständig zu treffenden parlamentarischen Haushaltsentscheidungen, um zu belegen, dass sogar Leistungsansprüche gegen den Staat vom Parlament in gerichtsähnlicher Form anerkannt und befriedigt werden, und zwar gerade im Namen von Forderungen nach immer stärkerer "parlamentarischer Kontrolle" einer Staatstätigkeit, die hier para-judikativ überwacht wird. b) Die richterähnliche Administrative im Rechtsstaat Ein Blick auf die Tätigkeit moderner Verwaltung verstärkt Bedenken gegen die Annahme, fehlende Beteiligung an Streitentscheidung sei ein Konstitutivelement gerade der Gerichtsbarkeit und nur dieser Verfassungsgewalt. Die Administrative mag in vielfältigen Formen heute wie ein Wirtschaftsunternehmen tätig sein. Entscheidet sie aber nicht hier bereits oft zwischen gegenläufigen Interessen, gewissermaßen schon im Vorfeld von Kontroversen, wenn sie mehr oder weniger vollendete Tatsachen setzt? Kommt nicht schon hier dem Begriff der rechtlichen Neutralität Bedeutung zu, unabhängig davon, ob es später zum "Streit kommt zwischen Parteien"? Noch deutlicher para-judikativ stellt sich die Situation in weiten Bereichen des Verwaltungsrechts dar: bereits als ein Recht antizipierter Streitentscheidungen zwischen jenem Staat, der die Hälfte des Sozialprodukts kontrolliert, und einem Bürger, der aus der anderen Hälfte heraus gegen ihn prozediert, wenn auch nicht immer prozessiert.

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Das gesamte Verwaltungsverfahrensrecht ist doch deshalb so weithin in Anlehnung an das Prozessrecht heute bereits ausgestaltet, weil schon hier der Prozess State versus Man abläuft, oft weit gewichtiger als in jenem Strafrecht, aus welchem diese Begrifflichkeit kommt. Dass dies im Verwaltungsrecht nicht mit judikativer Endgültigkeit erfolgt, ist aus der Sicht des Neutralitätskriteriums der Entscheidenden unbeachtlich, es gehört in den Bereich des bereits behandelten "Letzten Wortes". "Unbeteiligt" jedenfalls ist auch jener Verwaltungsbeamte, der wie ein Staatsanwalt seine Ermittlungen und Entscheidungen ebenso zu Gunsten wie zu Lasten des Bürgers und des Öffentlichen Interesses zu gestalten hat. Das Organ der Verwaltung lediglich als Vertreter der öffentlichen Belange zu sehen, widerspricht heute der Grundkonzeption der Rechtsstaatlichkeit - noch weit mehr als wenn man, einer herkömmlichen und weitverbreiteten Überzeugung folgend, die Staatsanwaltschaft allein als Vertreterin der Anklage, als Gegenpartei wider den Beschuldigten oder Angeklagten verstehen wollte. Denn im Bereich des Verwaltungsrechts sind es ja sehr häufig und im zunehmenden Maße private Interessen, welche in ihrer Bündelung eben erst das Öffentliche Interesse konstituieren oder doch zu ihm führen; schon deshalb kann der Verwaltungsbeamte nicht als ein "Beteiligter auf Seiten des Staates" betrachtet werden. Ihm obliegen nicht nur gewisse prozessähnliche Verpflichtungen, etwa den betroffenen Bürger anzuhören, bevor er dann, für oder gegen ihn, entscheidet und ihn an einen weiteren Neutralen, an den unbeteiligten Richter, weiterverweist. Eine Vorstellung von grundsätzlich staatsparteilicher Verwaltung widerspräche einer Rechtsstaatlichkeit, welche die Bürgerinteressen allen Staatsorganen, wenn auch in unterschiedlicher Endgültigkeit anvertraut, stets aber davon ausgeht, dass sie auch bei der Zweiten Gewalt in wahrer Neutralität wahrgenommen werden. Dass einem entscheidenden Verwaltungsorgan Vorgesetzte Anordnungen geben können, welche es gegen seinen Willen in eine Position wider den Bürger zwingen, ändert an dieser rechtsstaatlichen Grundkonzeption nichts; denn auch die vorgesetzte Stelle hat ja nicht etwa prinzipiell gegen einen Betroffenen zu entscheiden, auch sie muss ihn anhören, seine Interessen in ihrer Anordnung abwägen. Selbst die höchste Regierungsinstanz ist dem Bürger gegenüber Partei nur im Sinne judikativer Prozessualität, eines Prozessrechts eben, welches eine BeteiligtensteIlung fingiert, zum Zwecke allein der gerichtlichen Entscheidung, ohne dass sie materiellrechtlich gegen den Bürger bereits im Verwaltungsverfahren festgelegt wäre. Noch deutlicher zeigt sich rechtsstaatlich geforderte Unbeteiligtheit der Administrative dort, wo diese, in zunehmend zahlreichen Fällen eindeutig (auch) Interessenkonflikte zwischen Bürgern entscheidet. Das Baurecht bietet klassische und im Einzelfall wie in den volkswirtschaftlichen Auswirkungen höchst bedeutsame Fallkonstellationen, in denen die Verwaltung als

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unbeteiligte Schiedsrichterin zwischen Privaten, Nachbarn vor allem, tätig werden muss, wenn auch immer letztlich im Namen eines Öffentlichen Interesses. Diese öffentlichen Belange, in deren Namen dann die Entscheidung ergeht, werden die Streitteile nicht an die Zivilgerichtsbarkeit verwiesen, sind letztlich wiederum nichts anderes als Elemente in einer Abwägung, in welcher der richterähnlich entscheidende Verwaltungsbeamte als Unbeteiligter erscheint, nicht als Parteigänger des Staates. Vertiefender Betrachtung müsste selbstverständlich sein, dass auch der Zivilrichter, welcher "rein nachbarrechtliche Streitigkeiten" schlichtet, dies im Namen einer normativ ihm vorgegebenen Gerechtigkeit leistet; sie verlangt eine Friedensordnung zwischen Bürgern, als Ausdruck eben dieser Gerechtigkeit, die sich letztlich nicht mehr vom Öffentlichen Interesse unterscheiden lässt. So ist auch der rechtsstaatlichen Verwaltung durch die Verfassung Parteilichkeit nicht nur versagt, sie ist damit zugleich auch in eine Unbeteiligtheit entrückt, in welcher sie gleichgewichtig und durchaus richterähnlich auch Belange des betroffenen Bürgers berücksichtigen muss. Hier mögen sich tiefere Probleme einer Rechtsstaatlichkeit auftun, weIche in ihrem Neutralitätsanspruch noch längst nicht voll erkannt und daher auch heute noch schwer von richterlicher Neutralität abzugrenzen ist. Dass aber auch im Bereich der Zweiten Gewalt der Weg in eine zunehmende Judikativierung grundsätzlich, überzeugt und überzeugend, eben aus dem höchsten Verfassungsprinzip der Rechtsstaatlichkeit heraus, laufend weitergegangen wird, kann nicht zweifelhaft sein. Diese Legalität sieht eben offensichtlich Zweite und Dritte Gewalt in einer "Kumulation von Neutralitäten" zum Besten des Bürgers, in welcher alle Obrigkeitlichkeit ihr Ende finden soll. Sind damit nicht letztlich alle drei Staats gewalten - Pouvoirs neutres? Dann aber lässt sich aus "fehlender Beteiligung" nicht eine dieser Verfassungsgewalten wesentlich definieren - die Gerichtsbarkeit. c) Das Staatsoberhaupt - traditioneller Pouvoir neutre

Ein Exkurs mag diese Betrachtungen noch abschließen zur OrgansteIlung jenes Gewaltträgers, welchem zuerst unter dem Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts die Stellung des Pouvoir neutre zugeschrieben wurde: des Staatsoberhaupts. Ex definitione geradezu steht es heute über den Gewalten, in einer Unbeteiligtheit, welche ihm sogar etwas wie eine "Neutralität auf höherer Stufe", selbst gegenüber der Gerichtsbarkeit, zuerkennen müsste. Allerdings ist bisher nie auch nur versucht worden, sich das Staatsoberhaupt als unbeteiligte Gewalt in einem Konflikt etwa zwischen Parlament und Verfassungsgericht vorzustellen, geschweige denn, es in einen sol-

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ehen einzuschalten. Und so scheint es denn, dass diese Figur einer "neutralen Gewalt" verfassungshistorisch einzugrenzen ist auf die Funktion, zwischen Legislative und Exekutive zu vermitteln, über ihnen "stehen zu bleiben" eben als Nachfolger jenes Roi qui regne et ne gouverne pas. Mit der Unbeteiligtheit der Richter hätte dann die Neutralität dieser Staatsfigur nur insoweit etwas gemein, als sie sich in einer Schiedsrichterrolle über den beiden anderen Staatsgewalten sehen müsste, und so war wohl auch die Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Zeit konzipiert. Dies mag nun allerdings einen Schluss nahe legen: Hier ist Unbeteiligtheit in einem ganz anderen Sinn als in dem des letztentscheidenden Schiedsrichters; hier ist nicht Dezision, hier zeigt sich Neutralität nur in einem "rechtlichen Schweben über den Wassern", über den Strömungen der Entscheidungskräfte, als eine Kompetenz, dort tätig zu werden, wo nicht mehr zu entscheiden ist, sondern zu repräsentieren. Diese Neutralität des Staatsoberhaupts kommt dann nicht aus einer wie immer definierten Entscheidungsgewalt, sondern geradezu umgekehrt aus Unentscheidbarkeiten, in denen aber doch "etwas gesagt", ein "höchster Rat gegeben" werden soll. Dies macht dann das Staatsoberhaupt zur "moralischen Instanz", in jener Abgrenzung von Moral und Recht, welche dies Letztere sich eben in Entscheidungen, die Erstere sich in menschlichen Einstellungen, in Motivierungen freien Willens ausdrücken sieht. In diesem Sinne mag das Staatsoberhaupt denn auch eine wirkliche Appell-Gewalt sein, gewiss nicht ein "noch höherer unbeteiligter Super-Richter"; denn dieses Staatsoberhaupt darf eben den Begriff des Streits und der Streitteile überhaupt nicht kennen. Hier gilt noch immer und wohl endgültig auch in der Demokratie jenes Wort das einst von einem Staatshaupt gesprochen wurde: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche". Damit aber scheidet die historische Figur des repräsentierenden Pouvoir neutre aus der Betrachtung eines wie immer zu bestimmenden Beteiligungskriteriums von Staatsgewalten an Rechtstreitigkeiten aus. Als solches beweist die Stellung des Staatspräsidenten weder etwas für noch gegen die Möglichkeit, Richterturn aus Neutralität heraus zu definieren. Sieht man ihn aber doch als "neutrale Gewalt über den Gewalten", so kann schon deshalb Neutralität kein Wesenskriterium gerade der Judikative sein. Entscheidend dagegen sprechen denn auch die vorstehend angestellten Betrachtungen der Judikativierung der Ersten und der Zweiten Gewalt. Auch sie werden "in Rechtstreitigkeiten geworfen", über diese gestellt, wenn auch manchmal nur noch in rechtlicher Fiktion. Da es hier um rechtliche Betrachtungen geht, muss eine Definition der Richterlichen Gewalt auch solche Entwicklungen berücksichtigen. So bleibt denn als Fazit die Feststellung, dass Neutralität so wenig wie die mit ihr eng verbundene Kontradiktorietät eine Dritte Gewalt im Verfas-

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sungssinne bestimmen kann, jene Judikative, weIche allenfalls in einer Betrachtung aus der Sicht des Letzten Wortes funktional ein typisch eigenes Profil gewinnt, wenn auch in vielfachen Relativierungen und weithin heterogen zwischen Instanz- und Verfassungs gerichtsbarkeit.

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Judikative: wesentlich unabhängige Staatsgewaltdie Unabhängigkeit richterlicher Tätigkeit 1. Der Begriff der Unabhängigkeit

a) Als wichtigstes Kriterium der Judikative wird allgemein und wohl von jeher die Unabhängigkeit der Richter angesehen. Begrifflich deckt sie sich nicht mit einer Neutralität ihrer urteilenden Tätigkeit; diese Letztere beinhaltet vielmehr, wie soeben dargelegt, lediglich eine Unbeteiligtheit, in weIcher die Organe der Judikative zwischen, besser über den Streitteilen stehen, von diesen also in keiner Weise durch Interessennähe oder gar -verflechtung abhängen. Unabhängigkeit bedeutet dem gegenüber, dass ihnen keinerlei Anordnungen seitens einer anderen staatlichen Instanz gegeben werden dürfen, direkt oder indirekt, soweit sie ihre im weiten Sinn verstandene Richtertätigkeit ausüben. Der Begriff der Unabhängigkeit bezieht sich also auf ihr Verhältnis zu anderen Staatsorganen, der der Neutralität zu den Streitteilen, zwischen denen sie Entscheidungen zu treffen haben. So verstanden ist Neutralität auch ein Aspekt der Unabhängigkeit im weiteren Sinn - der bestochene Richter verliert eben, gerade durch diese Bindung an eine der Parteien, zugleich seine Unabhängigkeit. Die richterliche Unabhängigkeit ist insoweit verständlicherweise zum zentralen herkömmlichen Kriterium dieser Verfassungsgewalt als einer Dritten gegenüber den bei den anderen Gewalten geworden, weil gerade sie es ist, weIche diese Staatstätigkeit von jeder anderen Gewaltenaktivität abgrenzt, und zwar hier nun grundsätzlich in vollständiger, ausnahmsloser Form. Verschränkungen sollen sogar auf jenen mittelbaren Wegen ausgeschlossen bleiben, weIche über den persönlichen Status der Richter laufen, sie darin von vorneherein durch eine generelle, fall-antizipierend bereits geschaffene Interessennähe festlegen könnten. Für die Dritte Gewalt gibt es daher keine Form anordnungsmäßiger Gewaltenverschränkung im Einzelfall, mag sie auch, wie noch zu vertiefen sein wird, über die Gesetze allgemeinere Befehle ständig erhalten und gerade diesen in besonders strenger Weise unterworfen sein. Soweit aber ihre Tätigkeit, wie bei der Betrachtung des Letztes Wortes festgestellt, eben doch wesentlich von jenem Einzelfall geprägt ist, in weIchem die Richter eine Antwort geben, und den sie sodann, als eine Art von konkretisierter Vergangenheit, endgültig abschließen,

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ist es nun wirklich eine verschränkungslose Befehlsfreiheit, welche all ihre Tätigkeit funktional gesehen charakterisiert. b) Diese richterliche Unabhängigkeit ist nur dann eine volle, ja begrifflich ist sie als eine typisch judikative dann allein gesichert, wenn sie zugleich sachlich und persönlich eine vollständige ist. Die Besonderheit der Dritten Gewalt liegt hier nicht nur in der Verbindung dieser bei den Ausprägungen, sondern, wohl auch nach allgemeiner Überzeugung, durchaus im Persönlichen: Nur dann erscheinen eben die Urteilenden als wahrhaft unabhängig, wenn sie auch nicht durch vermeintlich oder wirklich fallunabhängigen Druck auf Positionen ihres persönlichen Status gefügig gemacht werden können von anderen Staatsorganen, selbst nicht von vorneherein oder in ganz allgemeiner Weise. Hier fragt sich allerdings, ob dann diese Unabhängigkeit noch ein Kriterium funktionaler Betrachtung sein kann, ob hier nicht bereits ein Übergang liegt in organisationsrechtliche Begriffsbestimmung: des Richters als eines organisatorisch von allen anderen Staatsgewalten völlig getrennt zu sehenden Staatsorgans. Gerade an diesem Fall zeigt sich die bereits erwähnte Problematik einer Unterscheidung funktionaler und organisationsrechtlicher Gewaltbetrachtung: Eine funktional verstandene lässt zwar ausschließlich auf die Tätigkeit blicken und deren Wirkungen, diese muss aber doch organisiert sein, durch das Verfahrens- und Statusrecht bestimmter Organe, und insoweit gehört sie systematisch bereits in den Bereich des Organisationsrechts. Dieses Letztere wiederum ist aber, gerade die Betrachtung der Dritten Gewalt zeigt es deutlich, eben so auszugestalten, dass es sich an der Funktion einer unabhängigen Urteilsfindung ausrichtet, darin erschöpfen sich geradezu die organisationsrechtlichen, verfassungsrechtlichen Vorgaben und herkömmlichen einfachrechtlichen Ausgestaltungen auch des Status der Richter. Immerhin mag daher Unabhängigkeit hier noch im Rahmen und am Ende der funktionalen Untersuchung betrachtet werden, als ein Kriterium, das bestimmt wird mit Blick auf die Natur der Tätigkeit: Richten ist nur, was eben nicht auf Befehl anderer Staatsorgane geschieht - und doch im Namen des Staates. 2. Unabhängiges Entscheiden eine Besonderheit gerade der Judikative? Nur dann kann eine Staatsgewalt im Namen ihrer Unabhängigkeit als eine Dritte im herkömmlichen Sinne erscheinen, wenn es eine vergleichbare Independenz bei anderen Organen des Staatsapparats nicht gibt, jedenfalls nicht im Zusammenklang jener sachlichen und persönlichen Anord-

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nungsfreiheit, welche für den Richter charakteristisch ist. Dies wird im Allgemeinen ohne weiteres unterstellt, in pauschalem Rückgriff auf die "ja bekannten Besonderheiten" gerade der Dritten Gewalt. Gerade der Unabhängigkeitsbegriff verlangt jedoch eine vertiefende Betrachtung dessen, worin sich gerade die richterliche Befehlsfreiheit unterscheidet von Formen einer Unabhängigkeit, welche immerhin auch, in verschiedenen Ausprägungen, anderen Staatsinstanzen garantiert ist, die aber dieser Verfassungsgewalt nicht zugerechnet werden. a) Unabhängigkeit und Autonomie Zunächst ist die richterliche Unabhängigkeit abzugrenzen von jener Autonomie öffentlicher Gewaltträger, welche gerade in letzter Zeit immer weiter ausgedehnt und geradezu staatsgrundsätzlich dogmatisiert wird, bis hin zur Untersuchung der "funktionalen Autonomie". Auch eine Kommune, ja eine autonome berufsständische Kammer und die Organe dieser Rechtsträger werden ja in einem Raume eigener Kompetenzen tätig, welche von denen anderer Gewaltträger und deren Hierarchien durch Gesetz getrennt sind. Hier erscheint die Unabhängigkeit sogar noch darin höher gesteigert als die der Richter, dass die Rechtsrnacht dieser Rechtsträger noch nicht einmal aus jener sei ben Staatlichkeit abgeleitet ist, welche etwa gleichermaßen Judikative und Administrative legitimiert und autorisiert; Kommunen stellen, jedenfalls nach der Grundkonzeption einzelner Kommunalgesetzgebungen, "originäre" Gewaltträger dar, berufständische Kammern finden ihre Gewaltquelle zugleich, wenn nicht ausschließlich in einer wie immer verstandenen "Gesellschaft", welche hier in den Staat hineinreicht. Was unterscheidet denn nun, so mag man fragen, die Unabhängigkeit der Gerichte von der der Gemeinden oder Kammern, ist sie nicht auch nur ausgestaltet und näher garantiert durch das einfache Gesetzesrecht der Gerichtsverfassung, ebenso wie es das Kommunalrecht oder das Kammerrecht für jene anderen Träger vorsieht? Und wenn man noch einen Unterschied zur funktionalen Kammerautonomie darin erkennen wollte, dass sie eben der verfassungsrechtlichen normativen Verankerung entbehrt, während eine solche für die Richter vorgesehen ist, so könnte dieses Kriterium der verfassungsbestimmten Autonomie doch ohne weiteres in der Anerkennung der kommunalen Selbstverwaltung gefunden werden, vielleicht sogar für autonome Sozialversicherungsträger, will man von einer Verankerung dieser besonderen Form öffentlicher Versicherung in der Verfassung ausgehen. Dann wäre normativ ebenso bei diesen wichtigen Gewaltträgern des Staates im weiteren Sinn wie auch bei den Richtern dafür gesorgt, dass ihre Anordnungsfreiheit nur durch Gesetz im gesetzlichen Rahmen Vorgaben erhalten darf, allgemeine Anordnungen, bei deren Umsetzung sie dann jedoch in voller, quasirichterlicher Unabhängigkeit handeln dürften. 6 Leisner

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Wenn Autonomie, jedenfalls in den eben erwähnten Fällen, gar nicht anders verstanden werden kann, so unterscheidet sie sich von der richterlichen Unabhängigkeit, so scheint es doch, letztlich nur in einem: dass kommunale, sozialversicherungsrechtliche und Kammer-Tätigkeit zwar, ebenso wie die der Richter, an das Gesetz gebunden, dieses Letztere aber überdies noch unter den weiteren Vorbehalt der - eben richterlichen Letztentscheidung über den Umfang dieser Bindung gestellt ist. Dann aber ist es nicht die Unabhängigkeit, welche die Richterliche Gewalt charakterisiert, sondern deren Recht zum "Letzten Wort", von welchem bereits eingehend die Rede war, in dem bereits das Begriffselement einer Unabhängigkeit von allen anderen Gewalten liegt, in der allein es gesprochen werden darf. Nicht diese Unabhängigkeit ist es aber, welche rechtsprechende Gewalt charakterisiert, sondern das Letzte Wort, welches in solcher Form von ihr ausgeht. Dieser Begriff bringt bereits die Vorstellung von einer Anordnungsfreiheit gegenüber allen anderen Staatsgewalten - denn sonst würde es ja nicht gerade das Richterliche Wort sein, welches das letzte wäre, diese Entscheidung wäre dann wieder nichts anderes als die einer - eben anderen Staatsgewalt, die den Richtern befiehlt, sie hätte das Letzte Wort. Die vergleichsweise wenig bedeutsamen Anordnungsbefugnisse anderer Staatsgewalten, welche unter dem Begriff der Kommunalaufsicht oder der Kammeraufsicht zusammengefasst werden, und in neuerer Zeit ohnehin immer weiter zurückgedrängt werden - die kaum entwickelte "Sozialversicherungsaufsicht" beweist es - können dagegen diese Autonomien von der richterlichen Unabhängigkeit kaum mehr grundsätzlich überzeugend abgrenzen. Die weiten eigenen Wirkungskreise beeinflussen diese Aufsicht ohnehin nur marginal; und im Übrigen konkretisiert sie nur eine Gesetzesbindung, welcher ja auch die Gerichte unterliegen. Nähere Betrachtung der neueren Verwaltungsautonomien, welche zweifelsfrei dem Bereich der sogenannten Zweiten Gewalt zuzuordnen sind, zeigt also, dass es letztlich nicht das Kriterium der Anordnungsfreiheit gegenüber anderen Staatsinstanzen ist, welche gerade und nur das Richterturn charakterisiert, sondern dessen Recht auf das Letzte Wort, das eben nicht einer anderen Instanz zusteht, welche den Organen der Judikative etwas befehlen dürfte. b) Beamtliche Unabhängigkeit

Vergleichende Betrachtung ist an dieser Stelle auch noch angesagt zu jener beamtlichen Unabhängigkeit, in deren Zusammenhang jener seIbe Begriff von jeher auftaucht, welcher Richtertätigkeit als Ausdruck einer besonderen Verfassungsgewalt charakterisieren soll; und hier ist es sogar persönliche Independenz, welche in spezieller Weise garantiert wird. Diese

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Unabhängigkeit stellt die Verfassungsgerichtsbarkeit seit langem, ohne dogmatische Unterscheidungsversuche, gegenüber der der Richter, in den Vordergrund ihrer beamtenrechtlichen Dogmatik, geradezu als ein Konstitutivelement typischer Gewaltträger jener hoheitlichen Befugnisse, welche in der Regel eben derart unabhängig Gestellten anzuvertrauen sind. Im Persönlichen ebnen Lebenszeitstellungen und Versetzungsbeschränkungen die Unterschiede zwischen Beatmen und Richtern zunehmend ein, und Zeitanstellungen können hier wie dort Mode werden in der Demokratie. In der sachlichen Unabhängigkeit lässt sich allerdings ein Unterschied zwischen Beamten und Richtern leicht - vielleicht allzu leichthin - darauf stützen, dass die Erstere hierarchischen Anordnungen von oben unterworfen sind, während dies für Organe der Judikative ausscheide. Doch auch bei dieser naheliegenden Unterscheidung ist Vorsicht am Platz: Auch die Verwaltungsorgane unterliegen ja am Ende definitiv nur der Anordnung ihrer jeweiligen Administrativspitze, jenseits von dieser hat ihnen grundsätzlich keine andere Instanz Befehle zu geben. Diese Spitzeninstanz ihrerseits untersteht wiederum keiner eigentlichen Befehlsgewalt von oben, auch nicht der des einzelentscheidenden Parlaments, wird sie doch in ihrem eigenen Unabhängigkeitsraum, eben dem Bereich der Regierung, als Zweite Gewalt tätig. Unterworfen ist sie lediglich dem Letzten Wort des Richters, und wiederum liegt dessen Eigenart in der Letztentscheidung, nicht darin, dass er aus einem grundsätzlich befehlsfreien Raum heraus seine Anordnungen der Zweiten Gewalt gibt. Darum ist es also wiederum nicht die Unabhängigkeit, sondern das Letzte Wort, welches hier, wenn überhaupt, die Judikative von der Zweiten Gewalt und ihrer Beamtenschaft abgrenzt. Auch unter einem anderen Gesichtspunkt sieht sich der befehlsunterworfene Verwaltungsbeamte keineswegs grundsätzlich in einer anderen Lage als ein Richter: Soweit dieser auf einer unteren Instanzebene tätig wird, ist sein Wort sachlich nicht das Letzte, es wird aufgehoben und ersetzt durch das Wort der höheren Instanz, und diese gibt ihm sogar, im Falle der Zurückverweisung, eindeutige Anordnungen, welche er zu befolgen hat. Hier ist schon zu fragen, worin sich denn diese Hierarchie-Unterworfenheit unterscheidet von der des Beamten, der dem Befehl des Vorgesetzten zwar zu gehorchen hat, dem aber immerhin sogar noch vorher ein Recht der GegenvorsteIlung zusteht, einer Remonstration, welche in solcher Fonn in der richterlichen Hierarchie nicht vorgesehen ist. Dass der niederinstanzliche Richter die orientierenden Anordnungen der höheren Staatsinstanz im Einzelfall - denn um nichts anderes handelt es sich - dann durch eine weitere Entscheidung in offenem Widerstand verletzen könnte, unterscheidet ihn ebenso wenig vom störrischen Beamten, welcher Verwaltungswiderstand leisten möchte gegenüber Anordnungen des Vorgesetzen. Beide riskieren disziplinarische Ahndung, mag diese auch beim Richter seltener sein als in 6*

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der Verwaltungshierarchie - aber letztlich nur deshalb, weil dort der Rechtsgehorsam gegenüber der höheren Instanz stärker ausgeprägt ist. Wiederum zeigt also auch der Vergleich mit der beamtlichen Unabhängigkeit, dass die der Richter nicht als solche die rechtsprechende Gewalt als die Dritte in der Gewaltenteilung konstituiert, dass es vielmehr auch insoweit allenfalls das Letzte Wort ist, welches allein von Gewicht bleibt. c) Besondere, unabhängige Staatsorgane

Unabhängigkeit genießen schließlich, im rechtlichen Sinne - davon war bereits die Rede - auch noch andere wichtige Staatsinstanzen. Die Stellung ihrer Organträger wird übrigens deshalb auch, ohne hinreichende dogmatische Vertiefung, häufig als "richterähnlich" bezeichnet. Der Ausdruck ist missverständlich, jedenfalls was Instanzen der staatlichen Rechnungsprüfung oder sogar Leitungsgremien einer staatlichen Zentralbank anlangt. Für beide Institutionen dürfte nach heutigem Verfassungsverständnis die normative Verankerung auf der höchsten Normebene zweifelsfrei sein, gerade hinsichtlich einer Unabhängigkeit sachlicher wie persönlicher Art. Diese letztere mag etwa für Mitglieder von Zentralbankräten auf bestimmte Funktionsperioden beschränkt sein - doch nichts anderes gilt auch für viele Richter des Bundesverfassungsgerichts; und bei langen Wahl- oder Vertragsperioden verwischen sich allenthalben die Unterschiede zwischen einer Lebenszeitstellung und einer über lange Zeit hinaus auszuübenden Funktion. Wer darauf gerade eine Besonderheit der Dritten Gewalt stützen möchte, dass die Unabhängigkeit ihrer Organe nicht nach altersunabhängigen Kalenderdaten beschränkt ist, der müsste richterliche Qualität Verfassungsrichtern, Richtern des Internationalen Gerichtshofs und Schweizer Richtern aberkennen, allen, welche auf Zeit bestellt sind. Unterschiede darin zu sehen, dass etwa Mitglieder eines Zentralbankrats weniger weitgehend gegen Kündigung oder Entlassung geschützt seien, als Richter eines Amtsgerichts, würde die Definition richterlicher Unabhängigkeit reduzieren auf Einzelheiten eines Richter-Disziplinarrechts, von dem ohnehin sehr zweifelhaft ist, ob es eine so viel weitergehende Sicherung verleiht. Dann wäre jedenfalls die Dritte Gewalt eine solche, welche eindeutig nur "nach einfachem Gesetzesrecht" zu bestimmen wäre - ein schwer hinnehmbares Ergebnis. Fazit dieses Abschnitts ist also: Nicht nur der Judikative, sondern auch vielen anderen öffentlichen Gewaltträgern, im Staat und zwischen diesem und der Gesellschaft angesiedelten, ist "Unabhängigkeit" garantiert, in einer im Einzelnen durch einfaches Gesetz ausgestalteten Weise, funktionsangepasst an ihre jeweiligen Tätigkeiten, so etwa beim Hochschullehrer weithin in Forschung und Lehre. Nicht in der Unabhängigkeit, in Verfassungsvorga-

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ben, welche hier nur für die Richterliche Gewalt bestünden, liegt also die Besonderheit der Dritten Verfassungs gewalt im Staat, sondern allein darin, dass ihr, und nicht wieder einer anderen Gewalt, das Letzte Wort im oben beschriebenen Umfang zusteht. In diesem Begriff des Letzten Wortes ist allerdings bereits, und ganz selbstverständlich, begrifflich auch eine Unabhängigkeit beschlossen, welche es eben ausschließt, dass es von einem anderen Gewaltträger gesprochen wird, was aber nicht die Unabhängigkeit, sondern die Letztentscheidung zu einem Kriterium der Dritten Gewalt erhebt. Dass dieses Kriterium übrigens seinerseits wieder, für die Instanzgerichtsbarkeit in vielfacher Weise auf "Vergangenheitsbewältigung" reduziert, für die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Abgrenzung zur Ersten Gewalt, problematisch wird, wurde bereits deutlich. Ein anderes Kriterium jedenfalls lässt sich in Gestalt der Unabhängigkeit nicht finden. d) Staatsoberhaupt

Die Stellung anderer Verfassungsinstanzen kann ebenfalls beleuchtet werden unter dem Gesichtspunkt jener Unabhängigkeit, die so leichthin als eine Besonderheit gerade der Organe der Judikative angesehen wird: Zunächst ist doch zu fragen, ob Unabhängigkeit nicht auch die Stellung des Staatsoberhauptes charakterisiert. Für das Staatsoberhaupt ist meist nicht von "Unabhängigkeit" sondern von "Neutralität" die Rede. Eine einigermaßen unbestimmte Vorstellung scheint hier Pate zu stehen, welche es irgendwie als unangebracht erscheinen lässt, von einem "abhängigen Staatsoberhaupt" zu sprechen. Hier mag offen bleiben, ob dies nicht nur feme Reminiszenzen an eine Monarchie sind, deren Repräsentanten man nie, nicht einmal zu Beginn der Französischen Revolution, mit dem Begriff der "Unabhängigkeit" charakterisieren wollte; soweit trug denn doch wohl noch immer die Erinnerung an ein Gottesgnadentum, welche jeden Hinweis auf irdische Abhängigkeit als ein Sakrileg hätte erscheinen lassen. Mit dem Begriff der Neutralität ist die Stellung eines derartigen Gewaltträgers schon deshalb schwer zu charakterisieren, weil er jedenfalls heute, und auch schon seit der Reichspräsidentschaft der Weimarer Republik, gerade als ein "Schiedsrichter über Gewalten" zwar erscheinen, diese Kompetenz aber seine Aufgaben, wie bereits dargelegt, keineswegs erschöpfend oder auch nur in ihrem Wesen definieren kann, vor allem seit es eine Staatsgerichtsbarkeit gibt. Also ist es doch eine Art von Unabhängigkeit, in welcher das Staatsoberhaupt Staatsrepräsentanz ausübt. In ihr spricht er sogar das Letzte Wort in manchen Bereichen, bei Verleihungen von Orden oder Titeln, auf welche kein Anspruch besteht, bei Gnadenerweisen oder Ordensverleihungen. Überall dort, wo ihn nicht mehr ein Richter korrigieren kann,

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wo ihn kein Gegenzeichnungsrecht beschränkt, seine Entscheidungen unüberprütbar fallen, nicht nur in der Ausübung seiner rechtsethischen AppellFunktion, ist er genauso unabhängig wie ein Richter. Wiederum ist es also allenfalls das Letzte Wort für eine fallmäßig abzuschließende Vergangenheit, in dem sich das Judikativorgan vom Staatsoberhaupt noch unterscheiden lässt, und selbst dort wird diese Distinktion problematisch, wo eine Entscheidung der Ehrung fällt oder der Gnade. Sachlich und auch persönlich unabhängig ist das Staatsoberhaupt mindestens ebenso weitgehend wie jeder, auch der höchste Richter, die Verfassung umgibt es sogar mit noch weitergehenden Immunitäten. Und Entscheidungen mit rechtlicher Wirkung trifft dieses Organ doch jedenfalls dann, und in besonders sichtbarer Weise, wenn es Gefängnistore öffnet, das Sonderrechtsverhältnis eines Strafgefangenen beendet und damit auch noch das Letzte Richterwort außer Kraft setzt. Da hilft nichts mehr anderes als der alte Rückgriff vom königlichen Richter auf den König: Das Staatshaupt wird hier in einem besonderen Raum Dritter Gewalt tätig, es ist wirklicher Richter.

e) Parlamentarische Unabhängigkeit Nicht weniger problematisch ist der Begriff der Unabhängigkeit als Konstitutivelement einer Dritten Gewalt, betrachtet man Abgeordnete und Parlamente in ihrer verfassungsrechtlich garantierten Stellung. Der Abgeordnete genießt doch volle sachliche Unabhängigkeit, gegenüber allen anderen Staatsgewalten. Keine von ihnen, auch nicht der "Richter des Letzten Wortes", darf ihn in der Ausübung seiner parlamentarischen Befugnisse behindern. Immunität und Indemnität sollten einmal vertiefend unter dem Gesichtpunkt der sachlichen Unabhängigkeit des "Letzten Abgeordnetenwortes" näher betrachtet werden. Der sonst doch allenthalben letztentscheidende Richter bleibt machtlos gegenüber dem kleinen Abgeordneten, wenn nicht die Erste Gewalt ihn der Dritten ausliefert; unwiderruflich hat jene hier das Letzte Wort. Darin zeigt sich, dass der Abgeordnete durch Indemnität sachlich, wie eben auch persönlich durch Immunität, in seinem Gesamtstatus weit über richterliche Garantien hinaus geschützt, die unabhängige Figur par excellence des modemen Verfassungsstaates darstellt. Dass sich dies wiederum auf einige Jahre seiner Mandatszeit beschränkt, kann diese seine Position ebenso wenig von der eines Richters unterscheiden, was bereits etwa für Mitglieder eines gewählten Richtergremiums festgestellt wurde: Der Abgeordnete ist eben "rechtsetzendes, richterlich-unabhängiges Organ auf Zeit" und darin rechtlich noch stärker gesichert als jeder Richter. Dass der Volksvertreter an die Fraktionsdisziplin gebunden ist, beeinträchtigt ihn rechtlich in seiner freien Entscheidungsmöglichkeit nicht; und

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dass dahinter die Sanktion der Nichterneuerung des Mandats stehen könnte, unterscheidet ihn jedenfalls nicht vom "Richter auf Zeit", von jedem nur während seiner Mandatsdauer Unabhängigen. Diese Sicherungen garantieren im Bereich der Dritten Gewalt auch die Unabhängigkeit nicht nur des einzelnen Urteilers, sondern auch des urteilenden Gremiums - nichts anderes gilt, und in eher noch höherem Maße, auch für das Parlament. Die besonderen Sicherungen, mit denen sein unabhängiges Wirken umgeben ist, bis hin zu den lokalen Bannmeilen, sprechen hier eine deutliche und sie sprechen eine Verfassungssprache. Bestätigt wird damit das Ergebnis dieses Abschnitts: Es ist eben nicht die Unabhängigkeit, auch nicht in ihren organisationsrechtlichen Aspekten der Anordnungsfreiheit von anderen Staatsgewalten, aus der sich die Besonderheit einer Dritten Richterlichen Gewalt erklären lässt; es bleibt bisher lediglich beim Ergebnis der Feststellung einer letztentscheidenden funktionalen Wirkungsweise richterlicher Tätigkeit, welche eine bestimmte, falldefinierte Vergangenheit in rechtlichem Antworten endgültig abschließt oder, mit der Verfassungsentscheidung, paralegislativ in die Zukunft wirkt.

3. Kritische Betrachtung der "sachlichen Unabhängigkeit" der Richter: ihre Bindung an das Gesetz a) Die Unabhängigkeit der Richter ist, das haben die bisherigen Betrachtungen gezeigt, kein ausreichendes Kriterium für eine Bestimmung der Dritten Gewalt, ihrer Trennung von den anderen Verfassungsgewalten im Sinne der klassischen Gewaltenteilung. Dennoch soll diese Unabhängigkeit hier noch als solche einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Immerhin entspricht es ja einer schon nahezu allgemeinen Auffassung, dass die Unabhängigkeit dieser Staatsorgane Grundlage der Gewaltenteilung ist, und daher soll sie, in ihrem sachlichen wie in ihrem persönlichen Aspekt, vor allem in den Beziehungen zwischen Richterlicher Gewalt und Legislative, vertiefend überprüft werden. Zentral geht es dabei um die Bindung der Gerichtsbarkeit an das Gesetz. Sie stand schon dort im Mittelpunkt des Interesses, wo die Richterliche Gewalt als eine Funktion erkannt wurde, welche wesentlich im Dialog mit einer Gesetzgebung steht, die pro futuro immer wieder neue Rechtslagen schafft, während der Richter solche seinerseits für die Vergangenheit endgültig abschließt, mit seinem Letzten Wort. Hier ist nun vertiefend die Frage danach zu stellen, was vor allem neuere Gesetzgebung denn dem Richter hier im Ergebnis noch an Raum gewährt, was nicht sie bereits entschieden hat. Dogmatisch gesehen stellt dies die Aufgabe, die Bindung des Richters an das Gesetz aus der Sicht seiner Unabhängigkeit gegenüber an-

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deren Gewalten, hier der Legislative, zu sehen. Unabhängigkeit und Gesetzesbindung des Richters werden meist beziehungslos nebeneinander gestellt und beide als Kriterien der Richterlichen Gewalt gewertet. Dabei wird übersehen, dass Unabhängigkeit und Bindung doch wesentlich, geradezu begrifflich, in Spannung zueinander stehen, und dass es nicht genügen kann, sich auf eine ebenfalls nicht vertiefte, häufig geradezu schlagwortartig in diesem Zusammenhang eingeführte Begrifflichkeit des "Einzelfalles" zurückzuziehen, dessen Entscheidung dem Richter vorbehalten sei. b) "Je spezieller ein Gesetz, desto näher am Einzelfall" - darin wird die Spannung zwischen Gesetzesbindung und sachlicher Unabhängigkeit der Richter deutlich. Man mag von der herkömmlichen dogmatischen Grundkonzeption ausgehen, nach welcher die Norm für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen sachliche Entscheidungen vorsieht, während der Einzelfall vom Richter in ihrer Konkretisierung erst entschieden wird. Auch über immerhin problematische intermediäre Erscheinungen zwischen Norm und Einzelentscheidung, wie sie etwa die Allgemeinverfügung darstellt, mag noch ein Schnitt hinweghelfen, mit dem man derartige Entscheidungen entweder der Kategorie Einzelfall oder der Norm zuordnet. Über eine Problematik trägt eine derartige begriffliche Typisierung aber schon nicht mehr hinweg: über das Phänomen der zunehmenden, immer deutlicheren und als solche offen angestrebten Spezialisierung der Gesetzesinhalte, welche sich eindeutig einer Einzelfall-Gesetzgebung annähern. Wenn der Gesetzgeber Norminhalte so eng fasst, dass dem Richter in der Anwendung nichts mehr anderes als die Funktion eines Subsumtions-Automaten bleibt, so reduziert sich eben die Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung durch den Richter auf eine Funktion der Letzteren, welche sich von notarähnlich endgültiger Bestätigung im Einzelfall, von einer Norrnratifikation durch eine dritte, in diesem Sinne lediglich normbestätigende Gewalt nicht mehr unterscheidet. Die Verfassungsgerichtsbarkeit mag immerhin derartige Rechtsphänomene insoweit noch als eine Art von Ausnahmeerscheinung betrachten, als sie grundsätzlich die Erschöpfung eines Rechtswegs verlangt, in welcher die Dritte Gewalt der Entscheidung der Ersten noch etwas hinzufügen könne, was dann auch von den Verfassungsrichtern zu überprüfen sei. Bei eng normierten Voraussetzungen öffentlicher Leistungen beginnend und bei zahllosen Steuernormen endend ist jedoch der Richter in vielen Fällen nichts mehr als ein Ratifikationsorgan der Gesetzgebung, und die Möglichkeit, sogleich das ihn hier ausweglos bindende Gesetz mit Verfassungsbeschwerde anzugreifen, zeigt eben, dass es zumindest Bereiche gibt, in denen die angeblich stets generell regelnde Norm auch rechtlich schon zum Einzelfallgesetz geworden ist - aus der Sicht des Bürgers. Von jeher ist ja auch das Einzelfallgesetz bis hin

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zum Maßnahmegesetz, welches Administrativfragen verwaltungsgleich regelt und damit ebenfalls lediglich den Einzelfall in den Blick nimmt, in juristischer Dogmatik anerkannt. Diese Problematik einer Ausweitung dieses seit langem gebrauchten, wenn auch immer wieder kritisierten Begriffs wäre vertiefender Betrachtung wert, gerade im Hinblick auf das Verhältnis der sachlichen Unabhängigkeit des Richters zu seiner Bindung an das Gesetz. Erhält er hier nicht doch fremdbestimmende, sachliche Einzelanordnungen - nur mehr zur Ratifikation? Je weitergehend Normklarheit angestrebt wird, mit dem Fernziel einer vollständigen Normeindeutigkeit, aus jener Rechtsstaatlichkeit heraus, welche gerade darin oberstes Verfassungsprinzip ist, desto mehr wird der Unterschied verwischt zwischen richterlicher Einzellfallentscheidung und vom Gesetz vorweggenommener ebensolcher Regelung des Einzelfalls. Die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt gegenüber der des Gesetzgebers fällt insoweit in Bedeutungslosigkeit zurück; die Bindung des Richters an das Gesetz wird dort zur sachlichen Fremdbestimmung, wo er automatenhaft subsumiert, weil eben der ihn bindende Gesetzesbefehl auch bereits den Einzelfall als solchen im Blick hatte und ihn eindeutig entschieden hat. Im Einzelfallgesetz verliert der Einzelfall als Gewaltenteilungskriterium schlechthin und auch rechtsdogmatisch seine Bedeutung, dann ist aber auch die sachliche Unabhängigkeit der Dritten Gewalt aufgehoben. Die große Bewegung der Gesetzesflut mit einer Gesetzesspezialisierung, welche sie vor allem legitimiert, mag aus einer Demokratizität begründet werden, welche möglichst viele Entscheidungen in die Volksvertretung verlagern will; letztlich aber läuft sie hinaus auf eine ständige weitere Schwächung der Dritten Gewalt. Nur dort tritt eine solche nicht ein, wo Normdichte nicht zu erreichen ist: auf der Ebene der Verfassung. Und auch in diesem Sinne erscheint also Staats- wie Verfassungsgerichtsbarkeit als ein nicht nur neues, sondern bereits als ein anderes Phänomen gegenüber einer durch Spezialgesetze immer mehr zum Befehlsempfänger der Ersten Gewalt degradierten Instanzgerichtsbarkeit, welche darin ihre sachliche Unabhängigkeit verliert. c) Weiter gedacht werden muss an dieser Stelle auch die Problematik der richterlichen Interpretationsgewalt, jener wichtigsten Form des Letzten Richterwortes. Gewiss fügt sie, rechtsdogmatisch betrachtet, der Normgebung etwas eigenständig hinzu, in der sachlichen Entscheidung des Richters, worauf die Organe der Gesetzgebung keinen Einfluss mehr haben. Doch in früheren Betrachtungen wurde bereits darauf hingewiesen, dass all dies wesentlich nichts anderes sei als eine "Fortsetzung der Gesetzgebung mit anderen Mitteln". Gerade richterliche Auslegung muss sich doch sachlich, im Rahmen eben ihrer strengen Gesetzesbindung, stets im Rahmen des gesetzgeberischen Willens halten. Hier steht das Wort vom "Weiterdenken

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des Willens des Gesetzgebers", an dieser Aufgabe, die letztlich aus der Gesetzesbindung abzuleiten ist, führt den Richter kein Weg vorbei. Und nur für den Extremfall, dass dieser legislative Wille nicht zu ergründen wäre und in ihm wäre im Rechtsstaat das Gesetz ohnehin verfassungswidrig und nichtig -, dürfte ein Organ der Dritten Gewalt praeter legern entscheiden, am Gesetz vorbei, nie aber contra legen. Dann aber beschränkt sich doch eine als "eigenständig" beschworene Normanwendungsgewalt der Judikative, mit all deren sachlicher Unabhängigkeit, auf die seltenen Fälle, in denen die Lückenfüllungsformel des Schweizer Zivilgesetzbuches Anwendung zu finden hat, der Richter also so entscheidet, wie wenn er Gesetzgeber für einen ihm unterbreiteten Fall wäre. In allen anderen ist er nichts anderes als der Diener des Gesetzgebers, als der Vollstrecker von dessen sachlichen Anordnungen; und diese sind in den meisten Fällen genauso eng bestimmt wie die hierarchischen Befehle, denen die Administrativgewalt unterliegt und die gesetzlichen Befehle an diese. Warum dann in diesem letzteren Fall sachliche Abhängigkeit bestehen soll, während das Verhältnis des Richters zu der ihn orientierenden Norm von einer Unabhängigkeit zwischen Gewalten charakterisiert sein soll, bleibt unerklärlich. Um es zugespitzt auszudrücken: Nur dann könnte die Richterliche Gewalt als eine von der legislativen unabhängige angesehen werden, wenn es ihr gestattet bliebe, das Gesetz im Namen des Einzelfalles schlechthin zu brechen; in einer Gewalt der Gesetzeskorrektur würde die Instanzgerichtsbarkeit wirklich zu einer aus ihrer Unabhängigkeit heraus eigenständigen Staatsgewalt. Gerade dieses Recht aber ist ihr nie zugestanden worden; allenfalls bleibt sie Gesetzesergänzerin - subsidiäres Gesetzgebungsorgan, darin allein "unabhängig". Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit mag contra-legern-Entscheidungen tatsächlich ermöglichen, doch sie umgibt darin nur Fakten mit einem eigenartigen Rechtsschein. Die sachliche Unabhängigkeit der Richter reduziert sich damit auf die tatsächliche Möglichkeit des Gesetzesbruchs, der rechtlich sanktionslos bleibt. In dogmatischen Kategorien ausgedrückt müsste das etwa heißen: Die richterliche Unabhängigkeit lässt die Gesetzesbindung des Richters zur lex imperfecta werden - insoweit wäre die Gewalt der Richter aber nur eine faktische Gewalt gegen das Gesetz. So ist also jene viel diskutierte und immer wieder in den Mittelpunkt gerückte sachliche Unabhängigkeit der Organe der Dritten Gewalt als solche weithin ein rechtliches Nullum; keinesfalls vermag sie generell die Eigenständigkeit einer Dritten Gewalt gegenüber einer Ersten zu konstituieren, deren Normbefehlen sie unterworfen bleibt. Wie sollte der allenthalben durch Gesetze fremdbestimmte Richter sachlich "unabhängig" sein?

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4. Persönliche Unabhängigkeit der Richter ein Konstitutivkriterium der Dritten Gewalt? a) Nicht die sachliche Unabhängigkeit so sehr ist es, welche nach gängiger Auffassung die Dritte Gewalt als eine eigenständige konstituiert, als vielmehr deren Verbindung mit ihrer Fortsetzung in einer persönlichen Unabhängigkeit. Diese grenzt in der Tat die Figur des klassischen Richters im Rechtsstaat ab von den autonomen Entscheidungsorganen der Administrative. Im Vertrauen letztlich auf diese Unabhängigkeit kommt der Bürger zum Richter, von dem er annehmen darf, dass er auch nicht indirekt dem Druck einer wie immer gearteten Anordnung anderer Instanzen unterliegt, welche ihm damit eine bestimmte sachliche Entscheidung aufzwingen oder auch nur nahelegen könnten. Dabei wird allerdings häufig übersehen, dass es ja letzten Endes doch nur die sachliche Unabhängigkeit ist, welche auch hier geschützt werden soll, wenn auch nur gegen bestimmte indirekte Möglichkeiten der Einflussnahme, wie auch gegen Schwäche, vorauseilenden Gehorsam, Feigheit eines Organträgers. Begrifflich reduziert sich die persönliche Unabhängigkeit auf eine Form besonders intensiven Schutzes der sachlichen Unabhängigkeit. Soweit diese Letztere also problematisch wird - und dies zeigte sich soeben - wird auch die persönliche Unabhängigkeit funktionslos, insbesondere dort, wo der Richter eben an den Normbefehl ohnehin gebunden ist, unter der letzten Drohung einer Rechtsbeugung, von der in diesem Zusammenhang nicht die Rede war, weil sie ersichtlich nur Extremfalle erfasst. Wenn also die sachliche Unabhängigkeit Richterliche Gewalt als solche nicht zu konstituieren vermag, so gilt dies auch für eine an jener orientierten persönlichen Independenz dieser Magistraten. b) Ein weiteres grundlegendes Bedenken gegen die Ableitung einer eigenständigen Gewalt-Qualität der Judikative aus der Persönlichen Unabhängigkeit ihrer Organträger ergibt sich aus dem Vergleich mit der Unabhängigkeit der in öffentlichen Dienstverhältnissen tätigen Forscher und Lehrer. Anders als ihren im privaten Bereich tätigen Kollegen, gewährt ihnen der verfassungsrechtliche Freiheitsraum der Wissenschaft nicht nur eine sachliche, sondern auch herkömmlich eine weitreichende persönliche Unabhängigkeit: Die beamteten Hochschullehrer etwa dürfen nicht mit der Begründung, sie verträten eine der Staatsgewalt nicht genehme Lehre oder verfolgten eine derartige Forschung, diszipliniert werden. Selbst gegen Versetzungen aus solchem Grund sind sie nicht nur richterähnlich, sondern richtergleich geschützt: Nur bei dringendem dienstlichem Bedürfnis, etwa der Aufhebung oder Zusammenlegung von Hochschulen, ist Versetzung zulässig, wie sie in gleicher Konstellation auch die Richter hinnehmen müssen. Also müssten etwa die beamteten Hochschulprofessoren entweder als

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Vertreter der Dritten Gewalt angesehen oder es dürfte die eigentümliche Verbindung von sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit nicht zum ausschließlichen Kriterium der Richterlichen Gewalt gemacht werden. Gegen diese Folgerung lässt sich nicht einwenden, auch diese Organträger seien ja einer letzten Treue zur Verfassung verpflichtet. Abgesehen von den grundsätzlichen Bedenken gegen eine solche Formulierung, welche einer mehr als problematischen Staatswahrheit den Weg öffnen könnte - eine mindestens ebenso weitreichende Verfassungstreue muss doch auch von den Richtern verlangt werden, und sie wird ja gerade hier durch die Verfassungsgerichtsbarkeit auch sanktionierend erzwungen, im Übrigen durch die Richter-Disziplinargewalt. Dass gerade in neue ster Zeit, im Rahmen einer problematischen Hochschul-Verschulung, staatliche Lehrpläne immer weitere Einschränkungen der Freiheit von Forschung und Lehre nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich bewirken, ist eine - zu Recht viel kritisierte - Erscheinung, welche die sachliche Unabhängigkeit beeinträchtigt. Und weit darüber hinaus sorgt die zunehmende Macht der staatlichen Mittelvergabe dafür, dass akademische Forscher und Lehrer auch in ihrer persönlichen Einstellung und ihrem menschlichen Verhalten insgesamt sich so benehmen, wie es der Staatsgewalt genehm ist - damit verlieren sie, tatsächlich wie rechtlich, viel von ihrer doch so wichtigen persönlichen Unabhängigkeit. Dies wird sich dann noch wesentlich steigern, wenn sogar ihr laufendes Einkommen von Beurteilungen abhängig gemacht wird, die ihrerseits wieder auf Teilnahme an Projektarbeiten beruhen, welche von der politischen Staatsgewalt ausgelobt und bezahlt werden. Parallelen gibt es aber auch hier zur Gerichtsbarkeit, insbesondere in deren immer weiterer Einengung durch spezialisierende Gesetzgebung. Selbst wenn man aber diese Einschränkungen gegenüber den Richtern deren Gesetzesunterworfenheit zuordnet, sie bei den Hochschullehrern mit einer normativen Konkretisierung ihrer Aufgabenstellung erklärt - gerade dann bleibt die Parallele zwischen den bei den Status unübersehbar und damit die Konsequenz, dass eine wie immer ausgestaltete Unabhängigkeit als solche eine richterliche Gewalt nicht zu charakterisieren vermag. Zwischen zeitvertraglich tätigen Hochschullehrern und Richtern auf Lebenszeit besteht schließlich zwar ein nicht unwesentlicher Unterschied in der Sicherung der persönlichen Unabhängigkeit. Doch es gibt eben auch den auf Zeit bestellten oder gewählten Richter, gerade in Ländern, welche den Professor auf Lebenszeit nicht kennen. Also sind beamtete Hochschullehrer entweder Richter - quod non - oder Unabhängigkeit ist kein Kriterium richterlicher Gewalt.

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5. Richterernennung durch die Exekutive a) Solange Richter von der Exekutive ernannt und befördert werden, kann von einer persönlichen Unabhängigkeit dieser Organe der Judikative nicht die Rede sein. Diese für ihren Status entscheidenden Berufsschritte sind ihnen ja nur möglich über reine Administrativentscheidungen einer anderen, der Zweiten Verfassungsgewalt im Staat, von der sie aber doch, im Namen ihrer persönlichen Unabhängigkeit, in Gewaltenteilung unabhängig sein sollen. Mit der Perfektionierung in kleinen und kleinsten Besoldungsschritten ausgeklügelter Richterbesoldung und -versorgung hat die Abhängigkeit von diesen Dezisionen einer Gewalt, welche doch die Richter zugleich, von Entschädigung und Amtshaftung bis zu Verwaltungsgerichtsbarkeit und Strafrecht, gerade ihrerseits kontrollieren sollen, laufend zugenommen. Weit weniger Gewicht mochte dieser Beförderungsgewalt in früheren Zeiten zukommen, in welchen diese richterlichen Staatsdiener, wie übrigens auch etwa preußische Landräte, weithin durch eigenes Vermögen und gesellschaftliche Stellung eine faktisch vom Regierungswillen unabhängige Stellung innehatten. Jene Richter mussten auch nicht nach der Machtstellung von Abgeordneten schielen, deren Einfluss auf die Exekutive in einer noch nicht parlamentarisierten Staatlichkeit mit ihrer heutigen Stellung gegenüber der Exekutive nicht vergleichbar war. Vertiefend sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht die so allgemein begrüßte und ständig verstärkte Abhängigkeit der Zweiten von der Ersten Gewalt insoweit die Unabhängigkeit der Richter beeinflusst hat, als diese nun nicht nur das Wohlwollen ihrer Justizministerien und Regierungen, sondern auch noch das von Abgeordneten und ein durch sie vermitteltes Wohlwollen parteipolitischer Mehrheiten anstreben müssen, wollen sie letztlich der für ihre Laufbahn wichtigen "richtigen Richtung" wenigstens nahe stehen, Garantien bieten, dass sie "in diese auch entscheiden". So führt, in einem erstaunlichen Zirkel, die Abschwächung der Unabhängigkeit der Zweiten Gewalt zugleich auch zu einer solchen der Dritten Gewalt, damit zu einer weiteren Gefährdung der Gewaltenteilung. b) Gegen diese nicht nur faktische, sondern auch rechtlich verfestigte Beeinträchtigung der Persönlichen Unabhängigkeit der Richter kann ein Dreifaches nicht mit systematischem Gewicht geltend gemacht werden: - Es stehe den Richtern ja frei, ob sie Beförderung anstrebten, sie könnten sich auch mit geringerer Besoldung zufrieden geben - eine faktisch abwegige, in menschlicher Betrachtung der tatsächlichen Situation geradezu absurde Argumentation. In einer solchen Lage sind heute, wirtschaftlich und menschlich gesehen, nur mehr wenige Staatsdiener, nur wenige Bürger überhaupt. Verallgemeinert werden kann ein solcher "ökonomischer Stolz vor Königsthronen" gewiss nicht, ihn zu fordern oder gar zu unterstellen

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wäre wirklichkeitsfremd. Es verstieße dies auch gegen ein Leistungsprinzip, das doch auch im Bereich der Dritten Gewalt gelten muss: Durch solche Genügsamkeit im Namen der Gerechtigkeit würden gerade die Besten unter den Richtern in Passivität gedrängt, was sich auf die Qualität der Gerichtsbarkeit insgesamt betrachtet nur negativ auswirken müsste; jedenfalls ginge damit an Rechtstechnik alsbald verloren, was an persönlicher Unabhängigkeit gewonnen würde. - Nahe läge, mit Blick auf die judikative Praxis, der Einwand, Richter könnten ja ohnehin den politischen Gewalten, insbesondere den sie ernennenden Ministerialinstanzen, gar nicht eigentlich und in einem Maße gefällig sein, dass dies auf ihren Status, auf ihre beruflichen Fortschritte von Einfluss wäre. Die politisch gesehen bescheidenen Dimensionen der meisten ihrer Entscheidungsgegenstände ließen ein derartiges Verhalten von vorneherein nicht zu. Beförderungen mit Blick auf die wenigen "Staatsprozesse", welche auch in der Instanzgerichtsbarkeit vorkämen, könnten doch, als seltene Ausnahme politisch gewährter Vergünstigungen, die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt insgesamt nicht wesentlich beeinträchtigen. Auch diese Beweisführung ist unbehilflich. Die Praxis zeigt, in alle politischen Richtungen hin, durchaus ein zunehmend feines Gespür der politisch verantwortlichen Entscheidungsträger für allgemeinere "Richtungen", denen ein Richter angehört oder nahe steht. Dies nährt sich aus der Beobachtung bestimmter judikativer Grundtendenzen, welche bei den in ihrer Intensität ständig zunehmenden kollegialen "menschlichen" Kontakten innerhalb der Justiz rasch auch der Beförderungsgewalt bekannt werden. Und so selten ist nun auch der "Prozess von politischem Gewicht" keineswegs, vor allem angesichts des wachsenden Interesses der Medien, dass nicht auch hier Beurteilungsgrundlagen für Beförderungen an der Tagesordnung sein könnten. Nicht als ob Justizministerien nicht auch immer wieder in diesem Bereich Alibi-Entscheidungen träfen, Beförderungen auch Angehörigen anderer politischer Richtungen zuteil werden ließen, um eben die Unparteilichkeit ihrer Personalpolitik unter Beweis zu stellen. Doch diese wahren Renommier-Ausnahmen sind Ausdruck parteilicher Geschicklichkeit der Personalpolitik, allenfalls noch von deren Ängstlichkeit, sie tragen gewiss nicht bis zu einer flächendeckend-systematischen Bewährung Richterlicher Unabhängigkeit. - Wenn schließlich behauptet wird, insgesamt seien doch Gefahren für die persönliche Unabhängigkeit der Urteilenden schon deshalb nicht ersichtlich, weil die Praxis das Bild einer "ruhigen, qualitäts bewussten Beförderungspolitik" allenthalben zeige, was übrigens auch durch den zunehmenden Einfluss richterlicher Personalvertretungen noch verstärkt werde, so sind auch gegen eine derartige personalpolitische Idyllisierung Zweifel angebracht. Hier wird ja verkannt, dass sich in diesem Bereich nicht nur viele, sondern alle einzelnen Entscheidungen unter weitestgehendem

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Schutz datengesicherter Aktengeheimnisse vollziehen, und dass sich über die zahllosen Fern- und Nahgespräche Beurteilungs- und Entscheidungselemente gewinnen lassen, welche nie an die Oberfläche rechtlicher Beurteilungsmöglichkeiten dringen, noch weniger bis dort hin, wo richterliche Konkurrentenklagen in Betracht kommen könnten. Das Bedenkliche an dieser Grundstimmung, aus welcher heraus sodann hier beurteilt und befördert wird, liegt jedoch sogar noch tiefer, noch verdeckter gegenüber kritischen Blicken: Durch eine solche zweifelsfrei häufig geübte und daher allenthalben, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, zu vermutende Praxis wird ein Allgemeinklima von Gefügigkeit, ja stiller Unterwürfigkeit und laut vorauseilendem richterlichen Gehorsam geschaffen, welcher letztere sich sogar noch hinter einem Normgehorsam verbergen mag, wie er doch dem Richter von Verfassungs wegen abverlangt werde - wie er aber meist nur Gefügigkeit gegenüber Gesetz gewordenem Willen der jeweiligen politischen, vor allem einer länger regierenden Mehrheit darstellt. Derartige Stimmungen aufzuspüren, überzeugend zu kritisieren, ist faktisch nahezu unmöglich und selbst ein Versuch würde schon deshalb von seriösen Betrachtern nur ungern unternommen, weil sie damit in der Tat ein höchstrangiges Gemeinschaftsgut gefährden müssten: das Vertrauen der Allgemeinheit in die Justiz, eine der letzten derartigen Haltungen, welche heute staatlichen Institutionen gegenüber noch von legitimierendem Gewicht ist. c) Vor allem aber muss gegen alle derartigen Verteidigungsversuche exekutivischer Beförderungsneutralität grundsätzlich ein dogmatischer Vorwurf erhoben werden: Sie argumentieren letztlich ausschließlich aus tatsächlichen Lagen und auf solche sich stützenden Überlegungen heraus. Was sich auf diesen Wegen begründen lässt, mag eine Rechtfertigung jener Justizverwaltungen darstellen, welche in der Tat meist in weiterer Politikferne entscheiden, als dies in anderen Geschäftsbereichen üblich ist. Dass aber selbst hier Entwicklungen hin zu einer stärkeren Politisierung angesagt sind, zeigt sich, jedenfalls indirekt, in Versuchen, Justizressorts mit anderen, durchaus hochpolitisierten Geschäftsbereichen zusammenzulegen, etwa mit einem Innenministerium, welches mit seiner Polizeigewalt geradezu die institutionalisierte Bedrohung von Bürger-, Beamten- und Richterfreiheiten verkörpert - nach vielen leidvollen Erfahren der Verfassungsgeschichte. Zunehmend vollzieht sich ohnehin eine Politisierung jener ministerialbetreuten Justiz im Ganzen, nicht nur durch leitende Justizministerialvertreter als "politische Beamte", sondern vor allem durch das erhöhte Medieninteresse, und dementsprechend das der Allgemeinheit, an Strafvollzugsproblemen, an Justizskandalen jeder Art. Die Vorstellung von einer öffentlichkeits- und parteifernen Justizverwaltung ist heute ein frommer Wunsch - und was könnte dann eine Politisierung bis hin zur Parteipolitisierung des Ernennungs- und Beförderungswesens der Richter auf Dauer ausschließen, welche doch nur

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aus jener selben ministeriellen Grundentscheidungsmentalität herauswüchse? Da mag vieles heute noch feme Befürchtung sein; allein die Tatsache jedoch, dass politisch motivierte Argumentationen einer rechtlich gewährleisteten Beförderungssicherheit entgegengehalten werden können, begründet schon Sorgen bei denjenigen, welche die Gewaltenteilung der Verfassung normativ ernst nehmen. So ist denn die persönliche Unabhängigkeit der Richter rechtlich nicht und faktisch wohl noch weniger gesichert als etwa die der beamteten Hochschullehrer, mag sich diese Letztere auch durch andersartige Beeinträchtigungen seitens der Organisations gewalt des Staates und dessen Finanzgewalt der Mittelzuweisung in ähnliche Gefahren gedrängt sehen. 6. Gewählte Richter - unabhängig? a) Richterwahl durch parlamentarische Gremien rückt die persönliche Unabhängigkeit der Richter in ein anderes, aber kaum weniger bedenkliches Zwielicht. Hier hat sich, etwa bei den Obersten Bundesgerichten Deutschlands, für das Bundesverfassungsgericht insbesondere, wie für die Verfassungsgerichtsbarkeit generell in Staaten, welche eine solche kennen, eine Praxis und von dieser ausgehend eine Problematik entwickelt, welche die persönliche Unabhängigkeit der Richter zu einer Rechtsfassade werden zu lassen droht. Dass hier nach schierer Parteipolitik entschieden wird, kann nicht zweifelhaft sein. Zahllose Fälle der Praxis belegen eine heute bereits allgemein, und was schwerer wiegt: eine judikativ bekannte Praxis harter, zunehmend sich verschärfender Ämterpatronage. Gerade weil die Parlamente auf die Personalpolitik der Regierung, welche durch deren Bereich rechtlich geschützt ist, nur sehr begrenzt auswählenden Einfluss nehmen können, verstärkt sich faktisch die Begehrlichkeit der politischen Parteien, institutionell der der Parlamente im Ganzen, nun "wenigstens" auf die Spitze jener Dritten Gewalt zuzugreifen, mit welcher sie, in der Letztauslegung ihrer Normen, wie erst recht in Verfassungsgerichtsbarkeit, ständig in Spannung stehen. Die immer wieder aufbrechende Problematik der Wahlen von Verfassungsrichtern, welche in manchen Ländern die Institutionen gerade neuerdings an den Rand der Staatskrise führen, zeigt deutlich, was dort noch von einer persönlich unabhängigen Obersten Gerichtsbarkeit zu halten ist. Zunehmend greifen Medien Qualifikationsprobleme bei Richterernennungen auf, welche nicht nur die Unabhängigkeit, sondern zugleich sogar noch die rechtstechnische Qualität der Urteil er in den Augen der Allgemeinheit in Misskredit bringen. Und ein solcher Fall genügt doch bekanntlich, ein ganzes Gericht, ja einen ganzen Gerichtszweig zu diskreditieren. Das Gegenargument der "schwarzen Schafe" und eines allzu leichten "nihil perfectum" sind rechtlich unbehilflich, denn das Recht soll ja derar-

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tige, heute bereits typische Fehlentwicklungen generell verhindern, in einer gerade daraus legitimierten Staatsordnung der Gewaltenteilung kann dies nur bedeuten: ausnahmslos. Angesichts einer parteipolitischen Begehrlichkeit, welche sich oft mit hemmungsloser Offenheit und "demokratisch-parlamentarischer Überzeugung" zeigt, ist ein solcher Zustand besonders betrüblich. Daran ändert sich wenig, wenn immer wieder die "politische Qualität der Entscheidungsmaterien" beschworen wird, welche gerade in der Verfassungsgerichtsbarkeit eben auch "politisch sensible Richter" erfordere. Dass dies gerade jene seien, welche den zu kontrollierenden Parteien sodann genehm sind - diesen primitiven Zirkel hat bisher sogar die hier eher sogenannte Wissenschaft vom Verfassungsrecht hingenommen; als ob nicht gerade "politisches Recht" im besonderen Maße wenn schon nicht den unpolitischen, so doch den politisch unabhängigen Richter verlangte ... Richterwahl ist also nicht eine Garantie der persönlichen Unabhängigkeit der Organe der Judikative, es ist dies, um es herauszusagen, eine Katastrophe für die Gewaltenteilung, die Anerkennung einer faktischen Situation, in welcher sie, gerade an der Spitze, wo sie sich bewähren sollte, nicht durchzuhalten ist gegenüber Parteipolitik und einem jakobinischen Demokratieverständnis. b) Auch hier wieder werden Einwände vorgebracht, die aber gegen solche Praktiken unbehilflich sind: - "Herausragende Persönlichkeiten", welche es nun einmal bis in die Höhen einer Wählbarkeit zu Obersten Gerichten oder Verfassungsgerichten gebracht hätten, böten von vorneherein Gewähr dafür, dass sie persönlich und sachlich unabhängig seien und dies stets blieben. Für das schiere Gegenteil sprechen nicht nur gewichtige, sondern überwiegende Gründe. Einerseits wird diese Wählbarkeit heute keineswegs nur mehr Persönlichkeiten zuerkannt, welche ein langes Leben und vielfache Bewährungen in Unabhängigkeit über allen Zweifel erhaben stellten. Gerade jene Politisierung, welcher hier begegnet werden soll, führt zu entsprechender Vorfeld-Hochqualifizierung. - Nur selten träten parteipolitische Grundhaltungen gewählter Richter in Erscheinung - doch wie sollte dies geschehen, wo sie doch durch Beratungsgeheimnis und Kollegialität sorgsam verdeckt werden? Abweichende Meinungen lüften nur in wenigen Fällen diese Schleier - dann aber meist entlarvend. - Nur eine Hoffnung bleibt dann: Dass die Gewählten sich von ihren Wählern in parteipolitischer Neutralität entfernen. Was ist das aber anderes als ein Vertrauen in gewählte Richter, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen möglichst rasch enttäuschen, etwa gar die parteipolitischen Fronten wechseln werden? Bisherige Erfahrung zeigt hier nur wenige, gerade deshalb rühmliche Ausnahmen; sie bestätigen die Gegen-Regel. 7 Leisner

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Die tiefere Gefahr, welche der persönlichen Unabhängigkeit der Richter aus diesen Wahlen droht, lässt sich also nicht verhannlosen: dass nämlich Persönlichkeiten sich ein ganzes Richterleben lang auf derartige Chancen vorbereiten, dass also die Richterwahl, wie kaum eine andere hoheitliche Entscheidung, vorauswirkt, zeitlich nahezu unbeschränkte Fernwirkungen zeitigt auf ein Verhalten von Urteilern, welche damit eben "eines Tages" ihre Berufung an die judikative Spitze vorbereiten wollen. Selbstverständlich ist, dass ein derartiges Langzeitkalkül nur von denjenigen ihrer Lebensplanung zugrunde gelegt wird, welche nicht notwendig besondere Richterqualitäten, sicher allerdings karrierepolitische Geschicklichkeit aufweisen. Dass beides nicht zusammenfallen muss, bedarf hier keines Beleges; bei der Wahrung persönlicher Unabhängigkeit darf es sich von Rechts wegen nicht decken. c) Das Schweizer Beispiel der Wahlrichter erbringt keinen Gegenbeweis. Abgesehen davon, dass die allgemeine Mentalität in dieser Jahrhunderte lang als Wahlvolk geübten und bewährten Bürgerschaft mit der keines anderen Wahlgremiums vergleichbar ist - die Verhältnisse der Schweiz sind derart überschaubar, dass parteipolitische Willfährigkeit, ein auf Wahl angelegtes Karriereverhalten dort weit weniger die persönliche Unabhängigkeit und die Beurteilungsmöglichkeiten juristischer Qualifikation beeinträchtigen als in einem großen Flächenstaat. Überdies mag die Allgemeinheit, mit welcher dort staatliche Gewaltträger gewählt und insbesondere die Richter bestellt werden, diese Richterwahl zu einem Normalfall werden lassen, in dem parteipolitische Begehrlichkeit sich einer Art von juristischer Wahlroutine unterzuordnen beginnt, welche ihrerseits wieder verstärkt rechtstechnische Qualifikation in den Mittelpunkt stellt. Schließlich bewährt sich hier etwas wie eine "Rechtskultur", welche bisher, in diesen sensiblen Fragen der Gewaltenteilung, nur lange eingeübte, wahrhaft traditionelle Demokratien entwickeln können. Reformistische Progressübertragungsversuche derartiger Institutionalisierungen in kurzatmigem Perfektionierungsstreben haben von solchen Rechtskulturen wenig verstanden. d) Bleibt umgekehrt, angesichts solcher Wahl-Probleme, das gängige Gegenargument der Alternativlosigkeit zur exekutivischen Richterernennung: Durchgehende Richterwahl werde ja die persönliche Abhängigkeit dieser Organe in weiter zunehmender Parteipolitisierung nur noch verstärken, in eine Öffentlichkeit zerren, in der dann bis zur Schamlosigkeit ein Jahrmarkt der Politik stattfinde, vielleicht nicht einmal mehr vom Feigenblatt der Ausschussgeheimnisse in Parlamenten verdeckt. Aus der Sicht der persönlichen Unabhängigkeit der Richter lässt sich dagegen wenig einwenden; und insoweit mag zuzugeben sein, dass praktisch vielleicht nur eine politique du pire das gegenwärtig praktizierte System durchgreifend verändern könnte. Doch dass solche Alternativlosigkeit dogmatisch von bescheidenem Wert ist, wird kaum jemand bezweifeln. So muss denn, will man nicht ein in der

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Tat aus vordemokratischer Zeit stammendes Ernennungs- und Beförderungsrecht der Exekutive immer weiter fortsetzen, intensiv über andere Lösungen nachgedacht werden. Dies gilt um so mehr, als ja eine solche Tradition, etwa der "königlichen Richter" früherer Zeit, heute die persönliche Unabhängigkeit der Urteilenden gerade nicht mehr zu gewährleisten vermag. Damals waren sie durch einen Pouvoir neutre jedenfalls gegen parteipolitische Begehrlichkeit abgesichert; heute ist auch dies einer neuartigen Verschränkung der Gewaltenteilung von Parlament, Administrative und Regierung zum Opfer gefallen. Faktisch mag also zugegeben werden, dass "Richterpolitik" noch immer dort besser aufgehoben ist, wo weitere Distanz von der "volksbewegten Politik" der parlamentarischen Demokratie besteht, im Bereich der Regierung. Doch anzuerkennen ist gerade dann, dass darin ein erster Hinweis auf eine im Folgenden noch zu vertiefende Problematik liegt: dass die Judikative eben wesentlich in einer Spannung steht zu demokratisierter Parteipolitik. Jedenfalls verstärkt Richterwahl erst recht die Gefahren für jene Persönliche Unabhängigkeit der Organe einer Judikative, welche insbesondere in breiten Fernwirkungen damit dem direkten Einfluss der Parteipolitik ausgesetzt werden. Und man wende nicht ein, die bereits erwähnte Unabhängigkeit des ja ebenfalls zu wählenden Abgeordneten zeige doch, wie man auch aus einer Wahl heraus Unabhängigkeit sich bewahren, ja gerade eine solche erstmals erringen könne - diese Independenz des Volksvertreters ist eine andere als die des Richters, sie ist zukunftszugewandt, gewinnt darin eine echte Distanz, wenigstens auf Zeit, zum Willen der Wähler, sie bleibt Vertrauensbeweis, in ihrer Ausübung keinem Wählerwort ausgeliefert; und sie sieht sich schließlich durch die Anonymität der Entscheidungskollegien weit mehr noch gesichert als selbst die der Verfassungsrichter. Die Richter dagegen sind Vollzieher des Norm-Wortes gerade derjenigen, die sie auch noch in ihre Funktionen wählen. Was übrigens von dieser Abgeordneten- Unabhängigkeit in der Praxis der Fraktionsdisziplin übriggeblieben ist, dürfte doch, jedenfalls rechtlich gesehen, für eine unabhängige Gerichtsbarkeit nicht genügen. 7. Judikative Selbstrekrutierung Die Selbstrekrutierung der Richter bietet eine bereits in vielen Staaten geübte, insgesamt vordringende institutionelle Lösung des Problems der persönlichen Unabhängigkeit. Weithin würde sie, über von Richtern gewählte Richterräte, nur eine Übernahme des uralten, seit vielen Generationen bewährten Selbstrekrutierungsrechts der Universitäten bedeuten; der Exekutive bliebe allenfalls ein randkorrigierendes, normbedingungsüberwachendes letztes Bestätigungsrecht. Das System weist zudem erhebliche Flexibilität auf, kann doch herkömmliches Benennungsrecht etwa über die 7*

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bewährten "Dreierlisten", über Vorschläge, welche direkt aus den Obersten Gerichten kommen, sinnvoll vorbereitet, ergänzt, vielleicht eines Tages gar ersetzt werden. Aus der Sicht der persönlichen Unabhängigkeit der Judikative ist dies eine derart naheliegende, unschwer praktikable und in einer Gewaltenteilung als systemkonform erscheinende Lösung, dass es verwundern mag, weshalb sich dagegen ein zwar nicht institutionell formierter, aber doch politisch immer wieder deutlich fühlbarer Widerstand zeigt. Seine Gründe liegen auf der Hand, und dies wird auch sogleich zu Betrachtungen über eine Grundstimmung führen, in welcher sich Richterrecht seit langem entwickelt: Es sind dies die historisch traditionellen, bis heute ungebrochenen Oligarchieängste in der Volksherrschaft. Hier bricht ja eine eigentümliche innere Widersprüchlichkeit institutionell auf, welche im gewaltenteilenden Denken seit der Französischen Revolution und damit gerade in der geistigen Grundlegung heutiger Demokratie, bereits angelegt war und bis in die Gegenwart stillschweigend wirkt: Oligarchie gegen Volkssouveränität. Gewaltenteilendes Denken entspricht letztlich - die englischen Ursprünge zeigen es - einem prinzipiell vertikalisierten Staatsdenken in Zwischengewalten und Oligarchien. In der englischen Entwicklung mag dies, durch eine insbesondere aus der Sicht der unitarisierenden Imperial-Tendenzen des 19. Jahrhunderts herauswachsende Vorstellung von Einheitsstaatlichkeit überdeckt worden sein. Der tiefere staatsrechtliche Grund der materiellen englischen Verfassung, die Anerkennung von Local Government und dessen bis heute durchgehaltene Tradition zeigt jedoch, und dies für den gesamten angelsächsischen Bereich, dass Lokalgewalten als Zwischengewalten dort einen festen Bestandteil des Verfassungsdenkens als solchen darstellen. Daraus nicht zuletzt hat sich dann jene Power-Vorstellung entwickelt, welche feste, und sei es auch in Stufung wirkende Gewaltträger voraussetzt - und dies gerade im Bereich der Gerichtsbarkeit. Das englische Gerichtsystem ist in seiner ganzen Entfaltung und in seinem Aufbau nur vorstellbar als eine Stufung von oligarchisierten Zwischengewalten, fassbar nicht nur in der Person der Lordrichter, sondern in einer echt feudalisierten judikativen Grundstruktur, welche sich eben bis heute, auch in all ihren äußeren Formen, erhalten hat. Wer hier aber Aristokratie sagt, meint zugleich Oligarchie und damit Anerkennung jener Pouvoirs intermediaires, welche aber die Französische Revolution als ihre Erzfeinde institutionell vernichten wollte. Sie hat an die Stelle dieser englischen, ja angelsächsischen Feudal-Gerichtsbarkeit - denn um nichts anderes handelt es sich im Grunde - ihren Richter als quasi-beamtliches normunterworfenes Staatsorgan im Namen strenger Gewaltenteilung gesetzt. Angelsächsischer Demokratie ist also Oligarchisierung als solche und Richterschaft als Oligarchie kein Ärgernis - für französisch-kontinentale

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und damit auch deutsche Radikal-Demokratie bedeutet sie letztlich ein Attentat auf die Volksherrschaft; diese kennt hier Zwischengewalten in keiner Form, Vertikalisierungen betrachtet sie mit Misstrauen, soweit sie sich nicht in Föderalismus wiederum in die Volkssouveränität einbauen, mit deren Institutionen bewältigen lassen. Instanzenzüge werden akzeptiert, weil aufklärerischer Rationalismus dies als Garantie der Richtigkeit des Urteils verlangt; nicht angenommen wird jedoch der Grundgedanke, es könnten sich hier Richter-Aristokratien entwickeln. Was aber anderes wäre die Folge einer Richterrätlichkeit als die Anerkennung einer aristokratisierenden Oligarchisierung im Zentrum der Staatsgewalt? In durchaus zünftischer Zuwahl, in einer Kooptation aus dem Ancien Regime entlehnter Selbstergänzung, käme es eben doch wieder zu Meistem, Gesellen, Referendaren, angehenden Richtern als Lehrlingen, und zwar geradezu noch in der Erlernung von "technischen Fertigkeiten", über deren Einhaltung im Letzten oberste Richterräte zu wachen hätten, wahre Akademien einer Richter-ars bon i ac aequi. Und in der Tat: die immer höher gesteigerte Rechtstechnizität müsste eine solche Oligarchisierung im Namen des Wissens und Könnens noch weiter begünstigen. Wie die Katholische Amtskirche, im Namen der Arkanwissenschaft einer von Oswald Spengler mit höchster Mathematik verglichenen katholischen Dogmatik, altzünftisches Kooptationswesen zu Zeiten selbst noch einer Bischofs- und Papstgewalt entgegensetzen konnte - so könnten sich, zumindest mag es so scheinen, die richterrätlichen Richter wirklich zu einer Dritten Macht im Staat, zu einer oligarchischen Aristokratie entwickeln, einer neuen "Noblesse de Robe". Ihr gegenüber aber verfolgen die Volksherrschaft ähnliche stille Ängste wie gegenüber jener Noblesse d'Epee, der Generalität, unter deren Befehlsgewalt eine Bürgerarmee, wie es scheint, immer weiter, und immer noch besorgter gegen Putschgefahren zu demokratisieren bleibt. Diese Angstvorstellung mag dadurch noch genährt werden, dass eine derartige Konstruktion sich vielleicht sogar noch auf die alte aristotelische, immer wieder erfolgreich belebte Staatsformlehre zurückführen ließe, und dies noch in einer durchaus modemen, amerikanisierten Form: Demokratie würde dann in der Ersten, Monarchie in einer präsidentialisierten Zweiten, Aristokratie in einer oligarchisierten Dritten Gewalt auf einer Staatsbühne gespielt, auf welcher jeder der drei Gewaltenträger mit Personen(gruppen) sogleich zu identifizieren wäre, greifbar würde. Die Richterliche Gewalt könnte dann, als ein wirklicher Pouvoir, von so manchen Widersprüchlichkeiten, ja Ungereimtheiten gereinigt werden, welche bisherige Betrachtungen bereits aufgedeckt haben. Zugleich würde etwas wie eine Wissens-Elite staatsrechtlich institutionalisiert, in Formen bereits, welche sich sogar in den Bildungsbereich fortsetzen ließen an Hochschulen, im Sinne einer eigenartigen Vierten Gewalt. Damit würde den nicht verstummenden Rufen

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nach neuen Führungsschichten, nach Bildungseliten entsprochen - und dies alles in einer insgesamt ausgewogen erscheinenden Gewaltenteilung. Doch da sei Volkssouveränität vor! Vor mehr als zwei Jahrhunderten bereits ist es gelungen, derartige Aristokratievorstellungen, zusammen mit denen von Zwischengewalten, in denen sie sich, ganz natürlich; immer neu formierten, politisch zu zerstören, aus politischem Denken geradezu auszumerzen. Vielfache Restaurationsstöße, zuerst aus dem Adel, später und bis ins 20. Jahrhundert hinein aus dem Bürgertum, haben immer wieder die Ängste von Mehrheiten schüren helfen, welche eine solche Oligarchisierung gerade im Bereich der Dritten Gewalt, unter dem Schutz von deren persönlicher Unabhängigkeit befürchteten, wenn nicht ohne Recht, so doch sicher nicht ohne Vorwand. Die "Bürgerliche Justiz", der "konservative Richter" sind Schreckensgespenster für alle Arten des Sozialismus geblieben, bis zu einem Nationalsozialismus, der sie "liberalistischer" Aufrechterhaltung flÜherer Strukturen verdächtigte. Nicht selten behauptete Erscheinungen sozialisierender Richterpolitik, etwa in der Arbeits- oder der Mietgerichtsbarkeit, belegen immerhin, dass solche Sorgen zu Reaktionen der politischen Gewalten geführt haben könnten. Und gegen solche Bedrohungen scheinen offenbar die Einflussmöglichkeiten eines Volksrichterturns, von Schöffen- und Geschworenenwahlen, nicht ausreichend zu schützen, zeigt doch das "Volk" eine schwer ausrottbare, radikaldemokratischem Denken aber stets suspekte Tendenz, sich, angeblich oder tatsächlich, wenn nicht besserer Einsicht, so doch besser ausgebildeter Vorsicht anzuschließen. In all diesen vielfachen Bereichen liegen noch gänzlich unerschlossene, ja sogar unbewusste Kontroversen-Potentiale für Kämpfe um Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Richterturns, damit aber um seine Anerkennung und wahre Institutionalisierung als einer selbständigen Gewalt. Hier kann ein wilhelminisches "Es ist erreicht!" gewiss noch lange nicht gesprochen werden. Damit aber bleibt auch noch lange die Richterliche Gewalt offen für Verfassungsstreit, als Verfassungsgewalt im Zwielicht. 8. Unabhängigkeit der Richter und Demokratie a) Der nicht unproblematische, aber weitverbreitete und insgesamt im allgemeinen Rechtsbewusstsein doch wohl voll akzeptierte Ansatz, die richterliche Gewalt aus ihrer Unabhängigkeit heraus zu definieren, sie gerade deshalb so hoch auf Verfassungsebene neben den anderen Gewalten anzusiedeln, könnte einen tieferen, ungenannten Grund haben: den Versuch jenes Volkes, von dem in der Demokratie alle Gewalt ausgehen, bei dem sie aber eben nicht bleiben soll, wenigstens zum Teil demokratiefernen Machtträgern anzuvertrauen. Darin käme dann, wenngleich wiederum verdeckt, etwas von jenem Misstrauen gegen "Politik" zum Ausdruck, welche unter der

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Volksherrschaft immer häufiger mit der Parteienherrschaft identifiziert und als solche kritisch betrachtet wird. Das Vertrauen zu den unabhängigen, d.h. in erster Linie partei-, politik- und im Grunde demokratiefernen Richtern wäre dann nur ein, wenn auch wohl das deutlichste und bedeutendste, Phänomen einer "Flucht einer Staatsform in ihr Gegenbild", in gerade nicht volkslegitimierte, demokratiekontrollierte Gewaltausübung. Unabhängige Machtträger aller Art, von Zentralbankräten über Rechnungsprüfer bis hin zu vielfaltigen Expertenzirkeln, könnten wohl eine derartige Flucht aus der Staatsform als eine bereits systematische Bewegung verdeutlichen. b) Die Lebenszeitstellung aller richterlich Urteilenden, noch immer ein zentrales Merkmal des Status ihrer persönlichen Unabhängigkeit, ist sicher ein Kriterium, welches in diese Richtung der Demokratieferne weist. Hier wird übrigens auch deutlich, dass die persönliche Unabhängigkeit, gerade im Bereich der Richterlichen Gewalt, letztlich funktional gedacht ist, soll der Richter doch durch seine Lebenszeitstellung darin gesichert werden, dass er seine urteilende Funktion nur durch den Ablauf der allmächtigen Zeit, nie durch den Willensakt eines anderen Gewaltträgers verlieren kann. Eben diese funktionale Ausrichtung seines Status unterscheidet ihn ja von jenem Beamten, dem ebenfalls zwar sein Status, nicht aber seine Funktion vergleichbar lebenslang garantiert sind. Lebenslange, jedenfalls lebens zeitlich begrenzte Gewaltübertragung ist aber, dahin führen alle historischen Wegen, daran führt kein dogmatischer Weg vorbei, ein durchaus undemokratischer Wesenszug einer anderen, der monarchischen Staatsform. In ihr wird auf Lebenszeit Macht übertragen, in einem Vertrauen auf unbestimmte Zeit wurden sogar deutsche Wahlkönige bestimmt. Dass dem dann ein bestimmtes Lebensalter doch Schranken ziehen sollte, auch bei Richtern, heute schon bei Bischöfen, wenn auch noch nicht bei Königen, zeigt kein grundSätzlich unterschiedliches Verständnis an: Die einst so festgelegte Altersgrenze bestimmte sich eben nach vermuteter Funktionsunfahigkeit, ja zumindest einer Funktionsschwäche, die beim vielfach beratenen Monarchen noch hinzunehmen sein mochte, nicht aber bei jenem Richter, der doch unter dem höchsten Verbot der Rechtsweigerung stets judizierte. So hat denn auch die Demokratie, mit sicherem Gespür für diese geradezu monarchenähnliche Lebenszeitstellung der Richter stets gegen eben diese institutionelle Gestaltung reagiert. Es begann schon mit den immerhin insoweit demokratisch durch Wahl bestellungen geprägten republikanischen Ansätzen in der Figur des römischen Prätors, die Schweizer Wahlrichter setzen hier die demokratische Grundstimmung der Eidgenossenschaft bruchlos fort, und selbst Montesquieu ging bereits in vordemokratischer, aber durchaus Volksherrschaft vorausahnender Zeit von solchem Wahlrichterturn aus. Beim englischen königlichen Richter mochten sich monarchische Elemente mit aristokratischen Magistratsvorstellungen auf Zeit noch in ande-

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rem Sinne verbinden. Insgesamt aber kann kein Zweifel bestehen, dass die volle Lebenszeitstellung den Richter näher an die monarchische als an die demokratische Staatsform rückt, ihn von dieser letzteren entfernt. c) So ist denn auch gerade bei der Dritten Gewalt die Anbindung an die institutionelle Quelle der Volkssouveränität, die vieldiskutierte "demokratische Legitimation", stets ein im Letzten ungelöstes, eben ein unlösbares Problem geblieben. In jedem jener zahllosen Augenblicke bricht es auf, in welchem ein Robenträger seine und seiner unabhängigen Kollegen Entscheidung verkündet "Im Namen des Volkes". Denn jedem Beteiligten und dem ganzen unbeteiligten Umstand der Bürger-Öffentlichkeit ist klar, dass sich niemand erhebt vor der Majestät des Volkes - vor seiner eigenen sondern vor Amtstracht und durch sie versinnbildlichter Amtsgewalt des richterlichen Letzten Wortes. Diese Formel mag als eine ferne Fortsetzung eines amtskirchlichen "Im Namen des Vaters ... " gedacht sein, doch in ihr liegt schon mehr von einem ermüdeten "In Gottes Namen ... ". Schärfere Kritik würde ihr einen anderen, einen bitteren lateinischen Spruch vorhalten: Ist dieser "Name des Volkes" nicht bereits ein staatsrechtliches lucus a non lucendo, eine fast schon ironische Benennung der Judikative aus ihrem Gegenpol - der Demokratie? Schon für die Zweite Gewalt ergaben sich hier kaum lösbare Probleme für Verfassungsrecht, ja geradezu demokratische Staatstheorie. Wie sollte eine Machtträgerschaft auf das Volk zurückgeführt werden, welche doch als dessen originärer und geschworener, wenn nicht Feind, so doch Bedroher der ständigen Kontrolle durch seine gewählten Vertreter unausweichlich bedurfte? So musste denn diese Kontrollfunktion des Parlaments in einer bereits gequält wirkenden Konstruktion zur Begründung demokratischer Legitimation der gesamten Exekutive über die parlamentarisch kontrollierte Regierung herhalten. Mit diesen Schwierigkeiten hat das demokratische Staatsrecht mehr durch schweigende Hinnahme einer kaum mehr nachvollziehbaren Konstruktion als in wahrer rationaler Überzeugung seinen Frieden gemacht. Diese Brücke aber nun auch noch fortzubauen bis zu der von einer parlamentskontrollierten Regierung bestellten Judikative oder deren Normunterworfenheit - endet dies nicht in staatsrechtlichen Eselsbrücken? Legitimation über einen Vertrauensbogen nach dem anderen, der niemals in effektiver, laufender Kontrolle überschritten wird - soll dies das Ende, ja geradezu die Höchstform demokratischer Rationalität sein? Hier zeigt sich nicht nur eine tiefgreifende Diskrepanz zur Theorie der Volkssouveränität, sondern eine eben solche zu demokratischer Staatspraxis. d) Alle Richtertätigkeit ist nicht nur in ihren dogmatischen Grundlinien, sondern auch in ihren verfahrensrechtlichen Ausgestaltungen weit entfernt von all jenen rechtlichen Grundstimmungen, welche gerade ein "Handeln in Demokratie" charakterisieren:

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- Hier fehlt völlig jenes politische, weithin ungehinderte Fluten und Branden, ein Hin und Her, wie es sogar die Verfassungsgerichtsbarkeit als Wesen der Demokratie erkennt, dem sie dann die beruhigende, stabilisierende Wirkung des Berufsbeamtentums entgegensetzt - und natürlich noch mehr die der Dritten Gewalt entgegenhalten muss. Eindimensionale Entwicklung, ein langsam erkennendes Fortschreiten und Entfalten prägt jenes richterliche Entscheiden, welches nicht ohne Grund immer wieder mit den Formeln der Entscheidungsschritte in Zusammenhang gebracht wird. Politische Demokratie ist durch Unvorhersehbarkeit ihrer Wendungen gekennzeichnet - der Richter möchte doch zumindest in optimaler Vorhersehbarkeit tätig werden. Und wenn die Beteiligten oft zu beklagen haben, sie befänden sich mit ihm auf "Hoher See" mit deren unbestimmbaren Fluten, so liegt darin mehr von einem praktisch-menschlichen Vorwurf als von einer dogmatischen Ordnungsvorstellung der Dritten Gewalt. - Argumentationen, Entscheidungsschritte, wenn es sie in der Demokratie als solche überhaupt gibt, sind dort weithin bestimmt durch eine Emotionalität, welche wiederum aus politischen Urgründen heraus wächst. Diese politische Gefühlsbestimmtheit verdichtet sich geradezu zur typisch demokratischen Handlungsform von Staatsorganen, welche immer noch etwas überbringen sollen zur Bürgerschaft, was auch in deren gefühlsbestimmten Lebensräumen mächtig ist. Politik ohne Passion ist sterile Demokratie, leidenschaftliches Richtertum aber ist Widerspruch in sich - Volksgerichtshof. - Die Demokratie lebt und stirbt mit ihren Mehrheiten, mit ihnen beendet sie eben auch immer wieder ihre Entscheidungen. Zum Wesen des Richtens gehört die Mehrheit nicht, der königliche Richter beweist es. In judikativer Kollegialität stellt sie eher eine Form institutionalisierten Misstrauens dar gegenüber menschlicher Erkenntnisfähigkeit und ausgewogenem Urteilsvermögen. Jedenfalls führen richterliche Mehrheiten weit mehr auf Differenzen menschlichen Erkennens zurück, als auf jene Gegensätze menschlichen Wollens, wie sie in den politischen Mehrheiten der Demokratie zum Ausdruck kommen. Wiederum sind judikative Mehrheiten eben darin auch durchaus unpolitisch und damit letztlich undemokratisch, dass in ihnen nicht jene Freund-Feind-Beziehung herrscht, welche alle demokratische Mehrheit nicht nur in ihrer Bildung, sondern auch noch nach der Entscheidung, gewissermaßen unter ihrer Decke charakterisiert. Und selbst im Richterkollegium muss es ja die Mehrheit nicht geben, die abweichende Meinung der Minderheit; noch immer ist ideal das einstimmige Votum das fast schon Undemokratische an sich. - All diese vielen, hier mit ganz unterschiedlicher Intensität beleuchteten Aspekte fügen sich zu einer Sicht zusammen von richterlicher Unabhängigkeit, in welcher wohl letztlich nur eines fortlebt: ein Rest von fürst-

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lichem Gottesgnadentum, von monarchischer Independenz gegenüber allen Mächten dieser Welt. Den unsichtbaren Gott ersetzt hier das unsichtbare Recht, nicht das nur allzu fassbare Volk. Von ihm ist der unabhängige Richter der Demokratie im Grunde so weit entfernt, wie einst nicht nur der konstitutionalistische, sondern geradezu der absolute Monarch. Auf die vox populi vox Dei hatte auch er, in all seinem Gottesgnadentum, noch immer irgendwann zu hören, spätestens wenn sich die Vielen zusammenfanden auf Straßen und Wegen gegen ihn; und ein vergleichbares Gespür für elementare Volksgewalt bewahren sich auch jene Legisten, welche schon eine bedenkenbeladende Ausbildung zu ewiger Vorsicht - verurteilt, gerade beim Urteilen. Soll sich aus solcher Unabhängigkeit nun wirklich eine der Verfassungsgewalten aufbauen - und gerade noch in der Staatsfonn der Demokratie?

VI. Problematisches Ergebnis funktionaler Betrachtung: Richtertätigkeit in Gewaltenverschränkung oder als "offene Gewalt" 1. Ein komplexes - wenn überhaupt ein - Gesamtergebnis

Für "die Judikative" lassen sich, dogmatisch betrachtet, gewisse Definitionselemente ausmachen, vielleicht sind es aber auch nur Hinweise auf solche; und dies begründet bereits Zweifel daran, ob sich hier etwas wie eine einheitliche Verfassungsgewalt mit der dafür doch notwendigen grundlegenden Einfachheit, Selbstverständlichkeit und daraus sich ergebenden Überzeugungskraft herausstellen lässt: a) Für herkömmliches richterliches Handeln lässt sich, soweit bisher ersichtlich, nur eines in der notwendig zentralen funktionalen Betrachtung festhalten: Hier wirkt eine Macht des Letzten Wortes. Sie ist jedoch in verschiedener Hinsicht und mit weitreichenden praktischen Folgen relativiert. Nur eine dieser Einschränkungen charakterisiert alles Richtertum im Rechtssinn: dass es allein reaktiv tätig werde, auf Anfragen anderer Staatsgewalten oder sonstiger Rechtsträger, dass sich die Richter damit in eine gewisse Passivität des Antwortens eingebunden sehen. Für die normkontrollierende Verfassungsgerichtsbarkeit mag sogar noch der Zweifel begründet sein, ob diese notwendige Reaktivität auch für sie gelte, hier eine wahre Begrenzung bedeute - jedenfalls wirkt sie nicht so intensiv wie gegenüber traditionellem Urteilen: Die große Zahl bereits der möglichen Verfassungsbeschwerde-Führer mag eine Verspätung der Entscheidung nicht ausschließen, mit einer ebenso hohen Wahrscheinlichkeit kommt aber doch das wirklich verfassungs-problematische Gesetz vor diese Richterschranken.

VI. Richtertätigkeit in Gewaltenverschränkung oder als "offene Gewalt" 107 Ein weiteres Definitionselement trifft in dieser Form nur für die traditionelle Instanzgerichtsbarkeit zu: dass sie rein für die Vergangenheit entscheide, diese abschließe, jeweils nach dem Willen des Gesetzgebers. Für normkontrollierende Verfassungs gerichtsbarkeit gilt dies nur mehr unter dem engen, ja "theoretischen" Vorbehalt späterer Verfassungsgesetzgebung; im Übrigen entscheidet sie auch für die Zukunft, jedenfalls viel weitergehend, als es ein wie immer geartetes Richterrecht der Instanzgerichtsbarkeit gegenüber der einfachen Gesetzgebung vermöchte. In durchaus unterschiedlichem Umfang gilt also für alle Gerichtsinstanzen, dass sie für die Zukunft in ständigem Dialog stehen mit Entscheidungen anderer Staatsgewalten und Rechtsträger, insbesondere mit vertragsschließenden Parteien und gesetzgebenden Parlamenten. Hier zeigt sich also bereits: Gewisse Kriterien mögen sich für eine Bestimmung der Richterlichen Gewalt finden lassen, alle Formen rechtsprechender Gewalt charakterisieren sie keineswegs in gleicher Weise; und dabei werden Intensitätsabstufungen zu rechtlichen Unterschieden. b) Andere Kriterien allgemeiner Art für richterliche Tätigkeit als solche lassen sich, dies haben die bisherigen Betrachtungen gezeigt, nicht aufstellen. Was hier herkömmlich angeführt wird, gilt weithin, ja sogar in zunehmendem Maße, auch für andere Gewalten, so etwa Verfahrensbindung und Kontradiktorietät auch im Bereich der Administrative. Jener angeblich für alles Richtertum gewaltkonstituierende Grundsatz der "richterlichen Unabhängigkeit", mit dem sich herkömmliche Gewaltenteilungslehre meist leichthin zufrieden gibt, ist dagegen einerseits nicht nur wirksam im Bereich des Richtertums, zum anderen ist er dort als solcher problembeladen, insbesondere mit Blick auf Gesetzesunterworfenheit und die demokratische Staatsform; und auch die persönliche Unabhängigkeit der Richter ist keineswegs überzeugend gesichert. Solche schwachen Stützen tragen kaum eine wahre Verfassungs gewalt. Damit gerät aber die Theorie einer Gewaltenteilung erneut, nicht nur im Bereich der Ersten und Zweiten Gewalt, wie bereits nachgewiesen, ins Zwielicht von Ausuferung oder Zerfall, sondern sogar noch im Bereich der Judikative. Auch ihre Definierbarkeit wird fraglich, obwohl doch gerade ihre klare Abgrenzung durch Unabhängigkeit die Gewaltenteilung dogmatisch tragen sollte. Und dabei ist noch nicht einmal jener Problematik gedacht, welche aber erneut anklang und gerade das Richtertum belastet: dass hier im großen Stil "Verfassung nach Gesetz" vorliegen könnte, dass gerade jene Elemente, welche die Dritte Verfassungs gewalt konstituieren, ihrerseits wieder durch die Erste in einfacher Gesetzgebung erst gesetzt, jedenfalls rechtlich entscheidend konkretisiert werden.

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Dies ist also insgesamt doch, nach den bisherigen Ergebnissen, eine recht komplizierte, ja eine wahrhaft komplexe Gewalt; und passt dies zum Begriff eines Pouvoir, der doch vereinfachen, politisch überzeugend zusammenfassen sollte, im Namen ordnenden Öffentlichen Rechts? c) Neuere Entwicklungen haben dies an sich schon weithin eher verwirrende Bild einer Gewalt, von der doch gerade Rechtsklarheit erwartet wird, noch mit einer weiteren Problematik belastet, in dem sogar, was sie zur Verfassungsgewalt hochzustilisieren schien: in der Verfassungsgerichtsbarkeit ist dieser Pouvoir, zwischen dieser und der Instanzgerichtsbarkeit, zu einer eigenartigen Doppelköpfigkeit - ausgewachsen. Die Verfassungsrichter üben eben doch, hier sei es noch einmal betont, eindeutig eine Art von negativ kanalisierender Mit-Gesetzgebung aus, auf höchster Normebene, indirekt auch eine Mit-Verwaltung, indem sie die Entscheidungen der Administrative auf, "verfassungsmäßig korrekte, normative Grundlagen stellen". Auch die Staatsgerichtsbarkeit wächst, in ihren normähnlichen Auswirkungen entschiedener Staatsaffären, weit über den bisherigen Einzelfall hinaus. Müsste daher nicht die Frage nach der "Dritten Gewalt" in sich wiederum zweigeteilt werden, ergeben sich nicht für verschiedene richterliche Organstrukturen grundlegend unterschiedliche Begriffsvoraussetzungen, hat sich hier nicht eine nur historisch zu erklärende Gewaltenentwicklung in Gewaltenüberlagerung, von Verfassungsgerichtsbarkeit über Instanzgerichtsbarkeit, ergeben, und gerät damit nicht erneut und erst recht das gesamte System der Gewaltenteilung in dogmatische Untiefen, hinter denen ein begriffliches Schwimmen droht? 2. Gewaltenteilung in Gewaltenverschränkung?

Die herkömmliche Dogmatik hat bald schon erkennen müssen, dass sich Gewaltenteilung nicht in Trennung vollenden, ja in ihr sich nicht einmal durchgehend vorstellen lässt. So ist denn die heute absolut herrschende Lehre von den Gewaltenverschränkungen entstanden, in denen man einem so eigenartigen Gebilde in den vielfältigen Formen "rechtlicher Verfassungswirklichkeit" Rechnung tragen wollte - im Grunde nur ständigen verkrustenden Überlagerungen aus vergangenen Epochen. Da mussten die Normierungskompetenzen von Parlament und Exekutive verzahnt werden in Verordnungsermächtigungen, da kam es zur Bindung der Verwaltung an den Willen einer gesetzgebenden Gewalt, welche doch neben ihr stehen sollte, zur Verwaltung in Gesetzesform durch Maßnahmegesetze usw. usf. Der Verfassunggeber selbst hat sich zu einem besseren japanischen Scharlatan im Sinn des Rousseauschen Gleichnisses der Gewaltenteilung gemacht: Er zerstückelt den einen Körper des Staates gar nicht mehr, um dessen Teile in die Luft zu werfen und den gesamten Staat zum Erstaunen des Volkes

VI. Richtertätigkeit in Gewaltenverschränkung oder als "offene Gewalt" 109 wieder unversehrt aufzufangen - er zertrennt ihn schon von Anfang an gar nicht, verlangt vielmehr von den durch dogmatische Konstruktionen geblendeten juristischen Betrachtern, dass sie seine Kunststücke der Verschränkung als Ausdruck des Teilens begreifen und in all dem die Einheit des Staates verehren. Gewaltenteilung in Gewaltenverschränkung - das ist nicht nur, und diesmal in doppelter Hinsicht, ein monstro simile, es ist eine klare contradictio in adiecto: Verschränkung ist eben doch immer noch das schiere Gegenteil von Trennung, Teilung oder wie immer man sonst die französische Separation des Pouvoirs übersetzen möchte, und "Gewalten" wie sollten sie sich denn verschränken lassen, und was wäre, wenn dies gelänge, damit dogmatisch gewonnen? Der Verschränkungsbegriff als solcher ist ungeklärt, seine geistiges Gewicht entspricht dem von "Konsens" und "Zusammenarbeit", Begriffe, welche man einzusetzen beginnt, wo man aufhört, dogmatisch klar zu denken. Gewaltenverschränkung ist also nichts anderes als ein begriffsdogmatischer Unfall, Ausdruck einer Kapitulation des rechtskonstruktiven Denkens. Besonders bedenklich wird dies nun aber gerade dort, wo man sich bisher vor solcher Kritik noch einigermaßen sicher glaubte: im Bereich der Judikative, welche doch "unabhängig" sein sollte, darin zumindest klare Trennung bewährend. Wenn bei eben dieser Gewalt die Verschränkungsproblematik erneut auftritt, wenn gerade darin ein Ausweg aus den beschriebenen komplexen Ergebnissen funktionaler Betrachtung gefunden werden soll, so gerät die Gewaltenteilung erst recht ins Zwielicht.

3. Verschränkung der Judikative mit der Legislative das "Richterrecht" Trotz der grundSätzlichen Bedenken gegen den in sich wenig klaren Begriff der Gewaltenverschränkung sollen hier nochmals, aufgrund bereits bisheriger Ergebnisse, kurz Phänomene angesprochen werden, welche als solche Verschränkungen erscheinen könnten. In diesem Zusammenhang ist nicht so sehr jener eigentümliche Dialog zu erwähnen, in welchem die Gerichtsbarkeit für die Vergangenheit entscheidet, die Gesetzgebung jedoch gegebenenfalls neues Recht für eine Zukunft setzt, welche sodann die Gerichtsbarkeit erneut in Vergangenheit verwandelt. Vielmehr geht es hier vor allem um eine Erscheinung, in welcher die Auslegungsgewalt des Richters, aller Gerichtsbarkeit, nicht nur zu Gesetzesähnlichem, sondern zu Gesetzesgleichem emporzuwachsen scheint: das "Richterrecht". a) Dieses Richterrecht ist eine viel allgemeinere Erscheinung, als es gängiger Darstellung entspricht. Ob eine Staatsordnung bindende Präjudizien kennt und in welchem Umfang, ob sie solche nur auf die Entscheidungen bestimmter, höchster Instanzen beschränkt - all dies ist grundsätzlich

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gleichgültig. Stets wirkt der auf welcher Stufe immer entschiedene Fall, angesichts moderner Verbreitungstechniken, sogleich als ein "zum Gesetz werdender Einzelfall"; in ihm liegt eben eine Gesetzesauslegung, welche andere Rechtsanwendungsinstanzen, insbesondere Gerichte, übernehmen mögen oder nicht, die aber jedenfalls mit dem Ergehen der Entscheidung etwas wie eine virtuelle Geltungskraft gewinnt, für die Zukunft ein "mögliches Gesetzesverständnis darstellt". Praktisch und letztlich auch theoretisch wirkt dieses dann para-normativ, bis sich andere Entscheidungen von ihm distanzieren oder diesen Geltungsvorschlag aufnehmen und verstärken. Grundsätzlich besteht dabei jedoch kein Unterschied gegenüber einer Lage, in welcher zunächst einmal nur die Norm den Gesetzesunterworfenen bekannt ist: Auch hier werden diese von einem bestimmten Verständnis ausgehen, die Gesetzesgeltung zwischen ihnen entspricht dann aber eben nur vorläufig und bis gerichtliche Entscheidungen ergehen, diesem Sinn. Kommt es zwischenzeitlich zu richterlichen Dezisionen, so verdichtet, verfestigt sich diese Geltung weiter. Jeder entschiedene Einzelfall wird also, bei näherem Zusehen, zu einer Art von "Sofort-Gesetz", es findet in der Gerichtsbarkeit und ihren rechtskräftigen Erkenntnissen eine laufende, sich von Instanz zu Instanz höherentwickelnde Normverdichtung statt. Richterrecht ist in diesem Sinn nicht zu verstehen als eine statische Setzung, die von einem bestimmten Augenblick an voll wirkt. Die Norm wächst in ihrer Wirkkraft von Entscheidung zu Entscheidung, bis hin zur ständigen Judikatur der jeweils obersten Instanz. b) Dieses geltungsmäßige Fortleben, diese Wirkungssteigerung des Gesetzes in Rechtsprechung erfolgt in einer Art von spektralem Klimax, welchen bisher entwickelte dogmatische Kategorien nicht voll erfassen, nur sehr unvollständig beschreiben können: von Befolgung zu Konkretisierung, von dort zur Ergänzung und schließlich zur Ersetzung des in der Norm zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willens durch den der Richter. Kaum je lässt sich deutlich sagen, wann die jeweils nächste Stufe erreicht ist, wann Gesetzesgehorsam etwa über Konkretisierung bereits in Ergänzung oder gar in judikative Fortschreibung, ja Abänderung der Norm übergegangen ist. Denn es fehlt eben eine Instanz, welche dies rechtlich bindend feststellen könnte; sie ist wiederum vorstellbar nur innerhalb der Judikative und müsste daher deren Gewaltausübung zugerechnet werden. Wenn irgend eine andere Staatsinstanz, ein normunterworfener Bürger, ein Vertreter der Wissenschaft erklärt, diese oder jene richterliche Tendenz oder bereits formierte Rechtsprechung sei unvereinbar mit dem Normwillen, wie er etwa nach allgemeinem Sprachgebrauch zu verstehen sei, so stellt dies nur eine Meinung dar, welche den mit rechtlichem Bindungswillen sprechenden Gesetzgeber nicht aus seiner stummen Normsetzung heraus hebt, die aber eben erst der Richter als viva vox legis hörbar und damit rechtlich bindend werden lässt.

VI. Richtertätigkeit in Gewaltenverschränkung oder als "offene Gewalt"

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Dies ist also eine wahre Verschränkung der beiden Gewalten, der Legislative und der Judikative, in welcher aber erst diese Letztere geltendes Gesetzesrecht nach außen setzt. Der gesamte laufende Dialog der Erkenntnis des "richtigen Gesetzesinhalts" , wie ihn der Richter mit dem Gesetzgeber führt, bleibt im Innenverhältnis der beiden Gewalten, tritt staatsrechtlich fassbar nicht gegenüber dem Bürger hervor. Der Richter, welches Judikativorgan auch immer, und auf allen Instanzhöhen, ist schlechthin der Herr der Gesetze; der Gesetzgeber gibt ihm Norm-Material vor. Die daraus sich ergebende endgültige Normen-Realisierung durch Richterspruch mag der Richter politisch-tatsächlich vor der Bürgerschaft zu verantworten haben, indem er sie, mehr oder minder, von seiner Erkenntnis des Norm-Richtigen überzeugt; das endgültige Recht aber spricht er aus, er allein. Gesetzgebung plus Normengehorsam des Bürgers schaffen nur vorläufiges Recht. c) Die rechtlichen Grenzen dieser unkontrollierbar im Innenverhältnis der beiden Gewalten verschränkten Richtermacht sind nach außen, bei der Beurteilung der Gesetzeswirkung aus der Sicht der Normunterworfenen, so gut wie unfassbar. Die ständige Rede vom Verbot der Entscheidung gegen den Wortlaut des Gesetzes mag wohl mit dem Brustton rechtstaatlicher Überzeugung vorgetragen werden, rechtlich bleibt sie unbeachtlich. Eine Entscheidung im Rechtssinne contra legern gibt es nicht, weil sich keine Instanz auffinden lässt, welche dies wiederum rechtlich bindend aussprechen dürfte - es sei denn eben wieder ein Richter, der aber dann nur seine Auslegung an die Stelle des von ihm zensierten anderen Justizorgans setzt. Auch die - nun wirklich alleräußersten - Sanktionen einer richterlichen Rechtsbeugung können daran nichts ändern. Wiederum wäre es auch in diesem Extremfall erst recht nur ein Richter, der diesen gravierenden Gesetzesverstoß feststellte, in einer eigenartige Form von allerletzter Instanz. d) Insoweit ist das "Gesetzesrecht als Richterrecht" - denn so müsste es eigentlich heißen - als "gewaltenverschränkende Gemeinschaftsäußerung" , das eigentliche, das einzige Normen-Recht, die Gerichtsbarkeit tritt mit allen ihren Instanzen, voll und lediglich mit unterschiedlicher Intensität, ein in den Vorgang des Werdens und schließlich des endgültigen Geltens eines Gesetzes auch pro futuro. Ihr "Letztes Wort" bleibt in seiner oben dargestellten Bedeutung demgegenüber selbständig bestehen. Es schließt wirklich die Vergangenheit definitiv ab - was hier betrachtet wurde, ist ein ganz anderes Phänomen: die kombinierte Weiterwirkung der judikativen Tätigkeit, zusammen mit der der Legislative, für die Zukunft. Und auch in dieser Richtung leistet die Judikative, jedenfalls grundsätzlich, dann Endgültiges: Jedenfalls bis zum formalen Eingreifen des Gesetzgebers, bis zum Ergehen eines neuen Gesetzes, welches bisherige richterliche Auslegung außer Kraft setzt, ist dieses bisherige Wirken, die so geschaffene Geltung des Gesetzes,

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

auch die endgültige. Neue Verendgültigung durch gerichtliche Interpretation setzt dann sofort ein, wieder von neuern, gegenüber dem neuen Gesetz, und so vollzieht sich im Grunde die normative Wirkung der Gesetzgebung in Wellen, in größeren Wogen. Sie heben immer wieder mit neuen Aktionen der Legislative an, werden jedoch erst in ihren judikativen Kämmen sichtbar und wirksam, überfluten erst mit ihnen die normunterworfenen Bürgerstrukturen. In all dem findet eine Normwerdung und Norm-Verendgültigung statt, die eigentliche Gesetzgebung, welche nur in dieser selben Verschränkung überhaupt rechtlich wirksam werden kann, aber eben als Lex in fieri. Auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit der Normkontrolle gilt Derartiges, wenn auch in rascherer und kaum mehr durch neue Gesetzgebung unterbrechbarer Verendgültigung: Neue Verfassungsgesetzgebung bleibt eben seltene Ausnahme, eine einzige Instanz verendgültigt sogleich in ihrer Auslegung das Verfassungs gesetz. Auch dies lässt sich noch in die soeben gegebene Darstellung des Richterrechts einfügen, stellt es doch eine Beendigung des Dialoges zwischen Legislative und Judikative dar, welchen die Erstere kaum mehr zu unterbrechen vermag, welchen die Letztere eben in einer zuhöchst gesteigerte Letztinstanzlichkeit abschließt. e) Dieses Richterrecht hat es stets und überall gegeben, wo etwas wie die Figur eines endgültigen Richters im heutigen Sinne anerkannt war, dessen Entscheidung nicht noch vor ein anderes Tribunal gebracht werden konnte. Jener Gesetzgeber, welcher mit dem endgültigen Richter den internen gewaltenverschränkenden Dialog "Normsetzung-Normauslegung" wieder eröffnen möchte, stellt, historisch jedenfalls, ihm gegenüber die spätere Erscheinung dar, in gewisser Hinsicht eine Zufälligkeit, ein Accidens. Wenn es diesen Gesetzgeber nicht gäbe - der Richter würde dennoch und immer endgültig entscheiden, so wie ihm dies ja auch die Formel des Schweizer Zivilgesetzbuches nach wie vor unabdingbar und für alle Richtertätigkeit aufgibt, ob nun der Gesetzgeber vorher sprechen mag oder nicht. Jedes andere demokratisch-rechtstaatliche Verständnis, welches diese Reihenfolge umkehren, das Gesetz als Ausgangspunkt verstehen und deshalb auch die Legislative an die Staatspitze stellen möchte, ändert nichts an der wahrhaft rechts immanenten endgültigen Vorgabe: An sich genügt der Richter allein dem Recht, er ist vor dem Gesetz da und richtet auch nach diesem immer weiter, wie er es versteht; nicht mit dem Gesetz hört das Recht auf, sondern mit dem letzten Urteil. Für geschichtliche Betrachtung sind dies Selbstverständlichkeiten. Nicht nur längst vor dem geschriebenen Gesetz war der Urteilende da; nach dem schönen Wort der Meistersinger setzte er selbst die Regel und folgt ihr dann, schon in den machtgetragenen Anfängen der Rechtsordnungen.

VI. Richtertätigkeit in Gewaltenverschränkung oder als "offene Gewalt"

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Für die Gegenwart aber gilt: Es gibt nur ein Norm-Recht: das GesetzesRichterrecht, das aus der Verschränkung von Willensäußerungen zweier Verfassungsgewalten entsteht. Das "Wie" der Verschränkung bleibt unfassbar - wie könnte man da die verschränkten Gewalten funktional definieren? f) In neuerer Zeit - man könnte sie die post-legislative nennen - wird aber die Bestimmung einer eigentlichen, gesetzesgelösten Richterfunktion in doppelter Hinsicht problematisch, immer noch schwerer rechtlich fassbar:

- Dies gilt vor allem für den erwähnten Klimax der Wirkungsstufen der Interpretation, von der justiziellen Nachzeichnung der legislativen Bindungswirkung im Urteil bis zu deren Ersetzung durch völlig normgelöstes Richterrecht. Die einzelnen Phasen dieser Stufungen lassen sich, das zeigen alle immer wieder erfolglosen Versuche, Richterrecht dogmatisch näher zu erfassen, nicht überzeugend bestimmen und voneinander abgrenzen, sie gehen ineinander über. Und gerade darin liegt die eigentümliche Macht der Richter, zugleich der Vorgang des Entstehens, Wachsens und Altems der Normen, welche sich in ihrer Judikatur vollzieht und die Gesetze nun wirklich, im sokratisch-platonischen Sinn, als lebendige Wesen begegnen lässt. Wie niemand im Fluss des menschlichen Lebens und Altems einen eindeutigen Schnitt setzt, der die Zeit anhalten könnte, so gelingt dies eben auch nicht in einer Norm-Werdung, welche eigentümliche Phasen von Norm-Zeiten in Auslegungsergebnissen immer von Neuem sichtbar werden lässt. Der verschränkende Dialog zwischen Gesetzgebung und Judikative, der immer von Neuem beginnt, in dem sogar die Judikative mit sich selbst als richterlichem Gesetzgeber stets wieder in neue Dialoge eintritt - dies alles wird vom Geheimnis des normgebundenen Richtens zunehmend verdeckt. Die Verfassungstheorie der Gewaltenteilung möchte es mit ihren Fiktionen der "Unterscheidung Legislative und Judikative" lüften, doch es kann ihr nicht gelingen, jedenfalls nicht aus der Sicht, welche sie sich aber doch vornimmt: aus der des staats- und damit gesetzesunterworfenen Bürgers. Sie zeigt die Judikative nicht als eine Gewalt, von anderen klar zu trennen, sondern als einen Pouvoir, der mit einem anderen in einem rechtlich unfassbar verschränkt verlaufenden Dialog steht, in ihm zusammen die Vollgewalt des Staates zum Ausdruck bringt. - Eine weitere und praktisch noch schwerer wiegende Problematik hat sich die Judikative in ihrer neueren Entwicklung selbst gesetzt: Die Frage, wann denn nun "wirklich Richterrecht gegeben sei", für alle Bürger des egalitär-demokratischen Staates, vermögen die Richter selbst nicht mehr überzeugend zu beantworten. Hier müsste ja zunächst einmal definiert werden, wann von einem solchen Richterrecht gesprochen werden dürfte etwa erst, nachdem sich eine "ständige Rechtsprechung" gebildet hat? Dieser Begriff aber ist, in seiner praktischen Anwendung, mit nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten belastet, schon aus der Zufälligkeit heraus, mit 8 Leisner

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

welcher bestimmte Fragen vor gewisse Richter gebracht werden. Und selbst wenn es gelänge, hier volle Normklarheit zu schaffen, wie sie doch die Rechtsstaatlichkeit zwingend verlangt, so könnte auch dies die spätere "bessere Einsicht" einer neu einsetzenden und sich dann verfestigenden richterlichen Normerkenntnis selbst für den Fall nicht ausschließen, in dem der Gesetzgeber keine neuen legislative Anordnungen trifft. Es bleibt also stets unklar, ab wann und wie lange dieses eigentliche, das höchste, das Richterrecht gilt; die entscheidende Frage nach den Formen seiner Abänderungen muss immer offen bleiben, damit aber auch die Frage, ab wann es gilt. Allerdings ist dies nur ein Problem für denjenigen, welcher in parlaments-legislativen Kategorien zu denken gewohnt ist, eine Lex in fieri nicht (aner)kennen will. Könnte er sich zu Letzterem entschließen, in vollem Sinne also "judikativ denken", so würde ihm das Richterrecht nicht zum Problem; ein solches ist es eben nur aus der Sicht einer Gewaltenteilung, in welche es sich nicht einfügen lässt, die es letztlich auch nicht anerkennen darf. So zeigt denn diese Verschränkung der Ersten und Dritten Gewalt letztlich nur eines: dass es diese Judikative als getrennte Gewalt nicht geben kann - und daher auch nicht eine von ihr zu unterscheidende gesetzgebende Gewalt als solche, dass beide vielmehr in ihrer ordnungsschaffenden Verschränkung die staatliche Vollgewalt darstellen, gerade in der Demokratie. 4. Verschränkung der Zweiten und der Dritten Gewalt: Judikative als Verendgiiltigung der Administrative

a) Mit wohl noch größerer Deutlichkeit wird die Richtertätigkeit als eine eigenartige Form der Verendgültigung von Entscheidungen der Zweiten Gewalt mit dieser verschränkt, soweit diese judikativer Kontrolle unterworfen ist, im Rechtsstaat also weitestreichend. Auch hier findet ein eigenartiger und laufender Dialog dieser bei den sogenannten Staatsgewalten in einem "Innenverhältnis" statt, aus dem sodann erst an dem durch die judikative Rechtskraft gesetzten Ende die endgültige Rechtswirkung gegenüber dem Bürger in erstmaliger Voll-Verbindlichkeit hervortritt. Dieser Effekt wird ganz allgemein bereits über den Grundsatz der Gesetzesunterworfenheit der Verwaltung ausgelöst. Wenn diese an die Normen gebunden ist, in ihren wichtigsten Entscheidungen, sich jedenfalls nie außerhalb von deren Schranken bewegen darf, so wird jede Normwirkung im Verwaltungsbereich, welche die Judikative in Verschränkung mit der Legislative hervorbringt, eo ipso auch zu einer Verendgültigung der Entscheidungen der Verwaltungsgewalt: Sie muss gerade diese richterlichen Entscheidungen stän-

VI. Richtertätigkeit in Gewaltenverschränkung oder als "offene Gewalt"

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dig anwenden, und, das ist nun entscheidend, der sogleich einzuschaltende Richter sorgt dafür, mit der Bindungswirkung seiner dieses Richterrecht anwendenden Entscheidung, dass dies auch tatsächlich geschieht. Hier also fallen Richterrechtssetzung und Richterrechtsdurchsetzung weithin zusammen. b) Grundsätzlich ist aber auch, darüber hinaus, anerkannt - und es liegt dies gerade dem neueren Verständnis der Gewaltenteilung zugrunde -, dass die Zweite Gewalt, vor allem in ihren Formen der Administrative, nur eine vorläufige Entscheidungsmacht zum Tragen bringt. Betrachtungen zur Relativierung und Auflösung der Zweiten Gewalt haben bereits früher gezeigt, dass hier alles Endgültige stets, meist nach Bürgerwillen, erst vom Richter rechtlich gesetzt wird. Die Tendenz, Verwaltung als eine Phase zwischen Bürgeraktivität und Gerichtsentscheidung zu begreifen, verstärkt sich in neuester Zeit. Verwaltung könnte in vielen Bereichen ersetzt werden durch Bürgeranzeige und nachfolgende Gerichtsentscheidung. Auch in dieser noch immer weithin üblichen Zwischenphase, in welcher die Administrative nun "zunächst einmal einen Zustand regelt", bis dies dann der Richter endgültig bestätigt, kommt der Zweiten Gewalt lediglich eine gewisse vorläufige Macht zu, sie geht erst mit der richterlichen Rechtskraft in Verendgültigung über. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Administrativentscheidung gewichtslos wäre, in ihrer Vorläufigkeit für den Bürger, als Vorgabe eines Sachverhalts auch für den letztlich entscheidenden Richter. Nicht nur dort, wo sie bereits eine vollende Tatsache darstellt, welche auch kein Richterspruch mehr rückgängig machen könnte, wo also die Faktizität des Verwaltens das Recht zurückdrängt - und diese Gewalt erschien schon früheren Betrachtungen als eine besonders bedeutsame Macht des Faktischen - sondern auch in eben ihrer sachverhalts-konstituierenden Wirkung, als Vorgabe für richterliche Entscheidung, steht die Administrative im Dialog mit der Judikative. Ähnlich, wenn auch nicht voll vergleichbar mit den normativen Vorgaben des Gesetzgebers, bietet sie auch hier dem Richter Entscheidungs-Vorgaben, mit denen er sich auseinandersetzt. Noch deutlicher und allgemeiner anerkannt als gegenüber der Ersten Gewalt wirkt der Zweiten gegenüber die Judikative verendgültigend. Dies mag oft erst nach langem Dialog mit den Organen der Verwaltung geschehen, der zum Teil ja auch unter Einbeziehung des Bürgers vor gerichtlichen Schranken offen ausgetragen wird, während er gegenüber der Legislative, vom Beratungsgeheimnis gedeckt, weithin nicht-öffentlich abläuft. Doch Herr des Verwaltens ist weithin die Judikative, nicht nur in der Verendgültigung der verwaltensbindenden Normen, sondern auch im letzten Gültigkeitsausspruch der Verwaltungsakte und anderer Administrativentscheidungen. c) Diese Verendgültigung durch die Judikative wirkt sogar besonders deutlich gegenüber einer Administration, welche als Staatsgewalt eine 8*

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

schwerwiegende Einschränkung ihrer Macht hinnehmen muss: Der Richter kann hier noch viel weitergehend als gegenüber dem Gesetzgeber in der Praxis mit vorläufigem Rechtsschutz eingreifen. Damit bewirkt er etwas, das man, im Gegensatz zur Verendgültigung, die Vervorläufigung der Entscheidungen der Zweiten Gewalt nennen könnte. Ihre Dezisionen werden sichtbar und von Rechts wegen unter den Vorbehalt der Letztentscheidung einer anderen Gewalt im Staat gestellt, und dies oft noch für weit längere Zeiträume als diejenigen, welche bereits der Gesetzgeber als Anfechtungsund Beschwerdefristen dem Bürger zur Verfügung gestellt, in denen er selbst die Verwaltung mit Vorläufigkeit ihrer Entscheidungen belastet hat.

In einem viel weiterreichenden Sinne schafft Verwaltungsgerichtsbarkeit eine noch allgemeinere Vervorläufigung ganzer Verwaltungspolitiken: Mögen noch so viele Verwaltungsakte einzeln bestandskräftig werden - wird auch nur ein mit ihnen vergleichbarer erfolgreich angegriffen, so muss die Administrative ihre Richtung als solche für die Zukunft ändern, nur für die Vergangenheit konnte sie in Bestandskraft endgültig wirken. Angesichts des hier bedeutsamen Gleichheitssatzes stellt all dies die Zweite Gewalt geradezu im Ganzen für die Zukunft unter einen Vorbehalt richterlicher Gewaltausübung, den sie zwar ebenso wenig wie die Dritte Gewalt in seinen Auswirkungen zeitlich genau vorhersehen kann, der sie nun aber endgültig, und nicht nur im Einzelfall eines lang umstrittenen Verwaltungsakts aus der rechtlichen Wirksamkeit ihrer Macht drängt. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat weithin eben eine Verlagerung der Zweiten Gewalt in den Bereich der Dritten bewirkt, und dies auch noch in einer gewissen zeitlichen Unvorhersehbarkeit und entscheidungs mäßigen Beliebigkeit dieser letzteren, welche sich weithin als eine echte Machtrelativierung der Administrative auswirkt. Im Dialog mit der Zweiten Gewalt nimmt also die Dritte Gewalt eine wohl noch stärkere Stellung ein als gegenüber dem Gesetzgeber. Denn hier vermag sie ja aufzutreten, in all ihren Gerichtszweigen und Instanzen, als Schützerin jenes Bürgers, den sie gegen den Willen seiner souveränen Volksvertreter, gegen das Gesetz, nicht offen, sondern nur im Kryptodialog der Auslegung zu sichern vorgeben darf. Wiederum aber, über die Wirkung des Richterrechts und dessen, was man nun geradezu eine "judikative Administration" nennen könnte, wirkt die eigentümliche Gewaltenverschränkung im Sinne eines Dialogs der Verfassungsgewalten, in dem die Judikative das Letzte Wort spricht. Dieses Letzte Wort wurde in einem früheren Kapitel, herkömmlicher dogmatischer Betrachtung folgend, als ein wesentlich vergangenheitszugewendetes erkannt. Betrachtet man es jedoch, gewissermaßen "innergewaltlich", nicht mehr aus der Sicht des gewaltunterworfenen Bürgers, sondern aus der der anderen Staatsgewalten, so gewinnt dieses selbe Letzte Wort noch ein

VI. Richtertätigkeit in Gewaltenverschränkung oder als "offene Gewalt"

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anderes, stärkeres Gewicht: Dieses Richterwort wirkt dann auch für die Zukunft im Rahmen jenes verschränkenden Dialoges mit den anderen Gewalten, als das abschließende, in diesem Sinne als Ausdruck der staatlichen Vollgewalt. Ein eigentümliches Ergebnis also: Dieses Letzte Wort kann sowohl erscheinen als ein in die Vergangenheit verbanntes rechtliches Nullum, betrachtet man das Recht als Sollensordnung für die Zukunft - als auch als ein Entscheidungen aller anderen Staatsgewalten verendgültigendes Wort, in welchem erst das Recht überhaupt als ein Sollen "wird". In beiden Richtungen aber ist die herkömmliche Lehre der Gewaltenteilung kaum mehr ein dogmatisches Rüstzeug zur rechtlichen Erfassung und Ordnung staatlichen Handeins.

5. Judikative als "offene Gewalt" a) Offenheit ist heute, durch vielfachen rechtspolitischen Begriffs-Missbrauch, insbesondere als Alibi für Entscheidungsscheue, zum Modewort herabgesunken. Einen gewissen, noch immer fassbaren Inhalt, behält der Begriff darin, dass er einen Dialog bezeichnen soll, in einem Zusammenwirken aus Vorgaben heraus, welche von verschiedenen Gesprächspartnern gesetzt, eingebracht werden, der aber als solcher nicht ergebnisfixiert abläuft. In diesem Sinne kann man gewiss die Richterliche Gewalt als eine "offene" charakterisieren. Sie ist gerade nicht getrennt von anderen Pouvoirs im Staat, auch nicht in einem Letzten Wort, das sie eben nicht nur in zeitliche Vergangenheitsschranken einschließt. Diese Judikative wirkt verendgültigend auch in die Zukunft, in Antworten, die sie auf Bürgerfragen gegenüber den vorläufigen Entscheidungen anderer Gewalten gibt. Vielfach ist sie dabei, und in wenig klaren Formen allerdings, verzahnt mit Legislative und Administrative. Das abschließende Wort spricht sie gegenüber den Rechtsunterworfenen, doch auch ihnen steht sie in einer eigenartigen Offenheit gegenüber: Wesentlich bleibt sie eben die Gewalt der Antwort, die der Frage überlässt sie allen anderen Rechtsträgern, und insoweit sind sie auch alle vor ihr gleich, die Bürger und die anderen Gewalten des Staates. Darin wird diese Offenheit zu einer eigenartigen letzten Passivität, die Judikative zu einer wesentlich antwortenden Form der Vollgewalt. Der Begriff der Responsa charakterisiert das heutige Recht von seinen antiken Anfängen an; in ihm liegt eine tiefgründige Erkenntnis: dass alles Recht stets Antwort ist, und dass im Letzten der Richter eben doch - dieses Recht ist, aber in jener Offenheit, die seine Antwort mit der Frage des Rechtsunterworfenen verbindet. b) In mancher Weise lässt sich also in funktionaler Betrachtung die Gerichtsbarkeit zwar charakterisieren - wenn auch gewiss nicht definieren mit den meisten jener Kategorien, welche dies bisher bewirken sollten: Da

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B. Funktionale Kriterien - das Wesen des Richtens

sind bereits die unterschiedlichen funktionalen Wirksamkeiten der Instanzgerichte und der Verfassungsgerichte; da kommt hinzu die verschiedene Wirkmächtigkeit der Rechtskraft für die Vergangenheit und ihre (U n-) Wirksamkeit für die Zukunft; da schließen sich an die wiederum völlig heterogenen Verschränkungen der Judikative mit der Ersten und der Zweiten Gewalt, mit welchen diese funktionale Betrachtung schloss. Alles in allem aber erscheint dieser Pouvoir doch, bei funktionaler Betrachtung jedenfalls - und sie hat ja, wie dargestellt, hier im Vordergrund zu stehen - nicht etwa als eine rechtlich-dogmatische Einheit, sondern als eine Zusammenfügung, Überlagerung vielleicht, vielfacher Kompetenzen, welche aus historischen Erscheinungen geworden sind. Insgesamt zeigt dies mehr das Bild einer Ansammlung von Kompetenzen als Gewaltstücke, vielleicht von Trümmern einzelner früherer Gewalten, als das einer überzeugenden Gewalteneinheit. Und wenn eine solche Einheit irgendwie doch durch das Letzte Wort der Judikative mehr hindurchscheint, als dass dieses sie bewusst repräsentierte, darstellen dürfte im Rechtsstaat, so ist dies dann eben die Vollgewalt des Staates, es sind nicht nur einzelne Funktionen seiner Gewaltausübung. In diesem Sinne ist vielleicht die Richterliche Gewalt die staatliche Vollgewalt - aber im Rechtsstaat der Volksherrschaft darf sie sich als solche nicht fühlen; allenfalls noch darin kann sie in dieser Weise auftreten, dass sie eben dem eigentlichen Souverän stets die letzte Antwort gibt - dem Bürger. Eines jedenfalls hat sich, wie immer man im Einzelnen die Ergebnisse dieses Abschnitts werten man, gezeigt: Eine Gewalt im Sinne des PouvoirBegriffs des Ancien-Regime liegt hier gewiss nicht vor. Allenfalls hat dieses fast schon monstro simile Ähnlichkeiten mit jener vielschichtigen Zusammenfassung von heterogenen Kompetenzen, welche man heute als Zweite Gewalt vereinfachend darstellt, wie es frühere zeitliche Betrachtungen bereits gezeigt haben. So soll sich hier denn nun die selbe Frage anschließen, welche auch damals schon an diese Exekutive gestellt wurde: was denn die Judikative an Einheit vielleicht doch finden könnte in gewissen organisatorischen Ausformungen, nachdem "Gewalt" auch immer und hier meist zuallererst staatsorganisationsrechtlich gedacht ist.

c.

Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt J. "Gewalt": Notwendigkeit einer organisatorischen Einheit?

Eine Dritte Gewalt im Sinne der Teilung der Verfassungs gewalten, welche diese Bezeichnung im Rechtssinn verdient, muss gewisse einheitliche Kriterien aufweisen, nach welchen sie sich bestimmen und von den anderen Verfassungsgewalten abgrenzen lässt. Im Teil B. dieser Betrachtungen wurde dies aus funktionaler Sicht geprüft, es wurde also gefragt, was denn das Wesen gerichtlicher Aufgabenerfüllung im Sinne der Dritten Gewalt ausmache. Dabei ergaben sich, insbesondere im Begriff des "Letzten Wortes", gewisse Hinweise auf rechtstypische Wirkungen gerichtlichen HandeIns, während dessen verfahrensrechtliche Formen eine solche Gewalt nicht zu konstituieren vermögen. Zugleich aber zeigte sich, dass dieses Kriterium der Letztentscheidung in sich wiederum verschiedene Erscheinungsformen aufweist, sowohl zwischen Instanzgerichten und Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere der Normenkontrolle, als auch nach ihrer Wirkungsweise, je nach dem, ob man diese isoliert oder in Verschränkung mit den Kompetenzen anderer Gewalten, vor allem der Gesetzgebung, betrachtet. Aus diesem Grund vor allem, und weil damit fraglich bleibt, ob sich daraus wirklich eine einheitliche Verfassungsgewalt konstruieren, in ihren Wesenszügen erfassen lässt, muss im Folgenden nun, wie angekündigt, auch die organisationsrechtliche Frage gestellt werden: Werden im Bereich dieser Dritten Gewalt Organe durch organisationsrechtliche Entscheidungen in solcher Art "zusammengeordnet" , dass sie einen im Wesentlichen gleichartig verfassten Verbund von Organträgem mit zumindest ähnlichen Kompetenzen darstellen? Und in welcher Weise erfolgt diese "Zusammenordnung"? Ein Begriff von "zusammengeordneten Organträgem mit ähnlichen Kompetenzen" lässt sich noch den Ergebnissen der durchgeführten funktionalen Betrachtungen entnehmen. Die Zusammenordnung als solche bleibt jedoch eine organisationsrechtliche Entscheidung, wenn und soweit sie überhaupt festzustellen ist. In ihrem dogmatischen Zentrum steht der Begriff der Über/Unterordnung, einer Hierarchie also, in welcher eine Verfassungsgewalt eine bestimmte pyramidale Struktur aufweist. Diese muss sodann rechtliche Wirkungen auf die Verbindlichkeit der Gewaltäußerungen nach außen, gegenüber den Adressaten zeitigen, auf die sich das staatliche Verhalten richtet.

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C. Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt

Derartige hierarchische Strukturen sollten - das sei hier klärend vorausgeschickt - nicht mit den gegenwärtig so weit verbreiteten antiobrigkeitlichen Affekten belastet erscheinen. Bei ihnen geht es ja nicht primär um Eingriffsmacht gegenüber einer Bürgerschaft, welche in ihrer Freiheit zu sichern wäre. Im Gegenteil steht bei einer solchen innergewaltlichen Hierarchieidee sogar der Gedanke einer organisatorischen Freiheitssicherung im Vordergrund: In hierarchischer Kontrolle sollen nachrangige, aber gerade deshalb meist besonders bürgernahe und bürgerbelastende hoheitliche Äußerungen geordnet, abgemildert, soweit rechtswidrig beseitigt werden. In diesem Sinne stellt die Gewaltenteilung, nicht nur in ihrer horizontalen klassischen Form der Drei Gewalten, oder in ihrer vertikalen, ebenfalls herkömmlichen Föderalform, sondern auch noch innerhalb jeder der Drei Gewalten durch eben ihre hierarchischen Strukturen, eine wesentliche Form der Freiheitssicherung für den Bürger dar - wenn und soweit sich solche Strukturen auffinden lassen. Diese innergewaltliche Hierarchie ist nun in zwei Grundformen vorstellbar und auch seit langem praktische Realität: einerseits in einer Über/Unterordnung, welche ihre Ausprägung in der Anordnungsgewalt höherer Instanzen findet, bis hin zum vollen Durchgriff "von oben nach unten"; zum anderen in einer Hierarchie der rechtlichen Wirksamkeiten von Entscheidungen, welche auf verschiedenen Stufen dieser Gewalt ergehen, wobei jeweils die höhere Stufe Anordnungen der nachgeordneten begrenzt und bei Grenzüberschreitung unwirksam werden lässt. Die erste dieser Formen mag hier Anordnungshierarchie, die letztere Normenhierarchie genannt werden. Beide erfüllen gleichmäßig grundSätzlich die Anforderungen an jene "Zusammenordnung", welche als die für eine organisationsrechtliche Gewalteinheit typische Klammer gefordert wurde. Diese beiden Hierarchieformen stellen zwar unterschiedliche Ausgestaltungsformen der Über/Unterordnung dar, letztlich weisen sie jedoch eine einheitliche Befehlsstruktur auf: im Falle der Anordnungshierarchie wirkt die Entscheidung, welche die höhere Instanz trifft, von sich aus und sogleich, grundSätzlich ohne Rücksicht darauf, ob sie dazu durch den Anruf seitens dritter Instanzen oder Rechtsträger veranlasst wurde; die Normenhierarchie entfaltet dagegen ihre Wirksamkeit rechtlich allein in der Setzung der höherrangigen Norm, ein Effekt, welcher dann in unterschiedlichen Formen, auf Anruf Dritter, Betroffener oder durch Sanktion von Amts wegen, realisiert werden mag. Eine letzte Einheit dieses Hierarchiebegriffes zeigt sich darin, dass es für ihn nicht wesentlich ist, auf welche Weise die Wirksamkeit der höheren Entscheidung rechtlich durchgesetzt wird. Ob ein Innenminister von sich aus auf die Entscheidungen eines Landratsamtes durchgreift, sie durch seine Dezisionen erzwingt oder abändert - oder ob ein durch ein Urteil betroffener Bürger dessen Aufhebung durch Berufung

11. Antihierarchische Wesenszüge richterlicher Entscheidungstätigkeit?

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oder Revision vor einer höheren Gerichtsinstanz erreicht - oder ob schließlich die Normenhierarchie zwischen Bundes- und Landesgesetzen auf Verfassungsbeschwerde vor einem Organ der Verfassungsgerichtsbarkeit in Aufhebung des Landesrechts durchgesetzt wird: in all diesen Fällen wirkt Hierarchie in organisationsrechtlichen Kanälen, also letztlich als Ausdruck und in Formen einer übergeordneten Entscheidungsgewalt. So haben denn schon frühere Betrachtungen erwiesen, dass eine gewisse auch organisationsrechtliche Einheit der Ersten Gewalt über jene Normenhierarchie wirksam wird, in welcher gesetzgebende Körperschaften in eben diesen ihren Legislativentscheidungen "übereinandergeschaltet" werden. Der Exekutive waren traditionell Hierarchievorstellungen stets immanent nur hat sich bei vertiefender Betrachtung der gegenwärtigen Verfassungslage gezeigt, dass hier die Gewalteinheit organisationsrechtlich doch bereits weithin zersplittert ist, diese Gewalt also mehr und mehr in Auflösung steht. Immerhin mag sie aber, in der Unterworfenheit der Verwaltung unter dasselbe Gesetzesrecht, wenigstens insoweit zu einer gewissen Einheit finden, welche allerdings das Wesen dieser "undefinierbaren Verwaltung" als einer einheitlichen Gewalt, die sich als eine solche mit dogmatischer Klarheit bestimmen ließe, nicht konstituieren kann. Hier nun, für die Dritte Gewalt, ist die organisationsrechtliche Frage erneut im Sinne der so bestimmten Hierarchievorstellungen zu stellen: Erscheint die rechtsprechende Gewalt durch die Verfassung in einer Weise zusammengeordnet, welche von einer organisationsrechtlichen Einheit sprechen lässt, innerhalb deren durch übereinandergeordnete Instanzen entschieden wird, und sei es auch auf gewaltexternen Anruf?

11. Antihierarchische Wesenszüge richterlicher Entscheidungstätigkeit? 1. Gerichtsbarkeit - ohne hierarchische Beamtenorganisation

Eine Untersuchung der Organisationseinheit, wie sie hier unternommen wird, muss ein Missverständnis von vorneherein ausschließen: sie darf sich nicht orientieren an den herkömmlichen historischen Hierarchievorstellungen einer von oben nach unten durchgreifenden Exekutivgewalt. Diese Art von Über/Unterordnung findet ihren organisationsrechtlichen Ausdruck in einer beamtlichen Gehorsamspflicht von Staatsdienern, wie sie der Gerichtsbarkeit fremd ist. Doch diese Unabhängigkeit der Richter konstituiert das Wesen der Judikative ja auch gar nicht als solche, wie bereits nachgewiesen. Andererseits gibt es auch unabhängige Beamtentätigkeiten in unterschiedlichen Formen. Und schließlich ist auch eine exekutivische Anordnungsstruktur den gesamten parlamentarischen Bereichen der Ersten Gewalt

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C. Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt

fremd. In keiner Weise bedeutet also das Fehlen einer Durchgriffsmöglichkeit von oben nach unten, einer unmittelbar wirkenden Befehlsgewalt höherer gegenüber nachgeordneten Richtern, dass dieser Judikative Hierarchie und damit organisationsrechtliche Einheit fremd wäre. Hebt andererseits eine übergeordnete Instanz das Urteil eines nachgeordneten Gerichts auf, so mag es in der Regel Sache der betroffenen Parteien sein, die Wirkungen solcher Entscheidungen zu realisieren, bei Rückverweisung etwa die nachgeordnete Instanz zu richterlicher Aktivität zu veranlassen. Wer den durchgreifend wirkenden Hierarchieeffekt auslöst, ist rechtlich gleichgültig; entscheidend bleibt immer nur, dass ein solcher innerhalb der betreffenden Gewalt organisationsrechtlich, insbesondere verfahrensrechtlich vorgesehen ist. Gerade dies aber ist der Fall auch im Bereich der Dritten Gewalt. Beamtenhierarchie ist eine, sie ist nicht die Form organisationsrechtlicher Zusammenordnung zu einem Pouvoir, und als solche wirkt sie nicht einmal durchgehend im Bereich der Zweiten Gewalt. 2. Die "angerufene" Richterliche Gewalt nicht als Gewalt organisiert?

Auch ein weiteres Bedenken ist zu relativieren: dass die Dritte Gewalt schon deshalb eine solche Bezeichnung nicht verdiene, weil ihr keine eigenständig-aktive Zugriffsmacht zusteht, weil sie vielmehr in der Tat eine wesentlich antwortende Gewalt bleibt. Auf die Ausführungen zu diesem für das Verständnis der Richtertätigkeit wesentlichen Punkt, im Zusammenhang mit ihrer "Offenheit" (B a. E.), sei hier verwiesen. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass ein organisationsrechtlicher Hierarchiebegriff als solcher nicht spontane Aktivität aus eigenen gestalterischen Entschlüssen heraus verlangt. Durchaus kann es genügen, dass dort das Gewalttypische in reaktiver Entscheidung geleistet wird. Weder dürfen gesetzgeberisch-befehlende Ordnungsvorstellungen noch kann eine normfreie exekutivische Spontaneität zur Charakterisierung der Dritten Gewalt eingesetzt werden - hier würden Gewaltvorstellungen aus anderen Bereichen auf sie übertragen, von denen sie aber doch, im Namen einer Gewaltenteilung, getrennt zu halten sein soll. Einem Gewaltcharakter der Judikative widerspricht es daher organisationsrechtlich gesehen nicht, dass ihre Wirksamkeit etwa an den Bürgeranruf gebunden, auf diesen beschränkt ist, dass die Richter insoweit manchmal gar etwas wie eine Zufallsgewalt ausüben. Vielleicht kommt sie sogar, auch in geradezu staatszentralen Fragen, nie zum Tragen, eben weil keine andere Gewaltinstanz des Staats und auch kein betroffener Bürger sie anruft. Doch der Begriff einer "notwendig-spontanen Aktivität" hat nichts mit dem einer Verfassungsgewalt zu tun. Eine solche muss eben an sich, mit

III. Verfahrensdifferenzierung gegen Gewalteinheit?

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organisationsrechtlicher Notwendigkeit überhaupt nicht "funktionieren"; und dies zeigt übrigens auch die Problematik der Begründung von Gestaltungen aus der Notwendigkeit solchen Funktionierens, etwa der parlamentarischen Fraktionsdisziplin. Auch rein negative Entscheidungen, bis hin zu einer zeitweisen Null-Aktivität, ändern nichts am Gewaltcharakter einer derartigen Organisation; auch hier wird dann etwas erreicht wie "negative Flächendeckung", diese letztere kann auch virtuell bleiben. Gewalt im organisationsrechtlichen Sinn kann schließlich auch nicht mit der Begründung in Zweifel gezogen werden, hier handle es sich ja lediglich um eigentümliche "Reservegewalt": Die Richter ersetzten mit ihrem Spruch nur das rechtskonforme Verhalten von Bürgern, welches ihr Urteil auch hätte überflüssig machen können. Eine solche "Richtergewalt an Bürger statt" ist übrigens keine Besonderheit der Dritten Gewalt, auch in den herkömmlichen Aktionsräumen der Legislative wie der Exekutive ließe sich so argumentieren: Gesetze sind ja ebenfalls nur notwendig, wenn und soweit die Bürger sich nicht extranormativ gemeinschaftsentsprechend verhalten und verständigen; eine Polizei greift immer nur bürger-subsidiär ein, dort eben, wo Bürgerverhalten gemeines Wohl verfehlt. Gerade in einer Demokratie ist also solche Subsidiarität gegenüber dem Bürger geradezu ein Wesenszug aller Staatsgewalt, ein Kriterium von deren notwendiger Minimierung. Wo kein Kläger, da kein Richter - dies mag ein Grundprinzip der Dritten Gewalt sein; doch es lässt sich erweitern: Wo kein Betroffener, da kein Recht, kein Staat.

III. Verfahrensdifferenzierung gegen Gewalteinheit? Die Gerichtsbarkeit tritt gewiss nicht mit einer Geschlossenheit auf, nach außen gegenüber dem Bürger hervor, welche typische Erscheinungen der Ersten und auch der Zweiten Gewalt charakterisieren mag und damit unterschwellig "den Gewaltbegriff der Verfassung" im allgemeinen Verständnis herkömmlich prägt. Gewalt im Sinne organisierter Macht verstanden tritt eben, so könnte es scheinen, wesentlich einheitlich auf, sei es in den parlamentarischen Spitzen der Plenarsitzungen, im Militär- oder Polizeieinsatz oder so kann es jedenfalls geschehen, so ist es vorstellbar und prägt damit das Erscheinungsbild der Gewalt. Deshalb wird wohl auch eine Dritte Gewalt als solche neuerdings am ehesten noch bewusst in Bildberichten aus verfassungsgerichtlichen Verfahren, denen erstmals eine vergleichbare Einprägsarnkeit oder gar Theatralik eigen ist. Doch eine Verfassungsgewalt definiert sich organisationsrechtlich nicht aus Staatstheater und auch nicht aus möglichem, geballtem "Spitzen-Auftre-

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C. Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt

ten" zusammengeordneter Machtträger. In ihrer vielfachen organisatorischen Gebrochenheit, in einem oft durchaus bescheidenen Auftreten einer "stillen Gewalt", können die Richter dennoch in der Einheit eines solches Pouvoir auch organisationsrechtlich vorgestellt werden und wirken. Differenzierende Verfahrensausformung steht einer Gewalteinheit nicht grundsätzlich im Wege. Aufgabe des Verfahrensrechts, als Fortsetzung instanzeneinrichtender Organisation, ist gerade die organisatorische Zusammenordnung im Einzelnen. Hier werden die Details der Entscheidungsfindung geordnet und eben zusammengeordnet, ihre Vorphasen ab geschichtet, ihre zeitlichen Dimensionen bestimmt. Dies alles mag nicht den Idealvorstellungen einer durchgreifend-zugreifenden Macht im Sinne der Polizeigewalt oder des Militärischen entsprechen; doch solche Charakterisierungen wären nur unzulässige Übertragungen aus anderen Gewaltbereichen, in den der wesentlich "zivilen" Judikative. Sie ist gewiss in vielem ein klares Gegenbild etwa zu militärisch konzentrierter Gewaltentfaltung: Hier steht nicht die große "Entscheidung", hier steht der Einzelfall ganz oben und letztlich überall, beratende Kollegialität wird weithin zum Grundmuster, soweit nicht ihre abwägende Bedenklichkeit in die Person nur eines Urteilenden verlegt wird. Hier mag, bis hinauf in die Verfassungsgerichtsbarkeit, ein eigentümlicher Einungszwang in Verfahren wirksam sein - es gibt ihn aber, das haben schon frühere Betrachtungen gezeigt, auch im Bereich der anderen, insbesondere der parlamentarischen Staatsgewalten. Die Verzögerungen durch Instanzenzüge, eine weitere durchaus judikative Organisationsbesonderheit, mögen machtabschwächend wirken, darauf wird noch einzugehen sein, und dies kann gewiss eine "Verfassungsgewalt" als solche in ein Macht-Zwielicht rücken, in welchem der Gebrauch dieses hohen Wortes als unangebracht erscheint, vielleicht als inhaltsleer. Doch auch dies ist Teil der Gewaltorganisation, die ja als solche durchaus auch der Machtminimierung in einem staatlichen Bereich dienen kann, ja zunehmend verpflichtet sein soll. In all diesen und ähnlichen verfahrensrechtlichen Bedenken gegen judikative Effizienz kommt eben im Grunde weit mehr eine Kritik an der Mächtigkeit dieser Staatseinrichtung zum Ausdruck als an deren organisationsrechtlichem Gesamtcharakter. Er bleibt nicht nur, trotz dieser Verfahrens-Reibungen, der einer "organisationsrechtlich einheitlichen Gewalt", diese wird darin geradezu wesentlich hervorgebracht. Insgesamt sind also keine Rechtsphänomene ersichtlich, welche durchgreifende Bedenken gegen eine organisationsrechtliche Einheit der Richterlichen Gewalt begründen könnten, jedenfalls nicht bei allgemein-globaler Betrachtung der Gerichtsbarkeit.

IV. Unabhängigkeit - die organisatorische Einheit der Gerichtsbarkeit

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IV. Unabhängigkeit - die organisatorische Einheit der Gerichtsbarkeit Von einer organisationsrechtlich einheitlich strukturierten Gewalt geht wohl das allgemeine Verständnis der Dritten Gewalt aus. Gerade deshalb, und weil, wie zu betonen sein wird, der Instanzenzug hierarchisches Denken hier in besonderer Weise zum Tragen bringt, hat sich trotz aller funktionaler Komplexität der Richtertätigkeit, von welcher die Rede war, die Vorstellung von einer einheitlichen Judikative bis heute ungebrochen erhalten. Ihren Ausdruck findet sie in jenem Bild von dem einen Baum, aus welchem viele Zweige der einen Gerichtsbarkeit herauswachsen. Und sicher steht dahinter noch eine letzte, wenn auch selten in diesem Zusammenhang ausgesprochene Überzeugung von dem einen Recht, welches die eine rechtsprechende Gewalt anwendet, vielleicht überhaupt erst hervorbringt. Diesen in Deduktion wirkenden Vorstellungen entsprechen denn auch organisationsrechtliche Ausgestaltungen in Großbereichen der rechtsprechenden Gewalt: 1. Der einheitliche Richterstatus

Die Unabhängigkeit der Urteilstätigkeit mag als solche kein funktionales Kriterium allein der Dritten Gewalt sein. Dennoch bleibt es ein wichtiges organisationsrechtliches Phänomen, dass der Richterstatus als solcher nicht nur notwendig gesetzlich, sondern mit Notwendigkeit einheitlich normativ geregelt ist. Bis in die Einzelheiten der Rechte- und Pflichtenstellung zeigt das Richterrecht organisationsrechtliche Einheitlichkeit. Ein Vergleich mit den anderen beiden Verfassungsgewalten belegt Ähnliches vielleicht noch im Bereich des Abgeordnetenrechts, nicht mehr vergleichbar aber bereits im Raume einer Exekutive, in welchem die Einheit des Beamtenstatus längst aufgegeben worden ist. In diesem Lichte betrachtet ist es schon von gewaltkonstitutivem Gewicht, dass es nur Richter gibt, welche in einem einheitlichen Status stehen, selbst wenn dieser so weithin durch einfaches Gesetz garantiert ist. Es sind nicht alle Einzelheiten - sie finden sich teilweise auch in anderen Organ-Status -, welche auf die organisatorische Einheit dieser Gewalt hindeuten; es ist die in einer langen Tradition zum Ausdruck kommende Überzeugung, die zählt, dass Richterturn eben einheitlich personalpolitisch organisiert ist. Man mag darin mehr ein Indiz für die Überzeugung von einer einheitlichen Gewalt sehen als eine notwendige dogmatische Form derselben - aber auch dies spricht eben für die "eine Gewalt der Richter".

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C. Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt

2. Der Instanzenzug: Grundlage der einheitlichen Judikative a) Gerichtsbarkeit wurde stets in der Geschichte als eine letzte Einheit gesehen - und auch schon zugleich als eine "erste und letzte", jedenfalls in ihren historischen Anfängen. Mehrstufigkeit eines Instanzenzuges, heute so selbstverständlich geläufig, dass ein Zusammenfall von Erst- und Letztinstanzlichkeit geradezu ein Rechtsschutzproblem aufwirft, hat nicht die Anfänge des Richtens geprägt. Richterliche Vollgewalt stand überall deutlich am Anfang; wo ihr Untersuchungsphasen vorgeschaltet waren, vom ermittelnden römischen iudex bis zum Geständnis erpressenden Folterknecht, waren dies doch immer einheitliche, gewissermaßen verfahrensrechtliche Vorstufen für das Ergehen eines Urteils, das als Ausdruck einer Vollgewalt erschien. Was vorher geschah, war entweder noch gar keine richterliche oder eben doch nur eine vorläufige judikative Entscheidung. Die Majestät des königlichen Richterturns oder des römisch-republikanischen Magistratsurteils lag in ihrer erst- und einziginstanzlichen Macht. Die Unauswechselbarkeit des Einzelfalles, seine Einmaligkeit, fand sich wieder in der Einzigartigkeit und Einmaligkeit, in der Einzigkeit des berufungslosen Urteils. Die späteren Stufungen der Instanzen, die horizontalen Unterscheidungen der Gerichtszweige können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alle aus dem einen Baum kommen, unter dem einst etwa germanische Gerichtsbarkeit geradezu sinnbildhaft ausgeübt wurde. Dies mag dagegen sprechen, in dieser Gerichtsbarkeit nur eine der Gewalten im Staat zu sehen, sie nicht als jenen Ausdruck der staatlichen Voll gewalt anzuerkennen, dem sie sich funktional etwa im letzten Wort der Verfassungsrichter, wie dargelegt, wieder nähert. Dass hier aber organisatorisch etwas wie eine einheitliche Gewalt wirkt, ist entwicklungsgeschichtliche Lehre. b) Die Instanzenstufung als solche ist nicht organisationsrechtlich gegen die Einheit der Dritten Gewalt gewendet, sie stellt ein organisatorisch-verfahrensrechtliches Mittel zur Perfektionierung von deren Äußerungen dar. Hier geht es ja nicht wieder um Gewaltenteilung, sondern um Gewaltenvereinheitlichung im Sinne einer richtig entscheidenden Macht. Diese schreitet fort nicht von Willen zu Willen, sondern von Erkenntnis zu Erkenntnis, in einer typisch-intellektuellen Pyramidalität, an deren Spitze aber nur das Eine, eben das Richtige stehen darf. Die gesamte Gerichtsorganisation ist Ausdruck dieser Pyramide des Erkennens, das seinem Wesen nach noch weit mehr letzte Einheit darstellt, auf diese jedenfalls zielt, als es je das Brechen einfachen Willens durch höheren vermöchte. Das Wort Hierarchie wird für diese Strukturen nur deshalb selten gebraucht, weil es "besetzt" ist, durch eine Befehlgebung, welche im Rechtsprechungsbereich unangemessen erscheint, nachdem dort eben nicht stärkerer Wille zählt, sondern bes-

IV. Unabhängigkeit - die organisatorische Einheit der Gerichtsbarkeit

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sere Erkenntnis. Doch auch dies ist Hierarchie, vielleicht die beste, die am stärksten Überzeugende. Und hier lassen sich sorgenvolle Überlegungen darüber anstellen, ob eine Gegenwart, welche Hierarchie nur mehr im willensgetragenen Befehl erkennt, vielleicht dort gerade anerkennt, sie aus den Bereichen des Erkennens ausschließt, nicht nur Ausdruck eines hochmütigselbstbewussten, eines übersteigerten demokratischen Eigenwertgefühls ist, das seinen Willen vielleicht brechen lassen muss, bessere Erkenntnis schlechthin nicht anerkennen will. Die Richter aber zelebrieren weiter, und durch alle ihre Instanzen hindurch, jene "Religion des Wissens", welche manche neuere Bildungsvorstellung verdammt. c) In allen Wirkungsformen höherinstanzlicher Urteile kommt stets die Einheit einer Gerichtsbarkeit zum Ausdruck - wie auch dort, wo Beschwerde, Berufung oder Revision nicht stattfinden. In diesen Fällen ist sogleich das ursprüngliche Ideal der einen, der zugleich erst- und letztinstanzlichen Gerichtsbarkeit nach dem Willen der Parteien verwirklicht und/oder nach dem des Gesetzgebers, der sie vor ein einheitliches erstund letztinstanzliches Gericht zwingt. Und für die Dritte Gewalt bleibt es gleich, ob es der Wille des Gesetzgebers oder der Parteien ist, welcher die Eininstanzlichkeit im Einzelfall herstellt - die eindeutig die eine Judikative zeigt. Wo Rechtsmittel die höhere Instanz einschalten, zieht diese grundSätzlich alle justizielle Macht an sich, auf jeder Stufe wirkt dann Judikative als immer neu einsetzende Einheit, die vorhergehende wird zur verfahrensmäßigen Vorphase. Dass sie ihre eigenständige Bedeutung, etwa im Tatsächlichen behält, ändert nichts an der Einheit einer Gewaltausübung, welche sich eben in Beurteilungsphasen zur Letztentscheidung entwickelt, von bisher Festgestelltem ausgehend. Hier findet zwar etwas statt, wie eine "Umkehrung der Hierarchie" - die höhere Instanz ist an die Entscheidung der vorhergehenden gebunden. Doch dies hebt die Einheit des am Ende ergehenden Urteils nicht auf, führt nur zu der bemerkenswerten, bisher nicht gewonnenen Erkenntnis, dass Hierarchie keine Einbahnstrasse sein muss, dass hier durchaus Tatsachen das Recht orientieren, die sachnähere Instanz der sachferneren der rechtlichen Beurteilung übergeordnet bleibt. Dies alles sind Organisationsmodi, Verfahrensmodalitäten innergewaltlicher Art; an der Einheit der judikativen Entscheidung ändern sie nichts. d) Klare rechtlich bindende Anordnungsgewalt zeigt sich dann aber in den besseren Rechtserkenntnissen des jeweils höheren Gerichts. Entweder es entscheidet nun selbst, oder es gibt eindeutige Rechtsbefehle den nachgeordneten Richtern, in einer Eindeutigkeit und Bindungswirkung, welche die höhere Instanz selbst wieder zu kontrollieren vermag. Dass all dies auch abhängt vom Willen der dadurch begünstigten Partei, dass diese gewissermaßen in die Sanktionierung der Einheit der Judikative organisato-

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C. Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt

risch eingeschaltet wird, steht dieser Letzteren nicht entgegen, entspricht vielmehr dem Antwortcharakter aller richterlichen Tätigkeit, der wesentlichen Passivität der Judikative. Organisationsrechtlich gesehen ist jedenfalls dieser Instanzenzug eine deutlich ausgebaute rechtliche Form von Hierarchie. 3. "Gemeinsame Senate" organisatorische Selbstkoordinierung der Judikative Im Bereich der Dritten Gewalt sind organisationsrechtliche und verfahrensrechtliche Gestaltungen entwickelt worden, welche Divergenzen vermeiden sollen: die vielfachen Vorlagemöglichkeiten und -pflichten an gemeinsame Spruchkörper. Dies sollte nicht immer nur, wie es gängiger Darstellung entspricht, im Sinne der Einheitlichkeit der Rechtsordnung gesehen werden, mag es auch in erster Linie der Erfüllung dieser richterlichen Aufgabe dienen. Daneben kommt derartigen Einrichtungen die Bedeutung einer deutlichen Anstrengung zu, mit organisationsrechtlichen Mitteln innergewaltliehe Einheit der Judikative herzustellen. Alle Erscheinungen sollen vermieden werden, in denen diese Gewalt nicht mit einer Zunge sprechen könnte. Soweit Parteiresignation oder -lethargie eine Lage hinnimmt, welche von einer anderen abweicht, ist es nicht Aufgabe der Dritten Gewalt, diese Entscheidung des Bürgers zu korrigieren. In diesem Sinne trifft es sogar zu, dass Rechtseinheit wie Einheit der rechtsprechenden Gewalt als solcher im Letzten jenem Bürger anvertraut sind, welcher sie als Betroffener erst herzustellen hat, da sie im Recht nur virtuell angelegt sind. Doch diese Virtualität des Rechts, seine Subsidiarität gegenüber dem Ordnungsanruf des Bürgers ist ein Wesenszug dieses gesamten Ordnens, in der Demokratie zumal selbstverständlich. Das staatliche Organisations- und Verfahrensrecht stellt jedoch durch die gemeinsamen Spruchkörper sicher, dass dem Willen des Bürgers, eine Judikative sprechen zu lassen, jedenfalls mit einer Zunge, einer Stimme entsprochen werden kann, materiellrechtlich, nach dem Urteil der abweichenden Instanz entsprochen werden muss. Wie es nur ein Recht geben soll, so soll auch nur eine Gerichtsbarkeit jeder Bürger vor sich finden, wenn er sie denn angeht. Eine vergleichbare Selbstkoordinierung begegnet im Bereich der anderen Verfassungsgewalten nicht. Erlässt das Parlament Gesetze, deren Vereinbarkeit mit höherrangigem oder früherem, gleichzeitigem Recht zweifelhaft erscheint, so zieht es sich aus der Verantwortung der damit aufgeworfenen Vereinheitlichungsfrage zurück, überlässt diese dem Richter, allenfalls noch der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Einheitlichkeit der Gewalt wird viel-

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leicht noch angesprochen in Übergangs- und Schlussbestimmungen, welche die Normlagen klären sollen, wenn dies nicht einfach der Regel des Vorrangs des späteren Gesetzes überlassen bleibt, um deren Anwendung und Auswirkungen sich jedoch die Legislative im Einzelnen nicht kümmert. Auch in dieser Selbstkoordination erscheint also die Organisation der Dritten Gewalt als eine objektiv deutliche und subjektiv eindeutig gewollte rechtliche Entscheidung in Richtung auf eine Gewalt. 4. Konzentration einer Gewalt in der Verfassungsgerichtsbarkeit

a) Organisationsrechtliche Zusammenfassung der Judikative als einer Gewalt erscheint schließlich deutlich in der Einrichtung einer besonderen Verfassungsgerichtsbarkeit. Organisatorisch wird hier vielzweigige Gerichtsbarkeit zusammengeführt und zusammengefasst in einer Instanz. In ihren Dezernaten finden sich einzelne Gerichtszweige wieder, wachsen dann jedoch zusammen in gemeinsam gefällten Urteilen. Darin wird ihre Heterogenität zur Einheit integriert. Dieses Organ sieht sich in der Verfassung endgültig bestätigt und verankert und von ihr in die Spitze der Staatsgewalt schlechthin gehoben. Ihm, welches viele Bürger als Verkörperung "der Judikative" heute sehen, kommt auch protokollarisch und damit für das allgemeine Bewusstsein erkennbar eine gewaltentsprechende Spitzenstellung im Staate zu. Wenig bedeutet demgegenüber die formalrechtliche Einstufung dieser Instanz als "außerhalb aller anderen Gerichtsbarkeiten stehend" - mit ihr sollen wohl mehr innerjudikative Rivalitäten entschärft werden, denn die Stellung eines solchen Verfassungsorgans, etwa nun in Deutschland, ist eben doch die einer höchsten Gerichtsinstanz, sie erscheint damit als organisatorische Verkörperung der Dritten Gewalt. b) Die Überordnung über alle Instanzgerichtsbarkeit ist hier zugleich deutlich und ausreichend, um die Einheit der Dritten Gewalt organisationsrechtlich zu bekräftigen und zu bewähren. Die Urteilsverfassungsbeschwerde einerseits, Vorlagerecht und -pflicht der konkreten Normenkontrolle zum anderen, schaffen heute zwei breite Strassen, auf welchen eine ständig geübte und insgesamt doch durchaus effektive Kontrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit über alle Gerichtsbarkeit stattfindet. Dadurch unterscheidet sich diese Instanz des Bundes denn auch nicht etwa zufällig, sondern in grundsätzlicher Weise von vergleichbaren Instanzen der Länder, denen eine solche Aufgabe der Bewahrung letzter Gerichtseinheit nicht zusteht. In der Kassationsentscheidung von Urteilen auf Verfassungsbeschwerde findet sich die Aufhebungsgewalt der höheren Gerichtsbarkeit gegenüber der nachgeordneten wieder, weithin bereits verbunden mit der Kompetenz 9 Leisner

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C. Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt

der Eigenentscheidung in der Sache. Die Richtervorlage fügt dem noch einen weiteren, eigentümlichen, typisch judikativen Instanzenzug hinzu, in welchem die Bundesverfassungsgerichtsbarkeit geradezu in die Rolle einer von oben nach unten durchgreifenden, vorgesetzten Rechtsinstanz tritt, also im fast schon exekutivischen Sinn eine wahre Rechtsaufsicht ausübt. Daraus ergibt sich in der Praxis sicher eine Überlastung der Verfassungsgerichtsbarkeit, welche Kritik an der Beschwerdezuständigkeit, insbesondere an der Urteilsverfassungsbeschwerde, nahe legt; und innergerichtliche Rivalitäten zwischen obersten Instanzgerichten und Bundesverfassungsgericht mögen nicht offen ausgetragen werden, stehen aber sicher ebenfalls hinter Tendenzen, das Bundesverfassungsgericht doch ja nicht zur gefürchteten "Superrevisionsinstanz" werden zu lassen. Hier ist nun aber einmal ein Ort, um für diese Urteilsverfassungsbeschwerde ein Wort einzulegen, eine gewisse Entwicklung zu einer Superrevision durchaus als verfassungskonform zu werten: In ihr kommt ja, organisationsrechtlich deutlicher als irgendwo sonst, die Einheit der gesamten Judikative zum Ausdruck. Wer sie aufheben oder übermäßig beschränken will, nimmt nicht nur gewisse Zerfallstendenzen im materiellen Recht in Kauf, die ohnehin in einer zerfasernden Gesetzgebung zunehmend angelegt sind: Es wird sich dann auch jene letzte organisationsrechtliche Einheit der Judikative über den Obersten Gerichtshöfen und ihren Senaten nur schwer mehr halten lassen, welche eine wenigstens organisationsrechtliche Rechtfertigung für eine einheitliche Dritte Gewalt darstellt. Ein "gemeinsamer Senat" kann dies, nach bisheriger Erfahrung, kaum leisten. Diese Gerichtszweige bleiben dann nebeneinander stehen, nicht mehr mit einem Stamm verbunden, sondern unvermittelt wie mächtige Berge, welche der rechtssuchende Bürger nur zu oft auch noch nacheinander zu erklimmen hat. Richterüberlastung und Richterrivalitäten müssen also sorgfältig abgewogen werden gegenüber einer in Richterkontrolle über Richter organisationsrechtlich zu bewahrenden Einheit der Gerichtsbarkeit. c) Nun beschränkt sich allerdings diese letzte Überwachung auf Einhaltung, Anwendung, zutreffende Auslegung einer einzigen Normschicht: des Verfassungsrechts. Kann dies verfassungsgrundsätzlich genügen, zur Ausübung dieser vereinheitlichenden Funktion durch das Verfassungsgericht, gegenüber der gesamten Judikative? Dagegen mögen die beschränkten Normierungsgegenstände des Verfassungsrechts sprechen, seine weiten Formulierungen, welche eben doch eher Rahmen darstellen, als dass sie echte hierarchische Anordnungen innerhalb einer Gewalt ermöglichen könnten. Unter ständiger Berufung auf diese Begrenztheit der Verfassungskontrolle hat es ja die Verfassungsgerichtsbarkeit auch bisher erreicht, dass ihre deutlich in Richtung auf Superrevision sich

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bewegende Judikatur letztlich immer wieder von den Instanzgerichten wie von der Öffentlichkeit hingenommen wurde. Doch was häufig wie eine gar nicht mehr erbetene Entschuldigung wirkt, verschleiert letztlich doch nur eine andere, viel weitergehende Entscheidungspraxis: Die Verfassung ist, jedenfalls in Deutschland, normativ in Verfassungsgerichtsbarkeit derart ausgebaut worden, dass ihre Anwendung und Durchsetzung heute nun wirklich bereits als eine "judikative Klammer" genügt, in deren Namen das höchste Verfassungsgericht alle andere Gerichtsbarkeit in der Einheit einer Judikative zusammenhält. Nicht mehr nur alle wichtigsten, sondern bereits alle noch irgendwie wichtigen Fragen gelangen regelmäßig vor diese Instanz; wenn sie von ihr nicht entschieden werden, so liegt darin eben auch eine Entscheidung: dass sie nicht wichtig sind, nicht wesentlich in dem Sinn, in welchem dieses oberste Gericht selbst eine andere Gewalt, die Legislative, auf Ordnung "von allem Wesentlichen" verpflichtet hat. Übrigens hat sich, wiederum in Verfassungsrechtsprechung, geradezu etwas schon entwickelt wie ein Verfassungsrechtsweg, welcher vom Bürger wie von den vorlegenden Gerichten zu beschreiten ist und auf welchem die Instanzgerichte eingebunden werden in Verfassungskontrolle, ja auf welchen im Ergebnis jeder Richter zum vorgeschalteten Verfassungsrichter wird: Auch die Instanzgerichte müssen ausreichende Gelegenheit haben, rechtzeitig Verfassungsfragen zu prüfen, welche später dann dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden dürfen. Zwar können sie nicht in jener Positivität entscheiden, welche der obersten Instanz vorbehalten ist, doch etwa die Unbegründetheit von Verfassungsrügen ist auch von ihnen, in einer Art von vorgeschalteter negativer Verfassungsgerichtsbarkeit, bereits zu prüfen, und darüber führt dann ein echter Verfassungsrechtsweg vor die Schranken der höchsten Instanz. d) Dass Verfassungskontrolle allein ausreicht als oberste Klammer für die Dritte Gewalt, ist auch keineswegs eine Anomalie auf dieser gerichtlichen höchsten Stufe. Den Instanzenzügen der Gerichtsbarkeit ist es von jeher eigen gewesen, dass höhere Instanzen nur mehr nach bestimmten Grundsätzen die nachgeordneten überprüfen, sich dabei an abgegrenzten Maßstäben ausrichten. Der Revisionsinstanz ist die Überprüfung im Rechtlichen vorbehalten, den Bundesinstanzen die nach Bundesrecht - warum sollte nicht die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre vereinheitlichende Judikatur nur über die Klammer des Verfassungsrechts zum Tragen bringen dürfen? Sie ist es ja auch selbst, der hier, zur Bestimmung dieser Klammer, eine wahre Kompetenz-Kompetenz zukommt, niemand kann ihr jenes Letzte Wort nehmen, in welchem sie die Einheit der Dritten Gewalt gewährleistet. Bisher hat sie dabei eine leise und geduldig ausdehnende Tendenz stets verfolgt, und es steht wenn nicht anzunehmen, so doch zu hoffen, dass dies auch weiterhin geschehen werde: Damit aber werden sich dann jene Maß9*

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Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt

stäbe präzisieren und intensivieren, welche wirklich Verfassungskontrolle zu einer höchsten Fonn der Rechtskontrolle werden lassen und sie als eine solche in das seit langem bekannte System gerichtlichen Rechtschutzes einfügen, das jedenfalls organisatorisch gesehen von einer Gewalt ausgeübt wird - der rechtsprechenden.

V. Fazit: Organisationsrechtliche Einheit der Dritten Gewalt - und doch funktionale Uneinheitlichkeit Das Ergebnis der hier angestellten organisationsrechtlichen Untersuchung einer judikativen Gewalteinheit fallt eindeutiger aus und wohl auch überzeugender als das ihrer funktionalen Betrachtung. Gewiss handelt es sich hier nicht um einen Pouvoir in dem vollen Sinne des Wortes, wie er dem Ancien Regime mit seiner königlichen Macht des Absolutismus bekannt war. Doch Gewaltenteilung hat hier wenigstens organisationsrechtlich fassbaren Ausdruck gewonnen: Verfestigt ist sie in einem Organ, welches noch dazu an die Spitze der Staatsgewalt gerückt wurde. Dieses kontrolliert, in typisch judikativer Weise, Instanzenzüge, in welchen, wiederum nach bewährtem richterlichen Vorbild, eine Hierarchie des Erkennens sich in Stufen entfalten kann. Manches mag sogar dafür sprechen, dass hier eine organisatorische Gewalteneinheit stärker ausgeprägt und gesichert ist als im Bereich der beiden anderen Staatsgewalten. Dies ändert aber nichts an der Problematik, welche sich bei funktionaler Betrachtung dieser Gewalt ergeben hat. Um hier nur an das Wichtigste zu erinnern: Einerseits hat sie die Richter nur als Herren einer abzuschließenden Vergangenheit gezeigt, als einer Gewalt auf Anfrage, die passiv bleiben muss, bis ein anderer sie ruft, so dass sich schon die Frage stellt, ob dies denn wirklich den Namen einer Staatsgewalt verdient. Zum anderen aber hat sich, vor allem bei der Betrachtung des gewaltenverschränkenden Richterrechts erwiesen, dass diese rechtsprechende Gewalt, als eine solche des Letzten Wortes, in wahre Mächtigkeit hinaufwächst, in die Nähe sogar einer endgültigen Vollgewalt; und schließlich ist diese Judikative mit den beiden anderen Gewalten geradezu unauflöslich verschränkt. Daraus ergibt sich ein wiederum eigenartiges Gesamtergebnis für die Judikative als Verfassungsgewalt: Organisationsrechtliche Betrachtung wird eine solche annehmen, vielleicht geradezu einen dafür organisatorischen Prototyp in Einrichtungen und Verfahren entdecken. "Nach Organisation" begegnet hier also, so scheint es doch, die Gewaltenteilung keinem eigentlichen Problem. Doch dabei darf die Betrachtung einer Verfassungsgewalt, wie eingangs in dieser und auch in früheren Untersuchungen nachgewiesen, eben nicht

V. Fazit: Organisationsrechtliche Einheit der Dritten Gewalt

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stehen bleiben, nur eine funktionale Betrachtungsweise kann, in Ergänzung einer organisatorischen oder gar für sich selbst, eine Verfassungsgewalt als solche legitimieren, soll nicht dem Ergebnis stets der Vorwurf der Tautologie anhaften: dass sich "Gewalt" eben doch nur durch organisatorische Entscheidung bilden und definieren lasse, dahinter jedoch keine sachlich begründete Legitimation zu finden sei - in klarem Verstoß zur Rationalität der Rechtsstaatlichkeit. Die funktionale Betrachtung hat aber nun jenes bedenkliche Doppelergebnis gebracht, dass - einerseits eine deutliche funktionale Beschränkung der Wirkung des Richterworts für die Vergangenheit erkannt wurde - dass hier aber Zweifel bestehen, ob dies denn eine Verfassungsgewalt dem Gewicht nach zu rechtfertigen vermag, und dass - zum anderen die mit Legislative und Administrative verschränkte Dritte Gewalt vielleicht die für die Anerkennung einer Verfassungsgewalt erforderliche Mächtigkeit oder Staatsgewalt als solcher aufweisen könnte -, dass sie dann aber wiederum, von dieser ihrer Wirkung her gesehen, gerade als richterliche Gewalt schwer definierbar erscheint. Denn weder lässt sich eindeutig sagen, was denn nun von der "kombiniert legislativen und judikativen", "judikativen und administrativen" Gewalt wirklich auf die Entscheidung des Richterspruchs inhaltlich zurückgeht, weil alles endet in unklarem Dialog; noch wird immer klar, wann jene Eindeutigkeit der "ständigen Judikatur" erreicht ist, welcher allein eine solche Wirkung zugeschrieben werden könnte. Und ebenso unklar bleibt noch, wie dies denn dann wieder und unter welchen Voraussetzungen es zu ändern wäre. So ist diese Dritte Gewalt denn in ihrer Einheitlichkeit von organisatorischer Klarheit und zugleich von funktionaler Verschwommenheit - wahrhaft eigentümlich geprägt. Weiter als bis zu diesem Punkte lässt sich eine dogmatische Betrachtung mit herkömmlichen Kategorien wohl kaum mehr führen. Dann aber bleibt noch zu untersuchen, wie diese in ihrer funktionalen Mächtigkeit so eigenartig verschwimmende Gewalt denn aus ihrem Wesen, aus ihren typischen Handlungsformen heraus machtmäßig wirkt - wirken kann. Im Vordergrund stehen dabei zwei Komplexe; das Verhältnis der Gerichtsbarkeit, ihres Organs, des "typischen Richters", zur Ausübung der staatlichen Macht (i. F. D); sodann eine Eigentümlichkeit gerade dieser Macht als einer wesentlich angegangenen: dass sie immer nur mit später Gewalt eingreift (i. F. E). Darin werden die Kriterien der Betrachtung gegenüber dem Bisherigen verschoben. Nicht mehr rechtsdogmatische Herkömmlichkeit steht im Vordergrund, es geht zugleich auch um rechtssoziologische Wirkungszusammenhänge und politologische, machtorientierte Kriterien der Gewichtung

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C. Die organisatorische Einheit der Dritten Gewalt

der Gerichtsbarkeit im Gesamtzusammenhang einer Verfassungsordnung. Und so wie sich bisherige Betrachtung vor allem der Normlogik und damit Grundprinzipien eines Kelsenianismus verpflichtet fühlte, so muss sie nun dies zu ergänzen suchen in dezisionistischen Wertungen, wie sie ein Denken in den Kategorien earl Schmitts nahelegt. Diese folgenden Betrachtungen legitimieren sich, ja sie werden wohl sogar gefordert gerade durch jene perspektivische Sicht, von welcher die Gesamtbetrachtung ausgeht: von der Gewaltenteilung her. Wenn etwas mächtig war an diesem Begriff, weit über seine historischen Ursprünge hinaus hat wirken können, noch heute funktionale und organisatorische Betrachtung immer wieder prägt, so ist es ein Denken in Kategorien, welche diese Gewaltenteilung aus dem entlehnt hat, was sie eben teilen wollte: aus der Gesamtgewalt des Absolutismus im Ancien Regime. Diese Vollgewalt, welche in der Vorstellung von der einheitlichen Staatsgewalt, wie bereits erwähnt, heute noch immer im Stillen überlebt, fordert eine Untersuchung, welche, in Gewaltkategorien denkend, die Richter und ihre Macht im Gesamtzusammenhang aller Öffentlicher Machtausübung sieht, gewichtet und mit korrigierender Zielsetzung zu bewerten versucht. In konkreter historischer Rückbeziehung ausgedrückt: Montesquieu hat die richterliche Gewalt als eine solche bezeichnet, welche "en quelque fa~on nul" sei. Dieses Rätselhafte "in gewissem Sinne" mag sich so erklären lassen, dass es ein normlogisches Verständnis bezeichnet, in welchem eben der Richter nur Mund des Gesetzes ist. Dabei aber kann in der heutigen Verfassungs wirklichkeit die Betrachtung nicht verharren: Sie muss die Entscheidungsmacht sehen und beurteilen, die Dezision des Richters, der doch so wesentlich - entscheidet. Und darin mag sich dann vielleicht sogar etwas aufhellen von dem Nebel, den funktionale Betrachtung von der Gerichtsbarkeit bisher nicht wegnehmen konnte: zur Frage nämlich, was eine mit Legislative und Administrative so vielfach und unklar verzahnte Judikative letztlich und nicht nur am Ende zu sagen hat im Staat. Könnte Judikative nicht jedenfalls darin Staats-"Gewalt" sein, dass ihre Organe "Macht" ausüben?

D. Gerichtsbarkeit als Machtausübung Richter und Macht I. Die Fragestellung: Richterliche "Gewalt"-Ausübung in Machtbewusstsein? 1. Das Problem: Machtgewicht der Judikative

a) Die im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Erkenntnis zur funktionalen Bestimmung des Begriffs der rechtsprechenden Gewalt hatte (B) ergeben, dass deren Wirkung, betrachtet im Gesamtzusammenhang mit der staatlichen, verfassungsrechtlich geregelten Gewaltausübung, vor allem in einer eigenartigen Verschränkung wirkt mit der Ersten und der Zweiten Gewalt, insbesondere im Richterrecht. Dem gegenüber tritt die Macht des Letzten Wortes als Kompetenz zum "Abschluss einer bestimmten Vergangenheit" in ihrem Gewaltgewicht eindeutig zurück. Wer also nach der "Macht der Judikative" fragt, muss diese primär in ihrem verendgültigenden Zusammenwirken mit anderen Gewalten zu bestimmen versuchen - womit er übrigens aus dem herkömmlichen Denken in Kategorien einer Trennung der Gewalten bereits heraustritt. Dennoch ist es staatsgrundSätzlich legitim, die Frage nach einer solchen "Richtermacht" zu stellen: Sie steht, wenn auch unbewusst, aber ganz selbstverständlich, hinter allen Überlegungen zum "Richterstaat", zum Gouvernement des Juges. Dort wird ja immer eine Gesamtbetrachtung mit dem Blick auf die Verfassungsordnung als solche versucht, welche Antwort geben soll auf die weitere, dem Dezisionismus geläufige Frage, wer denn dort letztlich entscheide, wem die "Souveränität des Letzten Wortes" zukomme. Und nachdem es gerade dieses Letzte Wort ist, das keiner Instanz so deutlich zuzuordnen ist wie gerade den Organen der Dritten Gewalt, ist es wohl erst recht legitim, diese auch nach Kategorien eines "Machtgewichts" zu bestimmen, welches ihr eben in einer von der normativen Verfassung bestimmten politischen Rechts-Welt zukommt. Gerade weil es schwer hält, wenn nicht gar unmöglich bleibt, zu einer streng dogmatischen Definition der Richterlichen Gewalt vorzudringen, zu bestimmen, welches ihr "rechtsdogmatischer Raum" ist, in den vielfachen Verschränkungen mit den anderen Gewalten, eben deshalb muss versucht werden, etwas wie ein schwerpunktmäßig beleuchtendes Licht fallen zu las-

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D. Gerichtsbarkeit als Machtausübung - Richter und Macht

sen auf jenen Einfluss, welcher den Richtern bei einer Zusammenschau ihrer Kompetenzen und mit Blick auf eine letztlich doch in Einheit gesehene Staatsgewalt zukommt. b) In diesem Zusammenhang spielt dann etwas ein wichtige Rolle, was man das "verfassungsorientierte Machtbewusstsein" der Organträger nennen könnte. Die Macht einer Institution bestimmt sich ja nicht nur aus jenen objektiv bestimmbaren rechtlichen Räumen, in denen sie ihre Aufgaben erfüllen, dazu die ihr verliehenen Befugnisse ausüben kann. Aus diesem Können, aus solchen Möglichkeiten, wie eindeutig, ja zwingend sie auch normativ bestimmt sein mögen, ergibt sich allein noch nicht das Gewicht einer Richterlichen Gewalt in der Verfassungsordnung. Hinzukommen muss hier ein bestimmtes Machtbewusstsein, gewissermaßen die subjektive Seite der Verfassungsgewalt, zugleich Motor und Finalität in der Ausübung dieser Richtergewalt. Dieses Bewusstsein mag sich oft in kleinen und kleinsten Entscheidungs-Ausschlägen auswirken; dass es aber etwas völlig anderes ist, ob ein Richter, ein höchstes Gericht im vollen Machtbewusstsein etwas wie Rechtspolitik gestaltet - oder ob sich die Urteilsperson lediglich "über ihren Einzelfall beugt", außer diesem gar nichts kennen will - darüber kann kein Zweifel bestehen. Dieses Machtbewusstsein ist übrigens keineswegs eine grundsätzlich oder gar vollständig norm- und rechtsunabhängige Größe. Es wird fassbar vermittelt durch jenen Richterstatus, der seinerseits wieder funktional bestimmt, auf die Ausübung richterlicher Gewalt ausgerichtet ist. So wird ein unabhängiger Richter, der im Bewusstsein, im Vollgefühl seiner Aufgabe handelt, ein Letztes Wort zu sprechen, sich völlig anders verhalten, als ein von Anfang an und in allen Phasen seiner Entscheidungsfindung streng anordnungsgebundener Staatsdiener. Ob ihn dies allerdings der Macht nähert, ihn geradezu in diese führt, ist eine ganz andere Frage - und eben um diese geht es im Folgenden. 2. Machtbewusstsein: eine politische oder (auch) rechtsdogmatische Kategorie?

a) Es mag nahe liegen, den Begriff des Machtbewusstseins und seiner Auswirkungen, in denen er sichtbar wird, von vorneherein und ausschließlich einem wie immer dann näher zu bestimmenden Bereich des "Politischen" zuzuordnen, ihn damit aus rechtlicher Betrachtung, wie sie hier versucht wird, völlig auszuklammern. Der Begriff der "Macht" als solcher bereits weckt primär politische Assoziationen. Verläuft nicht an ihm die herkömmliche Trennungslinie "politischer" Historie und einer Verfassungsgeschichte, in welcher rechtliche Betrachtung endgültig auf institutionelle

I. Richterliche "Gewalt"-Ausübung in Machtbewusstsein?

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Sicht beschränkt bleibt, auf Möglichkeiten einer Gewaltausübung nur in der rechtlichen Sollens-Ordnung? Eine derartige Trennung der Politik vom Recht hat sich bisher schon rechtsimmanent nicht durchhalten lassen. Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte werden in einer immer weniger auflösbaren Gemengelage betrieben, den Institutionen kommt eben, allein schon in gewichtiger Existenz, eine politische Bedeutung zu. Rechtstatsachenforschung, Rechtssoziologie versuchen nun, die allzu lang gesperrten Brücken zwischen Faktizität und Rechtsdogmatik zu restaurieren, einem fruchtbaren Austausch zwischen Politik und Recht die Wege zu öffnen. Und Politologie ist, soweit sie aus rechtlicher Sicht mit guten Gründen kritisch betrachtet wird, entstanden aus eben einer Karenz des Rechtlichen heraus, welches sich, immer mehr seit dem 18. Jahrhundert, in den Elfenbeinturm "reiner Rechtsdogmatik" selbst einsperrte, die gesamte Außenwelt, bald eben dann auch den "politischen Weltraum", dem Denken und den Kategorien einer anderen Disziplin überließ. So wird denn der Begriff des Politischen hier durchaus auch als ein Rechtsbegriff verstanden, und das Fragen nach dem Machtbewusstsein der Richter nicht schon mit der Begründung sogleich abgebrochen, es könne sich doch nur um die Suche nach einer rein politischen Kategorie handeln. Wenn "Verfassungsrecht als politisches Recht" heute ein Gegenstand staatsrechtlicher Grundsatzbetrachtung ist, wenn insbesondere, um beim Thema dieser Betrachtungen zu bleiben, Verfassungsrichter auch "politisch bestimmt" werden, weil sie "politisch handeln sollen", so ist eben auch die Frage nach dem Machtbewusstsein der Richter ebenso legitim wie die selbstverständliche, welche auf ihr Rechtsbewusstsein zielt. Gewiss wird es dann entscheidend darauf ankommen, wie im vorliegenden Zusammenhang dieser "Rechtsbegriff des Politischen", mit Blick gerade auf die Richter zu verstehen ist; und darüber wird im Folgenden zu sprechen sein. b) Zunächst ist jedoch nochmals, in Anknüpfung an bereits gewonnene Erkenntnisse, ein mögliches Machtbewusstsein der Urteiler dort zu suchen, wo sie vor allem in Verschränkung mit einer nun deutlich machtgeprägten anderen Gewalt tätig werden: mit der Legislative, mit dem Parlament in der Demokratie. Hier könnte nun doch wirklich ein Machtbewusstsein von Judikativorganen, selbst wenn es eindeutig "politisch" zu verstehen wäre, im Sinn also der Beschränkung auf faktische Wirksamkeit, dennoch rechtliches Gewicht gewinnen: in der Neuentdeckung eines "wahrhaft entscheidenden" Aspekts der allgemein anerkannten normativen Kraft des Faktischen. Tatsächlich machtbewusst handelnd werden eben die Richter, aus solcher Perspektive betrachtet, mit normativen oder jedenfalls doch normnahen

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Wirkungen tätig, als Verwirklicher des Rechts, wenn nicht gar als Fortsetzer der Gesetzgebung mit den anderen Mitteln eben ihrer Gewalt. In einer solchen Wirkungsweise ist gerade judikatives Entscheiden aus einem bestimmten Machtbewusstsein heraus, ist dessen Gewicht für die Entscheidungsinhalte, und damit letztlich den realisierten Normwillen, praktisch unschwer nicht nur VOf-, sondern festzustellen. Gerade den Judikativorganen steht ja, wie immer ihre Gewalt im Einzelnen definiert sein mag, trotz ihrer Bindung an die Gesetze, ein weiter, ein eben typisch richterlicher Wertungsraum zu. Mag man diesen, im herkömmlichen verwaltungsrechtlichen Sinn, in die Kategorien VOn Beurteilungsspielraum und Ermessensraum einteilen, oder diese Aspekte zu einem Gesamtbegriff der richterlichen Freiheit zusammenfügen - stets zeigt sich hier doch eindeutig die Bedeutung der Richterpersönlichkeit. Wenn es etwas gibt wie Psychologie des Rechts, so muss eine solche gerade diese Entscheidungspersönlichkeit mit all ihren komplexen Erkenntnis-, Willens- und Gefühlsstrukturen nicht nur berücksichtigen, sondern in den Mittelpunkt ihres Erkenntnisstrebens stellen. Dort begegnet dieses dann aber auch unausweichlich eben dem, was hier und im Folgenden das richterliche Machtbewusstsein genannt wird - beginnend mit der Frage, ob es ein solches überhaupt gibt. Der "kleinste Richter" - in seiner Einzelfallentscheidung stets "ganz groß" sich sehend und von allen Beteiligten gesehen - ist doch, zumindest abstrakt betrachtet und durchaus auch rechtsgrundsätzlich, eines solchen Machtbewusstseins fähig; und es kann sich auch in einer Kollegialität entwickeln, in welcher es dann, hinter der Anonymität des Gremiums verborgen, sogar noch persönliche Machtängstlichkeit abstreifen darf: Es entscheidet ja "die Kammer", "der Senat", ja ein höheres Richterwesen, dem man Macht zuschreiben und Macht zutrauen kann, und fühle sich auch das einzelne Mitglied schwächlich und von der Macht seiner eigenen Entscheidung überfordert. Sicher ist jedenfalls eines: Eine jede Entscheidung, vom Einzelrichter einer Ersten Instanz bis zu einer solchen der Vereinigten Senate höchster Gerichte, kann nicht nur, sie wird eindeutig und stets anders fallen, ist sie nun durch richterliches Machtbewusstsein getragen oder nicht; und ein solches schließt der Blick auf den Einzelfall noch nicht aus, gerade in dessen virtueller Überschreitung im gewollten Grundsatzurteil bewegt sich der Richter vielleicht auf einer Straße, welche von irdischer Einzelfall-Beschränktheit hinüberführt in eine "Transzendenz" der Gesamtordnung.

3. Was ist, wohin führt den Richter ein Machtbewusstsein? a) Die Suche nach einer näheren Bestimmung von Wesen und Gewicht dieses Machtbewusstseins mag nun durchaus einsetzen im Bereich des herkömmlich "Politischen". Gerade wenn man dies in einen Gegensatz bringt

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zu rechtlichem Ordnen, wenn es insbesondere als normfreier Raum erscheint, kann sich in ihm richterliches Machtbewusstsein entfalten. Es zeigt sich dann eben bis hin zu einer Bereitschaft, rechtliche Vorgaben zu ignorieren, sich über normative Schranken hinweg-, den eigenen Willen durchzusetzen. Dies wird ein normfreier "Wille zur Macht", wie er dem herkömmlichen Verständnis des philosophischen Voluntarismus entspricht, letztlich bis zur "Umwertung aller Werte" vorzudringen bereit ist und in Nietzsches Machtphilosophie klassischen Ausdruck gefunden hat. Man mag Welten sehen zwischen der vorsichtsgebeugten Gestalt des herkömmlichen Richterbilds und der sich verströmenden, in Bergen dahinschreitenden und in Erhebungen denkenden Gestalt eines Zarathusthra - warum aber sollte nicht auch der ruhige Urteiler sich hinaufpflanzen wollen und können, gerade in seinem stillen, judikativen Wirken, hinüber über alle Gegenrnächte, in Überschreitung aller normativen Hürden, welche sein Spruch sogar zerbrechen kann? Dass ein solcher richterlicher Wille zur Macht stets unter vielen Schleiern einherschreiten wird, nicht zuletzt unter denen eines Erkennens der besseren Lösung, nimmt ihm nichts von der grundsätzlichen Kraft seiner Möglichkeiten. Denn auch Erkennen kann politisch wirken, auch der Philosophen-König Platons steht in der Macht. Gerade weil der Richter dem Recht unterworfen ist, könnte wohl vorgestellt werden, dass sein typischer Wille zur Macht sich darin auslebt, dass er diese ordnenden Gegenrnächte des Rechts zurückdrängt, überwindet, ja zerbricht. Und welches Organ im Staat hätte dazu mehr Gelegenheit, wenn man den Willen zur Macht nicht nur in spektakulären Ausbrüchen sieht, sondern eben auch im stillen Wirken? Wenn Macht einen inneren Zug zur dynamisierenden Veränderung großer Verhältnisse in sich trägt sollte ein solches Bewusstsein dem Richter verschlossen sein - oder er es vielleicht gerade nach seinem organhaften Wesen nicht kennen (dürfen)? b) Verlässt man den Bereich einer derartigen faktisch-politischen Betrachtung, wendet man sich wieder dem Raum zu, in welchem herkömmliche Rechtsdogmatik wirken kann, so lässt sich auch dort der Versuch unternehmen, Machtbewusstsein rechtlich zu erfassen. Der Richter muss solches dann nicht von vorneherein in einem revolutionären Streben einsetzen, Gesamtordnungen im Staat zu verändern. Machtbewusst kann er auch, ja gerade entsprechend den jeweiligen Verfassungskriterien insoweit handeln, als er sich an jenen Formen des Staatshandelns orientiert, in welchem andere Institutionen tätig werden, von denen in der betreffenden Verfassungsordnung geradezu erwartet, ja verlangt wird, dass sie in Machtbewusstsein wirken und entscheiden. Für gegenwärtige Staatlichkeit bedeutet dies, dass ein Machtbewusstsein der Judikative, wenn es denn ein solches gibt, sich gerade dort auswirken würde, wo diese Organe in einer ordnenden, entscheidenden Nähe zur macht-

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bewussten Legislative und Administrative tätig werden - eben jenen Gewalten, mit denen sie, wie festgestellt, in vielfacher Verschränkung zusammenwirken. Insoweit also wäre dann ein Machtbewusstsein der Richter rechtliche Realität, als sie aus Bewusstseinsstrukturen von Parlamentariern heraus Norminterpretation, Konkretisierung - Normfortsetzung mit anderen Mitteln, den ihren, betreiben. Ein solches Machtbewusstsein würde den normanwendenden Richter dazu führen, in jedem Einzelfall eben doch Fragen zu entdecken - und wie oft liegen sie nicht geradezu auf der Hand - welche ihm die Aufgabe einer Antwort nach der Formel des Schweizer Zivilgesetzbuchs stellen, auch wenn eine "Lücke" im strengsten Sinn nicht vorliegt. Kann er sich hier nicht entweder in normgetreuer Vorsicht dem Willen des Parlaments beugen - oder, eben in richterlichem Machtbewusstsein, über diesen hinwegschreiten, ihn gar urteilsmäßig überspringen? Steht nicht jeder Urteilende stets vor diesem Dilemma, und ist die zweite, die machtbewusste Lösung, nicht eine tägliche, von vielen Gesetzesdienern beklagte Realität? Dem Richter scheint ja auch der Weg einer anderen, ebenfalls eindeutig und anerkannt machtbewussten Gewalt nicht versperrt, der des administrativen Gestaltens, in Form einer Gerichtsbarkeit, welche "im Geist der Regierung und mit diesem" entscheidet. Für Verfassungsrichter der Staatsgerichtsbarkeit ist dies tägliche Praxis und Versuchung; und auch Instanzrichter, nicht nur in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, werden und müssen häufig lernen, mit den Augen jener Exekutive zu sehen, in ihrem Geist zu entscheiden, indem sie darin machtbewusst urteilen, das Machtbewusstsein der Zweiten Gewalt fortsetzen. Judikative Vorsicht mag ein solches Verwalten auf Machtsensibilität reduzieren - doch was wirkt hier anderes als ein Denken von exekutiven Staatsorganen, denen niemand Machtbewusstsein abspricht, von denen ein solches sogar als Motor ihres gesamten Verhaltens erwartet wird? Eine Gegenwart, welcher Dymanik manchmal als Selbstzweck erscheint, wird doch derartig dynamisierende Geisteshaltung den Richtern mit ihrer Gewalt des Letzten Wortes nicht versagen. c) Gewisse Dimensionen muss allerdings dieses Machtbewusstsein auch im Bereich der Dritten Gewalt erreichen, soll dieser Begriff mit auch nur einigem Recht gebraucht werden. Entscheiden muss also der machtbewusste Richter, der solches Lob oder diesen Tadel verdienen will, in einer gewissen flächendeckenden Grundintention, aus einem para-legislativen Wollen oder einem para-administrativen Gestalten heraus. Für den in Verfassungsgerichtsbarkeit Entscheidenden, die Zukunft Normierenden, ist dies tägliche Praxis und stete Versuchung. Doch auch jedem Instanzrichter ist notwendig ein derartiges Denken aufgegeben, wenigstens in Ansätzen, muss er doch "auch im Lichte möglicher Präzedenzwirkungen entscheiden". Nun kann er allerdings - und hier verläuft für das Machtbewusstsein eine wichtige Trennungslinie - die horizontal-flächendeckende Wirkung seiner Ur-

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teile anstreben, sie in deren Grundsatzbegründungen anlegen - oder er kann eng auf den Einzelfall sehen, je nach dem nähert er sich einem gesetzgeberischen Denken oder entfernt sich von ihm. Ähnlich mag er auch in administrativen Kategorien sich bewegen, indem er etwa bei einem Einzelfall die besondere gestaltende Bedeutung herausstellt, mit Blick auf diese entscheidet - oder die Folgen herunterspielt, hier nur den wenig bedeutenden Nonnal- oder auch Anonnalfall sieht. Das Präjudiziendenken ist denn auch als solches wohl einer der dogmatischen Ausgangspunkte zur Bestimmung dessen, was Machtbewusstsein im Bereich der Judikative bedeuten könnte, wenn nicht schon laufend und aktuell bedeutet. Macht wird nur dort angestrebt oder gar ausgeübt, wo sie weitere Dimensionen erreicht, wie die erwähnten Para-Legislativen oder Para-Administrativen im Staate auch über das Gerichtsurteil wirken. Konsequenzialität ist also ein Schlüsselbegriff zum Verständnis dessen, was Richter an Machtgewicht einsetzen, einbringen in die gewaltengeteilte Gesamtordnung ihres Staates. d) In dieser Konsequenzialität öffnet sich auch ein Betrachtungsraum für den Begriff des Machtbewusstseins, der im Folgenden eine nicht unwesentliche Rolle spielen wird, gerade weil sich Richter so häufig und gerne in ihm bewegen: der des moralischen Urteilens - der ethischen Machtdimension, in welcher Moral zur (Staats-)Gewalt wird. Es zeigt sich hier, dass eine etwaige Orientierung des Machtbegriffs allein an dem Politischen, im herkömmlichen Verständnis einer sich mit allen Mitteln durchsetzenden Gewalt, das Phänomen Macht als solches nicht völlig zu erfassen vennag. Vielmehr wird eben erst dort Machtbewusstsein als solches fassbar, wo es "allgemeiner wirken" will - "für die Allgemeinheit" in der Demokratie, und zwar im Namen einer Konsequenzialität, welche, schon aus demokratischer Legalität heraus, für "Alle" sprechen will, jedenfalls für die ,,vielen". Einer solchen Legitimation ihres Handeins brauchen sich die Richter nicht zu schämen. Hier erreichen sie ja kantianische Dimensionen: sie urteilen, wie wenn dieses ihr staatsorganhaftes Verhalten zugleich Richtschnur für jedennann wäre - sie werden zum Gesetzgeber, in einem Menschsein höchster Qualität. In ihren Entscheidungen zeigt sich dann der Staat geradezu - und damit wird Hegel erreicht - als Auto-Anthropos, als ideale Vollendung des Menschen in höchster Fonn. Dann darf dieser Staat auch und dürfen seine ihn dahin in ihren Urteilen Führenden - darin ihn legitimierende Macht von Richtern ausüben, diese sehen sich gerade dazu in ihrer Funktion verurteilt. Und die letzte Folgerung aus solcher ethischer Konsequenzialität, nun bereits in "reine Macht" hinaufwachsend, kann dann eben nur eine sein: Dieser derart richtergetragene Staat darf Träger der höchsten Macht sein, so wie seine richterlichen Organe aus ihrem Machtbewusstsein heraus, das Recht machtbewusst verwaltend, der höchsten ethischen Legitimation teilhaftig sind.

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Hegels Kuppel schließt sich, wirkt unter ihr der Richter, von dem es dann heißen darf, wie unter der größten der Kuppeln: Was er binde und löse erlange die Endgültigkeit der Gewalt auf Erden, des Richtigen, des Guten, auch in den Höhen des gestirnten Himmels. Dies alles ist eine These: der Möglichkeit judikativen Machtbewußtseins. Doch sie kann nicht ohne Antithese stehen bleiben; und diese soll vorsichtig beginnen mit der Beschreibung von Spannungen zwischen Gerichtsbarkeit und Macht, um dann zu deren Ferne, ja Gegensätzlichkeit vorzudringen.

11. Gerichtsbarkeit und Macht: in antithetischer Spannung Machtausübung und Handeln in typischen Formen herkömmlicher Rechtsprechung stehen weder faktisch noch bei rechtlicher Betrachtung beziehungslos nebeneinander, zeigen sich vielmehr in vielfacher, zum Teil enger Verbindung. Dies kommt jedoch in Formen eines wesentlichen Spannungsverhältnisses zum Ausdruck, welches hier in seinen wichtigsten Aspekten beleuchtet werden soll. Wesen der Machtausübung im Raum des Politischen ist die Verwirklichung jenes Möglichen, als dessen Kunst die Politik zutreffend bezeichnet wird, nicht des Richtigen, noch weniger jenes Rechten, wie es aber Aufgabe der Gerichtsbarkeit ist. 1. Der historische Primat der richterfreien Macht

a) Geschichtliche Betrachtung zeigt, dass in der zeitlichen Entwicklung stets "Macht vor Recht" (er)geht. Machtausübung als solche vollzieht sich außerhalb des Schemas einer Gewaltenteilung. Diese stellt sogar, in der überschaubaren Verfassungsentwicklung, einen vergleichbar spät als rechtliche und zugleich politische Notwendigkeit ins allgemeine Bewusstsein tretenden Zustand dar. Am historischen Anfang steht vielmehr eine wie immer ausgestaltete öffentliche Vollgewalt, insoweit entwickelt sich Staatlichkeit wesentlich aus einer Einheitsvorstellung der politischen Macht heraus. Sie mag dann dem persönlich Herrschenden, einem Tyrannen oder Monarchen, zugeordnet werden, oder - meist später - den Vielen, dem Volk. Diese Staatsformen mögen in vielfachen Mischungen auftreten, darin Ansätze einer Gewaltenteilung in der Antike bereits hervorgebracht haben, bis hin zu Formen eigenständiger Gerichtsbarkeit. Zentral bleibt jedoch immer die ursprüngliche Vorstellung vom zeitlichen und eben noch lange auch rechtlichen Primat der einheitlichen Macht, wem auch immer sie anvertraut oder zueigen sein mag. Dieser Primat der normfreien und damit auch gerichtsfreien Macht schwächt sich erst auf späteren Entwicklungsstufen ab, mit der Bewusstwerdung eines Rechts, das dann erstmals als solches anzusehen, anzuwenden,

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hervorzubringen, zu verwalten ist, darin die Vorstellung einer Gerichtsbarkeit vollziehbar werden lässt im allgemeinen Bewusstsein. b) Die geschichtlichen Entwicklungen und vielfachen Verschlingungen, in welchen sich diese Rechtswerdung und damit die Geburt des Richterturns vollzieht, interessieren im vorliegenden Zusammenhang nicht. Entscheidend bleibt einerseits die Erkenntnis von einem Entwicklungsprimat gerichtsferner Macht, zum anderen die weitere Feststellung, dass er sich auf späteren, höheren Entwicklungsphasen in dem abschwächt, was gegenwärtig als Recht anerkannt wird, was damit Gerichtsbarkeit möglich macht. Entscheidend ist nun aber darin die Erkenntnis eines immanenten und originären Antagonismus von Machtausübung im Sinn der ursprünglichen staatlichen Vollgewalt und rechtlich geordnetem Regieren, in dessen Räumen auch die Richter ihre Plätze einnehmen können. Juristischem Fortschrittsdenken - denn auch ein solches gibt es, dies bezeichnet nicht, wie es manchmal erscheinen mag, einen Widerspruch in sich - mag es auch scheinen, als seien diese Entwicklungen mit den erwähnten Spannungen längst vergangen und daher mit all ihrer Historie heute dogmatisch zu vergessen, als wirkten sie nicht mehr, auch nicht unterschwellig, in Spannungszuständen der Gegenwart. Dem kann nicht beigepflichtet werden. c) Wie Historie "nicht einfach endet", sondern wesentlich fortwirkt, auch in ihren Abschwächungen, von Rechtsdogmatik nicht ersatzlos beendet werden kann, das zeigt auch die Entwicklungsgeschichte der Dritten Gewalt, vor allem das heutige allgemeine Bewusstsein, von dem sie in der Gegenwart deutlich und für sie geradezu wesentlich getragen wird. Es geht aus von einem auch heute noch nicht nur fühlbaren, sondern fassbaren Gegensatz zwischen einer "Staatsrnacht", welche aus einer "vollen" in eine "politische" umbezeichnet worden ist, als eine solche insbesondere nicht-richterlichen Organträgem zugeordnet wird - und, auf der anderen Seite, einer Judikative, welche die Bezeichnung "Gewalt" gerade darin und insoweit verdienen soll, dass sie diesen anderen Gewalten, den eigentlichen Trägem der Macht, entgegentritt, einen Gegenpol zu ihnen in all ihrem Wirken darstellt. In einer neuesten Zeit, welche den Bürger entdeckt hat und seine menschengetragenen Zusammenschlüsse, die dem allem den Schutz des Rechts gewähren will, den Sinn aller Staatlichkeit geradezu darin zentral sieht, ist dieser Antagonismus von Recht und Macht und damit von Richtern und Machthabern in neuer, besonders intensiver Weise bewusst geworden. Dies aber ist keine Bewusstseinslage, in welcher gerade die Richter als Machtträger verstanden und ihnen daher ein Machtbewusstsein erlaubt oder gar unterstellt werden könnte - nachdem sie doch wesentlich der Macht entgegentreten sollen. Die Ausgangskonstellation einer Entwicklung der Richter-Idee in ihrer Spannung zur Macht gestattet es jedenfalls kaum, ein "Machtbewusstsein" von Richtern eindeutig zu verorten.

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2. Rechtsanwendung als Machtausübung Richter als Machtträger

a) Den erwähnten wesentlichen Antagonismus von Macht und Recht, der auch heute noch, in vielen Formen, meist unbewusst weiterwirkt, haben die eigentlichen Machtträger, die herkömmlich monarchisch, aristokratisch oder populär Herrschenden in ihren staatlichen Entwicklungen jeweils bald und auch in einiger Klarheit zu fühlen bekommen. Die Reaktion der Macht konnte sich rasch nicht mehr darin erschöpfen, derartige Rechtsformen als lästige Hemmnisse ihrer Gewalt zu ignorieren oder sie als deren bedenkliche Reibungsverluste zu bekämpfen. So wurden sie denn eingebaut in eine Machtausübung, welche nicht mehr ohne das Recht und seine Anwendung auszukommen schien - und damit kam es auch zu Bewusstseinslagen, in welchen diese Urteilenden, durchaus in ihrer engen "Umarmung mit der Macht", als Machtträger erscheinen mochten; der "königliche Richter" früherer und noch heutiger Zeit, jedenfalls in seiner Idealvorstellung, ist dafür ein typisches Beispiel. Und auch hier wirkt die Vergangenheit nicht nur in der Gegenwart, sondern als eine solche, gerade im Verständnis der Judikative. Sie erscheint nicht mehr als Gegenpol, nicht mehr als Abschwächung der Macht im überwiegend negativen Sinn, sondern als eine Form von deren gemäßigter Ausübung, in welcher sie erstmals zu ihrem zivilisierten Wesen findet, dessen gewaltbereite, ja brutale Vorläufer sich immer weiter entfernen. In solcher Entwicklung mag man noch nicht sogleich vordringen bis zu einem selbstgewichtigen Machtbewusstsein jener richterlichen Organe, welche in vielfacher Weise in die von Monarchie oder Demokratie getragene Staatseinheit hineingenommen, mit deren Macht belehnt werden. Vielmehr ist dieser Entwicklungszustand eher etwas wie eine geistige Vorphase: Die herkömmlichen Träger der Macht entwickeln "Richterbewusstsein", gerade soweit sie in der Macht stehen bleiben und deren Ausübung. Sie versuchen über die Richter, diese eigenartigen, oft gefügigen, gelegentlich aber auch widerspenstigen Organe, ihre Macht erst einmal zu legitimieren, damit aber als solche zu verstärken. Denn was könnte überzeugender wirken, Gewalt im ursprünglichen, außerrechtlichen Sinne leichter hinnehmbar werden lassen, als wenn sie den Widerspruch hinnimmt, sich selbst damit aber den Wert des Geordneten hinzufügt? Darin wird diese Gerichtsbarkeit geradezu ein Alibi für eine Macht, welche wesentlich außerhalb von ihr angesiedelt war und bleibt. Machtgefügigkeit der Richter oder Machtsensibilität mag dann hier wirken; diese Verhaltensformen, Vorstufen oder Degenerationen eines eigenständigen Machtbewusstseins, begegnen bis in die Gegenwart, in ihr vielleicht erst recht. Das Recht, angewendet von einer Dritten Gewalt, kann dann als solches die Erfüllung solcher Alibifunktionen übernehmen: in ihm wird der Bürgerschaft zum Glauben vorgestellt, oder vorgegaukelt,

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dass es Recht als Macht, Richterturn als Machtausübung geben könne und Macht als Recht. Aus solchen Entwicklungen heraus mag dann ein früheres Machtmisstrauen gegen die hemmenden Richter sich ebenso abschwächen, wie das Misstrauen einer Bürgerschaft, welche dieses neue judikative Machtbewusstsein nur als eine bürgerfreundliche Fortsetzung der alten Spannung zwischen den Gegenpolen "Macht und Recht" erkennen zu können glaubt. b) Eine solche Entwicklung war weder in der Vergangenheit noch ist sie in einer Gegenwart, in welcher sie sich, wenn auch unterschwellig, immer weiter fortsetzt, jemals eine reine Einbahnstraße. Immer wieder wurde ja den Vertretern der alten absoluten Machtausübung die wesentliche Spannung zur Gerichtsbarkeit, deren Gegenpoligkeit zur Macht bewusst, die eben ihr Wesen gerade darin findet, dass sie sich über jeden organisierten Widerstand hinwegsetzen will, auch über den, welcher im Namen des Rechts ausgeübt wird. Dies sind dann Phasen, in denen es zu einer Machtbewusstwerdung kommt, welche man als Machiavellismus bezeichnet und oft allzu rasch in Kritik herabsetzt, eben weil sich in ihnen immer wieder "Macht" selbst über alles Richterliche hinwegsetzt. Modeme Primitiv-Polarisierung von "gut" und "schlecht" leistet derartigen Naivbetrachtungen politischer Phänomene Vorschub, sie bringt sie geradezu im allgemeinen Bewusstsein hervor. Etwas von der Erinnerung an religiöse Berichte von einem Ur-Kampf zwischen Göttlichkeit und Diabolik mag vor allem dort noch immer dafür Pate stehen, wo Puritanismus weiterwirkt. Dann wird der Richter zum Vertreter der "guten Macht" gewissermaßen in der Nachfolge des göttlichen Richters, Machtkalkül erscheint als Ausdruck jenes Bösen, dem doch "Macht" nicht gegeben werden soll, weder im Diesseits noch jenseits von ihm. In diesem Sinne wirkt Gerichtsbarkeit heute nicht in der Sicherheit eines immer mehr sich durchsetzenden Rechts, welche ihren Gegner, die Macht, zurückdrängt. Als eine stets prekäre bleibt sie im Kampf stehen mit jenem "Nicht-Richterlichen", das sich immer wieder gegen ihre rechtlichen Legitimationen wendet. Und daher könnte sie auch versuchen, ihnen gegenüber etwas wie ein institutionelles Kampfbewusstsein zu entwickeln - jedenfalls eine Art von Machtbewusstsein, wie jener gepanzerte Erzengel, der einst den Teufel stürzte. Spannung von Macht und Gerichtsbarkeit bleibt also immer weiter politische Realität, damit aber auch eine Kraftquelle für die Entwicklung richterlichen Machtbewusstseins - oder seine ständige Schwächung in einer Machtgefügigkeit, welche ihr Ordnen aber immer noch der reinen Brutalität vorzieht, die offen über Recht und Richter hinweggeht. Eines nur wird auch hier wieder klar: Problematik und etwaige Entwicklung eines Machtbewusstseins von Richtern, welche ein solches dem Juris10 Leisner

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ten als solchem vorleben - all dies ist nicht Zustand, sondern Entwicklung, Herausforderung für jede Epoche.

3. Gerichtsbarkeit - typisch delegierbare Macht a) Wo die Mächtigen nicht nur Gewaltfrieden brauchen, sondern Rechtsfrieden, ihren Frieden also auch mit Richtern machen müssen, geschieht dies in aller Regel in einem eigenartigen Denken: "Die Macht" kapituliert nicht, nie als solche vor "dem Recht". Sie würde sich darin selbst aufgeben. Juristen mögen dies immer wieder herbeiwünschen, nicht sie aber erringen Siege, wie sie dazu erforderlich sind, die Schlachten werden auf Feldern oder auf Barrikaden geschlagen, von Macht zu Macht. Doch dann beugt sich diese, in ihrer alten Voll-Gewalt, ein wenig herab zu einer neuen Ordnung, in welcher sie überleben kann, sie macht ihr das Zugeständnis des Rechts und damit auch das der Gerichtsbarkeit. Zurück behält sie sich dabei nicht nur die Gewalt eines fons honorum, mit welchem sie die Gerichte und ihre Urteilenden umgibt, sie bleibt fons potestatis, einer Gewalt, die sie in Teilen, in Bruchstücken vielleicht, abbürdet auf jene Richter, welche sie nun in justizieller Geduld weitertragen. Wesen und tiefere Bedeutung dieser wahren "De-Iegation", dieser Abbürdung der Macht auf die Judikative, zeigen jene Delegationsformen, in welchen die Übertragung aus der Vollgewalt eben stets nur in Ausschnitten erfolgt, begrifflich nie diese in einer Einheitlichkeit übertragen will, welche sie als Macht charakterisiert. So wird die Gerichtsbarkeit immer wieder belehnt als eine typische Ausschnitts-Macht, vielfach gerade wesentlich beschränkt. Dies unterscheidet sie von anderen Staatsgewalten, deren Begehrlichkeit ihre Träger stets von neuem ins wirkliche Machtzentrum treibt, wie etwa die volksvertretenden Abgeordneten der Legislative. Die Richter dagegen sind sich, angesichts ihrer delegierten Gewalt, der Begrenztheit ihrer Mächtigkeit wohl immer bewusst, der Spannung, in der sie ihre Zuständigkeiten halten müssen zu einer Vollgewalt, welche sie mit ihrer Faszination, der Begeisterung und den Hoffnungen zu jedem Augenblick wieder überrollen könnte, welche eben stets die eigentliche Macht umgeben. b) In dieser delegierten Mächtigkeit wird und bleibt die so übertragene Befugnis nicht nur eine solche, sie ist stets als delegierte eben darin eine komplizierte. In der Delegation flieht die eigentliche Macht nicht, zu ihrer Befestigung und Legitimation, voll in ihr Gegenbild, mag dies auch gelegentlich so erscheinen, von den Machtunterworfenen erwartet, ja gefordert werden, etwa in der Verlagerung von parteipolitischer Kompetenz zu der "unabhängiger" Staatsorgane. Diese "Flucht ins Gegenbild" bleibt vielfach beschränkt und sie vollzieht sich allenfalls auf verschlungenen Wegen der richterlichen Komplexität.

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Dies hat Auswirkungen auf die hier untersuchte mögliche oder aktuelle Entfaltung eines richterlichen Machtbewusstseins. Es sieht sich immer wieder abgeschwächt in diesen sich laufend, im materiellen wie im Prozessrecht, verstärkenden Verschlingungen, welche in Richtertätigkeit zu "lösen", nicht als gordische Knoten mit Macht zu durchtrennen sind. In Komplexität delegierte Instanzen sind wohl ihrem Wesen nach entfernt vom eigentlichen, von vollem Machtbewusstsein. Sie vermögen etwas Derartiges aber doch zu entwickeln, wenn auch in eigenartiger Form. Gerade jene Komplikation führt dahin, in welche die Machtdelegation die Richter einzusperren scheint. In diesen kleineren Räumen entwickeln sie eben kleine Vollgewalten, hier entfaltet sich ihr Selbstbewusstsein in dem der Unersetzlichkeit ihrer rechts technischen Kompetenz. "Die Macht" mag noch so weit vordringen - irgendwo verfängt sie sich in den Schlingen, welche sie um ihre Bürger, ihre Organe und damit um sich selbst gelegt hat: Nur mehr ihre Richter sind dann in der Lage, ihre Gedanken fortzudenken, ihnen jene kleinen Mächtigkeiten in den kleinen Kreisen der Rechtsgenossen zu verleihen, aus denen sich am Ende aber eben doch die eine, große Gewalt aufbaut. So ist auch diese Delegation, in welcher das Recht zur Magd der Macht herabgewürdigt, mit ihren Lasten beladen werden soll, in sich wieder eine ambivalente Kraft: sie entmachtet und vermachtet zugleich die Richter.

4. Die Richter und der "Rückzug der Macht auf die Geschenke" a) Richter schenken nicht, sie teilen zu, und dies noch wesentlich im Namen anderer, für die sie als (un)getreue Verwalter wirken könnten. Die Macht der Geschenke bleibt ihnen verschlossen, aus ihr heraus können sie nicht wirken, so scheint es doch. Nicht sie begnadigen den Rechtsbrecher, dieses wesentliche Privileg der Macht, dieses wahre Vor-Recht, ist anderen Organen seit langem vorbehalten, die früher die Vollgewalt ausübten, ihr heute noch immer am nächsten stehen: das amnestierende Parlament, die Gnade vorschlagende oder gar gewährende Exekutive. Schwächt sich darin nicht von vorneherein etwas von jenem Machtbewusstsein ab, welches doch im freien Schenken, wie es etwa der Gnade wesentlich ist, seinen höchsten und schönsten Ausdruck findet? Gerade dort, wo der Staat die "Macht der Geschenke" zu hoher Perfektion gesteigert hat, im Recht seiner Sozialleistungen, tritt heute aber die Judikative als Trägerin machtbewusster Entscheidungen weit zurück: Wie eine noch etwas kompliziertere Verwaltung ratifiziert sie aber nur die Wohltaten, welche die Vollgewaltigen, die Herren über die Finanzen, unter die Bürger verteilen. Aufgabe der Richter ist eher Missbrauchsabwehr, sie dürfen den Geschenken des Staates die öffentliche Strenge hinzufügen, welche wie10*

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der so manches an Freude über solche Guttaten wegnimmt. Der Bürger mag ihnen für sein Recht dankbar sein, für die sozialen Geschenke, welche er erhält, wird ihnen niemand danken. Die Richter waren es ja auch nicht, welche mit ihnen ihre Macht in Wahlversprechungen erkauft haben. Die Macht zieht sich heute auf die Geschenke immer mehr zurück, im Sozialstaat, der nicht zu zwingen braucht, wo er geben darf, wo er in Gleichheit nicht die Freiheit belastet, sondern nur randzukorrigieren scheint. Der Richter dagegen bleibt die wesentlich eingreifende, in ihren Befehlen auch so oft odiose Staatsgewalt, welche der selbstbewusste Bürger nur widerstrebend hinnimmt. Ist hier noch Raum für etwas, das Machtbewusstsein heißen darf? b) Richtertum hat, in allen Formen seiner Ausübung, zwar nicht die Güte der Geschenk-Macht entwickeln können, die Dankbarkeit der Begünstigten für Unverdientes dürfen die Richter nicht erwarten. Doch sie verteilen andere Geschenke, können andere Erkenntlichkeiten erwarten: ihnen ist es allenthalben gegeben, das Recht selbst als ein Geschenk erscheinen zu lassen, als eine wahre, unverdiente Gnade. Wiederum hat sie auch dahin, an diese Quelle eines neuartigen Machtbewusstseins, gerade etwas geführt, was umgekehrt ihre Macht und subjektive Sicherheit in dieser begrenzen sollte: Komplexität, in welcher sie mit jener belehnt worden sind. Die der Vollgewalt nahestehenden Vertreter des Volkssouveräns, das Parlament zuallererst, haben diese Delegationen in ihren Normengeflechten derart komplex ausgestaltet, dass am Ende niemand mehr einen Anspruch auf irgendetwas als sicher erwarten, alles Recht immer nur mehr erhoffen darf. Nicht ohne ein gewisses Vergnügen der Macht fahrt der Richter mit diesen Parteien auf jene hohe See, auf der aber nicht göttergesandte Stürme herrschen, sondern ein Wille, sein Wille; er jedenfalls ist der einzige Kapitän. Bei objektiv-rechtsstaatlicher Betrachtung mögen Rechtspositionen noch so eindeutig gewährt sein - wo immer ein Richter einmal angegangen wird, ist alles mit Zweifeln verhangen, die allein der Urteilende wegzuziehen vermag, damit dann die Sonne eines wahrhaft geschenkten glücklichen Tages auf hoher See über dem Obsiegenden scheine. Die Realität der Gerichtsverhandlung ist die einer Glücksstimmung, wie sie eben nur durch Geschenke hervorgebracht wird. Und dieses Machtgefühl, aus dem heraus der Richter sein Urteil verkündet, empfindet jeder, und der Verkündende zuallererst, der sich wie er beim Urteilsspruch erhebt und schon in dessen prozessualen Vorphasen vor dem Gericht. Dies dient gewiss nicht der Wahrheitsfindung, aber es bringt etwas durchaus Undemokratisches zum Ausdruck: Die Haltung des Bittstellers vor dem Hohen Herrn, von dem er einst Geschenke erbat. Parteien und Öffentlichkeit erscheinen hier als in Machtbewusstsein

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Beschenkte - mit Recht. Dass die Richter "im Namen des Volkes" schenken, bleibt eine Marginalie. Dieses Machtbewusstsein - mag es auch ein sui generis sein - im verkündeten und damit geschenkten Recht steigert sich, wie ganz selbstverständlich, mit der jeweils erreichten Instanzhöhe: Vor dem höchsten Gericht sind die Zweifel am dichtesten, das Glück eines endgültigen Obsiegens am stärksten fühlbar - und insoweit ist das Machtbewusstsein der Urteilenden dort am stärksten, wenn auch wiederum geschwächt in der Anonymität des Kollegiums. Und um wieder einen theologischen Vergleich zu bemühen: Den Richtern mag auch dort bewusst sein, dass sie eigentlich mit dem Psalmisten ein Non nobis, non nobis sprechen, der erfolgreichen Partei und dem Publikum sagen müssten, sie sollten Gesetzgeber und Rechtsstaat die Ehre geben, nicht ihnen - ist das wirklich das Bewusstsein, in dem sie sich zur Urteilsverkündung erheben und sodann den Gerichtssaal verlassen? Recht und Richter bleiben Gegenpole der Macht, aber sie entwickeln eben auch ihren eigenen Pol, auf vielen Wegen.

5. Der Richter als Machtverwalter, -erhalter? Richterturn und Macht stehen sich, dies zeigte sich schon bisher, als Gegenpole gegenüber, aber doch auch in vielfachen Spannungslagen verbunden; und aus diesen entwickelt sich auch im Pol der Gerichtsbarkeit durchaus, in vielfachen Formen, immer wieder etwas, das viele als ein Machtbewusstsein ansehen mögen. Dieses Wesen der Antithese und ihre institutionenstärkende Kraft zeigt auch eine Betrachtung der Macht als einer wesentlich erneuernden, die der Gerichtsbarkeit als einer bestehende Machtlagen verwaltenden Kraft. a) Macht, in welchen Formen immer verstanden und ausgeübt, will sich durchsetzen, sie definiert sich aus einer Gegenrnacht, welche sie verdrängt, ersetzt, sich eben darin legitimierend. Ihr Bewusstsein, welches oft als das einzige erscheint, welches diesen Namen verdient, zielt auf die neue Ordnung, die neue Lage, mit welcher sie die "früheren Mächte" vertreibt, woraus sie sich geradezu definiert, nicht nur legitimiert. Die Macht siegt, sie "glückt" in ihrem Unterfangen, sie wird gerade darin "ausgeübt". Sie liegt nicht, besitzt und schläft wie der Drache im "Siegfried", sie hütet keinen Schatz, sie gewinnt ihn. Kann in diesem Sinne eine Gerichtsbarkeit je Machtbewusstsein entfalten, zeigt sie sich auch hier als ein Gegenpol zur Macht, als ein aliud, nicht nur ein sui generis? b) Der Richter tritt auf "nach geglückter Macht", und in ihrem Namen; und so mag es scheinen, dass er nach ihr komme, ihr nicht mehr begegne,

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und wie könnte er dann in Spannung treten zu ihr? Allenfalls erscheint er noch, mit seinem Richterrecht, als Personifizierung einer Lex posterior, deren verändernde Wirkung eben die Macht aus dem Wesen des Rechts heraus hinnehmen muss, die sie aber immer wieder durch eigenen Willen zurückwerfen kann, ohne dass ihr hier etwas entstünde wie ein echter Gegenpol. Der Richter ist dennoch ein wichtiges, wahrhaft entscheidendes MachtOrgan: als Machtbewahrer. Er bewahrt sie nicht darin, dass er in ihrem Namen Neues hervorbringt, in diesem Sinne machtschöpferisch tätig ist, er wirkt als Machtfortsetzer, als Machtverwalter im eigentlichen Sinn und mit einer Endgültigkeit, hinter der nichts anderes mehr kommt. Er ist jenes Organ, welches "unten in Ruhe hält", während, vielleicht gerade damit "oben" die Macht Neues schafft, andere Normlagen, administrative Gestaltungen. Wenn Machtausübung Bewegung bedeutet, so wird diese eben erst erfassbar, überhaupt erst möglich über einer Ruhe, zu der sie als Gegenpol wirkt - und diese Ruhe ist es, in welcher die Gerichtsbarkeit doch auch wieder als Macht wirkt. Und dies gilt in vielen Richtungen. Damit sich etwa ein Machtbedürfnis entwickle, Forderungen an die Macht sich aufstauen, in Rufen nach neuer Gesetzgebung, in einem il faut que cela change als Anruf an die Exekutivgewalt - für all dies müssen erst die Voraussetzungen geschaffen sein in einer langen richterlichen Befriedung, welche darin, mit dem Machtgespür eines deutlichen Konservatismus, zu Verkrustungen werden. Damit sich "oben" echte Macht in rationaler, ruhiger Reflexion entwickle und dann wiederum, in all ihrer Neuheit, herrschend dauern könne, muss das "Unten" einstweilen in emsiger Richterlichkeit beruhigt, in der Ruhe des Bisherigen gehalten werden. Damit eine Gesetzgebung, die eigentliche Trägerin des Neuen, überhaupt vorstellbar sei, muss es dieses Bisherige geben, in rechtlichem Administrieren und, vor allem, Judizieren, zu dem es dann erstmals in den belebenden Gegensatz der Antithese treten kann. Richterliche Rechtsverwaltung ist geradezu der definierende und zugleich hervorbringende Gegensatz zu Rechtserneuerung im Vollgefühl der Macht. c) Wiederum erwächst schließlich aus diesen verbindenden und verbundenen Gegensätzen auch im Bereich der Judikative etwas wie ein eigenes Machtbewusstsein. In ihrer Urteilstätigkeit ist den Richtern eben durchaus einsichtig, dass die erneuernde Macht zwar an den Türen ihrer Säle nicht endet, soweit sie auch das neue Recht sogleich anzuwenden haben. Immer weiter entwickelte Rückwirkungsverbote und Vertrauensstellungen mögen den Richtern allerdings auch insoweit das Bewusstsein einer eigenartigen "Macht für die Vergangenheit" vermitteln, aus welcher denn doch die anderen, im Übrigen so souveränen Gewalten ausgesperrt sind: Etwas auszusprechen, was sich dann "nicht mehr ändern lässt", bleibt eben ihnen und nicht

11. Gerichtsbarkeit und Macht: in antithetischer Spannung

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der wesentlich ändernden Macht entzogen, damit der Macht schlechthin, die sich aus Änderungen definiert. Noch in einem anderen Sinne kommt den Richtern denn doch ein gewisses Machtbewusstsein aus ihrer bewahrenden Gewalt: Mit ihr haben sie gewissermaßen Anteil selbst an jener ständig ändernden Gewaltausübung, als welche sich die herkömmliche Vollgewalt in ihrem Kern versteht. Augenblicke, in denen sie eben doch zur Ruhe kommen muss, damit sie dem Bürger gegenüber als Macht überhaupt in Erscheinung trete - sie schenkt ihr und der Gemeinschaft der Urteilende, er lagert und vertreibt, um ein ökonomisches Bild zu gebrauchen, was andern Orts produziert wird; und es hat dies alles nur Wert, wenn es in diesen rechts anwendenden Vertrieb gelangt, dorthin bringen es, in letztem Zuschlag, die Richter. Macht will erneuern, aber Macht will auch halten, und so muss sie in ihren Äußerungen gehalten werden. Dazu bedarf es etwas wie eines besonderen, beschränkten, eines fortsetzend-verwaltend-beruhigenden Machtbewusstseins. In Gerichtsbarkeit wirkt es, und zwar als ein solches, "im Namen des Gesetzes", "im Namen des Volkes".

6. Die Erwartung an die Richter: Gerichtsbarkeit als "Machtbremse" a) Soweit überhaupt etwas wie eine richterliche "Gewalt" angenommen wird, steht dahinter immer die Vorstellung von einer Funktion, welche sie jedenfalls wahrzunehmen hat, welche sie zugleich als solche legitimiert und definiert: dass mit ihr eine Art von Bremsmechanismus eingebaut sei in das Gesamtsystem machtwirksamer Institutionen. Gerichtsbarkeit als Verhinderungsorgan, als Abschwächung von Überaktivitäten der Machtträger wurde sogar dort in den Mittelpunkt gestellt, wo eben daraus, wie im Fall des Widerstands des Supreme Court gegen den New Deal, aus einer solchen Form von passivem judikativen Widerstand, etwas wie die Vorstellung von einer "Regierung der Richter" entwickelt wurde. Und nach Erlass des Grundgesetzes mahnte Herbert Krüger, mit Blick auf die Intensivierung gerichtlichen Rechtschutzes vor allem, ein Staatsauto könne doch nicht nur mit Bremsen fahren. Stets war sich denn ja die Gerichtsbarkeit, wie immer sie trotz aller Spannung letztlich doch mit machttragenden Institutionen verschränkt gewesen sein mochte, zugleich dieser Antithetik zur Macht bewusst; vielleicht ist dies auch in der Gegenwart das einzige ganz klare "Bewusstseinselement", welches bei Richtern aller Instanzen und Funktionen übereinstimmend festzustellen ist. b) Eben dies ist auch von einem anderen, hier bedeutsamen Bewusstsein getragen: dem einer Allgemeinheit, welche gerade in der Gegenwart diese

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Gegen-Haltung von der Judikative insgesamt erwartet, eben wider die Macht. Weithin wird diese sogar daraus geradezu definiert, dass sich ihr letztlich Richter in den Weg stellen: im Namen des Rechts. Und wenn dieses Letztere nicht selten auch bereits als ein Machtinstrument erscheint, als Gefahr für Bürgerfreiheit, so wandelt es sich eben in seiner Bewahrung und Anwendung durch Gerichtspersonen zum Schutzwall der Freiheit. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat immer wieder von den Hoheitsträgern als den "geborenen", den ganz natürlichen Feinden und Gefährdern der Freiheit gesprochen, und deren grundrechtlichen Schutz, mit der Theorie des "verlängerten Arms", auch gegen Aktionen gewährt, welche als Fortsetzung staatlicher Machtentfaltung durch nicht-staatliche Träger erscheinen. Damit hat sie, aus der Freiheit heraus, indirekt etwas gegeben wie eine "Definition der Macht" - und eben gegen diese sichert sie dem Bürger durchgehenden rechtlichen Schutz zu, durch ein "formales Hauptgrundrecht": dass er die Richter anrufen darf. Damit ist von Verfassungs wegen Antithetik von Richtergewalt und Hoheitsrnacht proklamiert - und auch, wenn man will, eine weitere Verschränkung beider, indem nämlich die Judikative ja nicht nur aufheben und randkorrigieren, sondern Hoheitsakte eben auch bestätigen und damit verendgültigen kann. Als "Kontrollbremse" aber behält sie "ihre Wirksamkeit aus Gegensätzlichkeit" in allen Fällen. Diese durch das Verfassungsrecht aufgenommene historische Erfahrung und allgemeine Bürgererwartung muss denn auch, da so selbstverständlich beides allgemein in Erscheinung tritt, die Mentalität der Urteilenden prägen: Gewiss arbeiten sie mit der Macht zusammen, doch letztlich bleiben sie stets "ihr gegenüber stehen", dies ist ihr Status. So erzeugt die hier in verschiedenen Aspekten betrachtete Antithetik von Gerichtsbarkeit und Macht, wenn auch auf vielfachen Umwegen, doch ein gewisses richterliches Machtbewusstsein, das sich in einer Demokratie auf die stille vox Dei der Bürgererwartung berufen kann. Daraus erwächst dann, wenn auch in vielfachen Brechungen, ein gewisses Machtbewusstsein, aus dem heraus die Judikative tätig wird, auch und gerade in den vielfachen Verschränkungen mit primär einem reinen Machtdenken verpflichteten Staatsorganen. Nun gilt es jedoch auch eine andere Seite zu beleuchten, welche zur bisher behandelten antithetischen Spannungslage ihrerseits in einer gewissen Antithese sich zeigt: die Machtfeme, in welcher die Richter eben doch letztlich ihre Funktionen erfüllen, die als etwas "ganz anderes" erscheinen, als ein klares "aliud im Rechtssinn" gegenüber allem, was gemeinhin mit dem Begriff der Macht in Zusammenhang gebracht wird im Staat.

III. Die Machtfeme des Richtens

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111. Die Maehtferne des Riehtens Was es hier zu betrachten gilt, sind Erscheinungen, die nicht so sehr verschränkende Zusammenarbeit zeigen, sei es in Unterstützung oder auch nur schrankendefinierendem Gegensatz zur Macht, sondern eher die Beziehungslosigkeit eines Nebeneinanderstehens von Urteil und machtrealisierendem Hoheitsakt. Gewiss haben die folgenden Betrachtungen dabei wiederum einer Schwierigkeit stets Rechnung zu tragen: "Macht" ist eben bisher als solche kein Rechtsbegriff, rechtsdogmatisch vielleicht gar nicht abschließend definierbar. Darunter leiden zweifellos auch alle folgenden Ergebnisse. Gerade sie aber mögen, wie bereits im vorstehenden Kapitel gezeigt, ihrerseits doch gewissermaßen e contrario auch wiederum gewisse Definitionselemente beisteuern zu dem, was rechtlich unter Macht zu verstehen sein könnte. 1. Die "Gegnerfreiheit" der Judikative

a) "Macht" definiert sich, jedenfalls im allgemeinen Verständnis, weithin aus der Existenz eines von ihr zurückzudrängenden oder gar auszuschaltenden Gegners. Darin beweist sie jene Wirkung, welche mit dem Wort allenthalben verbunden wird. Wenn sie nicht vernichten kann, so will sie doch beugen. Wo sie dies nicht vermag, tritt sie zurück, verschwindet selbst aus dem rechtlichen Blickfeld. Darin liegt die auch für das Recht bedeutsame soziologisch-politologische Erkenntnis des "politischen" Charakters des Machtbegriffs: Hier erweist er sich als typische Freund-FeindBeziehung. Für das Parlament als Machtträger ist dies, praktisch wie grundsätzlich, eine Selbstverständlichkeit. Seine Entscheidungen werden in dieser politisch-rechtlichen Grundstimmung vorbereitet, im Kampf um die Mehrheit, sie drängen ganz wesentlich Gegenvorstellungen von Minderheiten zurück, mögen diese nun im Parlament vertreten sein oder nicht. So wie es die außerparlamentarische Opposition gegeben hat, so gibt es für jede gesetzgebende Körperschaft stets auch das "außerparlamentarische Freund-FeindVerhältnis", in welchem irgend eine Art von Gegner, wo immer er steht, normativ zurückgedrängt wird. Auch alles, was man unter "Zweiter Gewalt" zusammenfasst, tritt in ähnlicher Weise als Machtträger in Erscheinung. Als konkretisierende Fortsetzerin der Gesetzgebung mit ihren Mitteln steht sie in der eben erwähnten politischen Wirksamkeit der Legislative, verwirklich und verstärkt diese mit ihrem "bewaffneten Arm". Doch auch in großen extranormativen Gestaltungen arbeitet sie nicht nur für Projekte, sondern immer auch eben gegen solche, an Anti-Projekten, mit welchen sie jene verdrängt. Ihr "politischer

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Feind" ist dabei eine bestimmte bisherige Realität, die es umzugestalten gilt, alles was sie durch ihre Projektgestaltung verhindert. Diese bei den Staatsgewalten haben also Gegner, ihr Wirken und damit sie selbst definieren sich geradezu aus diesen, sie stehen "dagegen", nicht "darüber". b) Der Richter aber steht immer wesentlich "darüber", über den Parteien und ihren Interessen, mag er auch nicht schlechthin ein Unbeteiligter sein im Prozess. Gegner jedenfalls, im erwähnten Sinne der machttragenden Gewalten, darf er nicht kennen. Zwar schließt auch er, rechtlich wie faktisch, "Gegenpositionen" aus. Dies bewirkt er jedoch gerade nicht als Gegner, in welchem politischen Sinn auch immer. Versinnbildlicht wird dies, geradezu verkörpert, im Richterstuhl. Er stellt eine verkleinerte Abbildung jenes Fürstenthrones dar, von dem aus einst der König richtete, schon damals in der Stellung einer neutralen Gewalt, welche ihm noch die Liberalen des 19. Jahrhunderts zuerkennen wollten. Und seine kleinere Verkörperung, der königliche Richter, thront ebenso, und nach seinem Bild und Gleichnis alle diejenigen, welche solche Funktion ausüben. Hier muss es sich die Betrachtung versagen, vertiefend auf die staatsrechtliche Bedeutung des Begriffes "Thron" einzugehen, diese auch mit Blick auf seine Bildlichkeit zu sehen. Sicher ist da etwas stets vom Sinnbild einer inaktiv darüber stehenden - sitzenden - Organpersönlichkeit, von einer passiven Gewalt, an welche Gefolgschaften und Bürger Realitätsfragen herantragen, von der aber nicht neue Wirklichkeiten erwartet werden. Der Thronende mag das Richtschwert tragen, oder es mögen andere neben ihm halten, als Beweis, als Symbol letzter Macht. Aber der Urteilende steht nicht mit ihm auf, er zieht nicht mit ihm in die politische Schlacht der Macht. Denn diese ist schon gewonnen. Aller Kampf ist bereits in die Niederungen der Rechtssuchenden verbannt. Thronen kann nur Gegnerfreiheit, Macht in einer Endgültigkeit, die sich nicht mehr beweisen, sich nicht mehr über Gegner beugen, nicht mehr an sie denken muss - die im Letzten frei ist sogar von jedem Machtdenken. All dies bedeutet die Gegnerfreiheit auch für den Richter. c) Dieses machtfeme, gegnerfreie Wirken drückt sich eben auch in dem aus, was richterliche Tätigkeit in all ihren Spielarten stets prägt: der Ausgleich. Zwar wird die rechtsprechende Gewalt als eine solche des wesentlichen Entscheidens angesehen; doch dies bezieht sich nicht so sehr auf den Inhalt ihrer Aussprüche als auf jene Macht des Letzten Wortes, die darin zum Ausdruck kommt. Inhaltlich betrachtet tritt aber die Entscheidung gegenüber dem Ausgleich meist deutlich zurück, und dies nicht nur in einer immer kompromissfreudigeren Gegenwart. Der Richter nimmt zunächst ein-

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mal, und in der Regel endgültig, die Parteien, die Beteiligten hin, sie sind ihm vorgegeben; seine Aufgabe liegt nicht darin, eine von ihnen auszuschalten, zu eliminieren, mag dies auch spätere Wirkung seiner Entscheidung sein können. Da ihm diese Beteiligten wesentlich vorgegeben sind und bleiben im Prozess, bleibt auch sein richterliches Tun letztlich immer in etwas verfangen wie einem Vergleich, auch wenn er einem alles zu geben scheint, dem anderen nichts. Ausgleich liegt jedenfalls stets darin, dass die beiden oder mehrere Rechtspositionen im Urteil behandelt, definiert, abgegrenzt, darin aber immer auch abgeglichen werden. Doch jenseits von solchen theoretischen Überlegungen: Die richterliche Praxis ist stets und heute geradezu durchgehend geprägt von einem Sinn für Vergleich, nicht von zerschlagender Entscheidung. Der Vergleich ist etwas wie ein richterliches Ideal, nicht nur weil er Begründung erspart, Berufung vermeidet. Er ist letzter Ausdruck jenes Abwägens, in dem der Richter die beiden "kleinen Gegner" in den kleinen Schalen seiner Waage hält, die auspendelt, nicht niederstreckt. Die Beteiligten mögen oft die bereits sprichwörtliche Vergleichsfreudigkeit der Richter kritisieren, doch dies ist eben Ausdruck eines grundsätzlichen Denkens in Dezisionen, in Kategorien der Macht, mit der sich eine Seite ja auch im Prozess gegen die andere durchsetzen will; sie denkt eben insoweit "politisch". Dem Richter ist all dies im Letzten fremd, er ist die Personifikation des Wägens, bei dem sich eine Schale ja immer doch nur über die andere erhebt, nie ein Arm den anderen völlig bricht. Und ist nicht der Vergleich nur eine Endstufe des Ausgleichs, auf welcher die Waage gänzlich zum Stillstand kommt? Im Vergleich hört alle Gegnerschaft auf in Konsens, die Macht wird nicht etwa hälftig oder in anderer Form geteilt, sie verschwindet schlechthin aus den Rechtsbeziehungen. Und solches Ignorieren der Macht bedeutet denn auch die Machtblindheit jener Justitia, welche die Waage hält und abwägt. d) Darin allerdings scheint beim ersten Blick ein Paradox zu liegen: Jene Staatsgewalt, welcher wesentlich und damit doch das Entscheiden anvertraut ist - gerade sie soll ebenso wesentlich entscheidungsfem wirken. Doch hier kommt es eben nicht auf formalistische Betrachtung des Entscheidungs begriffes an, welche Dezision als Endgültigkeit nur im Sinne einer unwiderruflichen Lösung versteht. Wesentlich ist vielmehr hier ein inhaltliches Verständnis dessen, was Dezision bedeutet. Dieses aber lässt sich gewinnen aus den Lehren earl Schmitts über den jeweiligen Entscheidungsgehalt eines Staatshandeins, in der Gesamtordnung der Verfassung. Hier kommt es auf die Letztgewichtigkeit an, nicht allein auf das Letzte Wort und diese Letztgewichtigkeit kommt richterlichem Urteilen wesensgemäß weniger zu als dem Verhalten der anderen, der politischen Gewalten; solche Letztgewichtigkeit will der stets vorsichtige Richter ja auch gar nicht erreichen, müsste er doch sonst "politisch brechen", nicht mehr wägen.

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Die richterliche Gewalt kann also ohne weiteres, auch im Sinne des staatsgrundsätzlichen Dezisionismus, verstanden werden als eine - letztlich undezisionistische, weil gegnerfreie, darin eben machtferne. 2. Richtertätigkeit: wesentlich in Kontinuität Macht muss Gegner verdrängen, weil sie erneuern will. Von dieser ihrer wesentlichen Reformorientierung, von ihrer Progress-Dynamik war bereits die Rede, sie wurde einer Judikative gegenübergestellt, welche gerade deshalb "unten bewahrt", damit "oben verändert" werde. Indirekt nimmt sie damit teil an Reformanstrengungen, indem sie diese in ihrer Ruhe ermöglicht. Hier aber ist sie nun vor allem in einer Machtferne zu betrachten, in welcher ihre typisch kontinuierliche Tätigkeit, bis hin zu deren konservativem Charakter, rechtsprechende Tätigkeit als ein klares Aliud gegenüber Machtäußerungen erscheinen lässt. a) Rechtsprechung steht aller Neuerung stets mit einer primären und grundsätzlichen Zurückhaltung gegenüber, wie sie bei keiner der anderen Staats gewalten, ja wohl in keiner öffentlichen Organtätigkeit vergleichbar festzustellen ist. Dies ergibt sich bereits aus jenem Begriff, der "Judikatur", der gewiss nicht im Sinne eines Durchbruchs vorzustellen ist, eher in dem eines langsamen Sich-Durchringens zu Neuern. Der Begriff der Reform ist rechtlich - obwohl ihn leider auch die Verfassungsrechtsprechung nicht nur gebraucht, sondern offenbar legitimierend akzeptiert - als solcher noch längst kein in all seinen Inhalten fassbarer Rechtsbegriff. Reform kann sich sowohl im Brechen des Alten, im Sinne der theologischen Reformation, ausdrücken, als auch in kontinuierlichem Fortsetzen, nicht ohne tiefgreifende Neuerungen, wie sie etwa im Tridentinum unternommen wurden. Was allerdings die Judikatur anbelangt, so steht sie, ihrem ganzen Wesen nach, dieser letzteren Seite weit näher, wenn nicht schlechthin auf ihr: sie ist zu verbildlichen als Strom, nicht als Stoß. Auch jener mag am Ende Dämme durchbrechen, sein Wesen aber, seine Normalität, aus der allein heraus er ja bestimmbar bleibt und ein Bild im Rechtssinne, liegt im ruhigen Dahingleiten. Nur so verstehen Judikatur auch die Richter, dies allein entspricht ihrem Selbstverständnis. Neuerungen wollen sie stets sorgsam, wenn nicht verbergen, so doch verpacken. Die gern und immer häufiger geübte Praxis der Kettenzitate eigener und anderer Judikatur verweigert sich geradezu in Formen einer Camouflage der Neuerung. Bei anderen Verfassungsgewalten ist ein derartiges Verhalten, eine solche Grundstimmung, ein solches Bewusstsein schlechthin unvorstellbar. Aus der Neuerung, aus dem Fortschritt ziehen sie ja gerade ihre politische Legitimation, je deutlicher, je entscheidender sie durchbrechen, desto größer wird ihre Macht. Auch in ihr und überhaupt politisch mag es etwas geben wie

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die force tranquille, eine Macht, welche agieren kann, ohne zu agitieren. Doch jener Mitterand, dem dieser Begriff zu seiner Fortune verholfen hat, wollte ja gerade nicht richtergleich wirken, sondern aus ruhiger, weil eben stets stärkerer Macht, und hinter vielen Kulissen vor allem. Die Richter aber sprechen, nicht immer laut, stets aber vernehmlich, und dabei ist ein semper idem doch etwas wie ihr letztes Ideal. Strömen kann die Judikatur auch ganz natürlich, darauf ist Richtertätigkeit insgesamt angelegt. b) In der typischen Form, in welcher judikative Entwicklungen ablaufen, in der überhaupt Gerichtsbarkeit als Verfassungsgewalt in Erscheinung tritt, ist alles gerichtet auf Verstetigung. Neue Normlagen werden zur Kenntnis genommen, jedoch in einer möglichst behutsam-abschwächenden Form an bisherige angeschlossen. Bruchpunkte, wie sie neuere vertiefende Untersuchungen als typisch für Diskontinuität erwiesen haben, vermeidet die Rechtsprechung, soweit dies nur immer möglich ist. Darin wird sie zur "Praxis" - ein Begriff, der nirgends so häufig und in einem so typisch kontinuitätsgewendeten Sinn gebraucht wird wie für die Rechtsprechung. Von der Gerichtspraxis ließ er sich dann unschwer auch auf eine Verwaltungspraxis übertragen, in welcher er ebenfalls bald jene normativierende Bedeutung erlangte, welche er mit dem Richterrecht schon im herkömmlichen Bereich der Dritten Gewalt gewonnen hatte. Hier erweist sich übrigens die Administrative als eine Art von "vorläufiger Judikatur", die sodann von Richtern in Verwaltungsgerichtsbarkeit so häufig nur verendgültigt wird. c) Für beide Gewalten, besonders aber für die Judikative, zeigt sich diese "Praxis" als laufend und gleichförmig geübte Staatstätigkeit, in vielen Fällen und auf lange Zeit. Damit erfüllt sie auch die Voraussetzungen, unter denen sie, in voller Normativität, in Gewohnheitsrecht übergehen kann, in einer Gestaltung, welche heute schon fast nur mehr von Gerichtsbarkeit zu erwarten ist. "Staatspraxis" im Übrigen wird verständlicherweise in weit größerer Zurückhaltung gebraucht, weil dort, etwa bei Regierungsakten, jene laufend kontinuierlich bewältigte Entscheidungsfülle nicht vergleichbar gegeben ist. Diese Praxis wirkt aber nicht nur normativierend, ihr wesentlicher Charakter liegt in eben jener Verstetigung, in welcher die Richter das Neue, in dem richterferne Macht sich ausdrückt und legitimiert, kanalisieren, in machtferne Normalität transformieren. Nicht als ob dieser verstetigende Strom der Gerichtsbarkeit sich nicht auch immer wieder aufstaute - doch dies erfolgt in langsamer, oft jahrzehntelanger Entwicklung, und verstetigende Gerichtsbarkeit versucht auch dann das wirklich und unbestreitbar Neue, damit als Machtentscheidung Erscheinende, doch wieder nur als Fortsetzung von bereits früher Judiziertem erscheinen zu lassen, als wenn sie mit dem Igel der Fabel stets sprechen dürfte: "Ich bin schon lange hier".

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d) Diese bewusst und gewollt machtferne Kontinuität, in welcher Dritte Gewalt in Erscheinung tritt, eine Verstetigung, mit der sie sich von der reformierenden, durchbrechenden Macht abhebt, findet einen typischen, der Gerichtsbarkeit geradezu vorbehaltenen Ausdruck in der "ständigen Rechtsprechung". Sie bezeichnet eben jene Gerichtsbarkeit, die immer schon da war, nichts Neues bringt und das Neue der Macht entnoviert. So bleibt sie in ihren Anfängen wie in ihrer Formierung ebenso in einem gewollten Dunkel, wie dieses auch ihr Ende, die Änderung einer ständigen Rechtsprechung umgibt; denn in ihrem "Ständigen" liegt eben nicht nur das NichtGeänderte, sondern etwas von einem "gar nicht Änderbaren". Änderungen möchte der Richter nur zu gern dem Gesetzgeber überlassen oder jener Gesellschaft, welche "die Verhältnisse" weiterentwickelt oder gar umstößt. Er behält sich vor, in Machtferne und ohne vergleichbares Machtbewusstsein auf solche Vorgänge zu sehen, sie wieder in seine Kontinuität einzufangen. Weil er "ständig da ist und handelt", als Vertreter einer im Grunde weder gewordenen noch vergehenden Institution, als ein Organ, das seine Bestellung durch die Exekutive am liebsten vergessen möchte ebenso wie seine künftige Altersgrenze, die Schicksal darstellt, nicht machtmäßig endenden Eingriff - so tritt auch die gesamte Richtertätigkeit in eine eigenartige Zeitdimension: in ihr verlangsamt sich alle Neuerung, bis sie im Begriff der ständigen Rechtsprechung, dem Richterideal der endlich gewonnenen, nicht immer besseren, sondern endgültig besten Erkenntnis stillsteht. Die Richter haben diesen Begriff der ständigen Rechtsprechung nur zu gern übernommen in ihr ständiges Vokabular; wo sie ihn gebrauchen, dürfen sie auch jene Zitatketten endlich unterbrechen, welche sie selbst ebenso ermüden wie den nachvollziehenden Leser. Weit zurückhaltender sind sie jedoch in Aussprüchen, welche auf eine Rechtsprechungsänderung hindeuten könnten. Genaueres Zusehen zeigt, dass eine "Änderung ständiger Rechtsprechung" in den meisten Fällen im Schrifttum angenommen und herausgestellt wird, dessen Autoren sich damit im Aufzeigen von jenem Neuen profilieren können - das oft nach Richterwillen noch gar nicht eingetreten sein soll. Nicht als ob "Rechtsprechungsänderung" lediglich ein Literaturbegriff wäre - doch wo Richter dies bekennen, hat ihr Urteilen etwas von einem Nachgeben, mit dem sie eben ihre bisherige ständige, meist grundlegende Judikatur aufgeben, etwas von einem Bedauern, mit dem sie von früherer Erkenntnis Abschied nehmen. Gerade darin treten sie als eine nicht wollende, sondern erkennende Instanz auf, der es dann ja auch eigen sein darf, dass sie endlich, wenn auch mit bedauerlicher Verspätung, jene bessere Erkenntnis enthüllt, die aber, ihrem Wesen nach, von Anfang der Normlage an stets möglich war. In diesem Sinne ist die Gerichtsbarkeit nun wirklich die Gewalt des Entscheidens ex tunc, welche Unwandelbares zu Zeiten verhüllt und sodann in Rechtsprechungsänderung

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enthüllt. Und wie oft geschieht nicht gerade dies, wiederum in vorsichtigem Bedauern, unter Hinweis auf angeblich oder wirklich "veränderte Umstände", allgemein gewandelte Verhältnisse, welche eben die Judikatur verstetigend fortsetzt, nicht novierend weitertreibt. In all dem wirkt dann nicht die Macht des Wollens, sondern das Licht der Erkenntnis. e) Jene richterliche Kraft der Verstetigung, welche gerade nicht die Macht des Neuen ist, wird allerdings immer wieder als Ausdruck eines Konservierens gesehen, welches in politischen Konservativismus umschlägt und damit doch machtmäßige Bedeutung zu erlangen scheint. Solche Vorwürfe werden sich, berechtigt oder nicht, stets von neuem gegen eine Judikative richten, die wesentlich verstetigen muss, aus der Erfüllung ihrer Aufgabe heraus, daher auch kanalisieren und bewahren. Die Richter der französischen Parlements mochten noch so radikal-demokratische, wahrhaft umstürzende neue Staatsgedanken verkünden, welche sodann parlamentarische Macht zu neuer Wirksamkeit führten - eingegangen sind sie in die politische Geschichte als Vertreter eines Ancien Regime und damit letztlich doch eines konservativen Monarchismus. Die bürgerlichen Richter der Wilhelminischen und selbst noch der Weimarer Zeit haben in ihrer liberalen Grundhaltung, in stetiger, oft mutiger Beständigkeit, in einer Form faktischer Gewalt des Normativen, den modemen liberalen Staat des Grundrechtsschutzes schon weithin vorweggenommen, bevor ihn die Machtdurchbrüche der Weimarer und Bonner Verfassunggebung proklamierten - dennoch sahen sie sich dem Vorwurf einer bürgerlich-konservativen, geradezu fortschrittsfeindlichen Judikatur ausgesetzt. Wie immer diese Kritik historisch später endgültig zu bewerten sein mag - eines wird man auch diesen Richtern nicht vorhalten können: dass sie bewusst und systematisch aus Machtdenken heraus gehandelt hätten, dass dies Phänomene seien, welche sich immer wieder im Namen von Machtausübung wiederholen würden und geradezu politische Ängste vor einer notwendig konservativ wirkenden politischen Richtermacht rechtfertigen könnten. In solchem konservativ erscheinenden Kontinuitätswirken mag Vieles zusammenfließen und insgesamt sogar immer wieder den Anschein der Machtausübung, ja des Machtbewusstseins erwecken: Festhalten an Bewährtem als Arbeitserleichterung, ein Bindungsdenken gegenüber anzuwendenden Normen, welches auch in der Zeit wirkt, und nicht zuletzt eine Mentalität, welche eben das Recht - mit gutem Recht - als etwas überzeitlich-Bestehendes, nicht in Veränderung ständig Geworfenes sieht. Dies alles mag gewiss auch zusammenwirken im Sinne einer letzten Zurückhaltung gegenüber allem Neuen, welche dann politisch Mächtige aus ihrer eben diesem Novieren verpflichteten Sicht nur als "konservativ" werten können. Im Grunde sind dies aber Gegensätze, ja laufende Antagonismen, welche nicht so sehr zwischen den Vertretern des klassischen politischen Konservatismus

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und eines Progressismus wirken, sondern weit mehr zwischen wesentlich neuerndem Machtbewusstsein auf der einen Seite - richterlicher Machtferne auf der anderen. Allenfalls ließe sich noch hinzufügen: Was hier zum Ausdruck kommt, ist vielleicht nicht immer fehlende tatsächliche Richtermacht, stets aber fehlendes Machtbewusstsein der Richter, bei ihnen: Fehlen eines Willens zur Macht. 3. Die Richteraufgabe: Bewältigung des "machtfernen Einzelfalles" Bei allem Richterrecht, aller - nur selten offenen - Bereitschaft, solches zu setzen: Immer ist es doch der Einzelfall, welcher Aufgabe, ja Schicksal bleibt für alle Richter. Bis in die Höhen der Verfassungsgerichtsbarkeit fühlen sie sich ihm verpflichtet, ziehen daraus ihre Legitimation, aber eben nicht das, was man politische Macht nennen könnte und Machtbewusstsein. Dazu fehlt jedem Einzelfall einfach schon die machtmäßige Dimension, was sich wiederum seiner Betrachtung in allen kantianischen Kategorien erschließt: nach dem Raum, in dem er auftritt, der Zeit, welche seine Entscheidung übergreift und dem kausal wirkenden Anstoß, der von ihm in der Rechtsordnung ausgeht. Dies mögen nun Perspektiven der Betrachtung sein. a) Der Einzelfall ist, seinem Wesen nach, kein Machtfall. Er tritt in einem räumlichen Zusammenhang auf, der vor allem sachlich, meist in wirtschaftlich fassbaren Auswirkungen eingrenzbar ist. So ist denn die Rede vom "begrenzten Einzelfall", von dessen besonderem Charakter, von der Problematik seiner Verallgemeinerung durchaus ein Anzeichen für eine Begrifflichkeit, in welcher man den Einzelfall geradezu in einer "Theorie des engen rechtlichen Raumes" vertiefend betrachten könnte. Gerade der Richter soll ihn ja auch zeitlich abschließen, ihn in die Schranken der Vergangenheit gewissermaßen einsperren, über die hinaus er in die Zukunft jedenfalls rechtlich nicht mehr wirken kann. Und gerade als solcher fehlt ihm dann auch jene Macht des Anstoßes für viele weitere Fälle, von denen ihn eben die Rechtskraft abgrenzt und die zeitliche Einmaligkeit, welche hier rechtskonstitutiv wirkt. In diesen engen Räumen kann sich aber eine Macht, so scheint es doch, geradezu begrifflich kaum hinreichend entfalten, der nicht nur Erneuerung, sondern eine in jeder kategorienmäßigen Richtung weithin, jedenfalls in eine gewisse Weite hinaus tragende Wirksamkeit eigen sein muss. Für den Richter spielt letztlich die faktische Bedeutung des von ihm entschiedenen Falles nur eine recht untergeordnete Rolle, wenn er wirklich noch jener Wahrer des Rechts ist, dem es primär immer um Rechtstechnik gehen muss, nicht um Rechtswirkung. Die Sichtweise des machtbewussten, auf

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Macht hin orientierten Staatsorgans ist stets eine gänzlich andere. Die Finanzgewalt sieht auf die Größenordnung der eingehenden oder eingesetzten Mittel - der Finanzrichter entscheidet mit gleicher Gründlichkeit über jede Währungseinheit. Der Gesetzgeber überlässt Einzelfälle der Rechtsanwendung durch andere Gewalten, in einer gewissen und doch deutlichen Geringschätzung dieser für seine Machtsituation in der Tat auch unbedeutenden Einzelfälle, welche er sogar in Härte- und anderen Generalklauseln pauschal regelt. Der Richter dagegen findet gerade in ihrer Bewältigung, in dem für ihn großen, machtmäßig kleinen Einzelfall seinen Aktionsraum; doch dies wird nie ein eigentlicher Machtraum sein. b) Der Richter mag den Einzelfall als Praecedens und damit als Erscheinung in größeren Zusammenhängen sehen, vor allem in höherer Instanz. Damit löst er sich, bis zu einem gewissen Grad, von jener Besonderheit, Unauswechselbarkeit des Einzelfalles, wie sie ihm heute schon in einer auf die Achtung der Unauswechselbarkeit menschlicher Persönlichkeit im Letzten gegründeten Ordnung vorgegeben ist. Man könnte gewiss darüber nachdenken, welche Bedeutung dies für den Begriff des parteienverhafteten Einzelfalles, hinter dessen Interessengegensätzen letztlich doch natürliche Personen stehen, für das Verständnis eben dieses richterlichen Entscheidungsgegenstandes hat; es müsste eigentlich seine nicht zu verallgemeinernde Besonderheit eher verstärken. Das oft beschworene Präjudiziendenken der Richter, auch in einer Ordnung, welche früheren Entscheidungen keine normative Bedeutung zumisst, sollte denn auch insgesamt nicht überschätzt werden; nur zu oft ist dies eine Betrachtungsform rechtswissenschaftlicher Auslegung der Judikatur, nicht richterlicher Entscheidung. Damit unterlegt dann das Schrifttum dieser Rechtsprechung ein einzelfallüberschreitendes Machtstreben, das ihr im Grunde fremd ist, es sieht sie all zu rasch als Gesetzgebungsinstanz eines Richterrechts, welches am Einzelfalldenken der Urteilenden noch immer weithin unüberschreitbare Schranken findet. Hier muss ein Wort stehen zu einer jedem Juristen immer wieder begegnenden typischen Richtermentalität, in welcher machtferne Einzelfallverhaftung deutlich zum Ausdruck kommt: - Alle Gerichtsbarkeit begrüßt im Grunde "weitere Konsequenzen" ihrer Urteile insoweit, als sie ihre Aufgabenerfüllung erleichtern, Gerichtsinstanzen von sinnlos gleichem Entscheiden gleicher Einzelfälle entlasten. Doch dies ist ein wesentliches Denken in Funktionsfähigkeit, nicht in einem Machtstreben, welches mit einem Streich zahlreiche Gegner erledigen möchte. Und es wird auch noch in Grenzen gehalten durch eine deutliche Konsequenzphobie, einen judikativen horror generalis, allzu vieles zu entscheiden und damit dann - letztlich nichts entschieden zu haben, gerade 11 Leisner

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nicht den anvertrauten Einzelfall. Etwas von der Sorge eines Advokaten qui nihil probat quia nimis probat begleitet auch jeden Richter, jenen Juristen par excellence. - Der Richter kann die Problematik der "normativen Verallgemeinerung", einer jeden Globalentscheidung vieler Einzelfälle in normativer Form, ständig und damit deutlicher im Test des Einzelfalles sehen als der parlamentarische und administrative Gesetzgeber. Gerade seine "Einzelfall-Aufgaben" lassen ihn laufend an die Grenzen vorausschauender normativer Erfassbarkeit der zahllosen Heterogenität stoßen, in der sich Einzelfälle präsentieren. Klarer ist dies ihm als einer Parlamentsmehrheit, dass sich nur zu oft unüberwindliche Schwierigkeiten einem Prognoseermessen in den Weg stellen, welches versucht, was Menschen auf immer versagt bleibt: die Zukunft vorauszusehen, ja sie bis in Einzelheiten, in Einzelfälle hinein von heute aus zu erkennen. Ihm und seiner Gerichtsbarkeit ist denn auch von der Verfassungsrechtsprechung noch nie jenes Prognoseermessen in einer parlamentarischer Vorausschau vergleichbaren Weite eingeräumt worden, und Richterrecht, aus Einzelfällen geboren, will diese Form echt zukunftsgestaltender Machtausübung auch nicht vergleichbar für sich in Anspruch nehmen. Etwas von einer Angst vor terrible simplification verfolgt vielleicht keine Staatsgewalt so beständig wie die Gerichtsbarkeit. Andere Instanzen ziehen aus dem Ordnungs willen, der auf solche Weise auf die Gewaltunterworfenen wirkt, eher noch Legitimation - es ist die einer Macht, welche der Richter hier aber nicht sucht. - Machtausübung in Normsetzung liegt auch in der Hinnahme eines gewissen Grades von Ungenauigkeit, eben in Erfassung und Bewältigung der unzähligen künftigen Einzelfälle. Sie wird in der Normsetzung geradezu zum Kriterium politisch wirkender Macht; sie feuert gewissermaßen flächendeckend große Salven in feme Räume, belegt mit ihren Normteppichen, was noch längst nicht genauer sichtbar ist. Die Richter dagegen halten, um mit Nietzsches Wort über den Wissenschaftler zu sprechen "ihre Augen stets nahe an den Gegenstand", gerade darin sind sie einem rechtswissenschaftlichen Schrifttum verbunden, welches jene dann noch näher an ihre Urteile hält, sie noch genauer liest, als sie vom Richter gewoHt sind oder sie normativ zu verallgemeinern versucht, darin etwas wie ein rechtswissenschaftliches Machtstreben auslebt. In dieser typisch-richterlichen Genauigkeit bleibt der Einzelfall im Blickpunkt, nur zu oft er allein. Aus solcher richterlicher Nähe betrachtet, in all seinen Unverwechselbarkeiten erkannt, trübt er ganz selbstverständlich auch den Blick des Richters über ihn hinaus; die ähnlichen, möglichen, die Konsequenzfälle verschwimmen vor seinen Augen, er ist lieber kurz- als weitsichtig. Machtentscheidung verlangt demgegenüber einen gewissen Mut zur Ungenauigkeit, wie überhaupt Macht jene Courage voraussetzt, die der Richter

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schon deshalb nicht zu haben braucht, weil er selbst auf einem Thron sitzt, vor Königsthronen Mut nicht zu beweisen hat. Wenn Ignatius von Loyola von "Mut zur Sünde" sprach, so war auch dies, in der Sicht dieses durch und durch theologie-politisch denkenden Mannes, nur Ausdruck dieser selben Grundeinstellung: Die Macht muss den Mut auch zum Fehler haben für den Richter darf es ihn nicht geben. c) Ein richterlicher horror principii ist, das zeigen viele Fälle, eben doch stärker als Prinzipiendenken, das immer wieder im Einzelfall zum Ausdruck kommt. Die Richter lassen sich gerne von der Wissenschaft bestätigen, dass sie eine "Grundsatzentscheidung" gefällt haben, aber nur selten bezeichnen sie selbst ihre Urteile als solche. Inhaltlich mögen sie weiter ausgreifen, auch ankündigen, dass sie etwa nun die "allgemeineren Voraussetzungen" für den zu entscheidenden Einzelfall ebenfalls klären werden, und sie scheuen sich denn auch nicht, insbesondere in höherer Instanz, dies geradezu als eine Anwendungsform von Richterrecht darzubieten. Weder gibt es aber eine allgemeine Urteilstechnik der Grundentscheidung, noch wird ein Urteil zu einer solchen in der Regel durch ausdrücklichen Ausspruch eines Richtergremiums. Häufiger ist ein anderes Phänomen: dass sich eine Gerichtsinstanz über einen "deutlichen Anlassfall", über einen Musterprozess, gewissermaßen "in Grundsätzlichkeit hineinschiebt, nicht selten geradezu hineinschleicht". Dem Schrifttum, immer mehr den Medien und einer in ihrer Meinungsfreiheit diskutierenden Allgemeinheit bleibt es dann überlassen, Folgerungen aus solchen Erkenntnissen zu ziehen, welche diese als Grundsatzentscheidungen ausweisen, mit einem Richtcharakter, der ihnen oft erst später, etwa durch autoritatives Verständnis führender Juristen, zuerkannt wird. Vertiefender Analyse muss vorbehalten bleiben, die vielen Vorbehalte zu durchleuchten, in welche judikative Vorsicht Richtergrundsätze vorsorglich einhüllt. Eine solche Vorbehalts-Technik hat sich gerade bei Obersten Gerichten in dem Maß entwickelt und ist in deren Judikatur verfeinert worden, in welchem sich die Richter, einer zerfasernden, prinzipien losen Gesetzgebung gegenüber, geradezu in die Grundsätzlichkeit gedrängt sahen. Etwas vom Einzelfall konnten sie dann noch immer hinüber retten in ihr sich entfaltendes Richterrecht, und sei es auch nur in einer eigenartigen "Umkehr des Einzelfalles": Er wird als Anlass zur Prinzipienentscheidung, zur Regelung aller "Normal fälle " beurteilt und entschieden - aber er lässt noch immer Raum für andere Einzelfälle, in denen etwa sozial besonders gravierende Umstände eine andere Beurteilung verlangen. So wird gewissermaßen aus dem Einzelfall das Richterrecht gewonnen, doch er lebt in ihm als "richterlich umgrenzter Extremfall" weiter, in welchem dann doch wieder die Grundsätze nicht unbedingt gelten müssen. Nicht selten bleibt auch in bewusst unklaren Formulierungen offen, wie weit denn nun das Entfaltete, die weitere, grundSätzliche Lösung überhaupt 11*

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eine solche sei, über den Einzelfall hinausgehe, wenn etwa die häufigen Formeln begegnen, "jedenfalls im vorliegenden Fall" gelte, was weiter ausholend ausgeführt worden sei. Die Richter wollen sich auch ersichtlich, wenn irgend möglich, gar nicht rechtlich überall "festlegen" lassen auf Allgemeineres - und mag sich hinter solcher Scheu auch im Grunde nur begriffliche Unklarheit verbergen. Sie, welche doch die rechtliche Festigkeit personifizieren sollen, schlüpfen gerne in die vielen Worte des unendlich wandelbaren Proteus, der eben immer nur eines kennt: die bereits dargestellte richterliche Gegenwart, welche Vergangenheit abschließt und Zukunft nicht kennen will. Vielleicht kommt auch noch ein Letztes hinzu, um den erwähnten horror principii nie vergessen zu lassen: die bereits erwähnte Genauigkeit, welche das gesamte richterliche Wirken stets prägen muss, gerade auf jenen Ebenen, in deren Höhe Grundsatzentscheidungen fallen könnten. Meist kommen deren Urteiler "von unten", aus Instanzen, wo ihnen diese Genauigkeit in vielen Jahren zur Gewohnheit geworden ist, nicht zuletzt deshalb wirkt sie nicht vergleichbar auf der Höhe der Verfassungs gerichtsbarkeit, wo dies nicht in gleichem Maße zutrifft. Der präzis judizierende Berufsrichter aber erkennt, gerade an seinen Einzelfällen, den Teufel im Detail der Normen. In seiner Beratungsruhe wird ihm immer wieder klar, wie leicht Konsens zu erzielen ist über Grundsätze, wie schwer über deren Anwendung auf konkrete Interessengegensätze. In der Grundsatzentscheidung käme aber in erster Linie, wenn überhaupt, jenes richterliche Machtbewusstsein zum Ausdruck, dort würde die Verschränkung mit der Legislative zur echten justiziellen Teilhabe, aus einem Teilnahmebedürfnis an der Macht im Staat. Wer davor in einem horror principii zurückschreckt, verlässt seine Machtferne nicht oder nur in Ausnahmefällen, welche er mit einer Ängstlichkeit umhegt, die ihrerseits wiederum nur Ausdruck fehlenden Machtbewusstseins ist. Erst dann, wenn Grundsatzentscheidung auf Grundsatzentscheidung folgte, wenn damit materiellrechtlich eine gewissen Flächendeckung, im Richterbewusstsein eine gewisse Konstanz sich herausbildete, dürfte allenfalls erwartet werden, dass den Richtern die Macht klar würde, welche sie haben könnten - und im Einzelfall nicht haben wollen. d) Es gibt etwas wie die Gewalt des Einzelfalls, in welcher der Richter zu einer Entscheidung hervortritt, aber sie ist eben nicht die typische Macht der rechtlich-politischen Dezision. In einer - man darf wohl sagen: typischen - richterlichen Bescheidenheit des Einzelfalles sichert sich denn auch der Richter, in der Demokratie zumal, nur allzu gern ab gegenüber möglichen oder bereits anlaufenden Angriffen typisch "politischer Machtträger". In einer Volksherrschaft, welche es ihm rechtlich schwer, wenn nicht unmöglich erscheinen lässt, eine immerhin beachtliche Einzelfallgewalt auf den

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Volkssouverän zurückzuführen - anders als mit inhaltsleeren Legitimationsformeln - gerade dort ist es selbstverständlich, dass sich Organe in dieser Weise absichern, welche sich immer wieder auch als Reste früherer und eben doch vergangener monarchischer Gewalt müssen verstehen und kritisieren lassen. Wo sie sich herauswagen aus dem Einzelfall, werfen sie sich selbst in eine "politische Diskussion", welche Medien und Allgemeinheit, vor allem aber die anderen Verfassungsgewalten des Staates, sogleich aufnehmen, stets bereit, die Richter durch neue Normen noch enger in ihre allzu mutig verlassenen Einzelfälle einzusperren. Diese Reaktionen, gegen welche sich der Richter in Machtferne stets von neuem schützen muss, schon um in der Demokratie als eine "demokratieferne(re) Instanz" überleben zu können, kommen denn auch regelmäßig aus den beiden bereits angedeuteten Richtungen: - Legislative und sogar Administrative fühlen sich herausgefordert durch richterliche Äußerungen, welche aus einer Mentalität erwachsen, die in ihren normsetzenden Bereich wenn nicht subjektiv eingreifen will, so doch objektiv eindringt. Die Richter der Verfassungsjudikative sehen dies fast täglich und weichen dem in jener üblichen Vorsicht aus, welche die "Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers" beschwört und, oft um jeden Preis, wahren will. Den frontalen Zusammenstoß mit der Macht jener Parlamente, denen sie doch in gewissem Sinne übergeordnet sind, scheuen die Verfassungsrichter aus vielen praktischen Gründen, von der Ernennungs- bis zur Finanzierungsproblematik, aber auch aus einem sicheren allgemeinen Gefühl heraus: dass sie einen Machtwillen, der hier nicht mehr zu verbergen wäre, nicht zu weit treiben, ihre besserwissende, von Volksvertretern als besserwisserisch leicht betrachtete juristische Weisheit nicht allzu hoch steigern dürfen. So wird auch ihnen der Einzelfall häufig zur Entschuldigung, wenn sie sich dabei auf die von ihnen anzuwendende Verfassung, auf deren Grundprinzip der Gewaltenteilung, stets von neue m zurückziehen. - Richter haben sicher weit mehr die anderen Verfassungsgewalten zu scheuen als die "Vielen", die als solche nur selten mächtigen Bürgern. Doch deren aufgeregt flutende Meinungen werden an- und nur zu oft aufgeblasen durch jene eigenartige Gewalt der Medien, welche sie sodann in die anderen Gewalten hinein transformiert, aus ihnen Anstoß für Parlament und Regierungen werden lässt. Selbst in kleineren Bereichen ist es diese Medienrnacht, welche den Richter in seiner Tätigkeit stört, aus der Ruhe seiner Entscheidungsfindung werfen kann. Daher muss er am Einzelfall stets bleiben mit seinem Judikat, keinem einflussreichen Vertreter der Medien darf er den Eindruck vermitteln, er wolle überwechseln in das Halbrund des parlamentarischen Raums, wo es vor allem Diskutanten gibt und deren ordnende Vorsitzende. Dort haben die Richter keine Bank, dorthin werden sie nicht zitiert, dort sieht man sie nicht einmal auf Tribünen. So sollten sie es

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denn vermeiden, sich auch nur in die eng medienbesetzten Vorräume des parlamentarischen Geschehens zu begeben, in die größere Lobby, aus welcher heraus die Medien tagtäglich politisches Verhalten in Steuerung vorbereiten. Die Medien erreicht gewiss auch der Einzelfall, vor allem im Skandal; insgesamt aber sind dies doch Verbreitungs-, Verbreiterungsgewalten, sie wenden sich daher regelmäßig von dem ab, was wesentlich Einzelfall ist und bleibt. Sie verbannen ihn in ihre "Chronik", er tritt nur selten hervor in jenen politischen Kolumnen, in denen Machtspiele vorbereitet werden und stattfinden. So schützt denn den Richter sein Einzelfall nicht nur vor der Macht der anderen Verfassungsgewalten, sondern auch vor jener zugleich unsichtbaren und doch unzählig gesehenen, darin sich entfaltenden Macht der Vielen. Dies muss dämpfend wirken auf Versuchungen zu einem Machtbewusstsein, welches immer wieder und ganz natürlich sich angereizt sieht, in die Öffentlichkeit vorzudringen. Doch der Richter ist, wie noch zu betonen sein wird, die nicht-öffentliche Person par exellence, aus eben jenem Einzelfall heraus, in dessen Entscheidung er sicher ist vor anderer Macht - vor der Macht der anderen. So ist denn der Einzelfall ein Doppeltes zugleich im herkömmlichen Verständnis: Beschränkung aller Richtermacht und Fluchtburg dieser selben Dritten Gewalt. 4. Zeitlose Gerichtsbarkeit: von "lebenslanger richterlicher Bewahrung" zur Überzeitlichkeit des Rechts

Macht wirkt, in welchem Verständnis immer, in der Zeit, in ihren Äußerungen wird sie erkennbar, bleibt sie lebendig, durch sie wird sie in Phasen geteilt, in Epochen; hier entsteht sie und geht sie unter. Machtbewusstsein einer Verfassungsgewalt ist also nur vorstellbar, wenn dieser auch ein bestimmtes Verhältnis zur Zeit und damit zur Zeitlichkeit ihrer Entscheidung eigen ist. In diesem Machtbewusstsein muss sie auch bereit sein, sich ins Meer der Zeit zu werfen, darin unterzugehen. Gerade dessen sind Richter nicht fahig, die diesen Namen zu Recht tragen, vielmehr wirken sie aus einer eigenartigen "Landverhaftung" heraus, welche ihnen zur Machtferne werden muss. a) Der klassische Richter wird eben doch nicht gewählt auf Zeit, und geschieht es, handelt auch er bald in einer Mentalität, als wäre es nicht geschehen. In deutscher Tradition wird er, einmal bestellt, sich verhalten, als wäre er immer schon Richter gewesen. Er tritt eben ein in die Räume einer Gewalt, die unverändert als solche vor ihm da war und nach ihm wirken wird, ganz anders fühlt sich ein Staatsorgan in der periodisierten Ersten und Zweiten Gewalt der Demokratie. In etwas Wichtigem hat er gewisser-

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maßen Anteil an dieser endlos-dauernden Zeitlosigkeit: Er erfüllt seine richterlichen Aufgaben in grundsätzlicher Lebenslänge, in einer Zeitlichkeit, in der keine andere Mächtigkeit wirksam ist, die nur als solche fließt, in voller Neutralität, damit als Macht unfassbar. Diese Lebenslänglichkeit mag scheinbar noch so wenig Gewicht haben, in der Praxis noch so bedeutungs schwach sein, undefinierbar in ihren Auswirkungen - wo immer das Recht sie einführt, schafft es damit zugleich etwas durchaus, wenn auch wiederum unfassbar, Rechtswirksames: Lebenszeit-Mentalität. Sie ist kein Anruf zur bestimmten Aktivität, eher zu passiver Ruhe, bis hin zu Untätigkeit und Müßiggang. Die beamtliche Lebenszeitlichkeit hat aber doch Auswirkungen gebracht, welche sich in der Gerichtsbarkeit potenziert wiederholen: Hier kann, eben im Namen der Lebenszeitstellung, entschieden werden, als wirke über die Zeit nicht fremde Gewalt ein auf den Richter, sondern nur seine eigene, mit welcher er seine Lebenszeitstellung eines Tages verlassen muss, aber nur im Namen des Kalenders, in dem die Zeit automatisch-machtfreie Effekte setzt. Für den auf Lebenszeit bestellten Richter ist die Zeit kein Machtmedium, über welches fremde Mächtigkeit auf ihn wirken könnte; sie entrückt ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, aller anderen Macht, der Macht aller anderen. Die immer gleich gestellte Uhr der Lebenszeitlichkeit bewahrt aber darin zugleich auch vor Machtstreben, damit letztlich vor Machtbewusstsein schlechthin. Es ist, als wirke hier nur die Dauer eines Lebens, nichts von der Macht der Politik. b) In dieser seiner Lebensstellung fühlt sich der Richter als Träger einer wesentlich unzeitlichen Macht des Rechts als solchen. In ihm, in seiner Person und seinem Status, erscheint es geradezu überzeitlich institutionalisiert. Er darf es anwenden, als sei von diesem Recht "etwas vor allem gesetzten Macht-Recht vorhanden gewesen". Er ist die Personifizierung des "Augenblicks des Rechts", und vor seinem Richterstuhl mag es scheinen, als gebe es gar nichts anderes als solche fliehende und damit im Grunde gar nicht existierende Augenblicke eines immer dauernden Rechts. Dieses gewinnt darin, in diesen Organen, etwas von einer institutionellen Überzeitlichkeit, welche die Normen sogar aus der zeitlichen Schwäche der Lex posterior heraushebt; der Richter ignoriert diese, da sie eben noch nicht Recht ist. Er verließe auch sogleich richterliche Überzeitlichkeit, richterliche Ruhe und damit sein Richtertum, wenn er zu spekulieren begänne auf künftige Entwicklungen, oder diese gar in zeitlicher Vorverlegung antizipierend in seine heutigen Beurteilungen einfließen lassen wollte. Dies wäre ein vorauseilender Gehorsam, welcher die Administrative charakterisieren mag, in den Sälen der Gerichtsbarkeit nicht wirken darf. c) Ausübung rechtsprechender Gewalt vollzieht sich denn auch immer in einer eigenartigen Sicherheit, dass ihre Wirkungen diese Gewalt als eine

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überdauernde - wenn die Kategorie "Dauer" auf sie überhaupt anwendbar ist - und gerade darin als eine machtferne darstellen. Mit dem Urteil, mit dessen letzter Rechtskraft, wird das Richterwort zum Ausdruck dieses zeitlosen Überdauerns, wenn es gestattet ist, in dieser Fonnulierung zwei Gegensatzbegriffe zusammen zu sehen. Der Richter wird hier nicht, und schon gar nicht bewusst, eine Vergangenheit abschließen wollen zu einer Zukunft, er stellt einfach eine Rechtsgeltung in einen Raum, welche zeitneutral ist, zeitfern; und dies entzieht das Entschiedene der Macht als solcher, kein Ausdruck derselben kann es mehr verändern. Wenn diese Grundeinstellung die Ausübung der Dritten Gewalt prägt, so muss sie auch hinüberwirken in ein Bewusstsein, aus welchem heraus diese Organe in voller zeitlicher Machtferne nicht nur tätig werden, sondern selbst ihre Institution in einer solchen sehen. Der Richter judiziert in einer eigenartigen Sicherheit: dass er in diesem Tun auch als Einzelrichter nicht allein ist, sondern Organ einer Institutionalität der Gerichtsbarkeit, die ihn trägt und seinem schwächeren, nicht einmal demokratisch legitimierten Willen das nötige Gewicht verleiht - das einer notwendigen, weil nicht von Macht wegen, sondern von Rechts wegen existierenden Einrichtung. In jedem seiner Urteile wird der Richter in einer Weise tätig, als sei er immer da gewesen, werde immer da sein, und dies sogar aus einer gewissen machtfernen Bescheidenheit heraus: dass es auf seine Person in dieser größeren Institutionalität gar nicht ankomme. Und so fehlt ihm denn auch etwas, ohne welches Macht nicht vorstellbar wäre: die letzte Überzeugung von eigener Macht-Wichtigkeit. d) So wird sich der Richter stets sehen als ein Organ des Überzeitlichen, des Zeitumspannenden im Staat. Damit gewinnt er eine eigenartige Legitimation: aus dem Begriff dieser überzeitlichen "Person Staat" heraus. Die anderen Verfassungsgewalten sind erst als solche gekommen auf einer gewissen Entwicklungsstufe der Staatsgewalt, und vielleicht werden sie mit ihr wieder vergehen, jedenfalls grundlegend sich ändern. Für die Gerichtsbarkeit als solche, in ihrer Kernaufgabe ordnender Nonnanwendung, bis hin zur Nonnsetzung, kann dies nicht gelten. Parlamente und ihnen verantwortliche Regierungen hat es nicht immer gegeben - Richtertum gewiss, nicht in zeitlicher Dauer, sondern eben aus seiner Überzeitlichkeit heraus und in ihr wirkend, als Organträger des ebenso überzeitlich vorgestellten Staates. Die Beziehung der Dritten Gewalt zum Begriff des Staates ist, wie immer man sie betrachten mag, eine engere, durch wahre Wesentlichkeit charakterisiert, als die des Staates zu jeder anderen Verfassungsinstitution. Aus dieser Staatsbezogenheit heraus, in welcher sich die Überzeitlichkeit ausdrückt, gerade in rechtlicher Betrachtung, deren eigenartiges Geschöpf der Staat eben ist, muss sich für alle Gerichtsbarkeit erst recht Machtferne ergeben, immer weiter noch verstärken. In diesen Staats-Dimensionen gibt es den Begriff der "Macht", wie immer man ihn definieren mag, grundsätz-

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lich nicht. Staatsrnacht könnte in dieser Sicht geradezu etwas sein wie ein Widerspruch in sich, denn der Staat ist, er ist nicht mächtig, da er doch Recht ist und gilt, sich nicht als Macht durchzusetzen und zu beweisen braucht. Die Richter sind keine Macht, sie haben keine solche und sie vertreten auch keinen Träger von Macht, gerade deshalb muss ihnen ja auch die demokratische Legitimation fehlen, zu der keine Kunstbrücke der demokratischen Staatsform sie führen kann. Sie sprechen letztlich "im Namen des Staates", nicht "im Namen des Volkes", und jeder Richter würde sich wohler fühlen, dürfte er dies auch täglich aussprechen, was er stündlich judiziert. Die Dritte Gewalt als machtferne Verkörperung des Staates kennt im Grunde keine Zeit, so wenig wie der Staat eine solche braucht. e) Doch zugleich muss die Gerichtsbarkeit damit auch die Schwächen einer zeitneutralen Gewalt in Kauf nehmen; die Zeit kommt ihr nicht zur Hilfe, zur Bewährung, zur Verstärkung ihrer Wirkungen als Macht im Staat. Richter sind sich darüber im Klaren, dass sie eben doch auch wieder nur für die Vergangenheit eine Macht ausüben, die gerade mit dem Richterspruch selbst bereits vergangen ist. Wenn das "Vorübergehende" ein negatives Charakteristikum aller Macht ist, so hat es der Richter als eine der Definitionen seines Wirkens hinzunehmen. Seine Einzelaussprüche gehen vorbei, in der Zeit und in ihr auch an all den Zahllosen, auf welche sie sich erstrecken könnten, im Namen des Einzelfalles und seiner Rechtskraft aber nicht beziehen. So geht der Urteiler mit seinen Erkenntnissen vorüber an so Vielem, für das sie gelten könnten ... Und auch dies vollzieht sich in der eigentümlichen Zeitlosigkeit, welche Entwicklungen nur in den engen Räumen eines bestimmten Falles kennen, berücksichtigen, abschließen darf. "Die große Zeit", in welcher sich jeweils große Macht entfalten kann - und nur in ihr, je länger desto stärker - ist für den Richter und seine kleinen Einzelfall-Zeiten inexistent, ohne rechtliches Interesse. Aus seiner Zeitferne kann er sie nicht einmal sehen. 5. Fazit: Rechtsprechende Gewalt - Gewalt in Machtferne a) All diese Betrachtungen zu dem, was Richtertätigkeit charakterisiert, von ihr aus in die Richtermentalität hinein und zu einer einheitlichen solchen hinaufwächst, führen immer zu einem Ergebnis: Die Richter mögen in einer eigenartigen Spannung zu typischen Machtträgern, in der Demokratie zumal, agieren, die aufgezeigten Gewaltenverschränkungen belegen es. Diese gegenseitig wirkenden und sich beeinflussenden Zusammenklänge, welche das vorhergehende Kapitel herauszustellen hatte, ändern jedoch nichts am Befund dieses Abschnitts, in welchem die Machtferne der Judika-

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tive deutlich wurde. Sie ist die allseitige, institutionell geordnete und gesicherte Institution, und hier gewinnt auch eine Unabhängigkeit wieder ihr Gewicht, welche, wie bereits gezeigt, allein Gerichtsbarkeit aber nicht zu definieren vermochte. Sie ebenso wie insbesondere auch die Erkenntnis von der Gewalt des Letzten Wortes der Richter ist es sodann, welche die Machtferne erst recht und allseitig sichert. Unabhängigkeit bedeutet ja gerade nicht rechtliche Beziehungslosigkeit von Gewalten. Hier wird vielmehr eben jene Erscheinung angesprochen, um die es bei der Betrachtung des hier abzuschließenden Kapitels ging: Macht hat keinen Raum im Bereich der Judikative, keine andere Macht darf auf sie wirken, weil sie selbst letztlich nicht in Macht wirksam ist. Dies ist wohl die einzige tragfähige Begründung für die Unabhängigkeit der Richter, sie trägt solange, wie diese selbst nicht sein wollen wie Machtträger. Eine theologische Parallele dazu könnte vielleicht darin gefunden werden, dass ein wie immer bestimmter freier menschlicher Wille gegenüber göttlicher Schöpfermacht nur insoweit bestehen kann, legitimiert ist vor der Allmacht des Schöpfers, als er nicht sein will wie Gott, nichts bewegen will mit einer Macht, die nur dem Allmächtigen zukommt. b) Dies muss der Judikative auch dort bewusst sein, wo sie mit anderen, mit wahren Mächten verschränkt ist, in Gewaltenteilung, wo sie damit im gewissen Sinne Anteil hat an Machtwirkungen dieser Organe, sich gleichzeitig damit auch in die Versuchung der Macht gedrängt sieht. Praktisch bedeutet dies einen Anruf an die Richter, sich in eben jenen verschränkten Bereichen ihrer Machtfeme stets bewusst zu sein, in ihr und aus ihr heraus zu handeln. Ihre Auslegungsmacht müssen sie in Bescheidenheit begrenzen, ihr Richterrecht der Normativität der Legislative unterwerfen. Jede Romantisierung der Richtermacht findet hier ihre Grenze, nicht an Aussprüchen zur Gewaltenteilung, sondern am staatsgrundsätzlichen Wesen unabhängiger Instanzen, die aber neben machttragenden tätig sind und sich damit stets diesen unterworfen fühlen müssen in all dem, was endgültig "der Macht" ist. Sie entwickeln sich in gefährlichem Selbstlauf aus ihrer Unabhängigkeit heraus, wenn sie in deren Namen Macht ausüben wollen, und sie rufen damit den dann nicht mehr zu brechenden Widerstand der wahrhaft Mächtigen. Diese wird es immer geben, mag auch die rechts staatliche Demokratie die Illusion verbreiten, nur Normen herrschten mehr, nicht Menschen. Vom Staat wird die Herrschaft von Menschen zelebriert, wenn auch im Namen des Rechts, nicht die Herrschaft von Normen. Und Menschen sind und bleiben es, mit Willen zur Macht, welche diese Normen setzen und ihre Ordnung verwalten, mit Erster und Zweiter Gewalt. Ihre Feindschaft, ihren Widerstand, ihre politische Gegenwehr fordern die Richter heraus dort überall, wo sie ihre Machtfeme verlassen, wo sich ein Machtbewusstsein bei ihnen zeigt. Dann werden sie fühlen, dass sie sich noch so sehr der Macht

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mögen nähern wollen, dass andere ihr aber stets noch näher stehen als sie, diejenigen, welche im Namen der Macht auch in der Geschichte vor ihnen da waren. Früher waren auch schon die Richter da, aber im Namen eben nicht der Macht, sondern des Rechts. Wo immer also Gerichtsbarkeit machtbewusst agiert, wird sie die Macht verlieren oder sie hat sie bereits verloren. Denn sie muss sich verstehen als etwas, das stets an der Macht letztlich vorbeiläuft, wenn es das gäbe: als etwas wie "Macht aus Machtfeme". c) Den Richtern verbietet dies ein Machtbewusstsein, allen Trägem der Dritten Gewalt. Es ist dies ein sacrificium intellectus, das sie der Wirksamkeit ihrer Erkenntnistätigkeit in der Demokratie leicht bringen können. In all jenen Grundstimmungen, die soeben beschrieben wurden und weithin aus vordemokratischer Zeit bereits kommen, vielleicht eines Tages in nachdemokratische Zeit übergehen werden, hat sich der Richter, der in Unabhängigkeit diesen Namen tragen will, als Treuhänder eines eindeutigen aliud zu sehen zu einer Macht, die er als eine "Erfolgsherrschaft", vor allem als Wirkung der allzu oft turbulent flutenden Strömungen in Parteien und Bürgerschaft erleben und auch erleiden muss. Davon wird er sich immer mit einer gewissen Selbstverständlichkeit distanzieren, eben weil dort politische Macht abläuft, ständig zu rechtlicher werden und auf ihn übergreifen will. Darin wird der Richter in der Demokratie wesentlich zur distanzierten, alle anderen Gewalten und alle Bürger geradezu von der Macht als solcher distanzierenden Rechtsfigur. Er wird diese Feme vor allem halten gegenüber den demokratischen Ausprägungen dessen, was immer Macht war, hier aber besondere Formen und Intensitäten einer solchen gewonnen hat. Der Volksherrschaft mag man jeden Vorwurf machen, nur den nicht, dass sie ein gebrochenes Verhältnis hätte zum Begriff der Macht als solcher. Sie erfasst diese in all ihren Phasen, schließt keine von ihnen aus, bündelt sie alle am Ende in vielfachen und kunstvollen Machtvorgängen zur endgültigen Machtentscheidung. Ihr ist eine Machtsensibilität eigen, wie keiner anderen Staatsform; daher bewirkt sie selbst jene Umstürze, und damit sogar noch eine gewisse letzte Kontinuität staatsrechtlicher Machtausübung, wie sie anderen Regimen stets verschlossen war und auch in Zukunft wohl sein wird. Darin also ist diese Demokratie eine Staatsform der Macht par exellence - darin hat sie auch zugleich, wie keine andere Staatsform, Richterbedarf. Diese ihre institutionelle Nähe zur Macht in reinen Ausprägungen derselben bedarf gerade deshalb des gegensteuernden Ausgleichs in der Machtferne der Judikative. Daher ist es eine wahre und bewundernswerte List demokratischer Vernunft, dass in dieser Staatsform wie kaum in einer anderen die machtfemen Richter eine Bewunderung genießen, welche sonst nur den Mächtigen zuteil wird. Zerstören aber muss sich diese Staatsform im Bruch dieser ihr wesentlichen Balance, wünscht sie eines Tages den "poli-

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tischen Richter" herbei, denjenigen Urteiler, der aus einem wirklichen Machtbewusstsein heraus tätig würde, und sei dieses auch, in welchem Verständnis immer, ein "demokratisches". Ob diese Balance dann aus etwas heraus halten kann, was man "Gewaltenteilung" im herkömmlichen Sinn nennt, ist eine ganz andere Frage, ebenso wie noch offen zu bleiben hat, ob sich diese eigenartige Machtferne, aus welcher heraus die Richter tätig werden, denn überhaupt als eine "Gewalt" charakterisieren lässt, ob ihr dafür das erforderliche Gesamtgewicht in der Verfassungsordnung zukommen kann. Darüber wird noch zu sprechen sein. Gewisse balancierende Gewichtigkeiten der Judikative, wie stark immer sie wirken mögen, wird der Demokratie stets wünschen, wer ihr Überleben im Namen der Freiheit will das aber verlangt Machtferne der Dritten Gewalt, nicht judikative Macht. Nach diesen allgemeineren Erwägungen zu Beziehungen der rechtsprechenden Gewalt zur Ausübung der Staatsrnacht und damit zu einem etwaigen Machtbewusstseins der Richter sollen nun noch besondere Aspekte von Stellung und Verhalten der Richter in diesem selben Sinne beleuchtet werden.

IV. Der Richter zwischen dem Macht-Dienst des Legisten und einem "Richteraufstand" 1. Rechtsprechende Gewalt: unter die Macht gebeugt

a) Die Aufgabenerfüllung der Richter steht, objektiv betrachtet, in einem zwiespältigen Verhältnis zur wesentlich politisch wirkenden Macht, wie sie vor allem von der Ersten und Zweiten Gewalt ausgeübt wird. Einerseits erfüllt sie in Spannung zu dieser Macht doch eine gewisse Unterstützungsfunktion derselben - zum anderen sucht sie jene zu ignorieren, zu überdauern, an ihr vorbeizulaufen oder sich von ihr gar immer weiter zu entfernen. Doch auf dieses Bewusstsein der Richter, welches daher ein komplexes Bild bietet, wirken auch Faktoren ein, welche in eine besondere Richtung weisen: in die der Gesetzesunterworfenheit, damit verbunden einer gewissen Machtwillfährigkeit aus Machtunterwerfung. Der durchschnittliche wie der herausgehobene Richter ist sich in all seinem Tun durchaus bewusst, dass jene Gesetzesbindung, welcher er unterliegt, ihn zwar zugleich auch entlastet und abschirmt, dass sie damit ähnliche Wirkungen hervorbringt wie die eben betrachtete Machtferne, in welche sich die Judikative oft gerade mit dem Ziel flüchtet, einer unmittelbar und bis in den Einzelfall hinein befehlenden Macht zu entgehen. Wenn sich die Gerichte aber streng an das Gesetz halten, so nehmen sie dieses eben doch hin als Ausdruck einer politischen Macht, mögen sie dieselbe auch, gerade in ihrer Tätigkeit, bewusstseinsmäßig mit einer gewissen politikfer-

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nen Majestät umgeben und damit adeln. Zugleich unterwerfen sie sich jedoch auch dieser selben Macht; und ob hier mehr vom Bewusstsein einer Machtferne lebendig ist oder von einer Machtwillfährigkeit, welche darin mit einer gewissen inneren Distanz diese selbe Macht wirken lässt, sich selbst letztlich aber doch zu ihrem Apparat, ja zu ihrem Automaten herabsetzt das mag ein Geheimnis jeder einzelnen Richterpsyche bleiben. Abhängig ist es wohl davon, wieweit der jeweils Urteilende eigene politische Überzeugungen in seinem Leben verfolgt und sie damit deshalb auch - unausweichlich - im Letzten, in diese seine Tätigkeit hineinträgt, wenn auch im Kryptoformen. Allgemeiner Erfahrung vor Gericht entspricht es aber wohl, dass da viel begegnet von einer Machthinnahme, welche eigene Bedeutung, eigene Noblesse geradezu letztlich darin sieht, sich auch den ungeliebten, ja den innerlich nicht hingenommenen Normen zu unterwerfen. b) Aus dieser Machtunterwerfung entsteht dann eine eigenartige Grundhaltung auch zum Macht-Gehalt der in diesem Geist angewendeten Normen, welche sich zu einem "Machtbewusstsein des Gesetzesgehorsams" zusammenschließt. Mögen die Richter nun unter den von ihnen anzuwendenden Regelungen leiden oder sie in Überzeugung billigen - sie haben diese "mitzutragen", in des Wortes voller Bedeutung, und damit sind sie, um ein anderes Wortbild anzuschließen, eben doch Mitläufer, wenn auch in ihrem eigenen Verständnis nicht Mitschöpfer der Macht. Sie leben aus ihr, finden in ihr ihre Legitimation; mag sie selbst für sie eine geliebte oder ungeliebte sein - akzeptiert ist die Position, welche sie dem Urteilenden verleiht, in seinen engeren persönlichen Bezügen, in seiner gesellschaftlichen Stellung und vor allem in seinem täglichen Tun. So werden die Richter zu technisierenden Fortsetzern der mit ungenauer Flächendeckung vordringenden Macht, zu deren sorgfältigen Perfektionierungsorganen. Dies wurde bereits unter objektivem, machterhaltendem Aspekt gewürdigt. Diese selbe Funktionsausübung bringt jedoch auch, und dies ist im vorliegenden Zusammenhang bedeutsam, eine subjektive Grundhaltung des Gesetzesgehorsams hervor, der nun seinerseits insgesamt politische, jedenfalls machtsensible Dimensionen erreicht: Die Richter werden darin, ob sie es nun immer wollen oder nicht, insgesamt doch in ihrem eigenen Grundverständnis zu Dienern der Macht, sie werden zu Legisten.

2. Der Jurist als Legist a) Dieser Typ des gesetzesgehorsamen und damit der Macht dienenden Juristen ist als solcher in letzter Zeit, soweit ersichtlich, weder allgemeingrundsätzlich kritisiert, noch auch nur beschrieben worden. Er schien ja his-

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torisch vergangen mit den machtnahen Höflingen des Ancien Regime, welche mit dem Gesetz den Machtwillen des Monarchen ausführten und dafür, in unmittelbarer Austauschbeziehung, Ehren erhielten und Geld. Ihr Bild vom stets höflichen, eifrigen Rechtsvertreter ohne Gewicht - hier nun wirklich "en quelque fa~on nul" im Wortsinn des Montesquieu - hat immer, in literarischen Darstellungen wie in laufender Bürgererfahrung, Züge eines Notars getragen, der in formalistischer Geschäftigkeit fremden Willen ratifiziert, dem damit das typisch juristische "Was ihr wollt" nur zu leicht über die Lippen geht. Doch dieser Legist war und ist auch heute stets mehr als eine unter fremden Willen gebeugte Macht, die immer noch, im Namen des Rechts, aufrecht gehen möchte; er hat einen lebendigen Sinn für den Machtgehalt wenn nicht seines Tuns, so doch des ihn beugenden Willens und diesen setzt er als solchen fort in der subjektiven legistischen Überzeugung von der Legitimität der Macht. Da werden dann Worte treffend wie das vom Machtgespür, von der Machtsensibilität der Juristen, was sich mit der instanziellen Höhe ihrer Funktionsausübung nur verstärken kann. In all dem ist der Richter der typische Jurist, keineswegs aber der einzige Legist. Die erstaunliche Leichtigkeit, mit welcher er sich, auch außerhalb, und vor allem nach der Erfüllung seiner justiziellen Aufgabe, zum Berater der Mächtigen machen lässt oder selbst sich dorthin drängt - all dies ist ihm letztlich nur gemein mit einer Grundhaltung, einem durchgehend prägenden Bewusstsein, wie es in jedem Juristen begegnet, am stärksten bei den Besten dieser machtberatenden Zunft. Da sie ein Leben lang zwar viel vom Recht geredet, aber doch meist nur das Gesetz gekannt und angewandt haben, ist ihnen etwas geblieben in ihrer Mentalität von jener Gleichsetzung von Norm und lus, welches ihre Machtberatung als Rechtswahrerturn erscheinen lässt und rechtfertigt, vor ihnen selbst und ihrer Umgebung. So stehen sie, in ihrem eigenen Bewusstsein, nicht vor Königsthronen, sie sitzen sicher auf den Thronen der Gesetze und können vergessen, wie sie in diese hineingebeugt werden und von diesen. So ist der Legist, als willfährig-eifriger Diener der Macht, einfach nur, wie es scheint - der Jurist schlechthin. Und in Beratung der Macht nimmt er deren Willen auch noch und nur zu gern vorweg: darin wenigstens war es dann doch sein eigener, kleiner Wille zur Macht. b) Nicht als ob dies alles nicht doch zu Zeiten gesehen, heftig und überzeugt kritisiert worden wäre. Doch es geschah dies lediglich für Extremsituationen, welche dann das Legistentum im Übrigen sogar noch mit etwas umgeben hat, was man die Weihe der Entschuldigung nennen könnte. Die "fürchterlichen Juristen" sind zum rechtlichen Beschreibungs- und Verurteilungsbegriff einer Vergangenheitsbewältigung in jüngster Zeit geworden, welche auch vor der machtfortsetzenden Noblesse der Roben nicht Halt

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machte. Haben sie nicht versucht, auch noch die reine Gewalt in den letzten Ausprägungen ihrer Brutalität zu verrechtlichen, ist dieses Legistentum nicht angetreten zur Legitimation von Führerwillen und Parteiräson, durch nichts anderes mehr mit dem Recht verbunden als durch äußere Formen, in denen dies zelebriert wurde? Wurde hier nicht das Legistentum entlarvt in seiner letzten Charakterlosigkeit, und übt es nicht sogar noch, in geistvollen Betrachtungen damaliger Machtberater bis in die Gegenwart eine eigenartige Faszination aus - eben die der Macht? Und hier müssen keine Namen genannt werden. Dies alles mag richtig sein und berechtigt. Doch dabei wird eine einfache historische Wahrheit übersehen: dass es diese "fürchterlichen Juristen", vor allem in ihrer entscheidungsgewendeten Form der "fürchterlichen Richter", stets gegeben hat, auch heute noch gibt, und dass sie das Recht und die Gesetze stets begleiten werden - und schließlich, dass ihnen in aller Regel, eben aus ihrem Legistentum heraus, das Schuldbewusstsein einer Machtverstärkung abzugehen pflegt, bis hin zu Extremfällen des Rechts als Unrecht. Dieses legistische Machtbewusstsein schleicht sich mit leisen Sohlen, wie sie sonst der Macht gewiss nicht eigen sind, in die Gerichtsbarkeit. Es legitimiert deren gesetzesratifizierende Aussprüche auf allen Stufen. Da ist der Verwaltungsrichter, dem zwar die Verordnungsnorm nicht zusagt als Verdeutlichung der Gesetzesermächtigung, der aber den Entscheidungsspielraum der politisch handelnden Regierung achtet. Da ist der Richter der höheren Instanz, dem das einfache Gesetz als verfassungswidriger Machtversuch erscheint, der aber eben nur gewisse Zweifel findet in seinem richterlichen Gewissen, keine Überzeugung, welche ihn zur Vorlage berechtigen könnte. Und da ist schließlich der Verfassungsrichter, welcher zwar einer solchen Vorlage mit großem Bedenken gegenübersteht, der nun aber doch nicht "jedes Gesetz" kassieren möchte, oder den Staat finanziell nicht ausbluten lassen will in einem pereat mundus fiat iustitia. Das Vorlagerecht der Richter stellt eine wirklich zentrale Verfassungsentscheidung dar, wie auch ihre Verwerfungskompetenz, denn dies sind normative Kanäle, auf denen sie sich einer Machtsklaverei entziehen können. Doch dass sie sich dabei, wieder in gewohnter Vorsicht handelnd und ihr letztes Gesetzesdienerturn nicht vergessend, auf "ärgste Fälle" beschränken, nur in ihnen der Macht entgegentreten, dazu legitimiert sie bereits, dazu zwingt sie sogar schon ein Begriff, welcher Legistentum noch immer, von seinen Anfängen an, geschützt hat: der favor legis. Und so beugen sie sich denn lieber der Macht, als dass man ihnen Rechtsbeugung vorhalten dürfte. Man mag dem allem für die Gegenwart wieder einmal, mit der Überzeugungskraft der nach Untaten Geborenen, eine moralische Entrüstung entgegenhalten, welche doch heutige rechtsstaatliche Organe nicht, auch nicht

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entfernt, mit Schergen reiner, wenn auch nicht roher Gewalt gleichsetzen will. Solche Entwicklungsbetrachtung wird immer eine Mehrheit finden, vor allem unter Juristen, mehr noch unter Richtern. Doch eben darin wird sie zur gefährlichen nicht Entschuldung der Vergangenheit, sondern Entschuldigung von Gegenwart und Zukunft. In der Dämonisierung früherer Extremsituationen, so berechtigt sie an sich sein mag, liegt schon ein Beginn damit, dass neuen Anfängen nicht gewehrt wird. Ahistorische Vereinmaligung übersieht, dass das süße juristische Gift des Legistentums sich immer und überall ausbreitet, dass es stets Betroffene geben wird, die darunter leiden; und das kleine Unrecht hat mit dem großen gemeinsam, dass auch in jenem rechtsbrechende Macht nicht gebändigt wird - durch die Gewalt der Richter.

3. "Richteraufstand" a) Ein Anderes könnten die Richter wohl zu ihrer Rechtfertigung anführen, als eine derartige gefahrvolle Idyllisierung heutiger oder gar früherer Rechtszustände, wie sie gerade ihrerseits Ausdruck eines sich erneut entwickelnden Legistentums ist: Sie haben sich doch, so scheint es, immer wieder der Macht in den Weg gestellt, in einem durchaus unlegistischen Machtbewusstsein den Richteraufstand tapfer geprobt, wenn schon nicht zum Erfolg geführt. Ist dies nicht ein Zeichen dafür, dass in dieser Judikative ein stilles Machtbewusstsein schlummert, welches gerade dann hervortritt, wenn die Macht, in reiner Form wirkend, die Schwelle der Perversion überschreitet? Historische Beispiele mögen selten begegnen, doch ist nicht gerade dies einer richterlichen Pflichterfüllung eigentümlich, welche eben den dauernd begegnenden, den ewigen Einzelfall nicht zum Anlass eines machtbekämpfenden Bastille-Sturmes machen darf? Immerhin hat es ja den offenen, permanenten und hartnäckigen Widerstand der französischen Parlements im 18. Jahrhundert gegeben gegen eine spätabsolutistische Königsrnacht, in welcher dieser Begriff seine höchste Steigerung gefunden hatte. Und dies war, mit heutigen Begriffen beschrieben, ein innerstaatlicher Verfassungsaufstand einer Gewalt gegen die andere, aus Machtbewusstsein heraus und mit dem Ziel der Veränderung der Machtverhältnisse; er ist im Ergebnis auch noch gelungen, und dass dies nicht zur Machtübertragung an eine Dritte Gewalt geführt hat, mag man nun gewiss nicht dieser zur Last legen oder damit begründen, sie sei nicht aufgestanden: Aufgabe der Richter könnte es ja gerade sein, aus ihren stillen Gerichtsräumen heraus zu wirken, Machtverschiebungen damit zu bewirken und sich sodann, in einer Art von Censorentum der Macht, wieder in die Ruhe der Machtunterworfenheit zurückzuziehen. Haben sie dies nicht

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auch mit jenem Bürger gemeinsam, der "normalerweise" in voller Machtunterworfenheit lebt, im Ausnahmefall aber antreten darf zum Widerstand, und ist dieser Notfall nicht Gewaltrechtfertigung für Bürger wie Richter gerade in seiner äußersten Seltenheit? Dennoch fällt es schwer, derartige Machtaufstände aus weit entfernten Epochen als einen Beweis für eine heutige legistenferne Grundhaltung beamteter, statusmäßig gesicherter Urteiler anzusehen. Darin wirkte sich ein Aristokratismus aus, ebenso wie in aufstandsähnlichen Widerstandsaktionen aristokratischer Gremien oder deren Machtblockade, vor allem in älteren italienischen Republikanismen. Hier trat der Adel an gegen Ansprüche eines Principe, der aus seinem verfassungsrechtlichen Grundstatus des Primus inter pares heraustreten wollte. Hier waren es nicht machtfeme Richter, sondern machttragende Aristokraten oder eine sie stützende Noblesse de Robe, welche sich zu einer Fronde formierte gegen vordringenden Absolutismus in all seinen Formen. Und so hat es denn Derartiges in den beiden Verfassungsjahrhunderten seit der Französischen Revolution nicht mehr vergleichbar gegeben. b) Dennoch scheinen gerade die letzten Jahre ein neues revolutionäres Richtertum gezeigt zu haben, in eben jenem Italien, das so oft aristokratische Aufstände erlebt hat: die revolutionsähnliche Wendung der Bewegung der "Reinen Hände" und ihre späteren Fortsetzungen. Hier wurde eine parteipolitische Konstellation zerbrochen, welche ein halbes Jahrhundert lang "an der Macht gewesen" war, im wahren historischen und zugleich gegenwärtig-verfassungsrechtlichen Sinn. Jahrzehnte lang organisierte Machtträger lösten sich auf, änderten mehr als nur ihre Namen, wie es schien, es entstand etwas wie eine neue, eine Zweite Italienische Republik. War all dies nicht Ergebnis eines Richteraufstandes, der in keiner Weise herauswuchs aus bisheriger Macht, aus Aktionen von deren Trägem? Und war die Wirkung nicht die einer neuen Machtkonstellation, die zwar in Vielem an Früheres anknüpfen mochte, dessen verfassungsrechtliche Formen sogar weithin unangetastet ließ - dennoch diese alten Schläuche mit wahrhaft neuem politischen Wein füllte, eben mit einer anderen Macht? Dies war gewiss auch letztlich ein Richteraufstand, nicht nur ein solcher von Staatsanwälten, welche darin machtunterworfen gehandelt hätten; Richter wollten mächtiger sein als die organisierte Macht. Und eben dies ist ihnen gelungen. Dennoch mag sich das zwar als eine Revolte der Judikative darstellen gegen Erste und Zweite Gewalt, es war aber kein Aufstand der Richter als solcher. Sie haben lediglich ihre fast schon vergessenen Funktionen wahrgenommen, dies war Richterrenaissance. Gestürzt wurden frühere Mächte durch sich selbst, da sie sich überlebt hatten in Skandalen und Korruption. Verlassen wurden sie von Medien und Bürgern, als Richter sie in Gefängnisse brachten, damit zerfallene öffentliche Machtstrukturen 12 Leisner

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an den Pranger stellten, Mächte, welche "bereits in sich zerfallene Reiche" darstellten, im Sinne des biblischen Wortes. Der eigentliche Aufstand war nicht das Werk der Richter, sondern etwas wie eine allgemeine gemeinsame Aktion von Medien und Bürgerschaft gegen einzelne, bisher machttragende Parteien. Die Revolution, wenn es eine solche war, wurde demokratisch in Wahlen beendet, nicht durch Urteile zum Triumph geführt. Und mehr wird es auch in Zukunft kaum geben. So bleiben denn Zweifel, ob je Richter aus ihrem status geschützten, machtfemen und zugleich machtwillfährigen Legistentum heraus dem Recht mehr bringen können als gelegentliche Revolte - eine wahre Revolution.

V. Der Richter als (nicht-)"öffentliche Person" in der Öffentlichkeit der Demokratie Gerade das in der Revolte der "Mani pulite" hervorgetretene machtwirksame Legistentum konnte, in eben der erwähnten typischen Zusammen wirkung mit Medien und Bürgerschaft, wirksam werden unter einem für die Demokratie besonders wichtigen Aspekt: In Italien wurde ja in jenen Jahren die Arkan-Macht der Staatsbestechlichkeit vor die Schranken der Gerichtsbarkeit und über diese in eine Öffentlichkeit gezerrt, in der dann diese Macht ihr Ende fand. Wie aber steht es, in allgemeinerer Betrachtung, um die Beziehung einer Dritten Gewalt zu jener Öffentlichkeit, welche nicht nur die Volksherrschaft als solche charakterisiert, ja definiert, sondern deren Organe auch zu einer wahren Macht formieren kann? Ist "der Richter eine Öffentliche Person", gerade darin doch machtbewusst, machtnah, und sei es in einer neuartigen, als solche noch gar nicht betrachteten, wiederum Verschränkung mit einer anderen Gewalt, den Medien?

1. Der Richter im öffentlichen Prozess Nicht-öffentlich ist sicher der Status des Richters in seiner Beamtenähnlichkeit. Insoweit ist er eingebunden in eine gesetzlich ausgestaltete Komplikation, welche nichts hat von Öffentlichwirksamkeit, als solche denn auch in den Räumen der Macht kaum diskutiert wird. Richterbesoldung ist kein politisches Thema, und selbst große organisationsrechtliche Veränderungen der Gerichtsverfassung erreichen nur selten die ersten Seiten der Gazetten; ein Machtthema im eigentlichen Sinne sind auch sie nicht. Im Prozess allerdings, in ihrem laufenden Wirken, treten die Richter heraus in eine Öffentlichkeit, welche für diese ihre Tätigkeit seit langem, weithin und im Namen der Verfassung wesentlich ist: in die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen. Dass hier das Publikum nur durch wenige inte-

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ressierte oder pensionierte Vertreter repräsentiert wird, ändert nichts an der Wirksamkeit dieser Gestaltung, welche sich geradezu als eine Form potentieller Mächtigkeit zu einer "möglichen weiteren Publizität" darstellt. Man wird den Richtern nicht den Vorwurf machen, sie seien allzu rasch bereit, diese "kleine Öffentlichkeit" auszuschließen, mögen sie auch, im Verbot der unmittelbaren audiovisuellen Berichterstattung aus Gerichtssälen, immer wieder eine oft kritisierte Medienscheu und damit auch Zurückhaltung gegenüber einer sofort machtmäßig wirksamen Öffentlichkeit unter Beweis stellen. Weitestgehend zwingt sie dazu aber bereits das Wesen, vor allem die Dauer zeitlich langanhaltender und überaus vielschichtiger Prozesse. Sie nähmen der Öffentlichkeit ihre machtpolitische Wirksamkeit wohl auch dann, wenn hier alles aufgenommen und sofort dem großen Publikum übertragen werden dürfte - alles, was diese Öffentlichkeit entweder gar nicht interessiert oder dann verfälschend verkürzt werden müsste. Insoweit steht eben doch, was häufig verkannt wird, "das Gerichtsverfahren als solches" außerhalb der größeren, machtmäßig allein wirksamen Öffentlichkeit, für sie eignet sich der Prozess schon grundsätzlich nur selten. Dies beweist auch, wie wenig der Richter aufgrund seines Prozessrechts und entsprechend dessen notwendigen Gestaltungen in die Öffentlichkeit tritt, einen "Öffentlichkeitsanspruch" für die Judikative erheben kann, wie ihn heute andere Autoritäten, etwa die Kirchen, durchaus in Machtbewusstsein geltend machen. Gerichtsbarkeit wirkt meist, ihrem Wesen nach, nur in einer "kleinen Öffentlichkeit", der von "wirklich Interessierten", und diese mag sich in Presse- oder Fachzeitschriftenveröffentlichungen hinein ausweiten. Nur in seltenen Fällen wird sie, und dies vor allem im Strafprozess, zu jener größeren Öffentlichkeit, welche diese Verfahren immer in der Geschichte gekannt haben, bis hin zur Strafvollstreckung auf Scheiterhaufen und Guillotinen. Aber hier sollte man sich keiner Täuschung hingeben: Interessiert war und ist die Öffentlichkeit weit weniger am Verfahren, das sie nur in filmischen Nachstellungen, gebührend abgekürzt, verfolgen kann. Ihr Interesse gilt dem Richterspruch als Vorwegnahme seiner Vollstreckung, in welcher früher etwas lag vom Schauder des Gottes- oder des Volksurteils, eines wirklichen Phänomens greifbarer Macht. In diesem Sinne trifft für die Öffentlichkeit, anders als für die frühere Kirche der Arkan-Gewalt zu, dass sie "sitit sanguinem": das öffentliche Volk dürstet eben irgendwann nach der Hinrichtung, nach Blut. Der Prozess langweilt, die Macht will erregt sein, in öffentlichem Zusammenlaufen.

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2. Keine Machteignung der Judikative als einer nicht-öffentlichen Gewalt a) So sind denn von Anfang an und grundsätzlich Zweifel begründet, ob sich diese Dritte Gewalt überhaupt eignen kann zu einer Machtinhaberschaft, welche in der Demokratie wesentlich eine öffentliche sein muss, zu welcher aber die Öffentlichkeit der Prozesse kaum genügen kann. Wesentlich ist für die Gerichtsbarkeit das Beratungszimmer oder gar das stille, erst recht nicht-öffentliche Nachdenken des Einzelrichters oder Berichterstatters. Darin eben ist nichts öffentlich, dieses Beratungsgeheimnis lässt die Gerichtsbarkeit geradezu zur Arkan-Gewalt werden, selbst in der allseits offenen Volksherrschaft. Den "gläsernen Abgeordneten" mag es geben, er redet ja ohnehin ständig über alles und alle seine Gedanken, überall, oft noch bevor er sie gefasst hat. Den "gläsernen Richter" kann es nicht geben, auch nicht für den aufmerksamen Leser jener Gesetzestexte, aus welchen die rechtsprechende Gewalt sodann ihre Entscheidungen - immer wieder hervorzaubert, einen Augenblick aus Nichtöffentlichkeit in Öffentlichkeit hervortretend, Beteiligte überraschend - um sich sodann über die Gänge der Justizpaläste wieder in ihre stillen Beratungszimmer zurückzuziehen. Nach außen traten die Richter stets wenig hervor und auch dies nur in gebührender Scheu, darin vor allem ihre Würde bewahrend. Ob sie damit ihre Macht verstecken wollten oder sich nur versteckten vor der politischen Macht - im Grunde bleibt es gleich, fällt vielleicht sogar zusammen. Stets hatten sie etwas an sich von den "geheimen Räten" des Königs, und wo sie mehr die Macht berieten als für diese entschieden, schlossen sie sich ohnehin ein in jenes Geheimnis des Rates, in wahre Geheirnrätlichkeit. Eine extreme Öffentlichkeits scheu wird nicht nur dem englischen Lordrichter traditionell nachgesagt, sie charakterisiert geradezu die Vertreter einer Gewalt, die sich als Macht nicht zeigen will. b) In der Demokratie hat sich dies nicht geändert, es wird hier nur noch deutlicher. Die Richter mögen Recht sprechen "im Namen des Volkes" aber eben dieses Volk sprechen sie nicht an, weder hier noch überhaupt. Es mag eine leise Ironie darin liegen, wenn man sie geradezu als Vertreter einer "nichtansprechenden Gewalt", in des Wortes verschiedenen Bedeutungen, bezeichnen darf. Es ist stets, als seien ihre entscheidenden Worte gesprochen in eine Art von Unendlichkeit des Rechts hinein, von einer Persönlichkeit, deren Blicke in diesen Augenblicken über Betroffene hinweggehen, über Interessierte und alle Gegenwärtigen. Wenn es ein Richterbewusstsein überhaupt gibt, so wird es jedenfalls getragen durch die Überzeugung, dass im Urteil etwas wie Recht spricht, nicht Persönlichkeit, nicht von ihr getragene Macht - und daher nicht zu anderen Persönlichkeiten hin

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gesprochen. Daher wird die Öffentlichkeit in diesem Augenblick so gleichgültig, und dies nicht nur für den Richter oder den Prüfer, der ihm darin nahe kommt, dass diese selbe Öffentlichkeit eben für alle Beurteiler kein eigenes Machtmedium mehr werden kann. Öffentlichkeit ist ein Raum des Ansprechens, der Diskussion, des Austausches. Der Judikative ist all dies fremd. Sie spricht weder mit den Beteiligten noch später mit irgendwelchen Dritten über ihre Urteile, und nicht einmal mit einer höheren Instanz, welche diese kassieren könnte, sie schiebt sie dieser hin. All dies vollzieht sich in einem innerjudikativen Raum, der als solcher in keiner Weise durch Öffentlichkeit gekennzeichnet ist, sondern durch wesentlich nichtöffentliche Gerichtsorganisation, die gerade noch Beteiligte informieren mag. Warum sollte auch ein Richter ansprechen, wo doch wesentlich nur vor ihm gesprochen wird? Er ist der Herr der Öffentlichkeit, nicht ihr Organ.

3. Gerichtsbarkeit: fern von allem Staatstheater a) Die Macht bedarf der Äußerung, bis hin zu deren publikumswirksamsten Formen: zum Staatstheater. In ihm, und was immer man dazu zählen mag im Einzelnen, gewinnt die Öffentlichkeit ihre weiteste Dimension. Feiern und Feiertage, Auftritte und äußere Formen - ein schwer entwirrbares Bündel von Manifestationen immer nur eines Phänomens gehören dazu: der Macht in all ihren Formen der Wirksamkeit, von der Ankündigung bis zur Durchsetzung. In dem Maße also gewinnt eine Verfassungsgewalt Nähe zum Machtbegriff, in welchem sie als Akteur auftritt auf der Szene dieses Theaters, sich ein- und verkleidet auf diesen Brettern, welche die Macht bedeuten. Vom Spektakel der Parlamentssitzungen bis zu den Inszenierungen der Staatsbesuche und vor allem den ständigen "Pressekonferenzen" haben sich geradezu Rituale eines Machtspiels entwickelt, ohne welches die vielbeschworene "Öffentlichkeit der Demokratie" ein leerer Raum wäre, ein leeres Wort. Dort muss vielmehr gespielt werden, damit dieses Theater sich in der Öffentlichkeit der Bürgerschaft sodann medienmäßig verbreitere, fortsetze, und eine Verfassungsgewalt spielt eine Machtrolle nur, soweit sie eben daran teilnimmt. b) Hier aber drängen sich nun zugleich Zweifel auf zu möglichen Erscheinungen eines "richterlichen Staatstheaters". Es fragt sich, ob der Judikative, trotz mancher herkömmlicher Versuche einer gewissen Theatralik, die aber ganz im Äußerlichen bleiben, nicht eine Ferne zum Staatstheater eigen ist, welche auch eine solche zur Macht bedeutet. Gewiss treten Richter von jeher auf in gewisser theatralischer Form. Zu deren Beweis bedarf es nicht des Hinweises auf das Äußere der englischen

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Urteiler, welche diesen die Macht der Vergangenheit und ihrer Krone verleihen sollen. Die eigenartigen Bekleidungen aller Gerichtspersonen in allen Ordnungen - denn wohl dies allein haben sie erdenweit gemeinsam - erscheinen doch, gerade in einer einfacher denkenden Gegenwart, als Verkleidungen, welche einem Staatstheater eigentümlich sind, das gerade und so deutlich nur mehr hier gespielt wird. Sind denn solche Barette und Roben wirklich nur Zeichen einer bürger- und alltagsfemen Noblesse, kommt in ihnen nicht gerade jene Machtstellung zum Ausdruck, wie sie eben in jeder Uniform sich zeigt, insbesondere dort, wo diese entfunktionalisiert in Erscheinung tritt? Der modeme Kampfanzug des Militärs mag noch etwas von Staatstheater an sich tragen, in der vorgespielten Furchtbarkeit von Kriegern im Gelände; die Richterroben, mit welcher Inbrunst immer getragen, sind doch einfach nur - eine Schau von Würde, von Gewalt des Letzten Wortes. Wollte man aus der Verkleidung allein auf Theater schließen, so könnten Richterroben allein schon Staatstheater bedeuten, Macht symbolisieren. Doch damit würde der Begriff des Staatstheaters allzu sehr auf Äußerlichkeiten beschränkt, mag dies auch heute einer gängigen Versuchung entsprechen. Wirksames Staatstheater als Machttheater zeigt sich am Wahlabend, in der entscheidenden Parlaments sitzung, in den Staatsreden und Pressekonferenzen der Mächtigen. Es liegt, wie allgemein in der Gegenwart, vor allem im Verhalten, nicht so sehr in einer Kleidung, die vielleicht noch an etwas davon erinnern will, allein aber nichts mehr zu bewirken vermag. In diesem aktuellen Verständnis des Staatstheaters spielen die Richter, trotz ihrer Kleidung, weithin nur mehr Rollen wohl aus gestatteter Machtumgebung, sie sind nicht Machtakteure und sie fühlen sich nicht als solche. Allenfalls noch die Verkündung der großen Verfassungsentscheidung bringt einen - und durchaus neuartigen - Akzent von Staatstheater in den Raum der Judikative; doch eine auch dort noch wirkende allgemeine judikative Bescheidenheit beschränkt selbst diese Wirkungen eines Richterauftritts. In der Vergangenheit mag er einmal ein Prototyp des Staatstheaters gewesen sein, heute fehlt dafür schon das Entscheidende: Die Richter führen keine Machtgespräche auf ihrer Bühne, und Staatstheater ist nur dort, wo die Akteure über Macht sprechen, untereinander und mit anderen. Anwälte und Beteiligte mögen nicht selten ihre Richter als Schauspieler erleben; doch dem Richter als solchem in seinen Gremienvertretungen ist all jenes Spektakuläre fremd, ohne welches eben Staatstheater als Machttheater nicht gespielt werden kann; und der allzu öffentlichkeitsbewusste Richter entfernt sich von dem Bild dessen, was man mit seinem Status allenthalben verbindet.

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4. Richter und Medien - verschränkte Gewalten zur Macht? a) Ob man "die Medien" als Staatsgewalt bezeichnen kann, mag zweifelhaft sein, schon wegen des Fehlens einer sie als solche einengenden Organisation, welche wohl sogar die Verfassung verbietet; schon deshalb kann dies hier offen bleiben. Unbestreitbar ist jedoch, dass sie "Macht" ausüben, welche in der Demokratie unmittelbar eingeht und sich verbreitert in institutionelle Machtausübung in einem durch diese selben Medien ständig angestoßenen und orientierten Staat. Vielleicht ist es gerade das problematische Verhältnis von (Staats-)Gewalt und "Macht", welches eine überzeugende definitorische Einordnung der Medien als einer Staatsgewalt verhindert. Unzweifelhaft ist jedoch, dass diese Anstoßwirkung, ja diese laufende Orientierung staatlicher Institutionen durch Medieninformation und mindestens ebenso sehr durch Medienaktion sich nicht auf die "politischen" Gewalten, Legislative und Exekutive, beschränkt, dass sie vielmehr in bedeutsamer Weise, wenn auch bisher weit weniger beachtet, jene Judikative erfasst, welche von Einflüssen im Namen ihrer Unabhängigkeit freigehalten werden soll, dem der Medien jedoch unterliegt und, was hier mehr noch interessiert, mit ihnen in einer laufenden Zusammenarbeit steht. Die Gerichtsbarkeit mag sich von den Beziehungen der Medien zu den anderen Verfassungs gewalten dadurch unterscheiden, dass die Richter nicht in vergleichbarem Maße in ihrem Status von Wahlen abhängen, welche die Medien durch ihre Meinungsbildung beeinflussen könnten; insoweit schützt auch hier ihre Unabhängigkeit die Richter. Doch in einer anderen Richtung muss sich die Dritte Gewalt der Frage ihrer Beziehungen zu Presse, Rundfunk, Fernsehen und allen anderen medialen Aktivitäten stellen: Könnte es ihr gelingen - oder ist es bereits laufende Wirklichkeit - über dieses "Medium" doch etwas auszuüben wie reale Macht in der Gemeinschaft, um diese dann sogar in Machtaktionen der anderen Verfassungsgewalten umgesetzt zu sehen? Könnte darin sich nicht etwas entwickeln wie ein "wahrer Kreislauf der Macht", vermittelt durch eben jene Medien? Die Richter wären dann zu sehen als eine über Medien Machtträger anstoßende Staatsgewalt, in Verschränkung mit diesen machtmäßig wirksam. b) Praktisch wirksame Gelegenheiten für eine derartige komplexe Interaktion zeigt heutige Praxis immer wieder. Da ist der Verwaltungsprozess, in welchem administrative Macht gezügelt, Defizite der Verordnung- oder Satzunggebung aufgedeckt werden, da ist der Miet- und der Arbeitsprozess, welcher typische und verbreitete soziale Schwächen von Bürgergruppen offenbar werden lässt, da ist aber insbesondere jener Strafprozess, aus welchem Leistungen wie Fehlverhalten staatlicher Organe in Skandalhöhe emporwächst, oder auch Rechtsbrüche von Bürgern, die nach neuen Ordnungsfor-

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men verlangen. Die Gerichtsbarkeit bereitet gewissermaßen das tägliche Material auf, welches die Staatsgewalten auf den Plan ruft, sie motiviert, ja in Aktionen zwingt. So wird sie geradezu zur Vorphase reagierender Gesetzgebung, eingreifender Administrativaktion - immer, vielleicht nur, wenn Medien den Ordnungsbedürfnissen in der Gemeinschaft verbreitenden und verbreiternden Ausdruck verleihen. Die Presse war stets ein Machtträger vor allem als Skandalgewalt, für sie gilt die Umkehr des alten kirchlichen ut scandalum evitetur; sie erst fügt dem Rechtsbruch, der Entgleisung der Staatsorgane die große Entrüstung hinzu, welche alle Läufe in der Gesellschaft wieder in geordnete Bahnen führt. Die Richter mögen auch hier immer wieder glätten, beruhigen, ja herabstufen, die Passionalität der Zuschauer vom Zorn in ordnende Forderungen führen - gerade in der kühlen Ruhe, in welcher im Gerichtssaal der Skandal hervortritt, wirkt er erst recht, und hier nun wirklich mit erster Macht, als künftiges Ordnungselement, vielleicht wird er erst in einem Prozess aus einer Aufregung heraus geführt, welche Reaktionen des Rechts zugleich anstößt und unmöglich macht. Die Richter mögen sich stets dagegen verwahren, im Namen ihrer Unabhängigkeit - welche es ihnen auch verbiete, andere in Abhängigkeit von ihren eigenen Gefühlen aufgeregter Empörung zu bringen - dass man sie als Skandalgewalt bezeichne; doch sie sind es eben ganz natürlich, vor allem in einer Demokratie, welche selbst ihre begrenzte Öffentlichkeit ihnen gerade deshalb vorschreibt, damit der Skandal nicht verdeckt werde, mit Macht wirke. c) Gewiss sind es nun nicht die Urteilenden, welche die Weiterleitung dieser machtmäßigen Skandalwirkungen - bis hinunter zum ruhigeren Reformbedarf - wie sie die Medien im Einzelnen vermitteln, oder gar noch deren Umsetzung in campagnenhaftem Aktionismus im Einzelnen begleiten. Ihnen genügt der Anstoß der Urteilsverkündung, vielleicht noch die Presseerklärung, jener nicht immer unproblematische erste Schritt zu einem wahren machtmäßig wirkenden Anstoß. Alles andere besorgen die Medien in der ihnen eigentümlichen Freiheit, die aber doch kaum achtlos vorübergehen wird an dem, was in Gerichtssälen eine einmalige rechtstatsächliche Fassbarkeit gewonnen hat. Dennoch bleiben entscheidende Zweifel, ob in diesen Anstößen mehr liegt, als Anlässe zur Machtausübung, wie sie aber jeder Missstand in der Gemeinschaft, jedes Bürgerverhalten von Rechtsbrechern, täglich auch ohne Gerichtsurteil bietet. Hier fehlt es einfach bereits an einer praktisch-institutionellen Verschränkung, in welcher eine wie immer geartete Zusammenarbeit zwischen Dritter Gewalt und einer solchen der Medien rechtlich fassbar werden könnte. Gerade das Recht selbst verbietet Weitergaben von Informationen und Beurteilungsargumenten, aus welchen sich eine solche

VI. Gerichtsbarkeit: - gestaltungs(un)fähig?

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Verschränkung ergeben könnte; dies alles darf es von Rechts wegen nicht geben, und die Praxis der Richter folgt dem. Macht verlangt, wie immer bestimmt, einen gewissen geballten und zugleich flächendeckenden Einsatz und dementsprechende wenigstens mögliche Wirkungen. Daran bereits fehlt es ebenfalls in der doch durchaus gelegentlichen Anstoßfunktion, welche man allenfalls der Gerichtsbarkeit zuerkennen mag. Die Gelegenheit des Einzelfalles mag ein Gericht in Versuchung führen, hier nun mit besonderem Eifer auch die Medien zu bedienen; zu mehr als zur Intensität des bereits erwähnten Skandals kann auch dies nicht führen. In diesem Wort liegt eben nur ein Ausgangspunkt für Macht(re)aktionen, nicht eine eigentliche Initiativgewalt zu ihnen im Rechtssinne. Was dann schließlich aus all dem wird, was die Medien daraus machen, entzieht sich nicht nur jeder rechtlich bindenden Beurteilung, sondern auch jeder Form einer wie immer gearteten justiziellen Einflussnahme. Die richterliche Anstoßgewalt erschöpft sich eben in dieser Aktion des Hervorbringens von Aktionismus im Medienbereich des Gesellschaftlichen. Zu weit ist dies entfernt von all dem, was als wirkliche Macht wirken könnte, zu weit vorgelagert aller machttragenden Staatlichkeit im Übrigen. Richter mögen im Verlauf und vor allem am Ende von Skandalprozessen, aus welchen große Politik entsteht, sich als deren Akteure im Vorfeld schon fühlen. Doch sie bleiben nur Boten, welche Katastrophen ankündigen oder Lösungen tragischer Konflikte; das Machttheater selbst spielen sie nicht, ihr Machtbewusstsein wäre nur Eitelkeit. Es mag sie geben, aber sie ist weder Macht noch Machtbewusstsein. Trotz mancher Ansätze, Fragen und Bedenken ist das Ergebnis dieses Abschnitts klar: Die Organe der rechtsprechenden Gewalt sind keine Machtträger, sie haben kein Machtbewusstsein, in welchem Sinne auch immer diese Begriffe rechtlich, ja in einem politischen Verständnis gebraucht werden mögen.

VI. Gerichtsbarkeit: - gestaltungs(un)fähig? 1. Gestaltung als Machtausübung

Die Antwort auf die Frage, ob in Gerichtsbarkeit etwas ausgeübt wird wie Macht, hat sich bisher als schwierig erwiesen, vor allem deshalb, weil der Begriff dieser selben "Macht" sich rechtlicher Definition entzieht - und doch ein entscheidendes Konstitutivelement des Rechtsbegriffs einer Verfassungsgewalt darstellt. So blieb kein anderer methodischer Weg, als rechtliche Phänomene im Einzelnen zu beleuchten, in welchen diese "Macht" her-

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vortreten könnte. Dies wurde in den bisherigen Kapiteln dieses Hauptteils versucht, mit einem insgesamt doch eher - diesen Vorbehalt gilt es hier zu machen - negativen Ergebnis. Abgeschlossen soll es nun werden mit einigen Überlegungen über das Verhältnis der Gerichtsbarkeit zu einem Begriff, der rechtlich gebraucht wird, in seiner Unbestimmtheit zwar Probleme aufwirft, dennoch aber immer wieder etwas charakterisieren soll, was machtträchtig erscheint. "Gestaltung" ist geradezu etwas wie ein dogmatisch-definitorisches Zauberwort geworden; mit ihm soll eingefangen werden ein immer weiter zunehmender Restbestand, welchen strenge Gesetzesbindung im Bereich der Zweiten Gewalt übrig lässt, in welchem diese eben gestaltend zu wirken vermag, wie kein anderer Verfassungspouvoir. Dieser Begriff der Gestaltung ist in seinem Aussageinhalt so nahe angesiedelt bei dem des Modeworts der Kreativität, dass er schon von dort Überzeugungskraft gewinnt. Macht will vor allem in die Zukunft hineinwirken, und eben dies drückt sich in ihrer Gestaltungsfunktion aus, vor allem im Bereich der Administrative. Hier kommt es zu großräumiger Schaffung von Aktionsräumen der Staatsgewalt, jenseits aller Normen. In ihnen vermag die Staatsgewalt Tatsachen vorzubringen, vollendete und unvollendete, Voraussetzungen für Rechtsfolgen, welche dann aus Normanwendung erwachsen. Gerade weil ihre Zukunftswirkungen unbestimmt, ja unbestimmbar sind, wie diese Zukunft selbst, weil hier Ungenauigkeit daher erst recht flächendeckungswirksam wird - eben in all dem nähern sich solche Gestaltungen und ihre Wirkungen der "Macht". Dass sie als solche nicht erfassbar erscheinen, mag ihnen die Kraft der abschließenden rechtlichen Definition versagen; es nimmt ihnen dies aber gerade deshalb nicht die Qualität eines machtkonstituierenden Elements. So darf denn auch die Machtfrage, wird sie an die Judikative gestellt, nicht vorübergehen an dieser Gestaltungsaufgabe, an Gestaltungseignung und einem etwaigen Gestaltungswillen der Richter. 2. Die Richter - ohne Gestaltungsgewalt Diese Antwort drängt sich auf für die Dritte Gewalt, und in dieser Sicht ist die Machtfrage für sie wohl eindeutig am Ende negativ zu beantworten. a) Die Rechtsprechungsgewalt zieht rechtliche Folgerungen vor allem, mag sie auch deren Voraussetzungen zunächst klärend festzustellen haben. Je höher man aufsteigt im Instanzenzug, desto weiter entfernt sie sich von der Beschäftigung mit dem Tatsächlichen. Ihr Ideal ist nach wie vor der römische Prätor, nicht jener iudex, welcher Tatsachenmaterial herbeibringt. Mit Blick auf die Realität, welcher alle "Gestaltung" eng verhaftet ist, bleibt der Richter wesentlich stehen in der Rolle des feststellenden Notars,

VI. Gerichtsbarkeit: - gestaltungs(un)fähig?

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darin nur selten durch normativen Fiktionsbefehl orientiert. Wie bereits ausführlich dargelegt, entscheidet er wesentlich für eine Vergangenheit, die er als solche definiert, und nicht zuletzt darin, dass es in ihr nichts mehr zu ändern gibt, nichts mehr zu gestalten. Wenn sich keine Tatsache rückwirkend verändern lässt, wenn aber Gestaltung ohne Realitätsveränderung nicht vorgestellt werden kann, so ist der Richter schon darin das Gegenteil gestaltender Staatsgewalt. Richterrecht mag er im Ergebnis setzen, damit auch zukünftige "rechtliche Gestaltungen" bewirken. Doch schon mit dieser "rechtlichen Gestaltung" entfernt er sich wieder von der ganzen Fülle der Machtäußerung, die, wenn überhaupt, eben im Gestaltungsbegriff liegt, diesen nicht von der Hervorbringung realer Voraussetzungen der Macht abschneidet. Und richterliche Zurückhaltung in der Setzung eines solchen Richterrechts bezieht sich gerade auf diese Form "rechtlichen Gestaltens" - im Richterrecht steht weit eher der Aspekt des konservierenden Fortsetzens, des Bewahrens und Bewährens im Vordergrund, als der einer frei gestaltenden neuen Rechtsproduktion. b) Der Dritten Gewalt fehlt insbesondere eine Zuständigkeit, welche unter dem hier betrachteten Gesichtspunkt der Gestaltung zu wirklicher Mächtigkeit emporwächst: Sie kann die wirtschaftlichen Voraussetzungen und damit die wichtigsten realen Bedingungen nicht schaffen, sondern allenfalls punktuell verhindern, was den Namen jener Gestaltung verdient: Es fehlt ihr völlig die staatszentrale Haushaltsgewalt. Ihr gegenüber wird sie zur bedenkentragenden Verhinderungsgewalt, welche in einer der Praxis nur allzu bekannten Vorsicht entscheidet, etwa in der Sparsamkeit der Entschädigungs- und einer Beamtenrechtsprechung, von welcher in Frankreich herkömmlich stets angenommen wurde, die Richter zeigten hier vor allem Sorge um die Beständigkeit ihrer Besoldung ... Der Haushalt aber ist Ausgangspunkt und Grundlage dessen, was sich näherer Betrachtung als "Gestaltung" zeigt. Ihr Zentrum liegt bei jener Administrative, die dort "darf", nicht "muss" - und ist dies nicht gerade das Wesen staatlichen Gestaltens? Wenn der Zweiten Gewalt noch etwas zukommt wie wahre Macht, so liegt es doch, wie frühere Betrachtungen schon zeigen konnten, gewiss nicht in einer "Fortsetzung der Gesetzgebung mit anderen Mitteln", in der Normanwendung, welche als Machtausdruck der Exekutive rechts staatlich immer weiter begrenzt, ja kupiert wird. Gefunden werden kann es vielmehr in jener Schaffung vollendeter Tatsachen, welche die Verwaltungshoheit über den Haushalt charakterisiert. Selbst das Parlament, dem doch gestaltende Funktionen so leichthin zugeschrieben werden, übt diese in erster Linie in seiner Souveränität über den Etat, nicht in den Wüchsen und Wildwüchsen der anderen Rechtsbereiche der Gesetzgebung. Dort ist die Volksvertretung immer enger gebunden durch Vorga-

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ben aus der Vergangenheit, aus der Gesellschaft, und nicht zuletzt aus der Verfassung. Vorgabenfrei und damit frei in ihrer Gestaltung agieren die Vertreter des Volkssouveräns weithin in jenen normativen Weiten des Haushalts, welche sie mit der Phantasie ihrer Steuererfindung und Steuergestaltung immer noch weiter ausdehnen. Zu all dem findet sich kaum ein Ansatz in der normgebundenen Welt der Judikative; wie sollte sie da gestalten? Und wenn Macht immer zuallererst mit dem Begriff der Finanzen verbunden ist, mit ihrem Einsatz - was hätten die Richter hier anderes zu bieten als eine Sparsamkeit, mit der allein, um den berühmten amerikanischen Ausspruch zu wiederholen, noch niemand reich geworden ist, am wenigstens der Staat.

3. Richter: die unflexible, planungsunfähige Rechtsgewalt a) Aufgabe des Richters ist es, den Beteiligten zu sagen, was nach ihm Recht ist und daher auch für sie, was deshalb für sie gelten soll. Seine Funktion liegt auch darin, Räume des Möglichen zu erschließen, nicht aber sich darüber zu verbreiten, was dort sein werde. In seinem "Dürfen" liegt immer das "Müssen oder Nicht-Müssen", unter gewissen Voraussetzungen. Was sollte daher er selbst gestalten - dürfen? Ein Gericht darf "nichts offen lassen", oder doch so wenig wie möglich, im Bereich jenes Einzelfalles, in den es in seiner Kompetenz eingeschlossen ist. Dies ist denn auch ein wahres und herkömmliches richterliches Ideal: Nichts offen lassen, was entscheidungsträchtig sein könnte - den großen Rest möglichst "nicht kennen". Das immer häufigere "Offenlassen" von Fragen ist im Grunde ein Zeichen der Schwäche, des Abfalls von den AufgabensteIlungen des Richters. "Offene Fragen" sind etwas wie ein Anfang von Rechtsweigerung, sie geben Hinweise auf Probleme, mit denen sich diese Dritte Gewalt "eigentlich" hier gar nicht hätte beschäftigen dürfen. Dies verbietet ihr übrigens keineswegs die Setzung von Richterrecht, doch es sollten nicht von einer eifrigen Lehre aus "offenen Fragen" problematische Hinweise und Spekulationen über eine "wohl vom Gericht gewollte Fortsetzung" entwickelt werden. Die Gerichtsbarkeit ist insoweit gerade nicht etwas wie eine "offene Staatsgewalt", sondern wesentlich eine in ihren Kompetenzen und ihrer Normunterworfenheit geschlossene. Darin, dass sie nichts erwarten und nichts erwarten lassen darf, in dieser ihrer wesentlichen Endgültigkeit, lässt sie keinen Raum für "Gestaltung", weder den Beteiligten ihrer Prozesse, noch sich selbst. Wo ihre Urteile aufhören, da beginnt der große Außenraum der Privatautonomie und der Bürgerfreiheit gegenüber aller Staatsge-

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walt. Justizpaläste sollten daher deutlich gebaut sein und in sich fest, nicht stehen neben Wirtschaftsbüros, Türen haben zu diesen. b) Richterturn ist nicht flexibel in seinem Wesen, es darf sich nicht biegen unter dem Druck der Interessen, der außerstaatlichen Mächte, der Macht. Gestaltung aber muss eben in solcher Biegsamkeit wirken können, aus ihr gerade gewinnt sie die federnde Kraft ständiger Reaktivität. In diesem Sinne steht Administration mit Interessenvertretung wesentlich in einem laufenden Dialog, in ständigen Vereinbarungen und Kompromissen. Gerichtsbarkeit mag all dies feststellen, vielleicht hinnehmen, gestaltend hervorbringen kann sie es nicht in ihrer judikativen Wahrheit. Gestaltungsratschläge geben nun allerdings die Richter mit zunehmender Bereitwilligkeit; und in Verkennung ihrer eigentlichen Aufgaben meinen sie darin zu Schiedsrichtern zu werden, sich einem früheren Idealbild aller Gerichtsbarkeit wieder zu nähern. Doch dies gerade sollte die Dritte Gewalt des Staates auch den Schiedsrichtern überlassen, auf welche sie sich in Vorphasen entlastet; ihre Staatsrichter sollten nicht zu Schiedsrichtern der Gesellschaft werden, sonst müssen sie sich deren Flexibilität, deren Gestaltungsbereitschaft zu eigen machen, und dann werden sie sich deren Mächten beugen - der Macht. Der Richter ist die Figur des Wächters an Grenzen. In diesem Sinne wäre der Richterstaat wahrhaft ein Wächterstaat. Er steht an Mauern und auf ihnen - nicht über ihnen - in welche er nicht Breschen schlagen darf; aus ihren Steinen kann er keine Gebäude errichten an den Rändern verbreiteter Einfallsstrassen in die Burg des Rechts. Nicht sein gestaltender Baumeister ist er, sondern der Schütze, der Pfeile des Rechts auf alle richtet, welche dessen Schranken überschreiten wollen; sein Bogen mag flexibel sein, seine Pfeile fliegen gerade. c) Von diesen alten Bildern nun zu neuen Gestaltungsformen: Der Richter kann und darf nicht planen, dabei nicht einmal Hilfestellung leisten. Planung muss offen lassen, nur darin kann sie überleben - dem Richter ist gerade dies versagt. Etwas vom pereat mundus muss er in aller Offenheit auch dieser neuartigen staatlichen Handlungsform stets entgegensetzen. Zu der künftigen Wirklichkeit, dem eigentlichen Gegenstand allen Planens lässt er keine Tore offen, schließt vielmehr alle möglichen Türen in seiner heutigen Entscheidung. Darin mag Planung wirken, dass sie für die Zukunft nicht nur gestaltet, sondern vor allem Räume für Drittgestaltung offen lässt, nur in diesem Rahmen hat sie im freiheitlichen Rechtsstaat eine Chance. Ihre Gestaltungskraft liegt gerade in der Souveränität, mit der sie aus den Höhen der Staatlichkeit heraus Gestaltungskraft auch an andere delegiert, hinein in die Gesellschaft. Darin ist sie Machtausübung im Kern dieses Begriffs, dass sie Kräfte und Mächtigkeiten zusammenfasst, eine Einheit bewirkt von Staat und Gesellschaft über den Einsatz des staatlichen

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Instruments der Vorausschau, und dass sie damit eine optimale Flächendeckung erreicht, wie sie als Ziel geradezu im Begriff allen Planens liegt. Gestaltung und Macht zeigen sich gerade hier in engster Symbiose. All dies ist für den Richter wahrhaft eine fremde Gestaltungswelt. Noch so weit mag sie sich erstrecken und immer weiter ausdehnen - an seinen Schranken, seiner Grenzsicherung findet sie ihr Ende. Er ist das Organ par excellence, welches auch Planung, das virtuell Unbegrenzbare, noch einschließt in feste Rechtsbegrifflichkeiten, er bestimmt nur die Schranken einer ihm fremden Planungsgewalt - damit eben einer ihm im Letzten verschlossenen Macht. Staatsgewalt ist in der Gegenwart, selbst im demokratischen freiheitlichen Rechtsstaat, kaum mehr vorstellbar ohne etwas wie planende Wirkungen einer Gewaltausübung, welche gerade darin diese Pouvoirs zu Machtträgem werden lässt. Von der Finanzplanung zur Bauplanung, von der Landesplanung zur Kommunalplanung - alle Staatsgewalten wirken auf allen Ebenen zusammen in dieser Planung, in ihr wird ihre Verschränkung zur Zusammenballung einer echten Staatsmacht. Ausgeschlossen erscheinen aus ihr nur jene Richter, welche dort allein auftreten, wo Planung nicht mehr ihre machtmäßige, realitätsverdrängende Virtualität entfaltet, sondern im Einzelfall diese Realität erreicht hat, damit auch die Mauem des Rechts. Man könnte formulieren: Die Planungsmacht endet dort, wo die rechtsprechende Gewalt beginnt. Sie hat hier nicht nur keine wesentlichen Kompetenzen mehr, außer denen, der Planung Schranken zu ziehen; ein "Denken in Planung" wird selbst der von Richtern nicht erwarten, welcher den Richterstaat im Kommen sieht - er soll ihm dann gerade eben kein Planungsstaat sein; und so durfte denn das Sowjetreich Richter im freiheitlichen Verständnis nicht kennen. Planung wird immer intensiver betrieben - und es wird immer weniger über ihre staatsgrundsätzlichen Wirkungen nachgedacht. Sie zeigen sich negativ im Bereich der Gewaltenteilung, wenn man etwas von ihr in der Judikative erhalten möchte. Hier, in der richterlichen, typisch planungsfemen Machtfeme, lässt sich vielleicht etwas finden, was sogar zu "richterlicher Gewalt" noch führen könnte - aber eben in eine Machtfeme hinein.

4. Index non caIcnlat a) Der Richter ist das Staatsorgan nicht des Könnens, sondern des Müssens, die Personifizierung eines juristischen Determinismus. Gestalten liegt ihm fern, schon weil er auch das "Risiko" nicht kennen will. Daher kennt er auch eines nicht, das mit diesem Begriff in der Gegenwart mehr

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denn je verbunden wird: jenes Kalkulieren, welches Risiken berechenbar macht. Hier zeigt sich eine alte Maxime der Gerichtsbarkeit in einem neuen Licht. Was immer es früher bedeutet haben mag, dass Iudex non calculat in einem Sinn trifft es heute sicher voll zu und entfernt die Dritte Gewalt von Gestaltung wie Macht: Zu kalkulieren gibt es im Prozess nichts, nichts für die "Zukunft zu berechnen". Das Denken des Richters hört schlechthin auf, wo solches Kalkül beginnt. Er hat es mit Tatsachen zu tun, nicht mit Vermutungen; den Zweifel selbst verwandelt er in seinen in-dubio-Entscheidungen in rechtliche Gewissheit. Unsicherheiten von Rechenergebnissen nimmt er nicht hin, dieses Organ juristischer Mathematik. Die Stochastik, deren neuere Formen, vermag er nicht anzuwenden. Und gänzlich fremd bleibt ihm eine auch sprachliche Verfremdung des rechnenden Kalkulierens - das er in seiner kühlen Denkart vielleicht als solches noch kennen mag welche dann zum Kalkül führt, in naher Wortverbindung zum Machtkalkül. Kalkulieren hat etwas Zukunftszugewandtes in seinem Wortsinn; der Richter aber ist allenfalls jene nachprüfende Gewalt, welche in seinem unabhängigen Status auch als Organ der staatlichen Rechnungsprüfung sinnvoll tätig wird. Er entfaltet seine Tätigkeit nicht einmal bis hin zu jenem modemen Controlling, welches Nachprüfung mit Gestaltungsratschlag vielfach verbindet. Die Gerichtsbarkeit bleibt bei harter Nachprüfung deutlich und endgültig stehen, sie mag in die Zukunft wirken, nie aber dorthin blicken, in keinem Kalkül. b) In einer ökonomisierten Welt entfernt dies die Dritte Gewalt weit, ja entscheidend von Formen gegenwärtiger Macht. Diese verlagert sich - zahllose sach- und personal politische Erscheinungen zeigen es ständig von Neuem - zunehmend aus der ordnend-bedenkentragenden Gestaltung des Gemeinschaftslebens hin zu zukunftsoffenem, planendem - eben Kalkulieren. Hier wird nicht nur abschließend zusammengerechnet, hier wird hochgerechnet in Wahrscheinlichkeiten, in die Zukunft hinein. Alles Rechnen ist nur mehr Machtbasis für all das, nicht woraus, sondern womit zu rechnen ist, in der Zukunft. Für den Juristen ist sie nur eine unerschöpfliche Quelle seiner ängstlichen Bedenken; hier hört all sein Wagen auf, seine Risikobereitschaft, ohne welche die immer rationalere und doch stets nur noch weniger durchschaubare und vorhersehbare Welt der Wirtschaft und damit der Gesellschaft zusammenbräche. Deshalb kann man den Juristen an den Hebeln der Wirtschaftsrnacht als solchen immer weniger einsetzen, ihn, der vor allem Bremsen zu bedienen versteht. So sieht er sich denn zunehmend verdrängt in die Staatsgewalt, und hier wieder in eine para-richterliche Gewaltausübung. Allenfalls in Formen einer solchen mag ihn auch die Wirtschaft in ihren Räumen noch dulden. Darin aber ist er eben keine produktive Kraft, mit welcher diese Ökonomie steht und fällt, und so fehlt ihm

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denn gestaltende Mächtigkeit überhaupt, denn er will ja jene Methode nicht kennen, welche die der Ökonomik ist: Nothing without figures. Nicht nur, dass ihn das Kalkül nicht interessieren darf, ihn interessieren noch nicht einmal die Zahlen; dies ist der tiefere Sinn des Iudex non calculat. Vorgeben lässt er sich alles von den aktiven Instanzen der Wirtschaft, er behält sich sogar vor, ihre komplizierten Ergebnisse nicht voll zu begreifen; dann wird er sie eben als solche unterstellen - oder ignorieren. Seine Gewalt beginnt erst nachher, wenn andere bereits gerechnet haben. Nicht umsonst weitet sich das Reich der Experten unübersehbar aus in die Gerichtsbarkeit hinein, und sie geben dort die Macht vor, der Richter fügt das Recht hinzu. Von ihm rechnendes Denken zu erwarten, auch nur letzte Korrekturen dessen, was ihm die Macht der Ökonomie - vorrechnet, das wäre juristische Häresie. Gerichtsbarkeit bedeutet auch die Macht, etwas nicht kennen, nicht verstehen zu wollen, und wenn sie sich in einem ausdrückt, so in einem letzten Nicht-Kalkulieren. Und selbst wenn heute nun der hochspezialisierte Jurist des Wirtschafts- und Steuerrechts alles zu durchschauen, alles zu verstehen glaubt und vieles in der Tat auch überblickt - er wird sich stets auf eine letzte Souveränität zurückziehen, in welcher ihm das Recht das Nachrechnen erspart: an einem Punkt, an welchem er anfangen darf, seine Entscheidungen nicht mehr zu begründen, sondern ihnen etwas zu unterstellen. So gewinnt denn der alte Satz seine volle, auch seine ursprüngliche Bedeutung wieder, und er zeigt am Ende dieses Kapitels eines: Im RechnenDürfen liegt gewiss Gestaltungsmacht, jeder Spezialist der Bilanzen weiß es, und jeder Richter erfährt, dass sich eben "so rechnen lässt oder so". Doch all dies ist und bleibt letztlich eine Gestaltung, aus der sich der Richter zurückzieht oder doch zurückhält, und sei sie noch so sehr die Macht der Gegenwart, der Ökonomie. Gerade an ihr geht der Richter deshalb auch vorbei, in rechnerischer Ignoranz, weil er eben auch nicht "rechnet in Macht".

VII. Ein Epilog: Verfassungsrichter doch als Machtträger? In den bisherigen Abschnitten dieses Hauptteils wurde die Machtfrage gestellt und in Ansätzen beantwortet für "den Richter als solchen", in all seinen Ausprägungen, und sie wurde zunehmend verneint. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich schon daraus, dass etwas wie ein grundsätzlich-allgemeines Richterbewusstsein in allen lebt, welche diese Roben tragen, dass es rasch sich entfaltet, werden sie von bisherigen Nicht-Richtern angezogen. So mögen denn die gewonnenen Ergebnisse zum Machtproblem grundsätzlich auch gelten in den Höhen einer Verfassungsgerichtsbarkeit, für welche jedoch,

VII. Ein Epilog: Verfassungsrichter doch als Machtträger?

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seit den ersten Kapiteln dieser Betrachtungen, immer wieder tiefgreifende Besonderheiten festzustellen waren, in der Wirkung ihrer Erkenntnisse und darüber hinaus in den organisatorischen Ausprägungen ihres Status. Daher muss sich hier noch ein Abschnitt anschließen über "Verfassungsrichter als Machtträger"; denn bei dieser Gerichtsbarkeit könnte sich eine weitverbreitete Vorstellung bewahrheiten, welche in ihnen Machtträger sieht; und wenn dies irgendwo zu bejahen wäre, dann für diese Richter. 1. Verfassungsgerichtsbarkeit: Richterliche Machtentscheidung über Recht?

a) Die Verfassungsrichter sprechen ein "Letztes Wort" im dezisionistischen Sinn der Souveränität. Sie verkörpern darin nicht eine Gewalt, sondern "die souveräne". Allein dies schon rückt sie, in erster Betrachtung, wenn nicht schlechthin in die Macht, so doch in deren eindeutige Nähe. Wie sollte "Macht" denn auch anders bestimmt werden, als - wenigstens auch - daraus, dass sie unwiderstehlich wird, dass sich ihr, der doch der Gegner und seine Verdrängung wesentlich ist, wie bereits erkannt, eben niemand mehr, keine Gegengewalt in den Weg stellen darf? Und wenn dies für das verfassungsgerichtliche Urteil jedenfalls in dem Sinn gilt, dass das Recht Veränderung nicht mehr gestattet gegen den Willen der Verfassungsrichter, muss ihnen dann nicht Macht jedenfalls in einem Sinne voll zuerkannt werden, in dem der "Rechtsrnacht"? Nun wurde allerdings der Begriff der Macht nicht auf diesen Bereich verengt, sondern in den der faktischen Wirkungen hinein erweitert, mit einer wohl herrschenden Auffassung. Auch in dieser Betrachtung aber erscheinen die Wirkungen dieser Richtersprüche doch deutlich machtnah, vielleicht geradezu als zentraler Ausdruck der Macht. b) Macht hat "politischen Charakter". Wie immer man die Beziehungen zwischen Recht und Politik im Einzelnen bestimmen mag - was auch nur in einem zentralen Sinne des Wortes "politisch" wirkt, steht nahe bei der Macht. Dies aber muss den Verfassungsgerichten bestätigt werden, jenen Instanzen, die "politisch gewählt" werden, eben damit sie "politisch entscheiden", über "politische Materien". Gerichtsfeme und eben darin machtnahe Wirkungen entfalten doch diese Richtersprüche vor allem darin, dass sie auch in die Zukunft hinein wirken, in der Verendgültigung staatlicher Machtphänomene, in deren rechtsverändernder Kassation oder in jenen Ratschlägen, welche den Raum der Zukunft für andere Verfassungsgewalten abstecken. Dies wurde bereits vertiefend dargestellt; in all dem könnte in der Tat wahre Macht liegen, sogar zu deren paralegislativem Zentrum werden. Hier wäre dann vielleicht gar eine Fonn jenes eigentümlichen Muftis13 Leisner

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mus lebendig, in welchem in Gewaltenkonfusion Gesetzgebung, ja sogar Administrative heute wirkt und eben nun auch die Dritte Gewalt: jedenfalls in Verfassungsgerichtsbarkeit. Und doch hat selbst bisherige Betrachtung der eindeutigen Besonderheit dieser Gerichtsbarkeit immer wieder bewiesen, dass ihre Machtnähe nicht durch Hinweis auf ihren "politischen Charakter" zu begründen ist. Dieser Begriff ist und bleibt ein außerrechtlicher; er lässt sich weder juristisch definieren aus der Form der Bestellung gewisser Organe noch aus der Wirkung ihrer Entscheidungen in einem rechtlichen Verständnis. Es bleibt die alte kelsenianische Erkenntnis: Das Recht endet dort, wo Politik einsetzt, mit der Freiheit ihrer Macht. Auch Verfassungsgerichtsbarkeit lässt sich aus ihrem politischen Charakter als Rechtsgewalt nicht definieren. Dritte Gewalt im Rechtssinn, in dem der Verfassung, stellt die Frage nach ihrer rechtlichen Definition, sie aber ist aus einer wie immer verstandenen Politik heraus nicht zu geben. Dies bedeutet nun gewiss nicht, dass verfassungsrechtliche Entscheidungen politisch ohne Wirksamkeit wären. Es zeigt sich hier ein eigentümlich gespaltenes Verständnis, in dem allein Verfassungsgerichtsbarkeit begriffen werden kann: Soweit sie Gerichtsbarkeit sein will - und in ihrem nahezu freien Ermessen steht dies - kann sie sich stets in die Machtferne der Dritten Gewalt zurückziehen. Soweit sie jedoch deren in den vorstehenden Betrachtungen aufgezeigte Schranken einer Verfassungsgewalt des Rechts überschreiten und politisch in die Politik hinein zu wirken sich vornimmt, gibt ihr das Recht Räume frei, welche sonst nur wahrhaft machttragenden Gewalten, Parlament und Exekutive, eröffnet sind. So ist es denn ihre eigene, unüberprüfbare und, was schwerer wiegt, im Letzten sogar unfeststellbare Entscheidung, aus welcher Motivation heraus diese Verfassungsrichter handeln, und ob sie damit zu Machtträgern werden, in die eine große Staatsrnacht hineinwachsen, wie die Erste und Zweite Gewalt - oder ob sie sich selbst einsperren in Richterliche Gewalt. Ein eigentümliches aber hinzunehmendes Ergebnis: Hier ist etwas wie eine neue Erscheinung entstanden, zwischen Recht und Macht, eine Zwitterinstanz vielleicht, zwischen beiden Welten angesiedelt. Souverän ist sie selbst noch in dem Sinne, dass sie über diese Wirkungen ihres nun wirklich "Ausnahmezustandes", in dem sie sich befindet, selbst entscheidet. Und ein letztes Geheimnis bleibt dies für rechtliche Betrachtungen darin, dass es wohl nicht einmal die Richter selbst immer wissen, woraus und wohin sie sich entschieden haben. Ein Gemenge rechtlich undefinierbarer politischer Macht und rechtsdefinierter Gewalt - das ist diese eigenartige, diese gefährliche und in ihrer Zwitterstellung doch auch wieder schwache Gewalt, vielleicht aus ihrem eigenen Bewusstsein heraus, einem indefinitum und indefinibile.

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2. Verfassungsrichter: nicht die idealen "Machtträger im Recht" Die Richter dieser allerhöchsten Gerichtsbarkeit - denn sie ist eine solche, nicht eine Ebene "außerhalb der Instanzen" - könnten zu einer Macht werden, vielleicht gar zur höchsten im Staat, in welcher sich organisatorisch und funktional zusammenballt, was nicht nur eine Gewalt konstituiert, sondern Macht bringt. Ob diese Richter ihr Machtbewusstsein eben dorthin führt, mag ihr Geheimnis bleiben und das einer faktisch-politischen Entwicklung, die ihnen dafür Gelegenheit bietet - Versuchung. Dennoch sei hier nochmals zusammenfassend dargestellt, was sie hindern könnte, eine solche wahre Via triumphalis zu beschreiten: bereits eine Untriumphalität, wie sie doch ganz wesentlich jedem Urteilenden eigen ist, der eben mehr abwägt als durchbricht. Einige weitere Hindernisse auf diesem Weg mögen hier gewissermaßen topisch nebeneinergestellt werden: a) Rechtsentscheidungen werden auch und gerade von dieser Gerichtsbarkeit erwartet, nicht Machtaussprüche. In eigenartiger Form erwächst ihr, wenn überhaupt, Macht gerade aus dieser rechtlichen Qualität und Wirksamkeit, der sie als einer allgemeinen Erwartung, seitens der anderen Verfassungsgewalten und der Bürgerschaft, ständig zu entsprechen haben. Ihrer Entscheidung kommt eine derart hohe, jeder Berufung entzogene Bedeutung zu, sie muss so sehr aus ihr heraus wirken, dass ihr eben doch nur eines bleibt - die Wirkkraft des Rechts. Außerhalb von dessen Räumen wäre sie nicht vorstellbar - gerade dies aber unterscheidet sie von einer wie immer verstandenen Machtäußerung. Durch ihr inneres Wesen, durch den Inhalt des Urteilsausspruchs, vor allem wenn er Gesetzeswirkung erlangt, wird ein solches Urteils ins Recht eingebunden und damit, sollte er auch als Machtäußerung gewollt sein, doch gewissermaßen jurifiziert, darin aber vielfach begrenzt. Eine derartige Entscheidung aber ist in sich nicht wahrhaft machtträchtig. b) Verfassungsgerichtlichen Erkenntnissen ist es, wie kaum einer anderen Gerichtsentscheidung, eigentümlich, dass sie ihre Wirkung in der freiwilligen, ungezwungenen Befolgung finden, durch andere Staatsorgane, die Betroffenen überhaupt und die Allgemeinheit. In diesem Sinne stehen sie über aller Macht, sie tragen eine solche, wenn sie diese denn ausstrahlen, gewissermaßen in sich selbst, sie wirken rein aus ihrer Autorität heraus. Sogleich würde sich herausstellen, wie schwach diese wenigen Richter politisch, machtmäßig sind, begegneten sie in einem Fall dem Widerstand einer echten Macht; und als sie die Unvorsichtigkeit unpopulärer, emotionale Überzeugungen verletzender Entscheidungen begingen, hat sich dies sogar in der Reaktion der Allgemeinheit bereits gezeigt. Hier verbindet sich in eigentümlicher Weise rechtliche Allmacht mit faktisch-machtmäßiger Schwäche. 13*

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Nun mag man auch diese Autorität in ihren rechtspsychologischen Wirkungen als Machtfaktor anerkennen. Macht im klassischen Verständnis diesen Wortes, einer Universalgeschichte im herkömmlichen Sinn, ist dies aber nicht. Es hält sich gewissermaßen an der Oberfläche der Macht treibend, mehr aus der selbstverständlichen Leichtigkeit seines Erkenntnisinhalts, als aus der Verankerung in den Tiefen der Macht. c) Der Instanzrichter hat im Allgemeinen mit "Macht" wenig zu tun, seine Rechtsprechung läuft an dieser weithin vorbei. Verfassungsgerichtsbarkeit dagegen steht in ständigem Dialog mit deren politisch gewählten und legitimierten Trägem; sie ist mit ihnen konfrontiert, muss ihnen die Stirn bieten. Dieser Dialog mag als Quelle machtförmigen Entscheidens gewertet werden; er kann aber ebenso gut auch gesehen werden in dem, was doch der täglichen Realität noch weit mehr entspricht: als eine Schrankenwirkung des Rechts gegenüber der Macht, welche hier limitiert und korrigiert wird, durch eine rechtlich verfasste Gewalt, durch ein deutliches aliud, nicht wieder durch Macht. Dies dauernde Beschränken als Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit bringt etwas von Vorsicht, ja Ängstlichkeit in diese Rechtsprechungs-Grundstimmung; da ist nichts von jenem vorgehenden Mut des Militärischen, der im Letzten alle Macht begleiten, wenn nicht treiben muss. Wenn diese Richter gewissermaßen doch an Grenzen stehen, zwischen Recht und Macht, dies täglich fühlen und aus diesem Bewusstsein heraus handeln soll daraus dann ein Machtbewusstsein kommen, welches sie zur Grenzüberschreitung antreibt, hin zu den Zentren der Macht oder näher zu ihnen? d) Den Richtern wurde allgemein die Gestaltungsgewalt abgesprochen, jenes deutliche Machtelement vor allem normferner Freiheit. Dies aber gilt, hier ist es ausdrücklich zu betonen, letztlich auch für alle verfassungsgerichtlichen Spruchkörper. Normfrei können sie gerade nicht gestalten, sondern wiederum nur in negativer oder gar auch positiver, bestätigender und beratender Gesetzesform, und all dies auch noch im Namen von höheren Normen der Verfassung. Darin bleibt all ihr Tun eben doch eine Erkenntnis, die ja auch hier, gerade im Falle der Normenkontrolle, nur bereits rechtlich Existierendes aussprechen, nicht etwa Neues hervorbringen will, in ihrer grundsätzlichen Wirkung ex tune. Darin aber zeigt sich nun ein geradezu durchgehendes Gestaltungsdefizit, ein Gestalten, wenn überhaupt, nur aus dem "ganz anderen Geist" des Erkennens. Es fehlt nicht nur jene Initiativgewalt, welche das Neue der Macht hervorbringt, es kommt in der Regel nicht einmal zu Aussprüchen aus einer freien juristischen Phantasie heraus, welche auch im Recht dies Neue hervorbringen könnte. e) Der Gewalt der Verfassungsgerichte fehlt jene Täglichkeit, deren Wirkung aber die Macht charakterisiert, sie als ständige Eingreifgewalt zeigt.

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Diese Richter haben abzuwarten, um dann spät, allzu spät vielleicht, zu entscheiden. Je bedeutender ihre Aussprüche werden sollen, desto später pflegen sie zu ergehen. Kann das wirklich das Wesen einer Macht sein, die sich doch immer auch als laufende Eingreifgewalt verstehen muss? Und hier darf nicht einmal der Vergleich mit einer beherrschenden, im wahren Sinne mächtigen Fleet in being gezogen werden, welche durch ihre Existenz allein auch in feme Häfen Macht ausstrahlt. Von der Verfassungsgerichtsbarkeit geht allenfalls eine gewisse Sorge vor jenem Verfassungsrisiko aus, welches eine ihr oft allzu weit vorauseilende Doktrin unter rechtsuchenden Bürgern verbreiten möchte. Zu fern steht sie und zu nah zugleich jenen Rechtsbeziehungen zwischen Staatsgewalten und Bürger, welche sich zu Machtfakten verdichten könnten: Ihre im Wesentlichen doch negative Gesetzeskorrektur hält sie in Distanz von einem Machteinsatz, der gezielt erscheinen und eben darin machtmäßig wirken könnte. Der entschiedene Einzelfall der Verfassungsbeschwerden beläßt sie, umgekehrt, stets in der notwendigen richterlichen Verbindung zum Einzelfall, ihre machtmäßige Einmaligkeit verfassungsgerichtlicher Entscheidungshöhe verliert sich aber eben darin schnell, allzu rasch für ein machtmäßiges Wirken. Sieht man all dies zusammen, in jener Vielfalt der gewaltprägenden Effekte, welche auf Richter wirken und von ihnen selbst kommen - diese Komplexität hatte ja die Betrachtungen bisher stets begleitet - so kann doch ein Gesamturteil auch über die Verfassungsgerichtsbarkeit wohl nur dahin fallen, dass bei ihr selbst dort, wo gewisse Voraussetzungen für Machteinsatz und Machtbewusstsein gegeben sind, von beidem kaum in einer Systematik die Rede sein kann, welche aber Macht charakterisiert. 3. Verfassung: eine Grundlage für Machtentscheidungen? Einen letzten Zweifel an der Machtfähigkeit der Verfassungsrichter, und zugleich an ihrem Willen zur Macht, begründet ein Blick auf die rechtlichen Grundlagen, auf welche sie all dies stützen müssten: die Verfassungsnormen. Aus sich selbst heraus fehlt ihnen ja die faktisch-machtmäßige Grundlage, wie sie in der Demokratie nur eine direkte Volkswahl verleihen kann, welche auch noch die ja ebenfalls meist "Abgeordneten-Minister" begleitet. Verfassungsrichter bleiben demgegenüber verwiesen auf die Autorität jener höchsten Normen, welche sie sollen "wirken lassen". Schon aus dem Wesen dieser Rechtsgrundlage heraus sind mehr als nur Zweifel begründet, ob diese Rechts-Macht so weit trägt, dass sie als eine solche bezeichnet werden darf. Über die Verfassung wird seit langem viel Rühmendes gesagt, und immer mehr, fast schon ein Zeichen dafür, dass all dies immer weniger überzeugt.

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Ihre an den entscheidenden Punkten der Grundrechte vor allem so weiten, letztlich inhaltslosen Aussagen sind eben doch, jedenfalls in machtmäßiger Wirksamkeit betrachtet, nichts anderes als das, was Verfassungsrichter aus ihnen machen. Damit aber schließt sich ein kurzer Teufelskreis, in welchem sich die Richter an Normen hängen, die nur den Inhalt haben, welchen ihnen ihre Autorität verleiht - ein wahrer Münchhausen-Effekt. Verstärken mag er sich noch lassen in einem ständigen Rückgriff auf frühere Urteile, auf eine Tradition gewissermaßen eines sich selbst aus dem Sumpf machtmäßiger Zweifel Ziehens. Doch auch dahinter verbirgt sich nichts anderes im Letzten, als eine Eigenlegitimation; und sie kann sich nicht einmal berufen auf die technische Perfektion oder die Weisheit eines Gesetzgebers, der in den vielbeschworenen Vätern der Verfassung gewiss keine solonischen Gestalten vorzuweisen hat. b) Woraus sollte also diese normative Macht kommen, vielleicht noch aus einer "Verfassungsidee"? Eine derartige machtschwangere Vorstellung lässt sich als solche kaum finden, schwer nur annehmen. Sie mag aus einem Grundgefühl ruhiger, dauernder Ordnung heraus den Bürgern unterstellt werden und den anderen Verfassungsgewalten, wie ein Baum, dessen Äste nicht absägt, wer auf ihnen sitzt. Vielleicht kann hier sogar die Verbindung zu einer noch allgemeineren, höheren Rechtsidee gezogen werden, welcher demokratische Unbescheidenheit ihre Verfassungsinhalte oft allzu leichthin anzunähern versucht. Doch Verfassungsgerichtsbarkeit muss immer wieder versuchen, machtträchtige Konflikte zu entscheiden im Namen der Verfassung - und soll das nun wirklich gelingen im Rückgriff auf eine Verfassungsidee als solche, gewissermaßen in einem sich Anhalten am Stamm, wenn dessen einzelne Schösslinge, die Verfassungsnormen, zu weich sich biegen? Hier mag die Frage stehen bleiben, sie ist eine solche an den Verfassungsbegriff: Ist er fest genug in Überzeugung erstarrt und zugleich in Begeisterung lebendig, ständig weiterwachsend, dass er all diese Belastungen auszuhalten vermöchte, nie in Altersschwäche abbräche? Und kann eine Idee als solche überhaupt leisten, was ihre Triebe, die höchsten Normen, nicht gewährleisten? c) Immer wieder mögen sich Verfassungsrichter auf steinige Suche nach Blöcken begeben, auf welche sie wenn nicht ihre Macht, so doch ihre Urteile stützen können. Diese eigenartige Rechtssuche wird in vielen Fällen im eigenen Rechtsgewissen enden, in noch zahlreicheren anderen in den Beratungszimmern mit ihren kollegialen Gesprächen. Dass sich im Dialog finden lässt, was der Einzelerkenntnis versagt bleibt - diese Hoffnung mag in der Suche der Wahrheit, des Rechtsrichtigen immer wieder in Erfüllung gehen, trägt sie aber auch zur sicheren Machtgrundlage, aus der heraus Verfassungsgerichtsbarkeit überzeugt und überzeugend wirken könnte?

VIII. Die Richter und die (Macht der) Moral

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In der abweichenden Meinung hat der Gesetzgeber, unter dem Druck des Richtergewissens, hier ein Gegengewicht gesetzt. Doch wo es als solches nicht wirkt, liegt die Problematik einer machtmäßigen Legitimation aus Kollegialität tiefer: Findet die ermüdende, Machtgefühl im Einzelnen aufzehrende Mehrheitssuche im Kollegium dort letztlich mehr als den größten gemeinsamen Nenner der schwächsten Entscheidung? Die große Richterpersönlichkeit, welche Kompetenzen an sich zieht oder reißt, die anderen Urteiler, wenn nicht ihrem beherrschenden Verstand, so doch ihrem stärkeren Willen unterwirft - sind dies alles nicht seltene Sternstunden der Verfassungsgerichtsbarkeit? In diesen Entscheidungen mag sie sich dann sogar wieder einer anderen Kritik zu stellen haben: der eines eigenartigen Muftismus, der in einem Zusammenfallen von über Normen administrativ wirkender und echt richterlicher Gewalt wenigstens in Einzelfällen eine neuartige Gewaltkonzentration hervorbringt, welche man dann auch Mächtigkeit nennen mag. Einzelne solche Wellen mögen Bewegungen hervorbringen, sie sind aber noch keine mächtige Brandung. So bestätigt denn all dies die Ergebnisse dieses Hauptteils zur Machtnähe und zum Machtbewusstsein der Richter: Auch dort, wo die Judikative zur wahrhaft eigen-artigen Gewalt der Verfassungsgerichtsbarkeit funktional wie organisatorisch emporgewachsen ist, mag es zwar ein Mehr geben an Machtmöglichkeiten für Richter, aber es ließe sich wohl kaum zusammensehen zu dem, was die flächendeckend eingreifende, novierende, rechtzeitig zusammenfassend wirkende Macht charakterisiert. Nun bleibt noch nach einem zu fragen, was Richtern immer wieder eigen ist, was sie trägt, was machtwirksam sein könnte - und als Gegenrnacht: Moral.

VIII. Die Richter und die (Macht der) Moral Das Verhältnis von Macht und Moral, in seinen vielfachen Verschlingungen und Gegensätzlichkeiten, kann als solches nicht Gegenstand der vorliegenden Betrachtungen sein. Es lässt sich - wiederum - hier nur in einigen Richtungen beleuchten, gebündelt eben aus der Sicht der Dritten Gewalt. Dass Moral als solche und moralisierende Ausübung der Staatsgewalt im Besonderen machtträchtig sein kann, unterliegt keinem Zweifel. Staatsorgane wie Bürger bemühen ständig diesen Begriff, flüchten aus Gewaltausübung verschiedenster Art in diese Form einer Gegengewalt. Und das Schlagwort des Machiavellismus, wie billig es auch oft abwertend gebraucht werden mag, hat noch immer nicht nur zur Machtkritik getaugt, sondern auch zur Entwicklung einer moralischen Gegen-Mächtigkeit, und geschehe dies auch vorsichtig und verdeckt.

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So müssen sich denn die Richter, wie alle anderen Staatsorgane, und, wie sich zeigen mag, mehr als diese, fragen lassen, wie sie es mit der Moral halten, ob sie dort Macht suchen und finden. 1. Moralisierendes Richtertum

a) Der moralisierende Richter ist kein Normalbefund, aber auch keine Seltenheit, die als solche des Nachweises bedürfte. Immer wieder und überall begegnet er allen anderen Staatsorganen und dem Bürger: im Strafprozess, wo er genau weiß, wie "man", wie der Angeklagte sich hätte verhalten müssen und nicht verhalten hat, im Verfahren einer Arbeitsgerichtsbarkeit, wo er Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Arbeits- und Wirtschaftsmoral ermahnt, in einem zivilgerichtlichen Verfahren, in welchem er nach Treu und Glauben oder den guten Sitten entscheidet, ausdrücklich nur selten, virtuell aber immer - und bis hin zu Verfassungsrichtern, welche Staatsgewalten bescheinigen, was von ihnen im Namen politischer Moral oder des moralischen Kembegriffs der Menschenwürde zu erwarten (gewesen) wäre. Gewiss findet sich, und dies zunehmend, auch das richterliche Gegenbild: der aller Moral gegenüber skeptische, rechtstechnisch oder sozialpädagogisch, oder gar "rein politisch" entscheidende Richter, der alles offen lässt und dahingestellt sein, was Beteiligte und Allgemeinheit von ihm eigentlich erwartet hätten, im Namen ihrer ethischen Überzeugungen. Mit dem allzu viel beklagten "Verlust der Werte", in Wahrheit nur gewisser herkömmlicher Wertvorstellungen, mag sich diese Moralskepsis immer weiter gerade unter den Organen jener Gerichtsbarkeit verbreiten, welche für ihr richterliches Tun hier festere Grundlagen zu finden hofften. Es wäre gewiss vertiefender Untersuchung wert, in welchen Fragen vor allem und in welcher Intensität "Moral" als solche oder in Gemengelagen mit technischnormativen Rechtsvorstellungen wirkt im Bereich der Dritten Gewalt, ob sich dies verstärkt oder abschwächt; und pauschale Hinweise auf Rechtstechnikertum, Wertblindheit und Positivismus können dazu nicht genügen. b) Der Richter tritt hier in zwei Verhaltensweisen auf: in moralischer Prozessführung und moralischen Entscheidungen. Dass häufig etwas wirkt wie "Moral" in allem richterlichen Entscheiden, und sei es auch in immer sorgfältiger versteckten Formen, darüber kann kaum ein Zweifel bestehen, es darf hier insgesamt unterstellt werden: Der Richter wirkt entweder als moralische Erzieherpersönlichkeit, aus eigener, individueller Überzeugung heraus, oder aus von ihm aus seinen oder allgemeinen Erfahrungen geschöpften "allgemeinen Gesellschaftsanschauungen" heraus, etwas wie einer "Gemeinschaftsmoral". Es soll hier und im Folgenden übrigens nicht der Begriff der Ethik verwendet werden, ist er doch allzu sehr, und gerade in juristischem

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Sprachgebrauch, einer Individualethik verpflichtet, welche noch nicht zur "Kollektivethik" geworden ist, während Gesellschaftsmoral ein anerkannter Begriff zu werden scheint. "Richterliche Individual-" oder "Gesellschaftsmoral" sind den Urteilenden meist weder in ihren Besonderheiten bewusst, noch weniger werden sie durchgehend in ausdrücklicher Charakterisierung als solche eingesetzt. Häufig erscheinen moralisierende Wendungen über das, was ein Beschuldigter als "anständiger Mensch" doch wohl hätte wissen und praktizieren können und daher müssen, als eine eigentümliche Art von Abkürzung des Rückgriffs auf eine Gemeinschafts- oder gar nur als eine Gesellschaftsmoral, die "man doch als solche kennt und befolgt", soll nicht "alles zusammenbrechen", jedes "gesittete Zusammenleben aufhören", oder wie sonst derartige Endzeit-Formeln lauten mögen - oder auch gar nicht mehr lauten, weil auch sie als selbstverständlich unterstellt werden. Die Besonderheit des justiziellen Moralisierens liegt wohl gerade darin, dass sich die Richter - und dies heute sogar in zunehmendem Maße - in solchen Ausdrucksformen ihrer Einzelpersönlichkeit zurückhalten, in ihren Moralbewertungen immer noch vorsichtiger werden, schon damit sie nicht in die größte Gefahr geraten, welche sie alle stets bedroht: die des Verdachts der Voreingenommenheit oder gar der Befangenheit. Jener Ersteren können sie doch unschwer entgehen durch einen Hinweis auf eine Gemeinschaftsmoral, in welcher sie sich eins wissen dürfen mit all ihren Richterkollegen; und abgesehen davon, dass dies dann für die Richtigkeit ihrer Moralvorstellungen spricht - sie können ja nicht alle virtuell ablehnbar sein, dies wäre ein Weg in die Rechtsweigerung. Gemeinschafts-, Gesellschaftsmoral - beides wird sich hier kaum unterscheiden lassen - wird vom Richter, in einer soziologisierenden, für Gemeinschaftsbelange allgemein sensibilisierten Zeit, oft gewissermaßen ausgegraben im Prozess und dessen oft erstaunten Beteiligten zum Glauben vorgestellt, zur Verehrung. Dass Richter solches gerne üben, wenn die Gesetze, wie im Strafrecht, ihnen den näheren Entscheidungshinweis schuldig bleiben, ist eine menschliche Selbstverständlichkeit, für den zumal, der unter der Drohung der Rechtsweigerung steht und nicht stets in dubio entscheiden möchte. Sollte er denn immer nur zweifeln und nicht auch einmal wissen - endlich: in Moral? e) Ein gewisses Moralisieren ist aber nicht nur eine Versuchung für alle Urteilenden aus den Notwendigkeiten ihrer Aufgabenerfüllung heraus, es wird ihnen nahegelegt, auch durch ihren Status. Sind sie denn nicht als solche "wahrhaft moralische Persönlichkeiten", können sie es nicht zumindest leicht sein und bleiben, da sie doch in einer Unabhängigkeit stehen, der des "abstrakten Individuums", das in kantianischer Moral handeln darf? Diese Unabhängigkeit muss auf sie geradezu wirken als ein Appell zu individual-

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moralischem Handeln; und sie dürfen sich hier auch, wenn sie denn persönlich doch noch unsicher sein sollten, eine Gesellschaftsmoral zu Hilfe holen, die sie eben ihrerseits erst recht abschirmt gegenüber Pressionen anderer Gewalten, in ihrer Allgemeinheit, Unfassbarkeit - und lege in sie der Richter am Ende auch nur seine eigenen Überzeugungen. Diese sei be Unabhängigkeit, die in ihrer Öffnung zur Moral gewiss näherer Untersuchung bedürfte, schafft eben auch jene Ferne zu anderen Gewalten, zur politischen Macht, aus der heraus der Richter ein Sprachrohr der Gesellschaft werden kann, ein Verkünder von Gemeinschaftsmoral. Was so allgemein geglaubt und praktiziert wird, kann nicht Ausdruck einer Gewalt sein, welche dem Richter seine Unabhängigkeit nehmen, ihn unter einen anderen Willen zwingen könnte. Denn dieser andere Wille ist eben nicht der einer demokratischen Mehrheit, sondern der Gemeinschaft aller Bürger, vielleicht aller Menschen. In dieser Moral transzendiert gewissermaßen die politische Demokratie sich selbst, sie unterwirft ihre Organe des Letzten Wortes nur mehr den ,,vielen", nicht mehr nur den "Mehreren". So wird denn Einsatz der Moral für den Richter aller Ebenen leicht von der Kompetenz zur Pflicht, gerade dann, wenn er Machtferne zur Staatsform ernst nimmt und sich gewissermaßen getragen von dieser selbst hinaufbegibt in die Höhen allgemein menschlicher Überzeugung. Die Staatsform verlangt von ihm nicht, dass er diesen Höhenflug noch im Einzelnen definiere, dem Bürger gewissermaßen die Flügel einer Gesellschaft zeige, mit denen er sich erhebt; es können auch seine eigenen sein, die seiner Persönlichkeit. Und wäre dies nicht wiederum eine Versuchung für den sonst doch allzu normunterworfenen, normgebeugten Richter? 2. Richterliche Individual- und Kollegialmoral So vielfältig wie sich richterliche Gewaltbetrachtung zeigt, so unterschiedlich sind auch die Formen, in welchen dort jeweils Moral zum Einsatz kommt. Und hier kann nur eine recht allgemeine Schematik geboten werden. a) Am deutlichsten, häufig am stärksten überzeugend erreicht Beteiligte und Umstand im Prozess die einzelrichterliche Moral. Hier wird jener unmittelbare menschliche Kontakt wirksam, in welchem noch immer Überzeugung auf andere am Stärksten hat wirken können. Hier zeigt sich dies deutlich, offen mit der Kraft eines Willens, der zu beugen bereit ist im Namen der Moral, wenn er schon nicht von ihr zu überzeugen vermag. Wer dem Strafrichter darin nicht folgt, dass ein moralischer Mensch "eben so nicht reagieren würde in Notwehr", der die möglichen Folgen seiner Tat vorsichtig berücksichtigt und abwägt, auch wenn ihn ein Schlag herausfordert -

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ein solcher Angeklagter setzt seine hier von Rechts wegen nicht relevante Individualmoral direkt der des Richters entgegen. Dieser aber wird eine solche Konfrontation von Individualvorstellungen nicht hinnehmen, sondern wollen, dass der Angeklagte sich seinen Vorstellungen von gesellschaftlichem Verhalten anschließe, wenigstens in einer Zukunft, in der er bereit ist, sich zu bessern. In Reue und Vorsatz, den wesentlichen Stufen der Beichte, führt jedenfalls diese richterliche Individualmoral zum Urteil, zum Freispruch oder zur Verurteilung. Im Moraleinsatz hat ein Bürger den anderen erzogen, gebessert im platonischen Sinn der Paideia, als welche sich seit der Antike jede Gerichtsbarkeit in Reinigung zu verstehen hat. b) Seine Individualmoral mag der Einzelrichter so zum Ausdruck bringen, unmittelbar als eine Kraft des Gewalteinsatzes. Weit komplexer sind schon die Wirkungszusammenhänge von urteilsbegründenden Moralvorstellungen im kollegialen Urteil. Dort begegnet eine Individualmoral möglicherweise, wenn nicht gar in der Regel, ganz anderen, aber gleichgewichtigen Überzeugungen. Dann gilt es, einen einheitlichen Nenner für etwas zu finden, was doch von einer gewissen Unbedingtheit gekennzeichnet, wenn nicht getragen sein sollte, welche den typisch kollegialen Kompromiss auszuschließen scheint. So bleibt wohl in vielen Fällen eine Moral auf der Strecke, welche sich vor einer Gegenmoral resignierend zurückziehen muss - wie diese auch. Am Ende steht das moralfreie Urteil - nicht immer ein Sieg richterlicher Überzeugungskraft. Gewiss mag es der starken und eben darin von Moral geprägten Persönlichkeit gelingen, sich auch in solchen Konstellationen durchzusetzen, sie will ja eine Kraft zum Einsatz bringen, die überzeugen soll, und warum sollte sie es nicht vermögen. Gerade dann werden ja Gespräche geführt, gemeinsame Überlegungen angestellt in einer Dimension, welche nun wirklich das Moralische für sich in Anspruch nehmen kann. Da mag es dann eine Berichterstatter-Moral geben, welcher die Kammer oder der Senat das Urteil überlässt, oder eine Vorsitzenden-Moral, welche schon in der Prozessführung, erst recht dann im Urteil, die eigenen Überzeugungen durchsetzt. Dies alles sind typisch richterliche Vorgänge, Wege zu der einen Wirksamkeit richterlicher Moral. c) Ein besonderes Problem bringt jenes Volksrichtertum für die vorliegende Betrachtung, in welchem Schöffen oder Geschworene gerade auch deshalb mitwirken, weil sie Moralvorstellungen der Bürgerschaft, der Gemeinschaft hier zum Tragen bringen sollen, den Richter also ergänzen oder gar ersetzen in seiner Findungsfunktion eben dieser Kollektivüberzeugungen vom rechten Tun. Hier sind wieder verschlungene Wege der Wirksamkeit solcher Überzeugungen nicht nur vorstellbar, sondern wohl Realität: Zum einen kann sich eben doch die rechtskundige und rechtstechnisch überlegene Richterpersönlichkeit auch derartigen Amateurfunktionen gegenüber durchsetzten; die

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bessere Rechtstechnik überzeugt dann auch von ihrer besseren Moral, im Grunde wird damit allerdings der Sinn der Volksgesetzgebung verfehlt. In anderen Fällen mag wiederum eine Berufsrichtermoral, die zur Überzeugungsschwäche herabgesunken ist, in den "ganz natürlichen" Vorstellungen der Bürger Kräftigung und Bestätigung finden, sodass dann wahrhaft etwas wie Kollektivmoral Prozess und Urteil trägt. In weiteren Fällen schließlich kann auch das eintreten, was eigentlich Hoffnung und Ziel des Volksrichterturns ist: dass Bürgermoral sich durchsetzt, verschärfend oder abschwächend, gegen eine durch lange Erfahrung abgeschliffene, eine rechtstechnisierte Berufsrichterüberzeugung. Entscheidend ist aber, dass es kaum je gelingen wird, im Einzelfall, der durch das Beratungsgeheimnis abgedeckt ist, oder gar in allgemeineren Ergebnissen sichtbar zu machen, welche Moral nun wirklich den Sieg davongetragen, das Gremium insgesamt überzeugt hat. Gerade dies mag ja auch die List der Vernunft eben dieser Institution sein. Behält man nicht Überzeugungen für sich - oder doch im Beratungszimmer? Es ist eine Besonderheit der Richterlichen Gewalt, dass das Verhalten von deren Organen von gewissen, offenbar im Ganzen auch durchaus gewollten Geheimnissen umgeben ist, unter denen das der Beratung ganz obenan steht. Es ist also auch jene Unklarheit hinzunehmen, in welcher sich nie mit voller Gewissheit wird herausfinden lassen, wie sich in Kollegialorganen Moralvorstellungen bilden und durchsetzen. d) Dieses Geheimnis, welches Moralisierungsmotive wie -wirkungen umgibt, ist vor allem darin geradezu undurchdringlich, dass es auch etwas gibt wie ein "stillschweigendes Moralisieren". Dort werden dann keine Ratschläge in Form eines sprachlichen Realis ("man kann doch") aus-, keine bedauernden Verurteilungen im Irrealis ("man hätte doch") angesprochen; die Entscheidung selbst zeigt aber, in ihrem Ausspruch wie ihrer Begründung, was der Richter oder das Kollegium nicht nur "rein rechtlich", sondern auch noch mit einem Unterton moralischer Überzeugung haben beurteilen und verurteilen wollen. Derartige Urteile, in denen die eigentlich zugrunde liegende Moral in rechtliche Formen gekleidet wird, begegnen nicht nur beim Rückgriff auf Treu und Glauben oder gute Sitten, in abkürzenden Formulierungen, welche nur auf diese Generalklauseln hinweisen, nicht aber davon sprechen, was ihre Anwendung denn nun aus moralischen Gründen erforderlich macht oder doch rechtfertigt. Eine nicht "rein rechtstechnische Grundstimmung" mag auch ohne solche Hinweise deutlich zum Ausdruck kommen und auch bereits die Verhandlungsführung prägen, etwa in der Zulassung von Zeugen und anderen Beweismitteln, im Gewicht, welches diesen zuerkannt wird. Zu weit ginge wohl die Unterstellung von etwas wie einer durchgehendstillschweigenden Moral, welche überall "fühlbar" werde, nicht nur im

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Straf-, sondern etwa auch im Miet- oder im Arbeitsrecht. Von einer Grundstimmung aber darf man wohl ausgehen: Die Beteiligten müssen sich überall darauf einstellen, dass der Richter es nicht nur besser weiß, sondern, dass er sich auch als der Bessere fühlt, sobald er die rein rechts technischen Gedankengänge und Beurteilungen hinter sich lässt. Eine gewisse Grundprägung der gesamten richterlichen Tätigkeit durch etwas wie eine auch unausgesprochene Moral wird sich kaum bezweifeln lassen. 3. Moralisierungen nach Instanz-Stufen Die bisherigen Überlegungen dürften wohl grundsätzlich für alle richterlichen Instanzen, für sämtliche Arten der Rechtsprechung gelten, bis hin zum Verfassungs gericht. Es stellt sich aber doch die Frage, ob nicht von einer allgemeineren Erfahrung einer bestimmten Intensitäts- oder Formenabstufung moralisierender Judikatur je nach höherer oder nachgeordneter Instanz auszugehen ist. a) Nahe liegt die Annahme, dass jeweils in erster Instanz eine gewisse allgemeine Tendenz - vielleicht darf man es auch Versuchung nennen - zu verstärktem Einsatz richterlicher Moralvorstellungen besteht. Dies mag schon deshalb gelten, weil gerade Einzelrichter unmittelbare Individualmoral zum Tragen bringen können, Moralisierungen leichter durch sie sich entfalten und deutlicher wirken können als in kollegialem Zusammenspiel. Ein wohl noch bedeutsamerer Zug in diese Richtung mag sich in Eingangsinstanzen daraus ergeben, dass sie in besonderer Weise und oft endgültig mit Tatsachenfeststellungen beschäftigt sind. Moralische Normvorstellungen beeinflussen nicht nur den Verfahrensablauf, in dem so oft bereits die Vorwegnahme des Urteils und seiner Begründung liegt; sie prägen auch inhaltlich eine Tatsachenbewertung, welche aber aus der rein faktischen Ebene in die der rechtswirksamen Subsumtion übergeht. Da erscheint dann eben ein bestimmtes Verhalten schon bei einer noch rein tatsächlich sich gebenden Betrachtung als menschlich anstößig, ja als verwerflich, mit solchen Schlaglichtern wird nicht nur später die Rechtsnorm in ihrer Anwendung auf diesen Tatbestand beleuchtet, sondern bereits dieser selbst. Und da dem Richter hier allenfalls das Verfahren der Sachverhaltsfeststellung vorgegeben ist, nicht aber die inhaltlichen Kategorien der darauffolgenden Ordnung des Tatbestands, welche bereits in die normativen Räume überleitet, bleibt dem Urteiler bei seinen faktischen Feststellungen ein weiterer normverdünnter Raum, in welchem Moralisierungen sich entfalten können, als bei der streng gebundenen Rechtsnormsuche und -anwendung. Moral erscheint dann als etwas wie ein Normbestand aus dem täglichen Leben, in welchem vor allem die Gemeinschafts- oder Gesellschaftsmoral jene Abstraktion vom eben doch letztlich unfassbaren Überzeugungszustand der Vielen erreichen

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kann, welche diese Moralformen für den Richter erst normativ anwendungsfähig macht. Andererseits wirkt aber auch Moral stets wesentlich konkret, Unwerturteile erscheinen gerade im Einzelfall überzeugend und auch dies zeigt sie in einer deutlichen Faktennähe. b) Auf den höheren Stufen der Instanzenpyramide pflegt wohl Moral in mehr zurückhaltender Form in Erscheinung zu treten. Hier muss sie sich ja in kollegialen Formen bilden, welche Überzeugungen abschleift und damit wirkungsschwächer werden lässt. Vor allem aber vollzieht sich hier der Eintritt der richterlichen Beurteilung in einen immer reineren Rechtsbereich. Fehler der Tatsachenbeurteilung mögen auch dabei zu moralischen Urteilen führen, notwendig jedenfalls dort, wo es darum geht, vorrichterliche Befangenheit zu korrigieren. Insgesamt aber sind dann in höherer Instanz eben doch moralisierende Tatbestandsfeststellungen hinzunehmen, wenn sie auch ein rechtstechnisch ausgerichtetes Entscheidungsgremium nicht überzeugen. So verbreitet sich etwas wie eine Irrevisibilität moralischer Wertungen der Vorinstanzen, mag sie auch den höheren Stufen rechtlich nicht vorgegeben sein, lässt sich doch die "moralische Norm", vor allem in ihrem Zusammenspiel mit gesetzlichen Generalklauseln, als auch ihrerseits revisibel verstehen. Dennoch kommt im revisiblen Recht in erster Linie Rechtstechnik zum Ausdruck und damit im Richterspruch auf höherer Instanzebene zum Zuge. Hier mag die erwähnte stillschweigende Moral ihre Bedeutung behalten, sie vielleicht sogar "oben" in verstärktem Maß gewinnen, doch es nimmt die Distanz zum Einzelfall zu, mit ihr aber auch die Vorsicht gegenüber aller Moral, welche sich in ihm gerade noch rechtfertigen mag, in höherer Instanz aber, wo weitergedacht werden muss, zunehmend der Rechtstechnik der Gesetze, allenfalls noch deren "Geist" Platz macht - und Moral ist nicht einfach der "Esprit des Lois". Eine andere Mächtigkeit gewinnt jedoch eine wie immer in Erscheinung tretende Moral in höherer, vor allem in der Revisionsinstanz und auch vor den Schranken der Verfassungs gerichtsbarkeit: Dort dürfen es die Richter wagen, rechtstechnische Wertungen der Ersten Gewalt und auch rechtsgrundsätzliche Beurteilungen der Administrative zu korrigieren, gerade dies wird von ihnen ja erwartet. Zum Einsatz kommen muss dann aber verstärkt ein, wenn auch unausgesprochenes, "Denken in letzten Generalklausel-Wertungen"; aus ihm heraus allein kann es berechtigt erscheinen, eben doch auch einen Gesetzeswortlaut in die "richtige" Richtung zu biegen, und welche andere könnte dies so oft sein als die der Moral? Richterrecht, das diesen Namen im gängigen Verständnis verdient - mag es mit noch so vielen dogmatischen Problemen, wie dargestellt, belastet sein - wird häufig im Letzten zurückgreifen auf Moral und hier dann auch diese als eine übergesetzliche Mächtigkeit zum Tragen bringen. Auf unterer Stufe, etwa vor dem Einzelrichter, mögen die Beteiligten etwas fühlen wie eine moralische

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Macht, welche den Einzelfall beherrscht und entscheidet, sie bleibt in ihm aber eingeschlossen, wächst nicht zu übergreifender Flächendeckung empor. Letztere bleibt auch in ihren Moralisierungen den höheren Instanzen und den Verfassungsrichtern vorbehalten, und hier mag etwas begegnen, wie ein noch zu vertiefendes Problem der Richter-Moralisierung als Richter-Macht.

4. Moralwirkungen nach Rechtsmaterien Nähere Betrachtungen der Ausprägungen Richterlicher Gewalt haben stets von Neuem eine nur schwer zu überblickende und zu ordnende Vielfalt von Einzelerscheinungen sichtbar werden lassen, auch im rechtsdogmatischen Verständnis. Dies wiederholt sich, wiederum in vielfacher Brechung, bei der Betrachtung der "Richter-Moral". So ist diese denn nicht nur stufenmäßig, sondern auch nach Materien durchaus unterschiedlich und auch in abgestufter Intensität wirksam. a) Auf der Hand liegt die besondere Anwendungsintensität moralischer Beurteilungen im Gesamtbereich jenes Strafrechts, welches ständig seine Urteile auf Vorwerfbarkeiten und Verwerflichkeiten stützt. Dies ist vielleicht auch der einzige noch fassbare Grund für die besondere Schwere des Strafurteils für den Betroffenen, dass er hier eindeutig zugleich auch moralisch beurteilt und verurteilt erscheint, nicht nur als ein Bürger, der eben in seinem Verhalten eine andere Rechtsmeinung zum Ausdruck gebracht hat, als die des Richters. Hier zeigt Moral ihren eigentlichen Kern und findet einen durchgehenden Wirkungsraum. Strafrichter, welche einen Angeklagten verurteilen nach dem Gesetz, sich sodann jedoch, in ihrer Begründung, achtungsvoll vor ihm verneigen - das sind wohl romantisierende Reminiszenzen aus einer wahrhaft noblen Gerichtsbarkeit des 19. Jahrhunderts. Ein delitto d'onore mag im Süden Europas noch immer von einer gewissen Gesellschaftsmoral gerechtfertigt werden, mit dem Duell ist es im Übrigen aus den moralischen Wertungen verschwunden. Gegenüber dem Straftäter, der hier zum Sünder wird im vollen Wortsinn, erscheint der Richter nun wirklich als der gute Mensch, als das gute Gewissen einer - durchaus nicht in allem guten Gesellschaft. Gerade der Strafprozess muss deshalb seinen Umstand haben, seine Öffentlichkeit, bis hin zur Hinrichtung auf öffentlichen Plätzen, nicht nur damit die Strafe abschrecke, sondern auch damit sie in ihrer Furchtbarkeit zugleich von der geballten Gemeinschaftsmoral getragen, damit ein solches Richterurteil gewissermaßen von den Vielen mitgetragen werde, in einem letzten Ostrakismus. Das Strafrecht lebt aus der besonderen Bedeutung der Moral; gerade eine humane Strafjustiz darf sich ihre Güte nur leisten, weil ihre moralischen

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Wirkungen schwerer treffen als jene wirtschaftlichen Konsequenzen, die jedes Zivilurteil leicht zu übertreffen vermag. b) Einem verbreiteten Irrtum entspräche es jedoch, wollte man moralische Wirkungen auf das Strafrecht in rechtsdogmatischem Sinn beschränken. In nicht wenigen und zunehmend bedeutenden Rechtsbereichen sind Auswirkungen auf Prozessbeteiligte, auf Betroffene eine tägliche Realität, welche nicht nur in ihrer individuell und gesellschaftlich fühlbaren Schwere, sondern auch mit der typischen Wirkung eines strafrechtsähnlichen Verwerflichkeitsurteils in Erscheinung treten. Hier mag der Hinweis auf ein Familienrecht oben anstehen, das zwar in der Abschwächung des scheidungsrechtlichen Schuldprinzips sich entmoralisierend bewegt zu haben scheint, allerdings noch immer viel vom früheren Verschuldensvorwurf den Partnern entgegenhalten lässt. In den Bewältigungsversuchen von Scheidungen, bis hin ganz allgemein zu schweren, täglichen Problemen des Kindschaftsrechts und der Kindererziehung sind es durchaus nicht nur moralferne wirtschaftliche Erwägungen, welche Richter leiten; der Familienrichter ist nach wie vor laufend eine bedeutsame Moralisierungsinstanz in der Gemeinschaft. Was er entscheidet, wird von vielen Betroffenen schwerer ertragen als manche Strafe. Neue Fronten möglicher, ja notwendiger Moralisierungen eröffnen sich im Gesamtbereich des Rechts der Beschäftigung, vom Disziplinarrecht der Beamten bis hin zu Kündigungsproblemen im Arbeitsrecht. Auch dort wird ständig nach strafrechtsähnlicher, nur zu oft strafrechtsgleicher Verantwortlichkeit gefragt und über sie geurteilt, und es werden auch laufend moralisch härter treffende Urteile gefällt als etwa durch einen Verkehrsrichter, der meist nicht mehr vorzuwerfen hat, als dass der Angeklagte "hätte aufmerksamer sein sollen". Beschäftigungsrecht ist die modeme Moralisierungsebene der Sozialreaktion, hier werden nicht selten sogar "lebenslängliche Urteile" gesprochen. c) In ihren Wirkungen strafrechtsähnlich und in ihren Begründungen deutlich moral getragen zeigt sich jedoch rechtsprechende Tätigkeit, in vielfacher Abstufung, auch in anderen Rechtsbereichen. Da ist jenes Wohnungseigentums- und Mietrecht, in dem es um Zumutbarkeiten zu gehen scheint, in Wahrheit um Vorwerfbarkeit geht. Da ist ein ziviles Nachbarrecht, welches nur zu oft das menschliche Gesamtverhalten der Streitteile zu beurteilen hat. Und da sind schließlich die weiten Bereiche eines strafrechtsnahen, häufig das Strafrecht ergänzenden Zivilrechts, in denen zwar nicht Schuld, wohl aber ein Verschulden zu beurteilen ist - eine Unterscheidung, die sich bereits im täglichen juristischen Sprachgebrauch immer mehr verwischt. Ein zivilrechtlicher Amtshaftungsprozess, mit seinen oft schwerwiegenden Folgen disziplinar-, haftungs-, ja amtsdeliktrechtlicher Art, ist doch nur zu oft lediglich ein erster Akt in einem größeren, ins

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Strafrecht mündenden "Strafrechts-Nachverfahren", und damit auf moralische Wertungen regelmäßig aufgebaut. Dasselbe gilt für ein gesellschaftsrechtliches Gerichtsverfahren, mit vergleichbaren Konsequenzen und Wertungen. Von dort öffnen sich dann viele Wege in ein Berufsrecht, welches nach Überlegungen angewendet wird, ob ein bestimmtes Verhalten den Anschauungen und Sitten des Berufsstandes entspreche, ja in ein Handelsrecht, in welchem der ehrbare Kaufmann einen stillen, aber sicheren Platz hat. Um nicht zu vergessen jenen Großbereich des Steuerrechts, in welchem gerade der Richter versuchen soll, das gesellschaftlich noch immer so betrachtete "Kavaliersdelikt" nun endlich doch in eine gemeine Straftat zu verwandeln. In fast allen diesen Bereichen, bis tief hinein in ein öffentliches Recht, welches über "persönliche Zuverlässigkeiten" zu befinden hat, mag der Gesetzgeber Distanz halten zu moralisierenden Aussprüchen, die Verwaltung nur auf ihre Gestaltungsmacht sehen und ihre Moneten - der Richter entscheidet am Ende auch als moralische Gewalt. d) Nicht vergessen werden dürfen schließlich alle jene Rechtsmaterien, bis hinein ins Zivilrecht, mit seinen klassischen Auseinandersetzungen um wirtschaftlichen Austausch, und bis ins Sozialrecht, in denen es primär sicher um wirtschaftliche Gewichte geht und deren Verschiebung. Doch dahinter steht eben auch und zunehmend ein Urteilseffekt, der geradezu als wirtschaftliche Strafe empfunden wird. Den Kaufmann, den Unternehmer trifft es härter, wenn ihm ein Zivilgericht mit seiner Entscheidung eine existenzwichtige Geschäftsbeziehung zerstört, als wenn er ein Untreueoder Unzuverlässigkeitsurteil von Straf- oder Verwaltungsrichtern hinzunehmen hätte, von dem ohnehin kaum jemand etwas erfährt, der für ihn von Belang sein wird. Hier wird dann der Richter regelmäßig aus den ihm ja täglich nahen, von der Gesetzgebung immer noch näher gebrachten Vorstellungen vom Schwächeren schutz heraus entscheiden, er muss Existenzbedrohung beurteilen, wenn möglich abwenden - und wie sollte all dies gerecht beurteilt werden, ohne dass auch hier moralische Wertungen einfließen, und sei es auch nur die gängige, "eine Partei habe sich all dies eben selbst zuzuschreiben", sie habe es, wenn nicht verschuldet, so doch zu vertreten. Die verbreiteten Versuche, in dieser Vertretbarkeit, in einer noch weiter objektivierenden Sphärentheorie, solches Beurteilen, und im Ergebnis eben doch auch Verwerfen, zu entmoralisieren, scheitern in der Praxis nicht nur an den Auswirkungen der Gerichtsurteile, welche nicht wegzudiskutieren sind, sondern auch an einer inneren Überzeugung von Richtern, welche sich hier nicht selten als Vernichter fühlen müssen. So ist denn das Gesamtfazit dieser Betrachtungen ebenso - eben wieder einmal im Bereich der Dritten Gewalt - komplex wie insgesamt doch bewertbar: Entmoralisierte Bereiche der Gerichtsbarkeit gibt es nicht, stets bleibt sie aufgerufen - oder auch gegen ihren rechtstechnisch sich abschir14 Leisner

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menden Willen dazu verurteilt - aus jener persönlichen Überzeugung heraus zu entscheiden, welche man eben Moral zu nennen pflegt. Dies ist also eine geradezu flächendeckende Erscheinung, aber es bleibt fraglich, ob sie zu einer Macht hinaufwächst, welche eine gewisse Einheitlichkeit aufweist, ja ob sie in solcher Betrachtung wenigstens eine Gewalt im Verfassungssinne zu konstituieren vermag. Denn hier wirken die Richter in einer wahrhaft unendlichen Vielfalt, hier lassen sich Motivation, Ausdrucksformen und Wirkungen in einer Rechtsdogmatik kaum auch nur annähernd erfassen. Fest steht nur, dass es sie gibt - überall. Dann aber ist der Richter eben so sicher eine moralische Instanz, wie es zweifelhaft bleibt, ob er eine moralische Macht sein kann, und ob sich dies sogar noch in einem einigermaßen einheitlichen moralisch geprägten Machtbewusstein niederschlagen könnte. Wie schon bisher: Die Zweifel überwiegen und sie werden sich nicht durch ein Mehr oder Weniger an Strafgerichtsbarkeit auflösen lassen, denn eines hat sich auch klar ergeben: nicht dort allein liegt Richtermoral.

5. Der Richter und die politisierte Moral Hier kann es nicht darum gehen, den Gesamtbereich der Beziehungen von Politik und Moral in den Blick zu nehmen, auch nicht alle Phänomene dessen, was man eine "politisierte Moral" nennen könnte. Um den Richter geht es, im Angesicht dieser Politisierungstendenzen, darum, ob gerade diese Instanz, welche sich mit ihnen auseinander zu setzen hat, sie ganz wesentlich weiter tragen könnte, sich ihnen vielleicht sogar in den Weg zu stellen bereit ist und in der Lage. a) Auf das Rechtsphänomen der "politisierten Moral" sei aber trotz gebotener Kürze allgemein hingewiesen. In dieser Zusammensetzung hat es die Erscheinung wohl stets gegeben, seit ihre bei den Begriffe ins Bewusstsein des rechtlichen Denkens getreten sind. Immer wieder hat man der Macht den Vorwurf gemacht, sie versuche nichts anderes einzusetzen als eben politisierte Moral, von der religiösen Ethik bis zur "bürgerlichen Moral" des 19. Jahrhunderts. Immer waren es auch die Richter, denen zuallererst dieser Vorwurf galt. Die Gesetze und ihr Geist gerade sollten sie aus dieser Versuchung herausführen. Doch nun scheint es, als ob gerade diese selben Normen, und auf allen Ebenen, immer weitere Politisierungen bewirken, an die Stelle der angeblich oder wirklich verlorenen "Werte" der Vergangenheit nun die Werte demokratisierter Politik setzen. Die Verfassung selbst beginnt mit den moralisierenden Formeln ihrer Präambeln, die gerade unter diesem Gesichtspunkt vertiefender Untersuchung bedürfen. Jene Verfassungstreue, welche vom beamteten Lehrer und For-

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scher verlangt wird, in Beschränkung seiner Wissenschaftsfreiheit, kann doch nur moralisierend gedeutet und sinnerfüllt werden, als ein Appell, sich in moralischer Überzeugung hinter politische Werte zu stellen. Die "volle Hingabe", in derselben Verfassung als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtenturns konstitutionalisiert, verbindet in gleicher Weise rechtliche und moralische Verpflichtungen auf politische Wertigkeiten, wie sie die Staatsform vorgibt und die Verfassung. Wenn schließlich die Generalklauseln des Bürgerlichen Rechts nach einer wenig durchdachten Rechtsprechung der Verfassungsgerichte "sinnerfüllt" werden sollen aus den Grundrechten, einschließlich deren eindeutig politischen Wertungen und Entscheidungen, so fließt deren höchstrangiger Rechtsbefehl geradezu ein in deutlich moralisch geprägte Begrifflichkeiten: Gute Sitten, Treu und Glauben. Diese Beispiele allein schon belegen, in welcher erstaunlichen, kaum je zusammenfassend betrachteten Weise etwas im Lauf ist, nach dem Wort des Gesetzgebers, wie eine Politisierung der Moral. Der Rechtsstaat hat das Recht nicht entmoralisiert, sondern die Moral politisiert. Dem kann sich eine Gerichtsbarkeit nicht entziehen, welche über Verfassungstreue und volle Hingabe laufend zu entscheiden hat, die Generalklausein anwenden muss, auch wenn sie zu trojanischen Pferden der Grundrechte werden. b) Derartige Tendenzen verstärken sich ersichtlich in letzter Zeit, in Judikaturen der Instanzgerichte ebenso wie, und vor allem, in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Ihr insbesondere wird verdankt, dass die Rechtsordnung mit Begriffsgeschenken wie etwa einer "Solidarität" oder einer "Humanität", welche strengen Strafen und deren harten Vollzug mildert, allen unmoralischen Härten der Gesellschaft die letzte Strenge nimmt. Sind dies nicht und anderes könnte unschwer hinzugefügt werden - Begrifflichkeiten, welche von jeher moralisch aufgeladen waren, wenn nicht geradezu sinnerfüllt, dringt in sie nun nicht auch noch verfassungsrechtliches Grundentscheiden ein, das eindeutig auf politische Finalitäten bezogen ist, auf die Rechtfertigung zentraler politischer Entscheidungen, wie etwa der gegenseitigen sozialen Sicherung? Die Verfassungsrichter mögen Begriffe wie "Anstand" oder "Sitte" nicht ständig im Munde führen, wenn sie politische Entscheidungen treffen; doch schon die Steuergerichtsbarkeit arbeitet mit bemerkenswerter Leichtigkeit mit jenem Begriff von "Treu und Glauben", in den sie doch immer wieder finanzpolitische Wertungen einfließen lässt, und sei es diesmal auch vor allem zum Schutze des Bürgers, nicht zur Legitimation einer ihn einschränkenden politischen Macht. Sicher ist, dass allgemeine, moralträchtige Rechtsbegrifflichkeit, ihrerseits durch politische Wertungen der Gegenwart aufgeladen, häufig überhaupt erst rechtlich anwendbar wird. Darin vollzieht sich eine Politisierung 14'

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der Moral, welche hier immer noch als eine solche auftritt, und dies geschieht gerade im Wirken jener Gerichtsbarkeit, von welcher doch zu erwarten gewesen wäre, dass sie im Namen einer entpolitisierten Moral der Politik zu widerstehen bereit ist. Wie aber könnte sie dies, wenn sich etwas entfaltet und bereits Wirklichkeit ist wie eine "politische Moral", wie immer man dies im Einzelnen beurteilen mag? c) Noch weitere Dimensionen gewinnt diese Entwicklung, und wiederum in einer primär justiziellen Form, bezieht man "Begrifflichkeiten in fieri" ein, die ihrerseits deutlich politisch geprägt sind, sich jedoch auch als gewisse Vorstufen einer Moral darstellen, welche auch darin zu einer politischen werden könnte. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang wenig klare, aber doch zunehmend auch in Urteilen begegnende Begriffe wie die eines "korrekten" oder eines "fairen" Verhaltens oder rechtlichen Verfahrens. Im allgemeinen Sprachgebrauch mögen dies zunächst nur beschreibende, in ihrer fehlenden Präzision wenig wirksame Worte sein. Hinter ihnen stehen jedoch, aus angelsächsischem Staatsdenken importiert, bereits weit präzisere und eindeutig ebenfalls politisch geprägte, zugleich aber auch mit Moralvorstellungen aufgeladene oder belastete Begrifflichkeiten: Fairness, Correctness. Was immer hier Gerichtsbarkeit morgen in verstärktem Maße umsetzen wird in Einzelfallentscheidungen oder in letzte, allgemeine Korrekturen übertechnisierter Gesetzgebung - sicher sind es politische Wertungen, welche damit einen Krypto-Einzug halten, gerade in "rechtstechnische" Ausprägungen der Rechtsordnung. Sollte es dann gelingen, den Begriff der Rechtskultur näher zu verdeutlichen, was vor allem Aufgabe aber auch Versuchung der Verfassungsgerichtsbarkeit wäre, ihn in ähnlicher Weise zumindest grenzkorrigiert auch in politicis einzusetzen, dort ja vor allem, so wäre der Politik wiederum eine kaum begrenzbare Einbruchstelle eröffnet in den Raum einer Moral, ohne welche doch eine wie immer definierte "Kultur", gerade im Rechtssinn, nicht vorstellbar ist. d) Mit einer gewissen Leichtigkeit haben Richter aller Instanzen das Wort und vor allem auch den Begriffsinhalt dessen aufgenommen, was heute in gängiger Diskussion, in verbreiteter Überzeugung als Unrechts staat bezeichnet und gebrandmarkt wird. In diesem Wort liegt mit Sicherheit eine moralische Wertung, vielleicht rechtfertigt sich der Begriff überhaupt nur aus einer solchen. Denn gemeint ist ja nicht nur, nicht einmal primär ein Abfall von grundsätzlichen Rechtsvorstellungen, eine Perversion von Recht in Rechtstechnik; hier soll doch ein Verwerflichkeitsurteil über ganze Ordnungen gesprochen werden, damit dann übrigens auch sogleich strafrechtliche Verwerflichkeitsurteile im Einzelfall folgen können. Der Unrechts staat

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ist also gewissennaßen der negative Prototyp einer Moral, wenn sie irgend etwas verurteilt, so muss moralische Abscheu ihm gelten. Kaum jemand wagt es, und am wenigstens Juristen, diesen Begriff des Unrechts staates einmal zu hinterfragen, auf seine konstituierenden Begriffsinhalte hin, auf seine Abgrenzungen - und gerade dies hat wiederum einen politisch-moralischen Sinn: Wer dies auch nur versucht, hier vielleicht zu einem differenzierten Urteil gelangen könnte, stellt sich selbst ins Abseits, nicht nur gesitteter Rechtlichkeit, sondern der moralischen Anständigkeit schlechthin. Eigentlich hätte man erwarten und es hätte vielleicht selbstverständlich sein sollen, dass dieser Begriff allein mit dem Inhalt gebraucht wird, dass er das staatlich organisierte Verbrechen, Mord und Totschlag, Verfolgung und Ächtung als gemeine Straftaten auch der moralischen Verurteilung preisgibt und diese rechtlich sanktioniert. Dies hätte genügt, leider aber ist nicht einmal das durchgehend geschehen, noch weniger ist versucht worden, daraus Folgerungen für ähnliche Ansätze in der Zukunft zu entwickeln. Und an all dem sind Richter gewiss nicht unschuldig. Gefahr droht aber nicht so sehr aus einer späten "Reaktivierung des Unrechtsstaates", sondern aus dem allzu leichten Gebrauch des Begriffes als solchen. Hier könnte die Versuchung größer werden, am Ende einen ganzen Kanon von Grundsätzen aufzustellen, was in einem Lehrbuch oder gar einem Gesetzbuch der "politischen Moral" seine "Vollendung" fände. Damit würde eine Art von Totalrezeption der Politik in die Moral und beider zusammen ins Recht erfolgen. In ihrem Namen wären dann die Verfassungsrichter aufgerufen, politische Moral als Maßstab der Gesetze ständig zu praktizieren und immer noch spektakulärer zu verkünden. Dass dies enden könnte in "Judikatur aus der Vergangenheit" wäre noch nicht das Bedenklichste. Ein Codex politischer Moral, judiziert von unabhängigen Richtern dies wäre nicht nur unbegrenzbare Macht, es wäre verwerfliche Moral. 6. Gesetzgeberisches, administratives und richterliches Moralisieren Eine Betrachtung der Dritten Gewalt ist eine Antwort auf die Frage schuldig, ob jenes Moralisieren, welches in diesen Kapiteln als eine laufende richterliche Praxis beschrieben werden konnte, gerade diese Gewalt charakterisiert, im Gegensatz zu anderen, ob sich daraus auch Ansätze einer näheren Präzisierung der Gewaltenteilung entwickeln könnten. Hier zeigen sich in der Tat nicht unerhebliche Unterschiede zwischen den drei herkömmlich so bezeichneten Verfassungsgewalten: a) Abgeordneten und Parlamenten kann man wohl nicht vorhalten, sie hätten einen spezifischen Zug zu moralisierendem Verhalten und vor allem Entscheiden. Eher ließe sich das Gegenteil behaupten. In dem doch typi-

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schen Fluten von Rede und Gegenrede, im politischen Opportunismus, in der Aufgabe oder geradezu im Verrat politischer und auch persönlicher Überzeugungen liegt unzweifelhaft eine Dynamik, welche der stillen Überzeugungskraft einer wie immer bestimmten Moral nicht entsprechen kann. Man wird den Akteuren dieser Gewalt sogar nicht selten vorwerfen, gerade sie verletzten, in ihrem parteipolitisch geprägten Verhalten, selbst die elementarsten Regeln menschlicher Anständigkeit und Sitte; und Parteienverdrossenheit, Parlamentskrisen haben auch diesen, damit aber einen eindeutig negativen moralischen Hintergrund. Parlamentarisches Wirken in seinen Kernbereichen der Gesetzgebung distanziert sich denn auch in aller Regel deutlich von moralischen Wertungen, überlässt diese der Rechtsanwendung, vor allem der Richterlichen Gewalt. In dieser deutlichen Moral-Abstinenz mag sich sogar etwas zeigen wie Umrisse einer "moralfreien Politik", die eben dann auch moralischen Vorwürfen entgeht im Hinblick auf jene politischen Gegenstände, mit welchen sie sich beschäftigt. Abgeordnete Volksvertreter und Richter mögen sich in vielem unterscheiden; nirgends aber wohl deutlicher darin, wo das Richterturn beginnt, dort hört Volksvertretung auf. Dies ist denn auch der tiefstgreifende Vorwurf gegen die Untersuchungsausschüsse der Parlamente: dass sie diejenigen zu Richtern machen, welche am weitesten von der Mentalität dieser Urteilenden entfernt sein müssen, damit sie eben ihre Aufgaben der politischen Volksvertretung demokratisch gestaltend erfüllen können. Das Wort vom Bock und vom Gärtner mag hart sein, ist es aber nicht wenigstens hier im Staatsrecht erlaubt? b) Ein Bild von nicht vergleichbarer Deutlichkeit zeigt sich einem Blick auf die Vertreter der Zweiten Gewalt, auf die Verwaltung vor allem. Hier ist eine gewisse Richternähe bereits bei der funktionalen Betrachtung deutlich geworden. Übergänge finden hier statt, zwischen Organen der Zweiten und Dritten Gewalt, in der Tätigkeit von bestimmten unabhängigen Staatsorganen, von Experten und Prüfern, aus typischen Verhaltensweisen. Auf diese Feststellungen im Teil B sei hier verwiesen. Konzentriert man nun aber die Betrachtung auf das moralisierende Verhalten, wie es eben doch Richtern aller Sparten und Ebenen letztlich gemeinsam ist, zeigen sich wieder entscheidende Unterschiede zur Exekutive, und dies aus den Grundprinzipien, AufgabensteIlungen und Tätigkeiten derselben heraus. Beispiele klären dies rascher als dogmatische Vertiefungsversuche: Eine Steuerverwaltung soll nicht versuchen, in Steuermoral zu handeln, Bürger zu dieser zu führen; gerade dies überlässt sie den Richtern; die gesamten Gestaltungsverwaltungen des Staates haben es mit Problemen der Wirt-

VIII. Die Richter und die (Macht der) Moral

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schaftlichkeit zu tun, nicht der Moral. Militär wird als Macht verwaltet, nicht als moralische Anstalt, und hier verlieren auch entsprechende Versuche der Rechtfertigung der allgemeinen Wehrpflicht im Sinne einer "Schule der Nation" ihre Überzeugungskraft. Staatlich organisierter Unterricht trägt sicher auch vieles von staatlich vermittelter Moral in sich. Doch soweit er Gegenstand öffentlichen Verwaltens ist, geht es darum doch nur am Rande; eine moralisierende Schulverwaltung wäre ein Zerrbild im freiheitlichen Staat. Alles Verwalten in technischen Bereichen schließlich, welches in seiner Bedeutung ja ständig zunimmt, vollzieht sich, bis hinein in Gesundheitsdienste, primär ohne Versuche, Entscheidungen moralisierend zu begründen. Wo immer im Bereich der Zweiten Gewalt Probleme moralischen Inhalts auftauchen, ist es regelmäßig eben der Richter, welcher hier das weiterführende und auch das endgültige Wort spricht: im Gesamtbereich des Personalwesens, bei Disziplinierungen und vergleichbaren Entscheidungen, im Schulbereich und in dem der Wissenschaft und eben bis ins Steuerrecht, in die Gewerbeüberwachung zuverlässigen Bürgerverhaltens. In all diesen Bereichen hält sich die Verwaltung als solche herkömmlich und weitgehend zurück; das moralisierende Wort erwartet sie vom Richter. Wer immer ihre Ausrichtung auf Effizienz, auf Wirtschaftlichkeit, auf modem erscheinende Kreativität hervorhebt, hat damit Begriffe angesprochen, welche weit entfernt sind von Sitte und Anstand, von Vorwerfbarkeit im Sinne der Moral. Und nicht zuletzt ist diese Zweite Gewalt eben doch wesentlich jener Ersten unterworfen, ja ausgeliefert, deren Gesetze sie überall binden, aus der ihre Spitze politische Orientierungen empfängt. Diese Parlamentsgewalt ist aber in ihrer Moralfeme bereits deutlich geworden. c) Nun gibt es allerdings Phänomene neuerer Moralisierungsversuche auch und gerade im Bereich der Exekutive: Regierungen versammeln Ethikkommissionen, selbst Hochschulverwaltungen stellen sich derartige Aufgaben. Insgesamt handelt es sich aber doch um marginale und um eher fragwürdige Veranstaltungen. Sie gehen nicht über die Bedeutung dessen hinaus, was auch gelegentlich im Parlament über entsprechende Fragen und mit ähnlichem Brustton der Überzeugung verhandelt wird - und mit vergleichbar geringer moralischer Überzeugungskraft und politischer Wirkung. Diese Phänomene sind wohl im vorliegenden Zusammenhang zu vernachlässigen; jedenfalls wird kaum ein Richter solche Entscheidungen als seine Vorgaben auf Dauer gelten lassen. Fasst man nun diese Überlegungen zusammen, mit Blick auf Besonderheiten gerade judikativen Moralisierens, so ergibt sich doch ein großer, vielleicht ein entscheidender Abstand zwischen dem, was Richter laufend praktizieren, stillschweigend oder ausdrücklich, und der Moralfeme der anderen Staatsgewalten. Unter diesem Gesichtspunkt könnte sich als mög-

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D. Gerichtsbarkeit als Machtausübung - Richter und Macht

licher Weg anbieten, zumindest die Dritte Gewalt als eine besondere zu erweisen, weil sie sich in ihrem moralisierenden Verhalten von allen anderen Organen der Öffentlichen Gewalt unterscheidet. Gerade dies würde jedoch voraussetzen, dass sich aus diesem Moralisieren eben etwas zusammenschließen könnte wie eine machtwirksame Staatsgewalt. Dies aber stellt nun die nächste und die entscheidende Frage, in Zusammenfassung des bisher Überlegten.

7. Moral als (Richter-)Macht? a) Dass die Gerichtsbarkeit rechtswirkliche Rechtsmacht von hinreichendem Gewicht im Sinne einer "Verfassungsgewalt" entfalten kann - dafür spricht einiges, gerade wenn man den Einsatz der Moral als Richter-Macht betrachtet. Dass sich ein Anruf der Moral nach überkommener Lehre vor allem an das innere Verhalten der Menschen richten soll, während das Recht nur die äußere Seite anspricht, ist an sich schon problematisch und schließt "Moral als Rechtsmacht" nicht aus. Die Wirkungen judikativen Moralisierens sind, typisch und geradezu formalisiert, solche des Rechts, das äußere Verhalten eines Straftäters wird durch seine innere Einstellung gesteuert und soll sich in Zukunft, aufgrund des moralisierenden Strafurteils, "von innen nach außen" ändern. Moral, auf welche Weise und auf welcher gerichtlichen Stufe immer ins Spiel gebracht, ist als solche inappellabel; Berufung oder gar Revisionsinstanzen werden kaum je, jedenfalls nicht offen, moralische Wertungen nachgeordneter Richter korrigieren. Verbessert wird dort Rechtsanwendung, lediglich eingehüllt in solche Überlegungen mag es dann auch zu abweichenden moralischen Wertungen und Urteilsüberprüfungen kommen. Auch insoweit wird hier Moral als typische Rechts-Gewalt, Norm-Gewalt eingesetzt. Dem Recht beugt sich der Bürger nur zu oft mit Widerstreben, ja zähneknirschend. Gegen seine Lösungen geht er selbst häufig überzeugt an, mobilisiert dagegen Verbände, Parteien, den Gesetzgeber und Verwaltung. Mora1einsatz beugt ihn sogleich: In aller Regel wird er es nicht wagen, dem moralisierenden Richter eine eigene Moral entgegenzusetzen, noch weniger, gegen sie andere politische Gewalten zu mobilisieren. Ist dies also nicht doch eine echte und eigenständige "Gewalt", welche hier zum Einsatz kommt, gerade darin typisch, dass sie der politischen Macht nicht bedarf? b) Dennoch spricht mehr gegen als für die Möglichkeit, daraus eine "Gewalt" im Verfassungssinne zusammenzuschließen: - Moralisierungen erfolgen, wie dargelegt, disparat, unsystematisch, in unterschiedlicher Intensität auf den verschiedenen Rechtsgebieten. Formen,

VIII. Die Richter und die (Macht der) Moral

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in welchen diese "Gewalt" gegen den Bürger vordringt, unter dem rechtlichen Gewand der Gerichtsbarkeit, sind überaus vielfältig und keineswegs "flächendeckend notwendig", nur zu oft geradezu zufällig. Dies also mag eine Gewalt charakterisieren, es konstituiert sie nicht. - Eine einheitliche höchste Instanz, welche gerade für diese Moral und über sie das Letzte Wort spräche, im Sinne eines päpstlichen-kirchlichen Lehramtes, kennt die Judikative nicht, trotz ihrer vielfachen Instanzenzügen. Auch die Verfassungsgerichtsbarkeit hat eine solche Rolle nie übernehmen wollen, es könnte so auch allenfalls Verfassungs-Moral in begrenzten Bereichen zum Einsatz gelangen. - Der starke und durchgehende Rechtsbezug der richterlichen Entscheidungen drängt moralisierende Rechtsprechung immer wieder und schwer übersehbar zurück. Eingehender Untersuchung bedürfte es, ob insgesamt, oder wenigstens materienspezifisch, verstärkte Moralisierung feststellbar ist, oder umgekehrt ein zunehmender Rückzug der Richter hinter sich verstärkende Rechtstechnik. Nicht wenige Anzeichen sprechen für Letzteres, ja sogar für ein richterliches Verhalten, welches rechtliche Begründungen sogar als eine gewisse Form der Entschuldigung erscheinen lässt, "dass nicht aus Moral entschieden werden konnte". So fragt es sich denn, ob sich der Richter nicht mit seinem Recht für seine spärliche Moral gar noch entschuldigt. - Gerade die rechtlichen Wirkungen einer wie immer verstandenen Moral nehmen ohne Zweifel, im Zuge des vielbeklagten Werteverlustes, laufend ab. Nach allgemeiner Überzeugung soll Moral eben, vor allem in den letzten beiden Jahrhunderten, eine weithin klassen-spezifische Ausformung erfahren haben, etwa im Sinne der viel kritisierten "bürgerlichen Moral", darin wurde sie relativiert, bestreitbar. Nun vergeht sie in der Tat in vielen Ausprägungen mit jenen Schichten, welche sie hervorgebracht oder doch getragen haben. Richter, welche diesem Bürgertum nicht mehr angehören (wollen), kennen sie nicht oder bringen sie nicht zum Tragen. Damit schwächt sich ihre schichtenspezifische Geschlossenheit ab, in diesem Zuge auch ihre Rechtswirksamkeit, welche für die Annahme einer Verfassungsgewalt entscheidend ist. Überdies droht diese Moral materienspezifisch zu zerfallen, etwa in eine "Steuermoral" oder eine "Arbeitsmoral", in ganz unterschiedliche Ausprägungen einer nicht mehr einheitlichen "Wirtschaftsmoral". Abgesehen davon, dass der Bürger zunehmend seinerseits der Staatsgewalt die eigenen Moralvorstellungen entgegenhält, auch einem Richter, dessen Ermahnungen er vielleicht hinnehmen muss, von denen er sich aber nicht überzeugen lässt: Moralskepsis und Moralwiderstand werden insgesamt immer stärker in der Gesellschaft und auch im Bereich der Staatsorgane und Staatsdiener.

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D. Gerichtsbarkeit als Machtausübung - Richter und Macht

Wenn es also auch in früherer Zeit etwas wie eine richtergetragene Staatsmoral gegeben haben sollte - aus all diesen Gründen gehen ihre rechtlich relevanten Wirkungen eher zurück, sie verlieren ständig an überzeugender Einheitlichkeit. So wird also das Ergebnis dieses Abschnitts doch wohl lauten müssen: Moral setzt die Dritte Gewalt in eigenartigen Formen ein, betrachtet man dieses Verhältnis zu anderen Staatsgewalten. In ihrem Namen übt der Richter auch etwas aus wie Macht - aber nur im Einzelfall. Die Gerichtsbarkeit als solche schließt dies weder zu einer einheitlichen Verfassungsgewalt zusammen, noch kann hier gar etwas wie eine politisch wirksame Macht zum Tragen kommen. Im Namen ihrer Moral sind die Richter weder machtbewusst noch auch nur, rechtlich betrachtet, eine eigenständige Verfassungsgewalt.

E. Die späte Macht der Judikative Judikative als Macht und Gerichtsbarkeit als Dritte Gewalt decken sich begrifflich nicht voll - das haben die bisherigen Überlegungen ergeben. Von einer Verfassungs gewalt der Richter kann jedoch nur die Rede sein, wenn diese Organe mit einer gewissen Mächtigkeit auftreten, nicht zuletzt auch mit klarem Machtbewusstsein. Gerade dies Letztere erschien bereits als problematisch. Nun ist jedoch noch eine weitere Betrachtung anzustellen zu einem Bereich, der zwar, dogmatisch gesehen, dem der funktionalen Aufgabenerfüllung durch die Richter zuzurechnen ist, jedoch eine Besonderheit judikativer Tätigkeit darstellt, welche gerade deren Charakter als einer Verfassungsgewalt in Frage stellt: die zeitliche Dimension, in welcher sich diese Judikative bewegt, die Verzögerung, mit der ihre Wirkungen eintreten. Die folgenden Betrachtungen schließen dabei an einen Befund an, der seit langem, vielleicht von jeher, vor allem aber seit es eine volle Gerichtsbarkeit gibt, Gegenstand ständiger Kritik ist: Lange Prozessdauer, verspätete Entscheidungen gegenüber einer Wirklichkeit, welche sich längst gewandelt hat und Urteilsfolgen obsolet erscheinen lässt. Dass dies nicht ohne Auswirkungen auf eine etwaige Macht bleiben kann, welche von den Entscheidungen der Gerichtsbarkeit ausgeht, dass deren "späte Gewalt" eine "zu späte" werden könnte, als dass sie überhaupt diesen Namen noch verdiente, liegt auf der Hand: Alle Verfassungsgewalten unterliegen jedenfalls insoweit einem Effizienzgebot, als ihr "Funktionieren" wenigstens in letzten Grenzen zu sichern ist; dies ist eine Forderung, welche in einer Periode zunehmendes Gewicht erlangt, welche allenthalben als "schnelllebig" bezeichnet wird. Wenn das Leben denjenigen bestraft, der "zu spät kommt", so muss dies auch für Verfassungsgewalten gelten. Dies rechtfertigt den Untertitel dieser Betrachtungen. Die folgenden Überlegungen haben einer eigenartigen Spannung Rechnung zu tragen: Einerseits steht Judikative nicht nur, sie wirkt auch wesentlich in der Zeit und auf deren Ablauf, sind es doch ihre Entscheidungen, welche eine Zäsur in zeitlichen Abläufen markieren, kleine und größere abgeschlossene Vergangenheiten herstellen. Auf der anderen Seite aber hebt die Gerichtsbarkeit ihre Entscheidung, und damit letztlich sich selbst, in eben diesem Wirken heraus aus der Erscheinungen Fluss; in rechtlicher Verfestigung entzieht sie den Prozessstoff der Wirkung einer sich wandeln-

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E. Die späte Macht der Judikative

den Realität, dies ist jedenfalls ihr Grundanliegen. Daher stellt sich für sie das Problem "Recht und Zeit", "Recht in der Zeit", in besonderer und drängender Weise.

I. Rechtsentscheidungen: "Grundsätzlich außerhalb der Zeit", "ohne Zeitgefühl" 1. Die Problematik "Recht und Zeit" nur punktuelle Rezeption der Zeit ins Recht

a) Die Problematik "Zeit und Recht", Recht in der Zeit, ist erst neuerdings in voller Grundsätzlichkeit erkannt und auch im Einzelnen vertiefend behandelt worden. Dies erklärt sich schon daraus, dass hier Probleme der Rechtspolitik und der Gesetzgebungslehre im Gemenge liegen mit dogmatischen Fragen. In letzterer Sicht ist ja von einer eigenartigen Qualität der Rechtsentscheidungen auszugehen: Sie ergehen zwar in der Zeit, zu einem bestimmten Augenblick in dieser, in ihrer Geltung halten sie aber gewissermaßen diese selbe Zeit an, raffen sie in etwas wie einer zeitunabhängigen Wirksamkeit. Prototyp ist hier jenes Gesetz, dessen Wesen gerade darin liegt, dass es nächste und fernste Zukunft in einheitlicher Geltung verbindet, dass es für diese gleichgültig ist, zu welchem Zeitpunkt der gesetzliche Tatbestand verwirklicht wird, Rechtsfolgen auf solcher Grundlage eintreten. Und diese Rechtsfolgen sind ihrerseits, entgegen dem, was allgemeiner Sprachgebrauch eigentlich nahe zu legen scheint, nicht notwendig etwas zeitlich Nachfolgendes, sie ergeben sich vielmehr zeitgleich mit der Verwirklichung ihrer Voraussetzungen. Nicht nur das Gebot der Gleichheit in der Zeit ist daher eine notwendige Folgerung geradezu aus dem Gesetzesbegriff selbst; die Norm hebt durch ihren Befehl zeitunabhängig zusammengefasste Tatbestände aus dem zeitlichen Ablauf heraus. Die Unverbrüchlichkeit der Gesetzestafeln, die Majestät des Gesetzes aus dessen Wesen heraus, spiegelt diese überzeitliche Geltungsmacht wider, und hier liegt auch der tiefere Grund, weshalb gerade das Naturrecht stets und vor allem in neuerer Zeit den Gesetzesbegriff in den Mittelpunkt allen Rechts stellen musste: So wie Naturrecht unverbrüchlich, d. h. überzeitlich gilt, muss dies auch auf das Gesetz, seine Ausformung in der Zeit, zumindest in der Weise ausstrahlen, dass es zwar abänderbar erscheint, während seiner Geltungsdauer aber Zeitlosigkeit seiner Befehle herrscht. In der historischen Verbindung mit der Demokratizität hat diese Naturrechtsvorstellung zu einer Ordnung des Rechts in "vielen, kleinen Zeitlosigkeiten" geführt; den Fluss als solchen wollten und konnten die Normen, so schien es doch, schlechthin in Kategorien des Rechts nicht erfassen. Diese grundsätzliche Zeitlosigkeit der Normgeltung strahlt ihrerseits wiederum auf die Rechtsentscheidungen der anderen Gewalten aus. Da sie, ge-

I. Rechtsentscheidungen: "Grundsätzlich außerhalb der Zeit"

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rade aus der Normgeltung heraus, dem Gesetz unterworfen sind, diese Gesetzgebung im Grunde nur in anderer Form realisierend fortsetzen, kann auch für ihre Dezisionen und im Prinzip nur die Zeitlosigkeit der Gesetzesgeltung angenommen werden. Ob Norm und Recht schlechthin zu identifizieren sind, mag hier dahinstehen; jedenfalls ist das Recht als solches, in jeder seiner Entscheidungen, von grundsätzlicher Zeitlosigkeit zunächst einmal geprägt - soweit es sich nicht selbst wieder, in normativer Abänderbarkeit, in die Zeitlichkeit hineinbegibt. Dass dies von besonderer Bedeutung für jene Judikative wird, die wie keine andere Staatsgewalt gesetzesunterworfen, gebunden eben überhaupt nur in diesem Sinne ist, liegt auf der Hand. b) In Rechtsentscheidungen wird die Zeit in ihren Abläufen zwar zur Kenntnis genommen, ihre Wirkungen fließen aber eher punktuell, wenn nicht gar nur marginal in jene ein. Verfristungen schließen rechtliche Reaktionen auf Früheres aus, konzentrieren damit das Recht auf Gegenwartswirkungen in einem weiteren Sinn, zeitlich weit Entferntes bleibt außerhalb der Wirkungen von Rechtsentscheidungen. Als zeitindifferente Gegenwartsentscheidung des Rechts wirkt auch die Behandlung von Dauerschuldverhältnissen, welche in einem gegenwärtigen Zeitpunkt so erfolgt, wie wenn dieser auch schon eine absehbare Zukunft erfasste. Der vorläufige Rechtsschutz rückt die endgültige Entscheidung nahe an die gegenwärtige Eildezision heran, erweist also wiederum die Rechtsentscheidung als eine solche in lediglich erweiterter Gegenwärtigkeit. Werden schließlich Zinsen zugesprochen, so wird auch damit letztlich nur zum Ausdruck gebracht, das die Rechtsentscheidung so wirken soll, wie wenn sie ohne Ablauf einer Zwischenperiode ergangen wäre. Der Prozessstoff wird in der Regel für den Zeitpunkt der Klageerhebung fixiert, die Berücksichtung späterer Entwicklungen bleibt Ausnahme. Materielles wie Verfahrensrecht wirken also stets in einem Sinn: dass der Zeitablauf so wenig wie nur möglich Bedeutung erlange für das Wirken der rechtlich Entscheidenden, dass sie in einem zeitlich abgeschirmten, gewissermaßen zeitsterilisierten Raum tätig sein sollen. Diese grundsätzlich zeitneutrale Wirksamkeit der Rechtsentscheidung führt allgemein und gewissermaßen begrifflich dazu, dass von einer "späten" oder gar "zu späten" Rechtswirksamkeit schwerlich gesprochen werden kann. Eine solche Beurteilung würde ja voraussetzen, dass "Verspätung" gerade mit Blick auf einen zeitlichen Ablauf festzustellen wäre, dass die Rechtsentscheidung also früher hätte ergehen müssen. Das Recht geht jedoch davon aus, dass sie rechtens gerade in dem Augenblick ist, in dem sie ergeht, wirksam wird. Dass dies alles verspätet eintritt, kann also eigentlich, so mag es erscheinen, rechtlich gesehen gar kein Thema sein. Und doch ist es ein solches, unter dem Gesichtspunkt machtmäßiger Wirksam-

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E. Die späte Macht der Judikative

keit betrachtet: Was post festurn entschieden wird, bleibt insoweit obsolet, ist durch Zeitablauf "erledigt" - diese Begriffe sind rechtlicher Betrachtung durchaus geläufig. Es stellt sich also die Grundsatzfrage, in welchem Sinne die gängige Kritik an der Gerichtsbarkeit als einer verspätet wirkenden Staatsgewalt berechtigt ist, wenn jenes Recht, unter dessen Gesichtspunkten sie nur gestellt werden kann, bei Rechtsentscheidungen generell den Begriff der Rechtzeitigkeit gar nicht kennt, sondern allenfalls den der auch machtmäßig zu beurteilenden Wirksamkeit. Hier kommt jenes Gesetz zum Tragen, dem gerade der Richter in seiner Tätigkeit verpflichtet, unterworfen ist. 2. "Verspätete Rechtsentscheidung" mit Blick auf die gesetzliche Rechtslage a) Auszugehen ist von einem wenig beachteten Befund: Dem Gesetzgeber kann nur in seltenen Fälle, wahrhaft nur ausnahmsweise, der Vorwurf gemacht werden, er werde "verspätet tätig" - gerade jene Kritik, welche jedoch die Dritte Gewalt täglich trifft. Feste, notwendige Zeiten für bestimmte Gesetzgebung gibt es nicht, der Geist der Legislative weht wann, wo und wie er will. Ob eine bestimmte Zeit "Beruf zur Gesetzgebung hat", diesem Ruf nachkommt oder nicht, mag Gegenstand gesetzespolitischer Diskussionen sein oder in einer Gesetzgebungslehre erörtert werden, welche das "bessere Gesetz" anstrebt. Nur in Extremfällen kann jedoch von gesetzgeberischer Verspätung die Rede sein: wenn der Gesetzgeber einen rechtsstaatswidrigen Zustand dadurch hervorbringt oder aufrecht erhält, dass er von ihm selbst angekündigte Gesetze nicht schafft - dann aber missachtet er eine selbstgesetzte Rechtsbindung und verstößt damit gegen höhere Normen der Verfassung; oder wenn ihm ein Verfassungsgericht die Verpflichtung bescheinigt, bis zu einem gewissen Zeitpunkt durch Gesetz einen verfassungsmäßigen Zustand herzustellen - dann verspätet sich aber wiederum eine in diesem Zeitraum nicht erlassene Gesetzgebung dadurch, dass sie den höheren Normbefehl eines anderen Gesetzes, der Verfassung, missachtet. Der Begriff der "gesetzgeberischen Verspätung" ist also nur dort berechtigt, wo eine normativ geforderte Rechtsentscheidung nicht "rechtzeitig ergeht", wo der Gesetzgeber höherrangiger Verfassungslage nicht Rechnung trägt. Verspätete Rechtsentscheidung bedeutet daher hier stets nur eines: verspätete Normwirksamkeit unter Missachtung der Verfassung. Darin wird nun auch deutlich, weshalb ein solcher Vorwurf gerade die Dritte Gewalt treffen kann: Weil ihr eben, anders als in den meisten Fällen dem Gesetzgeber, gesetzlich vorgegeben ist, welcher Rechtszustand endgültig eintreten soll - während der Gesetzgeber in der Regel frei ist, einen solchen zu beliebiger Zeit herzustellen.

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b) Die Gesetzesbindung der extralegislativen Staatsgewalten ist es also, welche dogmatisch den Rechtsbegriff der "Verspätung" begründet. Soweit das Gesetz auch ohne Richterspruch wirkt, kann sich die Frage der "späten Gewalt der Richter" begrifflich nicht stellen. Weil sie es aber sind, die in den weitaus meisten Fällen, welche sie zu entscheiden haben, dem Gesetz erst seine volle Wirksamkeit verleihen, an das sie gebunden sind, ist die Frage auch dogmatisch legitim, ob sie in diesem Sinn "dem Gesetz nachkommen" - rechtzeitig. Ihre Aufgabe ist es, eine zeitliche Vorgabe zu realisieren, welche der Gesetzgeber gesetzt hat: dass seine Entscheidung vom Tage des Inkrafttretens der Norm an wirksam sein soll, unverbrüchlich, abänderbar nur durch ihn. Aus dem Begriff der Gerichtsbarkeit mag sich ergeben, dass eine solche das Gesetz realisierende Rechtskraft immer erst später eintritt als die normative Wirksamkeit der Gesetzgebung. Auch kann nicht erwartet werden, dass Richtermacht wirksam werde, bevor nicht eine Fallkonstellation auftritt, welche überhaupt Gelegenheit gibt zu gesetzesrealisierender Entscheidung. Sobald dies aber geschehen ist, tritt die richterliche Tätigkeit in eine Zeitdimension ein, welche ihr Aufgaben stellt, "möglichst bald" die Rechtslage endgültig so herzustellen, wie der Gesetzgeber sie gewollt hat. Damit ist eine doppelte Erkenntnis verbunden: - Zum einen gibt es also doch den Begriff der "verspäteten Rechtsentscheidung", jedenfalls im Bereich der Dritten Gewalt, obwohl diese Dezisionen grundsätzlich in einer zeitneutralen Dimension fallen. Diese Zeitneutralität bezieht sich auf ihre Wirksamkeit, in ihrem Ergehen und nach diesem. Im Verhältnis zu der durch sie zu realisierenden Rechtslage dagegen kann es eben "rechtzeitige" und "verspätete" Rechtsentscheidungen geben, je nach dem Abstand, der sie vom Auftreten des Falles und vom Inkrafttreten der Gesetzeslage trennt. Die Judikative kann also dem Vorwurf, sie sei eine wesentlich "späte Gewalt", sie entscheide "verspätet", nicht dadurch entgehen, dass sie sich auf die prinzipielle Zeitlosigkeit der Rechtsentscheidungen als solcher beruft. - Gerade der Dritten Gewalt sind jedoch grundsätzlich durch die Gesetze keine eindeutigen normativen Vorgaben gesetzt, bis wann sie diese ihre rechtsentscheidende Aufgabe zu erfüllen hat, sieht man von den neueren, eher noch immer theoretischen äußersten Grenzen der Prozessverschleppung nach Europarecht ab, in welcher Untätigkeit in Rechtsweigerung umschlagen könnte. Dieser letztere Begriff ist zwar unabdingbarer Bestandteil jeder funktionierenden Gerichtsordnung; es handelt sich jedoch um einen Extremfall, zu dem es wiederum - keine ausgebaute Rechtsprechung gibt, noch weniger als zu dem verwandten Begriff der Rechtsbeugung. Und all dies liegt ja gerade in den Händen jener Richter, welche dadurch diszipliniert werden sollen. Dogmatische Genauigkeit möchte hier eine vertiefende

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E. Die späte Macht der Judikative

Fortsetzung der Betrachtung verlangen; im vorgegebenen Rahmen ist sie nicht möglich. c) Gerichtsbarkeit als verzögerte Entscheidungspraxis ist also rechtlich gesehen durchaus ein verfassungsrechtlich zu beurteilender Sachverhalt. Denn in ihm kommt es zu jener Wirksamkeit einer zentralen Äußerung von Staatsgewalt, auf welche in einem Rechtsstaat der Bürger verfassungsmäßigen Anspruch hat, schon damit er die "Wirksamkeit des Staates und deren Grenzen" - verstanden durchaus im klassischen Sinn - erkennen, abschätzen und darauf sein Verhalten einrichten könne. Die Gerichtsbarkeit muss sich einer Verspätungskritik auch deshalb in einer ganz anderen Weise stellen, weil insoweit ihre Lage mit der der anderen Verfassungsgewalten nicht vergleichbar ist. Der Gesetzgeber unterliegt, wie bereits erwähnt, im Regelfall keiner Verpflichtung rechtzeitigen Handelns. Die Verwaltung, in all ihren im Einzelnen problematischen Erscheinungsformen, sieht sich immerhin einer rechtlichen Rechtzeitigkeitsverpflichtung unterworfen, den es für die Judikative nicht gibt: Intern bleibt verzögerliches Verhalten Dienstvergehen, welches zu den oft schwerwiegenden Folgen der Amtshaftung führt und disziplinarrechtlieh sanktioniert werden kann. Der Bürger kann immerhin der untätigen Behörde gegenüber verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen. Und eine dem rechtlichen Wirtschaftlichkeits- und Sparsamkeitsgebot unterworfene Administration muss auch, gerade in ihrem gesetzlich nicht bis ins Einzelne gebundenen Ausgabeverhalten, doch am Ende mit einer Rechnungsprüfungskontrolle rechnen, welche wiederum schwerwiegende, ja sogar disziplinarische Rechtsfolgen auslösen kann. All dies findet gerichtlicher Untätigkeit, Verschleppung oder auch nur Verspätung gegenüber nicht in vergleichbarer Weise statt. Die Richter handeln grundsätzlich, wann sie wollen - Extremfälle, in denen zum Tragen kommen könnte, was die Verwaltung immerhin laufend zu beachten hat, bleiben im Bereich der Dritten Gewalt nun wirklich "rein theoretisch". Das Recht gibt der Judikative die Möglichkeit, als späte Gewalt zu wirken, in aller Regel so spät, wie sie dies selbst entscheidet. Die Hohe See, auf der sich mit ihr der Rechtssuchende befindet, ist auch zeitlich weit entfernt von Küsten, von Grenzen. Im Folgenden hat es die Betrachtung also mit einer typisch judikativen Problematik, der einer wesentlich "späten", wenn nicht "zu späten" Gewalt zu tun.

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3. Verzögerung der Rechtsentscheidung: Rechtsrichtigkeit vor Rechtssicherheit a) Das richterliche Urteil ist der Prototyp der Rechtsentscheidung. Für sie gilt der Primat der Richtigkeit, nicht der Schnelligkeit. Rasches Entscheiden mag die Rechtspolitik immer wieder anstreben - es bleibt dort ebenso ein rechtstechnisches Grundsatzproblem ohne Gewicht, wie Untätigkeit bis zur Rechtsweigerung nie mehr ist als judikative Marginalie. Die Iustitia lässt sich alle Zeit dieser Welt, ihre verbundenen Augen können auch laufende Uhrenzeiger nicht wahrnehmen. Wo aber Richtigkeit geht vor Schnelligkeit, ist das wichtigste Gesetz der schnelllebigen Gegenwart außer Kraft gesetzt, in Erfüllung einer stillschweigenden judikativen Aufgabe: dass diese Richtigkeit auch noch eine rechtzeitige sei. Was wäre auch die "richtige Zeit" für ein Urteil - etwa, dass es den Kläger noch erreiche oder erst den glücklicheren Erben, dass es zur Zeit einer Börsen-Hausse oder einer BörsenBaisse ergehe, soll es Emotionen durch Siegesgefühle verstärken, oder ihr Abflauen weiter beruhigen? Kaum je gibt es "den richtigen Zeitpunkt" für eine richterliche Erkenntnis - kann es überhaupt einen solchen für Erkenntnisse geben? Die Gesetze schweigen dazu, allenfalls glätten sie die Wirkungen des Zeitablaufs durch Verzinsungsregelungen. Und wenn Schnelligkeit ginge vor Richtigkeit oder dieser auch nur gleichzuordnen wäre, so müsste vielleicht gar die unannehmbare Maxime gelten: "Je rascher, desto richtiger". Zeitablauf mag den Richtern nicht immer Klarheit bringen, aber sie beruhigt doch ihre Gemüter, welche nur zu oft vom Kampf der Parteien ebenfalls erfasst, ja aufgewühlt werden; und ist nicht eine Lage dem typisch richterlichen, kompromittierenden Ausgleich näher gekommen, wenn sie längere Zeit auch unentschieden hat bestehen können? Dem Richter läuft die Zeit nicht weg, er ist kein Operateur, seine Operationen gelingen stets, und wenn er zum Anatom werden müsste. Letztlich stellt sich ihm ja doch immer, bei aller Konkretheit des zu entscheidenden Einzelfalles, die davon auch wieder abzuziehende Rechtsfrage als solche; darin, und nicht in einzelnen Rechtsgütern, findet sein Verhalten judikative Noblesse. Fiat iustitia, pereat mundus - zu lesen ist dies auch so: Auf das richtige Urteil kommt es an, mag "inzwischen" die Welt untergehen. b) Rechtssicherheit mahnt dem gegenüber immer wieder vor allem die Rechtswissenschaft an, ohne dass die einzelfallentscheidenden Richter dies gerne oder überhaupt nur hörten. Ist diese Sicherheit aber wirklich gefährdet, wenn sich die Richter "alle Zeit dieser Welt lassen"? Allgemeines Rechtsgefühl mag dies spontan bejahen, in der Schwebe ist nichts gesichert. Rechtssicherheit wird auch stets in einer Spannung zu jener Gerechtigkeit gesehen, deren Verwirklichung gerade dem Richter aufgegeben ist. Rechtssicherheit braucht zwar Zeit, darf aber eben doch nicht allzu viel 15 Leisner

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E. Die späte Macht der Judikative

brauchen. Erstaunlich ist zwar, dass dieses Spannungsproblem mit Blick gerade auf die Dritte Gewalt bisher, grundsätzlich jedenfalls, kaum hinreichend vertieft wurde. Irgendwie waltet hier aber doch ein unbestimmtes Gefühl und gerade in dieser voll rationalisierten Welt wiegen Gefühle so schwer wenn eine Sache einmal den Richter erreicht habe, so sei sie dort auch jedenfalls gut "aufgehoben" in jedem Sinn dieses Wortes, eben auch "suspendiert". Doch gefährdet dies wirklich die Rechtsicherheit? Ist damit nicht "das Problem jedenfalls erkannt", sind dann nicht in aller Regel eben doch nur mehr zwei Lösungen, jedenfalls aber eine begrenzte Zahl von solchen in Sicht? Vom Rechtsverkehr, welcher Rechtssicherheit braucht, kann doch erwartet werden, dass er sich darauf einstellt, oder die bei der Judikative abgelegten Probleme durch seine Gestaltungen zwischenzeitlich umschifft. Wirkliche Rechtsunsicherheit - besteht sie nicht nur dort, wo gar keine judikative Letztentscheidung in Sicht ist, und ist damit nicht die Wahrung der Rechtssicherheit letztlich eben doch jenem Bürger anvertraut, welcher durch seine Klagen die richterliche Reaktion hervorbringt, nicht aber primär den Urteilenden? Wenn deren Erkenntnisse, wie dies sogar im Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit weithin vorgesehen ist, nicht zurückwirken kann sich dann nicht gerade eine schnelllebige Welt auch mit der Rechtssicherheit des Vorläufigen begnügen? Rechtssicherheit ist schließlich grundsätzlich eben doch ein allgemeinerer Begriff, sie ist nur dann gefährdet, wenn viele und "noch gar nicht sichere Fälle" noch unsicherer zu werden drohen in ihren Auswirkungen. Rechtssicherheit im Einzelfall stellt eine Rechtswissenschaft nicht in den Mittelpunkt, die hier vor allem auf rechtssichere Gesetzgebung sieht, nicht so sehr auf den Einzelfall. Und überhaupt ist schließlich Rechtssicherheit der schwächere Grundsatz gegenüber dem der Suche nach der Gerechtigkeit, nach dem Richtigen im Recht. Wann hätte man es denn schon gewagt, die rasche aber falsche Entscheidung grundsätzlich zu akzeptieren, im Grundsatz hinzunehmen oder sie gar als Ideal des Rechts hinzustellen? Politiker mögen dies zu Zeiten fordern, doch auch sie scheitern damit regelmäßig, Akzeptanz findet schnelle Justiz auch nicht in der Rechtspolitik. c) Das "Letzte Wort" wurde, wenn auch in vielfacher Relativierung, als funktionales Wesen richterlicher Tätigkeit erkannt. Gerade dann aber, wenn es nun wirklich das "Letzte" ist, was das Recht auf eine Frage hier antwortet, muss dann nicht die Antwort "ganz besonders richtig" sein, sich nicht mehr ändern, nicht mehr verbessern lassen? Vorläufiges und Richtiges stehen ebenso in Spannung wie rasche und rechtsrichtige Gerichtsentscheidung. Viel weitergehend als den Verwaltungsbeamten ist dem Richter die Korrekturrnöglichkeit seiner Entscheidungen versagt, und wenn es dazu kommt, in der höheren Instanz, so wird eben auch er selbst, mit dem ganzen Persönlichkeitsgewicht seines Urteils, korrigiert und nicht nur seine

11. Der Prozess - ein wesentlich zeitfemer Vorgang

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Entscheidungen. Kaum je kann "er es später noch besser wissen" als im Augenblick der Verkündung des Urteils, auf ein "Irren ist menschlich" darf er sich, nach Prozessrecht, kaum je berufen, nur die höhere, "noch spätere" Instanz kann ihm den Vorwurf machen, er habe nicht irren dürfen. Ist es da zu verwundern, dass sich die Richter alle Zeit nehmen, Irrtümer zu vermeiden, zu denen ihnen die Rechtsordnung kein Recht gibt? Das Letzte Wort muss das richtige sein, nirgends steht geschrieben, dass es als solches rasch gesprochen werden muss. Hier gibt es sogar einen "Je-DestoGrundsatz": Je weiter der abschließende Charakter einer Entscheidung, etwa eines Musterprozesses, reicht, desto richtiger muss diese judikative Antwort auf die Rechtsfrage sein, desto länger darf, ja muss über die gerichtliche Entscheidung nachgedacht werden. Mit diesem seinem Letzten Wort schließt der Richter, dies wurde bereits deutlich, in den meisten Fällen eine von den Parteien oder von ihm selbst zeitlich bestimmte Vergangenheit ab, er hebt sie damit unwiderruflich aus dem Fluss der Zeit heraus. Darf dann diese Aktion nicht von eben der selben Unzeitlichkeit des Nachdenkens über das richtige Urteil geprägt sein, in welche dies die richterliche Antwort transportiert? Wenn schon Vergangenheit, und dies endgültig, so verschlägt es doch wenig, ob sie dann noch um einiges später festgelegt wird, als solche ist sie ja ohnehin, und dies gerade durch den Richter, aus der zeitlichen Bewegung herausgenommen. Diese wesentlichen Unzeitlichkeiten des Rechts betreffen zwar all seine Anwendung und prägen das Verhalten seiner Anwender. In besonderem Maße gilt dies aber für denjenigen, der nur diesem Recht verpflichtet ist und es bis zum Abschluss seiner Tätigkeit stets bleibt: der Richter. Würde er nicht dieser seiner Aufgabe untreu, sobald er Wirkungen seiner Tätigkeit in der dahineilenden Zeit sehen wollte, stünde er dann nicht in der Gefahr, "ökonomisch", "sozial" oder auch nur "menschlich" zu denken, nicht aber mehr "rein rechtlich", führt nicht die möglichst rasche Entscheidung fast notwendig zu einer metabasis eis allo genos, in andere Kategorien hinein, vor allem in solche der "Wirkungen", welche aber dem Recht als solchem fremd bleiben müssen? Später Richter - bedeutet dies nicht letztlich nur "spätes Recht", und ist dies nicht etwas Gutes - "endlich doch" ein Sieg des Rechts?

11. Der Prozess - ein wesentlich zeitferner Vorgang "Prozess" ist ein Wort für "Verfahren", in seinem "Voranschreiten" liegt ebenso "Bewegung" wie in seiner deutschen Verdeutlichung. "Eppur non si muove", könnte man jedoch, in Abwandlung des legendären Galilei-Wortes, hinzufügen. Ablauf, ja - aber nur zu oft ein Ablaufen in einen Stillstand 15*

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E. Die späte Macht der Judikative

hinein, in dem sich dann nichts mehr bewegt, und schon in den Vorphasen problemverdünnendes, problemaufhebendes - eben Ablaufen. Das Wort vom Prozess mag seinem sprachlichen Inhalt in manchem gerecht werden, kaum aber primär darin, dass sich hier Richter und Beteiligte, dass sich eine ganze Problematik in eine Zeitlichkeit geworfen sieht, welche zu rascher Entscheidung drängt. 1. Prozess als Ereignis - aus der Zeit gehoben

a) Die ruhig-abwägende Figur des Richters ist, so scheint es, nicht eine Gestalt, welche sich auf Höhepunkten bewegt oder gar selbst solche personifiziert - und doch wird nirgends im Recht das Wort vom Höhepunkt, wohl so häufig und mit besserem Recht gebraucht als im Bereich der Dritten Gewalt. Da "steuern Prozesse auf ihren Höhepunkt zu", da bringt eine Zeugenvernehmung, ein Plädoyer oder ein Geständnis, spätestens aber die Urteilsverkündung einen solchen Höhepunkt. Dramatik ist irgendwie in jedem Prozess angelegt, und in diesem Wort liegt auch dort jenes "Tun", welches Abläufe in der Zeit in Bewegung setzt, sie in der Zeit zusammenballt in der Zeitraffung des Prozesses. Wie also sollte gerade dieses Verfahren "aus der Zeit laufen", in die ruhige Richtigkeitsretorte der richterlichen Beratung und Entscheidung hinein? Und doch kommt es gerade dazu, in schöner Regelmäßigkeit, und zwar schon darin, dass der Prozess sich eben als ein Ereignis heraushebt aus der Ereignisse Flucht, aus den sonst ruhiger dahinziehenden Beziehungen zwischen den Beteiligten. Für sie und oft auch für Medien und Allgemeinheit, ja auch für die Richter selbst, hat jeder Prozess, jede Sitzung in ihm etwas von einem Happening, im vollen modernen Wortsinn. Dieser aber bedeutet eben Konzentration auf ein Ereignis, in dem dann gewissermaßen doch die "Normalzeit still steht", jedenfalls sich in ganz andere Ablaufrhythmen zusammenballt. Die Zeit läuft dahin, auch die außergerichtlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten; einmal vor den Richter gebracht, drängen sie zu einem Höhepunkt, mit Blick auf welchen sie sogleich vertikal gerichtet werden, aus der horizontalen Zeit heraus. Wer einem Gerichtsverfahren beiwohnt, der verlebt nicht Zeitablauf, er erlebt das eine Ereignis. Die prozessuale Dramatik, gesteuert durch des Richters oder Vorsitzenden Dramaturgie, durch der Anwälte Schwung oder Lethargie, lässt das so völlig undramatisch erscheinende "ruhige Recht" mit einem Mal zum erregenden Theater werden, zum Drama, welches den ganzen Umstand nicht mitreißt, sondern empor - aus der Zeit. b) Alles Theater hat seine eigene Zeit, außerhalb der Normalzeit, mit seinem Kothurn gibt es die räumliche Bodenhaftung auf, mit seiner Dramatik die Verhaftung in den gewöhnlichen Stunden. In den klassischen Zeiten von

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Theater und Theaterwissenschaft ist dies deutlich erkannt und nicht nur gefühlt und gespielt worden. Die Drei-Einheiten-Lehre des Artistoteles mit ihrer Forderung nach Konzentration in Raum, Zeit und Handlung, hat auf der klassischen Bühne, vor allem des französischen Dramas, die Entbindung des Theaters und damit allen Prozesses ausdrücklich der Zeit gegenüber vollzogen. Auch wo man, von Shakespeare bis zur Deutschen Klassik, sich diesen Zwängen zu entziehen suchte, wurde, mit der nur noch stärker konzentrierten Handlungseinheit, eine eigene theatrale Zeitlosigkeit stets geschaffen. Dieses Theater trägt soviel von einer eigenen Eile in sich, dass es stundenlang ohne sofortige Endentscheidung ablaufen kann. Hier findet eben ein Ereignis statt, hier läuft nichts ab, zu einem müden Endpunkt eines Urteils. Gerade deshalb kann sich - und dies ist keineswegs ein Paradox - auch der Richter, der Hauptakteur des prozessualen Ereignisses, alle Zeit lassen, bis dieses Drama seinen Höhepunkt erreicht, in seiner eigenen Zeit, in der des richtergesteuerten Prozesses. Nicht umsonst spielen Gerichtsverfahren, Entscheidungen in ihnen, oder doch Vorgänge, welche herkömmlich ihren Gegenstand bilden, wie Mord und Brand, in dieser Dramatik des Theaters von jeher eine entscheidende, eben eine dramatische Ereignis-Rolle, von Moliere bis Racine, und nicht nur dort. Der Richter als Deus ex machina setzt dann zugleich den Höhe- und Schlusspunkt, in welcher die Zeitlosigkeit des Spektakels kulminiert. Dieser Gott tritt auf, wann es die Lösung der Handlungswirren verlangt, ohne zeitlichen Zwang, eben aus der "Gerechtigkeit des Einzelfalles heraus", mit ihrer Legitimation und Würde. c) Akteure dieses Prozesstheaters sind die Beteiligten und der Richter, in wiederum typisch theatralisch-dramatischer Rollenverteilung. In der klassischen griechischen Tragödie haben die Götter ihnen dazu den rechtlichen, schicksalhaften Rahmen vorgegeben, so wie auch die Prozessbeteiligten, in ihren Rechten eingeschlossen, unter dem Recht stehen. Die Deutung der Tragödie durch Wilamowitz findet darin im modemen Prozess ihre Bestätigung. Dieses überzeitlich zu verstehende Recht muss denn auch vom Gericht in Überzeitlichkeit prozessual verwirklicht, im Urteil bekräftigt werden. Im Zusammenwirken mit den Parteien, aus den von diesen gesetzten Realitäten heraus, bestimmt die Regie des Richters eine Dramatik, welche den Prozess erscheinen lässt als eine "aus der Zeit gehobene Geschichtlichkeit auf Befehl". Hier wird vor Gericht nicht etwa, wie so oft in der Verwaltung "immer weiter fortgestaltet", immer weitere Realität geschaffen, weil immer neue Fragen dem Recht gestellt sind; hier ist all dies ein für allemal zusammengeballt in der "Frage an das Gericht". Und seine Antwort bewirkt, wenn auch fassbar vielleicht nur mehr im Schauder vor der "Lebenslänglichkeits-Entscheidung im Mordfall", jene theatralische Katharsis, in welcher Beteiligte, Umstand und auch die Richter gereinigt werden, sich

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selbst reinigen von allem Zweifel am Recht - die Richter von jedem Zweifel an sich selbst als dessen Diener. Dies aber sind Vorgänge, die nicht in irgendwelchen Schnelligkeiten ablaufen, in zeitlichen Rhythmen, welche etwa durch ökonomische Notwendigkeit bestimmt werden. Und in jedem kleinsten Prozess tritt die Majestät des Rechts als solchen hervor, sie lässt sich weder chronometrieren noch beziffern nach den später auflaufenden Wirkungen des Urteils in Heller und Pfennig. Die Talare der Richter und Anwälte sind nicht historisierende Maskerade, sie symbolisieren zugleich Würde und Außerzeitlichkeit der Richtertätigkeit. Dies sind die Roben der Götter, Helden und Könige, deren Auftreten auf der Bühne das Theater verlangt; Talarträger kommen nie zu spät. Respektbezeichnungen, -bezeugungen werden dem Gericht nicht nur erbracht, weil dies der Wahrheitssuche dienlich ist, sondern auch als Zeichen dafür, dass diese in einer "ganz anderen Dimension" stattfindet als in "normalem Leben", welches nur Reales kennt, nichts Richtiges. Die politischen Instanzen werden vom Leben bestraft, wenn sie zu spät kommen. Die Richter kommen nie zu spät, denn sie heben den Vorhang des Theaters, sie bestimmen das Ereignis, den Tag und die Stunde.

2. Der Prozessstoff - "aus der Zeit herausgehoben" Die Einmaligkeit des "Ereignisses Prozess" tritt zuallererst darin in Erscheinung, dass er stattfindet über einen bestimmten Gegenstand, über Vorgänge, welche den Prozessstoff ausmachen. Dessen Festlegung hebt gewisse Erscheinungen aus der übrigen Realität heraus, grenzt sie von dieser ab und unterwirft sie eigenständigen Regeln des prozessualen Ablaufs. Darin wird eine Form "eigener prozessualer Zeitlosigkeit", jedenfalls etwas wie eine "eigene Prozesszeit" geschaffen. Dies kann nicht ohne Auswirkungen auf Zeitgefühl und Zeitvorstellungen der Prozessakteure bleiben. Sie blicken nur mehr auf diese abgegrenzten Vorgänge, und zwar nicht mehr aus "ihrer eigenen Zeit heraus", oder aus der Sicht anderer Zeitumstände. a) Der Prozessstoff entfaltet sich in der Zeit, sie häuft ihn an, gibt ihm damit auch ihr zeitliches Drängen nach Entscheidung mit. Wenn der Prozessstoff die Rechtsfrage in der Zeit stellt und aus ihr heraus - ist es dann nicht diese selbe Zeit, welche auch die Antwort erzwingen müsste, die rechtzeitige? Am deutlichsten tritt die Abschottung des Prozessstoffs nicht nur in sachlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht in Erscheinung dort, wo richterliches Entscheiden von jeher seinen Prototyp findet: im Bereich des Strafrechts. Geurteilt wird über "die Tat". Gewiss ist sie eingebettet auch in ihr zeitliches Umfeld, nur aus ihm heraus letztlich zu verstehen. In der Praxis

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aber ist es doch so, als habe sie "soeben stattgefunden", als bilde der Prozess nur ihre beurteilende Verlängerung. Im Geiste der Richter wie der Beteiligten, aber auch für alle Betrachter, stellt sich hier in gewissem Sinne eben doch etwas wie ein zeitloses Rechtsproblem. Insbesondere muss, so scheint es doch, auch die Ahndung des Rechtsbruchs "auf jeden Fall", "irgendwann einmal" - also letztlich ohne Rücksicht auf zeitlichen Abstand zwischen Tat und Strafe erfolgen. Dass "die Strafe auf dem Fuße folge", entspricht schlechthin weder der allgemeinen Praxis noch einem verbreiteten Rechtsgefühl. Weit eher mag es diesem genügen, dass der Täter "irgendwann eben doch" von der Gerechtigkeit eingeholt wird; lange zeitliche Zwischenräume erscheinen eher als Gelegenheit zu Nachdenken und Besserung und werden denn auch häufig auf die Strafe noch angerechnet. Das Strafrecht geht - stillschweigend - stets davon aus, dass hier etwas "Außerordentliches" den Prozessstoff bilde, und wenn es auch täglich vorkommt. Und diese Tat wird dann als solche recherchiert, seziert und sanktioniert, in einer Weise, welche als solche "nie zu spät kommt", geht es doch darum, die Tatfolgen rechtlich zu bewältigen; wann dies geschieht, bleibt gleich. Etwas von früheren Bußvorstellungen mag auch im modemen Strafrecht übrigens hier durchaus noch mitschwingen: für sie ist es dann eben gleichgültig, wann die Strafe den Täter ereilt, wie lange er zwischenzeitlich von schlechtem Gewissen, von verfolgenden Erinnyen geplagt wird. Dies alles mögen schwer fassbare Bewusstseinslagen sein, mehr der Rechtspsychologie als der juristischen Dogmatik zuzuordnen. Sie bilden dennoch einen Hintergrund, auf dem die Zeitlosigkeit von Prozess und Richtertätigkeit Realität ist. b) Weniger deutlich, aber insgesamt doch noch vergleichbar finden sich ähnlich aus dem Zeitgeschehen isolierte Prozessstoffe auch in allen anderen gerichtlichen Verfahrensordnungen. Die Klage legt den Prozessstoff im Zivilverfahren fest, der Hoheitsakt für den Verwaltungsrichter. In diesen Fällen wird zwar der isolierende Vergangenheitsbezug nicht so deutlich wie im Strafrecht; Veränderungen der Wirtschaftslage, der administrativen und politischen Gegebenheiten beeinflussen in erhöhtem Maße den Gegenstand der Urteilsfindung auch noch während des Prozesses. Dies mag dann die Entscheidung auch als besonders "drängend" erscheinen lassen, in anderer Weise jedenfalls, als den Abschluss eines Strafverfahrens, mit welchem der Täter nicht selten lieber lebt als mit dem Urteil. Eine Entzeitlichungstendenz ist den Prozessrechten aber auch hier eigentümlich, wenn nicht immanent, und zwar gerade auch um Verschleppung zu verhindern: In vielfacher Weise wird allenthalben das Nachschieben von Gründen erschwert oder gar ausgeschlossen. Dahinter steht auch eine Grundüberzeugung über das Wesen richterlicher Tätigkeit: sie soll eben nicht "über etwas Ablaufendes urteilen" - dann könnte sie, das Wort zeigt es, gar

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nicht "ent-scheiden"; dies ist nur über vorher bereits (von anderem) Geschiedenes möglich, eben über den Prozessstoff, wie er einmal aus dem Erscheinungsfluss herausgehoben worden ist, durch Klage oder behördlichen Zugriff. Dieses ne varietur des Prozessstoffes dient der Gerechtigkeit, der richtigen Rechtsentscheidung, weil es tatsächliche Fehlerquellen wenn nicht ausscheidet, so doch weg-fingiert. Dann aber braucht sich das Gericht auch nicht darum zu kümmern, was "später etwa noch geschieht", die Frage ist und bleibt gestellt und sie kann, ja sie muss in gewissem Sinne zeitlos entschieden werden. Wann dies erfolgt, ist dann eben auch von nachrangiger Bedeutung; der gleichbleibende Prozessstoff "wird immer noch rechtzeitig entschieden". Der Richter darf sich Zeit lassen, da ihm die Realität ja nichts mehr entziehen oder Neues vorgeben kann. c) Hier gewinnen die Gerichtsakten ihre prototypische Bedeutung für alle schriftlichen Unterlagen. Quod non est in actis non est in mundo gilt gewiss zunächst für den von allen übrigen Erscheinungen der Realität zu isolierenden Prozessstoff. Doch wenn er in Aktendeckeln beschlossen vorliegt, so könnte man den Satz auch umformulieren: Quod est in actis non est in tempore - was einmal Prozessstoff geworden ist, bleibt der Zeit und ihrem Fluss entrückt; von ihm gehen daher auch keine zeitlichen Entscheidungszwänge mehr aus. Hier entfaltet sich das aktengestützte Eigenleben des zeitentrückten Prozessstoffes. Die Richter dürfen deshalb spät entscheiden, weil sie diese zeitlich isolierten aktenkundigen Erscheinungen mit besonderer, zeitlupenhafter Genauigkeit im Namen des Rechts untersuchen, weil sie hier eben in einem völlig anderen, aktenbestimmten Prozessrhythmus tätig sind, der mit dem zeitlichen Ablaufdynamismus, etwa des Wirtschaftslebens, nichts mehr gemein hat. Die Aktenfixierung erlaubt, rechtfertigt, ja erzwingt ein zeitlos-ruhiges Aktenstudium, nach Umfang und Komplikation eben dieser Unterlagen, in einem völlig anderen Rhythmus, als dem der Zwänge vor allem des modemen Wirtschaftslebens. Die Schriftlichkeit, letzte Sanktion der außerzeitlichen Prozessstofffixierung, schafft eine richterliche Zeitdimension, welche sich etwa mit einer der Realität nur zu oft nacheilenden Aktualitätssuche der Administrative nicht vergleichen lässt. d) Fristen, für Klageerhebungen, Rechtsmittel und Begründungen vor allem, stellen in der Regel zeitliche Zwänge zur Fixierung der Prozess gegenstände und des zu ihrer Entscheidung erforderlichen Prozessstoffes dar. In diesem Sinne wirken sie aber der Entzeitlichung der richterlichen Tätigkeit, welche sich an ihre Wahrnehmung anschließt, nicht entgegen, im Gegenteil: hier soll sichergestellt werden, dass der zu beurteilende Prozess stoff möglichst genau geklärt und damit auch von allen mit ihm irgendwie zusammenhängenden Entwicklungen abgeschottet wird. In diesem Sinne könnte man sogar sagen, Zeitlichkeit - eben die Fristen - werde eingesetzt als Instrument einer Verüberzeitlichung judikativer Tätigkeit.

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Dies wird deutlich, berücksichtigt man, dass derartige Fristen in aller Regel eher der Entlastung der Urteilenden dienen, als dass sie diese zu rascher, jedenfalls nicht allzu später Entscheidung drängen. Denn der Bürger muss feststellen, dass er unter all diese Fristzwänge gesetzt wird, dass ihnen jedoch allenfalls noch die Verwaltung, nicht aber die Gerichte unterworfen sind. Untätigkeitsklagen gegen Gerichte haben keine prozessuale Tradition; Rechtsfolgen ausbleibender gerichtlicher Entscheidungen sind, sieht man von wenigen Ausnahmen, etwa in der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, ab, nicht vorgesehen. Dies lässt sich allerdings kaum allein mit einer Unabhängigkeit der Dritten Gewalt erklären, welche auch zeitlich nicht unter Druck gesetzt werden soll. Der tiefere Grund liegt wohl doch gerade in der Anerkennung der Besonderheit einer richterlichen Entscheidungsfindung, die sich eben grundSätzlich beliebig soll Zeit lassen dürfen, bis an alleräußerste Grenzen der Rechtsweigerung. Der Bürger wird in Fristen eingebunden, nicht um grundsätzlich rasche Entscheidung zu erreichen, sondern um die Richter zu entlasten - damit sie sich für ihre richtigen Urteile noch mehr Zeit lassen können. In diesem Sinne sind dann eben die Fristen insgesamt Entzeitlichungshilfen für die Gerichtsbarkeit, sie verstärken die entzeitlichende Wirkung als solche, welche von jedem Prozess an sich schon ausgeht. d) Um die Festlegung des Prozessstoffes, um seine Herausnahme aus wechselnden Realitätsentwicklungen, um seine Isolierung zur Ermöglichung genauer juristischer Analyse, ist das gerichtliche Verfahrensrecht noch in einem anderen Sinne bemüht, der vordergründig auch der Beschleunigung der Entscheidungsfindung dienen soll: durch Entlastung der mit reinen Rechtsfragen befassten höchsten (Revisions-)Instanzen von Ermittlung und Feststellung von Tatsachen. Der Prozessstoff soll auch hier, wie dies schon für die Fristenregelung festzustellen war, möglichst rasch festgelegt werden, und dies mag durchaus beschleunigende Wirkungen auf die endgültige Entscheidungsfindung zeitigen, auch im Revisionsverfahren. Doch wie schon im Falle der Fristen, steht auch hier wieder nicht so sehr die Beschleunigung der Prozesse, im Sinne ihrer realitätsnahen Verzeitlichung im Vordergrund, als vielmehr eine Entlastung der Urteilenden. Sie soll es ihnen ermöglichen, sich "auf die Rechtsfragen zu konzentrieren" - es wird ihnen aber nicht zur Pflicht gemacht, darin besondere Eile an den Tag zu legen. Eher trifft das Gegenteil zu: Die Ruhe der revisionsgerichtlichen Entscheidungsatmosphären ist fast schon sprichwörtlich. Gewissermaßen lebt und webt hier die Rechtsfrage als solche, in einem Eigenleben, das nicht mehr durch Realitäts- und damit auch Zeitkontakte gestört, beunruhigt werden kann. Über diesen Instanzen gibt es auch keine weiteren mehr - sieht man von Extremfällen der Verfassungskontrolle ab - welche diesen Revisionsrichtern Verschleppung vorhalten könnte. Die Fragen sind inzwischen - ex definitione der Prozessgesetze - so schwierig geworden, dass sie erst recht

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immer längeres Nachdenken erfordern, und dass hier erst recht Richtigkeit vor Schnelligkeit gehen muss. Diese Formen der Aufbereitung des Prozessstoffes beschränken sich auch nicht auf dessen tatsächliche Seite. Zunehmend wird versucht, Beteiligte und Gerichte zu zwingen, schon in Vorinstanzen auch alle erforderlichen rechtlichen Überlegungen anzustellen, vor allem durch Rückverweisungspraktiken. Die Verfassungsgerichtsbarkeit fordert sogar, dass der Prozessstoff in verfassungsrechtlicher Hinsicht bereits von den Instanzen gewürdigt werde. Dennoch bedeutet all dies in keiner Weise, dass sich die "reinen Rechts-Richter" der abschließenden Instanzen weniger Zeit lassen dürften für die Ausübung ihrer späten Gewalt - im Gegenteil: Da der Prozessstoff in jeder möglichen Hinsicht vor- und aufbereitet ist, sind zeitliche Verzögerungen erst recht in Kauf zu nehmen, da sich ja nun die Letztrichter auch noch mit den immerhin gewichtigen Überlegungen der Vorinstanzen auseinander zu setzen haben. Insgesamt wird damit also die Prozessdauer länger, die zu entscheidenden Rechtsfragen werden schwieriger, abstrakter - immer mehr abgezogen, insbesondere von allem zeitlich Drängenden. So zeigt sich der Prozess als ein Werdegang, der aus der Realität und ihrer Zeit Herausgehobenes in eine juristische Retorte verpflanzt, in der in einer dieser eigenen "juristischen Zeit" die richtigen Entscheidungen fallen - und wenn auch noch so spät. 3. Der "zeitlose gerichtliche Verfahrensablauf" Ist einmal der Prozess als ein zeitkonzentrierendes Happening angelaufen, ist der Prozessstoff in Zeitlosigkeit hinein gesichert, so erfasst diese Letztere auch den Ablauf des gerichtlichen Verfahrens, gerade dort, wo sich dieses kaum mehr vorwärts bewegt. Irgendwie liegt über jedem Prozessverlauf etwas von einer eigenartigen justiziellen Zeitlosigkeit, in welcher geradezu das Verfahren als solches, einmal begonnen, still zu stehen scheint. a) In wichtigen Bereichen, insbesondere im Strafprozess, kann das Verfahren überhaupt erst dann beginnen, wenn das Gericht es so will. Wann es dies zu wollen hat, schreibt ihm kein Gesetz vor, keine rechtliche Fiktion leitet Lösungen aus der Nichteinleitung eines Verfahrens ab. Aber auch dort, wo der Bürger anstößt, bleibt der Richter der souveräne, an keine Frist- und keine Zeitvorstellung gebundene Herr des Verfahrensbeginns. Diese selbe Zeitentrückung setzt sich dann bruchlos fort, solange es noch einen Prozess gibt. Nur sein Ende kann der Bürger in vielen Fällen anstoßen - aber auch nicht endgültig beschließen; auch darin bleibt das Gericht "zeitlos gefordert".

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Dem sollte an dieser Stelle nicht entgegengehalten werden, feste Gerichtspraxis, ja etwas wie justizieller Sozialzwang, sorge doch allenthalben dafür, dass sich richterliche Verspätungen, vor allem in Reaktion auf Bürgeranstöße, in Grenzen hielten. Nicht darum geht es ja bei der Beurteilung der grundsätzlichen späten Gewalt der Richter, sondern um eine Grundstimmung, aus der heraus sie handelt - oder nicht; es geht um das "ein wenig früher oder später", denn auch hier liegt für den Bürger meist der Teufel in der zeitlichen Kleinigkeit. Die Herrschaft über den Verfahrensfortgang schafft im Bereich der Dritten Gewalt eine Grundstimmung richterlicher Souveränität, in der es eben doch keine wirklichen Zeitzwänge gibt. Der Ablauf des Prozesses kennt nichts, was ihn drängt. b) Die Sitzungen der Gerichtsinstanzen ähneln in einem nicht denen der Volksvertretungen, weder der Parlamente, noch der Gemeinderäte oder anderer öffentlicher Gremien: Über ihnen liegt etwas wie eine ruhige Zeitlosigkeit; sie kommen weder je zu spät noch verspätet sich in ihnen etwas. Grundsätzlich dauern sie solange, wie die Findung des richtiges Rechts es erfordert - wie der Richter Zeit für den Prozess mitbringt. Drängen lässt er sich nie von Beteiligten, selten von Kollegen, allenfalls von sich selbst. Der Prozess läuft ab in der Richter-Zeit. Wer könnte die Kritik wagen, eine Sitzung habe zu lange gedauert; im Grunde dauert hier ja auch gar nichts, Sitzungen finden eben statt, als Teil eines Prozess-Ereignisses. Sitzungsunterbrechungen kommen aus der Souveränität des Richters, unanfechtbar, als habe es sie nie gegeben. Vertagungen spricht er aus, doch diese Entscheidung ändert nichts an der zeitlosen Ereignis-Einheit des Gesamtprozesses, und liege noch so viel Zeit zwischen diesen Tagen. Hier bietet die Gerichtsbarkeit einen schönen Beleg für die bereits erwähnte Drei-Einheiten-Lehre der Literaturwissenschaft: Das zeitübergreifende Richterwort schließt alles zeitlich Getrennte zur Einheit des "Handlungsprozesses" zusammen. Die Prozessgesetze wünschen ja auch, dass der Richter auf Grund des "in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks" entscheide, und so fingieren sie, über lange Zeiträume hinweg, eine gewisse letzte Einheit dieser mündlichen Verhandlung in Zeitlosigkeit; sie wird nur "immer wieder eröffnet", doch Zwischenzeiten von Wochen und Monaten bleiben ohne Gewicht. Wo immer ein Richter eine Sitzung leitet, da ist Zeitlosigkeit, schon aus der Souveränität dieses Organs des Letzten Wortes heraus, das sich eben weder in der Zeit noch durch diese kritisieren lässt. Die Richter sind nicht nur Herren ihrer Zeit, sie sind Herren der Zeit schlechthin in ihren Prozessen. c) Für die richterliche Beratung gibt es so wenig zeitliche Vorgaben wie für Prozesseinleitung und Prozessverlauf, Sitzungsdurchführung oder Ent-

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E. Die späte Macht der Judikative

scheidung. Hier herrscht eine Grundstimmung der Reflexion ohne Eile wenn das Urteil nicht schon "vorher gesprochen ist". Faktische BeratungsMechanisierung unter Belastungsdruck ändert daran wenig, nichts in höheren Instanzen. Sie ist nicht primär sachlich bezogen, sondern gerichtsorganisationsmäßig begründet. Auch in die Beratung bricht keine Zeitlichkeit ein, keine Verspätungssorge in das richterliche Verhalten; ihre sprichwörtliche und notwendige Ruhe "kostet Zeit", doch sie ignoriert diese. d) Zeitlosigkeit strahlen schließlich Verkündung und Begründung der Entscheidung aus, welche den Prozess beenden. Auch für sie gibt es allenfalls Zeitgrenzen einer Praxis, nicht aber grundsätzliche Zwänge des Baldigen. So mag das Gericht Verkündungstermine anberaumen, Urteilsverkündungen in Aussicht stellen - alles geschieht in derselben Zeitlosigkeit, mit der das gerichtliche Verfahren begonnen hat. Für die Begründung kann sich der Richter noch länger Zeit lassen, mit ihrer Verlesung gegebenenfalls die Beteiligten auf zeitlich unbegrenzte Geduldsproben stellen. All dies geschieht eben in einem Rahmen, der den Begriff der drängenden Zeit nicht kennt; trotz mancher anwaltlicher Hektik und "richterlicher Eile zurück ins Privatleben" herrscht in Gerichtssälen, in Justizpalästen eine überzeitliche Ruhe, als würden dort ohne Unterlass nur Gerichtsentscheidungen verkündet und begründet - "von Rechts wegen", nicht und nie, weil es an der Zeit wäre. Wenn in dieser Zeitunabhängigkeit nicht etwas gefunden werden kann, wie ruhige Majestät, so hat dieses Wort in heutiger Staatlichkeit keinerlei fassbare Bedeutung mehr. Der Prozess darf spät kommen, zu spät kommt seine Entscheidung nie. Wäre das nicht ein Grundprinzip der Dritten Gewalt? Liegt Macht nicht gerade darin, dass niemand und nichts sie drängen darf?

III. Das zeitlose Denken der Richter 1. Neutralität: "Zeitdistanz"

a) Dritte Gewalt lässt sich nicht allein aus Neutralität definieren, doch Neutralität ist in ihrem Handeln besonders ausgeprägt. Eine "neutrale Gewalt" ist aber schwerlich vorstellbar als eine rasch agierende Instanz, weit eher als eine reagierend-abwartende, die sich nicht drängen lässt, in der Zeit und von deren Entwicklungen. Der Neutrale ist in Ruhe zu lassen und zu belassen; das galt einst für den Monarchen, heute nicht minder für das Staatsoberhaupt. In dieser Neutralität liegt etwas wie eine zeitübergreifende Kompetenz, sie führt zu Äußerungen, welche heute wie morgen Gültigkeit haben sollen, daher nicht in die Zeit hinein, sondern aus ihr heraus gesprochen werden. Hier berühren sich gewissermaßen Nachträglichkeit und Vorausschau. Je stärker die neutrale Instanz dem Geschehen entrückt ist, weil

III. Das zeitlose Denken der Richter

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sie an ihm nicht teilnimmt, desto mehr bleibt sie auch außerhalb von "dessen Zeitlichkeit" stehen. So bewegt sich die Gerichtsbarkeit in anderen Geschwindigkeiten als das politisch flutende Parlament, die politisch-ökonomisch gestaltende Administration. Diese unaufgeregte Gewalt wird darin zur force tranquille, die Richter verstehen sich als ihre Akteure, suchen immer wieder ihre Entscheidungskräfte in einer Ruhe, welche sich in der dargestellten Zeitlosigkeit des Prozesses verbreitet. Selbst anderen neutralen Staatsinstanzen ist ein solches Ruhen in zeitübergreifendem Denken eigen, und komme es auch aus der Nachdenklichkeit, mit welcher sie nachträglich beurteilen, wie in der Rechnungsprüfung, oder eher nachträglich reagieren als vorausschauend gestalten wollen, wie Zentralbankräte. b) Neutralität wird allenthalten konstituiert durch einen möglichst allseitigen Distanz-Begriff: Wer aber "weit entfernt bleiben" will von einer Sache, welche er am Ende nur mehr in ihren überzeugenden Umrissen sehen und beurteilen möchte, der muss sich auch zeitlich weit von ihr entfernen, so wie der Historiker, welcher Bismarck souveräner beurteilt als Kanzler der letzten Jahrzehnte; und ist nicht ihm und dem Richter jenes sine ira et studio gemeinsam, eben aus seinem beurteilenden Denken heraus? Selbst ein Rückprojizieren aus Gegenwärtigem in eine dadurch zu erklärende Vergangenheit sollte sich der neutrale Richter versagen, weil er eben wesentlich außerhalb der Zeit urteilt und all ihrer Zusammenhänge. Was bedeutet für eine solche Mentalität der späte Prozess, Entscheidung nach Jahren über eine Vergangenheit, die man sich kaum mehr als eine solche vorzustellen vermag? Ein solches Abwarten lässt nicht Zeit vergehen, es hebt die Zeit auf, im Denken und Leben des Richters wie auch in der Täglichkeit des Bürgers. Nicht nur das räumlich-optisch, sondern auch das zeitlich Nähere wird größer, wichtiger, bedrohlicher; zeitliche Distanz des spät, immer später entschiedenen Prozesses vom Entstehen seines Stoffes "redimensioniert" seine Bedeutung, führt eben deren Dimensionen, im schönen Worts sinn, zurück auf eine endlich wieder außerzeitliche, überzeitliche Sachlichkeit, in welcher sie dann "als solche" beurteilt werden können. Ist nicht zeitblindes Denken Richtertugend? Hier wird Rechtzeitigkeit der Rechtsrichtigkeit zum Opfer gebracht. Jenes Letzte Wort, welches nun wirklich Gerichtsbarkeit konstituiert, ist für eine solche Mentalität das einzige, welches im Grund über eine Sache gültig gesprochen werden darf, eben weil sie als solche ganz ernst genommen wird im richterlichen Urteil, in dessen zeitloser Dimension nicht mehr relativiert erscheint durch der Erscheinungen Flucht. Objektive Zeitlosigkeit der "Sache" spiegelt sich im Geist der Richter, verstärkt sich dort in vielfacher Brechung und vergrößert sich zu einer Einmaligkeit, für welche es kein "zu spät" gibt.

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c) Eine Neutralität ist für die Dritte Gewalt wenn nicht rechtsdogmatisches Wesen, so doch rechtspolitische Realität: eine letzte Politikferne im weiten Sinn des Wortes. Die wahre Richterpersönlichkeit wird immer kelsenianisch denken, in Kategorien reiner Normativität, nicht politischer Zweckmäßigkeiten. Politische Eintagserscheinungen werden dort nicht wahrgenommen, wenn nicht gar bewusst verdrängt, aus jener leichtironischen Distanz heraus, welche schon ihr Ende nicht kommen, sondern gekommen sieht. Moden überfluten auch das Denken der Richter, ja sie hinterlassen dort oft gefährlich-endgültige Ablagerungsspuren; denn diese Gewalt, welche "die Zeit nicht kennen will", wird deren Strömungen nur zu oft in ihren eigenen Kategorien der Endgültigkeit sehen und sie als solche umsetzen wollen. So kommt es dann in der Judikatur zu etwas wie einer zeitweisen Entzeitlichung der Moden, welche dort noch fortgeschleppt werden, obwohl sie längst durch andere überholt sind. Gewisse Verbreitungserscheinungen eines sozialen Sicherungsdenkens bieten ein überzeugendes Beispiel. Von "der Politik als solcher" aber hält sich die Dritte Gewalt fern, und zwar vor allem in dem, was jene im Kern ausmacht: von ihrer zeitgebundenen Atemlosigkeit, in der sie stets rechtzeitig kommen will und doch immer zu spät kommt. All dies hebt Richtermentalität in sich auf. Sie will sogar das Gesetz in einer Einmaligkeit zeitloser Normgeltung sehen und anwenden, die ihm schon längst verlorengegangen ist. d) Nicht zuletzt deshalb, aus einer verspäteten Zeitferne des Denkens heraus, steht der Richter auch jeder Rückwirkung distanziert gegenüber. Er gerade, der jede Sache als eine "kleine Vergangenheit" endgültig abschließt und damit in diese Vergangenheit zurückdrängt, behandelt sie eben nicht in ihrer Vergangenheit, in einem Bewusstsein verspäteter Beurteilung, sondern in einer Zeitlosigkeit, die nie zu spät kommen kann. In diese seIbe Zeitlosigkeit verlagert der Beurteilende dann auch die Grundlage seiner Entscheidung, jenes Gesetz, welches wesentlich gleichzeitig "sein und immer gewesen sein muss" mit der Tat, über welche nach ihm entschieden wird. Aus dieser zeitlosen Gleichzeitigkeit heraus versteht sich denn auch der nulla poena-Satz als Wesenszug richterlichen Denkens; der Urteilende will nicht zurück- und letztlich auch nicht voraus-wirken; das Gericht findet ganz gegenwärtig statt und so kommt es nie zu spät. Rückwirkung ist keine wesentlich judikative Kategorie, sie muss dem Richter schon aufgezwungen werden durch ein Gesetz, das er aber ebenso stets - und nicht nur "sich selbst" - zu "vergegenwärtigen" suchen wird, in die Zeitlosigkeit seines immer rechtzeitigen Denkens hinein, der gegenwärtigen lex fori. e) In all dem entsteht im Bereich der Dritten Gewalt eine psychologische Grundhaltung, eine Richtermentalität eigener Art, in Distanz zu Zeit, Ent-

III. Das zeitlose Denken der Richter

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wicklung, Geschichte. Sie erliegt nicht der komplexierten Hast der Verspätung. Für sie gilt, was den großen Richter-Gott umgibt: "Es wird keine Zeit mehr sein", weil jedes Gerichtsurteil wesentlich rechtzeitig ergeht. Gerichtsorganisatorische Zugeständnisse an Zeitdrängen und Zeitzwänge mag es immer geben; doch keine Staatsinstanz reagiert auf sie so kritisch, ja unwillig, wie eben die Richter. Ihr zeitloses Denken ist nicht befehlbar und nicht dogmatisierbar. Durch Gesetz lässt es sich nicht verändern, eher wird das Gesetz durch dieses judikative Denken seinerseits entzeitlicht. Allen organisatorischen Straffungsversuchen widersteht diese Mentalität, versagt sie es sich doch, derartige Anliegen auch nur zu verstehen. Ihr geht das Zeitgefühl ab, im tieferen Sinn dieses Wortes, sie lässt sich durch keine Macht "verspäten". Eben dies begründet ihre hohe Qualität: Sie bewegt sich im Denken einer Wissenschaftlichkeit, die auch ihrerseits nie zu spät kommen kann, weil sie die Zeit gar nicht kennen darf; das Wahre ist Gott ähnlich, wie Er außerhalb der Zeit ist. Gerichtsbarkeit betreibt heute Rechtswissenschaft auf breiter Front, auf der einzigen wohl, auf welcher der Geist des Rechts noch weithin wirken kann. Versuche einer Unterscheidung zwischen "Wissenschaft und Praxis", zwischen wissenschaftlicher Analyse und gerichtlicher Anwendung, sind unsinnig, vergegenwärtigt man sich die letzte Gemeinsamkeit, welche sie verbindet: die Suche nach der rechtsrichtigen Lösung, in welcher Rechtsgelehrten wie Richtern alles Wichtige gemeinsam ist - vom Recherchieren bis zum Publizieren. Und ebenso sinnlos sind deshalb Versuche, den Richtern dieses wissenschaftliche Denken zu verbieten, sie umzufunktionieren zu Rechtsguillotinen, welche begründungslos Köpfe rollen lassen und Urteile. In der Richtermentalität setzt sich die Geistigkeit des Rechts als solche durch gegen Geist und Ungeist der Zeit.

2. Zeitlose Gründlichkeit des "letzten Wortes" Dem letzten Richterwort folgt kein anderes mehr, da es in Zeitlosigkeit die Zeit stillstehen lässt; daher muss es alles enthalten, was ein Geist zu bieten hat, aus dem heraus es gesprochen wird: eine Gründlichkeit zuallererst, die menschlich mögliche Annäherung an Rechtsrichtigkeit. a) Niemand wird seine Zeit der Gründlichkeit opfern, der sich nicht in seiner Bedeutung so einschätzt, dass gerade diese Vertiefung von ihm gefordert wird. Dies gilt zuallererst für den Richter. Frustrationen mag auch er kennen, doch niemand wird ihm eine nahezu durchgehende Selbsteinschätzung streitig machen, in welcher er seinen Entscheidungen selbst Gewicht beimisst. Bestätigt sieht er sich darin täglich durch das von ihm inszenierte Verhandlungstheater, durch Robe und Ordnungsgewalt. Auf ungebrochene Wertschätzung in der Allgemeinheit kann er vertrauen, selbst wenn sie sich

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E. Die späte Macht der Judikative

nicht in hohem Verdienst niederschlägt. Gerade dann muss sich der Richter die Bedeutung seiner Urteile, seine hohen Qualitäten ständig selbst bestätigen, im geistigen Niveau einer Arbeit, in welcher er laufend eine Selbstab schichtung von anderen ökonomisch glücklicheren Berufsgruppen vornimmt. So sind in der Richterschaft die sozialpsychologischen Voraussetzungen von je her und heute erst recht gegeben für eine Vergründlichung der Richtertätigkeit, welche nicht befohlen werden muss, sie schafft eine zentrale Voraussetzung für die Zeitlosigkeit judikativen Denkens: Wer so gründlich denkt, muss die Zeit aus seinem Denken verdrängen. Zeitliche Abläufe haben immer etwas Horizontales, jeder Vertiefung ist eine Vertikalität eigen, welche aus der Zeit führt, hinab oder hinauf ins Richtige. Zeit hält an der Oberfläche, Gründlichkeit führt über sie hinaus. b) Gründlichkeit wird von keiner anderen Staatsinstanz so allgemein verlangt wie von der Judikative. Dies liegt geradezu im Begriff ihres Letzten Wortes, und da dieses zuallererst das Richtertum konstituiert, muss ihm alle Verspätung dieser Gewalt geopfert werden. Hier darf nichts unbeachtet bleiben, nichts ungedacht, sonst wäre ja "noch etwas anderes gefordert", nach diesem letzten Wort. Dritte Gewalt - ist dies nicht eine Macht totaler Gründlichkeit? Gerade in der Demokratie und ihrem Rechtsstaat muss dies gelten, dort wo Recht gesprochen wird "im Namen des Volkes", eines Souveräns, dem die transzendenten Eigenschaften der Allwissenheit und Allweisheit, wenn auch in politisch bescheidener Relativierung, immer noch zuerkannt werden, und sei es nur am Wahlabend. Die Rechtsstaatlichkeit dieser Staatsform kennt keine Grenzen des Präzisionsbemühens, wenn es gilt, so hohe Werte wie Freiheit und Vorhersehbarkeit zu sichern, hier wahrhaft unendlich zu optimieren; und aufgerufen sind dazu zuallererst und gerade im Namen der Rechtsstaatlichkeit die Richter. Die gesamte europäische Rechtskultur lenkt ihre Strömungen zusammenführend in diese Richtung: Da ist eine vielberufene "deutsche Gründlichkeit", welche Grundsatzurteile in einsamen Längen begründet; und nur selten regt sich Unmut gegenüber einer angestrengten Genauigkeit, hinter welcher sich auch Unsicherheit, mangelnde Überzeugung verbergen könnte. Ist es aber nicht besser, spät zu entscheiden als unbegründet, lässt sich Zeitverlust nicht durch Richtigkeit kompensieren? Richterliches Denken wird sich davon nicht abbringen lassen. Da ist in Europa zwar auch romanische Rechtsklarheit, in welcher Richter auf eine inhaltliche Gründlichkeit verzichten mögen, in der sich die Überzeugungskraft ihrer Erkenntnisse nur aus deren zeitverbrauchenden Formen ergibt - und dies mag sich steigern bis zu judikativem Formalismus. Gemeinsam ist aber all diesen richterlichen Gründlichkeitsformen:

III. Das zeitlose Denken der Richter

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allenthalben werden rechtliche Mechanismen bemüht im Bereich der Dritten Gewalt, um deren Überzeugungskraft zu sichern ohne Rücksicht auf Zeitverlust, den eben das Letzte Wort nicht kennen darf. c) In allen Phasen richterlicher Tätigkeit entstehen immer neue Räume, in welchen judikative Gründlichkeit sich verspäten darf, Zeit zu verdrängen vermag. - Vertiefung, manchmal bis zur Bodenlosigkeit, setzt schon ein in der richterlichen Sachverhaltsermittlung. Grenzen sind ihr nicht gesetzt, und gerade die höheren Instanzen halten sich hier mit Kritik zurück, schon um die eigene Arbeitsbelastung nicht zu steigern. Nicht nur in der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit, selbst im parteiengestützten Zivilprozess kann der Richter immer weitere Aufklärung verlangen, das Verfahren mit Fragen belasten und hinauszögern. Den Vorwurf der Schikane vermag er, sich selbst und der Allgemeinheit gegenüber, stets leicht zu entkräften durch den Hinweis auf eine Gründlichkeit, deren Maß er selbst allein bestimmt. Judikative als eine nach Selbsteinschätzung gründliche Gewalt - wäre dies nicht auch ein Definitionsansatz? Zeitliche Verzögerung als Waffe des Richters gegen widerspenstige Parteien - ist dies böswillige Kritik oder nicht doch häufige Realität? Hier zeigt sich eine positive Seite der späten Gewalt der Richter: Sie wirkt nicht nur abschwächend, sie kann sich gewalt-, vielleicht sogar machtverstärkend auswirken, wenn der Richter als "Herr der Zeit" Verzögerung einsetzt durch Setzung eigenen Willens. Die Zeit aber ist unendlich teilbar wie der Sachverhalt, in immer kleinere Einheiten, die sich in immer vollständiger erscheinende Genauigkeiten hinein entwickeln. Grenzenlose Gründlichkeit - gibt es dies nicht gerade in der Phase einer Ermittlung, welche sich wesentlich "noch alles offen halten muss"? - Beurteilung verlangt erst recht eine Gründlichkeit der Beratung und vorbereitenden Überlegung, welche alles Drängende zurückweist, geradezu ignoriert. Dem Wort "Urteil" allein schon gibt allgemeine Wortinhaltsüberzeugung etwas mit von nachdenklicher Ruhe. Je gründlicher ermittelt worden ist, desto gründlicher gilt es, die Ergebnisse erneut, nunmehr in Beurteilung, zu betrachten. Hier entfaltet sich geradezu ein Klimax richterlicher Tätigkeit, eine Gründlichkeitsspirale nach oben. Der Fall ist schwierig, weil soviel ermittelt worden ist, mit jeder weiteren Ermittlung wird seine Beurteilung schwieriger, zeitaufwendiger in ihrer Gründlichkeit - zeitloser. So wie der Richter stets Herr bleibt über die Ermittlungsintensität, so ist er es erst recht in der Beurteilung des Schwierigkeitsgrades und damit der durch ihn geforderten Gründlichkeit. Überlegungen der Rechtzeitigkeit haben hier keine Chance gegen zeitverdrängende Gründlichkeit; und wie könnte auch aus ihr heraus beurteilt werden, wann eine Entscheidung ergehen muss? Wohl haben Richter ausgesprochen, durch Liegenlassen werde eine schwierige Sache nicht leichter; doch die Entscheidung kann in ihrem Geist reifen 16 Leisner

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E. Die späte Macht der Judikative

- und der erforderliche Reifegrad ist Gegenstand ihrer Beurteilungen. Je mehr sich ein Prozess den Höhen reiner Rechtsrichtigkeit nähert, in die Revisionsinstanzen hinein, desto schwieriger werden alle Rechtssachen ex definitione, desto mehr Gründlichkeit und damit Zeit ist zu ihrer Beurteilung gefordert. Schon weil die Zahl der Beurteilenden und damit die Koordinationsnotwendigkeit zwischen ihnen zunimmt. Ist richterliches Ideal nicht die Revisionsberatung sine die, jedenfalls ganz open end? - Was Beratung noch nicht verbraucht an Zeit, vergeht im Namen der Gründlichkeit der Begründung. Dass in der Begründungstechnik ein grundsätzliches Zeitproblem der Judikative liegt, ist bereits seit langem und in vielen Bereichen bewusst. Doch sogleich werden hier auch letztlich unverschiebbare, typisch judikative Grenzen, eben aus dem Wesen dieser Tätigkeit heraus, immer wieder deutlich: Begründungsgenauigkeit lässt sich nicht normativ vorschreiben, nur Begründungsnotwendigkeit lässt sich ausschließen. Bewegt man sich aber in diese Richtung, im Prozessrecht der Instanzgerichte wie neuerdings auch vor dem Bundesverfassungsgericht, welches nicht begründungspflichtige Nichtannahmeentscheidungen über Verfassungsbeschwerden erlassen darf, so wird damit immer und sogleich die Legitimation der Dritten Gewalt als solche in Frage gestellt. Das Letzte Wort ist dann ja gar nicht mehr in seinem Inhalt verständlich, es droht zum irrationalen Befehlsschrei zu verkommen. Es entzieht sich darin nicht nur einer letzten faktisch-politischen Beurteilung in der Gemeinschaft, durch andere Staatsorgane; auch spätere Praxis, welche an der Entscheidung nichts zu verändern vermag, kann sich nicht einmal mehr an ihr fortbildend orientieren. Vor allem aber muss dann sogleich jene Gründlichkeit Schaden nehmen, der es eben wesentlich ist, dass sie "Klein und Groß gleichmäßig vertiefend behandelt" nicht nach Wichtigem und Unwichtigem unterscheidet - und wie wäre dies auch möglich, anders als in rechtlich höchst bedenklicher Ökonomisierung? Wer an einer Stelle den Richter aus der Begründungspflicht entlässt, öffnet ihm die Tür zu einer Willkür, in welcher er die Überzeugungskraft des letzten Wortes verliert. Dann mag er rasch entscheiden und "rechtzeitig" - aber nicht mehr überzeugend. Derartiges Denken endet in einem "Das Beste ist doch ein Befehl - Inhalt gleichgültig". Gründlichkeit ist zeitaufwendig, im Letzten negiert sie den Zeitaufwand, hebt die Zeit überhaupt auf. Aber sie ist das Zentrum des richterlichen Denkens; so ist wohl Gründlichkeit der Entscheidungstätigkeit wie Gleichgültigkeit des Entscheidungszeitpunkts unabänderliches richterliches Schicksal. Die Dritte Gewalt darf zu spät kommen - oder sie hebt sich selbst auf.

IV. Instanzenzug als Entzeitlichung

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IV. Instanzenzug als Entzeitlichung 1. Gerichtlicher Instanzenzug - Grundentscheidung für Rechtsrichtigkeit gegen Rechtzeitigkeit

a) Dass jeder Instanzenzug notwendigerweise eine Verzögerung der Entscheidung mit sich bringt, damit "späte Gewalt der Richter", ist ebenso allgemein bekannt wie viel beklagt. Es liegt darin aber eine Grundentscheidung, welche vielfachen Abschwächungen zugänglich sein mag, im Letzten jedoch klare Prioritäten setzt: Rechtsrichtigkeit der Entscheidung geht vor deren Rechtzeitigkeit. Nachdem Richtigkeit, wie dargelegt, als solche eine wesentlich zeitblinde Kategorie darstellt, bedeutet ihre Herstellung im gestuften Verfahren der Instanzen geradezu etwas wie eine Entzeitlichung in Potenz. Nicht nur treten in Addition die Zeitverluste in höherer Instanz zu denen der jeweiligen Vorinstanzen hinzu; es verstärkt sich gewissennaßen vervielfältigend die zeitblinde Genauigkeitsgrundstimmung der Vorinstanz auf höherer gerichtlicher Entscheidungsstufe. Daher lassen sich auch immer längere Prozessdauem im Berufungs- oder gar im Revisionsverfahren letztlich kaum ausschließen, weil eben Richterlichkeit mit all ihren entzeitlichenden Kräften dort potenzierend sich verstärkt, wo sich der Prozess der "reinen Rechtsentscheidung" annähert. Alle beschriebenen Entzeitlichungsphänomene des Rechts als solchen und der daraus erwachsenden Richtennentalität treten damit qualitativ verstärkt auf. Verfehlt ist es also, bei Entscheidungen über den Instanzenzug lediglich organisationsrechtliche oder gar nur finanzielle Überlegungen in den Vordergrund zu stellen, oder auch solche der Fortbildung des Rechts durch die Dritte Gewalt. Letztlich geht es um deren Verständnis als solcher: Soll hier Richtiges geschehen oder nur Rechtzeitiges, ist das Recht Effizienzinstrument oder doch Erkenntnisgegenstand - wirkt es nicht nur, wenn richtig entschieden wird? b) Eine weitere typisch judikative Funktion des zweifellos verspätenden Instanzenzuges darf ebenfalls nicht vergessen werden: Nur die Existenz übergeordneter Spruchkörper sichert die Neutralität der Entscheidenden, ihre Unabhängigkeit, vor allem aber die Akzeptanz ihres Letzten Wortes. Gewiss ist es gerade der Instanzenzug, welcher Zweifel an einer richterlichen Unabhängigkeit immer wieder nähren wird, welche durch den ständigen "Blick nach oben" getrübt erscheint. Ist die nachgeordnete Gerichtsinstanz nicht doch nur virtueller Befehlsempfänger der übergeordneten, und nähert dies nicht die Dritte Gewalt als solche jener hierarchisch gegliederten Exekutive an, in welcher Anordnungen von oben ergehen, wie sie hier als "Rechtsauffassung der höheren Instanz" ebenfalls zu achten und umzusetzen sind? Diesen Bedenken gegen die Aufhebung typisch judikativer Unabhängigkeit nachgeordneter Richter stehen jedoch Zugeständnisse gegenüber, wel16*

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che, so scheint es eben, gerade um deren Neutralität, um der Akzeptanz ihres letzten Wortes willen erforderlich werden. Wahrhaft unabhängig im vollen Wortssinn ist doch nur eine Instanz, welche nicht nur Anordnungen von dritter Seite nicht erhält, sondern, wenn es denn sein muss, nur solche von "ihresgleichen". Der gewaltinterne Rechtsbefehl der höheren Instanz gegenüber der nachgeordneten erscheint in diesem Licht als eine indirekte aber wichtige Bestätigung der Gewaltenteilung, der Abschottung allen gerichtlichen Tuns von anderen Staats- oder Gesellschaftsentscheidungen. Bleibt allerdings die Frage, ob dieses verzögernde Opfer des Instanzenzuges um der Akzeptanz der Gerichtsbarkeit willen überhaupt gebracht werden muss - die Rechtsentwicklung, man könnte es auch Entwicklung der Rechtspsychologie nennen, hat dies bejaht: Ein Letztes Wort soll nur in einer Organisation gesprochen werden können, welche in sich, wiederum gestuft, vor-letzte und letzte Worte sprechen darf. Letztes Wort ist dann nicht jedes Wort irgend eines Richters, sondern nur das der Gerichtsbarkeit als solcher - und darin könnte eine Bestätigung der Judikative als einer eben doch in sich geschlossenen Gewalt gesehen werden. Für all dies wird aber ein hoher Preis bezahlt: die immer spätere Macht der Richter.

2. Höhere Instanz: Potenzierte Richtermentalität Was schon vielfach angedeutet wurde, bleibt hier nochmals zusammen zu sehen: Es gibt etwas wie das Ideal des "reinen Richtens" auf Rechtsrichtigkeit hin, des "immer reineren". Dem nähert sich jeweils die höhere Instanz und damit verstärkt sich nicht nur, es potenziert sich vor allem jene entzeitlichend wirkende Richtermentalität, von welcher die Rede war. Die höhere Instanz ist zunächst noch nicht einmal durchgehend von der zeitaufwendigen bis zeitnegierenden AufgabensteIlung der Sachverhaltsermittlung freigestellt, oft muss sie diese vertiefen und ergänzen, stets überprüfen. Dies alles erfordert Genauigkeit und damit einen Zeitaufwand, der nicht nur quantitativ über den der ersten Instanz hinaus geht. Vor allem werden von ihr aber auch bereits in dieser Phase Vor-Beurteilungen rechtlich vertiefender Art erwartet, welche jede Ermittlungstätigkeit mit Schwierigkeiten rechtlicher Überprüfung zusätzlich belasten. In der rein rechtlichen Beurteilungsphase sieht sich schließlich diese höhere Instanz unter gesteigertem Erwartungsdruck, aus ihrem selbstbewussten Selbstverständnis heraus, wie auch gegenüber Beteiligten und der Allgemeinheit. Die höhere Würde wird zur höheren Bürde einer Gründlichkeit, welche immer mehr Zeit kostet, am Ende nach ihr nicht mehr fragen lässt.

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Vor allem von der Begründung wird "dort oben" dann eben nicht nur mehr, es wird ganz anderes verlangt, und dies strahlt sogar begründungs verstärkend bereits auf die Vorinstanzen aus. Je näher das Richterwort seiner Endgültigkeit kommt, desto mehr kann es Akzeptanz nur in der Gründlichkeit seiner Begründung finden. Diese aber verlangt auf höherer Stufe wiederum nicht nur quantitativ mehr an Argumentation, sondern eine andere Qualität derselben, die weiter hinausblickt über den Einzelfall, daher ein Mehr nicht nur an Informationen, sondern auch an vertiefendem Nachdenken verlangt, voraussetzt. Gerade hier schaukeln sich also judikative Mechanismen selbst hoch, immer aber in einem Sinn: Zeitgerechtigkeit tritt hinter Rechtsrichtigkeit, jedenfalls Akzeptanz des letzten Richterworts zurück. 3. Instanzenzug - schwerwiegende Verspätung einer Gewalt Die Urteile schon der ersten Instanz kommen in vielen Fällen viel zu spät, für die Interessenlage der Betroffenen und nach deren Rechtsgefühl, welches ja zeitgeprägt bleibt, wenn es auch die Entscheidungsstimmung der Richter nicht ist. Tritt nun aber der Prozess auf eine weitere Stufe, so potenzieren sich all diese Verzögerungseffekte, sie addieren sich nicht nur rein in Zeiteinheiten. Nun wird ja wiederholt, was schon entschieden schien, das Rad des Prozesses und damit der Zeit wird regelrecht zurückgedreht aus der Sicht der Beteiligten wie der Allgemeinheit. Mag man auch Berufungs- oder Revisionsverfahren um einige Monate in ihrer Dauer verkürzen - diese gewalt-psychologischen Belastungen bleiben und sie wirken immer in eine Richtung vor allem: War diese Verspätung nicht umsonst, tritt da nicht eine Gewalt auf, die vor allem ihre eigenen Glasperlenspiele veranstaltet, außerhalb einer Realität, die sich in Zeiteinheiten bewegt? Werden die Rechtssuchenden nicht dahin gedrängt, dass sie mit ihrem Verhalten, in ihren Planungen über diese Gewalt hinweggehen, so wie diese weggeht, Stufe auf Stufe, über ihre Zeit? Wer am Ende einer so überlängten Rechtsstreitigkeit Recht bekommt, wird fragen, warum dies nicht schon früher möglich war, dem Unterliegenden ist der verspätete Misserfolg längst nicht immer ein Trost. Im Instanzenzug treten die Fluten judikativer Verspätungen gewissermaßen nur langsam, fast unmerklich über die Ufer, aber gerade darin können Rechtsbewusstsein und Vertrauen der Bürger in eine effiziente Staatlichkeit mehr beschädigt werden, als durch einen harten, problematischen Richterspruch. Die Rechtsordnung hat sich entschieden, jedenfalls in Deutschland in einem kaum irgendwo erreichten Ausmaß, der Judikative als einer "Gewalt des Richtigen" im Grunde die Rechtzeitigkeit als solche zu opfern und die Richtigkeit sogar in eine eigenartige Höhe abstrakter Erkenntnisse und einer Befriedigung des Rechtsgefühls zu tragen. Doch der Bürger darf dies

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E. Die späte Macht der Judikative

nicht allzu laut beklagen, wird ihm damit doch ein nicht geringer Teil originärer Staatsrnacht im Ergebnis übertragen: er kann seine Prozesse weitertreiben, bis an die femen Grenzen der Schikane, Entzeitlichungswirkungen der Dritten Gewalt für seine Zwecke einsetzen, durch Beschwerde, Berufung und Revision. Was damit dem Staat an Gewaltpräsenz insgesamt verloren geht, gewinnt der Gewaltunterworfene in seinem erweiterten Recht zum Prozessspiel. Und jedenfalls gewinnt hier immer zunächst einmal der beatus possidens: Wer hat, dem wird gegeben, jedenfalls darf er behalten, auf Zeit. Die späte Gewalt der Richter wird zur Gewalt auf Zeit des Bürgers. 4. Verspätender rechtsstaatlicher Instanzenzug: Misstrauen gegen die Dritte Gewalt

Rechtsstaatlichkeit als Kontrollforderung bedeutet Misstrauen als Rechtsprinzip. In all ihren Gründen und Ausprägungen, am deutlichsten aber im Instanzenzug, ist die späte Gewalt der Richter nicht Ausdruck einer Verstärkung dieses Pouvoir, als welche seine Vertreter diese Entlassung in Zeitlosigkeit oft missverstehen mögen, sondern in erster Linie Ausdruck eines mangelnden Vertrauens in ihr Letztes Wort, in das Wesen ihrer Gewalt, gegenüber dieser selbst. So sieht sie sich an strenge prozessrechtliche Kandaren gelegt, zur instanziellen Selbstüberwachung gezwungen. So schwer wiegt in der Rechtsordnung dieses Misstrauen, das letztlich doch auch ein solches ist gegenüber einem Letzten Wort im Namen des Rechts, geradezu gegen dieses selbst, dass in seinem Namen eine andere Rechtsqualität gefährdet, wenn nicht geopfert wird: die einer Vorhersehbarkeit, welche wiederum die Rechtsstaatlichkeit zwingend verlangt. Sie verliert sich mit der zeitlichen Distanz der richterlichen Entscheidung von ihrem eigentlichen temporären Wirkungsraum immer mehr, wenn so Vieles so lange Jahre hindurch in der Schwebe bleibt; Vorhersehbarkeit kann dann nur mehr bedeuten: am Recht überhaupt vorbeisehen müssen. In Bewertung dieser "späten, verspäteten Gewalt der Richter" darf zusammenfassend, nachdem ihre Entbindung aus der Zeit deutlich geworden ist, festgestellt werden: Diese Schaffung einer entzeitlichten Dimension des Urteilens zeigt unter Gewaltgesichtspunkten ein Doppelgesicht. Einerseits verstärkt sie die Macht von Urteilenden, ihre Freiheit der Entscheidung, welche sich nicht durch die allmächtige Zeit und Akteure in dieser drängen zu lassen braucht; zum anderen aber geht ihr gerade in dieser ihrer Zeitentrücktheit nicht nur Überzeugungskraft, sondern auch viel an faktischem Gewicht verloren. So gibt die Rechtsordnung diesen Instanzen, welche sie als Dritte Gewalt so volltönend bezeichnet, mehr und weniger an Gewicht zugleich, all dies

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im Namen des Rechts - oder sollte da doch nur Machtbalance sein, damit keine Gewalt die höchste sei, weil sie die letzte sein darf?

V. Verfassungsgerichtsbarkeit als späte - weiter verspätende - Judikative 1. Die Grundkonzeption der zeitnahen Verfassungskontrolle In diesen Betrachtungen wurde die eigenartige mehr Zwitter- als Doppelrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit immer wieder deutlich: einerseits in ihrer Zuordnung zu Entscheidungsformen und -verfahren der herkömmlichen Judikative - zum anderen in den machtnäheren, zukunftsorientierenden Wirkungen ihrer Entscheidungen. Auch in der zeitlichen Verspätungsbetrachtung dieses Hauptteils könnte sich diese wahrhaft neue Form der Gerichtsbarkeit entweder zeigen als ein zusätzlicher, nur noch weiter verzögernder, ja entzeitlichender Mechanismus, oder als eine Form straffender Vergegenwärtigung der Gerichtsbarkeit in deren Wirkungen. Das klassische amerikanische Vorbild der letztendlichen Entscheidung durch den Obersten Gerichtshof entspricht mehr dem ersteren, die Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit in den kontinentaleuropäischen Staaten, insbesondere in Deutschland, aber doch wohl mehr dem letzteren, "zeitraffenden" Verständnis. Dafür spricht vor allem jene Außerordentlichkeit, welche in Zuständigkeiten, Verfahren, vor allem aber in der Organisation dieser Judikative zum Ausdruck kommt: Ursprünglich war hier strenge Einstufigkeit vorgesehen, entsprechend eben der Konzeption jener Staatsgerichtsbarkeit, welche mit einem solchen Spruchkörper rasch durchgreifend drängende Staatsfragen entscheiden sollte, in echten "Haupt- und Staatsaktionen". Derartige Angelegenheiten dulden keine Verzögerung, ihrem Wesen nach sind sie in einer Weise eingebunden in die drängenden Zwänge der Politik, dass sie nicht von einer grundsätzlich in zeitloser Ruhe beurteilenden Instanz in prinzipieller Überzeitlichkeit behandelt werden dürfen. So ist es denn auch in dieser Staatsgerichtsbarkeit weithin gelungen, die Einstufigkeit der Verfassungskontrollinstanz in rascher Entscheidung umzusetzen. Hier konnte wirklich etwas fortgesetzt werden wie eine einigermaßen zeitnahe demokratische Verfassungsdynamik, wie sie ein volkssouveränes Regime verlangt. Gewisse Verzögerungseffekte, insbesondere im Bund-Länder-Streit oder in der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Parteien, ließen sich aber schon deshalb nicht vermeiden, weil sich eben doch bald eine organisatorisch-kompetenzmäßige Verzahnung dieser Staatsgerichtsbarkeit mit der bürgerschützenden Verfassungsgerichtsbarkeit ergab, die sich ihrerseits nun aber deutlich als eine weiter verspätende Gewalt erwies. Die Ausfaltung der

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E. Die späte Macht der Judikative

Weimarer Staatsgerichtsbarkeit in diese bürgersichernde und gerichtskontrollierende allgemeine Verfassungsgerichtsbarkeit hinein hat dieser ganzen Institution eine Verzögerungsfalle geöffnet. 2. Die Verfassungsbeschwerde Verfassungsgerichtsbarkeit als verspätende Gewalt An der Eröffnung des Weges der Verfassungsbeschwerde zu einer rechtsstaatlichen Heerstraße, in einer im internationalen Vergleich einmaligen Breite, ist das ursprüngliche Konzept einer zeitnah wirkenden Verfassungskontrolle insgesamt bereits gescheitert, ja es wird dies der Verfassungsgerichtsbarkeit insgesamt zum Problem. Die Verfassungsbeschwerde ist es, welche zur chronischen Überlastung des obersten Gerichts, zur zunehmenden Zeitferne all seiner Entscheidungen geführt hat, vor allem darin aber zu einer schweren Belastung für die verfassungsgrundsätzliche Legitimation dieser Institution. Gerade der Freiheitsschutz des Bürgers, der doch nach den ursprünglichen Verfassungsvorstellungen, wie sie sich in der Französischen Revolution entwickelt und seither präzisiert haben, ein gegenwärtiger, ja ein augenblicklicher zu sein hätte, schon angesichts der unvergleichbaren Wertigkeit dieser Freiheit - eben diese Sicherung versagt in ihrer Wirkung auf breitester Front. Und wo doch einmal zeitnah entschieden wird, erfolgt dies unerwartet, wie ein Überraschungstreffer. Zeitkategorien lassen sich hier überhaupt nicht mehr entwickeln oder gar vorhersehbar anwenden. Eine überlastete Verfassungsgerichtsbarkeit spielt nur mehr auf Zeit und stielt sich damit aus der Zeit. Aufgegeben wurde aus dieser Überlastung heraus sogar, wiederum auf breiter Front, jene Einheitlichkeit der Kontrollinstanz, welche einst Zeitnähe verheißen sollte: Der Instanzenzug ist eingebrochen in die Verfassungsgerichtsbarkeit, er hat nun sogar schon die europäische Gerichtsbarkeit erreicht. Mit all seinen bereits geschilderten verzögernden, entzeitlichende Verspätungen geradezu potenzierenden Auswirkungen erfasst die Stufung von "Kammerentscheidung" zu "Senatsentscheidung" die Verfassungsgerichtsbarkeit. Darin liegt nicht nur immer noch weitere Verzögerung, darin kommt eine fatale Fortsetzung des in Deutschland jedenfalls bereits hoch-, vielleicht übersteigerten Instanzenzuges zum Tragen. In alle Richtungen entfernt sich also die Verfassungs gerichtsbarkeit von ihrem ursprünglichen Anspruch auf eine Zeitnähe, wie sie ihr eine Politik vorzugeben schien, die wesentlich nicht abzuwarten vermag. Die Forderung nach einer Erschöpfung des Rechtswegs, nach einem mühevoll und zeitraubenden, wenn nicht gar entzeitlichenden Durchlaufen der gesamten Instanzenvielfalt, hat einen Preis gefordert, welchen die Verfassungsrichter offen haben nie zahlen wollen: Sie sind eben doch zur Superrevisionsinstanz ge-

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worden, jedenfalls darin, dass selbst ihre Verfassungskontrolle bereits "unten" vorgeprüft, vorgeleistet werden muss. Wenn nun sogar "Annahmeentscheidungen" den Gerichtsentscheidungen vorgeschaltet werden, so ist geradezu verbal das Revisionsdenken dort zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Urteilsverfassungsbeschwerde, der eigentliche Hemmschuh der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, findet gewiss einen guten Sinn in der Verfassungsdisziplinierung der gesamten Judikative, in ihrem hierarchisierenden Zusammenfassungsbemühen zu einer Dritten Gewalt. Doch gerade damit stellt sich das Bundesverfassungsgericht, mehr als jede andere Gerichtsinstanz, nicht nur in die Reihe, sondern an die Spitze eines Marsches der Richter aus der Zeit, in schier unglaublichen Verzögerungen. Nicht umsonst musste sich gerade diese Spitzeninstanz der Judikative von EuropaRichtern wegen Verzögerungen rügen lassen, welche selbst zeitliche Geduld nicht mehr hinnehmen kann - weil sie eben letztlich überhaupt aus der Zeit hinausführen. Immer häufiger ergehen gerade Entscheidungen über jene Verfassungsbeschwerden, welche doch Freiheitsattentate "schnell und unbürokratisch" beenden sollten, über viele Jahre zurückliegende, inzwischen längst tatsächlich oder gar normativ überholte Fallkomplexe. Allenfalls wird damit noch über alle Zeit hinaus wirkendes Verfassungs-Richterrecht gesetzt. 3. Die unerträgliche Verspätung der Gesetzeskorrektur

Gewiss ist es die durch Verfassungsbeschwerden hervorgerufene Gerichtsüberlastung, welche zu einer schwerwiegenden Verzögerung der Gesetzeskontrolle geführt hat - doch in ihr gerade wirft sich die Verfassungs gerichtsbarkeit selbst aus jeder Zeit, in ihrer zentralen Zuständigkeit. Verlangsamung vollzieht sich hier in der gefährlichsten Form der Verspätung: Schritt-, monate-, jahrweise, in immer weiterer Verspätung - als ob der Bürger und die Staatsorgane gerade bei den doch sofort und stets gleichmäßig wirkenden Gesetzen auf deren Korrektur beliebige Zeit warten könnten. Hier droht etwas, ja es ist schon im Lauf, wie ein eigentümlich-quantitativer Verlust der Kontrollkompetenz: Was soll es noch bedeuten, wenn ein Gesetz nach vielen Jahren, vielleicht nach Jahrzehnten erst aufgehoben wird, wenn sich Bürger einen großen Teil ihres Lebens lang, Beamte einen bedeutenden Teil ihrer Dienstzeit hindurch, mit solcher Verfassungswidrigkeit haben abfinden müssen? Ist Verfassungsverstoß durch ein immerhin oberstes Verfassungsorgan, den Gesetzgeber, ein so normaler Vorgang gewöhnlicher Rechtspraxis, dass derart schwerwiegende Rechtswidrigkeit so lange Zeit hindurch hinnehmbar erscheint, während doch kleine und kleinste Regelwidrigkeiten im Einzelfall sofortiger Korrektur und Ahndung bedürfen? Eine eingeschliffene, sich immer weiter ausschleifende Verspätungspraxis der Verfassungskontrolle der Gesetze hat einen Gewöhnungs-

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effekt hervorgebracht - an Verfassungsbruch. Darin werden die höchsten grundgesetzlichen Maßstabnonnen nicht nur dadurch problematisch, dass ihr Inhalt offenbar so schwer zu erfassen ist, dass dies viele Jahre dauern muss - ihre Missachtung erscheint auch weit weniger gewichtig als die einer "technischen" Straßenverkehrs- oder Besteuerungsnonn, da sie solange Zeit hindurch hat hingenommen werden können. Die Verfassungs gerichtsbarkeit hat Gesetze mit der Begründung aufgehoben, sie könnten nicht wirksam vollzogen werden - müsste dann ein ähnliches Schicksal nicht so manche Verfassungsnonn ereilen, welcher diese selbe Verfassungs gerichtsbarkeit durch die Verspätung ihrer Entscheidungen bescheinigt, dass sie gar nicht habe zu wirken brauchen, über viele Jahre? Nie hat man bisher vertiefend darüber nachdenken wollen, was diese Verzögerung der Verfassungskontrolle von Gesetzen im Grunde doch bedeutet: dass es über viele Jahre hinweg zweifelhaft ist, ob die Bürgerschaft in einer verfassungsmäßigen, in einer rechtmäßigen Ordnung lebt oder nicht. Darf Derartiges wirklich, wie etwa im Falle der Ökosteuer, über so lange Zeit hinweg "offen", letztlich dahingestellt bleiben? Ist die verspätete Korrektur eines Gesetzes überhaupt noch Verzögerung oder nicht bereits eine Teilentscheidung der Billigung des Rechtsbruchs? Gerade hier sollte die Judikative nun einmal deutlich entscheiden "für Vergangenheit und Zukunft zugleich"; doch immer mehr nähert sie sich auch darin der Instanzgerichtsbarkeit, dass sie zunehmend "vergangene Fälle" klärt, ihr Letztes Wort über Überholtes spricht. 4. Ex-tunc-Wirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen: aufgeholte Verspätung?

Verfassungsprozessuale Dogmatik hat ein Mittel bereit, so scheint es doch, gegen solche Bedenken: Der auch hier prozessual fixierte Prozessstoff wird zwar als "Teil der Vergangenheit" mitbeurteilt, die Entscheidung zeitigt aber grundsätzlich ihre Wirkung ex tunc, sie reißt das Verfassungsübel mit der zeitlichen Wurzel aus. Damit, so ließe sich behaupten, kann eine solche Verfassungsentscheidung begrifflich gar nicht und niemals "zu spät" kommen; holt nicht ihre Suche nach der verlorenen Zeit diese in vollem Umfang wieder zurück, korrigiert damit nicht die gerichtliche Zeit die Zeit des realen Ablaufs? Dass hier die Grenzen fingierender Dogmatik rasch erreicht sind, zeigt das Verfassungsprozessrecht selbst, aber vor allem auch die verfassungsgerichtliche Praxis. Wo eine solche Entscheidung nicht vorhergesehen wurde - vielleicht müsste es angesichts der Wahrscheinlichkeitslage heißen: vorausgeahnt - wo nicht Rechtsbehelfe den Verfahrensablauf angehalten haben

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in der realen Zeit, hat sich diese Sache bereits erledigt - im Sinne der angeblich von Anfang an verfassungswidrigen Norm. Eine ganze Dogmatik der vollendeten Tatsache lässt sich aus diesem Verfassungsprozessrecht entfalten. Um rechtfertigende Begriffe ist sie nicht verlegen, vom favor legis bis zu einer Rechtssicherheit, die eben durch Verfassungsrisiko nicht unerträglich aufs Spiel gesetzt werden darf. Doch all dies hat kaum mehr Gewicht gegenüber einer sich rasch intensivierenden Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit, in welcher diese zu einer Art von Selbstheilung ihrer Verspätungsfolgen übergeht: Sie setzt die Verspätungen auch noch fort.

5. Verfassungsgerichtliche Orientierungen späterer Gesetzgebung In vielen Formen, insgesamt aber in zunehmender Bindungsfreudigkeit, "orientiert" die Verfassungsgerichtsbarkeit den Gesetzgeber, wie er die solange geltenden, so spät erst aufgehobenen Normen in der Zukunft (um-) zugestalten habe, wann er hier spätestens tätig werden müsse. Dies erscheint als ein Versuch, die verfassungs prozessualen Zeitverluste mit einer Erkenntnis wieder aufzuholen, ungeschehen zu machen, wie wenn man eine Zukunft an die Stelle einer Vergangenheit setzen könnte, welche sich nicht mehr ändern lässt. Die gesamten Gesetzeswirkungen werden gewissermaßen zu einer Einheit zusammen-fingiert, unter Ausblendung der Zeit, und es genügt dann, wenn zu einem späteren, vom Gericht bestimmten Zeitpunkt, die verfassungsgemäße Lage hergestellt ist. Darin liegt zwar das Eingeständnis, dass sich die erwähnte Ex -tunc-Wirkung nicht herstellen lässt, dass die Verspätung insoweit unheilbar bleibt; die Wunde wird aber doch für eine Zukunft geschlossen, welche gewissermaßen mit der verfassungswidrigen Vergangenheit zur zeitlosen Einheit zusammengeschlossen wird. Dies bedeutet allerdings das Eingeständnis der Verspätung - aber doch auch etwas wie den Versuch ihrer Entschuldigung: So schwer wiegt offenbar die Verfassungswidrigkeit doch nicht, dass sie "von Anfang an" oder doch von der Verfassungsentscheidung an völlig zu beseitigen wäre, dies genügt in einer bestimmten Zukunft. Oder es liegt darin - und wohl auch stets zugleich - das Eingeständnis, dass die Allmacht der realen Zeit über die Macht der Verfassung und ihrer Gerichtsbarkeit hinweggegangen ist, dass Vergangenes sich eben nicht mehr ändern lässt - dass die Sünden der Verspätung nicht vergeben werden können. In diesem Sinne sind dann die Zukunftsorientierungen der Gesetzgebung seitens des Verfassungsgerichts ein Schuldbekenntnis später richterlicher Gewalt. Und zugleich fügen sie der Sünde bisheriger Verspätung eine weitere hinzu: Sie verlängern die Verspätung, mit welcher verfassungsmäßige Zustände hergestellt werden.

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E. Die späte Macht der Judikative

Die Verspätung verfassungs gerichtlicher Normenentscheidungen ist an sich schon in vielen Fällen kaum mehr erträglich für Bürger und Staatsorgane, welche sich an die Gesetze halten müssen. Ergeht nun die Entscheidung endlich, so wird sie mit einem zukunftsorientierenden Ausspruch in ihrer Wirksamkeit noch weiter hinausgezögert, nicht selten geradezu unabsehbar, wenn der Gesetzgeber auch dem nicht oder nicht vollständig Rechnung trägt, weitere Verfassungsprozesse sich bereits am Horizont abzeichnen. Darin lässt sich dann die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur selbst Zeit, sie gibt der Gesetzgebung immer längere Zeit, bis hin zu einer Unabsehbarkeit, in welcher der Richterspruch als solcher bedeutungslos zu werden droht. So holt eine Verfassungsgerichtsbarkeit, welche das Recht politisch aktualisieren, ja dynamisieren sollte, die Judikative insgesamt und sich selbst durch immer weitere Verspätungen nur noch mehr heraus aus aller Nähe der Zeit. Erwartet hätten vielleicht Bürger und Staatsorgane, dass diese "alleroberste Instanz" sämtliche irgendwie doch nachgeordneten Gerichte auf Beschleunigung hin disziplinierte. Entstanden ist eine weitere Institution judikativer Verzögerung: Mehr Macht für Richter - aber immer noch spätere ...

6. Von der "späten Gewalt" zur "negativen Macht judikativer Verunsicherung" Zeitnähe und Verspätung sind Kategorien eines Denkens in grundsätzlicher Entscheidungsnotwendigkeit, in jedenfalls prinzipiell gewünschter Zeitnähe des rechtlichen Ordnens. Sie stehen in Spannung zum Begriff eines Risikos, der gerade umgekehrt den entscheidungslosen Zustand als solchen hinnimmt, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, ihn bewältigen, "mit ihm leben" will. In diesem Sinne kennt Risikomanagement keine Verspätungen, es tritt an ihre Stelle. In diese Lage, in solche Zwänge, hat die Judikative insgesamt, hat vor allem aber und deutlich die Verfassungsgerichtsbarkeit den Bürger, die anderen Staatsorgane gestellt: Sie reden gar nicht mehr von Verspätung einer Herstellung der Verfassungsmäßigkeit, sie sehen sich in laufende Verfassungsrisiken geworfen, denen sie mit mehr oder weniger notdürftiger Risikobewältigung begegnen. Das Wort bereits vom Verfassungsrisiko beinhaltet die Anerkennung von geradezu unabsehbaren Entscheidungsverzögerungen, von Verspätungen, welche als solche schon gar nicht mehr zum Problem werden. Diese Verfassungsrisiken nehmen aber, andererseits, rasch und allseitig zu: Es steigt die Antragsbereitschaft derjenigen ständig an, welche sich an dieser Verfassungs-Lotterie beteiligen, nicht zuletzt deshalb, weil ihr Ausgang ja auch zeitlich unabsehbar ist. Mit der Urteilsverfassungsbeschwerde

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können langdauernde Prozesse, wenigstens als Hoffnung von Mandanten, noch weiter fortgesetzt werden. Die Dauer von Verfassungsprozessen über gesetzliche Regelungen wird mit der steigenden Gesetzesflut immer weiter zunehmen. Diese Verzögerungen verbreitern sich normativ in der gesamten Staatlichkeit und auf das Verhalten immer weiterer Bürgergruppen und -schichten. Juristen und Rechtsgläubige bringen sich ein in dieses großangelegte Suspendierungsverfahren von Staatlichkeit und Recht, in welchem das entstehende, zunehmende Verfassungsrisiko eines jedenfalls bewirkt, und zwar "mit Macht": Verunsicherung in unabsehbarer zeitlicher Verzögerung, Resignation nicht nur gegenüber rechtsstaatlicher Vorhersehbarkeit und Verfassungssicherheit überhaupt, sondern auch, und dies wird nun der gesamten Staatlichkeit gefährlich: gegenüber der Macht als solcher, aus welcher der Staat besteht. Am judikativen Brennpunkt der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt sich überdeutlich, dass von dieser judikativen Spitzengewalt etwas ausgeht wie systematische Verunsicherung und damit Wirkungen, die man unter dem Begriff der "negativen Macht" zusammenfassen könnte. Wie sich schon beim Machtbewusstsein der Richter zeigte: Wenn es Wesen dieser Macht ist, flächendeckend zu ordnen, wenn nötig zu beugen, kann davon dort nicht die Rede sein, wo Risiken durch Verspätung hervorgerufen werden, Verzögerung den Schwebezustand erhält und durch zukunftsorientierende Entscheidung gar noch verlängert wird. In spektakulären Entscheidungsformen scheinen die Verfassungsgerichte etwas in den Staat zu bringen von einem letzten Befehl, der eben doch "das Beste" sein soll - sind es aber nicht in Wahrheit immer mehr doch nur Marginalien zu sich häufenden Verfassungsrisiken? Wird damit nicht die gesamte Staatsrnacht - immer weiter verspätet? Die Verfassunggeber wollten hier wenigen Entscheidern Macht geben, angesichts von deren beschränkter Zahl gerade viel Macht. Verliehen haben sie, das zeigt sich heute, langsame Gewalt, negative Macht, eben weil es so wenige sind, welche sie in diesen komplizierten Formen auszuüben haben. So verstärkt denn gerade notwendig eine Verfassungsgerichtsbarkeit, in welcher sich der Staat immer weiter verspätet, Bedenken, wie sie vor allem Gegenstand dieser Betrachtungen sind: ob die Judikative überhaupt als solche eine Institution darstellt, welche Macht in einem Sinn ausübt, der eben doch erforderlich wäre, damit von einer "Gewalt" gesprochen werden könnte.

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E. Die späte Macht der Judikative

VI. Faktischer Wirkungsverlust als Machtverlust der Gerichtsbarkeit 1. Ökonomische Schnelllebigkeit - judikative Lebensferne Votiiber sind die Zeiten, in denen Bauern, Grundstücksnachbarn, Erben auch ein Leben lang warten konnten auf gerichtliche Erkenntnisse. Der gegenwärtige Entwicklungsrhythmus der Marktlagen verlangt von deren Akteuren eine Reaktionsschnelligkeit, ja eine vorausschauende Gestaltungsdynamik, welche in aller Regel mit der bedächtigen Zeitlosigkeit gerichtlichen Vorgehens völlig unvereinbar ist. Der Unternehmer muss wissen, hier und jetzt, ob er investieren kann, ob ihm jemand dies untersagen darf, vor allem aber, ob er sogleich über die nötigen Mittel verfügen kann. Die Gerichtsbarkeit sagt es ihm so oft erst, wenn alle Märkte verloren sind. Sie kennt das Problem der Finanzierung nur als ein solches der Zwischenfinanzierung bis zu ihrem Endurteil, das dann nicht nur den Verlust eines Prozesses bringen kann, sondern auch noch den der zwischenfinanzierten Existenz. Der Unternehmer, der wirtschaftende Bürger überhaupt, sie leben heute länger, doch wirtschaftlich sind sie rascher vom Tod bedroht, denn Schnelllebigkeit kommt auch aus Insolvenzgefahr. Hier wird ein ökonomischer Tod vorverlegt, auf den der Kläger so oft nicht warten will, kann. Psychologisch, ja menschlich ist es für ihn dann geradezu unerträglich, mit welcher Langsamkeit, in welch ruhiger Zeitlosigkeit die späte Gewalt voranschreitet, ihn vielleicht gerade dann aber doch erreicht, wenn ihre Entscheidung nur mehr den Gnadenstoß bedeutet. Flexibilität mag ein inhaltsarmes Modewort sein, doch sie spricht ein Grundbedürfnis gegenwärtiger Aktions- und Reaktionsdynamik an. Gewiss ist sie zuallererst sachlich-inhaltlich gefordert, doch sie zeigt zugleich auch eine meist entscheidende zeitliche Komponente: Wer nicht ausweichen kann, eben weil die Entscheidung für ihn zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und dies gilt vor allem in einem Sinn, auf welchen die Judikative, ihrem Wesen entsprechend, nicht Rücksicht nehmen kann: Es ist das "Gesamtleben", jedenfalls ein Leben in vielfältigen, ökonomischen Zusammenhängen, um das es hier geht - dem Richter aber wird aus all dieser Vielfalt immer nur die eine oder andere Frage vorgelegt. Im Übrigen wird und darf er dem Kläger bescheinigen: "Da sieh du zu". Wie oft muss jener sich dann in Verzweiflung die Schlinge um den Hals legen. Fernab von solcher betriebswirtschaftlicher Problematik: Volkswirtschaftliche Auswirkungen der ständig rollenden und steigenden Verspätungswel-

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len aus der Gerichtsbarkeit heraus lassen sich wohl insgesamt kaum auch nur umrisshaft abschätzen. Unabsehbare Wertverluste sind die Folge verzögerter Investitionsentscheidungen, selbst ein obsiegendes Urteil bringt oft den zugesprochenen Wert zu spät, wertet ihn damit ab. Das wirtschaftlich oder beruflich wertlose Urteil befriedigt dann allenfalls noch das Rechtsgefühl, vielleicht nur mehr die Rechthaberei. Die Frage muss schon lauten: Ist eine solche Judikative, welche aus derartigen rechtlichen Grundstimmungen heraus wirkt, mit einer Marktwirtschaft vereinbar, in ihr überhaupt noch erträglich.

2. Das rasche Menschenleben und die langsame Justiz Nicht nur wirtschaftliche Vorgänge sind es nun aber, welche Spannungen erzeugen zwischen dem Bürger und seinen späten Richtern. Die Zeiträume werden überall enger unter wirtschaftlichem Druck, aber auch weit darüber hinaus in einer Emanzipationsbewegung, welche Ungeduld steigen lässt. Von der Ehe bis zur Krankheit, von der Schule bis zum Berufserfolg nichts wird mehr mit jener oft fatalistischen Ruhe hingenommen, welche in früheren Zeiten selbstverständlich sein mochte. Sie war weithin geprägt von einem geduldigen Warten auf göttliches Urteil, auf Rat und Tat eines Schöpfers, der aus einem Jenseits heraus wirkte, welches die Zeit nicht kennt und daher auch nie zu spät erscheint. Etwas von der Schicksalhaftigkeit dieses göttlichen Urteils trug einst mit Sicherheit auch den Spruch jedes Richters, doch dies ist nun unwiederbringliche Vergangenheit in einer säkularisierten Welt, welche "das Leben in die eigenen Hände nimmt", welcher Abwarten zur Sünde wird. Zur rechts psychologischen Grundstimmung geworden führt eine solche Grundhaltung zu einer allgemeinen justiziellen Ungeduld, welche die späte ruhige Gewalt der Richter immer schwerer erträgt. Vielleicht hat sie nicht mehr in ihrer Effizienz, sondern nur mehr darin eine wirkliche Chance, dass eben alles andere, Staatliches und Gesellschaftliches, um den Bürger herum und in seinem Denken derartig unsicher, risikobeladen ihm erscheint, dass er bereit ist, sich selbst noch an den justiziellen Verspätungen anzuhalten, um überhaupt Halt zu finden. Doch auch dies wird kaum dauern. Ist einmal die Nützlichkeitsfrage einer Institution, einer Einrichtung gegenüber gestellt und der Werthaftigkeit ihrer Entscheidungen, so steht sie unter einem Legitimationsdruck, wie ihn die Gerichtsbarkeit der steigenden zeitlich orientierten Ungeduld gegenüber immer schwerer aushalten kann. Entgegenhalten kann sie dem ja, wie dargelegt, immer wieder nur ein Richtigkeitsstreben, welches sie aber vor dem verzögerungsmüden Bürger nicht entschuldigt. Denn aus seiner Schnelllebigkeit heraus wird es ihn zu etwas ziehen, was dem Richter fremd bleiben muss: zum Experiment, damit letztlich zur Kompensation

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schwer zu erreichender Sachrichtigkeit durch rasch wechselnde Sachlösungen. Warum sollte gerade hier Richtigkeit die Verspätung rechtfertigen, wenn sie jedenfalls der Unterlegene nicht akzeptiert, sie für den Obsiegenden bereits überholt ist? In all dem drohen die gerichtlichen Urteile nicht nur ökonomisch wertlos zu werden, immer mehr, sondern auch noch menschlich, im Geist jener Bürger, welche sie dann doch tragen sollten, aus deren Verhalten erst ihre eigentlichen Wirkungen entstehen. In einer Demokratie soll nicht nur alle Macht, es sollten auch alle Rechtswirkungen letztlich auf den Bürger sehen - damit auch die jedes Gerichtsurteils - wie schwer er daran tragen, wie weit es ihn entlasten mag, motivieren zu Neuem. Der Richter späte Gewalt, in einer stets frühen Welt - ist dies kein immenser geistiger, politischer Machtverlust?

3. Ausweichen - der Dritten Gewalt Eine schnelllebige, Flexibilität anstrebende Periode wird rasch vor allem über alles Verzögerliche, Verspätende hinweggehen, und damit wohl auch immer mehr über der Richter späte Gewalt. a) Prozessvermeidungsstrategien aller Art beschäftigen Heerscharen von Rechtsberatern; in keinem Verhältnis steht ihr Tätigkeitsvolumen, die wirtschaftliche Bedeutung ihrer Aktivitäten zu dem, was Richter noch beitragen zur Lösung von Rechtsfragen. Der größte Teil des steigenden Stroms der Rechtsprobleme wird doch heute schon aufgefangen in Kautelarjurisprudenz, in einer Art von justizieller Vorsorgestaatlichkeit, welche den prozessualen Ernstfall immer weiter in den Bereich des oft schon "nahezu Theoretischen" zurückdrängt. Damit ist, aus Verfassungs sicht, ein schwerer und nicht zuletzt durch justizielle Verspätungen hervorgerufener Machtverlust der Dritten Gewalt ohne Zweifel verbunden, eine entsprechende Machtzunahme dagegen weniger für einen Gesetzgeber, der dazu die Weichen stellt, als vielmehr für gesellschaftliche Kräfte, Partner dieser Kautelen. Letztlich liegt darin ein Rückzug der Staatlichkeit aus der "Wahrung des Rechts". Kompensiert wird dies nicht dadurch, dass eben all diese Prozessvermeidung auf dem Hintergrund staatlicher Gerichtsorganisation, mit Blick auf sie stattfindet, welche damit gewissermaßen als eine Reservegewalt erschiene und insoweit die Rechtsentwicklung doch, wenn auch aus der Ferne, steuerte. Denn diese Prozessvermeidung wird ja nicht auf der sicheren Grundlage zu erwartender richterlicher Urteile betrieben, sie erfolgt gerade, weil man hier nur mehr Risiken sieht, und auch noch in Verspätung. Diese Kautelarjurisprudenz ist eine Art von Lebensversicherung gegen den prozessualen Tod, nicht eine andere Form desselben oder seine Vorstufe. Sie bringt Machtverschiebung weg von den Richtern, nicht zu ihnen. Dies

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mag sich einfügen in die Forderung nach "Nur so viel Staat wie nötig", hinter der steht: "Staat - wenn es denn sein muss ... ". Damit wäre dann der Machtverlust der Dritten Gewalt eingeordnet in die größere Entwicklung des Niedergangs einer insgesamt unnötigen Staatlichkeit. Doch hier beginnen Spekulationen; Realität ist der Machtverlust einer Dritten Gewalt gegenüber einer Bürgerschaft, welche ihr immer mehr in Prozessvermeidung ausweicht. b) Schiedsgerichtsbarkeit ist keine Marginalie der Dritten Gewalt. Immer mehr entwickelt sie sich zu einer Ausweiche gegenüber diesem ältesten Staatsmonopol, und ganz grundsätzlich. Hier soll nicht nur Konsens den Zwang ersetzen, die Parteien als Mit-Richter einbinden, Schiedsgerichtsbarkeit gilt vor allem als ein echter Königsweg gegen der Richter späte Gewalt. Hier werden ja jene Beteiligten nun wirklich - "beteiligt", welche unter den Sach-, vor allem aber den Zeitzwängen des Marktes stehen, in ihrem justiziellen Zusammenwirken können sie darauf reagieren, die Zeit erreicht die Richterbank. Nicht aus einer Feme sachlicher wie zeitlicher Art wird dann entschieden, was so oft keiner der Betroffenen mehr erwartet, niemand unter ihnen wirklich mitzutragen bereit ist, und selbst mitverschuldete Verspätungen wird niemand rügen. Diese Schiedsgerichtsbarkeit hat Zukunft, bis in ihre Vorgriffe der Mediation. Sie bedeutet Privatisierung in diesem innersten Staatsbereich der Dritten Gewalt, bis in ihre einzelnen Ausprägungen ist sie mit so Vielem vergleichbar, was in gleichem Namen vor allem die Verwaltung längst erreicht hat. Arbitrage als Staatsersatz: wäre dies nicht eine grundsätzliche, eine wahrhaft modeme - Staatskonzeption? Solche "Privatgewalten" kämen doch dann kaum jemals zu spät, sie könnten den Anschluss an eine Zeit wieder gewinnen, welcher der Staatsgewalt in ihrer allmächtigen Überheblichkeit verloren zu gehen droht. So ist denn die Schiedsgerichtsbarkeit nicht eine zweckmäßig-Iückenfüllende Detail-Verbesserung, anzubringen an einem Zentralmechanismus der Staatsmaschine, sie sollte gesehen, wenn nicht verfolgt werden als ein neuer Weg in reaktive Zeitlichkeit hinein, heraus aus der späten Gewalt der Richter. c) Arbitrage-Denken erfasst inzwischen aber auch die staatliche Dritte Gewalt, welche sich in ähnliche Richtungen bewegen will, aus zeitfernem Richtigkeitskult heraus. Kompromiss streben die Richter auch, gerade deshalb an, weil sie selbst nicht auf seiner organisatorischen Grundlage schiedsrichterlich tätig werden. Im Vergleich sollen die Parteien ihre eigenen Richter werden, darin können sie so rasch handeln, wie ihre Zwänge es verlangen, keiner darf sich über Vergleichsverzögerung beklagen, welche auf sein Konto geht. 17 Leisner

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Eine größere Gesamtentwicklung läuft gewiss in diese Richtung, als eine eigenartige Verbindung von staatlichem und privatem Schiedswesen hat sie staatsgrundsätzliche Zukunft, ihre justiziellen Entlastungswirkungen führen die staatlichen Richter in die Zeit, in Rechtzeitigkeit zurück, all dies hebt die Verspätungspotenzierung der Instanzenzüge auf. Bewusst muss dabei nur bleiben, dass in solcher Entwicklung die Richter letztlich vor sich selbst ausweichen, ihre späte Gewalt wieder den Parteien überlassen - wäre dies aber nicht freiheitlich, betroffenen-demokratisch gedacht? Staatsauflösung mögen hier Kritiker befürchten, und in der Tat liegt in diesem Kompromittieren, wie in jeder Zusammenarbeit von Staat und Bürger, ein Machtverlust, der hier eine ohnehin schon nicht flächendeckendmächtige Dritte Gewalt erreicht. Immerhin reicht sie hier noch aus - und sie reicht in Zeitnähe hinein. 4. In schnelllebiger Zeit: Gerichtsbarkeit als Pouvoir inutile? Die Richter erleiden in zahllosen Einzelfällen selbstverursachten massiven Machtverlust durch die Ausübung ihrer späten, immer weiter verspäteten Gewalt. Und es wird kaum je gelingen, die Abschwächungen dieser Gewalt im Einzelnen aufzudecken, sie zu gewichten und zu einem Machtverlust im Ganzen hochzurechnen. Denn was an Urteilen objektiv durch Zeitablauf obsolet geworden ist, längst bevor es erging, bleibt ebenso im Einzelfall verborgen, wie die subjektive Reaktion von Betroffenen, welche darin vielleicht noch, vielleicht aber auch nicht mehr einen EntscheidungsSinn sehen. Immer mehr verlagert sich die "Justiz-Sinnhaftigkeit" der Dritten Gewalt von jenem Einzelfall, der sie doch eigentlich legitimieren sollte, hin zur para-legislativen Vollendung der Gesetzgebung in Richterrecht: Braucht der Bürger den Richter nicht vor allem deshalb, damit er die vielen obskuren oder überdeutlichen Gesetze in fassbare Deutlichkeit bringe? Darin wird dann zwar nicht Richtertätigkeit als solche nutzlos, immer schwerer wird jedoch ihre rechtliche Qualifikation als einer "besonderen Gewalt", welche eben doch mit dem Einzelfall steht und fällt. Könnte es nicht sein, dass gerade die späte Gewalt der Richter dahin führt, dass diese als Gesetzesbewährer noch unersetzlich bleiben, als Gewalt aber unfassbar werden - nutzlos? Die Richter selbst sind es wohl zufrieden, sie richten sich ein in dieser ihrer sich verbreitenden Nutzlosigkeit. Sie beschert ihnen, wenn nicht weniger Arbeit mit Bürgern, welche ihre Entscheidungen vermeiden, so doch ruhigere Tätigkeit, und wird damit nicht auch für sie irgendwann Nutzlosigkeit zum Glück in der Freizeitgesellschaft? Gerade wer nutzlos zu spät zu kommen scheint, mag darin, zumindest subjektiv, etwas von der Genugtuung eigenartiger Mächtigkeit empfinden:

VII. Gegensteuern - aus der Verspätung?

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Beugen muss sich der Bürger ja gerade einem Richterspruch, den er für nutzlos hält, dem Willen einer Instanz, die ihn erlässt ohne Rücksicht auf Zeit, Verspätung - Sinn. Entfaltet sich hier nicht die Majestät des Rechts über allem realen Nutzen, über den Niederungen der Ökonomie, gilt es nicht doch, auch wenn es nicht nützt, ja schadet, dieses späte und doch immer noch befehlende Richterwort?

VII. Gegensteuern - aus der Verspätung? Die Gewalt des Letzten Wortes führt die Dritte Gewalt mit Notwendigkeit in ihre wesentliche Verspätung hinein, in welcher Zeitferne nur zu oft zu Sachferne sich steigert. Führen Wege aus diesem Teufelskreis, auf welchen sich die Macht dieser Staatsgewalt steigern lässt, auf denen sie vielleicht gar zum Muster einer "Gewalt" werden kann? Aufgerufen sind die Richter selbst, die Gerichtsorganisation, die materielle Gesetzgebung, am Ende die Parteien. 1. Die Richter: eingerichtet in Ruhe

Von den Urteilenden selbst darf niemand erwarten, dass sie selbst in die Hektik ihrer Zeit ausbrechen, deren zeitlichen Vorgaben folgen. Sollten sie gar noch, in judikativer Eile, die Konzentration ihrer Gerichtssitze befördern, jenen Gegenstand der größten Sorge jeder Gerichtsbarkeit? Wer von ihnen Zeitnähe erwartet, Zeitdenken überhaupt, drängt sie von vorneherein in eine Mentalität, welche ihnen fremd bleiben muss, in welcher sie mit rascher Passionalität die Sorgfalt ihres Richtigkeitsstrebens aufgeben, darin ihre Unabhängigkeit gefährden, die Überzeugungskraft ihres Handels. "Rasches, unbürokratisches Handeln" mag ein Verwaltungsideal sein, "der schnelle Richter" wird es nie werden für seine Gewalt. Von ihm darf nicht einmal erwartet werden, dass er seine Entscheidung dadurch in den Zeitablauf hineinstellt, dass er sie ankündigt - schon darin legt er sich ja fest, "vorzeitig", er wird tätig außerhalb seiner justiziellen Zeit, deren Uhren eben anders gehen, wenn sie nicht stillstehen. Zeitverhaftung bedeutet für ihn stets eine Festlegung, welche seine geistige Unabhängigkeit einengt. Für sie bleibt es gleich, wer sie fremdbestimmend bedroht, ob eine solche Instanz festgestellt, definiert werden kann; die schwerste Bedrohung der Unabhängigkeit könnte vom Richter selbst ausgehen - in richterlicher Hast. Und so sollte denn die Politik diese zeitlosen Weisen nicht drängen wollen. Sie haben sich wohl eingerichtet in der Hoheit ihrer Verspätungen. Der König kommt nie zu spät - ebensowenig der königliche Richter. 17'

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2. Zeitnähe durch Gerichtsorganisation Nicht Gesetz und Rechte schleppen sich als Plage fort - es schleppen sie die Richter, verschleppend. Seit Jahrhunderten tritt dagegen immer wieder gerichtsorganisatorisches Bemühen an; doch was sich notwendig schleppt, lässt sich nicht zum Laufen bringen. Leistungsfetischismus hat noch nie die Dritte Gewalt erreichen können. Es ist, als stehe gerade bei dieser Gewalt jeder Reform, jedem Straffungsbemühen, das ja stets deren Ausgangs- und Mittelpunkt bildet, geradezu das Wesen des unabhängigen Urteilens entgegen. Um nur einiges beispielhaft zu erwähnen: - "Beförderung nach Leistung", an Urteilszahlen, zeitlicher Entscheidungskadenz gemessen, ist sicher ein beliebtes, weithin praktiziertes Instrument vor allem zeitlicher Straffung, doch es wirkt allenfalls bei nachgeordneten Gerichten, seine Effekte verlieren sich an den Spitzen. Begleitet ist es vor allem von fatalen Folgen einer Schematisierung von Entscheidungen, welche damit Zeit gewinnen will, einer Subsumtionsautomatik, in welcher sich judikative Hoheit verliert, eine Verfehlung richterrechtlicher AufgabensteIlung, welche das Gesetz nicht mehr denkend fortbildet, sondern in mechanistischen Selbstlauf wirft. Rechtliche Schwierigkeit lässt sich nicht typisieren; wer sie nicht mehr sehen darf im täglichen, im einfach erscheinenden Fall, verfehlt nicht nur Gerichtsbarkeit, er ist kein Jurist mehr. Durchschnittsbildungen schließlich bringen nicht nur den Verlust jeder richterlichen Noblesse, sie dokumentieren nicht nur das Ende aller Einmaligkeit jeder Entscheidung in Robe. Hier offenbaren sich alle Schwierigkeiten, denen Statistik überhaupt begegnen mag, vom willkürlichen Herausgreifen bis zur schematisierenden Hochrechnung muss alles eingesetzt werden, was doch im Rechtsstaat steht für schwere Rechtsverletzung. Wenn sich Menschenwürde aus Unauswechselbarkeit der Einzelperson definiert, so setzt sich diese fort in ihrem Rechtsfall, der aus ihrem menschlichen Rechtsgefühl heraus entsteht. - Ausbildung, Fortbildung sind Zauberworte, über welche heute selbstbewusste Bürger, ja unabhängige Staatsorgane motiviert und orientiert werden sollen, zu mehr und rascherer Leistung. Hier kommt sie doch, so scheint es, allein aus ihnen selbst, aber gerade hier schlägt leicht Qualität in Schnelligkeit um. Richter nicht als Bedenkenträger ausbilden - Juristen generell nicht - dies ist eine modische Forderung auf der Suche nach verlorener Zeit. Bedenken der Juristen sind ja an sich sachlich erwünschte Beiträge, gefährlich werden sie der Effizienz erst in ihrer zeitlichen Wirkung. Doch den "raschen Richter" kann keine Hochschule vorbereiten, ohne sich selbst aufzugeben und damit die Dritte Gewalt; gerade die Richterausbildung zeigt die Grenzen aller Entspätung. Auch sie sind längst durch andere Modeworte unüberschreitbar befestigt worden, mit jenem "Problembewusst-

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sein" vor allem, welches Juristische Fakultäten ihren Studenten mit auf den Weg geben sollen, in die Gerichtssäle hinein. Die Sinnlosigkeit schmalspuriger Juristenausbildung wird gerade dann ganz allgemein deutlich, wenn man die universitäre Vorbildung der Rechtswahrer nicht auf die Richterbank beschränkt, sie vielmehr, in erster Linie vielleicht, als eine Vorfeldwie Prozessaufgabe der Rechtsberatung in all ihren zahllosen Formen erkennt. In diesen Betrachtungen war viel, zuviel vielleicht von den Richtern die Rede; hinter ihnen stehen die Legionen der Rechtsberatung. Sie alle müssen in einem Problembewusstsein voranschreiten, in all ihren Prozessen und denen, die es werden könnten, welches nur in der zeitlosen Ruhe wissenschaftlicher Hochschulen entwickelt werden und gedeihen kann. Wer den raschen Juristen fordert, hebt nicht nur die Dritte Gewalt in ihrer Geistigkeit auf, er zerstört diese in den ältesten Fakultäten. Richterfortbildung schließlich - was für ein Wort? Sollten nicht die Richter das Recht fortbilden? - "Mehr Richter - frühere Urteile", das war noch nie der Königsweg aus der späten Gewalt. Schematisierung der Urteilspraxis muss dann zunehmen, Quantität siegt über die intellektuelle wie "rechtstechnische" Qualität der Urteilenden, setzt deren Achtung im Juristenstand herab. Selbst wenn groteske Auswüchse einer Richtervermassung vermieden werden, wenn sich dieser verfassungsorganisatorische Hort des Individualismus als solcher erhalten kann - die Judikative in Fließbandarbeit stünde am Ende solcher Aufblähung, und sie würde "das Ende des Einzelfalles" bringen, damit das definitive Ende jener Dritten Gewalt. Exponentiell nähmen die Schwierigkeiten zu, die Einheit der Rechtsprechung, über sie die der Rechtsordnung auch nur in weiten Rahmen zu gewährleisten. Am Ende stünde richterlicher Muftismus zufälliger Gewaltsprüche - oder totaler Subsumtionsautomatik. In einer Massenjudikatur verlöre sich nicht nur die Qualität des angewendeten Rechts, es vollzöge sich eine weit darüber hinaus fatale Entelitisierung an der Spitzen des Gemeinschaftslebens. Die Richterliche Gewalt auf immer mehr Schultern verteilt, dies müsste letztlich sogar zu immer weiterer Entmachtung führen, welche durch zeitnahe Routinesprüche nicht kompensiert werden könnte. In ihrer zeitfernen Ruhe mögen also die Richter happy few sein und bleiben, darin geachtet. - Weniger Instanzen- größere Zeitnähe? Mit dieser traditionellen politischen Patentforderung wird die bereits erwähnte, unbestreitbare verspätende Wirkung der Gerichtsstufung kritisch betrachtet. Doch fraglich ist, nach allen bisherigen Elfahrungen, nicht zuletzt auch mit der Verfassungsgerichtsbarkeit, ob das Ideal der Einstufigkeit nicht erst recht zur Verzögerungsfalle wird, ob sich hier nicht ein Nadelöhr bildet, mit hoffnungslosem Stau - der

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dann gar noch mit Verzicht auf Rechtssuche endet. Instanzenzug-Reformern sollte aber insbesondere klar sein, dass es dabei um Fragen eines Vertrauens geht, welches man den Richtern entgegenbringt, und dies kann nicht durch organisatorische Entscheidung dekretiert werden, die eben eine Instanz weniger genügen lässt, justizinterne Kontrollmöglichkeiten aufhebt. Eine Periode, welche jede Autorität kritisch hinterfragt, Diskussionen auf allen Ebenen hervorzurufen bestrebt ist - hat sie gerade den Beruf dazu, Diskussionsebenen abzubauen dort, wo sie ihre älteste, gestufte Tradition aufweisen in der Gemeinschaft, im Bereich der Dritten Gewalt? Wer allenthalben Gespräche verlangt, gestufte Team-Arbeit einrichtet - will er sie gerade dort im erstinstanzlichen Richterwort abbrechen, wo sie die längste Tradition haben? Gerichtsorganisation hat noch nie die Qualität der Gerichtsbarkeit entscheidend verändern können; neuere Rechtsgeschichte kennt kein Beispiel, dass ihr hier ein "großer Schlag" gelungen wäre, vor allem nicht im Ausbruch aus der späten Gewalt der Richter. Sie mag nicht deren Schicksal sein, doch ihr Ende kann nicht dekretiert werden in Organisation.

3. Zeitnähe durch Gesetzgebung a) Zu den Chancen der Gesetzgebung, größere Zeitnähe des Urteilens zu befördern, ist Wesentliches bereits im vorstehenden Zusammenhang einer Gerichtsorganisation ausgeführt, welche weitestgehend ohnehin nur durch Gesetz zu verwirklichen wäre. Hier seien noch kurze Bemerkungen zum Prozessrecht und zu materieller Gesetzgebung hinzugefügt. - "Verfahrensstraffung" war immer ein Schlagwort, ein beliebtes Ziel von Prozessreformen. Da wird dann verspätetes Vorbringen ausgeschlossen, Äußerungsfristen werden verkürzt, vorinstanzlich Festgestelltes zugrundegelegt. Doch all dies wendet sich eben vor allem an Beteiligte und ihre Rechtsvertreter, nicht an die Richter, welche in ihrer ruhigen Zeitfeme belassen werden. Vor allem aber treten dann die dem Recht nur allzu gut bekannten traditionellen Gefahren aller Formalisierung auf: dass hier mechanischen Äußerlichkeiten, vor allem auch dem Zeitablauf als solchem, inhaltliche Rechtsrichtigkeit geopfert wird, die Chance zu einem richtigen Entscheidungsinhalt, zur Gerechtigkeit. Verfahrensgerechtigkeit - dieses modeme Schlagwort sollte die Kompensation von Erkenntnisschwierigkeiten durch Feststellungsmechanismen ansprechen, darin sicher ein schweres gegenwärtiges Erkenntnisproblem und eine demokratische Möglichkeit, es auszuklammern. Doch dies bezeichnet gerade das Gegenteil der hier angesprochenen Problematik: Wer das klärende Wort, den erkennenden Gedanken abschneidet, ersetzt nicht Erkenntnis durch Verfahren, er verbietet sie durch Prozessmechanik. Damit verstärkt sich nicht nur Routinierung und

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Oberflächlichkeit in der Entscheidungsfindung, diese "hängt sich auch immer mehr an Formalien", die zwar rasche, aber zufällige Ergebnisse begründen. Richtig ist dann eben, was sich schnell, mit geringerer Mühe feststellen lässt. Einer von Medien geprägten Gesellschaft mag dies genehm sein. Doch letztlich bedeutet es nur mehr "Oberflächlichkeit als Gerechtigkeit", ein Urteilen, welches an den glatten Flächen der Formalien dahingleitet. b) Klarere Gesetze, vor allem materielle Normen, ermöglichen raschere Entscheidung - dieser Grundsatz mag dem Gesetzgeber die Verantwortung für so manche späte Gewalt der Richter aufbürden, was er verbessert, werden sie schneller umsetzen können. Doch hier öffnet sich das weite Feld der Krise des Gesetzes: Lassen sich diese legislativen Komplikationen in einer vielschichtigen Gesellschaftsstruktur angesichts der raschen Entwicklung der Verhältnisse denn wirklich mit großen Würfen, mit Rundumschlägen legislativer Vereinfachung bewältigen? Droht hier nicht ein neues Verzögerungspotenzial gerade die Richter zu erreichen, welche immer mehr Gesetze zu koordinieren, deren immer genauer gewollte Abgrenzungen zu überprüfen haben? Kann wirklich eine Gewalt, die als solche in der Krise vor allem ihrer Vervielfältigung steht, einer anderen aus ihrer Krise helfen, deren Zeitverluste vor allem aus Bewältigung solcher Vielfalt herrühren? Und wenn die Gesetzeslage vereinfacht werden soll - kosten dann die doch notwendigen, vom Einzelfall geforderten Differenzierungen dem Richter nicht noch mehr Zeit? Vom "klareren Gesetz" ist keine Straffung der Richtertätigkeit zu erwarten; viel ist schon gewonnen, wenn nicht noch weitere Zeitverluste durch die zunehmende Komplikation der Normen auftreten. 4. Die Beteiligten - ein zeitliches StratTungspotenzial?

Die Parteien sind es vor allem, welche unter der Verspätung der richterlichen Macht leiden, sie kritisieren. Von ihnen sollte also zu erwarten sein, dass sie die zeitnahe Straffung der Prozesse mit allen Mitteln befördern, die ja zum Teil immerhin deutlich und gerade nach den Prozessgesetzen in ihrer Hand liegt. Gewiss hat hier die von vielen begrüßte Verstärkung des Amtsbetriebes in der Gerichtsbarkeit den Richtern immer mehr an Gewalt verliehen, welche sie nicht selten und deutlich zur Verzögerung gebrauchen. Doch noch immer kommt späte Gewalt so zögerlich vor allem, weil Betroffene Steine auf ihren Weg legen oder die Verzögerung gar wünschen. a) Daran wird und kann sich nichts Wesentliches ändern, und es ist dies sogar Ausdruck einer verfassungsgeschützten privaten Freiheit, welche sich auch gegen rasches Staatsurteil wenden darf. Freiheit steht eben gegen

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Staatsgewalt auch darin, dass sie deren Einsatz verzögert. Muss das "rasche Urteil" wirklich ein Verfassungsideal sein, wenn der Bürger wünscht, gerade ohne dieses Urteil zu leben? Es· ist sein gutes Recht, in diesem Sinne seine Berater einzusetzen und zu instruieren, deren gutes Recht es wiederum ist, solche Verzögerungen in höhere Gebühren umzusetzen. In dieser Sicht mag das Klagen über "spätes Gericht" in so vielen Fällen als eine Heuchelei erscheinen, welche prozessuale Krokodilstränen vergießt über eigene Prozessschikane. Nur zu oft entsteht hier ja auch eine aus Sicht zeitnaher Justiz unheilige Allianz zwischen Beteiligten und einem Gericht, das selbst in öffentlich-rechtlichen Prozessen den Amtsbetrieb nicht allzu ernst nimmt. In anderen Konstellationen wiederum ermöglichen es zwar die Prozessgesetze den Parteien, den Richter in die zeitnahe Entscheidung zu drängen, indem sie Wege des vorläufigen Rechtsschutzes eröffnen. Doch dann tritt nur zu oft wieder judikative Lethargie als solche in ihre Rechte: Die Partei mag zögern, den Richter zu drängen, da dieser es mit Unwilligkeit beantworten könnte; und er wiederum kann sich gerade auch auf vorläufigen, ihn ja noch nicht festlegenden, Entscheidungen über längere Zeit ausruhen, das endgültige Urteil immer zeitferner zurückstellen. b) Insgesamt ist das Parteiverhalten als Beschleunigungspotenzial der Justiz zwar eine Realität, welche aber in ihrer Wirksamkeit im Rechtsstaat weitgehend der Bürgerfreiheit überantwortet ist. Und wenn der souveräne Bürger diese langsame Justiz wünscht, weil er sich inzwischen in Freiheit bewegen will - sollte dann wirklich die "funktionierende Rechtspflege", hier verstanden im Sinne vor allem der Zeitnähe, das höhere Gut sein, oder ist es nicht doch jene Freiheit vom Staat, welche sich bewähren darf, bis in Prozessschikane hinein? Dies sind schwere und grundSätzliche Fragen, welche sich jede Gerichtsreform stellen sollte, und so darf sie auch nicht immer nur auf den Richter sehen. Sie muss zugeben, dass keine Staatsordnung etwas ändern kann, was die Bürgerschaft in ihr unübersehbar, vor allem aber was sie stillschweigend will oder duldet. Prozessbereitschaft, Prozessaktivität wird man den Bürgern nicht auf Verfassungswegen verordnen, sie nicht in Musterprozesse zwingen können, selbst wenn Staat und Allgemeinheit, im Sinne der Rechtsklarheit, Entscheidungen dringend benötigen. Hier liegen Bürgerfreiheiten einer Richterrechts-Initiative, welche die Verfassung in einer Art von "Recht der freien Prozesswahl", die oft zur freien Richterwahl wird, den Gliedern des Volkssouveräns überlässt. Bei Reformen muss in einer Demokratie immer gefragt werden, wie der Bürger dazu steht, ob er eigenes Veränderungsverlangen zum Ausdruck bringt, oder sich wohl einrichtet, wie auch seine Staatsorgane, in bisheriger

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Ruhe und Zeitferne, fern von Staatsaktivitäten. Dies gilt zuallererst gegenüber einer Gerichtsbarkeit, in welcher mehr als irgendwo sonst der Dialog des Staates stattfindet mit dem im Übrigen schweigenden, unzähligen Volkssouverän.

VIII. Späte Gewalt Schicksal und Machtverlust der Richter 1. Fazit: Systemimmanente judikative Verspätung

Die späte Gewalt der Richter lässt sich weder zurückführen auf systematisches Fehlverhalten, noch auf menschliches Versagen oder kontingente, vielleicht gar zufällige Entwicklungen - sie liegt im Wesen des Richterturns begründet seit Jahrhunderten, verstärkt sich laufend in rechtsstaatlicher Perfektion. Hier geht es im Kern nicht um Rechtstechnik, um Organisationsverbesserungen - hier geht es um Mentalitäten und um eine Psychologie, welche Verfassungs- oder Justizdynamik nicht wesentlich verändern können. Gerichtsreformen werden darum stets dann fragwürdig bleiben, wenn sie versuchen, Machtauswirkungen der Dritten Gewalt durch Zeitnähe zu verstärken. Abgesehen davon, dass sich eine solche real auch nicht annähernd erreichen lässt und dass sie weithin vom Bürger nicht einmal gewünscht wird - hier könnte nur eines verändert werden, und eher ins Negative: die Grundhaltung der Richter, welche ihnen auch heute noch ein Prestige sichert, das vielleicht die einzige Erscheinung ist, bei der man von Macht sprechen könnte, die einer Distanz zum Fall, in der das Letzte Wort über ihn als das richtige gesucht wird. So ist denn die späte Gewalt der Richter nicht nur dem Gerichtsorganisations- oder dem Prozessrecht immanent, sie bedeutet eine Verfassungsvorgabe, in diesem Sinne lässt sich wahrhaft von Gewaltimmanenz sprechen, will man hier denn eine Dritte Gewalt annehmen. Diese Distanz ist den Richtern immer wieder als Konservatismus vorgeworfen worden, da sie mit dieser Haltung dringende und drängende Reformen blockierten. In der Tat liegt diesen Organträgern nichts ferner als Sozialreformertum oder gar Klassenkampf; und mit der Zeitlosigkeit ihres Überlegens mögen sie gewiss auch immer wieder, vielleicht wesensnotwendig, Entwicklungen bremsen, ja anhalten. Wer Gerichtsbarkeit im Rechtsstaat in den Mittelpunkt der gesamten Staatlichkeit stellt, hat damit eine Grundentscheidung gegen bestimmte Formen einer Dynamisierung des Staatsgeschehens getroffen, das er auf anderen Wegen, etwa in parlamentarischer Unruhe, beschleunigen kann. Darin mag sogar Ausgewogenheit einer auch in diesem zeitlichen Sinn gemischten Staatsform sich zeigen.

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Dass sich die zeitliche Distanz ständig noch vergrößert zwischen immer rascheren ökonomischen und sozialen Entwicklungen und ruhiger Rechtsreflexion, dass dieser Abstand auch noch zunimmt in der emanzipatorisch gesteigerten Geschicklichkeit, mit welcher Anwälte und Bürger sogar diese Verzögerungen für ihre Interessen einsetzen - dies alles sind Grunddaten, an denen das beste technische Recht, die eifrigste Refonnbereitschaft nichts Wesentliches zu ändern vennögen. Wenn es etwas gibt wie eine Verfassungs-Vorgabe im eigentlichen Sinn, für Institutionen, die eben auch schon vor aller Verfassung da waren - das Richterturn ist eine solche, mit all seiner späten Gewalt vor allem.

2. Späte Gewalt als Macht? Die Bedeutung der Frage, ob diese Verfassungsgewalt "Macht" ausübt, war bereits oben (D) im Zusammenhang mit einer Betrachtung allgemeiner richterlicher Grundeinstellungen und Tätigkeitsfonnen deutlich geworden. Nun muss sie nochmals in der Perspektive der Zeit, der "späten Gewalt" gestellt werden: Schwächt sich hier nicht wesentlich die Mächtigkeit ab, ohne welche aber, in einem traditionellen Verständnis, nur schwer von einer "Verfassungsgewalt" die Rede sein kann? Vieles spricht dafür, dass in diesen Verspätungen nicht nur Zeit verloren geht, dass sich in ihnen auch Macht verliert: a) Wie immer man Macht als Effektivität einer Gewalt definieren will sie muss als eine solche nicht nur flächendeckend, sondern auch rasch ausgeübt werden, rechtzeitig. Fühlbarkeit wurde stets und mit Recht als Wesen dieser Gewalteffektivität erkannt, deutlich etwa bei der Steuerbelastung, welche den Steuerstaat konstituiert. Fühlbarkeit durch Schnelligkeit erwächst nicht nur daraus, dass sie es der Zeit nicht überlässt, Belastungsfolgen abzumildern, dass dadurch erst ein Urteil zur "nächsten causa" eines menschlichen Verhaltens wird, dass dieses keine Zeit findet, sich darauf ein- und damit umzustellen. In rascher Gegenwart richterlicher Machtentfaltung gewänne diese auch eine rechtspsychologische Aktualität, welche schon als solche ihr Gewicht verstärkte, ihre Wirkungen unausweichlich erscheinen ließe. b) Macht des Staates kann heute kaum je mehr gebrochen werden, sie wird umgangen; darin liegt der Friede, welchen die Bürgerschaft mit der staatlichen Omnipotenz gemacht hat. Umgehungen, im Recht vor allem, brauchen Zeit; was spät kommt, zu spät, ist bereits umgangen, bevor es den Gewaltunterworfenen, die Betroffenen, erreicht; es trifft buchstäblich daneben - eben zeitlich. Die italienische Rechts-Spruchweisheit, nach welcher mit dem Erlass des Gesetzes auch schon seine Umgehung, die Venneidung seiner Folgen gefunden ist - fatta la !egge, trovato l'inganno - passt ebenso

VIII. Späte Gewalt - Schicksal und Machtverlust der Richter

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zu späten Urteilen wie erst recht zu mühsam und spät erlassenen Normen. Die Parteien und ihre Vertreter haben längst Reservelösungen überlegt, Verbände, welche Musterprozesse führen, konnten sich andere Strategien ausdenken, bis hin zu neuen Gesetzesanstößen. Die Wucht der Überraschung bringt besondere Macht zum Tragen; wo mehr zerurteilt wird als verurteilt, da bekommt in diesem vielen und langen Reden nicht nur am Ende jeder doch irgend ein Stückchen Recht, so dass das Fallbeil des Urteils in die Watte des Kompromisses fallt; hier wird überhaupt eben zerredet. Was in Plötzlichkeit beeindrucken könnte, erschreckt niemanden mehr wirklich, wenn es zu spät zu ihm kommt. c) Vorsorgestaatlichkeit mag ein problematisches, vielleicht ein gefährliches Wort sein für die Freiheit der Bürger. Doch heute ist sie allenthalben im vollen und vor allem in raschem Lauf, sie versucht darin geradezu die Selbstüberholung der Zeit. Nicht "Bereit sein ist alles", sondern verhüten, in vorwegnehmenden Lösungen. Die Polizei opfert immer mehr odiose Repression einer fürsorgenden Prävention; Kriege werden nur mehr geführt, um sie zu verhindern; das Gesetz will dem Fall zuvorkommen. Da kommt der Richter dann so spät - zu spät, und soll immer noch Macht ausüben? Der Vorsorgestaat will "inter-venieren", hineinstoßen mit seinen Machtäußerungen in laufende Entwicklungen, bevor sie sich zu Schäden verdichten. Wenn es eine Staatsinstanz gibt, auf welche das Wort von der Intervention kaum passt, so ist es jene Gerichtsbarkeit, die eben nicht dazwischen kommt, sondern zu spät. Das Einzige, was sie dann oft nur noch zu bewirken vermag, die Befriedigung des Rechtsbewusstseins der einen Seite - davon geht gewiss nicht eine Wirkkraft aus, welche eingreifen, intervenieren könnte. Aus der Prävention wird im Urteilen nur allzu oft die Post-Vention. Das "Fest ist vorbei" - post festum ergeht ein Urteil. d) Mit ihrem Präjudizieren, in ihrem Richterrecht, wird die Dritte Gewalt noch machtwirksam, gelegentlich sogar in Machtbewusstsein. Doch auch diese Effekte treten nur mit richterlicher Verspätung ein, der Musterprozess wird erst nach zahllosen Vorgängen geführt und entschieden, welche inzwischen weithin zu Mustern ohne Wert geworden sind. Gerade darin hält die Gerichtsbarkeit aber oft die Entwicklung in ganzen wirtschaftlichen und sozialen Sektoren auf. Aufstau mag gewiss "gespannte Kraft" bedeuten, doch hier sind die Flüsse des Rechts zwischenzeitlich weithin schon abgelaufen. Die Wirksamkeit jener Präjudizien, in welchen vor allem auch gesamtstaatliche Macht der Dritten Gewalt zum Ausdruck kommen kann, schwächt sich zudem wiederum in Zeitverlust laufend ab, im Instanzenzug, in der Verspätung der Veröffentlichung, vor allem aber in einer Praxis, welche all dies noch viel später zur Kenntnis nimmt oder gar umsetzt. Die späte Macht der Richter potenziert sich in der noch späteren der allgemei-

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E. Die späte Macht der Judikative

nen Rechtsentwicklung, aber vor allem in einem: eben in der Verspätung. Differierte Gesetzgebung verliert an Gewicht; Hoffnung auf Rechtsbefehl kann die Gegenwart seiner Wirkungen nicht ersetzen. Das Richterrecht ist in seiner Entstehung lange Zeit nur Hoffnung, in seinen Verfestigungen mag sich diese verstärken, zur normativen Gewissheit wird sie vielleicht nie, wenn eine Rechtsprechung sich ändert, bevor sie eine ständige hat werden können. In all dem wirken eben im Bereich der Dritten Gewalt völlig andere Zeitvorstellungen, zeitliche Wirkungsmechanismen, als sie aus der übrigen Staatlichkeit bekannt sind. Darin entfernen sich die Richter von dem, was im Übrigen denn doch noch immer Staatsrnacht heißen mag. e) Der Zeitablauf erledigt Streit - nicht im Prozess, aber außerhalb von ihm wirkt hier wirklich etwas wie eine "Macht der Zeit". Dies mag für viele Betroffene ein Trost sein und auch für die Richter, welche mit ihren Gewaltwirkungen zu spät kommen. Die Marktwirtschaft erledigt, was sie noch überlegen. Der Markt als Gericht über Unternehmen, über wirtschaftliches Verhalten der Bürger ganz allgemein - das ist heute bereits eine generell angenommene Grundvorstellung. Ist es dann wirklich ein rechtlicher Unfall, wenn das Gerichtsurteil eintrifft, nachdem bereits alle Züge abgefahren sind? Die erforderlichen Urteile über Effizienz werden doch in der Zeit ohnehin getroffen - was die Dritte Gewalt leistet, ist nur mehr eines unter ihnen. Warum sollten die Richter rasch erledigen, was die Zeit ohnehin in ihren kaum zu beeinflussenden Strömen mit sich fortträgt, weit weg vom Betroffenen, welchem nichts anderes bleibt, als vergilbte Gerichtsakten zu schließen. Die Macht der Gerichtsbarkeit hat sich die Zeit selbst bereits zugesprochen; dem Richter steht sie nur noch zu, soweit er sie gerade noch - erreicht. Damit wird die Gerichtsbarkeit letztlich auch wieder in ihre eigentliche, ihre Einzelfallgewalt gesetzt: Wenn die "Zeit die übrigen Fälle jenseits der Gerichtsurteile erledigt", beschränkt sich eben der Richter doch auf die Beurteilung des einen Falls. Damit übt er dann weder sachlich noch zeitlich flächendeckend eigentliche Macht aus, doch es entspricht dies eben seiner Kompetenz. Und von einer solchen sollte man eher sprechen als von einer Mächtigkeit, welche sich doch weitestgehend in der Richter späten Gewalt verliert.

F. Judikative als Gewalt in der gewaltenteilenden Demokratie? J. Dritte Gewalt - ein Pouvoir? 1. Das Ergebnis der Betrachtungen Die Überlegungen zur Gewalt der Richter kommen zu einem komplexen, vor allem vielschichtigen Resultat: Eine gewisse organisatorische Einheit der "Dritten Gewalt", wie sie eine solche mindestens verlangt, ist hergestellt, mehr allerdings durch einfache Gesetzgebung als auf Grund von Verfassungsvorgaben. Eine funktionale Gewalteinheit dessen, was sich aus diesen organisationsrechtlich zusammengeordneten Strukturen heraus rechtlich entfaltet, lässt sich aber kaum feststellen. Zu groß sind die Unterschiede zwischen Instanzgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, als dass man in diesem Sinne von einer einheitlichen Judikative sprechen könnte. Zu weit gehen die Verschränkungen dieser Organtätigkeit mit den Aktivitäten anderer Staatsgewalten, der Gesetzgebung und der Administrative, welche ja auch ihrerseits in Auflösung begriffen sind. Vor allem aber lässt sich auch eine volle funktionale Einheit nicht aus dem gewinnen, was noch am ehesten allem Richten gemeinsam ist: das Letzte Wort; es ist zum Teil rein vergangenheitsgewendet, bei anderer Betrachtung entfaltet es aber doch auch, richterrechtlich vor allem, bedeutsame Zukunftswirkungen. Stellte man schließlich die letzte hier ebenfalls mehrfach vertiefte Frage, ob etwas wie eine zusammengeballte Wirkmächtigkeit eine in diesen Institutionen ausgeübte, als solche zusammen zu sehende Macht es rechtfertigt, von einer "Verfassungsgewalt" zu sprechen, so war auch insoweit das Ergebnis zwiespältig: Weder in subjektiver Hinsicht, mit Blick auf ein "Machtbewusstsein der Richter", ließ sich Derartiges überzeugend feststellen, noch liegt etwas vor wie eine flächendeckende Ordnungsgewalt; und schließlich werden die vielfachen Ordnungsansätze, welche aus der Gerichtsbarkeit kommen, auch noch durch die "späte Gewalt der Richter" entscheidend relativiert. Was sich also auffinden lässt, ist weder ein personifizierbarer Pouvoir noch eine kompetenzmäßig geschlossene Puissance in jenem Sinn, in welchem Montesquieu seine Gewaltenteilungslehre verstanden wissen wollte. Dann aber stellt sich eben doch am Ende die Frage, was die Rede von

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F. Judikative als Gewalt in der gewaltenteilenden Demokratie?

einer "Dritten Gewalt" denn dogmatisch rechtfertigen, was sie überhaupt bedeuten soll. Weder kann sie als eine solche aus einheitlicher Reformneigung heraus weiterentwickelt werden auf Macht-Ziele zu, welche durch verstärkte Wirkmächtigkeit optimierend erreicht werden sollten, noch muss sie mit einem Gewalt-Misstrauen betrachtet werden, in dessen Namen sie in immer engere Grenzen eingebunden werden sollte. Vor allem kann es nicht gelingen, sie überzeugend von den anderen "Verfassungsgewalten" abzugrenzen, mit denen sie so vielfältig und geradezu wesentlich verzahnt ist. Gerade hier würden die Grenzen dogmatischer Ordnungskraft rasch überschritten: Kaum eine Kategorie, mit welcher man diese Gewalt zu bestimmen versuchen wollte, ließe sich überzeugend und durchgängig auf die Judikative insgesamt anwenden, nicht aber auf eine andere Staatsinstanz. Allenfalls sind besondere Akzentuierungen feststellbar, etwa Neutralität und Unabhängigkeit, ohne dass daraus aber konstitutiv Merkmale einer Gewalt gewonnen werden könnten. So muss denn dieses Ergebnis dahin zusammengefasst werden: Es wird nicht deutlich, was die Rede von der "Richterlichen Gewalt" bedeutet, wie dieser Verfassungsbegriff dogmatisch präzisiert und fruchtbar werden könnte. 2. Gerichtsbarkeit - eine zusammengeordnete Institutionenstruktur

Die Betrachtung der richterlichen Gewalt in verfassungsgrundsätzlicher Sicht, wie sie hier versucht wurde, muss sich also doch wieder auf jene Bescheidenheit zurückziehen, welche rechtswissenschaftliche Betrachtung bisher auf diesem Gebiet geübt und wie sie eingangs eher kritisch betrachtet wurde: Was hier festzustellen ist, beschränkt sich letztlich auf eine Zusammenordnung gewisser Institutionen, über bestimmte organisatorische Ordnungsinstrumente und Aufgabenzuweisungen, welche sich in staatsgrundsätzliche Kategorien am Ende eben doch nicht fassen lassen. Entstanden ist, in langer Entwicklung, ein Bündel weithin sogar noch heterogener Entscheidungskompetenzen, welche sich weder aus der Verfassung ergeben, noch von deren Normen auch nur fernsteuernd orientiert werden. Diese Judikative ist weithin nur ein "Institutionenbündel nach Gesetz". Von ihm gehen gewiss verfassungsrelevante Effekte aus, Präzisierungen und Eingrenzungen der Funktionsausübung anderer Staatsinstanzen. Dies alles aber in einen Begriff von Verfassungsgewalt zusammenzufassen würde die Konstruktions- und rechtliche Integrationskraft der Verfassungsdogmatik überfordern. Gelingen kann dies auch nicht mit Blick auf die Garantie des Gerichtswegs gegen alle öffentliche Gewalt - darauf ist diese Gewährleistung ja beschränkt, und dort liegt gar nicht der Schwerpunkt der Judikative.

I. Dritte Gewalt - ein Pouvoir?

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Deshalb kann und soll vielleicht an judikativen Institutionalisierungen immer weiter gebaut werden, etwa in richterähnlichen Unabhängigkeiten, welche sich in Autonomien entfalten, oder in Verwaltungs verfahren, welche Anwendung von Prozessrecht vorwegnehmen. Die Rechtsordnung hat gerade im Bereich der traditionell so genannten Judikative einen wahren Schatz andere mögen es auch nur einen Steinbruch nennen - von Strukturelementen hervorgebracht, deren sich das Recht allenthalben bedienen kann, weit über den Raum dessen hinaus, was traditionell Richtertum genannt wird. Gerade deshalb sollte auch nicht Sorge entstehen vor einer "Macht der Richter", denen nicht nur der Gesetzgeber jederzeit entgegenwirken kann, die sich jedenfalls aus derart vielen und komplexen Elementen zusammensetzt, dass sie nie mit einer Konzentrik zum Einsatz gelangen könnte, welche derartige Sorgen, vor allem unter einer Volkssouveränität, rechtfertigen dürfte. Die Richter haben Kompetenzen, sie stellen keine Gewalt dar. Sie sind besonders gesichert - aber nicht nur sie. Sie wirken politisch, aber nicht nur und nur selten bewusst. Sie vertreten Institutionsstrukturen, welche mit Achtung betrachtet, aber nicht in Machtromantik zusammengesehen und hochgerechnet werden sollten. Sie wirken an zahllosen Punkten und entfalten gerade darin die Kraft liliputanischer Fesselung. Einst sah man Richter, einfacher als heute, bescheidener, als Autoritätsträger des Staates, als Emissäre der königlichen Vollgewalt. Wäre es nicht für die Bürger besser und den Richtern lieber, sie wieder mehr als solche zu sehen? 3. Dritte Gewalt - eine historisierende Überzeichnung Die Rede von der Judikative als einer Dritten Gewalt stellt wohl im Letzten auch nichts anderes dar, als eine pseudo-historisierende Überzeichnung. Geschichtlich kommt der Gewaltbegriff als solcher aus der frühabsolutistischen Vorstellung von der Vollgewalt des Monarchen, die als waltend verstanden wurde über dem Staatsganzen. Ihr trat dann die personifizierbare Gegengewalt der Volksvertretung gegenüber, und so schrumpfte ihre Vollgewalt bald zu einer Exekutive, deren sich die Erste Gewalt weithin ebenfalls bemächtigen konnte. All diese Denkschemata sind historisch begründet und nur so legitimierbar. Neue Institutionen wurden in dieser "Terminologie der Gewalten" anderen gegenübergestellt, welche sie zurückdrängen sollten. Selbst für die richterliche Gewalt mochte dies zu Zeiten zutreffen, im Geiste mancher Betrachter gilt es noch heute: Handelt es sich nicht auch hier um eine Institution, welche sich der neuen Allmacht der Parlamente in den Weg stellt, sie begrenzt, zum Schutze des Bürgers, vor allem in der Verfassungsgerichtsbarkeit? Und doch passt gerade auf sie die Bezeichnung "Gewalt" nicht, blickt man wie hier auf ihre ganze Vielfältigkeit. Das Wort ist nichts als eine geradezu romantisierende Übertragung früherer

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F. Judikative als Gewalt in der gewaltenteilenden Demokratie?

politischer Spannungen und ihrer Auflösung auf Instanzen, welche im rechtstechnischen Zusammenspiel mit anderen die Staatsgewalt vervielfältigen, damit begrenzen, wie so viele andere Einrichtungen auch. Dennoch ist dieser Begriff so eingeschliffen ins juristische Bewusstsein wie kaum ein anderer, mit ihm sind so viele Hoffnungen auf Schutz und Recht verbunden, dass "Richterliche Gewalt" wohl ein wahrhaft unumgänglicher Wortgebrauch bleiben wird. Nur sollte stets bewusst sein, was sich dahinter verbirgt: nicht geballte Gegenmacht gegen irgend etwas Bedrohliches, sondern eher viele kleine rechtstechnische Hilfen des Rechts gegen seine eigene Entartung. 4. Gewaltenteilung - auch in der Judikative problembeladen

In früheren Betrachtungen bereits erschien Gewaltenteilung als ein historisch vorbelasteter, dogmatisch problematischer Begriff gegenwärtigen Verfassungsrechts. In allen Verfassungsgewalten gerät diese Begrifflichkeit, bei näherer Betrachtung, ins Zwielicht: Die Krise des Gesetzes hat die Erste Gewalt als solche in eine Legitimations-, ja eine Identitätskrise geführt: Das Gesetz, einst Ausdruck ordnender Volksgewalt, droht funktional zu zerbrechen - oder zu verdämmern - zwischen Überstarrheit und bindungslösendem Majestätsverlust. Die Verwaltung, die gesetzesgebundene und gesetzesbewährende, lässt sich als solche kaum mehr überzeugend definieren. Und nun erscheint auch noch die Judikative nicht als eine wirkliche Verfassungsgewalt, sondern als ein durch Legislative, ja sogar Exekutive in der Richterernennung weitgehend veränderbares, mit anderen Institutionen eng verzahntes Organbündel. Die Gewalten lassen sich also einzeln aus sich heraus kaum mehr überzeugend bestimmen, und von anderen Gewalten sind sie ebenso wenig klar abzugrenzen. Die hier kritisch betrachtete Lehre von den Gewaltverschränkungen bringt auch für "Richterliche Gewalt" letzte, entscheidende Bedenken, und ihnen kann nicht mit Kategorien wie Kern- und Randzonen begegnet werden. Die Gewaltenteilung, als solche ein Kind der rationalistischen Staatsgeometrie, kann heute also nicht mehr sein als ein historisierendes Erklärungsschema, nicht ein staatsgrundsätzlich alles erfassendes und ordnendes Rechtsprinzip. Die Einheit der Staatsgewalt, welche gerade in neuester Zeit mahnend ins Bewusstsein gerufen wird, muss sich hinwegsetzen über eine mechanisierende Dogmatik, welche die durchaus sinnvolle Grundvorstellung von Gewichten und Gegengewichten im Staat, im Namen der Freiheit, in diesen drei Pouvoirs schematisieren wollte. Gerade die Gerichtsbarkeit, welche

11. Judikative als "anti politische Gegenkraft"

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den letzten Hort dieser staatsteilenden Mechanik bilden sollte, hat gezeigt, dass das Bild unendlich viel komplexer ist, als dass es in solcher Holzschnitthaftigkeit sich erschöpfen dürfte. Checks and balances muss das Recht überall suchen, vor allem in der von der neuen absoluten Gewalt der Volkssouveränität getragenen und zugleich bedrohten Staatlichkeit, aber es sind dies Kräfte und Gegenkräfte, welche vielfach wirken und immer neu formiert, aber eben nicht in Gewalten, sondern in Institutionen bescheidener verfestigt; und unter ihnen kommt sicher den Gerichten besondere Bedeutung zu. So sei denn ein letztes Kapitel noch der Gerichtsbarkeit als Kraft und Gegenkraft gewidmet - darin wirkt sie gewiss in der Demokratie.

11. Judikative als "antipolitische Gegenkraft" Nach den Ergebnissen dieser Untersuchung ist "die Iudikative" nicht als solche eine Gewalt. Von dieser Form zusammenordnender Staatsorganisation gehen jedoch bedeutsame, auch rechtliche Wirkungen aus, selbst wenn sich diese nicht zu einer "Macht" verdichten. Dies mag bescheidenere, gerade darin aber der Richtertätigkeit angemessene abschließende Feststellungen gestatten. 1. Gerichtsbarkeit als Verstärkung der Staatsgewalt

a) Die Richter werden in der Verfassung und auch vom Bürger gesehen als Schutzinstanzen gegen Staatsgewalt. Dies aber ist eine einseitige Betrachtung, welche das Wesen richterlichen Urteilens bei weitem nicht ausschöpft. Wo immer die Gerichtsbarkeit zwischen Bürgern Rechtsstreitigkeiten entscheidet, bringt sie primär nur Staatsgewalt zum Einsatz, sie beschränkt diese nicht. Aber auch wo öffentlich-rechtliche Iudikatur, in Verfassungs- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit, Freiheitsräume der Bürger gegen den Staat sichert oder erweitert, geschieht dies wiederum oft zu Lasten anderer Rechtsträger, welchen ein Gesetz oder eine Verwaltungsentscheidung Vorteile gebracht hätte. Geht man schließlich davon aus, dass auch dort, wo die Richter "reine Interessengegensätze" zwischen Bürger und Staatsgewalt zu beurteilen haben, hinter dieser Letzteren wiederum nur ein Allgemeininteresse steht, welches Interessen anderer, der "großen Bürgerzahl" bündelt, so erweist sich: die Richter sind nicht so sehr "Schützer gegen den Staat", als vielmehr eine organisatorische Form von dessen Machteinsatz. In dieser Sicht ist dann die Iudikative nicht eine Gegenkraft im Namen der Bürger gegen den bedrohlichen Staatsapparat, sondern ein Teil desselben, etwas wie eine besonders organisierte Staatlichkeit, welche sich vor allem durch die Formen dieser dem Recht in besonderer Weise verpflichteten Organisation von Administrativinstanzen unterscheidet. 18 Leisner

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F. Judikative als Gewalt in der gewaltenteilenden Demokratie?

Diese Betrachtung zeigt die Gerichtsbarkeit nicht als Beschränkerin der Staatsgewalt, sondern als deren Vergegenwärtigung in allen Staats-Bürgerbeziehungen. Gerichtsbarkeit ist eben auch Staatsgewalt. b) Hier tritt denn auch die Gesetzesgebundenheit der Richter voll in ihr Recht: Sie wirkt eindeutig und zuallererst staatsgewaltverstärkend. Gerichte dürfen doch nicht insgesamt als Instanzen gesehen werden, welche sich gegen die Staatsgewalt stellen, darin den Bürger und seine Freiheit beschützen dürften, nur weil sie sich in der Verfassungsgerichtsbarkeit in seltenen Ausnahmefällen gegen den Willen des Gesetzgebers wenden, durch Vorlagen Derartiges vorbereiten. Auch diese Verfassungsüberprüfung der Gesetze bedeutet ja nur, dass eine andere, höhere Gesetzesunterworfenheit, die Verfassungsbindung, an die Stelle der Gesetzesbindung tritt. Die verbreitete Rede vom Richterstaat hat zur Annahme einer grundsätzlichen Frontstellung der Richter gegen das Gesetz geführt, Judikative als Gegengewalt des Freiheitsschutzes im juristischen Bewusstsein aufgebaut und daraus dann deren Gewaltcharakter abzuleiten versucht. Die rechtliche und vor allem auch die Verfassungslage ist eine andere: Im Vordergrund steht das Wesen der Gerichtsbarkeit, geprägt durch deren volle Gesetzesbindung, die Unterworfenheit unter niederrangige oder auch höhere Normen. Einen "Richterstaat" könnte es nur dann geben, wenn eine Instanz ganz allgemein den Richtern vorschreiben könnte, sie sollten jeweils ihr eigenes Gesetzesverständnis an die Stelle des gesetzgeberischen Willens setzen. Doch dies sind seltene und immer mit der Gefahr eines unzulässigen contra legem-Entscheidens belastete Erscheinungen. Ein derartiges Anordnungs zentrum von Gegenmächtigkeit gibt es nicht zugunsten der Richter, und sie folgen derartigen Aufrufen auch nicht spontan in der Praxis. Wechselt man also einmal den Blickpunkt und betrachtet Gerichtsbarkeit aus der Sicht ihrer wesentlichen verfassungsgebotenen Gesetzesgebundenheit, so bringt sie Verstärkung der Staatsrnacht vor allem, nicht deren Schwächung. c) In dieser Betrachtung der Judikative erscheint es dann auch als selbstverständliche Organisationsfolge der Staatsgewalt in diesem Bereich, nicht aber als Resignation einer Gewalt oder als Machtverlust, dass sich die Richter nicht organisiert dieser sei ben Staatsgewalt in den Weg stellen, dass es Richteraufstände nicht gibt, dass nirgends ein konzentrisches Machtbewusstsein erkennbar wird, wie es aber eine wirkliche Staatsgewalt erfordern würde. Gerichte bewirken Ordnungsverstärkung in ihren Erkenntnissen, sie leisten einer Staatsgewalt nicht Widerstand, an deren Normen sie gebunden sind, deren Verwaltung sie zu gewährleisten haben. Richter als Gesetzesverstärker, als Staatsgewaltverstärkung - ist dies nicht die nächstliegende, die geradezu natürliche Betrachtung? Ist die Rede vom Richterstaat nicht doch nur eine Hochrechnung von Einzelerscheinungen oder gar von Extremfäl-

II. Judikative als "antipolitische Gegenkraft"

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len? Werden in der Judikative nicht vor allem Institutionen der Staatsbewahrung zusammengefasst? Und doch findet auch die weitverbreitete, wenn nicht allgemeine Überzeugung von einer Gerichtsbarkeit als Schützerin der Bürger und ihrer Freiheit ihre tiefere Berechtigung: Die Richter verstärken Staatsgewalt, in welche sie eingebaut, deren Organe sie sind, immer nur unter einem Gesichtspunkt: dem des normativ gesetzten oder doch gedachten Rechts. Dies aber lässt sie zur Gegenkraft werden, mit politischen Wirkungen, gegen andere politische Kräfte, vor allem in der Demokratie. 2. Judikative als anti(partei)politische Kraft a) Was von allen Richtern stets erwartet und was weithin auch von ihnen noch immer geleistet wird, gerade in der Volksherrschaft, ist doch vor allem eines: dass sie unpolitische Staatsgewalt zum Einsatz bringen, diese verstärken jenseits von Parteipolitik. Der Gegensatz zwischen Richterturn und Parteilichkeit, den es sicher gibt, steigert sich hier gewissermaßen von der Neutralität gegenüber den Betroffenen zur Ablehnung dessen, was eben nicht aus rechtlich-ausgewogenem, sondern aus einseitig-parteilichem Denken herauswüchse. Der Richter darf sich weder für eine Prozesspartei noch für eine politische Partei einsetzen, vor seinen Schranken findet der "ParteiBegriff' insoweit zu einer letzten, staatspolitischen Einheit. Dahinter steht gewiss ein Rousseau'sches Denken in neuartig-demokratisierter Form: In jenem Gesetz, welches den Richter bindet, das er anzuwenden, darin Staatsgewalt zu verstärken hat, ist alle Parteilichkeit aufgehoben: die Mehrheit hat auch für die Minderheit mitentschieden, es gibt nur den einen Staatswillen. Und in diesem Sinne ist - vielen mag es paradox erscheinen - die Gerichtsbarkeit Vollstreckerin des Philosophen der Volkssouveränität: Mag das mit knapper Mehrheit im Parlament verabschiedete Gesetz als Parteien-Sieg erscheinen und gefeiert werden - in den ruhigeren Gerichtssälen "wird es erst zum Recht", seine parteipolitische Motivation fällt von ihm ab. Das Gesetz, in solcher Weise durch Judikative entparteilicht, gewinnt damit entscheidende Machtverstärkung; auf sie kann eine Demokratie nicht verzichten, welche nicht andauernd nur Sieger und Besiegte in ihrer Bürgerschaft einander gegenüberstellen, ständigen demokratischen Krieg führen darf. Die Gerichte erscheinen damit als Organisation laufender demokratischer Friedensschlüsse, im Großen, Kleinen und Kleinsten; sie befrieden, indem sie das Recht entpolitisieren, gerade darin setzen sie es durch und wirken wiederum im Letzten doch staatsgewaltverstärkend. Eine Gegengewalt ist dann die Judikative, will man die Gerichte schon in diesem Bündelungs-Begriff zusammen sehen, nicht gegen "andere Ge1S*

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F. Judikative als Gewalt in der gewaltenteilenden Demokratie?

walten" als solche, sondern nur gegen deren rechtsfernes, vielleicht gar rechtsfreies Entscheiden. Hier spricht eine "Gegengewalt des Rechts wider Parteipolitik als solche", welche sich ins Recht schiebt, sich mit den Federn seiner Normen schmückt. In funktionierender Gerichtsbarkeit werden die politischen Parteien von Machtträgem zu Rechtsformulierern redimensioniert, mehr noch: hier stehen Staatsorgane nicht primär gegen andere, hier steht eine Form staatsorganisatorisch erzwungenen richterlichen Erkennens gegen eine von der Demokratie gewünschte andere Gewaltform parteipolitischen Wollens. Verschiedene Denkformen sind es also, welche in organisatorischer Differenzierung zum Einsatz gebracht werden in der einen, alles ordnenden Staatlichkeit. Gegeneinander stehen hier nicht Staatsgewalten, sondern Äußerungsformen der einen Staatsgewalt: Zur "Politischen Willensbildung", die aus den politischen Parteien kommt, tritt die rechtliche Richterentscheidung hinzu - und ihr auch immer wieder entgegen, bis hin zur Korrektur der Gesetze. Das ist die Hoffnung einer freien Bürgerschaft in den "Richterstaat", dass dessen Organe die Politik verrechtlichen, NormenPolitik zu Recht werden lassen. Darin erst wird die Demokratie, diese virtuelle Diktatur der Mehrheiten, konsensfähig, gerade in einer heute immer weiter differenzierten, ihre Mehrheiten verändernden Welt. In all dem ist am Ende weit mehr Staatsgewaltverstärkung als etwas wie "Gegengewalt", aber eben eine Verstärkung in eine force tranquille des Staates hinein, nicht in aufgeregte Radikaldemokratie. b) Dies sind allerdings nicht so sehr Feststellungen einer Realität als vielmehr staatsgrundSätzliche Forderungen an die Richter. Ihrer eigentlichen Aufgabe, einer politikverrechtlichenden Verstärkung der Staatsgewalt, werden sie nur gerecht, wenn sie sich entschieden, in ihrem ganzen Denken wie in jeder von dessen urteilenden Ausprägungen freihalten, wo nötig entfernen von parteipolitischen Grundhaltungen. Wenn überhaupt einer Bürgergruppe Parteizugehörigkeit untersagt sein sollte, wenn hier Parteilichkeit eigentlich ruhen müsste, wie es für das Staatsoberhaupt eine konsensgetragene Selbstverständlichkeit ist, so bei Richtern, allen im Namen des Staates Urteilenden. Es ist schlechthin nicht nachvollziehbar, wie eine Persönlichkeit die Schizophrenie parteipolitischer Überzeugung und rechtlicher Beruhigung auf Dauer sollte durchhalten können. Hier geht es ja nicht, wie in der Verwaltung, darum, dass eine Instanz ihren Willen einem höheren, konkreten parteipolitischen Befehl unterordnet; die Richter sind aufgerufen, diese Parteipolitik laufend entpolitisierend in Recht zu verwandeln. Können sie da überhaupt noch in anderen Kategorien denken, solchen der Mehrheit oder der Minderheit? So einfach es klingt und banal: Als Staatsgewalt sind die Richter nur Recht, daraus allein gewinnen sie Prestige und am Ende dann sogar wirkliche Macht; nur kennt eben das Recht diese Qualifikation im Letzten

III. Gerichtsbarkeit zwischen gemäßigter Staatsform und entarteter Demokratie 277

nicht. Manchmal mag es scheinen, als müsse man die Richter zu Hilfe rufen zur Rettung des niedergehenden Rechts, und darin liegt Wahrheit: Die Gerichte müssen die Personifizierung des Rechts bleiben, Parteipolitisierung darf sie nicht erreichen und in nichts. Nur dreht sich diese Judikative eben in einer gefährlichen Spirale: Bietet ihr das Rechtsbewusstsein der Gemeinschaft nicht einen festen Selbstand gegenüber dem politischen Willen, zur Macht der Parteien und Mehrheiten, so wird sie auf Dauer die Kraft zu einem eigenen "Denken allein in Recht" auch nicht mehr aufbringen. Darin allerdings liegt nun wirklich etwas wie eine letzte demokratische Anbindung und Legitimation auch der Gerichtsbarkeit - aber eine nicht parteipolitisch legitimierende, sondern eine entparteipolitisierende Rechtfertigung dieser wichtigen Staatstätigkeit.

111. Ausblick: Gerichtsbarkeit auf dem Grat zwischen gemäßigter Staatsform und entarteter Demokratie 1. Gerichtsbarkeit: Entscheidende Mäßigung der Volksherrschaft

Demokratie ist und bleibt eine Form organisierten kollektiven Willens zur Macht. Aus dessen schäumenden Kräften gewinnt sie eine Dynamik, in welcher sie den ebenfalls willensgetragenen Fortschritt leichter und besser bewältigt als manche der beharrenden Strukturen. Zu diesen Letzteren gehört auch eine Gerichtsbarkeit, die längst vor jeder Demokratie da war, deren Aufgaben früher in meist konservierender Bewegungslosigkeit wahrnehmen wollte. Gerade deshalb musste die Volksherrschaft ihren Frieden machen mit diesen Institutionen, welche sich sonst zu Gegengewalten gegen sie hätten verdichten können. Darin mag etwas liegen vom Zug jeder Staatsform, ja jeder staatsorganisatorischen Gestaltung zu ihrem jeweiligen Gegenbild, dessen gefährdende Gegensätzlichkeit darin aufgehoben, jedenfalls neutralisiert werden soll. Die Demokratie, die Staatsform der Abhängigkeiten und Kontrollen, flieht immer wieder, in ihrem Großen und in ihrem Kleinsten, den Prozessualkrisen ihrer Ordnung, in ihr Gegenteil, die ruhige Unabhängigkeit oder Reservestellung so vieler ihrer Organe, nicht zuletzt aber eben der Richter. Darin liegt mehr als eine coincidentia oppositorum: Hier wird grundsätzliche Spannung erzeugt und erhalten, aus der sich ein leuchtender Strom entwickeln soll: zwischen menschlichen Grundkräften des Willens und der Erkenntnis. Die Richter sind und bleiben Instanzen des Erkennens, als Erkenntnisse dürfen sie daher wie keine andere Staatsinstanz die Ergebnisse ihres Denkens bezeichnen. Die Demokratie mit ihren Bürger- und Volksvertreterentscheidungen ist von Anfang bis Ende ganz Wille, Staatsform ge-

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wordene Willensbildung. Für ein ruhiges Erkennen lässt sie sich keine Zeit, die immer raschere Entwicklung menschlicher Erkenntnisse lässt diese Zeit dem menschlichen Willen nicht. Irgendwann, irgendwo muss dies angehalten werden, indem Re-flexion zurückkehrt in diesen Willens strom, der nur darin zum staatlich geordneten Kreislauf werden kann, dass ihn Nachdenken und Erkenntnis wieder "zurückbiegt" auf die Ausgangspunkte seines Wollens. Die willensmäßig wirkende Kraft des Erkennens ist anerkannt zugleich und als solche stets und überall gewollt; in Gerichtsbarkeit eingesetzt lässt sie die Demokratie zu einer in sich gemäßigten Staatsform werden. Lange Zeit hatte die Volksherrschaft diese Kardinaltugend der temperantia gefunden im Gottesgnadentum einer Monarchie, welche vor allem auch eines ausstrahlte: Gott ähnliche, ruhig nachdenkliche Erkenntnis. Nun muss sie diese Ruhe finden, nicht mehr im König, sondern im königlichen Richter. Zur gemäßigten Staatsform lässt er sie werden. In diesem Sinne ist es ein Ausdruck staatsförmiger Weisheit, dass derartige Nachdenklichkeit, und sei es in noch so später Gewalt, selbst an der Staatsspitze nicht eingesetzt, sondern im wahren Sinne des Wortes inthronisiert wird, in Verfassungsgerichtsbarkeit. Die späte Gewalt der Richter tritt in Spannung zur allzu frühen Gewalt des Volkes, seiner Vertretungen und exekutivischen Helfer. Mit ihrem Richterturn lässt sich die Demokratie keine Zeit aufdrängen aus einer aufgeregten Realität heraus; sie schafft ihre eigene, eine gemäßigte Zeit, zwischen voluntaristischer Verfrühung und erkenntnismäßiger Verspätung, in etwas wie einer wahrhaft vollen Vermenschlichung. Dies mag etwas bedeuten wie ein Hohes Lied auf jene Richter, welche sich noch immer, und hoffentlich auf Dauer, über allen Kämpfen halten, sie alle vor sich zur Ruhe kommen lassen, zu einem Ende. Sie spielen nicht Gegenrnacht und Gegengewalt, sie werfen sich nicht in Auseinandersetzungen geteilter Gewalten. Weniger als diese sind sie - und doch alles zugleich: sie sind die Waage, die gewichtslose, sie wägen, sie lasten nicht, und so lange und so wirkungsvoll es sie gibt, gibt es eine gemäßigte Staatsform, sei dies die Demokratie oder eine andere heute noch gar nicht sichtbare. Alle Staatsform darf vergehen, nur Richter müssen bestehen. Sie sind keine Staatsgewalt, aber sie prägen jede Staatsform.

2. Richterart gegen Entartung der Staatsform Was seine "Art" findet, sein Wesen in Mäßigung, zuallererst jene Staatsformen, für welche dies Aristoteles bleibend gelehrt hat, ist stets von Entartung bedroht, muss ihr durch Erhaltung mäßigender Spannungslagen und Gewichte entgegenwirken. Vor allem darf die Richterhand nicht die Waage fallen lassen. Hier droht eine doppelte Gefahr: Niedergang aristokratischen Denkens in der Demokratie und Usurpation des Richterturns in Volksjustiz.

III. Gerichtsbarkeit zwischen gemäßigter Staatsform und entarteter Demokratie 279 a) "Der Richter" war lange Zeit der König, die Spitze einer aristokratischen Feudal-Pyramide; königliche Richter waren seinesgleichen oder von ihm in diese aristokratischen Funktionen Gehobene. Mit diesem Lordrichterturn stand über viele Jahrhunderte die Judikative, in ihr setzte es sich in zahllosen Formen fort - wird sie mit ihm fallen? Die Zeichen stehen auf Depression. Die Vervielfältigung der Instanzen, zunehmende Kollegialität, steigende Richterzahl können einer Aristokratisierung nicht günstig sein, welche denn auch als solche seit langem weder ausdrücklich gewünscht noch auch nur implizit geduldet wird. Zu weit hat sich die Vorstellung verfestigt, der Richter sei eben doch ein Subsumtions-Automat, oder er solle es werden; das Prestige des Gesetzes, wie wenig es auch noch als solches berechtigt sein mag - keine Richterautorität vermag es aufzuheben. Die Richter stellen keinen Pouvoir mehr dar, nicht einmal in einem rechtsfern-gesellschaftlichen Sinn; außerhalb der Gerichtssäle verlieren sie sich im Grau tagtäglicher Wertschätzungen und Abwertungen. Im Lordrichter lebt, wie der Name schon sagt, etwas von der alten Adels-Judikative weiter, doch auf dem europäischen Kontinent ist sie selbst als bürgerliche Judikative nur mehr in Spuren auffindbar. Die Gefahr für eine judikativ gemäßigte Staatsform liegt hier aber nicht etwa darin, dass eine nicht mehr vom Feudal-Pomp umgebene Gerichtsbarkeit keine Akzeptanz mehr fände, sie wirkt in jener selbst, in einem entaristokratisierten Bewusstseinsverlust. Er bedeutet nicht so sehr Machtschwächung, als dass er vielmehr Kompetenzausübung als solche verwandelt. Aus ihrer sicheren Überzeitlichkeit drängt er die Richter heraus in gewöhnliche Tagtäglichkeit, in Routine. Selbstbewusstsein des Aristokraten verliert der Richter, wenn er nicht in seinem Status schon etwas, alles ist, sondern es erst durch das Urteil, in dessen ängstlicher Richtigkeitssuche werden muss, auch dann noch laufend in Kritik geworfen. Noblesse - das war einst ein Wort für eine besonders edle Art - sie muss nicht allein aus Geburt kommen, aber sie kann in Gewöhnlichkeit, in entaristokratischer Routine verloren werden. Noch vor einigen Jahrzehnten ist zutreffend erkannt worden, dass nur staatliches Gehalt die Richter auf einer gesellschaftlichen Höhe halten kann. Doch des Guten ist viel zu wenig geschehen, die Rivalität zwischen Beamten- und Richterschaft hat das Sparstreben des stets neidigen Volkssouveräns wirksam unterstützt. Wenige Richter, höhere, königliche Bezahlung würde die Besten auf Richterstühle bringen, technisch-mechanistischer Routine-Entartung entgegenwirken. Doch wo eine Staatsorganisation sich über Gerichtsbarkeit mäßigen will, zugleich aber mäßigende Kraft der Aristokratisierung nicht einsetzt, welche die gute, die gemischte Staatsform charakterisiert, da findet sich keine Richterhilfe gegen demokratische Entartungen. Den Bürger-König konnte es geben, und insoweit auch einen Bürger-Richter. Doch Talare werden zur Verkleidung, werden sie von allzu Bescheidenen getragen; deren Urteile verlieren an

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F. Judikative als Gewalt in der gewaltenteilenden Demokratie?

Wert, werden die Urteiler zu gering bewertet. Nur wenn eine endlich stärker differenzierte Gesellschaft wieder einen Sinn gewinnt für Stufungen, Aristokratisierungen, Eliten, werden wieder Richterstühle aufgestellt, die ganz diesen Namen verdienen. b) Wo der Richter die unsichtbare königliche Krone abnimmt, "einer von allen" wird, sein Ohr nur mehr an den Mund der Medien hält und des Volkes, drängt dieses Volk in die Gerichtssäle. Es kommt zu einer VolksJustiz, welche auch dort entartet, die Judikative wie die gesamte Staatsform der Demokratie pervertiert, wenn sie nicht in einem Volksgerichtshof endet. Die Gefahr droht hier nicht aus jenen Laienrichtern - lange Erfahrung hat dies bestätigt - in denen das vielberufene gesunde, rechtlich unverbildete Volksempfinden rechtlichen Verbiegungen des Richterdenkens entgegenwirken soll. Gefahren drohen wohl immer und allein aus einer Entwicklung der Berufsrichterschaft selbst. Wenn sie nur mehr einen Routine-Job unter vielen wahrnimmt, wenn ihr dies in ihrem sozialen Abstieg täglich in der Gesellschaft bestätigt wird, wenn sie zusehen muss, wie großes Kapital und politische Macht an ihr vorbeiziehen, wenn sie nur mehr "wie das gemeine Volk" diesem Treiben zusehen, es durch ihre Urteile nicht mehr wenden, in sich nicht mehr die Kraft dazu fühlen kann - dann hat sich Volks-Justiz im tiefen Sinne entfaltet. Aus einer Richteraristokratie wird vergewöhnlichte Justiz, welche alsbald den Mächtigen der jeweiligen parteipolitischen Volks-Mehrheit nur immer noch mehr zu Willen sein wird, da sie einen sozialen Selbstand nicht mehr erreichen kann, weder materiell noch in ihrem Denken. Dann können von solchen Staatsbediensteten Gegenkräfte wider Parteipolitik nicht mehr ausgehen, diese Volks-Richter werden sich dann eher in Wahlversammlungen hervortun wollen. Ihre kleine Machtverstärkung gewinnen sie in rechtstechnisierender Routine, in der das Recht seinen Namen und seine Inhalte verliert. Bescheidene Allerweltsmoral dringt dann nicht nur in den Staat ein, sie wirkt in spiraler Verstärkungswirkung auf eine Bürgerschaft zurück, aus der sie kommt, aus Gewöhnlichkeit im negativen Sinne des Wortes, welche jeden erzieherischen Effekt aufgibt. In etwas wie einer eigentümlichen Mischung von Rechtstechnik und gesundem, außerrechtlichem Volksempfinden mag heute so mancher das Ideal des Richters sehen, nicht in einer immer unbequemen Elitisierung, die zum Vorwurf für Schwächere werden könnte. Doch ein solcher Weg führt nicht nur in eine Irre des Rechts, er führt aus einem Maß, in dem alles zusammenklingen muss, das ganze Volk und alle seine Besten. Am Ende dieser Betrachtung über diejenigen, in deren Urteilen das Recht nicht enden, sondern sich vollenden soll, steht vielleicht nur eine Erkenntnis: Habt ihr das Gesetz schon aus seiner Majestät gestürzt, so lasst doch die Richter auf ihren Stühlen! Gericht - das gehört zu den "Letzten

III. Gerichtsbarkeit zwischen gemäßigter Staatsform und entarteter Demokratie 281

Dingen", welche die Menschen erwarten. Zuallerletzt sollte gedreht werden an der Richter Letztem Wort. Ruhe um Richter ist die erste Bürgerpflicht der Demokratie; sie sollte den Richter begrüßen: "Spät kommt er, doch er kommt".

Zusammenfassung der Ergebnisse A. I. Judikative definiert - ein Paradox - Gewaltenteilung und ist doch S. 13-16 vielleicht keine Gewalt - en quelque fac;:on nulle.

Richterliche "Gewalt": volle Zwangsgewalt im Staat oder doch nur in Einzelfallentscheidung? - die Frage trifft in eine dogmatische Lücke. S. 16-18 11. Die in so vielem die Modeme beeinflussende Antike kannte eine Richterliche Gewalt als solche nicht. Diese entfaltet sich zuerst über die königlichen Richter des Ancien Regime. Richtertum wird im 19. Jahrhundert in seiner Unabhängigkeit als Staatsgewalt bewusst, im 20. Jahrhundert erstmals als möglicher Pouvoir in der Verfassungs gerichtsbarkeit. Die dogmatische Behandlung der Dritten Gewalt zeigt jedoch noch immer ein gewisses Defizit in ihrer Konzentration auf einfachgesetzlich-prozessrechtliche Ausformungen. S. 18-32 III. Richterliche Gewalt kann organisationsrechtlich oder aber funktional verstanden werden, nach ihrem wirkenden Wesen; letzteres entspricht dem Verständnis eines Montesquieu. Organisationsrechtliches Denken lehnt sich hier an die Historie an, insbesondere die der fürstlichen (Zweiten) Gewalt. Richterliche Gewalt muss daher, wenn überhaupt, primär funktional beS. 32-38 stimmt werden. B. I. Rechtseffektuierung ist nicht Wesen allein Richterlicher Gewalt; sie geschieht vor allem durch Rechtsgehorsam; Normanwendung erfolgt auch durch andere Verfassungsgewalten. S. 39-43 11. Grundsätze einfach gesetzlich-geregelten Verfahrensrechts als Verfassungsgrundlage Richterlicher Gewalt würden "Verfassung nach Gesetz" bedeuten. Die hier besonderes wichtige Kontradiktorietät gibt es im parlaS.43-47 mentarischen wie im Verwaltungsverfahren. III. Richten lässt sich, in seinem "Letzten Wort", als "Endgültigkeitsgewalt" begreifen, mag auch selbst hier das Erste Wort, der Antrag, manchmal schon das Letzte sein. Letzte Rechtsreaktion im Einzelfall ist Richterentscheidung, aber nur in einer "Gewalt für die Vergangenheit", welche diese abschließt; darin ist sie der Kritik "konservativen Wirkens" ausgesetzt, wird aber auch zunehmend von "progressiv-neuer Gesetzgebung" und durch die Erledigungseffekte der wechselnden Realität relativiert. Der Richter steht in ständigem Dialog mit Instanzen, die ihm Vorgaben liefern: Gesetzgebung, Verwaltung, privatautonome Bürger. Was Vergan-

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genheit ist, definiert der Gesetzgeber. Rückwirkung ist kein judikatives S. 47-59 Problem. In der Verfassungsgerichtsbarkeit öffnet sich diesem "Letzten Richterwort" eine neue Dimension: Schon die doch "Einzelfälle" entscheidende Staatsgerichtsbarkeit erlässt darin "judikatives Verfassungsrecht" , schwer abänderbar und gerade dadurch von eigenartiger Zukunftswirkung. Normenkontrolle ist erst recht nicht Einzelfalljudikatur, sondern Normsetzung, endgültig bestätigend oder kassierend. In Verfassungsgerichtsbarkeit vor allem wird die Judikative mit ihrem Letzten Wort zum Verfassungssouverän im dezisionistischen Sinn. S. 59-67 IV. Neutralität ist nicht identisch mit Unabhängigkeit; sie verlangt Unbeteiligtheit eines Entscheidenden an Streitigkeiten. Doch auch andere Instanzen als Gerichte sind derart neutral: Parlamente gegenüber Interessenträgern, im Rechtsstaat die abwägende Administrative gegenüber den Bürgern, schließlich der traditionelle Pouvoir neutre des Staatsoberhaupts, wenn auch wesentlich in streitentrückter Ferne. Neutralität kann also Judikative nicht definieren. S. 67-79 V. Sachliche wie persönliche Unabhängigkeit gilt als ein zentrales herkömmliches Kriterium der Judikative. Doch typisch richterlich ist auch hier nur das "Letzte Wort", ein Vergleich mit autonomen Verwaltungsinstanzen zeigt es. Allenfalls Letztentscheidungsmacht unterscheidet sachlich den Richter auch von dem weithin unabhängig gestellten Beamten. Die Unterschiede im Persönlichen ebnet das Beamtenrecht zunehmend ein. Richterähnliche Unabhängigkeit ist auch anderen Instanzen (Rechnungshöfen, Zentralbank, Hochschulen) garantiert, weithin sogar durch die Verfassung. Staatsoberhaupt wie Parlamente und deren Abgeordnete genießen weitreichende Unabhängigkeit. Dieser Begriff vermag also allein eine Judikative nicht zu definieren. S. 79-87 Die sachliche Unabhängigkeit der Richter wird überdies durch die Gesetzesbefehle eng beschränkt, durch immer speziellere Gesetze; und auch richterliche Gesetzesinterpretation ist nichts als Gesetzesgehorsam zum Weiterdenken dieser Befehle. Ihre Unabhängigkeit gibt den Richtern zum Gesetzesbruch nur faktische Gewalt. S. 87-90 Persönliche Unabhängigkeit ist nur ein besonderer, vorgelagerter Schutz der sachlichen, und sie schützt übrigens auch die Hochschullehrer. Solange die Richter von der Exekutive ernannt werden, stehen sie weithin in Karriereabhängigkeit, gerade die Tüchtigen. "Linientreues Verhalten" ist auch in der Gerichtsbarkeit eine Realität und politisch geschätzt; und eine Praxis der "Gefügigkeitsprämien" lässt sich kaum enttarnen. Justizressorts zeigen zunehmende Politisierungstendenzen. S. 91-96

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Gewählte Richter sind nicht unabhängig; weithin bleiben sie "linientreu". Schweizer Rechtskultur ist schwerlich übertragbar. Kein neutraler Monarch sichert mehr seine königlichen Richter. Judikative Selbstrekrutierung begegnet demokratischen Oligarchieängsten. S. 96-102 Demokratie steht in immanenter Spannung zu unabhängigem Richtertum - und zugleich flieht diese Staatsform in solche monarchieähnliche Gegenbilder. Demokratische Legitimationsversuche der Judikative überzeugen nicht. Urteil ist nicht wesentlich "Sieg der Mehrheit". S. 102-106 VI. Funktionale Definition Richterlicher Gewalt bleibt also problematisch - am nächsten kommt ihr noch der Richter "Letztes Wort"; funktionale Hochrechnung zu einer Dritten Gewalt ist aber fragwürdig. Auch ist da mehr Gewaltenverschränkung - ein Verunklarungsbegriff - als Gewaltenteilung. S. 106--109 Richterrecht ist Wirkungssteigerung des Gesetzes in Rechtsprechung, darin wesentliche, zentrale Gewaltenverschränkung. Gesetzesrecht ist nur ein Beginn von Richterrecht, in diesem endet Gewaltenteilung in undefinierbarer Gewaltenkonfusion. Auch die Zweite Gewalt ist mit einer Dritten durchgehend verschränkt, welche sie verendgültigt. Diese Judikative bleibt aber "offene Gewalt" - ein gefährliches Mode-Alibi für Entscheidungsscheue - als antwortende Instanz auf Bürgerfragen. S. 109-118 C. I. Judikative als Verfassungsgewalt im Rechtssinn setzt eine gewisse organisationsrechtliche Einheit voraus, vor allem Formen von Anordnungsoder von Normenhierarchie. S. 119-121

11. Weder das Fehlen "beamtlicher Hierarchie" noch der reaktive Antwortcharakter der Richterlichen Gewalt stehen deren organisationsrechtlicher Zusammenordnung im Weg. S. 121-123 III. Auch vielfach differenziertes Verfahrensrecht schließt hier Organisationseinheit nicht aus. S. 123-124 IV. Für organisatorische Judikativeinheit sprechen: Der einheitliche Richterstatus, der Instanzenzug und die organisatorische Selbstkoordinierung in gemeinsamen Senaten, vor allem aber die Konzentration in der Verfassungsgerichtsbarkeit, deutlich in Vorlagepflicht und Urteilsverfassungsbeschwerde. Eine gewisse Superrevision in Verfassungsrechtsprechung ist aus der Sicht der Judikative als organisatorisch einheitlicher Gewalt positiv zu werten. S. 125-132 V. Fazit: Die Dritte Gewalt ist eigentümlich geprägt in ihrer Einheitlichkeit von organisatorischer Klarheit - und von funktional verschränkter Verschwommenheit. Daher muss gerade hier die Betrachtung durch eine kritisch-dezisionistische der Wirkmächtigkeit der Gerichtsbarkeit ergänzt werden: Gewalt als Macht. S. 132-134

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D. I. Von der Frage nach der "Richtermacht" gehen alle Verfassungsbetrachtungen zum "Richterstaat" aus. Entscheidend ist hier das "Machtbewusstsein" der Organträger, eine zugleich politische und rechtsdogmatische Kategorie, welche die Wirkungen des Urteilens zu potenzieren vermag. Auch im stillen Richtertum könnte an sich "Wille zur Macht" wirken, rechtlich verschränkt mit dem der machtbewussten anderen Verfassungsgewalten. Solches Machtbewusstsein kann sich vor allem in paralegislativem oder -administrativem Gestalten in Präjudiziendenken entfalten. In KonseS. 135-142 quenzialität können ethische Dimensionen erreicht werden. 11. Gerichtsbarkeit und Macht stehen jedoch von jeher in antithetischer Spannung. Geschichtlich (er)geht stets Macht vor Recht, vor Richten. Staatlichkeit entwickelt sich aus einer Einheitsvorstellung politischer Macht. Die eigentlich machttragenden Organe nehmen zwar bald Rechtsanwendung als Machtausübung, Richter als legitimierende Machtträger hin, bis in die Gegenwart. Spannung von Macht und Gerichtsbarkeit bleibt aber politische Realität, sie kann hier Machtbewusstsein hervorbringen - oder Staatsmacht als solche schwächen. S. 142-146 Gerichtsbarkeit ist typisch delegierbare Macht aus einer Vollgewalt; dies beschränkt ihr Machtbewusstsein im Großen, kann es aber in den kleinen Räumen des Einzelfalles stärken. Die Richter besitzen nicht die "Macht der Geschenke", doch sie schenken Recht als unverdienbare Gnade, was als Macht empfunden wird; sie sind auch allgemein Verwalter einer Macht, die sie "in Ruhe halten". In ihrem konservierenden Ordnen ermöglichen sie erst neue belebende Macht - und werden darin selbst zu einer solchen. Die Bürger sehen sie als Machtbremse - also doch als Gegen-Macht. Aus der Antithese Richter-Macht könnte so ein stilles Machtbewusstsein der Richter erwachsen. S. 146-152 III. Dennoch - Richten erfolgt wesentlich in Machtferne. Der Richter steht nicht gegen alle Mächtigen, sondern über allen, wesentlich gleicht er aus, er bricht nicht. Macht verdrängt erneuernd, Richtertätigkeit wirkt wesentlich kontinuierlich-verstetigend in "Gerichtspraxis", bis zur "ständigen Rechtsprechung"; da ist wenig "Wille zur Macht". S. 153-160 Richteraufgabe bleibt zuallererst die Bewältigung des machtfernen Einzelfalles in seinem begrenzten Wirkungsraum. In Präjudizien denkt mehr die Wissenschaft als die Richter; sie suchen nicht die Macht normativer Verallgemeinerung, mit deren gesetzgeberischem Mut zur Ungenauigkeit. Ihr horror principii stellt die seltenen Grundsatzentscheidungen stets unter Einzelfallvorbehalt, entgeht darin politischer Machtdiskussion in Medien und achtet die Gestaltungsfreiheit der politischen Machtträger. S. 160-166

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Gerichtsbarkeit bleibt stets "zeitlos" und damit machtfern, in der Lebenslänglichkeit der Richter, die das Recht überzeitlich bewahren, darin den zeitlosen Staat verkörpernd, nicht die in Zeit wirkende Macht. In solcher Machtferne allein sind Richtende letztlich unabhängig. Agieren sie machtbewusst, so werden sie von den wahrhaft demokratisch Mächtigen gebrochen. Und diese wieder brauchen die Balance zum unpolitischen, machtfernen Richtertum. S. 166-172 IV. Als typischer Legist ist der Richter unter die Macht gebeugt, die er in Noblesse auch als ungeliebte hinnimmt; sein Machtbewusstsein heißt Gesetzesgehorsam - bis hin zum Juristentum einer Gesetzesberatung von Mächtigen, ja bis zu "fürchterlichen Juristen". Richteraufstand bleibt selten und untypisch - Revolte, nicht Revolution. S. 172-178 V. Der Richter ist keine "öffentliche Person", er wirkt in Mediendistanz. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren ist kaum machtwirksam. Sie hebt die Geheimrätlichkeit der Beratung nicht auf. Demokratische Öffentlichkeit, Gerichtstheater ist - noch - nicht Machttheater. Urteile stoßen Medienaktionen an, über sie die politische Macht, vor allem in Skandalfällen; doch dies geschieht nicht in institutioneller Verschränkung und nicht in flächendeckender Mächtigkeit. Hier fehlt ein S. 178-185 Machtbewusstsein, wie es Öffentlichkeit vermittelt. VI. Macht verlangt Gestaltung - Richter haben keine Gestaltungsgewalt. Wesentlich ziehen sie rechtliche Folgerungen aus Tatsächlichem, bringen dies nicht hervor. Ihnen fehlt die gestaltungszentrale Haushaltsgewalt. Ihre unflexible, planungsunfähige Rechtsgewalt "non calculat", kennt kein Risiko, bleibt damit den eigentlichen Machtquellen einer ökonomisierten Welt fern; sie "rechnet auch nicht in Macht". S. 185-192 VII. Für Verfassungsrichter als Machtträger spricht ihre Rechtsmacht des souveränen Verfassungsworts und dessen nur von ihnen zu bestimmender politischer Wirksamkeit. Dennoch: Auch hier werden Rechts-, nicht Machtaussprüche erwartet, sie wirken nur aus ihrer Befolgung. Rechtliche Allmacht verbindet sich mit faktisch-machtmäßiger Schwäche, da sind mehr Machtschranken als Macht. Diesem - noch immer - rechtlichen Erkennen fehlt die machtträchtige Gestaltungskraft, ihre Initiative, ihre Tagtäglichkeit. Und die weiten, weithin inhalts armen Verfassungsnormen sind weder hinreichende Grundlagen noch Legitimation für großflächige Machtentscheidungen, für Machtbewusstsein von Verfassungsrichtern. S. 192-199 VIII. Moralisierende Ausübung der Staatsgewalt kann machtträchtig wirken. Moralisierendes Richtertum ist nicht Normalbefund, wenn auch keine Seltenheit, verständlich als Selbstlegitimation und als Selbstschutz

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unabhängiger Organe einer "Gesellschaftsmoral". Dabei kommt richterliche Individual- wie Kollegialmoral zum Tragen, bis hin zur Laienrichtermoral, in vielfachen, kaum aufzudeckenden Verbindungen, ja zu unausgesprocheS. 199-205 nen und doch urteilstragenden Moralisierungen. Abstufungen moralisierender Judikatur nach Formen und Intensität sind festzustellen je nach Instanz-Stufen und Rechtsmaterien, wobei das Strafrecht im Vordergrund steht, zunehmend aber auch Familien-, Arbeits-, Sozial-, und Mietrecht. Letztlich kann von Richtern alles Recht nur irgendwie moralisierend angewendet werden. Doch in der Komplexität solcher Motivationen und Wirkungen ist Gerichtsbarkeit vielleicht Instanz, nicht aber eine flächendeckend-geballte Macht der Moral. S. 205-210 "Politisierte Moral" wird gerade in gegenwärtiger Demokratie zur judikativen Vorgabe, in Verfassungstreue oder Sinnerfüllung von Generalklausein aus Grundrechten, allgemein in "Correctness und Fairness" - in "Rechtskultur". In all dem ist moralisierende Judikatur Realität und Aufgabe der Richter, ganz anders und mehr als für Abgeordnete und Verwaltungsbeamte. S. 210-213 Manches mag also für ein Moralisieren als eigenartiges Konstitutivelement einer "Richterlichen Gewalt" sprechen. Dennoch fehlt es dabei an systematischer Einheitlichkeit und - eher zunehmend - an machttypischen Wirkungen, schon wegen steigender Moralskepsis und Moralwiderstand; S. 213-218 und daher ist da wenig "Richter-Macht". E. I. Verspätung judikativer Gewalt ist ein Problem der "Richter-Macht". Normen gelten grundsätzlich zeitlos, vermitteln dies auch den Entscheidungen der normgebunden Instanzen, vor allem der Judikative; Gerichtsordnung lässt sie in einem weithin zeitneutralen Raum wirken. Das Gesetz "verspätet" sich als solches nie - es sei denn in Umsetzung einer höheren Norm - wohl aber seine richterliche Anwendung. Trotz der prinzipiellen Zeitlosigkeit der Rechtsentscheidung kann die der Richter also "verspätet" sein, die Rechtsordnung gibt ihnen hier aber kaum etwas vor; dies wird zu einem speziellen Verfassungsproblem in effizienter Staatlichkeit. Für Judikative geht Richtigkeit vor Schnelligkeit, Rechtsunsicherheit auf Zeit nimmt sie hin; ihr letztes Wort muss "besonders richtig" sein. S. 219-227

11. "Prozess" ist ein wesentlich zeitferner Vorgang, insgesamt ein zeitloses Ereignis, in den "drei Einheiten" eines jeden Dramas. In ihm wird der Prozessstoff, "die Tat", fixiert, aus der Zeit gehoben. Fristen und Revisionsbeschränkungen bezwecken weniger rasche Entscheidung als Entlastung der Urteilenden. Sogar ein typisch gerichtlicher Verfahrensablauf hat etwas Zeitloses, mit seinen Sitzungen, Beratungen, Verkündungen; nichts drängt den Prozessablauf, Richter sind hier Herren der Zeit. S. 227-236

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III. Richter denken zeitlos. Ihre Neutralität agiert nicht aufgeregt, sie reagiert sine ira et studio, hält sich fern von politischer Atemlosigkeit, will keine Vergangenheit nachholen in Rückblicken. Judikative Mentalität lässt sich so ungern drängen wie Wissenschaft. Ein "Letztes Wort" darf nur in zeitloser Gründlichkeit gesprochen werden, Richterturn ist der Prototyp gründlicher Staatstätigkeit, von der Sachverhaltsermittlung über die Beratung bis zur Begründung; Begründungsloses Richten ist Willkür. Gründliche Richter dürfen zu spät kommen. S. 236-242 IV. Der Instanzenzug wirkt schwerwiegend spät - entzeitlichend, als Grundentscheidung für Rechtsrichtigkeit gegen Rechtzeitigkeit. In der höheren Instanz potenziert sich zeitfeme Richtermentalität. Doch diese Gewaltverspätung ist zugleich Freiheitsrecht des weiter prozessierenden Bürgers und Misstrauensbeweis gegen Richter. Deren späte Gewalt verliert darin entscheidend an Wirksamkeit. S. 243-247 V. Gerichtliche Verfassungskontrolle sollte nach ihrer Grundkonzeption zeitnah erfolgen, vor allem in der Verfassungsbeschwerde wird sie aber zur (weiter) verspätenden Gewalt. Die Verspätungspraxis der Verfassungskontrolle der Gesetze hat an jahrelangen Verfassungsbruch gewöhnt, was durch ex tunc-Wirkung nicht aufzuholen ist und sich in Orientierung "späterer Gesetzgebung" gar noch verzögernd fortsetzt. So wird diese späte Gewalt durch immer länger andauernde "Verfassungsrisiken" allenfalls zu einer negativen Macht judikativer Verunsicherung. S. 247-253 VI. Späte Gerichtsbarkeit ist ein Fremdkörper in der schnelllebigen Marktwirtschaft und im zunehmend selbstbewusst-ungeduldigen, rascheren Bürgerleben. Späte Gewalt in einer stets noch früheren Welt endet in immensem Machtverlust. So werden Strategien intensiviert, um der Dritten Gewalt auszuweichen - Prozessvermeidung in Kautelarjurisprudenz, Schiedsgerichtsbarkeit, Mediation - in einem Staat, der darin ebenso nutzlos zu werden droht wie seine Gerichte. S. 254-259 VII. Gegensteuern - aus der Verspätung - ist schwer. Die Richter richten sich ein in ihrer Ruhe. Richterrechtlich und gerichtsorganisatorisch lässt sich wenig ändern, die "Leistung" der Unabhängigen sich kaum steigern, den "raschen Richter" darf es so wenig geben wie den raschen Juristen. Verfahrensstraffung könnte in Routinierung enden, die von Erkenntnis abschneidet. "Klarere Gesetze" werden Richtertätigkeit kaum straffen. Verspätetes Urteil ist häufig von den Beteiligten zu vertreten, aber auch darin müssen sie eben - frei bleiben. S. 259-265 VIII. Judikative Verspätung ist systemimmanent und geradezu eine Verfassungsvorgabe. Richtermacht geht allerdings darin verloren, sie wird weniger fühlbar und umgehbar, sie verliert die vorsorgliche Interventions-

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wirkung. Zeitablauf und Macht lassen so manchen Prozess überflüssig werden. S. 265-268 F. I. Judikative als eine "Dritte Verfassungsgewalt" gibt es nicht. Gerichtsbarkeit ist eine höchst komplexe, vielfach zusammengeordnete Institutionenstruktur, uneinheitlich und machtfern. "Richterliche Gewalt" mag ein ins Bürgerbewusstsein eingeschliffener Hoffnungsbegriff bleiben gegen Übermacht - letztlich ist auch hier der Gewaltbegriff ein Fortschleppen von Historisierung. Und die Gewaltenteilung zeigt sich in eben ihrem judikativen Kernstück problembeladen. S. 269-273

11. Gerade im Sinne einer "vielfältigen Rechtskompetenz" bleibt Judikatur aber entscheidend wirksam. Einerseits verstärkt sie staatliches Ordnen - und dies tut Not. Zum anderen wirkt sie darin als anti(partei)politische Gegenkraft; und so wird das parteiliche Gesetz der Mehrheit zum Recht. S. 273-277

III. Gerichtsbarkeit mäßigt die willensgetragene Volksherrschaft in Erkenntnis(sen), sollte sie stets in demokratischem Aristokratismus vor Entartung bewahren. Und wahre Demokratie -lässt Richter in Ruhe. S.277-281

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