Das Kreuz - Gestalt, Wirkung, Deutung 9783525550526, 9783647550527, 3525550529

Das Kreuz ist das Zeichen des Christentums. Es verweist auf Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu Christi. Aber es ist n

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Das Kreuz - Gestalt, Wirkung, Deutung
 9783525550526, 9783647550527, 3525550529

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Hans-Günter Heimbrock

Das Kreuz Gestalt, Wirkung, Deutung

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55052-6 ISBN 978-3-647-55052-7 (E-Book) Umschlagabbildung: Günter Heizmann, 2001 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Vorwort

Dieses Buch hat einen längeren Entstehungsprozess hinter sich. Dass gerade jetzt, im Jahr meiner Verabschiedung aus dem Hauptamt an der Universität, ein Buch zum zentralen Thema christlicher Theologie erscheint, war nicht geplant, aber es fügt sich. Dank schulde ich manchem und mancher in Universität wie in kirchlicher und schulischer Praxis für Interviews, für anregende Gespräche und Begegnungen, für die Überlassung von Material. Ein besonderer Dank geht an drei Menschen: an Dr. Peter Meyer, der bei der Lektüre aller Kapitel wertvolle Anregungen für die Zuspitzung lebensweltlicher Perspektiven gegeben hat; an Jörg Persch vom Verlag, der das Projekt beharrlich-konstruktiv begleitet hat und mit kritisch-ermutigenden Hinweisen wesentlich zum Gelingen des Bandes in vorliegender Gestalt beigetragen hat; an Janina Albrecht im Besonderen, die mit großer Sorgfalt und viel Mühe Korrektur gelesen hat und die auch das Register erarbeitet hat. Bei der Erteilung der Druckgenehmigungen für einige der Abbildungen habe ich hilfreiche Unterstützung von Institutionen und Personen bekommen. Vielen Dank für die Überlassung von Bildvorlagen und die Erteilung von Publikationsgenehmigungen. Ich war bemüht, die Abdruckrechte aller verwendeten Abbildungen einzuholen. Sollte es in Einzelfällen nicht gelungen sein, den Rechteinhaber einer Abbildung zu ermitteln, wende man sich bitte an den Verlag. Einige der im Buch gezeigten Bilder stehen auf der Homepage des Verlages www.v-r.de zur Verfügung. Frankfurt/Main  Februar 2013

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1. Im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Gestalt – mit theologischem Mehr-Wert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kulturelle Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Auf die Probe gestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Ins Spiel gebracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Gestalten der Praxis Gelebter Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Annäherungen 2. »Ich mußte einfach ein Kreuz kaufen.« Lebensweltliche Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Hinwendung zum Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Begegnungen im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Theologie im Architekturmuseum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Der übermalte Kruzifixus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 »Ich mußte einfach ein Kreuz kaufen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Begegnung und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Lebenswelt, Methode und Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Bedingte Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Lebenswelt in der Glaubenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Kreuz-Gestalten in Augenschein genommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Funktionen bildlicher Gestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gestalten: Vom Wissen zum Wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Erste Annäherungen an Objekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Ein Geschenk aus Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Balken aus dem Schwarzwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Ein Licht-Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Schwebend über den Köpfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 »Kunst in der Apsis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zur Phänomenologie und Theologie der Kreuz-Gestalten . . . . . . . . . . . 3.4.1 Gestalt-Wahrnehmung des Kreuzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Ein Gestalt-Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Gestalt und Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8Inhalt

Vertiefungen 4. Gestalt und Gestalt-Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gestalttheorie: Grundgedanke und »Gesetze« der Gestalt-Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Feldtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Rezeptionen der Gestalttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Phänomenologie: Wahrnehmung und Strukturbildung . . . . . . . . 4.4.2 Gestalt-Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Gestalt-Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Gestalt und Ganzheit – kritische Rückfragen und Zwischenbilanz . . . . 5. »Das Auge sollte ein Lehrer der höheren Wahrheiten werden«. Zur religions- und christentums-geschichtlichen Entwicklung der Kreuzessymbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Perspektive: Das Wechselspiel zwischen Symbol und Bedeutungszuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der innere Kreis: Symbolik und Deutung in christlichen Überlieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Kreuz-Zeichen und Sinn-Bild in der Frühen Kirche . . . . . . . . . . . 5.2.2 Typenbildung und Kreuzesverehrung im Mittelalter . . . . . . . . . . 5.2.3 Reformation: Nicht nur Bild-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der äußere Kreis: Das Kreuz im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Religion – Kosmologie – Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Kosmologische und anthropologische Elemente in christlicher Symbolbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gott als Gestalt denken. Facetten eines theologischen Gestalt-Begriffs . . . . 6.1 Ansatzpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zum Sprachgebrauch von Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Dietrich Bonhoeffer: Gestalt und Gleich-Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Dogmatische Topoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Zum Ansatz des Gestaltbegriffs bei Bonhoeffer . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Hans Urs von Balthasar: Gestalt der Herrlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Von der Schönheit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Ein kosmo-theologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Paul Tillich: Gestalt und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Der Horizont: Kultur-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Gestalten des Unbedingten in der Profanität . . . . . . . . . . . . . . . . . © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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6.5.3 Bedeutungsgestalt und Form-Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Henning Luther: Die Gestalt des Fragments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.1 Der Kontext: Kritische Theorie des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Gegen erschlichene Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schritte zur Praxis 7. Vorstellungen vom Kreuz bilden. Religionspädagogische Aufgaben . . . . . . . 7.1 Kreuz und Passion: Verlegenheiten und Fehlstellen der Religionsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Sehen: Wissen und Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 »Magieamulett« – »… sieht aus wie eine Leberwurst«: Zwei junge Menschen nehmen Gestalten des Kreuzes wahr . . . . . . . . . 7.3.1 Zur Methode der explorativen Feldforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Lena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Danny . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Elemente und Dimensionen des Gestaltverstehens . . . . . . . . . . . . 7.4 Lern-Wege ästhetischen Weltverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Kompetent für das Kreuz. Vom Umgang mit dem Kreuz im Leben und im beruflichen Alltag von Pfarrerinnen und Pfarrern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 »Der Kandidat muß verstanden haben …« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Konkretionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Ralf: »die offene Form, die mir Raum gibt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Effie: »… dass das Kreuz Jesu zum Lebensbaum wird« . . . . . . . . . 8.2.3 Carsten: »Dieser kleine Zwischenraum ist für mich ein Sinnbild« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Kreuzes-Theologie: Berufliche Gestaltpraxis und theologische Lernprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. »… sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an« – Gestalthafte Erschließung theologischer Gestalt-Verweigerung . . . . . . . . . . 9.1 Auf die Probe gestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Der Anfang: Sprach-Gestalten des Wortes vom Kreuz . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Frühe Etappen sprachlicher Deutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Die Pointe: Das Kreuz als Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Welche Gestalt entspricht dem »Wort«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Black Paintings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10Inhalt

An der Oberfläche 10. »Dem Anblick ausgesetzt« – Das Kreuz im Rechtsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Religion in der »post-säkularen« Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Kleine Phänomenologie der Streitfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Höchst-Richterliche Ansichts-Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Das Kruzifix-Urteil von 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Die Causa Lautsi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Ein wirksames Symbol? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11. Das Kreuz als kirchliches Markenzeichen. Zur Phänomenologie und Theologie einer Werbeaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Protestantische Gestaltungsschwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Die Marke »Evangelische Kirche« sichtbar machen . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Wie macht ein Logo Sinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Das Werbeblatt »Glaubenssymbol Facettenkreuz« . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.1 Die Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4.2 Die Botschaft der Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5 Theologie mit der Oberfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5.1 Markenzeichen von Kirche und das Kreuz Christi . . . . . . . . . . . . 11.5.2 Marke und Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5.3 Gestaltwahrnehmung und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12. Das Ziel: Gestalt-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Kreuzes-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Theologische Hermeneutik: Gestalt und Sinnverstehen . . . . . . . 12.1.2 Ästhetik des Kreuzes und Verhalten zur Welt . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.3 »Crux probat omnia« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Gestaltungsaufgaben in Handlungsfeldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.1 Gestaltwahrnehmung in der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Predigt und Feier gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.3 Gestalten bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Praxis als Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

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Im Fokus

1.1 Gestalt – mit theologischem Mehr-Wert? »Crux probat omnia« behauptete M. Luther, das Kreuz ist der Prüfstein für alles in der Theologie, alles muss sich am Kreuz bewähren. Das Kreuz Christi bildet den Grund und Ausgangspunkt des christlichen Glaubens. In liturgischer Feier haben sich bald nach Ostern christliche Gemeinden versammelt, um den auferstandenen Gekreuzigten zu feiern und sich im neuen Glauben zu vergewissern. In theologischen Deutungen haben sich Christinnen und Christen seit den Tagen der Urgemeinde um ein angemessenes Verständnis dieses für sie einzigartigen Ereignisses bemüht. Sie haben mit ihrer Lebensgestaltung und in der Formulierung ethischer Regeln dem zu entsprechen versucht, was neues Leben in Christus nach Ostern kennzeichnen soll. Unter Berufung auf Kreuz und Auferstehung Christi haben einzelne und Gruppen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen eine je spezifische politische Praxis abgeleitet, oft in scharfem Protest gegen herrschende Verhältnisse. Vom Kreuz ging schließlich seit den Tagen der Apostel ein wirkkräftiger Impuls zu diakonischer Praxis aus. Für all dies ist das Kreuz das Zeichen des Christentums geworden. Es verweist auf Leiden und Sterben und Auferweckung Jesu Christi. Aber es ist nicht nur Zeichen, das auf etwas anderes verweist. Es bringt vielmehr selbst etwas zur Darstellung. Als wuchtiges Kreuz an der Stirnwand einer Kirche, als steinernes Wegkreuz, als zierliche Skulptur auf dem Schreibtisch, als Installation aus Glas und Stahl im Museum, wo immer wir ihm begegnen – es hat eine eigene Gestalt, Formgebung, farbliche Gestaltung, Materialität und Größe. Und diese Gestalt ist ein Ganzes, das für Betrachtende als Ganzes etwas zum Ausdruck bringt, in, mit, neben der Erinnerung an Passionserzählungen. Worin liegt der theologische Mehr-Wert dieser Gestaltungsformen? In welchem Verhältnis steht der Umgang mit dieser Gestalt heute zu den genannten anderen Antwortebenen und wie kann dieser Umgang zu unseren Versuchen theologischer Erschließung des Kreuzes beitragen? Das ist die Frage, der ich in diesem Band nachgehen möchte. Sie zielt auf eine praktisch-theologische Hermeneutik des Kreuzes, die in den Kapiteln entfaltet werden soll. Ich möchte dem genauer nachgehen, wie Menschen heute, Kinder und Erwachsene, theologische Profis und theologische Laien, die für christliche Theologie zentrale Botschaft vom Kreuz in Begegnung und Auseinandersetzung mit visuellen Gestaltungen der Kreuzesbotschaft erschließen. Das ist eine etwas andere Frage als die nach einer theologischen Interpretation von bestimmten Kunstwerken, auch wenn die ikonografische Tradition der Kreuzesdarstellungen sicher gelegentlich berührt wird. Mich interessiert hier ein Zugang zum © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Im Fokus

Kreuz, der nicht Kunstinterpretation, sondern ästhetische Praxis, den Umgang von Menschen mit dem Kreuz ins Zentrum rückt. Dabei frage ich in einzelnen Anläufen und in prinzipielleren Überlegungen speziell danach, wie das Kreuz als eine Gestalt wahrgenommen wird und wie konkrete Menschen diese Perspektive für ihre persönliche theologische Sinnerschließung des Kreuzes Christi einbringen. Es geht also am christlich zentralen Thema des Kreuzes um ein Stück Praxis von Theologie in der eigenen Regie von Menschen. Die in diesem Band präsentierten Versuche der Annäherung an das Kreuz beruhen auf theologischen, phänomenologischen und ästhetischen Voraussetzungen, welche im Laufe der Kapitel skizziert werden.

1.2 Kulturelle Kontexte Den theologischen Zugang zu »Gestalt« im Symbol des Kreuzes Christi neu zu erkunden versuche ich in einer zwar keineswegs religionslosen, aber doch »nachchristlichen« Epoche, da vielen Menschen die ehedem zentralen christologischen Aussagen in der Weise überkommener Bekenntnissätze nur noch wenig zu sagen scheinen. Das Zeichen des Kreuzes ist über Jahrhunderte zwar ein weithin sichtbares öffentliches Zeichen des Christentums geworden. In säkularer und religionspluraler Gesellschaft heute bestreiten jedoch einzelne und ganze Gruppen vor Gericht die Legitimität seiner Darstellung in der Öffentlichkeit, in Schulen, Krankenhäusern und anderen staatlichen Einrichtungen. Auf das Kreuz berufen sich christliche Politiker auch in nach-christlicher Epoche, so wird das Zeichen des Kreuzes als visuelles KampfEmblem der Kreuz-Ritter nach wie vor genutzt, ob für den vom US-amerikanischen Präsidenten J. W. Bush ausgerufenen »Kreuz-Zug« gegen den internationalen Terrorismus, womit er seine Antwort auf den 11. September 2001 geben wollte, oder ob in der kruden Bildwelt des Attentäters Anders Behring Breivik, der in Norwegen 2011 ein Blutbad anrichtete. Die nach-christliche Epoche ist gleichzeitig eine Kultur, in der immer mehr Menschen einer medial vermittelten Bilderflut ausgesetzt sind. Solche Bilderflut manipuliert oft und macht zusehends unempfindlich für die realen Abgründe und Schrecken des Lebens, gerade angesichts einer technisch immer perfekteren Illusionswelt voll von Gewalt und Todesdarstellungen in den Medien. Hinzu kommt: Visuelle Botschaften folgen keinem eindeutigen Interpretationscode mehr. Bildwelten werden collagiert, manipuliert, überblendet, zuweilen kommentieren und entleeren sich Bilder auch. Auch der Umgang mit dem Kreuz steht in dieser kulturellen Dynamik, seine tradierte religiöse Bedeutung steht in unserer Zeit im Kontext erweiterter Bedeutungsund Verweisungszusammenhänge, zugleich aber in wachsender Gefahr der Banalisierung und Kommerzialisierung ästhetischer Gebrauchsobjekte des Alltags. Unübersehbar ist die Veralltäglichung des Kreuzes in der Gegenwartskultur. Wir finden es nicht mehr nur in und auf Kirchengebäuden oder als Wegkreuze. Kreuze © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Auf die Probe gestellt13

begegnen als Form von Ordenszeichen, als Schmuck am Halse, als Emblem der Flaggen oder gar als Motiv zu einer kitschigen Stickerei auf dem Sofakissen im Wohnzimmer. Spätestens diese Kreuze stehen für eine Kultur des Lebens in bester Ordnung oder auch eine Kultur der flüchtigen Bilder, effektvoll montiert, aber schon verschwunden, wenn man gerade mal näher hinsehen wollte. Diese Zeichen sind ganz und gar keine christlichen Meditationsbilder mehr. Für viele eher Ausdruck von Hektik, oberflächlicher Spaßgesellschaft und einem »gefräßigen Auge«, das nirgendwo mehr verweilen will. In einem solchen Zeichensalat scheint auch das Kreuz seine christliche Ausdruckskraft von ehedem völlig verloren zu haben. Es ist jedenfalls nicht Besitz des Christentums – wenn es das je gewesen wäre. Und doch gibt es auch dieses: Im politischen Protest gegen lebenszerstörende Mächte und Maßnahmen von Christen wie von Nicht-Christen kann gerade der demonstrative Einsatz von Gestalten des Kreuzes auf wirkungsvolle Weise den öffentlichen Protest zum Ausdruck bringen. Das Kreuz bindet für viele Zeitgenossen offenbar auch ohne theologische Übereinstimmung in Lehrsätzen immer noch Kräfte zum Einsatz für Leben und humanes Überleben.

1.3 Auf die Probe gestellt Nimmt man solche kulturellen Kontexte der Veralltäglichung des Kreuz-Symbols ernst, dann muss die theologische interessierte Fragestellung nach dem Umgang mit der gestalthaften Seite des Kreuzes mit dem Grundsinn des christlichen Kreuzes verbunden werden, also mit nichts Geringerem als der symbolischen Bearbeitung von Leben und Tod. Und auch dafür muss Luthers »probat omnia« gelten, auch an dieser Frage muss die Begegnung von Menschen mit Gestalten des Kreuzes auf die Probe gestellt werden. Denn nicht für jeden, der heute mit diesem oder jenem Kreuz in seinem persönlichen Lebensumfeld zu tun hat, kann man automatisch unterstellen, dass er oder sie in diesem Zeichen den Ausdruck lebenszerstörerischer Gewalt oder ihrer heilvollen Überwindung findet. Und nicht jede Gestaltung dieses Symbols gibt mit seiner Formsprache Verweise auf diese existenzielle Dynamik. Es ist eine offene Frage, ob im Einzelfall hier die Ruhigstellung zum Musealen und Ornamentalen droht, die »An-Ästhetik«1 und Neutralisierung der Anstößigkeit oder aber der ästhetisch wirksame Ausdruck von Grundspannungen und Grundambivalenzen des Lebens. In den letzten Jahren wurde an verschiedenen Stellen um Fortgeltung und Neuinterpretation dogmatischer Aussagen zur Bedeutung des Kreuzes sehr vehement gestritten, insbesondere im Blick auf die Sühneopferthematik. Wo die einen »notwendige Abschiede« forderten, sprachen die anderen von »Ausverkauf« christlicher Theologie gerade an ihren zentralen Aussagen.

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W. Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Im Fokus

Der Berliner Praktische Theologe K. P. Jörns forderte in seinem rasch zum Bestseller avancierten Buch2, um der Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens willens und unter Berufung auf heute veränderte Verstehenszugänge eine neue Sicht auf die christliche Botschaft, die ohne gewaltbesetzte Opfervorstellungen auskommen müsse. Der Bonner Superintendent Burkhardt Müller hat 2009 in Rundfunkandachten ähnliche Fragen nach Bedeutung und Deutung des Kreuzes Christi für ein breiteres theologisch interessiertes Publikum aufgeworfen.3 Gegen solche Thesen zum Kreuz wurde rasch theologischer Widerspruch laut. Mit gewichtigen Argumenten und z. T. scharfer Polemik wurden Jörns Schlussfolgerungen als exegetisch unhaltbar bestritten, ihm wurde »Banalisierung des Glaubens« und insbesondere des christlichen Gottesverständnisses vorgeworfen. Kritische Rückfragen gegen eine über das Ziel hinaus schießende Verabschiedung problematischer Sühneopfervorstellungen bei Jörns, Müller und anderen wurden in differenzierten dogmatischen und exegetischen Stellungnahmen entwickelt.4 Argumentativ neu entfaltet wurde dabei eine theologische Deutung des Kreuzes ohne zwingenden Rekurs auf Gewaltverherrlichung und ohne Perpetuierung eines archaischen Opferkultes. Auch wenn dieser Streit inzwischen abgeklungen ist, entnehme ich ihm für meine Fragestellung wichtige Markierungen: –– Auffällig ist zum einen die ungeahnte und überraschende Breitenwirkung, die von den Kritikern ausgelöst wurde. Das Thema des Kreuzes ist auch im 21. Jahrhundert offensichtlich nicht nur Anlass für Spezialuntersuchungen akademischtheologischer Experten, sondern berührt auch heute die Substanz christlicher Glaubensvorstellungen vieler Menschen. Und es rührt emotionale Schichten menschlicher Zugänge zum Glauben an. –– Das zentrale theologische Anliegen in der Erschließung des Kreuzes Christi geht nicht auf lebensabgehobene und leere Lehrformeln, sondern dahin, wie Menschen im Umgang mit diesem Symbol Leben verstehen, wie in der Botschaft vom Kreuz die Gewaltgeschichte und die Zweideutigkeit des alltäglichen Lebens mit der Erfahrung ihrer Überwindung zum Ausdruck und zur Wirkung gebracht werden können. –– Auffällig ist schließlich, dass es beim Thema Kreuz nicht oder jedenfalls nicht nur um Wissen und begrifflich argumentierende Äußerungs- und Zugangsformen geht. Im Streit um angemessene Deutungen des Kreuzes Christi ist erneut die 2 K. P. Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 2004, ³2006. 3 Vgl. die Dokumentation in Chrismon http://www.chrismon-rheinland.de/cpr/suehneopfer_dossier. html 4 Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Stellungnahme des Leitenden Geistlichen Amtes zur umstrittenen Deutung des Todes Jesu als ein Gott versöhnendes Opfer, März 2008. Zur exegetischen Ar­gu­men­ tation gegen Jörns vgl. St. Alkier, Die politische Botschaft des Abendmahls, in: H. Streib/A. Dinter/ K. Söderblom/(Ed.), Lived Religion. Conceptual, Empirical and Practical-Theological Approaches. Essays in Honor of Hans-Günter Heimbrock Leiden 2008, 101 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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elementare Wirkung von Bildern deutlich worden. Es geht um antike und moderne Bildwelten von ungeahnter Wirksamkeit, um das »Opferbild«, um angemessene Erschließung von Vorstellungen, Metaphern und Bilder von Christus und Gott, die den Bekenntnissätzen sowie Lehrformeln von gestern und heute vorausliegen.

1.4 Ins Spiel gebracht Es steht viel auf dem Spiel, wo es um das Kreuz gehen soll. Ich nehme in diesem Buch die angesprochenen Markierungen auf, um die Bedeutsamkeit des Kreuzes neu zu erschließen. Denn wie Sprachbilder haben auch Gestalten eine bildhafte Dimension. Ob und wie solche Gestalten im Streit um die Bedeutung des Kreuzes Christi Position beziehen, ob auf dem Wege über ästhetische Darstellung und den Umgang mit ihr Deutungen gewonnen werden, die theologisch erhellend und weiterführend sind, das ist eben nicht sicher, es ist im Einzelfall näher zu erkunden. Welche Interpretationen sind da virulent? Welche Kreuzes-Gestalten erweisen sich als wirkmächtig im Blick auf eine bestimmte Auslegung von Leben? Obwohl einerseits der christliche Glaube von seinen biblischen Ursprüngen her unbestreitbar auf die Feier und Deutung des Kreuzes bezogen ist, spielen andererseits in der Kulturgeschichte innerhalb wie außerhalb des Christentums bis heute Bilder vom Kreuz Christi in verschiedensten Variationen eine herausragende Rolle. Protestantische Theologie hat bisher kaum danach gefragt, in welchem Zusammenhang hier Wort und Gestalt stehen. Gerade im Protestantismus mit seiner Betonung des Wortes und seinem Misstrauen gegenüber den Bildern sah man hier oft den Irrweg in eine unergiebige, wenn nicht unstatthafte Zone des »Bilderdienstes«. Dieser religionskritische Vorbehalt darf nicht ignoriert werden. Der sich am Kreuz hingebende Gott kann in keiner Gestalt dingfest gemacht werden. Gestalt und Gestaltkritik gehören zusammen. Aber damit ist das Thema Gestalt theologisch nicht erledigt, sondern neu eröffnet. Denn auch Gestalt kann für Menschen, ohne dass sie verabsolutiert und vergötzt würde, Sinnträger und Sinnverweis auf das sein, was all unsere Sinne überschreitet. Die theologische Herausforderung liegt gerade darin, den Sinnen für die Sinnbildung des Religiösen etwas zuzutrauen. Viele Generationen haben seit der Alten Kirche die zentrale Bedeutung christologischer Aussagen auf lehrhafte Formeln in elementarisierter Form zu bringen versucht. Diese Lehrsätze waren zumal in Form von Katechismussätzen und Liedertexten lange Zeit prägend für das Glaubenswissen auch des theologisch weniger oder gar nicht gebildeten Kirchenvolks. Allerdings kann man heute nicht mehr daran vorbeisehen, dass solche ehedem plausiblen Sätze des »Heil in Christus«, also Formeln der »Zwei-Naturen-Lehre«, der »Ämter Christi« usw. für viele Christen (einschließlich der studierten Theologinnen) nicht mehr zugänglich sind. Mit der Konzentration auf »Gestalt« in der Kreuz-Symbolik möchte ich eine neue Dimension ins Spiel bringen. Ästhetische Formen und ihre Rezeption stellen nicht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Im Fokus

wörtliche Übersetzungen von Bekenntnissätzen dar, weder können sie das noch wollen sie das. Sie »sagen« nichts mit Worten. Sie bieten Seherfahrungen, sinnliche Erfahrungen, und das keineswegs automatisch. Aber dabei gilt: Seherfahrungen an Gestalten des Kreuzes führen den Betrachter nicht immer an leicht zugängliche Darstellungen, nicht nur an das Glatte, Klare und immer schon Erwartete, sondern mitunter an Rätselhaftes und Anstößiges, mitunter eher an Gestaltverweigerung, an Leere der Farbigkeit und Leere der Struktur. Im Extremfall bieten sie gerade mit solchen Ausdrucksmitteln eine spezifische Erfahrung des Geheimnisses, der Abwesenheit und Verborgenheit, die der Betrachter trotz aller Anstrengungen nicht überwinden oder entschlüsseln kann. »Er hatte weder Gestalt noch Schöne« (Jes 53). Es geht darum, von Gestalten angeleitete und provozierte Seherfahrungen theologisch zu reflektieren. Im Sinne P. Tillichs ist die Provokation ästhetischer Erfahrung für die Erneuerung unserer Mitteilung der Botschaft aufzunehmen.

1.5 Gestalten der Praxis Gelebter Religion Das Buch zielt auf eine praktisch-theologische Hermeneutik des Kreuzes. Es ist an Praxis »Gelebter Religion« interessiert. Auch in diesem Buch nehme ich dazu die Grundorientierung Praktischer Theologie auf, die auf phänomenologische Erschließung »Gelebter Religion« abzielt.5 Denn auch die sinnhaft gegebene Welt ist Schauplatz »Gelebter Religion«, die theologisch erschlossen werden will, hier im Fokus der theologischen Erschließung von Gestalt. Das beginnt bei der leibhaftigen Annäherung an konkrete Phänomene: Ich lade Leserinnen und Leser zur Entdeckungsreise auf eine Baustelle ein, berichte von einem überraschenden Fund einer Kreuzdarstellung auf der Straße. Wir betreten Kirchenräume und stellen uns mit einer Gruppe junger Leute vor das Altarkreuz oder vor eine Kreuzskulptur als dessen modernes Äquivalent. Pfarrerinnen und Pfarrer erzählen von ihren persönlich-biografischen und beruflichen Entwicklungen im Umgang mit dem Kreuzessymbol. Es werden kindliche Malprozesse in den Blick genommen und analysiert, Verstehenszugänge von Jugendlichen genauer geschildert, aber auch kirchliche Werbeaktionen unter Verwendung eines Kreuzzeichens untersucht. Lebensweltgebundene Annäherungen bringen Phänomene in Sicht, immer auch das, was sich nicht in ihnen zeigt, was verdeckt wird, abgeblendet, verschwiegen und unsichtbar gemacht wird. Gerade auch das hat theologisch im Horizont des Kreuzes seinen besonderen Ort. Durch Erkundungen zu konkreten Phänomenen und zu Verstehensprozessen einzelner Menschen hindurch thematisiere ich zugleich auch übergreifende Über5

Vgl. einführend H.-G. Heimbrock, Wahr-Nehmen der Gestalten von Religion. Ansatzpunkte, Interessen und Umrisse einer Praktischen Theologie auf phänomenologischer Basis. in: G. Lämmlin/ St. Scholpp (Hg). Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen 2001, 219–237. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Gestalten der Praxis Gelebter Religion17

legungen im Zusammenhang mit relevanten Theoriehorizonten. Etwa grundsätzliche Erkundungen zur Gestalttheorie in ihren wichtigsten Strömungen im 20. Jahrhundert, zum theologischen Begriff von Gestalt und zur Geschichte der Deutungen der Kreuzes-Gestalt. Praktische Theologie nimmt die Aufgabe der Gestaltung von Praxis wahr. Der Gestalt-Begriff, so wird sich zeigen, muss aber in doppelter Lesart aufgenommen werden. Relevant sind gerade in Bezug auf das Kreuz nicht nur gute Handlungsstrategien für die Konzipierung von Predigt oder Unterricht. Von Belang sind auch die immer schon vorfindlichen Gestalten der Praxis. Von der Beschäftigung mit solchen Praxis-Gestalten des Kreuzes kommt im Verlauf des Buches die grundsätzliche Frage nach dem Rang von Gestalt für die Theologie generell zur Sprache. So zielen meine Überlegungen mit christologischen Beiträgen zugleich insgesamt auf den Entwurf einer Gestalt-Theologie ab. Deshalb steht am Ende ein Versuch der systematischen Darstellung, in dem ich beschreibe, was der Gestaltimpuls für Kreuzestheologie und für die Praktische Theologie insgesamt austrägt. Der Band ist entstanden in Praxisbegegnungen und zielt auf Praxisbegegnungen in Predigt, Beratung und Unterricht. Er wäre nicht zustande gekommen ohne bereitwillige Mitarbeit von Vielen, deren Praxis und deren Erfahrung ich für die hier gebotenen Zugänge nutzen durfte. So bin ich Studierenden, Kindern, Pfarrerinnen und Pfarrern sehr dankbar für aufgeschlossene Kooperation und auch für Kommunikation im persönlichen Bereich. Es geht hier ja nicht um Richtigkeiten oder Lehrbuchwissen, sondern um persönliche Erfahrungen. Die datenschutzrechtlich gebotene Anonymität ist, so werden Betroffene erkennen, gewahrt. Auch dieser Band nimmt die empirisch-phänomenologische Perspektive für die Theologie auf, wie ich sie in den letzten 15 Jahren in meiner Arbeit und im Forschungsteam der Praktischen Theologie Frankfurt entwickelt habe. In diesem Sinne geht es für mich im Band um das Kreuz als den Testfall auf alle Theologie, so auch als Testfall auf phänomenologisch orientierte Theologie.

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Annäherungen Kreuze begegnen in Kirchengebäuden, auf Bibeln und Gesangbüchern, an religiös angestammten Orten. Wer sich auf die Suche macht, der wird allerdings auf Kreuzessymbole auch anderswo stoßen. Sie begegnen uns zuweilen auch auf der Straße, in einem Café, bei der Zeitungslektüre oder im Museum. Die ersten Annäherungen beginnen bei solchen lebensweltlich zufälligen Begegnungen. Was zeigt sich da, wenn man nicht bei christologischen Bekenntnissätzen über das Kreuz Christi beginnt, auch nicht bei einem theoretisch aufgeladenen Gestalt-Begriff, sondern vor-theoretisch, wohl wissend, dass ein solcher Rückgang auf die Lebenswelt fast unmöglich ist? Die nächsten beiden Kapitel gehen dem an zufälligen Beispielen nach, fragen dann weiter, wie hier Gestalt virulent wird und inwiefern eben solche Begegnungen kreuzes-theologisch Sinn machen könnten.

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»Ich mußte einfach ein Kreuz kaufen.« Lebensweltliche Begegnungen

2.1 Hinwendung zum Alltag Das Kreuz begegnet Christinnen und Christen u. a. im gottesdienstlichen Raum. Viele Kirchen schmückt an demonstrativer Stelle, auf dem Altar oder an der Stirnwand, ein in der Regel gut sichtbares Kreuz. Das steht oder hängt da mit voller Absicht. Menschen gehen in die Kirche, weil sie auf die eine oder andere Weise diese Begegnung mit dem Kreuz suchen. Das Kreuz ist das christliche Zentralsymbol. Es ist das Zeichen des Christentums, denn es verweist Christen auf Leiden und Sterben Jesu Christi. Gebete, Predigten und Liedertexte nehmen vielfältig expliziten Bezug auf das Kreuz. Eine Verkündigung des Evangeliums, die auf dieses Kreuz Bezug nimmt, das erwarten Mann und Frau von gottesdienstlicher Feier. Auch vor den Toren der Kirche, in der Alltagskultur, ist das Kreuz allem Re­li­ gions­verlust zum Trotz in vielfältigsten Gestalten beinahe allgegenwärtig geblieben, allerdings keineswegs nur in christlicher Bedeutung. Es begegnet nicht nur als Wegkreuz oder Gipfelkreuz, sondern auch als Emblem auf den Skatkarten, als Flash im eplus-Werbeclip oder als Schmuckangebot in den Auslagen der Juweliere. Das hängt auch mit der Universalität seiner geometrischen Figur zusammen. Für den Alltag nachchristlicher Kulturen gilt: Kreuze gehören eher zur Requisite des Alltags, zur hintergründigen Bebilderung der bewussten Wahrnehmung. Sie werden in der Regel nicht besonders registriert. Aufmerksam auf sie wird man in den seltenen Fällen, wo ein neues Kreuz in der Kirche aufgerichtet wird oder wo Menschen außerhalb der Kirche mithilfe von Kreuzen Spektakuläres zum Ausdruck bringen. Dann kommt mit einem erstaunten »Aha« zum Bewusstsein, dass auch in kirchenferner Kultur da eine theologisch hoch besetzte Gestalt verwendet wird und dass mit der Wahl des Kreuzes bewusst oder unbewusst auf christliche Aussagentradition angespielt wird. Kann sich eine wirklichkeitsbezogene Praktische Theologie mit Gewinn dazu anregen lassen, stärker auch den »vor-theologischen« Begegnungen mit dem Kreuz im Alltag Aufmerksamkeit zu schenken? Was käme dann in den Blick? Und wohin führt das theologisch? Die folgende Skizze stellt alltagsbezogene Beobachtungen und Reflexionen am theologisch zentralen Thema des Kreuzes an. Sie tut dies mit dem spezifischen Interesse, gerade an diesem Phänomen die Spannung zwischen professioneller, theologisch fundierter Sinndeutung und vortheoretischen alltagsweltlichen Wahrnehmungen als Feld produktiver theologischer Forschung zu erschließen.

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2.2 Begegnungen im Alltag Menschen begegnen Kreuzen nicht nur, weil sie diese Begegnung suchen, sondern auch in lebensweltlicher Alltäglichkeit. Und zuweilen werden sie achtsam darauf, was diese mitunter zufälligen und ungeplanten Begegnungen eigentlich ausmachen. Ich nähere mich im Folgenden solchen lebensweltlichen Begegnungen in Miniaturen an. In der Darstellung trete ich aus der Selbstverständlichkeit ungeplanter Widerfahrnisse heraus und rücke sie durch genauere Wahrnehmungen also jeweils in den Vordergrund der Betrachtung. Diese Begegnungen werden am Ende im Blick auf Fragestellungen hin ausgewertet.

2.2.1 Theologie im Architekturmuseum Im Frühjahr 2003 machte ich an einem Sonntagmorgen mit einer kunstinteressierten Kollegin, die zu Besuch war, einen Ausflug in die Stadt. Wir hatten uns die Ausstellung zum Thema »Schatten«1 im Frankfurter Architekturmuseum vorgenommen. Denn die Ankündigung zur Ausstellung auf der Homepage war vielversprechend: Phänomene aus allen Kunstrichtungen waren zusammengestellt, von der Fotografie über die Architektur bis hin zur plastischen Kunst wurden uns Objekte angekündigt. Der Rundgang war kurzweilig, es gab viel zu sehen und zu bestaunen, darunter auch viel Informatives über grafische Darstellungsmittel und Kunstgriffe, mit denen man Schatten erzeugen kann. Ich lernte Verwendungsmöglichkeiten von Schatten etwa zur Darstellung räumlicher Tiefe kennen. Es gab auch Dinge zum Schmunzeln wie den fiktiven Schatten von Morris: Gezeichnet ist der Cowboy Lucky Luke, der seinen Colt schneller ziehen kann, als sein Schatten fällt. Mitten unter den Objekten fiel der Blick dann auf ein sehr eindrückliches SchwarzWeiß-Foto mit dem Titel »Schatten-Kreuz«. Dem Info-Täfelchen entnahm ich den Namen des Künstlers: Es stammt vom japanischen Künstler Mitsuo Matsuoka. Ein ungewöhnliches, befremdliches Foto, auf dem ich mich mit den Augen erst zurechtfinden musste. Grelles Licht fällt ein vom oberen Bildrand hin auf die Bildmitte. Zu sehen ist ein Türspalt, durch den das Licht ins Innere eines Kirchenraumes eindringt. Der Mittelgang ist von diesem gleißenden Lichtstrahl hell erleuchtet. Er zeigt durch den weiten Raum nach vorn zu mir als dem Betrachter, direkt auf mich zu. Links und rechts ragen aus dem Dunkel Kirchenbänke in die Mitte, die man allerdings nur schemenhaft wahrnehmen kann: Unbesetzte Bänke, keine Menschseele in Sicht. Auf einige Plätze in der mittleren Reihe fällt etwas Glanz vom Lichtstrahl im Zentrum. Gehe ich mit meinem Blick wieder zurück, spaziere ich mit den Augen über den Fußboden, dann nehme die schwach erleuchteten Bohlen auf dem Grund wahr. Und hinten in der Ferne dann einen Schlitz, weiß und offen. Er sieht aus wie die Türe, 1

Entnommen aus dem Katalog zur Ausstellung »Das Geheimnis des Schattens. Licht und Schatten in der Architektur«, Tübingen Berlin 2002. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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dahinter lauter weißes Licht. Sonst gar nichts. Bis auf ein altarähnliches Gebilde, welches ganz schwach im hinteren Teil der Kirche erkennbar ist, darauf ruht ein aufgeschlagenes Buch.

Abbildung 1

Das Auffälligste an diesem Bild in unserem Zusammenhang: Das Licht im Foto ist irgendwie unnormal. Es strahlt hell, aber es ist nicht einfach ein glatt verlaufender Strahl, der von einer Lichtquelle kommt. Der Strahl ist in Form eines Kreuzes gestaltet. Normalerweise kann Licht so gar nicht erscheinen. Das ist ein irritierendes Phänomen. Rasch kam ich mit meiner Kollegin über das Betrachten und Entziffern der Einzelheiten des Bildes ins Gespräch. Ich blieb beim Licht hängen, sie zog eher die Parallele vom leeren Dunkel auf die Zustände in ihrer eigenen Kirche. Die Symbolik des Kreuzes spielte für uns zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Dieses Bild weckte bei meiner Kollegin und mir besondere Aufmerksamkeit, sicherlich, weil wir als Theologen hier genauer hinschauten. Wenige andere Museumsbesucher verweilten hier so lange wie wir. Wir waren in diesem Museum trotz sonntagsvormittäglicher Zeit auf nichts Kirchliches eingestellt. Weder der Ort des Museums noch die Thematik der Ausstellung hatten irgendeinen Verweis gegeben. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Mitten in unterschiedlichsten Objekten fand sich dieses Foto, das bei uns Assoziationen und Reaktionen auslöste. Unversehens fanden wir uns im Museum in ein theologisches Gespräch über das Bild verwickelt, inmitten von ganz profanen Objekten. Ich hätte gern mehr über den Künstler erfahren. Was waren seine Intentionen? Verfolgte er eine religiöse Absicht? Und warum hatten die Organisatoren der Ausstellung gerade auch dieses Bild mit aufgenommen, das Einzige mit erkennbar religiösem Bezug? Unser Blättern im Katalog führte nicht weiter, so gingen wir mit Eindrücken und Fragen nach Hause. Auf das Bild kamen wir aber bei verschiedenen Gelegenheiten wieder zu sprechen.

2.2.2 Der übermalte Kruzifixus Eine zweite Begegnungssituation: Vor zwei Jahren sprang mir bei der Zeitungslektüre beim Frühstück ein Foto in der Frankfurter Rundschau ins Auge. Es war von mittelmäßiger Qualität, auf den ersten Blick grau und unscheinbar, eine schlechte Reproduktion auf Zeitungspapier. Und doch mit verblüffendem Inhalt. Ich suchte noch in derselben Woche den Ort in der Stadt auf. An einer Häuserwand im Stadtteil Bockenheim, gegenüber der Jakobskirche, fand ich diesen Anblick, der mir wahrhaft bizarr vorkam. Sogleich versuchte ich diesen auch mit eigenen Fotos festzuhalten. Mitten im Chaos und Dreck einer Baustelle prangte das Fragment eines KruzifixBildes auf einem Giebel. Das sieht man nicht alle Tage.

Abbildung 2

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Begegnungen im Alltag25

Was genau ist eigentlich zu sehen? Zunächst nehme ich Gerätschaften auf einer Baustelle wahr, einen Platz mit Schotter und Dreck, Gerüstteile, vor allem das badewannengrüne mietbare Klohaus Marke SanRent. Dann den großen Giebel eines mehrstöckigen Wohnhauses, schwarze Löcher, in denen vielleicht Dachgebälk verankert war, eine Wand, an der mancherlei Spuren erkennbar sind: abgebröckelter Mörtel, etwas, das aussieht wie heruntergerissene Tapeten, einen Giebelanschluss, wo offenbar einmal ein benachbartes kleineres Haus gestanden hat. Betrachte ich die Szenerie näher, so zeigt sich an der Wand das untere Ende eines Balkens, die Beine einer schlanken, vielleicht sogar hageren Gestalt und der hervortretende Rock des Christus. Es handelt sich um das Fragment einer Kreuzesdarstellung, und zwar nicht in der Kirche oder im Museum, sondern auf offener Straße. Und man muss genauer hingucken, um in den ausgebleichten Farben an der Wand überhaupt noch eine Gestalt zu entdecken. In einem Pfarrkonvent, wo ich zur Predigtvorbereitung zum Thema »Homiletische Spurensuche im Alltag« referierte und dabei das Foto benutzte, erfuhr ich Genaueres zur Geschichte des Bildes. Man war im Begriff gewesen, die Kirche zu erweitern, hatte auf der Seite zum Krankenhaus Platz geschaffen, um für den Anbau, der inzwischen fertig ist, einen großzügigen Zugang zu ermöglichen. Zu dem Zweck wurde das Nachbarhaus abgerissen. Dabei kam der Bilderrest an der Wand zum Vorschein. Angebracht worden war es nach dem Krieg im Gemeindesaal neben der zerstörten Kirche, als dort ersatzweise Gottesdienst gefeiert wurde. Inzwischen ist das Fragment schon lange verschwunden, unsichtbar gemacht. Es ist nicht mehr wahrnehmbar. Es wurde nämlich schlicht übermalt. Jetzt geben nur noch Fotos Zeugnis vom übermalten Christus am Kreuz, das Foto aus der Zeitung und meine eigenen Aufnahmen. Ich habe zu verschiedenen Anlässen das Foto herausgekramt und weiter fantasiert, nach dem Motto: »Was wäre, wenn …«. Was wäre, wenn die Kirchengemeinde das Wandbild in dieser Restgestalt belassen, ja es öffentlich zugänglich gemacht hätte? Würden die Passanten oder die Gottesdienstbesucher von der Wand Notiz nehmen? Welche Reaktionen würde der Anblick auslösen? Beschwerden beim Kirchenvorstand, dass der Kirchenvorplatz so unaufgeräumt bleibt? Spendenangebote zur Umsetzung von Verschönerungen? Kommentare zur Wiederherstellung des ganzen Christusbildes? Fantasien und Einfälle, nichts weiter. Aber oft fallen mit solchen Fantasien ja gute Predigten oder zündende Unterrichtsentwürfe an.

2.2.3 »Ich mußte einfach ein Kreuz kaufen« Die dritte lebensweltliche Begebenheit, die ich anführen möchte, spielte mir mein Mitarbeiter Peter Meyer zu. Er arbeitete an einem Promotionsprojekt zum Verständnis von Predigten aus der Hörerperspektive.2 Dazu hatte er in Deutschland und in 2

Vgl. P. Meyer, Das erfahrene Wort. Predigt als Sprachgeschehen gelebt-religiöser Praxis. Empirischtheologische Beiträge zur Sprach- und Predigtanalyse auf Basis komparativer Feldforschung in © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Lebensweltliche Begegnungen

den USA umfangreiche Feldstudien gemacht. Als Betreuer der Arbeit bekam ich in regelmäßigen Abständen Textteile der Dissertation zu lesen. Ein Kapitel brachte eine Begebenheit zur Sprache, die mich mit einer thematischen Wendung überraschte. Der Interviewpartner war ein etwa 50jähriger Mann aus den Neuengland-Staaten, der über seinen Zugang zur Gemeinde und zum Gottesdienst Auskunft gab. Er hatte in den letzten Jahren schlimme Sachen mitgemacht, eine Tumoroperation im Gehirn und Chemotherapie. Auch hatte er beide alten Eltern sowie einen Onkel bis zu deren Tod gepflegt. All diese Erfahrungen, so sagte er, hatten in ihm den Wunsch geweckt, »ein gutes Wort« zu hören. Deshalb suchte er neuen Zugang zur Kirche. Er fühlte sich in seiner Seele richtig leer, sodass er eine Kirche suchte, wo er sich im Gottesdienst willkommen und vom Prediger als auch von den Leuten in der Gemeinde angenommen fühlte. Er sehnte sich nach einer Botschaft, die ihm Kraft und Nahrung gab. Dieser Mann zeigt sich in vielen Interviewpassagen als wacher und kritischer Zeitgenosse. Er kommentiert sehr differenziert die liturgische Gestaltung eines Gottesdienstes und zeigt auch ein feines Gespür dafür, ob ein Prediger authentisch predigt und meint, was er sagt. Für ihn ist Gottesdienst keineswegs nur für individuelle Probleme zuständig. Er vermerkt zustimmend, dass man in der Kirche, die er jetzt besucht, auch Politik in den Gottesdienst bringt. Eingehend kommentiert er die politische Dimension von Gottesdienst angesichts einer verlogenen Trauerkultur der Bush-Regierung und er freut sich, als man im Gottesdienst am Hiroshima-Gedenktag auch den Holocaust zur Sprache gebracht hat. Inmitten all dieser Themen gibt es im Interview eine besondere Passage. Da kam das Interview auf die Frage zu sprechen, in welcher Situation er denn Gottes Nähe einmal besonders erlebt hätte. Dann erzählte er: »Meine Erfahrung mit Gottes Gegenwart war am intensivsten, als ich einmal eine ganz schlimme Zeit hatte. Ich glaubte, Gott kommt genau dann zu dir, wenn du ganz down bist. Es war nach dem Tod meines Vaters und meiner Mutter, einen Monat nach der Gehirnoperation … Nachdem mein Vater starb, er war in einem Hospiz … und ich ging aus dem Haus raus und stieg ins Auto ein, ohne dass ich richtig wußte, was lief, bekam ich diese Obsession: ich mußte einfach ein Kreuz kaufen. Ich habe nie Schmuck getragen, hab auch nie daran gedacht, ein Kreuz zu tragen, in meinen wildesten Träumen wär ich nie darauf gekommen, dass ich sowas haben müßte. Aber damals im Auto, da war ich einfach ein Besessener, es ist verrückt, ganz verrückt. ›Ich muß ein Kreuz haben!‹ Ich fuhr den Highway mit der Idee ›Ich muß ein Kreuz auftreiben, ich brauch jetzt ein Kreuz‹. Aber wo kriegst Du ein Kreuz her? Wo kauft man das? Ich führte Selbstgespräche. Da saß ich, fünf Minuten, nachdem ich kapiert hatte, dass mein Vater gestorben war. Und ich fuhr in eine Geschäftsstrasse. Das Ganze war unglaublich. Und die junge Verkäuferin, als ob sie’s genau wußte, zeigte mir genau das, was für mich das richtige war, ohne zu fragen. Und ich hab auch nicht weiter drüber nachgedacht, nahm Deutschland und in den USA, Diss theol. Universität Frankfurt/M 2012. Auch für die Überlassung des Materials bin ich P. Meyer sehr dankbar. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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mein Kreuz und fuhr nach Hause. Und erst da fing ich wieder an zu denken, he, was war das jetzt eigentlich? Und das Einzige, was ich sagen kann, ist: ja, das war Gottes Kraft, die mich da bewegt hat, ins Geschäft zu fahren und ein Kreuz zu erwerben. Ich blickte immer noch nicht ganz durch. Aber ich wußte, das Gott in meinem Leben eine Rolle spielte, das war ganz einfach keine Frage, keine Frage.«

Als ich das Transkript dieses Interview-Abschnitts las, war ich wirklich verblüfft. Mitten in einem Text zur Analyse eines amerikanischen Predigt-Hörers ganz unvermittelt dieser Abschnitt, wo jemand erzählt, dass er einmal wie ein Besessener in einen Laden stürmte, um ein Kreuz zu kaufen. Das habe ich noch nie von irgendjemandem gehört und ich kann mir kaum vorstellen, einmal in so eine Situation hineinzugeraten. Es klingt für protestantische Ohren wirklich sehr ungewöhnlich. Ich weiß leider nicht, wie das Kreuz aussah, das er da im Laden von der jungen Frau angeboten bekam und sofort intuitiv wusste: ›Das ist es, das muß ich haben‹. Das Interview bietet auch nur die Momentaufnahme; was er hinterher im Alltag mit diesem Kreuz dann gemacht hat, ob er es am Halse getragen hat, ob es einen Platz in seiner Wohnung gefunden hat, alles das bleibt unbekannt. Nur das eine ist klar: Es überkommt diesen Jemanden im Alltag in einer ganz speziellen Situation das Bedürfnis nach einem Kreuz, einem Kreuz, das er in die Hand nehmen und mit sich herumtragen kann. Er erzählt nichts weiter zu dem Kreuz. Aber vom Interview her ist für mich noch in der Papierfassung des Transkripts klar: Das war ein ganz dichter Moment in seinem Leben.

2.3 Begegnung und Theologie Soweit einige zufällig ausgewählte Begegnungen mit Kreuzen an ungewohnten und unerwarteten Orten am Rande des Alltags. Die kleinen Skizzen zu Phänomenen haben Wahrnehmungen an und in Situationen zusammengestellt; auch anfängliche Interpretationsversuche wurden angestoßen. Welche Relevanz kann solche zufällig gesammelte Spurensuche im Alltag für eine empirische Theologie gewinnen? Im Vorblick auf ein breiter angelegtes und methodisch durchstrukturiertes Projekt ist zu klären, was solche Beschreibung von Einzelbegegnungen im Alltag für eine theologische Analyse der jeweiligen Wirklichkeitsausschnitte ausmacht. Dass interessante Einzelheiten im Alltag zutage gefördert werden, ist wohl eine hilfreiche Voraussetzung für empirisch-theologische Forschung. Klärungsbedürftig bleibt gleichwohl, inwiefern solche Beschreibung weiterreichende Geltung beanspruchen kann. Was sind theoretische bzw. strukturtheoretische Voraussetzungen eines solchen Verfahrens? Und welche Relevanz haben solche Annäherungen an empirische Phänomene für theologisches Verständnis des Kreuzes? Diese Fragen sind komplex und werden in verschiedenen Stationen dieses Buches im Einzelnen aufgegriffen. Das besondere Profil lebensweltlicher Annäherung an das Kreuz für empirisch© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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theologische Forschung lässt sich in nuce allerdings auch schon von den bisherigen Schritten erheben. Ich skizziere dazu jetzt relevante Problemhorizonte.

2.3.1 Lebenswelt, Methode und Gegenstand Die oben skizzierten Zugänge haben ausgewählte Kreuze näher in den Blick genommen. Am Beginn stand hier jedoch nicht ein komplettes Forschungsdesign mit Gegenstandsbestimmung, Methodenkonzipierung und weiteren streng dimensionierten Schritten. Wie in der Einleitung angedeutet, ging den fokussierenden Blicken auf bestimmte Phänomene jedoch etwas anderes voraus, und zwar die lebensweltliche Einbettung der Phänomene und der Aha-Erlebnisse an ihnen. Denn deren Innewerden ist für sich genommen zunächst nicht Resultat zielgerichteter Forschung, kann aber gleichwohl den Forschungsprozess in Gang bringen. Die Betrachtungen der drei Kreuze beginnen bei Widerfahrnissen im Alltag, wo ich als Betrachter weniger oder gar keine zielgerichteten Erkundungsinteressen verfolge, sondern in vorwissenschaftliches Routinehandeln verwickelt war, dann überraschend vor Phänomenen stehe, die da auftauchen und die in den Vordergrund meines Interesses rücken. Die Entdeckungen zum Kreuz standen im Kontext von thematisch ganz anders strukturierten Alltagssequenzen. –– Ich führe in meiner Freizeit eine Kollegin aus Oslo ins Frankfurter Architekturmuseum, gehe mit ihr durch die Ausstellung zum Thema Schatten. Inmitten unter den Exponaten und Informationstafeln zu Phänomenen wie optischer Täuschung, physikalischer Forschung zum Licht und Etappen moderner Architektur, werde ich plötzlich des Fotos mit dem Schattenkreuz gewahr. –– Ich lese die Morgenzeitung, um mich beim Tee über die aktuellen Geschehnisse zu informieren und begegne da plötzlich in einem Bericht zur Renovierung einer Kirche in einem Stadtteil einem übermalten Kruzifix. –– Ein Gottesdienstbesucher wird im Forschungsprojekt gebeten, seine Eindrücke und Hörerfahrungen mit Predigten zu erzählen – und er erzählt unvermittelt von einer Situation, wo er wie ein Besessener nach einem Laden suchte und ein Kreuz kaufte. Die Frage ist, inwieweit an solchen alltagsweltlichen Einbettungen ein specificum für phänomenologisch-empirische Theologie bzw. für forschungsrelevante Aktivitäten erkennbar wird. Unbestreitbar verdankt sich die bewusste Auswahl der drei Szenen auch in diesem Aufsatz meiner von theologischen Interessen geleiteten Weltwahrnehmung. Gleichwohl steht diese bewusste Wahrnehmung und Reflexion auf der Basis lebensweltlicher Begegnungen. Der spezifische Erkenntnisprozess an den Gestalten des Kreuzes setzt also eine offene Haltung voraus, welche in der Psychoanalyse als »freischwebende Aufmerksamkeit« bezeichnet wird. Erst die Einbeziehung solcher Haltung ermöglicht es, dass man Kreuz-Gestalten in der Alltagswelt außerhalb explizit kirchlich bestimmter Lebenspraxis ansichtig wird. Im Blick auf ein methodisch reflektiertes Projekt zum angesprochenen Phänomen© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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zusammenhang ist deshalb zu fragen, wie theoretisch und forschungspraktisch mit eben diesem nicht methodisierbaren Element umzugehen sei, wie diese Haltung offener Spurensuche einzuüben sei, die Bereitschaft, sich von Dingen, Menschen und Szenerien betreffen zu lassen, die man nicht sucht. An dieser Qualität hängt für empirische wie für empirisch-theologische Forschung einiges. Das Offenhalten des Suchprozesses, und das heißt auch die Durchlässigkeit für Widerfahrnisse im Alltag, hilft den Kontakt zur Wirklichkeit zu behalten, der eine Grundintention empirischer Forschung insgesamt betrifft und der für wissenschaftliche Kreativität unerlässlich scheint. Und er hat eine eminent theologische Qualität: Für empirisch-theologische Forschung eröffnet solche Haltung den Kontakt mit der Wirklichkeit im theologisch zentralen Verständnis des Widerfahrnis. »Wir begegnen der Wirklichkeit – oder die Wirklichkeit drängt sich uns auf …«.3

2.3.2 Bedingte Subjektivität Ich habe drei Begegnungen skizziert, die sich meiner subjektiven Auswahl verdanken. Aber der Subjektbezug gilt auch in anderer Weise: All diese sinnlichen Wahrnehmungen der Kreuzgestalten in bestimmten Begegnungssituationen haben neben dem Objekt jedoch unabdingbar ein Subjekt als zweites Zentrum zur Voraussetzung. Sie vollziehen sich nämlich immer nur als Wahrnehmungen eines menschlichen Betrachters, der nicht nur aus Auge und Intellekt besteht, sondern der als ein LeibSubjekt anwesend ist.4 Um dieser Annäherung an die Phänomene im Hinblick auf bildhafte Gestalten des Kreuzes nachgehen zu können, bedarf es der Blicke und der Anschauung, und zwar von einem Leib-Subjekt her, mit dessen Augen, Ohren und Tastsinn. Nur so erschließen sich Größenrelationen, Oberflächenbeschaffenheiten und atmosphärische Qualitäten von Gestaltbegegnungen. Entsprechende Forschung bedarf also der reflektierten Einbeziehung des Forschersubjekts. Vom berühmten Grundimpuls des Begründers der Phänomenologie E. Husserls aus: »Zu den Sachen selbst!«, wurde in den Beispielen verfolgt, wie der Gegenstand dem Betrachter unmittelbar in der vorwissenschaftlichen Anschauung der sinnlichen Wahrnehmung gegeben ist. Die geschilderten Wahrnehmungen des Kreuzes in konkreten Gestaltungen stehen aber keineswegs im luftleeren Raum. Es ist weder ein isoliertes noch ein unbedingtes Subjekt, das da einfach die Augen aufmacht, Kreuze betrachtet oder interpretieren würde. Prozesse sinnlicher Wahrnehmungen des Kreuzes von diesem Subjekt her sind (wie alle Wahrnehmungen) nicht unvermittelt. Sie werden begleitet, überlagert, verstärkt oder irritiert auch durch 3

P. Tillich, Das Problem der theologischen Methode (1947), in: ders., Korrelationen. Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken IV, Stuttgart 1975, 20. 4 B. Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt/M. 2000. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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mentale Prozesse, durch Ansichten, Stimmungen, Erinnerungen, Interpretationen sowie frei schwebende Fantasien beeinflusst. Eben deshalb muss die Bedingtheit der subjektiven Wahrnehmungen und Begegnungsweisen methodisch erschlossen werden. Für einen Moment habe ich das Überlieferungswissen suspendiert, das »Wort vom Kreuz«, das persönlich und wissenschaftlich für mich einen eminenten Stellenwert besitzt. Aber es ist evident, dass solche Einklammerung des Vor-Wissens ein künstlicher Akt ist, der immer nur partiell gelingt. Ich hätte mich gewiss nicht so auf die Suche nach Kreuzgestalten gemacht, wenn es nicht Vor-Wissen und Vorprägungen gegeben hätte. Statt falschen Konkurrenzen oder Hierarchien zwischen Wahrnehmen und Verstehen aufzusitzen, dürfte es wohl sachlich angemessener und im konkreten Fall ergiebiger sein, nach der Verschränkung von Phänomenologie und Hermeneutik zu fragen. Man muss also genauer reflektieren, wie weit man kommt, wenn man das Verfahren des Einklammerns allen Wissens anzuwenden versucht, wenn man auf die naive Position zurückkehren will, die alles Wissen, Interpretieren und Urteilen im Sinne der Epoche auszuklammern versucht. Die Empfehlung, alles Wissen und alle Interpretation zugunsten naiven Schauens zu vergessen, kann deshalb immer nur ein approximatives Ideal bilden.

2.3.3 Lebenswelt in der Glaubenswelt Wie verhalten sich die lebensweltlichen Begegnungen zur Glaubenswelt und wie beide zu bewusster Beschäftigung mit Inhalten des christlichen Glaubens, also in unserem Zusammenhang zu theologischen Reflexionen zum Kreuz? Man könnte meinen, eine Antwort läuft auf die Beschreibung unterschiedlicher Regionen, auf ein »draußen« und »drinnen« hinaus. Nach diesem Modell würde ein theologischer Profi bewusst vom alltäglichen Leben in den Bereich der Theologie wechseln, wenn er oder sie einen entsprechenden biblischen Text auslegt oder für eine Gemeindegruppe eine künstlerische Darstellung des Kreuzes vorbereitet. Auch ein nicht berufsmäßig Engagierter würde sozusagen von einem Zimmer des Lebens in ein anderes spazieren. Aus den oben gesammelten Szenen gibt es allerdings Indizien dafür, dass dieses Modell räumlicher Scheidung in der Wirklichkeit nicht oder zumindest nicht immer funktioniert. Die Dinge sind verwickelter, auch im buchstäblichen Sinne. Wir lassen die Lebenswelt in der Glaubenswelt nicht komplett hinter uns, erst recht nicht, wenn wir theologisch reflektieren. Das kann man z. B. an dem Interviewausschnitt sehr gut ablesen. Der Mann erzählt, wie er in einer spezifischen Situation der Trauer den Drang beschreibt: ›Ich muß ein Kreuz auftreiben, ich brauch jetzt ein Kreuz‹, der hat ja gewiss schon vorher und oft im Rahmen seiner Lebensgeschichte etwas vom Kreuz Christi und dessen Trost in der Trauer gehört. Gleichwohl gibt es in der besonderen Situation keinen »planmäßigen« christlichen Impuls, vielmehr »überkommt« es ihn einfach ohne bewusste Lenkung. Und er schildert das wohl ganz angemessen mit dem starken Wort »besessen«. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Verallgemeinert kann man sagen: In der bewussten theologischen Beschäftigung mit dem Kreuz und mit der Kreuzestheologie kann lebensweltliche Begegnung aufgenommen werden. Dieses Innewerden des »Aha«, das nicht planmäßig herbeigeführt werden kann und auch das Entdecken von hoch bedeutsamen Elementen »für mich«. Solche lebensweltlich gebundenen Erfahrungen können gleichwohl hoch produktiv für die theologische Erschließung werden. Für das Verstehen dieses Zusammenhangs ist der Begriff der »gelebten Religion« eingeführt worden. Gelebte Religion als begrifflicher Klärungsversuch der Theologie verhilft dazu, den wesentlichen Inhalt religiöser Traditionen im Sinne des lebendigen Erlebens zur Geltung zu bringen. Sie verweist Menschen in der Kirche darauf, dass die Praxis des Evangeliums letztlich nicht darauf abzielt, dass wir dort unseren theologischen Begriffen begegnen, sondern viel mehr den Erfahrungen des Glaubens, und dass wir angeleitet werden, die Welt im Lichte Gottes neu zu entdecken. Der Rückgang auf die Lebenswelt steht aus theologischer Perspektive im Interesse einer Weltsicht, die bei der Vorgegebenheit der Wirklichkeit einsetzt und die mit der Geheimnisstruktur der Wirklichkeit rechnet; dogmatisch gesprochen mit »Gott als Geheimnis der Welt« (E. Jüngel).5 Die Wege einer solchen lebensweltlichen Annäherung zu Kreuzgestalten für theologisches Verstehen müssen weiter erkundet werden. Denn nur das Kreuz als herausfordernd-heilsame Botschaft »für mich« macht die Pointe theologischer Erschließung des Kreuzes aus. Das erfordert die immer schon im Spiel befindliche vor-theologische und vor-wissenschaftliche Begegnung mit dem Kreuz im Kontext theologischer Interpretation neu zu bestimmen. Das soll in weiteren Kapiteln entfaltet werden.

5 Vgl. dazu A. Dinter/H.-G. Heimbrock/K. Söderblom (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen (UTB), Göttingen 2007, insbes. den Abschnitt 2.2.3 Das theologische Interesse an gelebter Erfahrung. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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3.1 Funktionen bildlicher Gestaltungen Das Kreuz begegnet heute Menschen an unterschiedlichsten Stellen im Alltag, so wurde im vorigen Kapitel näher erläutert. Christen und Christinnen sind mit dem Thema Kreuz aber auch immer mit Texten aus biblischen Passionserzählungen und anderen Abschnitten aus dem Neuen Testament in Berührung gekommen. Die frühen literarischen Gestaltungen des »Wortes vom Kreuz« in den Texten des Neuen Testaments verfolgten die Intention, die zentrale Bedeutung des Kreuzes für den Glauben der Christen zum Ausdruck zu bringen. Gleichwohl bleibt es ein Faktum, dass im Christentum die Geschichte vom Kreuz nicht nur als Worte vom Kreuz weitergegeben wurde, sondern bald nach der konstantinischen Wende, also vom 3. Jahrhundert ab, zusammen mit liturgischen Kreuzfesten Formen und Kreuzigungsdarstellungen kultiviert wurden. Die Ikonografie des gekreuzigten Christus hat eine lange Geschichte, die Typen der Erscheinung des Gekreuzigten wie zwischen Triumphbild und Schmerzenskruzifix sind kunstgeschichtlich wie theologisch bereits genauer erforscht.1 Die reiche kulturgeschichtliche Entwicklung in den verschiedensten Gattungen der Kunst kann und soll hier nicht aufgerollt werden. Auch in einem sehr summarischen ikonografischen Überblick kann man neben unterschiedlichen Medien bildhafter Gestaltungen des Kreuzes unterschiedliche Funktionen solcher Gestalten identifizieren. Einiges kommt im Kapitel »Das Auge sollte ein Lehrer der höheren Wahrheiten werden« zur Sprache. Dem Bild und den visuellen Gestaltungen des Gekreuzigten wurde Macht zugemessen. Neben der politischen Demonstration und Repräsentation des Kreuzes als Siegeszeichen der christlichen Herrscher in der Öffentlichkeit entwickelte sich früh dessen meditativer Gebrauch. Vom frühen Mittelalter an versenkten sich fromme Christen individuell wie auch die zum Gottesdienst versammelten Gemeinden im Medium von Texten und Liedern andächtig in Leiden und Sterben Jesu Christi, um seine Heilsbedeutung eingängig und sinnfällig vor das innere Auge zu führen. Die Gesangbücher christlicher Kirchen sind bis heute voll davon. Klangvoll eindrückliche Kreuzesbetrachtungen des frühen Osterhymnus’ »Christ ist erstanden« wie eines Paul-Gerhardt-Chorals »Oh Haupt voll Blut und Wunden« begeistern noch im 21. Jahrhundert Tausende von Zeitgenossen, auch und gerade solche, die sich nicht mehr als bekennende Christen verstehen. 1

Aus der Fülle der Literatur seien exemplarisch genannt Chr. Rietschel, Sinnzeichen des Glaubens, Kassel 1965; F. Mennekes/ J. Röhrig, Crucifixus. Das Kreuz in der Kunst unserer Zeit, Freiburg u. a. 1994 sowie W. Ziehr, Das Kreuz. Symbol – Gestalt – Bedeutung, Stuttgart/Zürich 1997. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Mit der frommen Andacht und durch sie hindurch übten solche Darstellungen auch eine didaktische Funktion aus. Sie dienten als biblia pauperum, der Verbildlichung der Passionserzählungen im Sinne einer Veranschaulichung der Glaubenszeugnisse für die illiterati. Die reiche Vielfalt der Altarbilder italienischer oder flämischer Meister zeugt bis heute davon. Den Altären und Gnadenbildern kam, modern gesprochen schließlich noch eine weitere Funktion zu, nämlich die kathartische oder therapeutische. Der seit der Säkularisation in einem Museum untergebrachte Isenheimer Altar des Matthias Grünewald mit seiner berühmten Kreuzigungsszene als Mittelbild ist dafür nur ein herausragendes Beispiel unter vielen: Er stand ursprünglich nicht in einer Kirche, sondern in einem Krankenhaus. Der Anblick des Kreuzes sollte den Patienten mit dem Seelenheil zugleich Heilung von ihren körperlichen Leiden bewirken. Dass bildhafte Gestaltungen des Kreuzes in diesem Sinne auch für die durchweg bilderfeindliche reformatorische Theologie von Bedeutung blieben, ist gut belegt. Kein geringer als M. Luther empfahl 1519 einem Rat suchenden Beamten seines Kurfürsten in einem Traktat zur Vorbereitung auf ein seliges Sterben neben dem Empfang der Sakramente vor allem die rechte Betrachtung des Bildes Christi am Kreuz. In Aufnehmen der von Meister Eckhart geläufigen Dialektik von Bild und Ein-Bildung setzte Luther auseinander, wie solcher Bildumgang im Glauben als Einverleibung des Gnadenbildes zum Heil wirke: »Denn Christus ist nichts dann eitel Leben, seine Heiligen tiefer und fester du Dir dieses Bild einbildest und ansiehst, desto mehr fällt das Bild des Todes ab und verschwindet von selbst«2. Auch bei Luther ist das Ineinander von grafischen Bildern, mentalen Bildern und Sprachbildern zur Kreuzigung zu finden. Seine seelsorgerlich-theologische Empfehlung lebte von der anthropologischen Voraussetzung, dass Menschen im Spätmittelalter generell in Bildern lebten, sodass äußere wie innere Bilder mächtigen Einfluss auf sie ausübten; zwischen magisch wirkendem Kultbild und erzählend didaktischem Historienbild. Zeichen und Gestalten des Kreuzes waren und sind also nicht allein Illustrationen christlicher Überlieferungen. Sie sind zumal in der Spätmoderne auch Teil des kulturellen Alltags geworden, nicht mehr nur Besitz des Christentums, nicht nur symbolische Kürzel für die Erzählungen der Leidensgeschichte und Heilsbedeutung Jesu. Worin liegt dann ihr Mehr-Wert, wenn sie nicht mehr selbstverständlich als An-Zeichen zentraler christlicher Traditionsbestände aufgefasst werden? Das führt auf die Thematik der Gestalt.

3.2 Gestalten: Vom Wissen zum Wahrnehmen Für eine gestalt-theologisch orientierte Annäherung an Kreuzesdarstellungen ist die Frage von besonderem Interesse, wie diese Gestalten wahrgenommen und verstanden werden. Ob das Kreuzzeichen irgendeine für den Glauben relevante Per2 M. Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519) WA 2, 689. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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spektive symbolisiert, hängt für eine enge zeichentheoretische Perspektive vor allem von verfügbaren kognitiven Gehalten ab. Das Kreuz als solches gilt hier als beliebiges Zeichen, das auf etwas Externes verweist, dessen Sinn erst durch gesellschaftliche Konventionen bestimmbar wird. Jemand hat das bündig so umschrieben: »Man muß etwas über den Erlöser wissen, um es so zu verstehen. Dieses Wissen hat mit dem visuellen Zeichen jedoch nur mittelbar zu tun. Es gehören bestimmte Konzepte dazu: ein Gottesverständnis, die Vorstellung von der Unschuld des Christus, das Motiv des stellvertretenden Leidens usw. Das Kreuz wird von Christen daher in einer Hinsicht als Icon verwendet, in seinem wesentlichen Bedeutungsaspekt aber wie ein arbiträres Zeichen.«3 Der Fall scheint auf den ersten Blick klar, nicht weiter der Rede wert. Was nicht gelernt worden ist, kann auch im Verstehen der Symbole nicht aktiviert werden. Was ein körperloses Kreuz in der Kirche heute bedeutet, können Kinder (bei entsprechender christlicher Belehrung) beantworten. In einem Interview gab ein 7jähriges Mädchen bündige Auskunft: »In der Kirche, da hängt meistens ein Kreuz. Bei den Evangelischen hängt da kein Jesus dran und bei den Katholischen hängt da ein Jesus dran.« ›Warum?‹ wurde weiter gefragt und prompt kam die kluge Antwort: »Ganz einfach dadurch: Die Katholischen, die haben das noch nicht bedacht, glaub ich, aber die Evangelischen, die machen das, weil Jesus auferstanden ist, zum Zeichen, dass er auferstanden ist. Und wenn jemand auferstanden ist, hängt er ja nicht mehr am Kreuz.«4 In dieser an Katechismuswissen erinnernden Auskunft erschöpft sich der Sinn des Kreuzes in bestimmtem Glaubenswissen. Dabei ist das Kreuz nicht mehr als ein Merkzeichen, seine konkrete Gestalt Nebensache. Wahrnehmung des Kreuzes heute lebt allerdings nicht mehr nur von der RückSicht auf den sagbaren historischen und theologischen Ursprung in Golgatha, wenn solche Wahrnehmungen je nur von solchen narrativen Gehalten bestimmt waren. Und doch bleibt bemerkenswert, dass das Kreuz trotz oder unbeschadet aller Verflachung und Banalisierung seinen Platz in der Kultur und seine Herausforderung zur künstlerischen Gestaltung durchaus behalten hat. Gegen die Relevanz des abfragbaren Kreuz-Wissens spricht nicht allein der in empirischen Untersuchungen belegte Traditionsabbruch, wonach sogar Kinder von Eltern mit kirchlicher Bindung heute zumeist ohne Kenntnisse biblischer Geschichten in die Grundschule kommen.5 Von größerer Irritation bleibt das andere empirische Faktum, dass nämlich allem Traditionsabbruch zum Trotz auch in der weitgehend entchristlichten Spätmoderne Künstler, Museumsbesucher, Kirchenvorstände und sogar Kinder der Gestaltung eben des Kreuzes ohne den Gekreuzigten nach wie 3 M. Zink ›Zeichen‹, in: ders. (Hg.), Kreuz und Quer. A. a. O., 98. 4 Vgl. zum vollständigen Interview des Kindes zur Analyse einer »intuitiven Theorie von Gottesdienst« H.-G. Heimbrock, Gottesdienst: Spielraum des Lebens. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen zum Ritual in praktisch-theologischem Interesse, Kampen/Weinheim 1993, 87 ff. 5 Dieses Problem wird im Kap. »Vorstellungen vom Kreuz bilden« weiter erörtert. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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vor Aufmerksamkeit schenken. Deshalb muss man die Annahme bezweifeln, dass der Blick auf das Zeichen des Kreuzes dem nichts mehr zu sagen habe, dem kein Kontextwissen diesen Anblick informiert, erläutert, be-zeichnet und erleuchtet. Es ist nicht ausgemacht, dass das Kreuz stumm und dumm bleibt, wenn der Zusammenhang des Gottesdienstes fehlt, wenn das erklärende Wort der Predigt vom Kreuz Christi wegfällt, wenn das gesungene Lied den frommen Betrachter nicht mehr dazu auffordert, im Anblick des Kreuzes das innere Bild des Gekreuzigten im Glauben zu verlebendigen. Diesen Gedanken zuspitzend frage ich phänomenologisch und theologisch: Was ist dran am Kreuz als einer eigenen visuellen Gestalt ohne den Illustrationswert biblischer Geschichten der Passion Jesu? Und ich stelle diese Vermutung an auf dem Hintergrund einer nicht nur semiotisch geprägten Erschließung menschlichen Umgangs mit Erscheinungen der Wirklichkeit. Um dieser Annäherung an die Phänomene im Hinblick auf bildhafte Gestalten des Kreuzes nachgehen zu können, bedarf es der Blicke, der Anschauung und der verlangsamten Wahrnehmung. Man kommt hier nicht weiter ohne sich konkrete Kreuze anzusehen, genauer hinzuschauen, Begegnungen zu arrangieren, in denen Betrachter und Betrachterinnen beim Aufnehmen des Gesamteindrucks und der Formdetails verweilen und dem nachspüren, was dies mit den Betrachtenden selbst macht. Ich will deshalb jetzt näher hinsehen und mit den Sinnen an ausgewählten Objekten erschließen, was der Anblick der Kreuzgestalten den Sinnen zu sehen und zu erkennen gibt. Für einen Moment suspendiere ich das Überlieferungswissen, konzentriere mich auf die Gestalt hier und jetzt. Ausgesetzt werden soll die Versuchung, sie in dem Sinne als »Sinn-Bilder« zu lesen, dass ihnen bei der Betrachtung sofort symbolisch-theologischer Hintersinn angeheftet wird. Es lohnt sich, diese Neigung ein wenig zu bremsen. Erst nach solchen verlangsamten Wahrnehmungen nehme ich den Faden der Reflexion wieder auf, frage, was die Gestaltwahrnehmungen zu denken und vielleicht auch zu glauben geben.

3.3 Erste Annäherungen an Objekte Ich habe in den letzten Jahren viele zeitgenössische Darstellungen von Kreuzen gesammelt. Einige davon möchte ich jetzt konkreter betrachten. Ich wähle dabei nicht die kunstgeschichtliche Perspektive, sondern nehme eine phänomenologische Wahrnehmungshaltung und Reflexionsperspektive auf. Zunächst sollen mit verlangsamter Wahrnehmung Gestalt, Materialität und Eindruck ausgewählter Beispiele skizziert werden, die ganz unterschiedliche Formelemente präsentieren. Auch die im ersten Kapitel angesprochene lebensweltliche Situierung wird notiert. In einem anschließenden Reflexionsgang möchte ich von den Gestaltwahrnehmungen einen ersten Brückenschlag zur Kreuzestheologie versuchen. Weitere werden in späteren Kapiteln folgen.

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Erste Annäherungen an Objekte37

3.3.1 Ein Geschenk aus Prag Das erste Kreuz, das ich näher in Augenschein nehmen möchte, bekam ich auf einer Studienreise mit Frankfurter Theologiestudierenden nach Prag. Gemeindemitglieder aus der kleinen evangelischen Diasporagemeinde des Vororts Strasnice hatten uns zu einem gemütlichen Abend in ihr Gemeindehaus eingeladen. Bei Tee und Bier tauschten wir Erfahrungen aus über das Leben in einer protestantischen Gemeinde mit langer Tradition der Unterdrückung und dann unter Bedingungen nach dem Ende des Sozialismus. Vieles, was uns erzählt wurde, kam uns sehr fremd vor. Am Ende des Abends bekamen wir ein kleines Präsent überreicht. Ich öffnete die unscheinbare Pappschachtel und mein Blick fiel auf ein Kreuz aus Metall. Zu vorgerückter Stunde an diesem Abend war leider keine Gelegenheit mehr zu Rückfragen über Künstler bzw. Herkunft. So nahmen wir es als ein Geschenk, das für sich selber sprechen musste. Es hängt seit der Reise in meinem Arbeitszimmer an einem Bücherregal. Gelegentlich schaue ich dorthin, gelegentlich präsentiere ich es bei Vorträgen und Seminaren.

Abbildung 3

Auffallend ist für mich zunächst die spezielle, ungewöhnliche Formgebung dieses Kreuzes. Es ist aus poliertem Edelstahl gefertigt. Und die beiden Balken sind hier, im Unterschied zur üblichen Form des lateinischen Kreuzes, gleich lang, dafür aber von unterschiedlicher Oberfläche beschaffen: Der eine senkrechte Balken glatt poliert, der andere waagerechte aufgeraut und von Linien durchfurcht. Beide Balken weisen an einem Ende eine runde, kopfartige Verdickung auf, in der Mitte des waagerechten Balkens ist eine beckenartige Erweiterung zu sehen. Die senkrecht präsentierte Gestalt lässt am oberen Ende einen Schlitz erkennen, der eine deutliche Aufwärtsrichtung zeigt. Am unteren Ende befindet sich ein fußähnliches Gebilde, so geformt, dass das Kreuz darauf stehen kann. Allerdings springt bei aufmerksamer Wahrnehmung noch ein weiteres Element ins Auge, nämlich die Größe dieses Kreuzes. Es hat Dimensionen zum Anfassen und Hochheben. Es ist so klein und so leicht, dass es auf der ausgestreckten Hand© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Kreuz-Gestalten in Augenschein genommen

fläche Platz hat. Die beiden Holme sind extrem kurz, der senkrechte 11 cm lang, der waagerechte 9 cm. Wenn man will, kann man es sogar bequem in die Tasche stecken. Das heißt, dieses Kreuz macht sich im Verhältnis zu jedem Körper eines erwachsenen Betrachters verschwindend klein. Im Unterschied zu den großen Kruzifix-Darstellungen in Kirchen oder Museen schwebt es nicht mächtig über den Betrachtern, sondern lässt sich hantieren. Was stellt dieses Kreuz dar? Wie ist es zu verstehen? Welcher Sinn ist der Gestalt inhärent? Die Gestalt ist nicht als Abbild des Kreuzes von Golgatha geformt. Was hat die originelle Formgebung mit theologischen Deutungen des Kreuzes Christi zu tun? Vermutlich geht es auch vielen anderen Betrachtern so wie mir: Ich sehe in dieser eigentümlichen Form von Vertikale und Horizontale nicht einfach zwei Balken des Kreuzes, vielmehr zwei Menschen. Zumindest weckt der Querbalken solche Assoziationen. Von daher drängt sich mir auch ein szenisches Verständnis dieses Kreuzes auf. Für mich »erzählt« dieses kleine Stahlkreuz in seiner spezifischen Gestaltung etwas, diese eröffnet neue Aspekte der Passionsgeschichte: In Form gegossen ist das Kreuz als Kreuzung zweier Menschen. Und der eine von beiden schwebt und kann nichts tun, aber er wird gehalten von einem anderen, der aufrecht steht. Diese Gestaltwahrnehmung ist doppelt deutbar. Sie könnte einerseits – im Horizont der Passionsgeschichte – auf den leidenden Christus selbst bezogen werden. Oder aber man versteht die Gestalt als »Weitererzählung« des soteriologischen Aspekts des Kreuzes Christi »für andere«: Jesus hält den leidenden Nächsten, könnte man dann sagen.

3.3.2 Balken aus dem Schwarzwald Im Kirchenraum der Friedenskirchen-Gemeinde Schwalbach im Vordertaunus hängt dieses große Holzkreuz an der Stirnwand im Altarraum. Ich habe in dieser Kirche oft gepredigt und Gottesdienst gefeiert, also bei vielen Gelegenheiten das Kreuz näher betrachten können. Groß und wuchtig ragt es auf. Es springt dem sofort ins Auge, der in den Kirchenraum kommt. Offensichtlich ist: Da hängt kein toter Kruzifixus. Selbstverständlich ist es dennoch, dass es auf das Kreuz von Golgatha verweist. Man hat es immer vor Augen, in jedem Gottesdienst. Dann ist es mittels elektrischer Strahler besser beleuchtet als hier auf dem Foto. Aber dennoch bleibt es im Hintergrund. Nur beim Abendmahl kommen wir ihm näher. Denn da ist es Brauch in dieser Gemeinde, dass sich alle Abendmahlsgäste um den Altar im Kreis aufstellen.

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Abbildung 4

So gab es auch für mich reichlich Gelegenheit, mich diesem Kreuz zu nähern. Dabei habe ich näher hingeschaut, um weitere Besonderheiten an diesem Kreuz auszumachen. Allein zwei schlichte, grob gehobelte Balken sind zu sehen: senkrecht ein langer und quer dazu ein kurzer, beide ineinander verklammert. Nichts Spektakuläres hat dieses Kreuz an sich und doch ist es eine sehr eindrückliche Gestalt. Sie ist einfach gezimmert, vielleicht aus Fichten- oder Tannenholz, ganz ohne Verzierungen, nur braun angestrichen. Wenn ich sehr genau hinsehe, entdecke ich viele dunkle Punkte, die sind nicht aufgemalt sind: Es ist die Struktur des Holzes, zahlreiche Astlöcher. Am Querbalken sind sie besonders deutlich. Spuren davon, dass dieses Holz einmal ein lebendiger Baum war. Und noch etwas fällt mir auf an diesem so einfachen Kreuz: Durch die Länge des senkrechten Balkens zieht sich von oben bis ganz nach unten ein Riss. Die Balken, habe ich mir erzählen lassen, stammen von einem Bauernhof aus dem Schwarzwald. Mit der Zeit ist das feste Holz aufgebrochen, hat Risse bekommen.

3.3.3 Ein Licht-Kreuz Das dritte Objekt in der Reihe der modernen Kreuze habe ich in Norwegen gefunden, im kleinen idyllischen Dorf Lommedalen, 40 km südwestlich von Oslo. Dort war ich von Freunden eingeladen, den Gottesdienst mitzufeiern. Gefangen nahm mich zunächst der Gesamteindruck der Kirche. Auf der weiß gekälkten Stirnseite der Kirche leuchtet es, inmitten von Dutzenden Kristallen, die in die Wand eingelassen sind. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Markant, aber nicht wuchtig, eher zierlich. Das Kirchendach ist als ein riesiges Zelt gestaltet. Die Stirnwand ragt in Anlehnung an die Bauform der Apsis etwas heraus. Das Tageslicht fällt von den beiden schrägen Seiten ein, was den hellen Kontrast zum gedämpften Licht im Raum bewirkt. Vorn, weiter weg, aber gleichwohl unübersehbar, leuchtet ein Kreuz goldfarben auf weißer Wand. Klein und hell wirkt dieses Kreuz. Ein ziemlicher Kontrast zum Holz-Kreuz in Schwalbach (3.3.2). An das Holzkreuz von Golgatha erinnert mich nicht viel. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich dieses Kreuz als Lichtkreuz, das sich einem speziellen architektonischen Kunstgriff verdankt. Erst wenn man ganz nahe an die Wand herantritt, kann man wahrnehmen: Hier hängt gar kein Kreuz auf der Wand, sondern in der hinteren Außenwand ist ein Raum in Gestalt des Kreuzes freigelassen. Die Seiten sind wiederum so mit Glas errichtet, dass das Leuchten zustande kommt. Mit der Foto-Technik könnte man sagen: Es ist eigentlich ein Negativ-Kreuz.

Abbildung 5

3.3.4 Schwebend über den Köpfen Mein viertes Exemplar eines Kreuzes habe ich in einem anderen Ort in Skandinavien gefunden, während einer internationalen Konferenz. Nördlich der alten Bischofsstadt Lund, im Ort Höör, gibt es die ehemalige Klosteranlage Åkersberg, die nun zu einem Tagungshaus umgebaut ist. Am Rande der Tagungsgebäude hat man in der neu erbauten Freiheitskapelle dieses Kreuz angebracht. Es hängt nicht irgendwo hinten © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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an der Wand, sondern mitten im Raum über dem Altar, in einem hellen achteckigen Raum. Und auch das Material ist ungewöhnlich, das Kreuz ist aus Glas gefertigt. Die Grundfarbe ist blau. Aber dieses Blau ist lebendig. Es schimmert in unterschiedlichen Tönen und Nuancen, abhängig vom Stand der Sonne. Bewege ich mich durch den Kirchenraum, z. B. um die beste Fotoperspektive zu finden, so verändert das Kreuz für meine Betrachtung seine Farbe, wird mal tiefblau in vollem Farbton, mal zart und transparent. Auffällig und eigenwillig ist auch die Form: Die beiden Balken sind nicht gleichartig gestaltet. Der Eine ist ein relativ langes, glattes und senkrechtes Element, der Andere ist quer dazu, kurz und eher ein fragmentarisches Stück mit ausgefransten Enden. Auf diesen kurzen Teilen des stilisierten Querbalkens sind rote Hervorhebungen angebracht, welche die Nägel des Kreuzes in stilisierter Form andeuten mögen. Sonst ist die Formsprache dieser Gestalt für mich weit weg vom Galgen von Golgatha. Viele Besucher, mit denen ich mich ausgetauscht habe, assoziierten eine Schwertgestalt. Bemerkenswert ist auch die Aufhängung des Kreuzes: Es schwebt an dünnen, kaum sichtbaren Stahldrähten, was von der Masse des Längsbalkens her so wirkt, als hänge da etwas am sprichwörtlichen »seidenen Faden,« das gleich herunterkäme. Und das Kreuz hängt so hoch, dass man im Sitzen auf den Stühlen den Kopf nach oben heben muss, um es genau wahrzunehmen.

Abbildung 6

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3.3.5 »Kunst in der Apsis« Schließlich als letztes Beispiel in dieser Reihe die Installation in der Ev. Kirche in Meerbusch-Ostherath am Niederrhein. Die Kirchengemeinde hatte sich nach dem Umbau des Kirchenraums mit der Ergänzung des nüchternen Zweckbaus aus den 60er Jahren durch eine Apsis aus Stahl und Glas dazu entschlossen, neben dem bereits permanent vorhandenen zierlichen schmiedeeisernen Kreuz auf dem Altar kein festes großes Kreuz mehr zu erwerben. Vielmehr startete man eine temporäre Ausgestaltung mit unterschiedlichen Kunstobjekten, Installationen und auch Bildern von Kindern. Daraus wurde bis heute eine Serie von wechselnden Präsentationen, sichtbar jeweils nur einige Wochen, orientiert im Zyklus des Kirchenjahres.6 Diese Serie ist thematisch nicht festgelegt auf die Kreuzdarstellung. So gab es neben Bildern zu verschiedenen Themen (Leben; Frieden; Flucht; Sintflut und Arche) u. a. auch Installationen mit Textilien, oder sogar einige mit Brot. Vom Krefelder Künstler W. Schmölders wurde in der Passionszeit des Jahres 2006 die Installation »Perspektiven« aufgenommen. Vier große Spiegelrechtecke sind in den vier Ecken der Stirnwand der Apsis platziert, die den Blick der Betrachter zunächst auf sich ziehen. Der Zwischenraum bleibt weiß. In den Quadraten spiegelt sich der gesamte Kirchenraum in seiner Längsachse, zudem das kleine Kreuz auf dem Altar. Zumindest an die unteren Spiegel kann man herantreten. Erst bei längerer Betrachtung zeigt sich, dass der weiße Zwischenraum die geometrische Gestalt eines Kreuzes bildet. Freilich, dieses ist weiß und inhaltlich unbesetzt. In einem Kommentar bemerkt der Künstler dazu: »Die Spiegel mit ihrer illusionären Raumwirkung sind ein Hinweis darauf, dass der Blick auf Welt und Menschen durch Illusionen geprägt ist. Demgegenüber erscheint das Kreuz als ›der illusionsfreie Raum‹. In abstrakter Form wird damit ein neuer Zugang zum uralten christlichen Symbol des Kreuzes angedeutet unter dem Thema der unverstellten Realität.«7

6 Das Bild ist ennommen aus der Broschüre »Evangelische Kirche in Meerbusch-Ostherath, Kunst in der Apsis« o. J. (Eigenverlag). Den Hinweis auf die Kunst-Aktion verdanke ich Pfr. und Superintendent i. R. Falk Neefken. 7 Kommentar des Künstlers W. Schmölders. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Abbildung 7

Was das Foto als Standbild nicht vermitteln kann: Tritt man als Besucher in den Altarraum, so gerät die Komposition in Bewegung. Denn dann wird man rasch gewahr, dass die Spiegel nicht plan, sondern gewölbt sind. Das reizt zum Wechsel des Standorts. Der Ausstellungskatalog bietet (auch) zu dieser Installation einen Ausschnitt aus einer Predigt. Da heißt es: »Nichts wird aufgedrängt durch die freie Fläche, aber der Fantasie auch keine Grenze gesetzt. Und doch ein Kreuz, in das jeder seine Vorstellung vom Leid in unserer Welt einbringen kann. Die Kreuze, die Menschen einander aufbürden, sind nicht immer zu sehen. Aber wer mit dafür sorgt, dass Gesichter sichtbar werden, der steht den Gesichtslosen schon bei.«8 Soweit konkrete Wahrnehmungen an fünf ausgewählten Exemplaren von zeitgenössischen Kreuzgestalten. Auf welchen anthropologischen Voraussetzungen diese Wahrnehmungen prinzipiell basieren und welche übergreifenden Einsichten sich daraus für die Theologie ergeben, soll nun diskutiert werden.

8 F. Neefken, Predigt zur Eröffnung der Ausstellung »Perspektiven«, Textabschnitt der Broschüre entnommen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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3.4 Zur Phänomenologie und Theologie der Kreuz-Gestalten Man kann nicht leugnen, dass alle Gestaltungen des Kreuzes im weiteren Kontext der christlichen Botschaft und der Passionsgeschichte stehen. Sie alle nehmen das Kreuz von Golgatha auf, direkt mit bestimmten Inhalten und/oder indirekt durch räumliche Situierung in einer christlichen Kirche. Aber in ihrer jeweiligen Gestaltung erzählen sie nicht mehr einfach die Passionsgeschichte nach, wie mittelalterliche Bildkunst dies oft tat. Ihre Bild- und Gestaltqualität hat zuweilen kaum noch Anhalt am Erzählerischen. Und doch sagen sie dem Betrachter, der sich auf sie einlässt, etwas. Ihre Botschaft ist nicht so klar und eindeutig wie die bündige Auskunft des oben zitierten 7jährigen Kindes. Aber sie geben etwas zu erkennen. Das tun sie im Medium sinnlicher Anschauung von Gestalten. Ich möchte im letzten Teil dieses Kapitels diese Wahrnehmungen an Gestaltelementen reflektieren und zugleich theologisch weiterführen. Ich frage: Wie geschieht in den skizzierten Begegnungen mit konkreten Kreuzen Wahrnehmung, wie Sinn-Bildung der Kreuzgestalten?

3.4.1 Gestalt-Wahrnehmung des Kreuzes Wie an den betrachteten Objekten ansatzweise skizziert, geht gestaltbezogene Wahrnehmung der Kreuze nicht auf im Wiederfinden konventionalisierten Wissens über Zeichen aus dem christlichen Zeichenvorrat. Nach der Maxime »Das Ganze ist mehr als seine Teile« drängt sich die Gestaltprägnanz eines Kreuzes als Kreuz jedem Betrachter im unmittelbaren, vorprädikativen Sinneseindruck auf. Deshalb kann man in unmittelbarer Wahrnehmung ein Malteser-Kreuz von einem Pluszeichen unterscheiden. Erst sekundär folgen dem analytisch differenziertere Einzelwahrnehmungen. Solche genaueren Wahrnehmungen beginnen nicht beim »Lesen« abstrakter Sinngehalte hinter dem Zeichen, sondern beim sinnlich Gegebenen in der Gestalt, bei der Größe des Kreuzes, bei den geometrischen Besonderheiten der jeweils gewählten Proportionen von senkrechtem und waagerechtem Balken zueinander usw. Wahrgenommen wird die spezifische Ausdehnung, Kompaktheit und Gewichtigkeit oder auch die Leichtigkeit des Kreuzes. »Ins Auge fallend« und also sinn-fällig werden an der je konkreten Gestalt ferner die spezifische Materialität (Holz, Glas, Metall usw.), die Oberflächenbeschaffenheit und Farbgebung usw. Wahrnehmungen des Kreuzes geschehen auch im buchstäblichen Sinne nie im luftleeren Raum. Sinnlich wahrnehmbar ist mit der Gestalt und ihren Bauelementen zugleich immer auch ein Grund, eine Wand, eine Rahmung oder anderes, von dem sich das Kreuz in mehr oder weniger deutlichem Kontrast abhebt. Jede Kreuzgestalt wirkt so zugleich als Element in einem ästhetisch wirksamen Ensemble, zu dem Licht und Schatten, Tiefe und Weite des Raumes, Nähe oder Ferne wichtige Eindrucksqualitäten vermitteln. Wie Gestalt-Wahrnehmung funktioniert, wird im nächsten Kapitel »Gestalt und Gestalt-Wahrnehmung« theoretisch weiter erschlossen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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All diese sinnlichen Wahrnehmungen der Kreuzgestalten haben neben dem Objekt jedoch zur Voraussetzung unabdingbar auch ein Subjekt der Wahrnehmung. Sie vollziehen sich nämlich immer nur als Wahrnehmungen eines menschlichen Betrachters, der nicht nur aus Auge und Intellekt besteht, sondern der als ein LeibSubjekt anwesend ist.9 Es ist immer ein leibliches »Ich«, dass eine Kreuz-Gestalt mit den genannten und vielen anderen Momenten wahrnimmt, ein Ich, bei dem eine räumlich-voluminöse Wirkung gezeitigt wird. Ich erschließe mir wechselnde Ansichten der Gestalt in der Bewegung, mein Anblick verändert sich mit meiner Position im Raum, mit Sitzen, Knien, Stehen oder Gehen. Ich kann auf das Kreuz blicken, mich von ihm abwenden oder es im Rücken spüren. Wahrnehmung durch ein Leib-Subjekt beinhaltet schließlich mit dem Wahrnehmungsobjekt ›Kreuz‹ auch Selbstwahrnehmung: Ich nehme mich im Gegenüber zum Körper des Kreuzes als ausgedehntes, körperliches Ich wahr. Denn es steht mir vor Augen, es hängt über mir, es erscheint mir im Verhältnis zu meiner Körpergröße bedrohlich größer oder verniedlicht klein, es ist in meinen Augen transparent oder opak. Dem Subjekt vermitteln sich auch Gestimmtheiten der Gestalt mit der atmosphärischen Qualität des Raumes, das Kreuz erscheint mir dann wuchtig, düster, befremdlich oder leicht. All diese Elemente der Wahrnehmung sind nicht ablösbar vom Subjekt in der Kopräsenz leibhaftiger Anwesenheit mit dem gestalthaften Körper eines Kreuzes. Aber es handelt sich stets um Kopräsenz auf Abstand. Kreuze werden mit den Augen abgetastet, aber nicht mit den Händen berührt. Allerdings: Es ist weder ein isoliertes noch ein unbedingtes Subjekt, das da einfach die Augen aufmacht, Kreuze betrachtet oder interpretieren würde. Prozesse sinnlicher Wahrnehmungen des Kreuzes von diesem Subjekt her sind (wie alle Wahrnehmungen) nicht unvermittelt, sie werden begleitet, überlagert, verstärkt oder irritiert auch durch mentale Prozesse, durch Ansichten, Stimmungen, Erinnerungen, Interpretationen, frei schwebende Fantasien. Eben diese Aspekte sind bei näherem Hinsehen ihrerseits nur als Beschreibungen konkreter und bedingter Subjektivität zu verstehen. Es ist evident, dass ich selbst als Autor dieses Textes die angesprochenen Gestaltungen nicht mit naiven Augen wahrgenommen habe, sondern als theologisch interessierter und informierter Betrachter. Ich bringe eine kirchliche Sozialisation von eher reformiert nüchterner Frömmigkeitspraxis im Gottesdienst mit, meine aktuellen Sehprozesse sind biografisch geprägt usw. Wahrnehmungen der Gestalt des Kreuzes geschehen nicht zeitlos, sondern stets in biografischen und in situativen Kontexten, welche Einfluss auf die Voreinstellungen und Erwartungen eines Betrachters haben. Ein touristischer Besuch in fremden Sakralräumen oder ein geplanter Gang in ein Museum erzeugen je einen qualitativ anderen situativen Kontext der Wahrnehmung des gleichen Kreuzes als die Mitfeier im Gottesdienst in einem vertrauten Kirchenraum. Gleichwohl scheint mir gerade diese Prägung der Situation von großer Relevanz für die uns beschäftigende Frage. 9

B. Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt/M. 2000. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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In der Partizipation an einer gewohnten Liturgie in der heimatlichen Kirche laufen in aller Regel keine differenzierten Wahrnehmungsanstrengungen eines Menschen, der das Kreuz fokussiert, ab. Dort vollziehen sich Wahrnehmungen des Kreuzes viel mehr als zufällige, unthematische Wahrnehmungen einer hintergründigen Präsenz. Spätestens diese Einsicht in die Struktur leib-haft ganzheitlicher sinnlicher Wahrnehmung drängt aber angesichts der oben skizzierten Zentralität des Kreuzes für den christlichen Glauben die Rückfrage nach der theologischen Relevanz des phänomenologischen Zugangs zum Kreuz auf.

3.4.2 Ein Gestalt-Dialog An einem exemplarischen Ausschnitt sei der Prozess einer ästhetisch-leibhaftigen Rezeption von Kreuzgestalten genauer nachgegangen. Ich schildere dazu Schritte und Ergebnisse aus einem Seminarprojekt, welches mit Lehramtsstudierenden eines Seminars mit dem Titel »Die Gestalt des Kreuzes« an der Universität Frankfurt durchgeführt wurde. Der künstlerische Bezugspunkt liegt in einer Kreuzskulptur, die von der deutschen Künstlerin Madeleine Dietz 1997 geschaffen wurde. Während des letzten Jahrzehnts hat sie speziell mit Materialen wie Stein und Metall gearbeitet und unter anderem Skulpturen in Kirchenräumen geschaffen. Wenn man aber auch ihre Website heranzieht, wird deutlich, dass sie sich nicht ausdrücklich der Kirchenkunst verschrieben hat. Im Jahre 2007 wurden in einer Ausstellung in der Berliner Galerie Georg Nothelfer einige ihrer neuen Werke gezeigt.10

Abbildung 8

Im Mittelpunkt des Seminars stand dabei eine spezielle Skulptur der Künstlerin in der Ev. Pauluskirche in Kelkheim im Vordertaunus. Für das Seminarvorhaben stand ausdrücklich nicht eine kunstästhetische Erschließung der Intentionen der Künstlerin 10 Zum Werk der Künstlerin vgl. http://www.madeleinedietz.de/Kirchen.htm. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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im Vordergrund, vielmehr ging es um das Phänomen der Kreuzgestalt samt seiner situativen Einbettung in der Rezeption der studentischen Betrachter. So beschränke ich mich für die Beschreibung des Kunstwerkes auf wenige Charakteristika. Kennzeichnend für diese Gestaltung des Kreuzes ist die Kombination der Materialien. Ebenso charakteristisch wie wirkungsvoll für den Betrachter ist die besondere Gestalt, die in komprimierter Form zugleich den Werde-Prozess der künstlerischen Arbeit zeigt. Im Zentrum der rechten Wand hinter dem Altar sieht man ein kompaktes tief-stahlblaues oder graues Stück Metall, ungefähr einen Quadratmeter groß. Wenn man näher herangeht, erkennt man, dass das Objekt nicht eine flache Platte, sondern eher in Form eines Kastens gebildet ist. In der Mitte dieses Kastens ist ein Kreuz sichtbar, das aus Lehm oder Ton besteht. Aus dem Metallkasten ist die Kontur eines griechischen Kreuzes ausgeschnitten und der gesamte Kasten ist mit dem irdenen Material gefüllt. Über die Jahre ist es getrocknet, sodass inzwischen zahlreiche Riefen und Risse sichtbar geworden sind. Abhängig von Beleuchtung bzw. Tageszeit ist die gesamte Stelle relativ dunkel. Das braune Zentrum der Skulptur leuchtet nur dann und erregt die besondere Aufmerksamkeit des Betrachters, wenn man das eigens installierte Spotlight darauf richtet.

Abbildung 9

Mein Interesse im Seminarprojekt richtete sich nun speziell auf die Frage, ob und inwieweit sich für die Betrachter aus der leibhaftigen Begegnung mit diesem Kreuz aus der spezifischen non-verbalen Gestalt Dimensionen theologischer Sinnerschließung ergeben. Können Menschen aus solcher Begegnung mit der künstlerischen Gestalt Orientierung entnehmen, die mit den oben angesprochenen theologischen Gehalten der sprachlich gefassten Kreuzesbotschaft in irgendeinem plausiblen Zusammenhang stehen? Der Versuch will nicht unterstellen, dass Menschen kognitive Gehalte theologischer Informationen, die sie zuvor gedanklich aufgenommen haben, sozusagen aus der Anschauung des Kunstwerkes reproduzieren könnten. Ich frage vielmehr danach, welche Deutungen und welche Erfahrungsqualitäten sich speziell in der © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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intensiveren Begegnung mit nicht-sprachlichen Ausdrucksgestalten ergeben können, unabhängig davon, dass jede Form der sekundären Interpretation immer auch auf die kognitiven Ressourcen eines Subjekts zurückgreift. Die Absicht war wie gesagt nicht, die Entschlüsselung eines künstlerischen Objektes oder gar die Intentionen der Künstlerin, sondern die Exkursion zielte viel mehr auf das Gewahrwerden von Wahrnehmungen als subjektiven Resonanzen auf die unterschiedlichsten visuellen Form- und Gestaltungs-Elemente im Kontext von Licht, Architektur usw. mittels der verschiedenen Kanäle der Sinneswahrnehmung (einschließlich des taktilen Sinnes). Zum Seminarprozess: Nach einleitender Arbeit mit biblischen und dogmatischen Texten, die die Struktur und Substanz der »Theologie des Kreuzes« im oben be­schrie­ benen Sinne konventionell einführte, nahmen wir einen Szenenwechsel vor und machten eine Exkursion zur Kirche in Kelkheim. Die Gruppe verbrachte einen ganzen Vormittag damit, der Skulptur im Kelkheimer Kirchenraum leibhaftig und in aller Ruhe zu begegnen. Ich schlug dazu ein strukturiertes Verfahren vor, welches zunächst eine Orientierung im Raum (ohne Gespräch und ohne Fotografieren!) vorsah. Es ging zunächst um ungerichtete, offene Wahrnehmung, in den weiteren Schritten dann auch um gezielte Erkundungen, um die eigenen Sinne im Blick auf Raumgestaltung, Lichtverhältnisse, Materialkombinationen u. a. zu schärfen. Das geschah zunächst aus der Distanz der hinteren Bankreihen, erst danach forderte ich die Gruppe auf, näher an den Altar heranzutreten, um die Kreuzplatte genauer in Augenschein zu nehmen. Es schlossen sich dann auch Gespräche unter den TeilnehmerInnen an: Was sprang zuerst ins Auge, was faszinierte, was sprach die Sinne an, bewusst oder unbewusst, als wir dieser Kreuzskulptur leibhaftig im Raum als Körper-Geist-Einheiten begegneten? Ich forderte die Studierenden in der zweiten Hälfte des Vormittags dann auch dazu auf, ihre gestaltvermittelten Beobachtungen in Verbindung mit je eigenen speziellen theologischen Perspektiven auf das Kreuz zu bringen. Schlussendlich habe ich die Gruppe zu einigen gelenkten Fantasien angeleitet (in Anlehnung an das in der Gestalttherapie entwickelte Verfahren eines »Gestaltdialogs«11). Für die Studenten, genauso wie für mich, wurde diese morgendliche Sitzung zu einer echten Entdeckungsreise. Nach dem mehrstündigen Besuch und dem gegenseitigen Austausch in der Kirche bat ich die Studenten ihre Wahrnehmungen genau aufzuschreiben und sie theologisch zu kommentieren. Viele von ihnen produzierten sehr kreative Essays. An dieser Stelle kann der komplexe Gesamtprozess der Begegnung nicht referiert werden. Ich möchte aber ein paar herausragende Beispiele für die Reaktionen und Verarbeitungsmöglichkeiten aufzeigen. Dazu greife ich jetzt nur vier kürzere Ausschnitte aus mehrseitigen Kommentaren heraus:

11 Die theoretische Basis dieses Verfahrens wird im nächsten Kapitel erläutert. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Abbildung 10

Linda: »Die Materialien und ihre Anordnung ließen mich an Geschichtlichkeit und (insbesondere bei der Lehmfläche) an Vergänglichkeit denken. Ich musste immer wieder darüber nachdenken, was diese vertrocknete Erde mit dem Evangelium zu tun haben soll. Überhaupt fand ich es sinnfällig, dass diese Gemeinde sich entschlossen hat, anstatt eines Kreuzes das Bild eines Kreuzes zu verwenden. Mir sagt es, dass das Kreuz mit Wahrnehmung zu tun hat. Hier erscheint es als Ausschnitt der Wahrnehmung, als etwas nachträglich Hinzugekommenes. Es wirkt auf mich so, als wollte es ausdrücken: Unsere Ansichten oder Wahrnehmungen von Gott sind nur ein Ausschnitt, ein begrenztes Blickfenster. Das Zeichen des Kreuzes ist erst nachher entstanden. Vorher waren Natur, Leben, Tod. Der Sachverhalt der Kreuzigung Jesu ist zunächst ein geschichtliches Ereignis, das erst im Verlauf der Kirchengeschichte zum zentralen Ereignis (und Symbol) der Christen wurde. Mein Unbehagen angesichts des Kreuzes ließ mich daran denken, dass das Kreuz nicht so ist, wie man es erwartet. Es sprengt die Erwartungen. Weiterhin fiel mir der Löwenzahn ein, der sich durch Risse im Teer seinen Weg bahnt. Vielleicht müssen die Krater nicht unbedingt als Zeichen der Leblosigkeit gesehen werden. Dieser Lehm war immerhin auch mal feucht und beweglich. Zusammenfassend finde ich es schwer dieses Kreuz zu deuten, es gibt (zumindest auf den ersten Blick) keine theologische Aussage her, die mir gefiele. Wäre die Erde feucht und fruchtbar, wäre es mir weitaus leichter gefallen eine theologische Interpretation zu schreiben. Bei dieser ausgetrockneten Masse fragt man sich, inwieweit dieses Kreuz mit Leben und Auferstehung Jesu zu tun hat. Und das fehlt mir am Kelkheimer Kirchenkreuz: Der Aspekt der Auferstehung.« Stefan: »Genau diese Zwiespältigkeit sehe ich im Kreuz. Die zwei Materialien decken die zwei Seiten eines jeden Menschen auf. Wenn aber der Mensch seine ›Lichtseite‹, wie das © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gesamtwerk Kreuz, also die helle warme Erde im Mittelpunkt hat, dann hat er den gerechten und guten Weg gefunden. Die Sünde, also die dunkle Seite, umgibt sie zwar, aber im Mittelpunkt seines Inneren stehen das Licht und die Wärme. Das bildet also nicht nur den Mittelpunkt der paulinischen Theologie oder des Christentums, sondern auch die Mitte des Menschen.« Timo: »Wo das Metall, also der äußere Rahmen, mit der als Kreuz ausgestanzten Mitte stark, mächtig und nur schwer zu zerstören wirkt, so wirkt der innere erdige Teil, vor allem durch seine vielen Risse, sehr verletzlich … Der innere Teil, also das Kreuz, steht für das Irdische, Verletzliche und Vergängliche! Für Mensch und Natur. Besonders die Risse geben mir Grund in eine solche Richtung zu deuten. Sie wirken auf mich wie Wunden und Narben, aber auch wie tiefe Spalten, in die wie immer wieder fallen können und Dürrephasen, denen wir immer wieder gegenüber stehen. Der Rahmen, im Gegensatz, der alles umgibt, steht für das Starke, Schützende und Heilende das uns (er (GOTT)) umgibt! Gerade in dieser Hinsicht hat das zuerst etwas kalt wirkende Metall etwas positives zu bieten. Es heißt nicht umsonst ›kühle deine Wunden‹ (um sie zu heilen). Hinzu kommt, dass das Objekt nicht nur einen Gegensatz widerspiegelt, sondern auch eine Abhängigkeit voneinander. Ohne den Rahmen wäre das Kreuz nicht als solches sichtbar! Auch uns würde es schwer fallen ohne diesen Rahmen, der uns schützt und halt gibt, zu bestehen!« Daniela »Ganz wichtig ist, dass das Kreuz nicht in den Untergrund eingestanzt ist, es besteht aus einem eigenständigen Material, von dem wir nur einen Auszug wahrnehmen. Ich verstehe das so, als sei das Kreuz, was wir hier sehen, nur ein Medium, ein ganz kleiner Ausschnitt von Gottes Liebe, die ja unendlich ist. Aber der dunklen Platte (der Umwelt, also uns Menschen) ist eben nur genau dieser Ausschnitt gegeben, um zu Gott zu gelangen. Wir können Gott/Lehm nur durch das Kreuz fassen und andersrum kann die Lehmplatte uns Menschen auch nur durch die eingesägte Kreuzform der Metallplatte sehen (Gott zu uns).« Diese vier Beispiele von studentischen Kommentaren zeigen Schwierigkeiten des Zugangs, in mancher Hinsicht aber auch sehr produktive Verarbeitungsformen der Begegnungen. Andere Teilnehmer der Exkursion waren weniger kreativ. Auf je unterschiedliche Weise gelingt es den zitierten Studierenden, in ihrer Sprache Sinn in der sinnlichen Wahrnehmung der Gestaltelemente, wie etwa dem Lehm hinter dem ausgesparten Kreuz, zu erschließen. Es wird aus den konkreten Äußerungen und den darauf bezogenen Reflexionen deutlich, dass dabei nicht einfach ins Blaue hinein irgendetwas mit den Gestaltelementen assoziiert wird, sondern dass vielmehr – zumindest in diesen Beispielen – die ästhetischen Elemente auf plausible Weise als sinnhafte Referenzpunkte in Anspruch genommen werden. Andererseits ist an den © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Äußerungen ablesbar, dass die SeminarteilnehmerInnen sich so auf die Begegnung mit dem Kirchenraum eingelassen haben, dass sie nicht einfach theologisches Wissen im Sinne einer lexikalischen Zuordnung von Einzelelementen des Kreuzes zu Einzelaussagen reproduzierten. Besonders bemerkenswert scheint mir dabei, dass es deutliche Korrespondenzen zwischen der von den Betrachtern subjektiv rekonstruierten Formsprache (einschließlich des Aufforderungscharakters in Bezug auf das eigene Selbst) und einigen in der exegetischen Fachliteratur begrifflich gefassten Grundintentionen des »Wortes vom Kreuz« gibt. Der Zugang über eine zunächst sprachfreie ästhetisch wahrnehmbare Gestalt, so kann man sagen, induziert nicht nur das Verstummen und führt nicht zur sprachlosen Faszination und zum Verzicht auf Theo-Logie. Vielmehr ermöglicht hier die Konzentration auf die gestalthafte Wahrnehmung eine intensivierte Begegnung mit dem Kreuz, welche dann zu einem neuen sprachlichen Ausdruck drängt. Ausgedrückt werden aber nicht nur Sinnzuschreibungen zu isolierten ästhetischen Zeichen, sondern Deutungsversuche einer persönlichen Wahrheit des Kreuzes. Erkennbar scheint mir dabei, dass spezifische, durch die Begegnung mit der ästhetischen Wahrnehmung in Gang gebrachte Erlebnisqualitäten freigesetzt werden. In den Wahrnehmungserfahrungen der Studierenden deutet sich – in persönlicher Sprache – etwas von dem grundlegenden Perspektivenwechsel an, der in Korrespondenz zur oben skizzierten theologisch-begrifflichen Rekonstruktion neutestamentlicher Texte gesehen werden kann: Das Kreuz wechselt vom Objekt der Betrachtung zum Subjekt, das eine Aufforderung an den Betrachter richtet, die im Akt der Gestaltwahrnehmung aktiviert wird.

3.4.3 Gestalt und Wort Damit rückt für die Theologie der Weg über die Gestalt das Verhältnis von Wort und Gestalt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der Glaube kommt vom Hören, vom Hören auf das Wort Christi, schärfte der Theologe Paulus ein (Röm 10,17). Was machen solche Kreuze mit dem »Wort vom Kreuz«, wo ihre jeweilige Gestalt doch offenbar vor allem non-verbale Ausdrucksqualität hat? Kann es Sinn machen, neben oder statt einer »fides ex auditu« von einer »fides ex visu« zu sprechen?12 Für eine phänomenologische Annäherung an bildhafte Gestalten des Kreuzes kann der Gedanke des Philosophen H. Blu­men­berg aufgenommen werden, den er in Bezug auf die Musik geäußert hat. In seinem Kommentar zu Bachs Matthäus-Passion verfolgte er die These, dass sich nach dem Verblassen narrativer biblischer Sinnkontexte in nachchristlicher Zeit der Sinn der Passionsgeschichte nicht mehr primär über Texte, 12 Unter dieser Formel thematisiert S. Bergmann, In the Beginning ist the Icon. A Liberative Theology of Images, Visual Arts and Culture, London 2009. den Ansatz einer kontextuellen Bildtheologie und wendet sich dabei ausführlich modernen Kreuzesdarstellungen zu. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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sondern über das Klangerleben der Musik erschließe.13 Von einem solchen »MehrWert« der non-verbalen Ausdrucksmittel gehe ich hier auch für die beschriebenen bildnerischen Gestalten aus. Aus den frühen Erzählungen der Urgemeinde und aus der Christo-Logie, der Rede von Christus, ist hier eine Kette von sichtbaren Phänomenen geworden. Sie geben dem Betrachter nur darin etwas, dass wahrgenommen wird, was sich in ihnen zeigt. Meine These ist, dass sie mit dem, was die Kreuzgestalten heute zu sehen geben, gleichwohl in theologischer Reflexion als Expressionen des Glaubens verstanden werden können, als kreative Beiträge zur Glaubenspraxis. Wenn man in den Reflexionen der Wahrnehmungen dieser Kreuze Theo-Logie entwickeln kann, Christo-logie, dann eben in Gestalt einer Phänomeno-Logie. Mir scheint, dass man gerade in der Moderne und Nachmoderne die ganz besonderen Ausdrucksmöglichkeiten der abstrakten Gestalten entdeckt hat, jenseits des theologisch gelehrten »Wortes vom Kreuz«. Hier spielt gewiss die Emanzipation der modernen Kunst von kirchlicher Bevormundung eine wichtige Rolle. Aber es geht wohl nicht nur um Intentionen der Autoren, sondern auch um Wirkungen bei Rezipienten, wie immer diese kunstästhetisch vorgebildet sein mögen. Welche Elemente des Glaubens wären das, die über Wahrnehmungen der Gestalten präsentiert/ präsent werden? Was steht heute bei den Kreuzen im Zentrum? Die symbolischen Gestaltungen sind nicht eindeutig, wie diskursive theologische Rede. Die Kreuze belehren im Unterschied zu Paulus und seinem Wort vom Kreuz nicht. Denn sie bleiben mehrdeutig. Sie laden zum Betrachten ein, unabhängig davon, welches Bedürfnis jemand nach festen Glaubenssätzen hat oder nicht hat, unabhängig davon, ob man das Kreuz direkt mit der Passionserzählung in Verbindung bringt oder nicht. Selbst dort, wo Künstler als Autoren ihrer Werke ihre Entwürfe komponiert haben, steht es jedem Betrachter und jeder Betrachterin frei, eigene Rezeptionen in Gang zu setzen. Das geschieht aber nicht im grenzenlosen Raum völliger Beliebigkeit. Der sinnlich gegebene Eindruck macht Andeutungen und provoziert Deutungen. Ästhetische Gestalten definieren nicht, Wahrnehmungsprozesse denotieren keine Begriffe. Darin liegen aber Schwäche und zugleich Stärke der gestalthaften nonverbalen Sinnerschließung: Sie umgehen die Eindeutigkeit, geben aber sinnlich begründete deut-liche und deut-bare Hinweise. Aus dem Deutungsbedarf ergibt sich die Einladung an das betrachtende Subjekt zur Freiheit ästhetischer Wahrnehmung. Das Neue Testament enthält Evangelium, gute Botschaft, in vier verschiedenen Passionserzählungen. Im Verhältnis zwischen den Aussagen zu Passion und Auferstehung im Neuen Testament und den betrachteten visuellen Kreuz-Gestalten liegt eine wichtige Entsprechung. Wie dort in den Texten, so ist auch hier in den plastischen Gestalten eine Pluralität der Deutungen anzutreffen, also beide Male ein »Thema mit Variationen«. Die angesprochenen Kreuze nehmen unterschiedliche Aspekte auf, und sie bringen je eigene kreative Momente hinzu. Die Kreuze heute kopieren eben nicht nur Golgatha, sondern »schreiben« die Passionsgeschichte eher konstruktiv fort. 13 H. Blu­men­berg, Matthäuspassion, Frankfurt/M. (1988), 4. Aufl. 1995. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Zur Phänomenologie und Theologie der Kreuz-Gestalten53

Wenn ich die Wahrnehmungen der konkreten Gestaltungen mit einem theologischen Deutungsinteresse zuspitze, dann kann ich – unter dem Vorbehalt meiner Deutungsversuche – bestimmte Akzentuierungen und Konstruktionen identifizieren. Um es an den fünf oben skizzierten Exemplaren zuzuspitzen: –– Das Kreuz aus Prag, so erscheint es mir, holt die Kreuzesbotschaft ins Irdische, Menschliche und lenkt zugleich den Blick nach oben, in die vertikale Achse. Aber es bleibt die offene Frage, wodurch dieses »oben« weiter bestimmt ist. –– Das Holzkreuz aus Schwalbach mit Rissen und Astlöchern steht für mich im Zusammenhang mit dem Leben und seinen Ambivalenzen, kann Impulse geben, vom Kreuz her der eigenen Lebensspur nachzugehen. –– Im Lichtkreuz aus Lommedalen sehe ich den symbolischen Ausdruck einer »negativen Theologie«. Der ausgesparte Raum an der Wand gibt das Kreuz indirekt frei. Diese Gestalt bestimmt Jesus als den Christus nicht in klarer künstlerischer Definition. Das Lichtkreuz, so könnte man sagen, nimmt neben dem christologischen Thema zugleich eine bestimmte Annäherung an das Gottesverständnis auf, das vom Ansatz des Bilderverbots her wahrgenommen werden kann. –– Das Glaskreuz aus Åkersberg, scheint mir als christlich informiertem Betrachter, Zitate an das Kreuz Christi (z. B. die Nägelmale) mit dem Ausdruck des extremen Gegenteils der Passion in der Leichtigkeit des gläsernen Materials zu verbinden. Es vereint in der Kombination von Kreuz und schwertartiger Gestalt die leidende Hingabe mit dem Moment aktiver Aggression. Es verweigert in seiner schillernden Vielfalt die Eindeutigkeit, es lädt die Betrachter zur Veränderung ihrer eigenen Standpunkte ein. –– Die Installation aus Osterath mit der Kombination aus Spiegeln und weißer Fläche drängt keine Aussage auf. Sie gibt dem Betrachter Raum, fragt ihn zunächst einmal, ob er oder sie überhaupt den Blick auf das Kreuz einstellen wollen. In ihrer temporären Begrenztheit thematisiert diese Installation zugleich die zeitliche Begrenztheit unserer Wahrnehmungen des Kreuzes insgesamt. Durch die Botschaft des Heils hindurch nahmen die neutestamentlichen Texte zugleich auch das Anstößige, das Grauenhafte des Galgens auf, an dem Jesus von Nazareth hingerichtet worden ist. In meiner Wahrnehmung der ausgewählten modernen Kreuze, zumal in den künstlerisch ausgestalteten, scheint dieses schwere Element auf den ersten Blick verloren gegangen, das noch in Grünewalds Isenheimer Altar deutlich zu sehen ist. Jedoch: Auch der visuelle Ausdruck der wahrgenommenen heutigen Kreuzgestalten ist nicht mit dem platten Prädikat »schön« zu belegen. Sie sind weit entfernt von der Konfektionsware der Schmuckauslagen im Kaufhaus. Und das nicht nur, weil sie Unikate sind. Denn sie zeigen das Kreuz nicht glatt und eingängig, sondern in eigenwilliger, ungewohnter und irritierender Gestalt, in neuer Perspektive. Damit stellen sie vertraute textgetreue Abbildungen infrage. Sie laden zum Verzicht auf Handeln ein, zur Beschaulichkeit, zur meditativen Haltung. Damit ist theologisch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Kreuz-Gestalten in Augenschein genommen

gesprochen Glaube als ästhetisches Weltverhältnis berührt. (Solche gestalt-theologischen Überlegungen werden im Kapitel »Gestalt-Theologie« und im Schlusskapitel eingehender reflektiert). Der phänomenologische Impuls kann dazu beitragen, in dieser Richtung Theologie als qualifizierte Wahrnehmungslehre weiter zu entfalten.

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Vertiefungen Den ersten Annäherungen an Phänomene folgen im nächsten Teil nun vertiefende Analysen, welche anthropologische, religionshistorische und theologische Zugänge zum Thema im Rückgriff auf theoretische Diskussionen zu entfalten versuchen. Dabei wird zunächst Gestalt auf der Basis psychologischer und philosophischer Theorie als Wahrnehmungs- und Sinnerschließungskonzept entfaltet. Sodann geht ein historisch orientiertes Kapitel der Genealogie des Symbols Kreuz in Christentums- und allgemeiner Religionsgeschichte nach und fragt, wie sich der Zusammenhang von Gestalt und Bedeutung in verschiedenen Schichten bis in die Neuzeit entwickelt hat. Schließlich wird im Blick auf das 20. Jahrhundert untersucht, wie dort der Gestaltbegriff als spezifisch theologischer Begriff von wichtigen Autoren profiliert wurde.

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Gestalt und Gestalt-Wahrnehmung

4.1 Vorbemerkungen In den bisherigen Kapiteln dieses Bandes ist immer wieder von Gestalten des Kreuzes die Rede, die im Hinblick auf theologisches Verstehen bedacht werden sollen. Vom Phänomen der Gestalten soll genauer erkundet werden, wie Wahrnehmung des Kreuzes als Gestaltwahrnehmung zur Sinnbildung einer »Gestalt-Theologie« beitragen kann. Was aber ist eigentlich mit dem Begriff »Gestalt« gemeint? Um welche Phänomene geht es dabei? In diesem Kapitel sollen Grundlagen des Gestalt-Ansatzes in anthropologischer Hinsicht, d. h. vor allem in Bezug auf die von mir benutzte psychologische und philosophische Forschung näher erläutert werden. Mit diesem Instrumentarium ist eine der Voraussetzungen geschaffen, das Kreuz als visuell wahrnehmbare Gestalt näher zu erkunden. Der wahrnehmungspsychologisch orientierte Gestaltansatz wird jetzt ohne Rückbezug auf das Thema Kreuz entwickelt. In der psychologisch bzw. philosophisch orientierten gestalttheoretischen Diskussion ist im Allgemeinen keinerlei Rückbezug auf die Theologie und ihre Thematisierung des Gestalt-Begriffs zu finden. Seine Bedeutung für unser Thema und für theologische Erschließungen wird in späteren Kapiteln ausführlich zur Sprache gebracht. Das bereits im Mittelhochdeutschen bekannte Wort »Gestalt«1 wurde und wird heute in einer breiten Bedeutungsvielfalt benutzt. Es steht für Sachverhalte wie Form oder Beschaffenheit, in zweiter Linie für die Art und Weise, wie etwas aussieht. In der Umgangssprache ist vielfach und in vielen Wortkombinationen von »Gestalt« die Rede, von der Ausgestaltung der neuen Wohnung über die Freizeitgestaltung des Wochenendes bis hin zur Unterrichtsgestaltung und Lebensgestaltung. In all diesen Zusammenhängen wird in aller Regel ein schwacher Gestaltbegriff benutzt. Das Wort ist synonym für Handeln, Machen oder Durchführen. Dem Formaspekt wird dabei keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Davon abheben kann man ›Gestalt‹ im Sinne eines starken Begriffs, der bewusst das Ganze des jeweils in Erscheinung tretenden Phänomens meint. Dieser Begriff von Gestalt ist in verschiedensten Denktraditionen und Theoriezusammenhängen profiliert worden.

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Artikel »Gestalt« in Grimms Wörterbuch Bd. 5, Sp. 4178 bis 4191. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gestalt und Gestalt-Wahrnehmung

4.2 Gestalttheorie: Grundgedanke und »Gesetze« der Gestalt-Wahrnehmung Der Grundgedanke von »Gestalt« geht zurück auf die antike griechische Philosophie. »Das Ganze ist mehr als seine Teile« wusste schon Aristoteles. Lange vor der Herausbildung einer auf Gestalt bezogenen, eigenständigen Wissenschaftsdisziplin hat damit der Empiriker unter den Philosophen der Antike den relevanten Grundsachverhalt aller Gestalttheorie beschrieben, ohne das Wort »Gestalt« zu benutzen: Das sog. Übersummationsprinzip lautet bei Aristoteles explizit so: »Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, daß es ein einheitliches Ganzes bildet, nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile.«2 Der Gestaltansatz findet sich der Sache nach dann in modernen Denk- und Wissenschaftstraditionen. Mit der sachlichen und begrifflichen Klärung von »Gestalt« sind spätestens seit dem 18. Jahrhundert verschiedene Disziplinen befasst. Eine »Morphologie«, Lehre von den Formen (von griechisch μορφή3, Gestalt, Form), findet sich in Sprach- und Kulturwissenschaften, in der Geschichtswissenschaft4, aber auch in der Geologie, der Biologie und der Astronomie. Goethe, der neben seiner Dichtung auch bedeutende Beiträge zur Naturforschung seiner Zeit lieferte, hat in mehreren dieser Felder gearbeitet.5 Zu den in unserem Zusammenhang besonders relevanten Wissenschaften gehören insbesondere die Gestaltpsychologie und die Gestalttheorie.6 In der modernen, wahrnehmungspsychologisch ausgearbeiteten Gestaltpsychologie seit Ende des 19. Jahrhunderts konzentriert man sich auf den empirischen Nachweis von Regelhaftigkeiten menschlicher Wahrnehmung als »Gestalt-Wahrnehmung«. Dass Gestalt-Wahrnehmung als Sehen von Strukturen funktioniert, kann man sich mithilfe eines kleinen Experiments vor Augen führen.

* * * * * * * * * * * * * * * * 2 Aristoteles, Metaphysik 1041 b 10 (VII. Buch). 3 Zum Wortgebrauch in der Antike vgl. den Artikel μορφή in Kittel (Hg.), Wörterbuch zum NT, Bd. V, 750–760. 4 Fr. Karl Schumann, Gestalt und Geschichte, in: ders., Wort und Gestalt. Gesammelte Aufsätze, Witten 1956, 9 ff. 5 J. W. von Goethe, Schriften zur Morphologie I u. II, Gesamtausgabe der Werke und Schriften in zweiundzwanzig Bänden. Stuttgart 1960, Bd. 18 u. 19. 6 Vgl. einführend H. Fitzek/W. Salber. Gestaltpsychologie. Geschichte und Praxis, Darmstadt 1996. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Gestalttheorie59

Diese 16 Sterne können im Sehprozess je nach gewählter Perspektive von einem Betrachter auf sehr unterschiedliche Weise gruppiert werden: man kann seine Augen z. B. einstellen auf diese Formen: a) vier vertikale Linien mit je 4 Punkten, b) ein inneres Quadrat innerhalb des größeren, c) zwei vertikal angeordnete Linienpaare, d) eine Gruppe von drei Linien mit jeweils einer externen Linie (horizontal wie vertikal sichtbar), e) zwei horizontal aufgestellte Rechtecke, f) zwei vertikal übereinander geschichtete Rechtecke, g) ein großes Quadrat, das vier kleine Quadrate enthält, h) 20 Dreiecke unterschiedlicher Größe und Anordnung. Insgesamt können wir so in Sehprozessen an die 60 verschiedenen »Gestalten« konfigurieren.7 Zu betonen ist: man »sieht« nicht einfach immer dasselbe Bild von 16 Punkten und interpretiert es sekundär unterschiedlich. Die verschiedenen Konfigurationen stellen sich vielmehr im Sehprozess ein, und zwar nicht gleichzeitig, sondern alternativ. Wir sind gewohnt, Gestaltwahrnehmung an visuelle Wahrnehmung zu koppeln. Es ist deshalb bemerkenswert, dass die erste Formulierung des wahrnehmungspsychologischen Gestaltansatzes in der Moderne in Bezug auf ein akustisches Phänomen entwickelt wurde. Die Initialzündung zur modernen Gestaltforschung startete der österreichische Philosoph und frühe Vertreter empirischer Psychologe Christian von Ehrenfels (1859–1932). Er beschrieb aufgrund von Gedankenexperimenten das akustische Phänomen, dass der Mensch im Hörvorgang einzeln erklingende Töne wahrnehmen kann, dass aber deren Wahrnehmung als kohärente Melodie ein eigener Akt sei, welcher nicht erst aus der Addition einzelner Tonwahrnehmungen folge. Zur Benennung prägte er dafür den Begriff der »Gestaltqualität«.8 Damit zielte er auf folgenden Sachverhalt: »Dieser unmittelbare Zugang zu komplexen Gebilden wie Raum­- oder Tongebilden bedarf der Einführung einer neuen Kategorie: Der »Gestaltqualität« – als unmittelbaren und selbstständigen Ausdruck eines in sich gegliederten, abgehobenen Prozesses von besonderer Eigenheit (»Gestalt«).«9 Von Ehrenfels zeigte ferner (am Beispiel der Verschiebung einer Melodie in eine andere Tonart), dass solche Ganzheiten transponierbar sind. Diese Entdeckung ist originell, insofern von Ehrenfels als Erster im Unterschied zum üblichen Rekurs der Wahrnehmung auf Einzelelemente die Perspektive einer komplexen Gestalt akzentuiert. 7

Beschrieben bei L. Embree, Gestalt Psychology, in: Ders. u. a. (Ed.), Encyclopedia of Phenomenology, Dordrecht 1997, 278. 8 Chr. von Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten (1890), in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890), 249–292; vgl. ferner ders., Über Gestaltqualitäten (1932), in: F. Weinhandl (Hg.), Gestalthaftes Denken. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie, Darmstadt 1960, 61–63. 9 Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, a. a. O. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gestalt und Gestalt-Wahrnehmung

Von Ehrenfels ging in seinen auf Gedankenexperimente gestützten Überlegungen noch von Gestaltwahrnehmung als einem Bewusstseinsakt aus und sprach von »innerer Wahrnehmung«. Gestalt als Phänomen sinnlicher Wahrnehmung wurde dann in der Folgezeit im Hinblick auf Strukturmerkmale solcher Wahrnehmung näher und empirisch valider erforscht. Insgesamt rückten visuelle Gestalt-Wahrnehmungen mehr und mehr in den Vordergrund der Betrachtung. Die menschliche Sinneswahrnehmung ordnet »Daten« nach bestimmten psychischen Tendenzen an, die man als sog. »Gestaltgesetze«10 näher beschrieben hat. Folgender Kanon von Gesetzen wird immer wieder genannt: Das Prägnanzprinzip Eine wahrgenommene Figur wird immer so einfach wie möglich strukturiert. Man spricht auch von selbstorganisatorischer »Tendenz zur guten Gestalt«. Das Figur-Grund-Verhältnis Eine Figur wird im dynamischen Wechselspiel mit ihrer Umgebung wahrgenommen. Vordergrund und Hintergrund können sich jeweils als besondere Struktur abheben, wie dies das Phänomen der »Kipp-Figuren« illustriert: Dies hat der dänische Forscher Edgar Rubin mit dem berühmten Bild der zwei Gesichter bzw. der zwischen ihnen erscheinenden Vase als Erster beschrieben.11 Das Gesetz der Nähe Dinge, die räumlich nahe beieinander liegen, werden in der Wahrnehmung als zusammengehörig aufgefasst. Bildelemente, die nah beieinander liegen, werden dabei leichter als zusammengehörig wahrgenommen. Das Gesetz der Ähnlichkeit Formen, die sich ähneln, werden von der Wahrnehmung als zusammengehörig aufgefasst. Umgekehrt werden Dinge, die sich in wichtigen Punkten unterscheiden, als voneinander getrennt wahrgenommen. Das Gesetz der Geschlossenheit Erscheinungen mit geschlossenem Umriss oder Elemente, die von einer Linie umfasst sind, werden von unserer Wahrnehmung als zusammengehörig gruppiert. Das menschliche Auge ist sehr schnell bereit, unvollständige Formen zu ergänzen. 10 Vgl. zu frühen Texten etwa W. Metzger, Gesetze des Sehens, 1. Auflage 1936, Magdeburg 2009. Um Missverständnisse zu vermeiden sei darauf hingewiesen, dass die Zusammenstellung der »Gestaltgesetze« keineswegs die Breite und Qualität gestaltpsychologischer Theoriebildung insgesamt abdeckt. Ich folge hier vor allem der Forschung der sog. »Berliner Schule«. 11 E. Rubin, Visuell wahrgenommene Figuren. Studien in psychologischer Analyse, Berlin 1921; das Phänomen ist sprachphilosophisch aufgenommen in Wittgensteins berühmtem »Hasen-Entenkopf«, vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1984, 519. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Gestalttheorie61

Das Gesetz der guten Fortsetzung Formen, die auf einer durchgehenden Linie oder Kurve angeordnet sind, werden von unserer Wahrnehmung gruppiert, also als zusammengehörig aufgefasst. Das Gesetz der gemeinsamen Bewegung Zwei oder mehrere sich gleichzeitig in eine Richtung bewegende Elemente werden als eine Einheit oder Gestalt wahrgenommen. In knappster Form zusammengefasst kann man sagen: Menschen nehmen die Dinge um sie herum entsprechend diesen Tendenzen gestalthaft wahr, bevor sie dies mit Worten beschreiben und benennen. Dabei gilt, dass sich die Gestaltgesetze nicht auf Inhalte des jeweils Wahrgenommenen beziehen, sondern auf Organisationsformen der Wahrnehmungsinhalte, abstrakte Formen, Eigenschaften und Relationen. Sie werden deshalb auch »Gestaltgesetze der Organisation« genannt. Sie beschreiben, wie Menschen die Dinge wahrnehmen, unabhängig davon, ob es sich um Körper, Gemälde, Steine, Noten oder Wortbilder handelt. Die Regeln der Gestaltwahrnehmung sind an visuellen Perzeptionen erforscht worden. Sie treffen allerdings auch etwa für die akustische Wahrnehmung von Sprache, also auch für Hörvorgänge zu, wie dies der Grundthese von Ehrenfels entspricht. Früh standen jedoch mit Einzelstudien zu den sog. »Gestaltgesetzen« zugleich für einige Vertreter, wie den zeitweise in Frankfurt arbeitenden Kreis um M. Werthheimer, W. Köhler und Fr. Koffka, weiterreichende erkenntnistheoretische Fragen bis hin zum Fundierungsproblem von Wissenschaft im Vordergrund. Das kann man an Wertheimers programmatischem Vortrag von 1924 »Über Gestalttheorie«12 sehr deutlich erkennen. Ähnlich wie E. Husserl geht er vom Hiatus zwischen gelebtem Leben und exakter Wissenschaft aus und fragt dann, ob dies nicht Resultat einer bestimmten defizienten Auffassung von Wirklichkeit sei. Die Frage lautet: »Bestimmt sich ein Teil sinnvoll von innen, von seinem Ganzen, von der Struktur des Ganzen her oder geschieht mechanisch, stückhaft, zufällig, blind, das, was im ganzen geschieht auf Grund der summierten Geschehnisse im einzelnen Stück?« 13 Wertheimers Antwort läuft auf die These hinaus: »Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – sich

12 Ich nenne exemplarisch M. Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt I, Prinzipielle Bemerkungen, in: Psychologische Forschung, Bd. 1, 1922, 47–58; Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, in: Psychologische Forschung, Bd. 4, 1923, 301–350; ders., Gestalt Theory, in: Social Research 11 (1944) 78–99. 13 Werthheimer, Über Gestalttheorie (Vortrag 1924), abgedruckt in: Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache 1, 39–60 (1925) Reprint in: GESTALT THEORY, Vol. 7 (1985), No. 2, 99–120, Opladen, Westdeutscher Verlag. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gestalt und Gestalt-Wahrnehmung

das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen.«14 Solche »Ganzbedingungen« macht er keineswegs nur in der Psychologie, sondern auch in Naturwissenschaften wie Physik und Biologie geltend. Im Laufe seiner Arbeit hat er diese Grundthese auch für die Entwicklung und innere Dynamik ethischer Werte fruchtbar zu machen versucht.15 Inwiefern man wirklich von »Gestaltgesetzen« im Sinne naturwissenschaftlicher und kulturell invarianter universaler Regelhaftigkeiten der Wahrnehmung sprechen kann, soll zunächst unberücksichtigt bleiben. Auf dieses Problem komme ich am Ende des Kapitels in der Kritik falscher Ganzheitsideale zurück. Ein Schüler Wertheimers, der Kunsttheoretiker R. Arnheim (1904–2007), der später auch als Film- und Medientheoretiker bedeutende Studien verfasst hat, ist den Gesetzen der Gestaltwahrnehmung auf der Basis empirischer Detailforschung im Schnittfeld von Ästhetik-Theorie und Gestaltpsychologie und unter Einschluss neurologischer Erkenntnisse weiter nachgegangen. In seinem großen Werk »Kunst und Sehen«16 konnte er dazu auch unter Rückgriff auf Beispiele aus der Kunstgeschichte weitere Einsichten formulieren. Auf der Basis einer Differenz zwischen physikalischer Gestalt eines Objektes und der »Wahrnehmungsgestalt« zeigte auch Arnheim, dass Gestaltwahrnehmung als aktives Zugreifen im Sinne des Erfassens des Wesentlichen begriffen werden muss (»Sehen ist Einsehen«17). Die Funktionsweise von Gestalt­ sehen ist dabei nicht nur momentan arrangiert, sondern mitbedingt durch räumliche und zeitlich-biografische Kontexte. Und auch begleitende sprachliche Informationen können in gewissem Maße das Sehen beeinflussen. Ein anderer interessanter Gedanke bei Arnheim richtet sich auf die Unterscheidung zwischen »Teile« und »Stücke«. Einzelheiten einer Gesamtgestalt sind nicht zusammenhanglose Einzelstücke, sondern in der Wahrnehmung als Teile der Ganzheit zugeordnet. Schließlich bestimmt Arnheim die Relation zwischen dem Gestaltbegriff und dem Formbegriff: »Gestalt ist ein Begriff mit doppelter Bedeutung: zum einen, weil wir jede Gestalt als Gestalttyp sehen …, zum anderen, weil jeder Gestalttyp als die Form ganzer Objekttypen gesehen wird.«18

14 Ebd. 15 M. Wertheimer, Zur Gestaltpsychologie menschlicher Werte, Opladen 1991, wo Aufsätze zur Ethik und Politik aus den Jahren 1934–1940 zusammengestellt sind. 16 R. Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, ³2000, Berlin (Art and Visual Perception. A Psychology of the Creative Eye.Berkeley and Los Angeles 1936). Arnheims Dissertation bei Wertheimer trug den Titel: Experimentell-psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem. (Phil. Diss. Berlin: Humboldt-Universität 1928), in: Psychologische Forschung. Zeitschrift für Psychologie und ihre Grenzwissenschaften (Berlin), Bd. 11, 1928, S. 2–132. 17 Arnheim, Kunst und Sehen a. a. O. 50 18 Arnheim, a. a. O. 93. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Feldtheorie63

4.3 Feldtheorie Der gestaltpsychologisch ausgearbeitete Figur-Grund-Zusammenhang steht historisch im Kontext angrenzender Forschung zum Feld-Gedanken. Schon Wertheimer sprach von »Wahrnehmungsfeldern«. Auf Arbeiten von Wertheimer aufbauend hat vor allem K. Lewin (1890–1947) eine sozialpsychologische Feld-Theorie ausgearbeitet, die neben willenspsychologischen Fragen zum zentralen Inhalt die Einsicht hat, dass menschliches Verhalten generell im Gesamtzusammenhang von »Handlungsganzheiten« analysiert werden muss.19 Nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch Handlungen drängen auf Gestalt hin. Es ist verfehlt, eine komplexe Handlung wie das Schreiben bereits auf der motorischen Ebene in Einzelbestandteile zerlegen zu wollen. Zu berücksichtigen ist vielmehr »die Struktur des gesamten psychischen Feldes: Denn auch abgesehen von dem rein Motorischen ist z. B. die Handlung des Schreibens etwas psychisch grundlegend Verschiedenes je nachdem, ob man einen Satz in Schönschrift abschreibt, oder eine briefliche Mitteilung abfasst«.20 Bei Lewin führt die Entwicklung der Gestaltpsychologie schließlich in eine »Psycho-Morphologie von Handlunsganzheiten«21, indem nicht die kausale Perspektive der Ursachenforschung verfolgt wird, sondern diejenige der Aufhellung ihrer Entwicklungsbedingungen. Leitend ist die Bemühung, gegen eine Elementenforschung (von Lewin »mikroskopische Betrachtung« genannt) relevante Zusammenhänge über Sinne übersummativer Ganzheit zu beschreiben, (in seiner Diktion die »makroskopische Sicht«). »Das Ganze ist nicht mit dem phänomenalen Ins­gesamt aller Erscheinungen gleichzusetzen, es muß vielmehr von Fall zu Fall gefunden und herausgearbeitet werden und kann von mehr oder weniger deutlich abgehobener Gestalt sein (»starke« oder »schwache« Gestalten).«22 Lewin verfolgte in seinen Beiträgen zur Feldtheorie einerseits eine topologische und holistische Perspektive, um schließlich zu so etwas wie einer »Ökologischen Psychologie« zu gelangen, in der die Gesamtheit der Mensch-Umwelt-Beziehungen im Vordergrund steht.23 Andererseits wird in seiner Beschreibung der Handlungsfelder als Handlungsganzheiten der eher statische Ansatz früher Gestaltpsychologie zugunsten eines zeitlich strukturierten Handlungsgeschehens als psychische Ganzheit weiterentwickelt.

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K. Lewin, Vorsatz, Wille und Bedürfnis, Berlin 1926. Ebd. 14 Fitzek/Salber, a. a. O. 103. K. Lewin, Vorsatz, Wille und Bedürfnis, a. a. O. 12. Vgl. dazu K. Lewin, Kriegslandschaft (1917), in: C. F. Graumann Werkausgabe Bd. 4. Stuttgart 1982, 315–326. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gestalt und Gestalt-Wahrnehmung

4.4 Rezeptionen der Gestalttheorie Die Hinwendung zum Gestaltgedanken der angesprochenen gestaltpsychologischen und feldtheoretischen Forschung steht wissenschaftsgeschichtlich und kulturell in weiteren Kontexten. Grundeinsichten der Gestaltpsychologie wurden in zahlreichen anderen Wissenschaften aufgenommen. Diese können hier nur systematisiert und skizzenartig zur Sprache kommen.24 Die für unseren Zusammenhang bedeutsamste Rezeption hat die phänomenologische Philosophie erbracht.

4.4.1 Phänomenologie: Wahrnehmung und Strukturbildung Der Gestaltgedanke und auch theoretische Fundierung wahrnehmungspsychologischer Befunde spielten bereits in den 30er Jahren, also in der ersten Schülergeneration nach E. Husserls eine große Rolle. Der damals noch völlig unbekannte französische Gymnasiallehrer aus der Provinz M. Merleau-Ponty (1908–1961) formulierte 1934 in seiner allerersten Programmschrift »Die Natur der Wahrnehmung«: »Für die Gestaltpsychologie hebt sich ein Gegenstand nicht durch seine ›Bedeutung‹ (meaning) ab, sondern weil er in unserer Wahrnehmung eine besondere Struktur besitzt: die Struktur der ›Figur auf einem Grund‹«.25 Damit wurde ein neues Kapitel Gestalttheorie aufgeschlagen, das eher naturalistische Tendenzen mancher frühen Wahrnehmungspsychologen hinter sich ließ. Merleau-Ponty hat sich in aller Anknüpfung an Gestaltpsychologie mit dem Ansatz einer Intentionalität leibgebundener Wahrnehmung gegen deren in seinen Augen naturalistische und physikalistische Tendenzen gewehrt. Man könnte sagen, er versuchte, »die gestalttheoretische For­schungspraxis von ihren realistischen und physikalistischen Vorurteilen zu befreien und ihr auf diese Weise eine implizite Phänomenologie zu entlocken«.26 Dabei sind folgende Einsichten maßgeblich: Spezifisch menschliche Wahrnehmung findet nicht auf kausal-mechanistische Weise statt, auch nicht abstrakt oder intellektualistisch, sondern vielmehr in steter 24 Nur am Rande verwiesen sei auf die eigenständige und isoliert gebliebene medizinisch-philosophische Theorie des »Gestaltkreises«, die auf V. von Weizsäcker (1886–1957) zurückgeht, vgl. ders., Der Gestaltkreis 1940. Auch von Weizsäcker kritisierte eine sich immer stärker von Lebensprozessen entfernenden »exakte« Wissenschaft. Die Erforschung der Lebensphänomene orientierte er neu am Leitsatz »Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen«. Gleichwohl hat von Weizsäcker den ganzheitlichen Ansatz der Gestaltpsychologie gerade kritisiert. Mit »Gestaltkreis« ist im Gegenzug bei von Weizsäcker auf erkenntnistheoretischer wie physiologischer wie psychologischer Ebene stattdessen die Notwendigkeit zirkulärer Betrachtung im Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Bewegung des Subjekts gemeint. 25 M. Merleau-Ponty, Die Natur der Wahrnehmung (1934), in:, ders., Das Primat der Wahrnehmung, Frankfurt/M. 2003, 18. 26 B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie, München 1992, 85. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Rezeptionen der Gestalttheorie65

Relation zu einem endlichen Leib-Subjekt der Wahrnehmung.27 Die alltägliche Begegnung mit der Realität beinhaltet eine Ebene der prä-konzeptuell in der Leiblichkeit grundierten Erfahrung, die darauf angelegt ist, das Etwas des Wahrnehmungsgesamtes »als« ein Etwas wahrzunehmen. Durch den eigenen Körper versteht man dieses Andere und wird sich der Dinge bewusst. Wahrnehmungen von Gestalten vollziehen sich immer nur als Wahrnehmungen aus der Perspektive eines menschlichen Betrachters, welcher seinerseits nicht nur aus Auge und Intellekt besteht, sondern der als ein Leib-Subjekt in einer spezifischen räumlichen Situation »situiert« ist und die Welt auf dieser Basis intentional wahrnimmt.28 In diesem Sinne ist es generell problematisch, die cartesianische Terminologie von Subjekt und Objekt überhaupt noch anzuwenden. Denn es gilt: »In der Wahrnehmung realisiert sich ein Subjekt-Objekt-Verhältnis, besser ist zu reden von einem Verhältnis des Wahrnehmenden und des Erscheinenden, in dem sich Ich und Welt gegenseitig bedingen. Als aufmerksames wählt das Bewusstsein aus, als motiviertes wird es vom Phänomen erregt, als responsives antwortet es auf das, was sich zeigt.«29 Genetisch steht am Beginn nicht die analytisch geleitete Einzelwahrnehmung, sondern die strukturierter Ganzheiten. B. Waldenfels hat diesen phänomenologischen Zugang zu Wahrnehmung als Organisationsformen im Sinne wahrnehmungsursprünglicher Gestaltbildung näher beschrieben.30 Damit hebt sich der phänomenologische Ansatz der Gestaltwahrnehmung von interpretationistischen Ansätzen ab. Mit dem Gestaltansatz, wie ihn Merleau-Ponty über die Wahrnehmungsanalyse zu erschließen versuchte, ist die Frage nach der Sinnerschließung von Gestalt neu gestellt. Sinnkonstitution wird hier nicht über einen bewusstseinstheoretischen oder interpretationistischen Zugang zum Phänomen der Gestalt avisiert, sondern über Wahrnehmung der Gestalt als Struktur. Dieser strukturbestimmte Zugang wurde von Merleau-Ponty insbesondere in der Studie »Die Struktur des Verhaltens« weiter ausgearbeitet.31 Und sie blieb für den phänomenologischen Gestaltbegriff maßgeblich.32 27 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin 1966. 28 B. Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt/M. 2000. 29 E. Schürmann, So ist es, wie es uns erscheint, in: M. Hauskeller (Hg.), Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, 2003, 354. 30 B. Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt/M. 2000, 62 ff. 31 M. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens (1949), Berlin 1976. 32 Differenzierter beschreibt Merleau-Ponty das so: »Die … von uns vorgenommene Unterscheidung Struktur und Bedeutung … klärt sich nunmehr auf: der Unterschied zwischen der Gestalt des Kreises und der Bedeutung Kreis beruht darin, dass diese erkannt wird von einem Verstande, der sie erzeugt als den Ort von einem Zentrum gleichentfernter Punkte, jene aber von einem mit seiner Welt vertrauten Subjekt, das befähigt ist, die Gestalt als eine Modulation dieser Welt, als kreishafte Physiognomie zu erfassen. Auf keine andere Weise vermögen wir zu wissen, was ein Bild oder was © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Phänomenologische Analyse der Wahrnehmung macht darauf aufmerksam, wie Wahrnehmen und Verstehen miteinander verschränkt sind, wie also der Wahrnehmungsprozess im Sinne der Gestaltwahrnehmung als Schritt der Sinnexplikation zu begreifen ist. Und darin (und nur darin) gibt es eine Parallele zu L. Wittgensteins Sprachphilosophie, wenn es dort entsprechend von aspekthaftem Sehen heißt »Und darum erscheint das Aufleuchten des Aspektes halb Sehereignis, halb ein Denken.«33 Eine notwendige Bedingung für Sinnverstehen ästhetischer Phänomene ist es zwar, dass Menschen über bestimmte narrative und begriffliche Wissenselemente verfügen, ferner, dass sie Bedeutungsübertragungen zwischen sprachlich-begrifflichen und visuell-symbolischen Gestaltwahrnehmungen vollziehen können. Stets ist aber ein Zirkel von ästhetischen Gestaltwahrnehmungen und der Aktivierung kognitiver Wissens-Inhalte und der Kombination dieser beiden durch Metaphernbildungen (sprachlich und visuell) anzunehmen. Damit kann die im Verstehensprozess stattfindende Verschränkung von Wissen mit vorsprachlichen und prä-reflexiven Elementen angemessener beschrieben werden. Sicher gilt, dass dabei alle Emotionalität, alles Verlangen und alles Wahrnehmungsgeschehen des Menschen als ein Leibsubjekt auch durch biologische und durch soziale Bedingungen vermittelt und begrenzt sind. Die phänomenologische Perspektive rückt jedoch die fundierende Schicht des Sinnerlebens in den Fokus der Reflexion, hinter welche nicht zurückzugehen ist. Der Prozess der Sinneswahrnehmung wird dann nicht allein als biologisch oder soziologisch konditioniert gedacht, auch nicht nur als sensualistisches »Daten-Sammeln« vor einer Interpretation, sondern in seiner Bedeutung als ein aktiv-reaktives Zusammenspiel menschlicher Subjekte mit der gegebenen Realität transparent gemacht.

4.4.2 Gestalt-Therapie Zur weiten Verbreitung des Gestaltgedankens und zu dessen Popularisierung hat in Deutschland und weit darüber hinaus maßgeblich die »Gestalt-Therapie« beigetragen. Gestalttherapie ist ein Sammelname für therapeutische Bewegungen, die bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzte und sich neben Aspekten von Freuds Psychoanalyse auf eine ganze Reihe der Elemente von Gestalttheorie bezog.34 Der ein Ding ist, als indem wir sie ansehen, und ihre Bedeutung enthüllt sich uns nur, wenn wir sie von einem bestimmten Gesichtspunkt aus, aus einem gewissen Abstand und in einem gewissen Sinn ansehen, kurz, wenn wir unser Einvernehmen überhaupt in den Dienst dieses Schauspiels stellen.« In: M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 488; vgl. zum ganzen die sehr differenzierte Analyse bei L. Embree, Merleau-Ponty’s Examination of Gestalt Psychology, in: Research in Phenomenology 10 (1980), 89–121. 33 Wittgenstein a. a. O. 525. 34 Allerdings haben einige Vertreter der Gestalttheorie jede Verwandtschaft zwischen ihrem Ansatz und der Gestalt-Therapie vehement bestritten, vgl. dazu G. Sternberger, Zur Kritik einiger theoretischer Annahmen und Konstrukte in der Gestalt-Therapie, in: Gestalt Theory Vol 20 1998, 283 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gestaltansatz wurde hier von den frühen Schöpfern der Therapie Fritz Perls (1893– 1970) und seiner Frau Lore Perls (1905–1990)35 im Kern als ein Lern- und Lebenskonzept auf der Basis einer erweiterten Anthropologie und Epistemologie aufgefasst.36 Nach der erzwungenen Emigration in die USA hat er diesen dann später z. T. auch mit Ansätzen der Humanistischen Psychologie verwoben. In den USA wird der Terminus »Gestalt« seitdem durchweg vorzugsweise für therapeutische Diskurse benutzt. Im Folgenden gebe ich einen gerafften Überblick und folge dabei bewusst nicht immer der gestalttherapeutischen Insider-Sprache. Aufgenommen und ausgeweitet wurden bereits früh einige Grundeinsichten wie das Figur-Grund-Verhältnis, die Annahme einer Tendenz zum Schließen von Gestalten und u. a. der Gedanke eines Wahrnehmungs- und Handlungs-Feldes. Die in therapeutischen Prozessen relevanten »Gestalten« sind hier jedoch nicht nur Wahrnehmungsgestalten von Sehprozessen, sondern eher existenzielle Erfahrungskonfigurationen, die ein Mensch im Laufe seiner Biografie erworben hat, oder besser, die sich in Erfahrungsprozessen in ihm abgelagert haben. Und als »Feld«, in dem sich Gestalt bildet, wird entsprechend nicht nur als Wahrnehmungsfeld, sondern auch als soziokultureller, biologischer und physischer Kontext des Individuums verstanden. Aufgenommen wird ferner das Interesse an nicht-atomisierendem Denken aller Gestalttheorie, die Gestalttherapie wendet es jetzt auf das Durcharbeiten biografischer Erinnerungs- und Wachstumsarbeit an. »Gestalt« wird in der Gestalttherapie nicht nur als Bewusstseinsphänomen angenommen, sondern hat mit organischen Bedürfnissen zu tun. Perls war in der Frankfurter Zeit mit dem Neurologen K. Goldstein (1887–1965) in Arbeitskontakt gekommen und hat dessen organologisches Denken aufgenommen.37 Wie bei Goldstein zielt dies aber nicht auf ungebremsten Holismus: »Gestalt ist nicht das Ganze. Gestalt ist das, was sich jetzt aus einem diffusen System herauspräzisiert, was gerade jetzt wichtig ist, bevor anderes wichtig werden kann, woran ich nicht vorbeikomme …«38 Die oben skizzierten sog. »Gestaltgesetze« werden in der Beratung auf die Arbeit an Lebenskonzepten bezogen. Das geschieht mit Erinnerungs- und Imaginationsübungen in Einzel- und Gruppenarbeit, in »Gestalt-Dialogen« und Arbeit auf dem »heißen Stuhl«, um so im therapeutischen Prozess bzw. in der Lebensberatung ungeklärte Reste der Biografie, subjektiv bedeutsame »unerledigte« Erfahrungskonstellationen, genannt ›offene Gestalten‹, so zu bearbeiten, dass sie emotional besser akzeptiert werden können, dass sich »Gestalten schließen können«. Aus ›schwachen‹ Gestalten sollen dabei ›starke‹ Gestalten gebildet werden, indem das Individuum im aktuellen Erleben blockierende Erfahrungsmuster der Vergangenheit aufspürt, im Jetzt vergegenwärtigt und auf einer höheren Ebene in die Person zu integrieren lernt. »Von 35 Vgl. F. Perls, Die Grundlagen der Gestalttherapie, München 1978. 36 R. Bick, »Ich singe den Rum der Gestalt« Neue Gestaltarbeit, Bergisch-Gladbach 2011. 37 Vgl. Dazu B. Bocian, Der Gestaltgedanke. Fritz Perls in Frankfurt am Main, in: Gestalt-Kritik, Heft 1/2007. 38 Perls, zit. nach Bick, a. a. O. 123. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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höchster Bedeutung ist hier, dass die Vollendung einer starken Gestalt selbst die Heilung ist …«39 Der Beratungsprozess mit dem Ziel von Gestaltbildungen wird als Integrationsprozess verstanden, weshalb die Weiterentwicklung der frühen Gestalttherapie durch H. Petzold (geb. 1944) dann als »Integrative Therapie« bezeichnet wird.40 Auch dabei ist der Ganzheitsimpuls der frühen Gestalttheorie aufgenommen. Denn Integration bedeutet für Petzold »das Zusammenfassen unterschiedlicher oder auch gegensätzlicher Elemente zu einem übergeordneten Ganzen …«.41 Dem erlebnisorientierten Verständnis von Gestalt entsprechen Instrumente der Gestaltberatung: Wahrnehmung mit allen Sinnen, Achtsamkeit auf unterschiedliche Äußerungsebene für »offene Gestalten«, für Gestik, Körpersprache, Atem usw. Die Therapie verfährt nicht als rein verbale Klärung kognitiver Probleminhalte, sondern stark auch über Vergegenwärtigung von Affekten in der Beziehungsdynamik unter Einbeziehung von Metaphern, Symbolen, Sprachbildern und auch symbolischen Handlungen. Von der Eigenart dieser Bemühungen her geht es in der Gestalttherapie explizit insgesamt weniger um Beiträge zur Begriffsklärung von »Gestalt«. In vielen Texten, insbesondere bei Perls, wird der Begriff in mehrdeutiger, schillernder und metaphorischer Weise gebraucht. Das hängt damit zusammen, dass diese Texte eher auf Anleitung zu therapeutischem Wahrnehmen und Handeln abzielen als auf konzeptuelle Eindeutigkeit wissenschaftlich diskursiver Sprache. Sie wollen Impulse zum Fruchtbarmachen in »Gestaltarbeit«, in therapeutischen bzw. pädagogischen oder auch seelsorgerlichen Settings geben. Indirekt hat aber die Beschreibung gestalttherapeutischer Verfahren weitere wichtige Beiträge zur hermeneutischen Erschließung von Gestaltphänomenen beigebracht. Gestalttherapie impliziert und aktiviert in Beratungsprozessen ein prozessual-biografisches Verständnis von Gestalt im Sinne personal wichtiger Erlebniskonstellation bzw. Strukturierungsmuster prägender Erfahrungskonstellationen im Zusammenhang bewusster und vor allem affektiv-unbewusster Erfahrungsfelder. Der gestalttherapeutische Ansatz betont ferner (in Anlehnung an leibphänomenologische Ansätze) Sinnverstehen von Gestalt als Lebensmuster auch im Kontext leiblich-organischer Prozesse. Unübersehbar ist allerdings auch, dass in gestalttherapeutischen Texten der Gestaltbegriff als Zielbegriff normativ überhöht ausfällt. Das teilt dieser Ansatz 39 F. Perls/R. Hefferline/P. Goodman, Gestalttherapie. Grundlagen (1951), deutsch Stuttgart 1991,14. 40 Vgl. dazu H. Petzold/J. Sieper (Hg.), Integration und Kreation. Modelle und Konzepte der Inte­ grativen Therapie, Agogik und Arbeit mit kreativen Medien, 2 Bde, Paderborn 1993. Das bei aller sachlichen Übereinstimmung durchaus spannungsgeladene Verhältnis dieser beiden Therapieformen kann hier nur notiert werden. 41 H. Petzold, Leben als Integrationsprozeß und die Grenzen des Integrierens, in: ders./J. Sieper (Hg.), Integration und Kreation. Modelle und Konzepte der Integrativen Therapie, Agogik und Arbeit mit kreativen Medien, Paderborn 1993, 385. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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mit einer Grundtendenz der Humanistischen Psychologie. Perls selbst hat Gestalt im Verlauf seiner wechselvollen Biografie schließlich als ein »Lebenskonzept« verstanden. So gründete er folgerichtig einen »Gestalt-Kibbuz«, um einen Ort zu schaffen, wo man ›Gestalt‹ als alternative Lebensform verwirklichen sollte. Solche normativen Implikationen im Gestalt-Denken treten noch stärker in der Dritten hier zu skizzierenden Gestalttheorie zutage.

4.4.3 Gestalt-Pädagogik In der Praktischen Theologie beider christlicher Konfessionen ist neben der Gestalt-Therapie vor allem die »Gestalt-Pädagogik« als Bezugspunkt zur Übernahme des Gestaltbegriffs aufgetreten. Auch »Gestalt-Pädagogik« ist eher ein Sammelname für unterschiedliche Ansätze, denn ein klar umrissenes und in sich geschlossenes Konzept. Wie in Spielarten der Gestalttherapie geht es auch hier um biografisch orientierte Lern- und Entwicklungsprozesse der Person. Überblicksartig kann man sagen: »Gestaltpädagogik ist ein Sammelbegriff für verschiedene (päd-)agogische Richtungen, die sich auf Gestalttheorie, Gestalt­psychologie und Gestalttherapie beziehen.«42 Als eigenständige pädagogische Konzeption insbesondere der Erwachsenenbildung wurde in den USA seit den 1970er Jahren die »confluenteducation«43 bzw. später in Europa die »integrative (Päd-)Agogik«44 entwickelt. Dabei wird der Aspekt der Lebenshaltung vor jedem sachbezogenen Lerninhalt im Sinne der Humanistischen Psychologie und des »human potential movement« stark in den Vordergrund gerückt. Wie in der Gestalt-Therapie, so scheint mir auch in den Konzepten der GestaltPädagogik weniger Interesse an eigenständiger Weiterentwicklung eines Gestalt-Begriffs zu bestehen. Immer wieder betont wird dagegen die Bildungsintention solcher Konzepte. Gewissermaßen als Markenzeichen gilt hier der Anspruch auf Förderung eines »ganzheitlichen Lernens«. Entsprechend sind diese Ansätze weniger für Innovation von unterrichtsbezogener Methodik schulischer Lernvollzüge herangezogenen worden, sondern eher für Verfahren der Lehrerbildung, der personalen Begleitung und der Persönlichkeitsentwicklung. Weiter wird die Reichweite der Gestaltpädagogik zuweilen von Theologen bestimmt, die solche Konzepte in Didaktik, Lehrerfortbildung wie Kursen zur spirituellen Entwicklung einsetzen. Beim katholischen Scharrer heißt das gar: »Sie sprengt den Rahmen eines didaktischen Konzeptes und ist am treffendsten als philosophisch-pädagogische Anthropologie zu bezeichnen.«45 42 M. Scharrer, Gestalt-Pädagogik, in: G. Adam/R. Lachmann (Hg.), Methodisches Kompendium der Religionspädagogik 2, Göttingen 2010. 43 G. Brown (Ed.), The Live Classroom, New York 1975. 44 J. Sieper/H. Petzold, Integrative Agogik – ein kreativer Weg des Lehrens und Lernens, in: dies. (Hg.), Integration und Kreation a. a. O. 359–370. 45 Scharrer, a. a. O. 100. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Verbunden mit einer nicht-dualistischen Anthropologie steht also eine holistische Menschen- und Weltsicht. Aus dem Aristotelischen erkenntnistheoretisch und ontologisch gemeinten »Mehr« des Ganzen gegenüber seinen Bestandteilen wird also ein »Besser« des Ganzheitlichen abgeleitet. Damit hat das Gestaltdenken aber eine Wendung genommen, die hinsichtlich impliziter wie expliziter religiös-weltanschaulicher Ansprüche kritisch befragt werden muss.

4.5 Gestalt und Ganzheit – kritische Rückfragen und Zwischenbilanz Bei der überblickshaften Darstellung gestalthafter Wahrnehmung und ihrer Or­ga­ nisationsprinzipien (s. oben) tauchte die Frage auf, ob die sog. »Gestalt-Ge­setze« als invariante Wahrnehmungsmechanismen zu verstehen sind, die bei jedem Menschen mit quasi naturgesetzlich ablaufendem Automatismus anzutreffen sind. Diese Frage ist jetzt aufzunehmen. Und dabei muss auch die Frage nach bestimmten nicht transempirischen Voraussetzungen bestimmter Spielarten des Gestalt-Ansatzes diskutiert werden. Wenn Gestalt im starken Sinne des Begriffs auf die Ganzheit eines wahrgenommenen Objektes zielt, so scheint dies mit Selbstverständlichkeit auf eine »ganzheitliche« Sicht der Dinge hinauszulaufen. Wie ganzheitlich wird Ganzheit aber gedacht? Zur Debatte steht bei kritischer Rückfrage zunächst (und seit geraumer Zeit) ein unreflektierter bzw. überzogener Anspruch unbedingter »Ganzheitlichkeit«. Kritisch zurückgefragt werden muss dann aber auch, ob und inwieweit der Gestaltansatz jenseits der Tendenz zum Holismus möglicherweise auf problematischen Voraussetzungen beruht. Zum ersten Kritikpunkt: Das Adjektiv »ganzheitlich«, wie es insbesondere in der Gestalt-Pädagogik oft gebraucht wird, ist unbestreitbar ein wenig klarer Begriff. In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts galt dieses Prädikat auch in anderen Bereichen der Pädagogik wie etwa der Heilpädagogik, aber auch einer »ganzheitlichen Medizin«, zuweilen eher als modische Attitüde einer auf analytisches Denken verzichtenden Haltung.46 Manche dieser Ansätze waren zudem spirituell eingefärbt. Mit dem Appell an »ganzheitliches Denken« wurde oft ein Mehrwert des »affektiv Emotionalen« gegenüber dem analytisch Kognitiven propagiert. Manche Kritiker sprechen hier vom »Bluff« einer Ganzheitlichkeit verheißenden alternativen Pädagogik und wenden ein: »Die Ganzheitlichkeitsapostel verwirren mehr, als sie zur Aufklärung beitragen: »Fähigkeiten statt Wissen vermitteln«, »Begriffe werden durch Begriffe erklärt, statt durch die lebendige Wirklichkeit« etc. In ihrer Kritik an der ›verkopften Schule‹ tun sie so, als ob berufliche Fähigkeiten ohne Wissen möglich seien, als ob die ›lebendige

46 Auch die Rezeption von Gestalt in Seelsorge und Religionspädagogik ist nicht immer frei von solcher Aufladung. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Wirklichkeit‹ sich selbst erkläre. Sie verwirren deshalb, da sie die Prozesse des Verstehens nicht verstehen.«47 Allerdings schießt diese Kritik offenbar über das Ziel hinaus. Denn sie argumentiert mit einem empirisch wiederlegten ›Prä‹ des analytischen Denkens, wenn es heißt: »Verkannt wird, daß das »Ganze« niemals im »ganzheitlichen Akt« gefaßt werden kann. Wir können jeweils nur Segmente oder einzelne Perspektiven fassen, was mit wachsender Reife der Lernprozesse zu Horizonterweiterungen bzw. Horizontverschmelzungen führen kann.«48Aufzunehmen bleibt der kritische Hinweis, dass eine bestimmte Aufladung des Ganzheitsdenkens problematisch ist. In unserem Zusammenhang muss zudem betont werden, dass diese Aufladung in wahrnehmungstheoretisch fundierten Ansätzen von Gestaltpsychologie (s. o. Abschnitt 2) und Phänomenologie (s. o. Abschnitt 4.1) nicht anzutreffen ist. Die andere Rückfrage bezieht sich auf die kulturelle Reichweite der Gestalttheorie. Die Rezeption des Gestaltansatzes hat also zuweilen zu einer Überakzentuierung des Ganzheitsdenkens geführt, welche kulturkritische Sehnsüchte aufnahm, gelegentlich auch Anfälligkeit zu völkischem Denken zeigte. In Verbindung damit steht eine andere Tendenz, die kritischen Widerspruch erfahren hat, nämlich eine moralische Aufladung des Gestaltbegriffs. Gestalt wurde dann als »das gute Ganze« verherrlicht. »Gestalt ist … hier die gute Gestalt, das gute erstrebenswerte Ganze, diesmal religiös überhöht: Ewige Gestalten, die alle Widersprüche des Lebens in har­monischer Einheit hinter sich gelassen haben. Der Gestaltgedanke enthält die Sehnsucht nach einer vollkommenen, harmonisch geordneten, beständigen und sicheren Welt«.49 Ob man pauschal sagen kann, »dass die Gestaltpsychologie eine bestimmte Art ist, die Welt anzuschauen, eine ›Weltanschauung‹ in des Wortes tiefster Bedeutung«,50 wage ich zu bezweifeln. Und weder Gestaltpsychologie noch seriöse Gestalt-Therapie leugnen das Vorkommen nicht vollendeter, fraktionierter oder zerbrochener Gestalten in der Wahrnehmung. Insofern ist die sog. »Tendenz zur guten Gestalt« eher sprachlich ein Problem. Aufzunehmen ist aber die Frage nach historischen und sozialen 47 M. Miller/K.-J. Drescher: Zum Bluff der Handlungsorientierung und Ganzheitlichkeit. Bildung und gesellschaftlicher Strukturwandel. In: HLZ, Ztschr. der GEW Hessen für Erziehung, Bildung, Forschung. 48. Jahrg. Heft 1/95; zit. nach http://www.herder-lain.de/Materialien/methlex/zumbluff. htm; vgl. zur gründlichen Auseinandersetzung mit der genannten Tendenz ferner G. Wild, Der Begriff der Ganzheitlichkeit in der Heilpädagogik. Eine kritische Untersuchung der Verwendungsweisen und Begründungeneines zentralen Begriffs der Profession und Disziplin der Heilpädagogik, Diss.phil. Hagen http://deposit.fernunihagen.de/248/2/Wild_Guenter_Der_Begriff_der_Ganzheitlichkeit_in_der_Heilpaeda.pdf 48 Miller/Drescher a. a. O. 49 R. Bick, »Ich singe den Rum der Gestalt«, 32. Ob man pauschal sagen kann, »dass die Gestaltpsychologie eine bestimmte Art ist, die Welt anzuschauen, eine ›Weltanschauung‹ in des Wortes tiefster Bedeutung«, Bick, 31, wage ich aber zu bezweifeln. Zweifel gelten auch im Blick auf Äußerungen des deutsch-jüdischen Schriftstellers Jakob Wassermann; vgl. ders., Gestalt und Humanität: Was bedeutet die Gestalt? Rede über Humanität. Reden, München 1924. 50 So Bick, a. a. O. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Bedingungen des Gestalt-Denkens. Gelten die sog. »Gestalt-Gesetze« immer? Was sind ihre impliziten Voraussetzungen und normativen Implikationen? M. Franz hat auf der Basis einer sozialgeschichtlich und wissenssoziologisch belehrten philosophischen Ästhetik einige Schwachstellen und Einseitigkeiten des Gestaltdenkens genauer herausgearbeitet.51 Und diese Kritik ist inzwischen auch in der Theologie aufgenommen worden.52 Zunächst ist anzuerkennen, dass das Gestalt-Denken jenseits einer spezifischen Gestalt-Theorie in historischen und politisch problematischen Traditionslinien steht, was man etwa mit Blick auf einschlägige Arbeiten des konservativen Schriftstellers E. Jünger belegen kann.53 Sodann ist zu fragen, welche Verfestigungstendenzen und Formverhärtungen im Gestalt-Denken transportiert werden. Franz macht mit dem Philosophen Kl. Heinrich die Gegenthese stark, dass nicht Form, sondern Formverflüssigung das humanum auszeichne. »›Form ist nicht eigentlich das, was Menschen zum Menschen macht; Menschen werden als solche bestimmt durch in Form nicht Greifbares‹ wie zum Beispiel Angst und Protest und Hoffnung. Am Gegenmodell der mythischen Metamorphosen wird deutlich, was das Festgenagelt-Werden in eine Gestalt bedeutet: ›In dem Augenblick, wo man eine Gestalt festhalten kann, in dem Augenblick, wo es gelingt, jemanden auf diese Gestalt festzunageln, in dem Augenblick, wo jemand in einer dieser Verwandlungen festgehalten wird, wird er angetastet in dem Kern seiner Existenz: der Verwandlungsmacht.‹«54 Schließlich wird drittens im Gestaltansatz eine problematische Tendenz zur Geschlossenheit angefragt. Und diese Kritik findet sich übrigens bereits in bestimmten gestaltpsychologischen Ansätzen selber. So hatte W. Köhler angesichts des Phänomens der Kipp-Figuren bereits gefragt, ob man bei solcher Figur-Grund-Relation von einem fragilen Verständnis von Gestalt ausgehen müsse. Eine Gestalt, die permanent kippt, kann nicht als statisch aufgefasst werden. Franz verweist hier auch auf zeitgenössische naturwissenschaftliche Forschungen (wie etwa Mikrobiologie), in denen Gestaltbildungsprozesse weiter untersucht werden und Verflüssigung der Gestalten, ihre Bildung und Zerstörung genauer beschrieben worden ist. Das alles läuft bei Franz auf die Kernfrage der Kritik hinaus: Wieviel Gegensätzlichkeit verträgt Gestaltwahrnehmung? Mit welcher Dynamik kann und muss Gestaltwahrnehmung gedacht werden, zumal angesichts der Formung dieser Wahrnehmung durch elektronische Medien? 51 M. Franz, Die Zweideutigkeit der Gestalt oder Taugt »Gestalt« noch als ästhetischer Grundbegriff? In: Weimarer Beiträge 41 (1995), 5–28. 52 D. Zilleßen, Gestaltpädagogik, Integrative Pädagogik: Verheißung oder Versuchung, in: ZPT Dezember 1997, 427–439. 53 E. Jünger, Gestaltwandel (1993); Der Arbeiter 1933: Jüngers Spitzensatz: »In der Gestalt ruht das Ganze, das mehr als die Summe seiner Teile umfaßt und das einem anatomischen Zeitalter unerreichbar war. Es ist das Kennzeichen einer heraufziehenden Zeit, daß man in ihr wieder unter dem Banner von Gestalten sehen, fühlen und handeln wird.« E. Jünger. 54 ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Auch bei dieser Kritik muss differenziert werden. Nicht alle Einwände treffen die oben skizzierten theoretischen bzw. wissenschaftlichen Bemühungen um Erkenntnisbildung zum Gestaltbegriff. Dort wo sie sich aber auf Gestalt-Theorie bezieht, zeigt sie relevante Kontexte auf, fundierende Erkenntnisgrundsätze, die ihrerseits nicht als universalanthropologische Konstanten gelten können. Auch Wahrnehmungskonstellationen, die uns mit Zwangsläufigkeit abzulaufen vorkommen, gibt es bei Menschen immer nur kulturell überformt. Als Zwischenbilanz dieses Kapitels kann festgehalten werden: Gestalt ist ein Sammelname für unterschiedlichste analytisch-wissenschaftliche wie auch für handlungsbezogene Verfahren oder gar weltanschaulich imprägnierte Heilslehren. Vom wahrnehmungspsychologischen Ursprung her (»Gestaltqualität«) ist es ein ästhetisches Phänomen. Der in verschiedenen Disziplinen entwickelte Gestalt-Begriff geht vom Übersummationsphänomen einer unmittelbar in den Sinnen gegebenen Ganzheit aus, auch wenn man nicht von naturgesetzlich programmierter Gestaltwahrnehmung sprechen kann. Der Gestaltbegriff zielt auf ganzheitliches Erfassen von strukturierten Wirklichkeiten in einem sozialökologischen Ansatz, der Wahrnehmungen von Gestalten in Bezug auf ein leib-haftiges Subjekt sowie in sozialen und naturhaften Kontexten denkt. Damit sind vorprädikative, ästhetisch wirksame Elemente und »Gestaltqualitäten« als eigener Modus sinnlich vermittelter Erfahrung berührt. Allerdings ist jeweils zu beachten, wo »ganzheitlich« im Sinne des Übersummationsprinzips gemeint ist und wo es jenseits von Wahrnehmungsvorgängen normativ aufgeladen ist. Gestaltphänomene reichen von konkreten Wahrnehmungskonfigurationen visueller oder akustischer Wahrnehmung hin bis zu biografisch gebildeten Erfahrungsmustern. Das schließt die Relevanz sprachlich vermittelter Wahrnehmungsdeutung keineswegs aus. Empirische wie philosophische Reflexionen auf Gestalt haben ferner gezeigt, wie sinnlich vermittelte Vorgänge gleichursprünglich strukturbildende Qualität haben können, d. h. gleichzeitig auch als Prozesse des Sinnverstehens in Betracht kommen müssen. Gerade auch diese Zusammenhänge berühren Fragestellungen einer theologischen Hermeneutik des Kreuzes, wie sich in weiteren Kapiteln zeigen wird. Im nächsten Kapitel ist jedoch im Sinne der weiteren Grundlegung zu fragen, wie der in der Theologie mannigfach verwendete Gestalt-Begriff näher bestimmt ist.

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5.

»Das Auge sollte ein Lehrer der höheren Wahr­heiten werden«. Zur religions- und christentumsgeschichtlichen Entwicklung der Kreuzessymbolik

5.1 Die Perspektive: Das Wechselspiel zwischen Symbol und Bedeutungszuschreibung Nach der eingehenden Orientierung über gestalttheoretische und wahrnehmungspsychologische Einsichten kehren wir nun zum Thema »Kreuz« zurück. Das Kreuz ist das christliche Zentralsymbol. In früheren Kapiteln habe ich an lebensweltlicher Annäherung aufgezeigt, welch unterschiedliche visuellen Gestaltungen dieses Zentralsymbols in der Gegenwart anzutreffen sind. Das Symbol des Kreuzes hat aber schon eine sehr lange Geschichte durchlebt, in welcher eine große Variationsbreite an Gestaltungen sowie Deutungen anzutreffen ist. Um sich diese ganz unterschiedlichen visuellen Gestaltungen zu vergegenwärtigen, ist man im Zeitalter der elektronischen Medien versucht, das ganz rasch dadurch zu erledigen, dass man eine einschlägige Internet-Seite aufschlägt, etwa einen WikipediaArtikel zum Kreuz wie »Kreuz (Christentum)«1 oder auch »Kreuz (Heraldik)«2. Da finden sich lange und umfangreiche Kataloge mit allen möglichen Kreuz-Zeichen (vom Andreas-Kreuz über das lateinische Kreuz usw. bis zum Zuckerrohr-Kreuz). Und diese sind oft verbunden mit sehr eingängigen Erklärungen zur Lesart solcher Zeichen, wie etwa der Hinweis darauf, dass das Papstkreuz mit drei Querbalken die dreifache Funktion des Bischofs von Rom als Priester, Hirte und Lehrer anzeige. Ähnlich der Erklärungsansatz zum russisch-orthodoxen Kreuz mit seinen zwei Querbalken oben sowie am unteren Ende einen abgeschrägten Querbalken: Dieser symbolisiere den Übergang Christi von der Hölle zum Himmel. Solche Informationen sind nicht nur dekontextualisiert, sondern sie geben vor, man hätte irgendwann solche Bedeutungszuschreibungen für alle Zeiten verabredet. Nicht in den Blick kommt bei einem solchen Zugang das Wechselspiel zwischen Symbol und Bedeutungszuschreibung, wie es sich durch die gesamte Geschichte des Christentums anzeichnen lässt. Nicht in den Blick kommt, wie die Gestaltungen des Symbols selbst Teil solcher Interpretationsprozesse wurden. Deshalb ist es wichtig, historische Werdeprozesse mit zu berücksichtigen. Zum Verstehen der Sinnhaftigkeit von Symbolbildungen ist es sinnvoll, etwas tiefer in den Zusammenhang von Zeichen und Bedeutung einzudringen und danach zu fragen, wann man aus welchen Gründen welche Symbolik entwickelt hat. M. a. W., ob und wie in unterschiedlichen Epochen und religionskulturellen Kontexten ästhetische und künstlerische Formgebungen des Symbols jeweils als Bestandteil bestimmter theologischer Interpretationen des 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Kreuz_(Christentum), download 1.2.2013. 2 http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Kreuz_(Heraldik), download 15.12.2012. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Kreuzes Christi fungierten. Von Interesse für unseren Gedankengang sind dabei insbesondere die Momente in historischen Entwicklungen, in denen – lange vor der Ausbildung moderner Gestalttheorie – in Symboldeuten des Kreuzes Elemente einer spezifischen Gestalthaftigkeit dieses Symbols angesprochen werden. Ich versuche, diese Perspektive im Blick auf zwei ausgewählte Epochen etwas näher zu verdeutlichen. Das ist angesichts der Fülle eine subjektive Auswahl, die weder in kirchengeschichtlicher noch in kunstgeschichtlicher Hinsicht Vollständigkeit anstrebt.3 Aus der großen Fülle der Phänomene greife ich bestimmte Aspekte heraus, insbesondere Einzelheiten der altkirchlichen Symbolbildung sowie der reformatorischen Theologie, um dem Zusammenhang von Visualität, Form und Bedeutung genauer nachzugehen. Andere Epochen, die keineswegs unwichtig sind, werden hier eher gestreift. Ich verfahre dabei aus Gründen der Vestehbarkeit in zwei Schritten. In einem ersten Durchgang bleibe ich im engeren Rahmen dessen, was man konventionell unter eine spezifisch christliche Symbolbildung des Kreuzes subsumiert. Im zweiten Durchgang wird die Perspektive ausgeweitet, indem religionsgeschichtliche und anthropologische Ebenen der Gestaltbildung explizit mit berücksichtigt werden.

5.2 Der innere Kreis: Symbolik und Deutung in christlichen Überlieferungen 5.2.1 Kreuz-Zeichen und Sinn-Bild in der Frühen Kirche Vor aller Entwicklung visueller Repräsentanzen eines Kreuz-Zeichens, am Anfang stand lebensweltlich das Kreuz als Hinrichtungsinstrument der römischen Besatzung in der Provinz Palästina, das Kreuz als der römische Galgen, an dem Jesus von Nazareth hingerichtet wurde. Darauf bezog die nachösterliche Gemeinde ihre Botschaft, dass der am Kreuz hingerichtete Jesus von Nazareth nicht im Tod geblieben sei, also die Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten.4 Die jungen christlichen Gemeinden begannen früh mit der Ausbildung theologischer Deutungen des Kreuzesgeschehens, etwa in der Theologie des Paulus, der »das Wort vom Kreuz« in den Mittelpunkt seiner Theologie stellte (vgl. dazu ausführlicher das Kapitel »Das Wort vom Kreuz« weiter unten). Allerdings bildete man auch relativ früh erste zeichenhafte Repräsentanzen für die Sache der Christen und Christinnen. Es ist aus unserer Sicht vielleicht ver3 Sehr viel mehr Material ist bei W. Ziehr, Das Kreuz. Symbol Gestalt Bedeutung, Darmstadt, 1997 berücksichtigt. Allerdings bietet dieser Band vor allem bildliche Darstellungen, verfolgt weniger Interessen einer theologischen Kontextualisierung dieser visuellen Gestaltungen. 4 Vgl. dazu ausführl. St. Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, Tübingen 2000. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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wunderlich, lässt sich aber historisch gut belegen, dass das Kreuz nicht zum ersten Erkennungszeichen der jungen christlichen Kirche wurde, sondern sich erst allmählich gegen andere Zeichen wie Lamm, Phönix und vor allem Fisch durchsetzte. Als die wahrscheinlich älteste Darstellung der Kreuzigung in der antiken Ikonografie wird immer wieder ein aus Gaza stammender Stein aus dem späten zweiten oder frühen dritten Jahrhundert mit der Teilinschrift ΥIE ΠATEP IHCOΥ XPICTE (frei übersetzt: »Sohn Vater Jesus Christus«) genannt.5 Die archäologische Forschung zu frühen Kreuzigungsdarstellungen wird intensiv betrieben, führt immer wieder zu neuen Resultaten angesichts neuer Funde. Schauen wir uns einige Besonderheiten der ersten Jahrhunderte genauer an. Im 2. Jahrhundert nahm einer der sog. »Kirchenväter«, also ein früher prominenter Theologe, Clemens von Alexandria (gest. 216), das Kreuz explizit als Zeichen des Herrn auf.6 Für einen anderen Kirchenvater, Tertullian (gest. um 230), waren dann die Christen »Leute der Kreuzes-Religion«, die »crucis religiosi«. Eine Gewohnheit der Christen, ein mit Holzkohle markiertes Kreuzeichen auf der Stirn zu tragen, ist seit dem Anfang des 3. Jahrhunderts nachgewiesen. Während die frühen Signaturen des Kreuzes innerhalb der im Römischen Reich verfolgten Gruppe der Christen eher schlicht und ohne künstlerische Ambitionen ausgefallen waren, setzte eine reichere ikonografische Ausgestaltung des Kreuzes wohl erst ab dem 3. Jahrhundert ein, in der Phase also, in der das Christentum unter der Regentschaft des Kaisers Konstantin zur Staatsreligion erhoben wurde.7 Aus dieser Zeit ist in Texten und in bildlichen Darstellungen die früheste Verbindung des Kreuzes Christi mit dem Symbol des Lebensbaums zu belegen.8 Diese Bildtradition nimmt die Symbolik Kreuz = Holz = Baum des Lebens auf. Das kann man literarisch etwa an einer Schrift des Cyrill von Jerusalem nachweisen. In seiner »Taufkatechese« heißt es: »Das Holz des Lebens wurde in die Erde gepflanzt, damit die verfluchte Erde Segen genieße und die Toten erlöst werden. Schämen wir uns also nicht, den Gekreuzigten zu bekennen! Besiegeln wir vertrauensvoll mit den Fingern die Stirne, machen wir das Kreuzzeichen auf alles …«9 Diese Vorstellung vom Kreuz als Lebensbaum wurde nicht selten auch kombiniert mit einem Ausgriff auf die Paradieserzählung der Genesis, um so in Wort und Bild den Zusammenhang Christi mit der Schöpfung zu verdeutlichen.

5 6 7 8 9

F. Harley/ J. Spier, »Magical Amulet with Crucifixion« (The Christian Empire/ 5. The Crucifixion), in: J. Spier, Picturing the Bible: The Earliest Christian Art, Fort Worth, 2007, S. 228 f. τὸ κυριακὸν σημεῖον. E. Dinkler, Das Kreuz als Siegeszeichen, in: ZThK 62 (1965), 1–20. Vgl. dazu ausführl V. Pfnür, Garten des Lebens. Festschrift für Winfrid Cramer, hg. von MariaBarbara von Stritzky/Christian Uhrig, Altenberge 1999 (MThA 69), S. 203–222. Cyrill von Jerusalem, Taufkatechese, 13,35–36. (Zit. nach der Ausgabe Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 41, Kempten; München 1922. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Abbildung 11

Ein Hymnus aus dem 4. Jahrhundert, verfasst von Ephraim dem Syrer, verbildlicht mit sprachlichen Mitteln sehr eingängig diesen Symbolzusammenhang: »Lebensbaum ist das Kreuz, das Früchte des Lebens für unser Geschlecht hervorbrachte: Auf dem Hügel von Golgotha teilte Christus das Leben den Menschen mit; von da hat er auch uns das Liebespfand des ewigen Lebens zugesagt«.10 Die Verbindung zwischen den Symbolen Kreuz und Lebensbaum ist in der altkirchlichen Theologie in vielen außerkanonischen Schriften (z. B. in der Johannesapokalypse, im Barnabas-Brief u. öfter) als selbstverständlich vorausgesetzt. Diese Symbolik wurde in der west- wie ostkirchlichen Kunst, insbesondere in der Armenischen Kirche, breit aufgenommen und besteht in Variationen bis heute fort. Bemerkenswert für diese Epoche ist in unserem Zusammenhang noch ein anderes Detail. Bereits innerhalb der Alten Kirche, also vom 2. Jahrhundert an, lassen sich 10 Zit. nach Pfnür, Garten des Lebens, a. a. O. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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nämlich Reflexionen nicht nur der theologischen Bedeutung des Todes Jesu finden, sondern zugleich solche, die die charakteristische visuelle Gestalt des Kreuzes theologisch ausdeuten. Das wären neben, oder besser in einer theologia crucis so etwas wie frühe Spuren einer Gestalt-Theologie des Kreuzes. Ein nicht ins Neue Testament aufgenommener Text, der Barnabas-Brief, der wohl aus dem 2. Jahrhundert stammt, bezeugt den Gedanken, dass das Kreuzzeichen in seiner Visualität theologisch etwas zu sagen habe. Er bringt den griechischen Buchstaben Tau mit dem Kreuz Christi in Verbindung, dies mit der Begründung, dass »das Kreuz im Tau die Gnade sinnbilden sollte«.11 In Texten der Kirchenväter vom 3. Jahrhundert ab finden sich mannigfaltige Versuche, das Kreuz im Blick auf seine charakteristische Gestaltung der geometrischen Kreuzung von Längs- und Querbalken theologisch zu interpretieren. Exemplarisch kann man das an einem sehr berühmten dogmatischen Werk des 4. Jahrhunderts ablesen. Der Bischof Gregor von Nyssa lehrte in seiner »Großen Katechese« (ca 394 verfasst): »So will uns das Kreuz durch seine Gestalt, die nach vier Seiten auseinandergeht, indem von seinem Mittelpunkt, durch den es zusammengehalten wird, deutlich vier Balken vorspringen, die Lehre geben, daß er, der da im Augenblick seines nach dem göttlichen Heilsplan erlittenen Todes daran ausgestreckt war, der ist, welcher das Universum in sich eint und harmonisch verbindet, indem er die verschiedenartigen Dinge zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfaßt …«.12 Eine ganz eigene Wendung nahm die Deutung der Kreuzgestalt dann im 5. Jahrhundert. Im Streit um die Frage, wie göttliche und menschliche Natur in Christus zu denken seien, also in der Auseinandersetzung um die sog. »Zwei-Naturenlehre« votierten unterschiedliche Gruppen streitbar gegeneinander. Die sog. »Monophysiten« (Anhänger der Ein-Naturenlehre) in Syrien und Ägypten, aus denen später die Koptische Kirche hervorgegangen ist, benutzen mit Bedacht Kreuze ohne den corpus des Gekreuzigten, um deutlich zu machen, dass die göttliche Natur irdisch nicht darstellbar sei.

5.2.2 Typenbildung und Kreuzesverehrung im Mittelalter Es ist unmöglich, die von der Geschichtsschreibung als »Mittelalter« bezeichnete Epoche auf einige wenige Phänomene der Kreuzessymbolik zu reduzieren. Symbole des Kreuzes waren keineswegs nur innerhalb der Kirchengebäude auf Altarbildern anzutreffen. Sie waren präsent als Insignien mittelalterlicher Kaiser-Macht (Krone mit Kreuz; Stab und Reichsapfel, der globus cruciger), auf Abbildungen, auf Siegeln unter Dokumenten ebenso präsent wie in der Prägung des Geldes. Ich möchte aus der Fülle der Darstellungen drei Momente hervorheben: Etwa um 11 http://www.bibelcenter.de/bibliothek/chrtxt/barnabas.php, download 15.9.2012. 12 Gregor von Nyssa, Große Katechese (Oratio catechetica magna) 32,2 – ziitiert nach Bibliothek der Kirchenväter 1. Reihe, Band 56, Kempten/München 1927. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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810 verfasste der Fuldaer Abt und spätere Erzbischof von Mainz Rabanus Maurus eine Serie von Gedichten unter dem Titel »Vom Lob des heiligen Kreuzes«, De laudibus Sanctae Crucis. Das Buch ist insgesamt in 80 Handschriften überliefert. In diesen Texten, in denen das Kreuz Christi verehrt wird, wird auf kunstvolle Weise eine Kombination von Text und Bild präsentiert. Das sieht z. B. so aus:13

Abbildung 12

Man sieht ein rasterartiges System, in welches ein Text eingeschrieben ist, der wie ein Bild präsentiert wird. Mit einer speziellen Technik werden Buchstaben und Buchstabengruppen besonders hervorgehoben. Durch die Kombination von Bild und Schrift ergeben sich mehrere Textebenen. So wird auch dieses Bild selbst wiederum zum Zeichen. Alle Bilder sind Repräsentationen des Kreuzes Christi und dienen seiner Verherrlichung. Was sich auf den ersten Blick als hoch entwickelte monastische Konstruktionslust und Artifizialität ausnimmt, bekommt seine theologische Tiefenschärfe aber erst, wenn man es im historischen Kontext des byzantinischen Bilderstreits der Zeit betrachtet. Dabei ging es um die für die damalige Zeit weltpolitisch folgenschwere Frage, ob die göttliche Natur Christi bildlich dargestellt werden dürfe. Denn diese Frage spielte zumindest eine Rolle im Schisma zwischen Ost- und Westkirche. Diese kunstvoll komponierte symbolische Textur des Kreuzes beim gelehrten Rabanus Maurus war nur wenigen, des Lesens kundigen Eliten seiner Zeit zugänglich. 13 Ein Faksimile bietet K. Holter, Hrabanus Maurus. Liber de laudibus Sanctae Crucis, Cod. Vin­do­ bonensis 652, in Codd. phot. Graz, 33 (1972). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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In ungleich größerer Verbreitung waren jedoch Kreuzesdarstellungen der kirchlichen Kunst anzutreffen. Die ganze Spannweite mittelalterlicher Darstellungsvielfalt kommt aber vielleicht am besten zum Ausdruck, wenn man auf zwei Tendenzen verweist. Da ist auf der einen Seite der Typus der »Triumphkreuze« zu erwähnen. Ein crux triumphalis ist ein Kruzifix, das einen gekreuzigten Christus mit hoch aufgerichtetem corpus und weit ausgestreckten Armen zeigt, um so bildlich den Gedanken der Erhöhung und des Sieges Christi zu repräsentieren. Dieser Typus nahm die bereits von Kaiser Konstantin überlieferte Parole »In hoc signo vinces« auf. Solche Kreuze sind aus Romanik wie Gotik bekannt. Sie hatten zunächst nicht monumentale Ausmaße, wie etwa das Bernward-Kreuz, welches in Hildesheim (etwa um 1007) belegt ist. Eine Steigerung der Proportionen geschah dann erst später. Solche weit übermenschlich großen Kreuze wurden in Kirchengebäuden am Übergang vom Kirchenschiff zum Chorraum angebracht. Aus der mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit sind andererseits besonders eindringliche Darstellungen des Leidens Christi in seiner ganzen kreatürlichen Erbärmlichkeit bekannt. Das Kreuz von Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Vermenschlichung des Leidens fand visuellsymbolisch ihren prägnanten Ausdruck in Kreuzesdarstellungen als Gabelkreuz, also als y-förmiges Kreuz, in der Kunstgeschichte crucifixus dolorosus genannt.

5.2.3 Reformation: Nicht nur Bild-Kritik Ich mache einen Sprung zu der zweiten mich interessierenden Epoche. Für die reformatorische Theologie bildete im Zuge neuer Konzentration auf biblische Ursprünge des Glaubens die Kreuzes-Theologie in ihrer argumentativen Klärung eine der zentralen Problemstellungen. Um es an einem ganz prägnanten Beispiel anzudeuten: Martin Luther stellte in seiner Heidelberger Disputation in scharfer Diktion die These auf: »Crux probat omnia«14 (das Kreuz ist der Prüfstein für alles, alles muss sich am Kreuz bewähren). Abgelehnt wurde damit von Luther nicht nur eine Theologie, die die Bedeutung von Leiden und Kreuz für das Heil der Menschen nebenordnet, also eine theologia gloriae, die stattdessen die Kirche als Hüterin des Heils ungebührlich in den Vordergrund stellt. Von seiner Kreuzestheologie aus wandte sich Luther gleichzeitig auch gegen den »Bilderdienst« der Kirche, also gegen eine Verherrlichung aller sichtbaren Dinge, auch der sichtbaren Kreuze, als Mittel zur Erlangung der Gnade Gottes, wie diese in mittelalterlicher Kreuzesfrömmigkeit vielfältig kultiviert worden war. Mit der scharfen Formulierung »Der Theologe des Kreuzes sagt, was wirklich ist«15 wurde eine Überbewertung des Umgangs mit bildlichen Darstellungen als Heilsmittel abgelehnt. Noch 14 M. Luther, WA 5,179,31. 15 »Theologus gloriae dicit, Malum bonum, (et) bonum malum, Theologus crucis dicit, id quod res est.« (21. These der Heidelberger Disputation von 1518). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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in seiner letzten Predigt, im Januar 1546 in Halle über Apg 9, wandte er sich nicht nur gegen den immer noch gebräuchlichen Ablasshandel, sondern gleichermaßen gegen den »Reliquienkram«, also gegen die seit dem 5. Jahrhundert eingebürgerte Anschauung, dass das (angeblich wieder aufgefundene) materiale Kreuz von Golgatha bzw. Splitter desselben irgendeine Bedeutung für den Glauben haben könnten.16 Andere Reformatoren gingen bekanntlich sehr viel weiter in ihrer Bilderkritik und fegten im Bildersturm alle Kunstwerke, Altarkreuze, bemalte Kirchenfenster etc. aus den Kirchen. Andreas Karlstadt war ein führender Vertreter dieser rigorosen Richtung. In seiner Flugschrift »Von abtuhung der Bylder« (1522) vertrat er die These, einzig und allein die Menschen seien vollgültige, lebendige Abbilder Gottes. Das gab dem Bildersturm der ungebildeten Massen einen argumentativ-theologischen Unterbau. Diese Linie einer Bilder-Kritik und damit auch einer Kritik von Christusbildern als Götzenbildern wurde sachlich von reformierten Theologen wie H. Zwingli und J. Calvin aufgenommen, mit allen Folgen für eine rigorose Glaubenspraxis in Gottesdiensten. Der Genfer Reformator lehnte alle Verbildlichung des Kreuzes als Verletzung der Majestät und des Geheimnis Gottes ab. Kreuzesdarstellungen in der Kirche seien gar nicht nötig: Paulus lehre »Laien« durch die Predigt, da werde »Christus vor unseren Augen gekreuzigt«17, Bilder Gottes waren deswegen nicht einmal in populärdidaktischer Hinsicht zulässig.18 Ich habe allerdings schon im Blick auf Luther soeben nur die eine Seite reformatorischer Theologie angesprochen. Auch mein nur sehr ekklektischer Durchblick durch historische Etappen der Ausgestaltung des Kreuzes darf nicht zu einseitig ausfallen und simple Klischees protestantischer Bilderlosigkeit bedienen. Ich führe dazu mehrere Indizien an. Nicht unterschlagen werden darf einerseits etwa, dass Luther bei aller Konzentration auf die Kreuzes-Theologie hier eine moderatere Position einnahm. In der Frage nämlich, ob man Kruzifixe auf dem Altar beibehalten solle, vertrat er eine weise und man möchte sagen, aufgeklärte Auffassung des Repräsentationsgedankens. Er konterte eine allzu negative Haltung mit dem Hinweis, dass doch eigentlich kein klar denkender Mensch hier mehr als ein Erinnerungszeichen wahrnehmen würde: »Ich meine, es sei kein Mensch oder gar wenig, der nicht das Verständnis habe: das Kruzifix, das da steht, ist mein Gott nicht – denn mein Gott ist im Himmel – , sondern nur ein Zeichen«.19 Kreuzes-Theologie lebt hier offensichtlich auch von einer konkreten visuellen Vorstellung. 16 M. Luther, WA 51. 17 J. Calvin, Institutio Christianae Religionis (1541), zit. nach der deutschen Ausgabe O. Weber Neukirchen-Vluyn 1997 (Bilderverbot I, 11, 1–2). 18 Zu den spätmittelalterlichen Bilderkatechismen vgl. J. Geffcken, Der Bilderkatechismus des fünfzehnten Jahrhunderts und die catechetischen Hauptstücke in dieser Zeit bis auf Luther, Leipzig 1855. 19 M. Luther, WA 10/III; 31,6–9. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Luther dachte also bei Weitem nicht bilderstürmerisch. Gerade das Anliegen von Bildern als Laien-Bibel führte mit seiner tatkräftigen Unterstützung in Wittenberg zu einem gewaltigen Aufschwung einer ganz bestimmten Bildproduktion. Zu denken ist an die Werkstätten der Familie Cranach. Gerade die Kreuzesdarstellungen des Lukas Cranach, der in engem Kontakt mit Luther eine ungeheuer wirksame Bildproduktion freisetzte, kann in ihrer Wirkung für die Verbreitung der neuen Glaubens-Anschauungen gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Cranach »übersetzt« in seinen Bildern nicht einfach biblische Erzählungen der Passion, sondern er schuf visuelle Gestalten der Kreuzestheologie Luthers, z. B. in den Glaubensbildern.20 Als markantes Beispiel verweise ich dazu auf die Darstellung von Luthers Predigt in Wittenberg auf der Predella des Cranach-Altars in der Stadtkirche Wittenberg (vermutlich 1547). (Angesichts der Bekanntheit und leichten Zugänglichkeit entsprechender Bilder im Internet kann hier auf einen Abdruck verzichtet werden.) Das Bild zeigt nicht eine reale Predigtsituation, sondern ein theologisches Programm: Luthers linke Hand ruht auf dem aufgeschlagenen Text der Schrift, welche ausgelegt wird. Seine rechte Hand zeigt mit ausgestreckten Fingern auf das hin, was die Predigt mit Worten entfaltet: den Gekreuzigten. Hier wird das Wort Gottes selbst als bildschöpferisch gedacht. Und es soll zugleich eindrückliche Gedächtnisbilder vermitteln. Die Frage nach der theologischen Bedeutung des Kreuzes steht für Luther in einem größeren Zusammenhang: Er war es nämlich, der in einer theologischen Auseinandersetzung um die Sakramente notierte, wie sehr menschliches Verstehen angewiesen auf bildhaftes Denken. Und deshalb zögerte Luther nicht, diesen Zugang auch für menschliches Verstehen des Kreuzesgeschehens als ebenso unvermeidlich wie sinnträchtig zu empfehlen: »So weiß ich auch gewiß, daß Gott will haben, man solle seine Werke hören und lesen, sonderlich das Leiden Christi: Soll ichs aber hören oder gedenken, so ist mirs unmöglich, daß ich nicht in meinem Herzen sollte Bilder davon machen. Denn ich wolle oder wolle nicht, wenn ich Christum höre, so entwirft sich in meinem Herzen ein Mannsbild, das am Kreuz hängt; gleich als sich mein Antlitz natürlich entwirft im Wasser, wenn ich drein sehe. Ists nun nicht Sünde, sondern gut, daß ich Christi Bild im Herzen habe; warum sollts Sünde sein, wenn ichs in Augen habe? sintemal das Herze mehr gilt, denn die Augen, und weniger soll mit Sünden befleckt sein, denn die Augen, als das da ist der rechte Sitz und Wohnung Gottes«21.

20 Vgl. dazu Ann Jeffers, Seeing is Believing. Representations of Women in the Luther Bible of 1534, in: D. Pezzoli-Olgiati/ Chr. Rowland (Eds), Approaches to the Visual in Religion, (RCR 10), Göttingen 2011, 169–186. 21 M. Luther, Wider die himmlischen Propheten. Von den Bildern und Sakrament (1525), zit. nach M. Luther, Ausgewählte Werke (hg. V. H. H. Bochert/G. Merz, München 1938, 117 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Und dies ist keinesfalls ein singulärer Beleg.22 In einer seelsorgerlich akzentuierten Gelegenheitsschrift »Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben«23 beantwortete Luther im Jahre 1519 einem Kanzleibeamten seines kurfürstlichen Dienstherren die ihm vorgelegte Frage, was man zur Vorbereitung auf ein seliges Sterben tun könne. Seine starke Empfehlung: Zum Bild greifen. Neben Beichte und Abendmahl solle der Glaubende das Andachtsbild Christi am Kreuz betrachten und es sich »einverleiben«. Es gälte nicht die eigenen Sünden anzusehen, »sondern abkehren deine Gedanken und nicht die Sünde, sondern das Gnadenbild ansehen und dasselbe Bild dir mit aller Kraft ein-bilden und vor Augen haben. Das Gnadenbild ist nichts anderes als Christus am Kreuz und alle seine lieben Heiligen.«24 Nicht das Kreisen um die eigene Schuld wird empfohlen, sondern die Anschauung eines zeittypisch durchaus nicht »schönen« Gekreuzigten. Solche Empfehlung ist plausibel nur unter der Voraussetzung, dass Menschen nicht nur in Texten, sondern in spezifischer Weise anders als spätmoderne Menschen auch in Bildern lebten, dass sie mit äußeren und inneren Bildern umgingen. Bilder sind Sprach-Bilder, aber auch wirkkräftige Repräsentationen, so kann das Bild vom Kreuz im Gedanken Luthers therapeutische Wirksamkeit zum ewigen Leben entwickeln. »Denn Christus ist nichts dann eitel Leben, seine Heiligen tiefer und fester du dir dieses Bild einbildest und ansiehst, desto mehr fällt das Bild des Todes ab und verschwindet von selbst«.25

5.2.4 Zwischenbilanz Ich breche den Durchgang durch Werdeprozesse christlicher Kreuzessymbolik hier ab. Bereits diese wenigen Beobachtungen zur Entwicklung in wenigen Epochen und Regionen der christlichen Kirchen geben interessante Anstöße auch für die Beschäftigung mit der symbolischen Gestalt von Kreuzen. Festhalten kann man u. a., dass sich in wechselvollen Traditionen ein breites und stets breiter werdendes Zeichenrepertoire für Kreuze ausgebildet hat. Wichtiger aber noch scheint der Hinweis darauf, dass mit der Gestaltung der Formen jeweils eine Theologie des Kreuzes betrieben worden ist. Das gilt positiv wie negativ. Schließlich: Die Gestaltungsfragen stehen in größeren theologischen Zusammenhängen, z. B. dem der Legitimität bildlicher Darstellungen Gottes insgesamt.

22 Zu weiteren Belegen vgl. M. Plathow, Bildhafter Glaube. Martin Luthers Theologie in Bildern, in: ders., Freiheit und Verantwortung, Erlangen 1996, 329–349. 23 M. Luther, WA 2, 685 ff. 24 Luther, WA 2, 689. 25 Luther, ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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5.3 Der äußere Kreis: Das Kreuz im Kontext Gewiss ist das Kreuz das christliche Zentralsymbol. Aber es ist nicht ein originär vom bzw. im Christentum erfundenes und gebrauchtes Zeichen. Es hat vorchristliche Ursprünge und es nimmt, wie man zeigen kann, auch kosmologische und anthropologische Deutungselemente auf, die das Christentum mit anderen Religionen und Kulturen teilt. Das Kreuz zählt zu einer der ältesten und am weitest verbreiteten bildhaften Vorstellungen der Kultur- und Religionsgeschichte weltweit. Mehr noch: Als doppelte Verbindung diametral entgegengesetzter Punkte gilt es in vielen Kulturen als Sinnbild der Einheit von Himmel und Erde, als Ausdruck der kosmischen Synthese. Mit dieser kosmischen Bedeutungsebene des Kreuzsymbols korrespondiert wiederum eine anthropologische Ebene elementarer menschlicher Körpererfahrungen und ihrer symbolischen Ausdeutung. Viele spezifisch christliche Deutungen der Kreuzsymbolik, wie ich sie im ersten Teil an Beispielen aufgeführt habe, nehmen auf diese drei Ebenen mannigfaltigen Bezug. Deshalb ist es sehr instruktiv, auch diese Symbolebenen hinzunehmen, damit gewinnen auch Einsichten in Kreuz-Gestaltungen im Christentum sowie deren spezifisch christlich-theologische Deutung reichere und tiefere Ausdeutung.26

5.3.1 Religion – Kosmologie – Anthropologie Versteht man Religionen als kollektive Systeme und Traditionen religiöser Weltdeutungen und lässt man die Frage nach einer klaren Scheidung zwischen Religionen und Kulturen außer Acht, so taucht das Kreuz in der einen oder anderen Gestalt immer wieder auf.27 Der Religionsgeschichtler und katholische Theologe J. Ries nannte das Kreuzsymbol angesichts der Fülle und der Pluralität der Vorkommen deshalb sogar die Kennmarke des »homo religiosus«28. Wenn die historischen Ursprünge des Symbols auch immer noch im Dunkeln liegen, so wissen wir, dass es jedenfalls schon lange vor der Antike im Gebrauch war. Früheste bekannte Funde reichen in die Stein- und die Bronzezeit. Aus anfänglich eher ornamentaler Verwendung (etwa auf Keramik oder Rüstungsschildern) haben sich mit den Jahrhunderten kreuzförmige Kultzeichen entwickelt. Gemalt auf Wände der Felshöhlen oder eingeritzt in Knochenamulette am Körper hatten diese vermutlich früh schon Schutz- und Abwehrfunktionen. Das Vorkommen von Kreuzsymbolen in Religionen bzw. Kulturen ist keineswegs auf Religionen im Mittelmeerraum oder nur in Europa begrenzt. Die religions26 In dieser Hinsicht folge ich also faktisch dem Systematisierungsvorschlag von Julien Ries, Art. Cross, in Eliade (Ed.), Encylopaedia of Religions, Vol. 4, 155–166, welcher dort das religionsgeschichtliche Material nach vier Aspekten anordnet: er nennt neben dem Kreuz Christi die Kosmologie, das numerische Symbol und menschliche Körperaktivität. 27 Vgl. zum ganzen G. Lanczkowski, Art. Kreuz I, TRE Bd. 19, 712–713. 28 J. Ries, a. a. O. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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geschichtliche Vielfalt der Gestaltungen dieses Zeichens reicht vom ägyptischen Taukreuz oder Anch-Kreuz über Kreuze auf altnordischen Schamanentrommeln, dem altnordischen Yggdrasill, Kreuzen in Mittel- und Südamerika bis hin zur Swastika, dem schon Jahrtausende vor den Nationalsozialisten im Buddhismus und in Indien bekanntes Hakenkreuz, dem Symbol von Glück und Leben. In der iranischen Provinz Fars, nördlich von Persepolis im Ort Naqsh-i Rustam hat man kreuzförmig angelegte Grabstätten, die sog. »Persischen Kreuze« freigelegt, die aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert datieren. Auch die vorrömische Kultur der Etrusker kannte das Kreuz. Das Idol von Pomos, welches nach der Euro-Einführung auf den Zwei-EuroMünzen von Zypern abgebildet ist, stammt aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert. Die Abbildung zeigt eine menschliche Figur mit kreuzförmig ausgestreckten Armen. Um den Hals trägt das Idol einen Anhänger, der ebenfalls eine Kreuzform aufweist. Diese Gestaltung des Idols mit »Kreuz im Kreuz« zeigt bereits in sehr früher Zeit eine erstaunliche Reflexivität zum Thema.

Abbildung 13

Innerhalb religiöser Systeme für Weltdeutung und rituelle Praxis nehmen kosmologische Elemente einen besonderen Rang ein. Zur Darstellung der Einheit des gesamten Kosmos schien in vielen Kulturen insbesondere das Kreuz als Symbol der Zentralität aufgrund seiner visuellen Gestalt geeignet. Das hängt auch mit der elementaren Veranschaulichung der Vierzahl im Kreuzzeichen zusammen. Die oben angesprochene Kombination von Kreuz und Lebensbaum zur Akzen­ tuierung des Lebensgedankens im Kreuz ist gleichfalls außer- und vorchristlich breit anzutreffen.29 Ein kosmischer Baum in Kreuzform ist auf Schamanentrommeln nordskandinavischer Samen erkennbar. Ein Kreuz als Symbol kosmischer Einheit findet 29 Vgl. die zahlreichen Abbildungen bei Ziehr, Das Kreuz a. a. O. 1997. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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sich seine Vorläufer auch in vielen altorientalischen Kulturen, so auf babylonischen Rollsiegeln und auf Säulen assyrischer Könige. Ägyptische Grabreliefs des Alten Reiches zeigen den Pharao, der zum Zeichen seiner lebensspendenden Kraft ein Schlingen- oder Schleifenkreuz, in der Hand hält. Dieses Anch-Zeichen galt als Gegensymbol zum Tod. Der Lebensbaum repräsentiert in seiner Oben-Unten-Polarität die Achse der Welt und seine kosmische Mitte. Die aztekische Gottheit Quetzalcoatl wird als Herrin des Kosmos dargestellt, indem sie im Mittelpunkt der in Kreuzgestalt gezeichneten Himmelgegenden steht, jede davon ist um einen Weltenbaum gruppiert. Von besonderer Brisanz für christliche Anschauungen vom Kreuz ist die Frage, ob das Kreuzzeichen auch im Judentum vor oder zur Zeit des Neuen Testaments bekannt und gebräuchlich war. Dass das Kreuz innerhalb der Religionsgeschichte auch im Judentum vorkam, kann man aus einschlägiger historischer Forschung entnehmen, die sich stellenweise wie ein archäologischer Krimi liest. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts machten US-amerikanische Archäologen einen spektakulären Fund. Sie entdeckten zwei Kilometer südlich von Jerusalem im Ort Talpioth eine jüdische Grabkammer und legten dort u. a. Ossuarien mit Jesus-Inschriften und solche mit einem Kreuz-Zeichen auf allen vier Seiten des Behältnisses frei. Die Diskussion unter Experten ging lange darum, ob damit die historisch ältesten Zeugnisse einer »theologia crucis« lange vor Paulus greifbar seien und ob das Kreuzzeichen gar aus dem Judentum stamme.30 Der deutsche Neutestamentler, christlicher Archäologe und Kenner christlicher Symbolbildungen E. Dinkler (1909–1981) wertete die Funde zusammen mit vielen anderen wie Münzfunden, Grabinschriften, Verzierungen an Möbeln u. a. wenig später aus.31

Abbildung 14

Sein erstaunliches Resultat brachte er auf zwei Thesen: 1. »Die Jesus-Inschriften auf den beiden Talpioth-Ossuarien haben keinen Bezug auf Jesus von Nazareth, sondern bezeichnen die Bestatteten – damit völlig in den jüdischen Begräbnisbrauch sich einfügend. Sobald aber diese Jesus-Inschriften 30 E. L. Sukenik, The earliest records of Christianity, in: AJA 51 (1947), 351 ff. 31 E. Dinkler, Zur Geschichte des Kreuzsymbols, in: ZThK 48 (1951), 148–172. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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ihren von sukenik vermuteten Bezug auf Jesus von Nazareth verlieren, ist auch einer ›christlichen‹ Interpretation der in Kohle aufgetragenen Kreuzzeichen jeder Boden entzogen …«.32 2. Zumindest bestimmte Gruppierungen im Judentum »kannten und verwendeten das Kreuz­zeichen als Ausdruck eines Bekenntnisses zum Eigentum Jahwes und als eschatologisches Schutzzeichen«.33 Neben der religionsgeschichtlichen und der kosmologischen Dimension nimmt das Symbol des Kreuzes auch anthropologische Momente elementarer Körpersymbolik auf. In evolutionsbiologischer Hinsicht spielt für die Entwicklung des homo sapiens innerhalb der Primaten der aufgerichtete Körper und der dadurch ermöglichte aufrechte Gang eine wesentliche Rolle. Eng verknüpft damit ist das Vermögen des Menschen, mit seinen Gliedmaßen eine Bewegung auszuführen und die Position eines Kreuzes einzunehmen. Die weit in den Raum ausgreifende Armhaltung eröffnet dem Menschen eine spezifische Leiberfahrung, die auch für die Wahrnehmung des Kreuzessymbols von großer Bedeutung ist. Gestalttherapeutische Erschließungen dieser Körperbewegung verfolgt unbeschadet christlicher Symboldeutung zunächst eine andere Perspektive, fragt nach elementaren mit dem Verhalten gegebenen Erfahrungsqualitäten. In dieser Richtung kann man zwei Momente herausheben, die mit der Polarität der Kreuzgestalt zu tun haben: Zum einen eine »Erdung« im festen Stand, zum anderen mit dem Ausgreifen die Bewegungsrichtung »über sich hinaus«, die auch metaphorisch für Transzendenz konnotiert ist. Der Renaissance-Künstler und Anatom Michelangelo Buonarotti (1475–1564) hat in seiner auf antike Vorbilder zurückgehenden berühmten Proportionsskizze des »vitruvianischen Menschen«, die mit ausgestreckten Armen und Beinen kreuzförmige Grundhaltung des menschlichen Körpers in prägnanter Weise gezeichnet. Im 20.  Jahrhundert ist ein Freund Sigmund Freuds, der Arzt und Psychoanalytiker Georg Grodekk (1866–1934) der Symbolik des menschlichen Körpers im psychosomatischen Zusammenhang weiter nachgegangen.34 In mehreren Aufsätzen, anknüpfend an klinischen Erfahrungen, fragte er dabei auch speziell nach dem anthropologischen Grundsinn der Kreuz-Form.35 Aus seiner eigenen gänzlich a-religiösen Perspektive machte er eine für das Verständnis der Kreuzessymbolik interessante Beobachtung: »Fragt man jemanden, was er, wenn er die christliche Anschauung ausschalte, in der Kreuzform sähe, so erhält man fast regelmäßig die Antwort: Es ist ein Mensch mit ausgebreiteten Armen, und wenn man weiter fragt, 32 Dinkler, a. a. O. 169. 33 Dinkler, a. a. O. 170; vgl. ferner den Katalog jüdischer Kreuzeszeichen bei ders., Signum Crucis, Tübingen 1967, 49–52. 34 G. Groddeck, Der Mensch als Symbol, Wien 1933. 35 G. Groddeck, Das Kreuz als Symbol (1926) in. Ders., Psychoanalytische Schriften, Frankfurt/M., 1978, 92–96; vgl. dazu die Untersuchung Sebastian Bialas, Kreuzigungsdarstellungen als Anschauungsund Identifikationsobjekte, Dipl.-Arbeit Kathol. Theologie, Ruhr-Universität Bochum 2003. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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wozu der Mensch die Arme ausbreite, so lautet die Antwort: um zu umarmen. Das also, der Mensch, der umarmen will, wäre eine Deutung des Symbols Kreuz.«36

Abbildung 15

Soweit wiederum ausschnitthaft ein Gang durch religions- und kulturgeschichtliche Symbolbildungen und Symboldeutungen zur Kreuzesgestalt.

5.3.2 Kosmologische und anthropologische Elemente in christlicher Symbolbildung Überblickt man das bisher skizzierte Vorkommen der Kreuzessymbolik im Christentum und in außerchristlichen Religionen in einer religionsgeschichtlichen Überschau, so ist einerseits unverkennbar, dass die junge christliche Theologie von Anfang an bemüht war, das Einzigartige und Exklusive des Kreuzes Christi zur 36 Groddek, Das Kreuz als Symbol, a. a. O. 95. Diese Hypothese ist interessanterweise der Sache nach schon bei M. Luther zu finden: »Ita expansis manibus pendet in cruce quasi nos verbis … vocaret, venite ad me omnes« [»So hängt er mit ausgestreckten Händen am Kreuz, gleichsam als riefe er uns mit den Worten: Kommet her zu mir alle.«] (WA 48,169,6f). Bei Groddeck findet sich auch der religionsgeschichtlich interessante Verweis darauf, dass bereits in der antiken Anatomie die Bezeichnung »os sacrum« (wörtlich übersetzt »Heiliger Knochen«), für das »Kreuzbein«, den letzte Lendenwirbel bekannt war. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Geltung zu bringen. Gerade mit Blick auf die rettende Bedeutung des Todes Jesu. Aber es gilt andererseits zugleich Kontinuität. Denn viele der im ersten Durchgang angesprochenen Darstellungen und viele der angeführten Kommentare von Theologen aus der Alten Kirche nehmen aus apologetischem Interesse implizit und oftmals explizit jüdische und außerchristliche Symboldeutungen für das Kreuz in Anspruch. »In der Alten Kirche treffen wir … auf eine patristische Kreuzesdeutung, die gerade bemüht ist, Verbindungen zwischen dem Kreuz Jesu und einem vorchristlichen Kreuzesverständnis, insbesondere dem Chi Platons und dem Tav des Alten Testaments herauszuarbeiten.«37 Dabei spielt insbesondere die kosmologische Interpretationslinie eine wichtige Rolle. So wird bei Tertullian Golgatha als Mitte des Kosmos verstanden; das KreuzZeichen kann bei ihm so gedeutet werden, weil er auf eine kosmologische Potenz zurückgreifen kann.38 Und das taten auch andere Theologen der Alten Kirche: »In Auseinandersetzung mit der Gnosis betont Irenäus von Lyon, daß die Welt nicht Produkt eines Zwischenwesens und das Ergebnis eines Abfallsprozesses ist, sondern vom Worte Gottes selbst in der Form des Kreuzes als ihrer inneren Mitte geprägt und durchdrungen ist, und durch das Kreuz wieder zu Gott zurückgebracht wird.«39 Auf dieser Linie liegt auch seine Schrift »Erweis der apostolischen Verkündigung«, in der es heißt: »Der Gekreuzigte ist selbst das Wort des allmächtigen Gottes, welches in unsichtbarer Gegenwart uns alle durchdringt, und deshalb umfaßt es alle Welt, ihre Breite und Lange, ihre Hohe und Tiefe; denn durch das Wort Gottes werden alle Dinge in Ordnung geleitet, und Gottes Sohn ist in ihnen gekreuzigt, indem er in der Form des Kreuzes allem aufgeprägt ist.«40 Weitere Belege ließen sich unschwer beibringen. Wie das Kreuz als Symbol des Lebensbaums vor- und außerchristliche Traditionen der Symbolbildung aufnimmt, ist breiter erforscht. Erstmals taucht dieser Gedanke bei Ignatius auf, der von den »Ästen des Kreuzesstammes« spricht.41 Diese Symboldeutung ist dann bei Justinius und Irenäus breiter ausgebaut. »Gottes gesamtes Wollen ist für Irenaus … der Heilsplan des Kreuzes (Haer. 5,17,4), und in seinem Werk hat die Theologie des Kreuzes … eine umfassende Ausweitung erfahren. Viele Momente der späteren Tradition erscheinen bei ihm zum ersten Mal. Er unterstreicht den Gegensatz zwischen dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis (epid. 34) und kommt viermal auf diesen Gedanken zurück.«42 Auch auf die anthropologische Bedeutungsebene des Kreuzessymbol wurde bereits in der Alten Kirche zur Explikation des Kreuzes Christi abgehoben, wie eine Aussage bei Justinian belegt: »Die menschliche Körpergestalt unterscheidet sich in 37 P. Biehl, Symbole geben zu lernen II. Zum Beispiel: Brot, Wasser und Kreuz. Beiträge zur Symbolund Sakramentendidaktik, Neukirchen-Vluyn 1993, 45. 38 Tertullian, Carmen adversus Marcionem l.2,196, zit. nach V. Pfnür, a. a. O. 39 Irenäus, dem. 34, zit. nach V. Pfnür, a. a. O. 40 Irenäus, Erweis der apostolischen Verkündigung 1,3, zit. nach E. Dinkler, Signum Crucis, a. a. O. 40. 41 Ignatius, Ad Trall 11,2, zit. nach Bibliothek der Kirchenväter. 42 Ch. Murray Art. Kreuz III, TRE Bd. 19, 727. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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nichts anderem von der Gestalt vernunftloser Tiere als dadurch, daß sie aufrecht ist, die Hände ausspannen kann … Ja, auch die bei euch Heiden üblichen Sinnbilder bekunden die Macht dieses Kreuzeszeichens: ich meine die Feldzeichen und die Tropaia, mit welchen ihr überall aufmarschiert.«43 Eine geniale Kombination aller Elemente der Kreuzessymbolik, der christologischen mit der kosmologischen und der anthropologischen Bedeutungsebene, hat Gregor von Nyssa symboltheoretisch formuliert, indem er die Gestalt des Kreuzes in unterschiedlichen Richtungen ausdeutete. Das im ersten Teil nur ausschnittweise wiedergegebene Zitat lautet im Zusammenhang und mit einer gestalt-didaktischen Pointe folgendermaßen: »Ob das Kreuz einen tieferen Sinn enthält, werden wohl alle wissen, die sich mehr auf die Deutung der Geheimnisse verstehen. Folgendes aber erfahren wir durch die Überlieferung. Allen Handlungen und Reden, die uns durch das Evangelium berichtet werden, liegt eine höhere und göttliche Absicht zugrunde, und es findet sich nichts, was nicht außer den menschlichen Zügen auch den göttlichen Charakter trüge. Auch wenn die Reden und Handlungen rein menschliches Gepräge aufzuweisen scheinen, kann der verborgene Sinn die göttliche Grundlage entdecken. So verlangt die Folgerichtigkeit, auch hier die eine Seite ins Auge zu fassen, die andere aber nicht zu übersehen, sondern beim Tod das Menschliche zu betrachten, in der Art und Weise desselben aber die göttliche Bedeutung, die noch klarer hervortritt, mit allem Ernst in Erwägung zu ziehen … So will uns das Kreuz durch seine Gestalt, die nach vier Seiten auseinandergeht, indem von seinem Mittelpunkt, durch den es zusammengehalten wird, deutlich vier Balken vorspringen, die Lehre geben, daß er, der da im Augenblick seines nach dem göttlichen Heilsplan erlittenen Todes daran ausgestreckt war, der ist, welcher das Universum in sich eint und harmonisch verbindet, indem er die verschiedenartigen Dinge zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfaßt. Denn bei den Dingen blicken wir entweder nach oben oder nach unten, oder unser Forschen bezieht sich auf die beiden Seiten. Magst du nun an das denken, was am Himmel oder was unter der Erde oder was zu beiden Seiten ist, überall tritt deinem betrachtenden Blick die Gottheit entgegen, die allein an den Dingen, und zwar an jedem ihrer Teile, erkannt wird und die alle in ihrem Sein erhält … Da nun die ganze Schöpfung auf ihn hinsieht und um ihn ist und durch ihn ihre Einheit und Geschlossenheit erhält, so sollten wir nicht allein durch das Ohr zur rechten Erkenntnis Gottes gebracht werden, sondern auch das Auge sollte ein Lehrer der höheren Wahrheiten werden. Auf das Kreuz bezugnehmend, erteilt auch der große Paulus der Gemeinde von Ephesus einen tieferen Unterricht, indem er sie durch seine Belehrung befähigen will, zu verstehen, was die Tiefe und die Höhe, die Breite und die Länge sei. Denn jeden Kreuzesbalken führt er mit einem besonderen Namen vor Augen: den nach oben gehenden als Tiefe, die Seitenbalken aber als Breite und Länge.« 44 43 Justin, apologie zit. nach H. Rahner, Griechische Mythen in christlicher Bedeutung, Zürich 1945, 85. 44 Gregor von Nyssa, Große Katechese 32,4 f. Übers. nach: Texte der Kirchenväter. Hg.v. Alfons Heilmann/Heinrich Kraft. Bd 2, München 1963, 215–216, zit. nach Pfnür. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Die apologetisch-missionarische Grundtendenz der Alten Kirche nahmen auch mittelalterliche Theologen in ihrem Bemühen auf, die christliche Kreuzesbotschaft in bis dato unchristlichen Kulturen zu propagieren. In diese Bemühungen ordnetet sich z. B. auch der oben genannte Fuldaer Mönch Rabanus Maurus ein. Seine wunderbare Sammlung der Figurengedichte ›De laudibus Sanctae Crucis‹ diente auch der Missionierung im fränkischen Reich. Christus am Kreuz trat als neue Imago an die Stelle des alten Weltenbaums. Damit wurde im 9. Jahrhundert das Kreuz, das seinerseits das Heil der Welt getragen hatte, der unbestrittene Nachfolger der germanischen Vorstellung des Weltenbaums »Irminsul«. Zum Thema gehört neben der argumentativen und neben der poetischen Ausdeutung des Kreuzes Christi im Rückgriff auf vor- bzw. außerchristliche Vorstellungskomplexe auch der Gebrauch des Kreuzes zur Bannung oder Abwehr von Dämonen. Solche magische Wirkungsabsicht im Umgang mit dem Kreuz ist durch die gesamte Geschichte der christlichen Kreuzessymbolik – einschließlich zumindest des frühneuzeitlichen Protestantismus – zu belegen. Bischof Kyrill von Jerusalem lehrte: »Das Kreuz ist das Kennzeichen der Gläubigen und der Schrecken der Dämonen.« Auch das Tragen des Kreuzzeichens auf der Stirn war Erkennungsmarke und fungierte gleichzeitig als Talisman gegen Dämonen. Für die christliche Antike galt mit Selbstverständlichkeit: »den allgegenwärtigen Dämonen setzte man schon früh das Kreuzzeichen (Tertullian Cor III, 4) und gelegentlich wohl auch Weihwasser … entgegen.«45 Und noch in der frühen Neuzeit, etwa bei M. Luther ist im Gebrauch des KreuzSchlagens solche Tendenz nachweisbar. Empfahl er doch im Umgang mit den als widerchristlich geltenden Juden in seiner späten außerordentlich judenfeindlichen Schrift ›Von den Juden und ihren Lügen‹: »Darum, wo du einen rechten Juden siehst, magst du mit gutem Gewissen ein Kreuz für dich schlagen und frei und sicher sprechen: Da geht ein leibhaftiger Teufel.«46 Diese Beispiele und Belege mögen genügen, um deutlich zu machen, wie intensiv sich christliche Theologen bei der Interpretation des Kreuzes Christi und insbesondere bei der Symboldeutung des Kreuzes mit vor- und außerchristlichen Symbolbeständen befasst haben. Sie knüpften an oftmals sehr bekannte Deutungen an und vollzogen Umdeutungen oder Überbietungen anderer Auslegungen des Kreuzes. Das geschah nicht nur, um sich mit der Botschaft des Heils exklusiv im Kreuz an Kontexten besser verständlich machen zu können, sondern auch zur weiteren theologischen Profilierung dieser Botschaft in kosmologischer und anthropologischer Hinsicht.

45 Andreas Merkt, Art. Volksfrömmigkeit IV, TRE Bd. 35, 223. 46 M. Luther 1543, WA 53. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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5.4 Bilanz Mit den beiden historischen Durchgängen habe ich versucht, an Beispielen zu ausgewählten Epochen den Zusammenhang von Gestalt und Bedeutung der Kreuzessymbolik weiter zu klären. Es gibt reiches Material für die These, dass in unterschiedlichen Epochen und religionskulturellen Kontexten ästhetische und künstlerische Formgebungen des Symbols jeweils integrale Elemente der theologischen Interpretationen des Kreuzes Christi bildeten. Die Genese des Kreuz-Zeichens als christliches Grundsymbol wäre demnach auch historisch zu eng verstanden, würde man sie einfach als Festhalten an der Erinnerung an die Kreuzigung Jesu auf Golgatha nehmen. Das Kreuz wurde nicht einfach und nicht nur als Merkzeichen einer der vorgelagerten narrativen Tradition der Passionsgeschichten bzw. verbaler Kreuzestheologie angesehen. Vielmehr entwickelten sich neben den verbalen theologischen Deutungen und in Verbindung mit jenen visuelle Repräsentanzen und deren künstlerischen Ausgestaltungen samt zusätzlicher Ausdeutungen. So ist vom Kreuz in dreifacher Hinsicht zu sprechen: –– als Kette visueller Deutungsgestalten des Kreuzessymbols –– als Traditionsbildungen verbaler Kommentare zum Kreuz –– als Aufschichtungen der Rede über visuelle Gestalten des Kreuzes Auf allen drei Ebenen spielte die Bezugnahme auf religions-kulturelle Symbolbildungen vor und außerhalb der christlichen Kirchen eine nachweisbar wichtige Rolle. Im Einzelfall nahm man dabei auch Umwege zur Bereicherung der Kreuzestheologie durch Bezugnahme auf Zeichen aus anderen kulturellen Zusammenhängen. Das geschah in der Alten Kirche insbesondere dadurch, dass griechische und lateinische Kirchenväter durch kosmologische und philosophische Deutungsmuster des Kreuzes aus der griechischen Antike zur Entfaltung ihrer Christologie nutzten, ebenso, wie man Aussagen aus dem Alten Testament auf das Kreuz Christi hin las. Bemerkenswert ist dabei insbesondere, dass im Einzelfall sogar eine theologische Reflexion über den Sinn der visuellen Gestalt ausgebildet wurde. Hier ging, wie ausführlich zitiert, Gregor von Nyssa im Rahmen seiner Dogmatik am weitesten. Im theologischen Programm der Reformation wird, wie oben an einzelnen Momenten aufgezeigt, aus religionskritischer Perspektive der Bildgebrauch insgesamt und speziell der Umgang mit symbolischen Darstellungen des Kreuzes prekär. Gleichzeitig wird aber an bestimmten Stationen die Bildsymbolik des Kreuzes neu genutzt. Da meine historischen Skizzen nur Elemente altkirchlicher und reformatorischer Symbolproduktion und -deutung berücksichtigen, also im 16. Jahrhundert abbrechen, liegt die Frage nahe, ob in der Christentumsgeschichte und auch in der Kunstgeschichte der jüngeren Epochen qualitativ neue Entwicklungen zu beobachten wären. Wenn das auch hier nicht mehr im Einzelnen untersucht wird, kann man sicherlich festhalten, dass es keine einlinige Weiterentwicklung gibt, auch keine einlinige negative Verfallslinie. Mit der Herausbildung einer modernen autonomen © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Kunst, die sich aus christlich-kirchlichen Lebenszusammenhängen emanzipiert, ist das Thema der ästhetischen Produktion und Reflexion zum Kreuz keineswegs erledigt. Das Gegenteil ist der Fall, wie man eindringlich gerade an Künstlern des 20. Jahrhunderts ablesen kann.47 Gleichwohl beförderte das Auseinandertreten von Religion und Kunst in unterschiedlichen gesellschaftlichen Segmenten seit dem 19. Jahrhundert unterschiedliche Stränge auch der weiteren Symbolisierungen des Kreuzes. Erst auf dem Boden einer industriellen Massenproduktion standardisierter Kunstobjekte im Alltagsgebrauch ist auch das Kreuz der Pop-Kultur und dem religiösen Kitsch ausgeliefert. Und vielleicht muss man die eher fundamentalisierend »realistische« Bestrebung vieler Jesus-Filme48 unserer Zeit als Gegenbewegung gegen eine immer komplexere und kompliziertere theologische und kunstästhetische Deutungsarbeit zur Kreuzessymbolik auffassen. Aber ich halte es keineswegs für ausgemacht, dass das Medium Film eine Verfallsgeschichte für die Symbolik des Kreuzes mit sich bringt: »In den filmischen Darstellungen wurde das Kreuz Jesu immer wieder zu dem, was es nach Paulus von Anfang an ist: ein Ärgernis.«49 Mit den historischen Skizzen konnte das Wechselspiel zwischen Kreuz-Symbol und religiösen Bedeutungszuschreibungen transparent gemacht werden. Im nächsten Kapitel wird komplementär dazu die Reflexion auf den Gestalt-Begriff wieder aufgenommen. Im Sinne einer weiteren Grundlegung ist zu fragen, wie der in der Theologie mannigfach verwendete Gestalt-Begriff näher bestimmt ist. Es wird sich zeigen, dass diese Reflexion in all ihren Spielarten nie ohne christologische Verankerung auskommt.

47 Vgl. die lebenslange Auseinandersetzung mit dem Sujet der Kreuzesdarstellungen etwa bei J. Beuys. 48 Vgl. W. Schneider-Quindeau, Zwischen Kult, Opfer und Hingabe – die Passion Jesu im Film, in: Kirchenleitung der EKHN (Hg.), Opfer? Deutungen des Todes Jesu, Darmstadt 2012, 61. 49 Ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gott als Gestalt denken. Facetten eines theologischen Gestalt-Begriffs

6.1 Ansatzpunkte Nachdem der Gestalt-Ansatz anthropologisch in seinen theoretischen und forschungsgeschichtlichen Zusammenhängen beschrieben worden ist und ein Durchgang durch die Kreuzessymbolik in der Christentums- und Religionsgeschichte mit Blick auf Gestalt versucht wurde, wechseln wir in diesem Kapitel die Perspektive, indem nun untersucht werden soll, inwieweit Gestalt auch ein Thema theologischer Reflexion ist. Nur auf den ersten Blick überraschen kann dabei das generelle Resultat, dass in dieser Thematisierung beinahe alles auf das Kreuz zuläuft. Der Gestaltbegriff ist heute innerhalb der protestantischen Theologie ubiquitär, vor allem in der abgeleiteten Fassung als »Gestaltung«, auch wenn weder TRE noch RGG bis in die neuesten Auflagen einen entsprechenden Artikel aufgenommen haben. 1999 veröffentlichte eine EKD-Kommission unter dem Vorsitz des seinerzeitigen Bischofs Wolfgang Huber einen viel beachteten Text unter dem Titel »Gestaltung und Kritik«1. Als Zwischenergebnis eines längeren Konsultationsprozesses wurde unter der Fragerichtung nach der »Sozial-Gestalt« des Protestantismus dabei insbesondere die kulturelle Herausforderung aufgenommen, innerhalb einer nach-christlichen Gesellschaft protestantische Positionen neu zu bestimmen. Hier bemühte man sich in gesamttheologischer Verantwortung um kritisch-konstruktive Erschließung des Religionswandels im Prozess moderner Kultur und konzentrierte sich gleichwohl auf die engere Perspektive überkommener kirchlich-protestantischer Gestaltungstraditionen. Diese Diskussionslinie ist in neueren Beiträgen zur »Sozial-Gestalt« von Kirche aufgegriffen worden.2 Die weltliche, soziale Seite von Kirche wird dabei als theologisches Problem angegangen. In aller Regel wird gleichwohl kein theologisch fundierter Gestaltbegriff benutzt, sondern von Gestalt im Sinne der öffentlichen Präsenz und Erscheinungsformen der Kirche gehandelt. Bei näherem Hinsehen rangiert allerdings nicht nur der abgeleitete Terminus Gestaltung, sondern auch der Gestalt-Begriff in der zeitgenössischen Dogmatik unter den viel gebrauchten Termini. W. Härle benutzt ihn in seiner Dogmatik zur Beschreibung zentraler theo-logischer und christologischer Einsichten. Was theologisch »Offenbarung« genannt werden soll, kann er mithilfe des Begriffs prägnant 1

Kirchenamt der EKD/Geschäftsstelle der VEF (Hg.), Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert, Hannover/Frankfurt a. M. 1999. 2 Vgl. etwa R. Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin 1997, neuerdings H.-M. Rieger, Gestalt und Mitte: Systematisch-theologische Reflexionen zur Positionierung der Kirche in der Moderne, in: M. Reppenhagen (Hg.), Kirche zwischen postmoderner Kultur und Evangelium, Neukirchen-Vluyn 2010, 5–38. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gott als Gestalt denken

umschreiben: »Unter ›Gestalt‹ verstehe ich in diesem Zusammenhang das Ereignis, die Person, den Gegenstand etc., an denen oder durch die die Selbster­schließung Gottes geschieht. Den Begriff ›Gestalt‹ verwende ich an Stelle der sonst möglichen oder gebräuchlichen Begriffe ›Medium‹, ›Träger‹, ›situativer Anlaß‹ oder ›Situation‹, weil in ihm der für den christlichen Glauben wesentliche Bezug zu einer menschlichen Person (›menschliche Gestalt‹) am deutlichsten zum Ausdruck kommt.«3 Durchgängig wird hier der Gestalt-Begriff im Sinne der bekannten Polarität »äußere Gestalt versus innerer Gehalt«, also der Unterscheidung und Zuordnung von Inhalt und Form benutzt. Dies ist theologisch akzentuiert, wo auf »irdische«, »sichtbare« bzw. »anschauliche« Gestalt im Gegenüber zur Transzendenz abgehoben wird, etwa im Zusammenhang der Zwei-Naturenlehre Christi.4 Der Begriff der Gestalt hat auch in der jüngeren Praktischen Theologie Konjunktur, allerdings mit anderen Akzenten. Insbesondere in der Seelsorgetheorie wurden Impulse der Gestalt-Theorie aufgenommen und in Richtung auf eine »Gestalt-Seelsorge« hin ausformuliert.5 Einige Bemühungen gibt es auch in der Predigtlehre6 und in der Religionspädagogik7. Die praktisch-theologischen Bemühungen zeigen mehr oder weniger deutlich einen starken Begriff von »Gestalt«. Orientierung an einem starken Gestaltbegriff zeigt auch die neuerdings von K. Raschzock bislang eher skizzenhaft vorgetragene Programmatik einer »Kunstlehre der Gestaltung des Glaubens« bzw. »Praktische Theologie als Gestaltlehre des christlichen Glaubens«.8 Sie will durch intensive Bezugnahme auf Kunsttheorie und künstlerische Praxis die ästhetische Dimension der Praktischen Theologie neu ins Spiel bringen und verfolgt ausdrücklich das Interesse »des sinnlich Wahrnehmbaren des christlichen Glaubens  … zu formulieren«.9 Das hat der Autor insbesondere im Blick 3 W. Härle, Dogmatik, Berlin ²2000, 87. 4 Ders., a. a. O. 101; 345, 402; 495 u. ö. 5 In der Poimenik zuerst im US-amerikanischen Diskurs, vgl T.C. Oden, The Structure of Awareness, 1969; W. A. Knights, A Gestalt Approach in a Clinical Training Group, in: Journal of Pastoral Care 24 (1970), 193–198; im deutschsprachigen Diskurs dann u. a. bei K. H. Ladenhauf, Integrative Therapie und Gestalttherapie in der Seelsorge, Paderborn 1988; S. Essen, Körpererleben und religiöse Erfahrung, in: WzM 33 (1981), 18 ff.; K. Gastgeber, Gestalt-Gruppenarbeit als Hilfe für die Seelsorge, in: J. Scharfenberg (Hg.), Glaube und Gruppe, Wien/Göttingen 1980, 81 ff.; M. Klessmann, Gestalttherapie in der Klinischen Seelsorgeausbildung, in: WzM 33 (1981), 33 ff.; K. Lückel, Begegnung mit Sterbenden, München 1990, 193–203. 6 R. Bohren, Die Gestalt der Predigt (1954), in: G. Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, 207–231; M. Haustein, Sprachgestalten der Verkündigung, in: Handbuch der Predigt, (Berlin Ost) 1990, 459–496. Gelegentlich wird auf »Sprachgestaltung« Bezug genommen, früh bei E. Lerle, Grundriß der empirischen Homiletik, Berlin 1974, 62, neuerdings bei M. Nicol/A. Deeg, Im Wechselschritts zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2009, 45 ff. 7 Vgl. Chr. Bizer, Die Gesellschaft auf dem Dachboden und von einem biblischen Kobold. Ein religionspädagogischer Versuch zur Gestaltpädagogik, in: JRP 7 (1991), 161–178. 8 Kl. Raschzock, Kunstlehre der Gestaltung des Glaubens, in: G. Lämmlin/St. Scholpp (Hg). Prak­ tische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen 2001, 297–315, Zitat 305. 9 Ebd. 310. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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auf das Christusmotiv in künstlerischen Darstellungen10 bzw. christomorphe Darstellungen11 bearbeitet. Charakteristisch ist dabei, dass diese ästhetisch angereicherte »Gestaltlehre« dezidiert normativ ansetzt, insofern Raschzock sich auf Traditionen lutherischer Theologie beruft und betont: »Der Begriff der Gestalt dient in meiner Praktischen Theologie zur Kennzeichnung der umfassenden Erscheinungsform eines biblisch bezeugten und ge­lebten Glaubens.«12 Undeutlich bleibt hier allerdings bisher, was denn die »Gestalt« des Glaubens in ihren konkreten Erscheinungsformen ausmacht. In aller Regel gilt, dass in der Thematisierung von Gestalt auch in der Praktischen Theologie selten ein spezifisch theologisches Gestaltdenken aufgenommen und entfaltet wird. Das verhält sich etwas anders mit den Überlegungen des verstorbenen Bonner Praktischen Theologen H. Schröers (1931–2002), der in Aufnahme theologischer Monita an Handlungstheorien schon vor Jahren den Vorschlag eingebracht hat, die Disziplin nicht wie üblich am Handlungsbegriff, sondern am Leitfaden des Gestaltbegriffs zu orientieren.13 Nur so sei eine technisch-instrumentelle Engführung der Praktischen Theologie zu umgehen. Für das Programm »Praktische Theologie als theologische Gestaltungslehre«14 hielt Schröer ausdrücklich eine Vergewisserung über die theologischen Voraussetzungen von Praxis-Gestaltung für notwendig. Dazu schlug er eine sympathisch-kritische Rélecture von K. Barths dogmatischer Arbeit vor. Schröer sah über Barths Ansatz hinaus im Gestalt-Begriff größeres Potential und präzisierte gegenüber Barth: »Dabei liegt für mich in dem Begriff Gestaltung ein Moment, das mir bei Barth noch zu kurz kommt, das Moment der Fantasie, der Bildungskraft, der Sehfähigkeit, der Vorausschau.«15 Dem ist zuzustimmen. Was von Schröer an einer Gelegenheitsschrift Barths skizziert wurde16, könnte gleichwohl gerade im Blick auf den Grundansatz der »Kirchlichen Dogmatik« hin weiter ausformuliert werden. Denn bei Barth wurde der Gestalt-Begriff für das theologische Zentrum in Anspruch genommen. Als Grundlage aller Theologie definierte Barth »Wort Gottes« in einer dreifachen Gestalt von Offenbarung, Schrift 10 Raschzock, Bilder der Erniedrigung. Tendenzen im Christusbild der Gegenwart, in: Kirche + Kunst 59.1981, S. 29–39; ders., Erfahrungen mit dem Christusbild. Die Kruzifikationen und Christusköpfe des Wiener Malers Arnulf Rainer, in: H. D. Preuß (Hg.), Erfahrung – Glaube – Theologie. Beiträge zu Bedeutung und Ort religiöser Erfahrung, Stuttgart 1983, 106–123. 11 Raschzock, Christuserfahrung und künstlerische Existenz. Praktisch-theologische Studien zum christomorphen Künstlerselbstbildnis, Frankfurt/M. 1999. 12 Ders., a. a. O. 306. 13 H. Schröer, Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung (1986), in: ders., In der Verantwortung gelebten Glaubens. Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Lebenskunst, Stuttgart 2003, 33–46. 14 Ebd. 40. 15 Ebd. 40. 16 Schröer zieht als Referenztext vor allem Barths Vortrag, »Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung« von 1935 heran, abgedruckt in K. Barth, Theologische Fragen und Ant­ wor­ten, Zürich 1957, 233–256. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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und Verkündigung.17 Unter den Terminus Gestalt wird dabei auch kirchliche Praxis unter der Kategorie der »Verkündigung« gefasst. Ob dies ein angemessen weiter Horizont für das Verständnis von Praxis ist, sei zunächst offen gelassen. Von Schröer bzw. Barth her stellt sich aber im Rahmen meiner Fragestellung dringlich die Frage, was denn die Theologie an originärem Gestalt-Denken einzubringen hat. Wo aber wird der Gestalt-Begriff in dezidiert theologischer Absicht bemüht? Und auf welche theologischen Einsichten läuft das jeweils hinaus? In der Theologie des 20. Jahrhunderts gibt es dazu eine ganze Reihe prominenter Antwortversuche, die im Rahmen von Ethik, Dogmatik, Religionsphilosophie und auch Praktischer Theologie entwickelt worden sind. Es ist für mein Projekt einer Gestalt-Theologie des Kreuzes instruktiv, solche Autoren heran zu ziehen, die in ihrem Werk jeweils eine spezifisch theologische Akzentuierung des Gestalt-Begriffs bzw. des Gestalt-Denkens vorgenommen haben. Dabei ist keine Vollständigkeit angestrebt. Mit den vier hier diskutierten Ansätzen werden gleichwohl wichtige und elementare theologische Problemkreise berührt, wie sich zeigen wird, gerade im Blick auf das Thema »Kreuz«. Die aufgenommen Positionen lassen sich in mancherlei Hinsicht zugleich als kommentierende Gegenpositionen lesen. Zuvor sei ganz knapp das Bedeutungsfeld des Wortes »Gestalt« im religiösen Sprachgebrauch umrissen.

6.2 Zum Sprachgebrauch von Gestalt Das bereits im Mittelhochdeutschen bekannte Wort »Gestalt« wurde und wird in der Theologie seit Langem in einer breiten Bedeutungsvielfalt benutzt.18 Es steht in erster Linie für Sachverhalte wie Form, Art und Weise und Beschaffenheit, in zweiter Linie für die Art und Weise, wie etwas aussieht. Das ist auch im Sprachgebrauch der Theologie erkennbar. So ist für den Begriffsgebrauch von Gestalt in der Theologie lexikalisch auch der Begriff der Form mit zu beachten. Die Unterscheidung von Form und Inhalt geht unmittelbar auf Ästhetik-Theorie des 18. Jahrhunderts zurück, im Hintergrund steht jedoch die alte, philosophische Begrifflichkeit von »forma« bzw. »morphe«.19 Im antiken Formbegriff kommen mehrere Bedeutungslinien zum Tragen: einerseits die Überordnung der gestalteten Form, der Wesensgestalt gegenüber der ungeordneten Materie, andererseits im Platonismus eine Mindergewichtung des Äußeren der Dinge gegenüber ihren Ideen. Letztere war auch in der christlichen Theologie lange Zeit wirksam und prägt bis in unsere Zeit eine Lesart des Begriffspaares »Gestalt – Gehalt«. 17 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I, 1 § 4ff, Zürich; vgl. zum Gestalt-Begriff Barths vgl. E. Jüngel, Karl Barths Lehre von der Taufe, wiederabgedruckt in: E. Jüngel, Barth-Studien, Tübingen 2003, insbes. 275 f. 18 Artikel »Gestalt« in Grimms Wörterbuch (Bd. 5, Sp. 4178 bis 4191). 19 R. Schwinger: Form und Inhalt, in J. Ritter/K. Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2 Basel 1972, S. 975. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Lateinische Texte in mittelalterlicher wie reformatorischer Theologie nutzen den Begriff »species«, so Thomas von Aquin, so die Confessio Augustana in der Abendmahlslehre (CA XX »unter beiderlei Gestalt«; »utraque species«). Hier ist species Äquivalent zum Formbegriff, einem Lehnwort des lateinischen Wortes »forma«. In deutschen Texten aus der Reformationszeit ist die Vielfalt des allgemeinen und nicht spezifisch religiösen Sprachgebrauchs noch deutlich zu erkennen. Luther benutzte den Begriff »Gestalt« in seinen Texten sehr häufig und mit unterschiedlichen Akzenten. In der Predigt zu Lk 14, 16–24 (»Vom großen Abendmahl«) verweist das Wort auf sichtbare Körperlichkeit der kleinen Leute: »damit nun aber die einfachen Christen auch eine Gestalt haben«.20Auch in seiner Bibelübersetzung benutzt Luther das Wort häufig. So wird es in der Josephsgeschichte der Genesis aufgenommen (1Mos 39,6): »Josef war schön von Gestalt.« (Lutherübersetzung 1984). Hier steht im Hebräischen ‫תַאר‬ ֹ ‫ְיֵפה־‬ ‫ ְיִַהי ֹויֵסף‬, in wörtlicher Übersetzung: »Und es war Joseph von schöner Gestalt«. Die bis in die Gegenwart wirksamste Sprachprägung findet sich im Rahmen altund neutestamentlicher Passionstheologie. Luther übersetzte im Gottesknechtslied des Propheten Jesaja (Jes 53,2) den hebräischen Text ‫תַאר לֹו ְֹולא ָה ָדר‬ ֹ ‫ ֹלא־‬mit: »Er hat keine gestalt noch schöne / Wir sahen jn / Aber da war keine Gestalt die vns gefallen hette«. Die wörtliche Übersetzung lautet: »Nicht war Gestalt ihm und nicht Pracht«.21 Ebenfalls prägend für den theologischen Sprachgebrauch wurde die Passage aus dem ChristusHymnus des Philipperbriefs (Phil 2,6), »ejn jglicher sey gesinnet / wir jhesus christus auch war / Welcher / ob er wol in göttlicher gestalt war / hielt ers nicht für einen Raub / Gotte gleich sein«. Hier gibt »Gestalt« das griechische Wort morphe (μορφῇ) wieder dort mit dem theologischen Akzent der Negation von Gestalt. Bei J. Calvin wird der Begriff »forma« an theologisch prominenter Stelle benutzt, nämlich in der Gotteslehre im Zusammenhang der Erläuterungen zum Bilderverbot. Der Genfer Reformator vertritt dort eine ganz rigorose These: »Es ist Sünde, Gott sichtbare Gestalt beizulegen …«22. Mit Gestalt ist hier die »äußere Gestalt« im Sinne der Bilder gemeint. Gottes Wort in der Schrift wird klar den Bildern und Gestalten entgegengesetzt. Soweit eine kurze Skizze zu relevanten biblischen und begriffsgeschichtlichen Kontexten. Ich wende mich nun der Thematisierung von »Gestalt« in klassischen Theologischen Positionen des 20. Jahrhunderts zu.

20 »Damit nun aber die einfachen Christen auch eine Gestalt haben und nicht ganz verachtet sind, haben sie dieses Fest acht Tage lang im Jahr gehalten, wo man dieser einen Gestalt mit einem großen Gepränge durch die Stadt mit Spielen und Musik, damit den Leuten die Augen darüber übergingen, daß sie denken mußten, obwohl der Priesterstand viel herrlicher wäre und größer vor Gott, so hätten sie doch auch etwas, womit man sich rühmen könne.« 21 Ich verdanke diese Hinweise Dr. J.F. Diehl, Frankfurt. 22 Calvin Institutio Bilderverbot I, 11, 1–2. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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6.3 Dietrich Bonhoeffer: Gestalt und Gleich-Gestaltung Eine Sichtung von theologischen Zugängen zum Gestalt-Begriff muss bei Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) einsetzen, da er im 20. Jahrhundert als Erster den GestaltBegriff theologisch profiliert hat. Dies kann man in mehreren Werkteilen erkennen, in denen er eine gestalt-theologische Grundposition konsistent entwickelte. Dass er vor und während seines politischen Wirkens im Widerstand gewichtige und eigenständige Beiträge zur Systematischen Theologie, insbesondere zu Ethik und Ekklesiologie geliefert hat, ist in der neueren Bonhoeffer-Forschung zugleich mit der Aufarbeitung einer z. T. schwierigen Quellenlage gründlicher herausgearbeitet worden.23 Erschwerend für den Zugang bleibt, dass Bonhoeffers Theologie je nach theologischer und politischer Position und Profilierung der Rezipienten sehr unterschiedliche und z. T. divergierende Deutungen erfahren hat. Das kann hier nicht weiter verfolgt werden.

6.3.1 Dogmatische Topoi Ekklesiologie Bereits in der Berliner Vorlesung vom Sommer 1932 zum »Wesen der Kirche«24 entfaltet Bonhoeffer ekklesiologische Positionen unter der Überschrift »Die Gestalt der Kirche«. Dabei gilt: »Kirche soll als Offenbarungsgestalt Gottes dargestellt werden.«25 Sie geht nicht auf eine Stiftung des irdischen Jesus von Nazareth zurück, sondern ist konstituiert durch das Wort, von Christus, begründet in Person und Werk Jesu Christi, was Bonhoeffer mit den vier Begriffen Stellvertretung, Gesetzeserfüllung, Kreuz und Auferstehung näher beleuchtet. Der Kirche kommt eine Einheitsstruktur zu, welche ebenfalls christologisch (als Leib Christi) begründet ist. Bonhoeffer betont schon früh (und nicht erst im Entwurf aus der Haft zur re­li­ gions­losen Interpretation biblischer Begriffe) den Grundansatz einer weltbe­zo­genen Ekklesiologie. Kirche ist nicht nur im Kontext von Welt situiert, sondern »ist selber ein Stück Welt«26, wird weltlich gedacht eben nicht erst in ihrem Auftrag, sondern bereits in ihrer Grundlegung, in der Weltwerdung Gottes. Inkarnation zeitigt die »weltgewordene Gestalt der Offenbarung«27. Zur Gestalthaftigkeit von Kirche gehört dann aber auch ihre Widersprüchlichkeit als »Gemeinschaft der Heiligen« in irdischweltlicher Begrenztheit. »Sancta ist das Prädikat der geglaubten Kirche. Als die Unreinen sind wir communio sanctorum. Unsere konkrete Kirche in der armseligen, ärgerlichen Gestalt der altpreußischen Union ist die Verwirklichung der wahren 23 Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW), 17 Bände und 2 Ergänzungsbände; hrsg. von Eberhard Bethge u. a.; Gütersloh 1986–1999. 24 Vgl. die Vorlesungsnachschrift in D. Bonhoeffer, Ges. Werke Bd. 5, München 1972, 227 ff. 25 Bonhoeffer, Wesen der Kirche, 240. 26 Des., a. a. O., 270. 27 Des., a. a. O., 240. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Kirche.«28 Im Hintergrund steht dabei die reformatorische Unterscheidung zwischen »sichtbarer« und »unsichtbarer« Kirche.29 Aber theologische Ekklesiologie muß nach Bonhoeffer auch die öffentliche Sozialgestalt reflektieren, nicht nur – wie in der lutherischen Tradition geläufig – eine Konstitutionstheorie von Kirche entwickeln, welche sich tendenziell eher auf den Bereich des Innerlichen beschränkte. Christologie Korrespondierend zum angesprochenen gestalt-theologischen Explikationsrahmen der Ekklesiologie greift Bonhoeffer auch in der wenige Jahre später in Berlin gehaltenen Vorlesung zur Christologie auf den Gestalt-Begriff zurück, um am Thema »Die Gestalt des Christus« theologische Grundeinsichten zu verdeutlichen. Es gilt: Christus ist präsent in dreifacher Gestalt: in Wort, Sakrament und Gemeinde. Gott gewinnt für Menschen in Christus Gestalt, allerdings verhüllt in der Erniedrigung. Eben dieser Christus ist Logos, Wort als anredendes Wort: »Jesus Christus ist verhüllt für uns existierend in der ärgerlichen Gestalt der Verkündigung«.30 Die Sakramente sind dem zugeordnet, wenn gilt, dass die Elemente Brot, Wein, Wasser eine »Leibgestalt« des Wortes werden.31 Der Bogen zurück zur Ekklesiologie wird geschlagen, indem die Gemeinde als die dritte Gestalt Christi angesprochen wird. »Wie Christus als Wort und im Wort, als und im Sakrament gegen­wärtig ist, so ist er auch als und in der Gemeinde gegenwärtig. Die Gegenwart in Wort und Sakrament verhält sich zur Gegen­wart in der Gemeinde wie Realität zur Gestalt. Christus ist die Gemeinde kraft seines pro-meSeins. Die Gemeinde zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft ist seine Gestalt, und zwar die einzige.«32 So begründet die christologisch akzentuierte Gestalt-Theologie die Lehre von der Kirche. Ethik Das Hauptaugenmerk Bonhoeffers theologischer Arbeit lag bekanntlich durchgängig auf der Entfaltung einer eigenständigen theologischen Ethik.33 In den nachgelassenen und von E. Bethge herausgegebenen Texten, Fragmenten und Notizen34 ist deren Grundprinzip gut erkennbar.35 Es verwundert nicht, wenn Bonhoeffer schließlich auch die ethische Fragestellung der theologisch angemessenen Gestaltung menschlichen Lebens streng christologisch von der Gestalt Christi her angeht. Vor allen Prinzipien 28 29 30 31 32 33

Des., a. a. O., 272. Vgl. die Apologie der CA zu Artikel VII. Das Begriffspaar lautet »äußerlich – inwendig«. Bonhoeffer, Christologie (Vorlesungsnachschrift), gs. Werke Bd. 3, München 1966, 181. Ders., a. a. O., 188. Ders., a. a. O., 193. Vgl. dazu Fr.  Barth, Die Wirklichkeit des Guten. Dietrich Bonhoeffers »Ethik« und ihr philosophischer Hintergrund, Tübingen 2011. 34 Auf die editorischen Probleme dieser Texte kann hier nicht näher eingegangen werden. 35 B. Zittik, zusammengestellt und herausgegeben von E. Bettge, München 1966, Abschnitt III, 68 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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menschlichen Handelns geht es dabei um eine »Ethik der Gleichgestaltung«, deren Strukturmoment als eine vornormative Relationiertheit des Menschen zu Christus entfaltet wird. Theologische Ethik, so Bonhoeffer, soll kein neues Programm der Weltgestaltung konzipieren, sondern die Orientierung für die Lebensführung an dem ausrichten, der die Welt überwunden hat. Das wird im Gedanken der »Gleichgestaltung« mit der Gestalt des Gekreuzigten entwickelt. »Gestaltung gibt es nur von ihr aus, und nun wiederum nicht so, daß die Lehre Christi oder die sog. christlichen Prinzipien in direkter Weise auf die Welt angewendet und die Welt nach ihnen gestaltet werden sollte. Gestaltung gibt es vielmehr allein als Hineingezogen­werden in die Gestalt Jesu Christi, als Gleichgestaltung mit der einzigen Gestalt des Menschgewordenen, Gekreuzigten und Auferstandenen.«36 Der Begriff der Gleich-Gestaltung nimmt paulinische Gedanken auf, so den der Metamorphose (2Kor 3,18), so den der Annahme in menschlicher Knechtsgestalt erscheinenden göttlichen Gestalt (Phil 2). »Christus hat diese Menschengestalt angenommen. Er wurde Mensch wie wir. In seiner Menschheit und seiner Niedrig­keit erkennen wir unsere eigene Gestalt wieder. Er ist den Menschen gleich geworden, damit sie ihm gleich seien. In der Menschwerdung Christi empfängt die ganze Menschheit die Würde der Gottebenbildlichkeit zurück. Wer sich jetzt am geringsten Menschen vergreift, vergreift sich an Christus, der Menschengestalt angenommen hat und in sich das Ebenbild Gottes für alles, was Menschenantlitz trägt, wiederherge­stellt hat«.37 Theologische Ethik als Reflexion auf menschliches Leben von dieser christologischen Grundlage aus gedacht zielt zuerst und zuletzt nicht auf aktiv gedachte Erfüllung eines Normenkatalogs, sondern auf die passivisch gedachte Gleich-Gestaltung mit dem Bild Christi. »Der Gestalt Jesu Christi gleichzuwerden, ist nicht ein uns aufgegebenes Ideal der Verwirklichung irgendeiner Christus­ähnlichkeit. Nicht wir machen uns zum Ebenbilde, sondern es ist das Ebenbild Gottes selbst, es ist die Gestalt Christi selbst, die in uns Gestalt gewinnen will (Gal 4,19)«.38

6.3.2 Zum Ansatz des Gestaltbegriffs bei Bonhoeffer Bonhoeffer formuliert mit dem Gestaltbegriff theologisch zentrale Problemstellungen, die in Verbindung mit der Offenbarung Gottes, man kann auch sagen mit der Wahrnehmung Gottes, reflektiert werden müssen. »Gestalt« fokussiert erkenntnistheoretisch die Erkennbarkeit Gottes im menschlichen Denken, christologisch die Bedeutung der Person Jesu Christi als Gottmensch, ekklesiologisch die Basis von Kirche, ethisch den Grund und zugleich den Auftrag menschlicher Existenz in der Welt. Das wird in den 36 Ebd., 85. 37 Bonhoeffer, Nachfolge, 279. 38 Bonhoeffer, Nachfolge, 279. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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herangezogenen Texten durchweg kompakt formuliert, in der dogmatischen Fachsprache der Zeit, oft ohne Fußnoten und Referenzen zu Gesprächspartnern. Dass von Bonhoeffer eigene dogmatische und ethische Positionen in der Regel zugleich mit intensiver kritischer Auseinandersetzung mit philosophischen Theorien entwickelt wurden, ist in neueren Studien eingehend herausgearbeitet worden.39 Für den GestaltBegriff liegt eine solche Studie noch nicht vor. In der neueren theologischen Diskussion zu Bonhoeffer gibt es immerhin eine Reihe von Deutungsversuchen. Chr. Fleischer macht das Spezificum von Bonhoeffers Gestaltansatz (sowohl in Christologie wie in Ekklesiologie) in klarer Unterscheidung zu soziologischer Reflexion von Kirche aus.40 Raschzock betont »Bonhoeffers Prak­ tische Theologie mit der Schriftauslegung als ihrem konstitutiven Akt läßt sich m. E. am angemessensten als eine Gestaltlehre des Glaubens beschreiben. Der Gestaltbegriff macht dabei zum einen die Christusbezogenheit, zum anderen den Wahrnehmungsaspekt deutlich.«41 Oft gewinnt man den Eindruck, Bonhoeffer benutze den Gestalt-Begriff mehr oder weniger äquivalent zum Form-Begriff42, also eher in Anlehnung an die klassische Inhalt-Form-Dualität aus der antiken und mittelalterlichen Philosophie. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass von Bonhoeffer gegen jeden Platonismus die Weltzugewandtheit des Glaubens unter dem Gestaltbegriff hervorgehoben wird. Fragt man genauer nach der Herkunft seines Gestaltbegriffs, so ist mit Chr. Fleischer darauf zu verweisen, dass Bonhoeffer in seinem theologisch-christolo­ gischen Gestalt-Ansatz die altkirchliche Kenosis-Lehre aufgenommen hat. »Es ist unschwer zu erkennen, dass Bonhoeffer hier erneut auf das Muster einer »Kenosis«und Niedrigkeitstheologie zurückgreift. Was es bedeutet, wirklich Mensch zu sein, eröffnet sich darin: ›Während wir unterscheiden zwischen Frommen und Gottlosen, Guten und Bösen, Edlen und Gemeinen, liebt Gott unterschiedslos den wirklichen Menschen.‹«43 Auch dies könnte man so verstehen, dass Bonhoeffer seinen Gestalt-Begriff ganz innertheologisch, ohne jeden Bezug zu anthropologischer Gestalttheorie entwickelt hat. Das trifft allerdings nicht zu. Fragt man nach gestalttheoretischen Wurzeln des 39 Neben der genannten Arbeit von Fr. Barth verweise ich auf Chr. Tietz-Steiding, Bonhoeffers Kritik der verkrümmten Vernunft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, Tübingen 1999, ferner auf die Studie des katholischen Theologen W. Hartmann, Existenzielle Verantwortungsethik: Eine moraltheologische Denkform. Münster 2005. 40 Chr. Fleischer, Die Ethik Dietrich Bonhoeffers, in: theomag Heft 59 http://www.theomag.de/59/ cf17.htm. 41 K. Raschzock, Schriftauslegung bei Dietrich Bonhoeffer. Ein Beitrag zur Praktischen Theologie als Gestaltlehre des Glaubens (Wechsel‐Wirkungen. Traktate zur Praktischen Theologie und ihren Grundlagen 15), Waltrop 1995, 46 f. vgl. ders., Kunstlehre der Gestaltung des Glaubens, in: 297 ff. Dort wird Praktische Theologie insgesamt als »Gestaltlehre des Glaubens« definiert, ebd. 305 f. Vgl. auch P. Zimmerling, Dietrich Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006. 42 »Gestalt des Lebens« 158 ff. 43 Chr. Fleischer, Die Ethik Dietrich Bonhoeffers, a. a. O. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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20. Jahrhunderts, kann zwar aus Quellen zweifelsfrei belegt werden, dass Bonhoeffer bereits im Studium in Berlin Bekanntschaft mit Gestaltspsychologie der »Berliner Schule« (W. Köhler, M. Wertheimer) gemacht hat.44 Ob allerdings Raschzocks Deutung, dass Bonhoeffer »diese Theoriemodelle theologisch umgesprochen und konstruktiv aufgenommen hat«45, trägt, scheint mir fraglich. Denn der für gestaltpsychologisch konstitutive Wahrnehmungsaspekt taucht in der Regel nicht auf. Dass Bonhoeffer den Gestalt-Begriff bewusst und im Sinne eines starken GestaltBegriffs gebraucht, zeigt sich explizit an einer Stelle, nämlich in seiner den materialen Gedanken vorgeschaltete Begriffsklärung in den Fragmenten der Ekklesiologie-Vorlesung: »Gestalt meint Einheit, in endlicher Begrenzung überwundene Vielheit. Gestalt ist niemals nur endlich. Unendlich ist sie dadurch, daß sie die Summe aller Grenzen transzendiert. Es gibt echte und un­reine Gestalten. Die unechten sind synthetisch (cf. synthetische Edelsteine). Unechte haben ihr Charakteristikum darin, daß sie sein sollen, echte darin, daß sie sind. Menschlicher Wille versucht Ganzheiten zu schaffen, zu bestimmten Zwecken … Echte Ge­stalten sind die allem menschlichen Tun und Wollen vorangehen­den Gestalten mit Seinsbezogenheit allein auf Gott, die Mensch­heit als Schöpfungs-, als Versöhnungs-, als Erlösungsgestalt. Wir sehen und denken in Gestalten (apriorische Anschauung, Kate­gorien). Wie weit denken wir echte und wie weit unechte Gestalten? Das ist eine Frage an die Philosophie, nicht weniger aber an die Theologie. Die Urständlichkeit des Denkens ist ein Denken in Gestalten. Den echten Gestalten sind die unechten unseres Den­kens entgegengesetzt. Diese zwingen die echten in den mensch­lichen Logos hinein. Aber die Urgestalt liegt allem menschlichen Logos voraus. Wir vermögen deshalb göttliche Offenbarung nicht zu fassen. Unser Denken ist blind gegenüber den Offenbarungsgestalten.«46

Aber auch in dieser Passage wird deutlich, dass Bonhoeffer einen holistischen Gestaltbegriff im Sinne der Gestalttheorie des frühen 20. Jahrhunderts als theologisches Thema aufgreift. Während aber in der Gestalttheorie der Wahrnehmungsaspekt eine zentrale Rolle spielt (vgl. das vorhergehende Kapitel), ist bei Bonhoeffer eine deutliche Reserve gegenüber dem ästhetischen Denken nicht zu übersehen. Gerade in der Christologie wehrt Bonhoeffer Ästhetik als theologisch fruchtbaren Erschließungsweg ab: »Christus ist Wort und nicht Farbe, Form oder Stein.«47 Und weiter: »So ist Christus

44 Vgl. die Übersicht über die von Bonhoeffer belegten Vorlesungen und Seminare DBW 9, 640 ff. 45 K. Raschzock, Schriftauslegung bei Dietrich Bonhoeffer. Ein Beitrag zur Praktischen Theologie als Gestaltlehre des Glaubens, Waltrop 1995, 35, vgl. ferner Chr. Zimmermann-Wolf, Einander beistehen. Dietrich Bonhoeffers lebensbezogene Theologie für gegenwärtige Klinikseelsorge (SThP 6), Würzburg 1991. 46 Bonhoeffer, Wesen der Kirche, 240. 47 Bonhoeffer, Christologie 184. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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in der Kirche gegenwärtig als das gesprochene Wort, nicht als Musik und nicht als Kunst«.48 Insgesamt liegt bei Bonhoeffer ein christologisch profilierter Gestaltbegriff vor.

6.4 Hans Urs von Balthasar: Gestalt der Herrlichkeit Gottes Ein gänzlich anderer gestalttheologischer Ansatz findet sich beim katholischen Theologen Hans Urs von Balthasar (1905–1988). Er hat im 20. Jahrhundert den Gestalt-Begriff ins Zentrum seiner theologischen Arbeit gestellt, blieb gleichwohl auf katholischer wie protestantischer Seite weitgehend marginalisiert. Das liegt aus der Rückschau gesehen sicher auch an einer eher auf vormoderne ästhetische wie religiöse Erfahrung konzentrierten Konzeption. Der Schweizer Jesuit, Zeitgenosse und Freund Karl Barths, hat das Programm einer theologischen Ästhetik lange vor der Rezeption der Ästhetik in der jüngeren protestantischen Theologie angefasst und dabei sehr ausführlich gestalt-theologische Gedankengänge entwickelt. Von Herkunft Germanist, Philosoph und Theologe, schöpfte er dabei nicht nur aus den Quellen abendländischer Philosophie und Theologie (insbesondere der altkirchlichen Denkansätze und der Scholastik), sondern ebenso aus Dichtung und Weltanschauung der deutschen Klassik und Romantik. Mit seinen monumentalen Werken »Herrlichkeit« (3 Bände) und Theodramatik (5 Bände) blieb er auch in der katholischen Kirche randständig, zumal in Zeiten vor dem Konzil und in Hoch-Zeiten der Befreiungstheologie. Abgesehen von den Ausnahmen K. Barth49 und R. Bohren50 hat ihn auch protestantische Theologie kaum aufzunehmen vermocht.

6.4.1 Von der Schönheit Gottes Theologische Ästhetik sollte nach von Balthasar in der »Herrlichkeit« insgesamt im Rahmen eines sehr weit gespannten Programms entfaltet werden: »Es wird darum gehen, 1. die Gesamtgestalt der in der biblischen Offenbarung liegenden Schönheit und die Gesamtgestalt der weltlichen, theoretischen und angewandten Ästhetik einander begegnen zu lassen. 2. im einzelnen die theo­logischen Modi der menschlichen und weltlichen Existenz unter das ästhetische Mass zu stellen (Paradies und Schönheit, Sündenfall und Schönheit, Erlösung, Rechtfertigung, Heiligung und Schönheit, Kirche und Schönheit, Eschatologie und Schönheit); 3. der Begegnung und Durchdringung menschlich ästhetischen Schaffens und Verhaltens mit der Ars DeiRevelantis in allen Gebieten nachzuspüren.«51 Schon angesichts dieses Programms ist in unserem 48 49 50 51

Bonhoeffer, Christologie 187. K. Barth – H. U. von Balthasar. Eine theologische Zwiesprache, Zürich 2006. R. Bohren, »Daß Gott schön werde.« Praktische Theologie als theologische Ästhetik, 1975. H. U. von Balthasar, Herrlichkeit, Bd. 1 Schau der Gestalt, Einsiedeln 1961, 10. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Zusammenhang selbstverständlich allein eine knappe Skizzierung sowie Auswertung im Blick auf Balthasars Gestaltdenken möglich.52 Im ersten Band der großen theologischen Triologie »Herrlichkeit«, ist der GestaltBegriff vom Untertitel ab (»Schau der Gestalt«) intensiv theologisch aufgenommen. Die Texte bieten allerdings – zumal für protestantische Ohren – in vieler Hinsicht recht ungewöhnliche Perspektiven. Von Balthasar bewegt sich nämlich mit großer Souveränität durch die Traditionen christlichen Denkens in der ganzen Breite konfessioneller Pluralität, von der Alten Kirche ab, durch die mittelalterliche Theologie (Augustinus, Bonaventura, Thomas von Aquin u. v. a.) bis hinein in Fundamentaltheologie und Dogmatik des 20. Jahrhunderts. Er nimmt dabei auch in extensiver und kundiger Weise Bezug auf protestantische Theologen, von Luther über die Theologen der Aufklärung bis Barth. Seine Gedanken sind dabei nicht immer als streng argumentativ entwickelte Theologie vorgetragen, begriffliche Reflexion ist immer wieder kombiniert mit kontemplativer und mystagogischer Theologie, die deutlich eine auf die Liturgie bezogene Art spiritueller Betrachtung enthält. In Abwandlung eines von ihm geprägten Dictums könnte man deshalb sagen: Er hatte keine Scheu, von der »sitzenden zur knienden Theologie«53 zurückzukehren. Seine Denkart ist weder analytisch noch historisch argumentierend. Sie reicht, modern gesprochen zuweilen bis ins Esoterische, der Autor zeigt sich zugleich und andererseits gewandt und gelehrt im souveränen Umgang mit Philosophie und Theologiegeschichte, auch auf protestantischer Seite (Luther, Haman, Herder, Hegel, Schelling, Kierkegaard, Bultmann, Barth). Dies alles ist verbunden mit einer (christlichen) Lesart antiker, scholastischer und moderner Philosophie (von Plato bis Heidegger). Schließlich nimmt Balthasar Literatur und Poesie mit auf in seine Art der »ästhetischen Kontemplation«54. Theologie dieses Typs hat keine Scheu davor, in vor-neuzeitliche metaphysische Spekulation überzuwechseln, versteht sich im Erbe einer »cognitio dei experimentalis, einer experimentellen Erfahrung des Göttlichen«, wie sie etwa von Meister Eckart und Bonaventura verfolgt worden waren. Ziel der theologischen Ästhetik ist nach Balthasar nicht eine Theorie der Kunst, auch nicht die von A. Baumgarten her bekannte Theorie sinnlicher Wahrnehmung, sondern ganz direkt eine Lehre vom Schönen, dies, wie er immer wieder betont, in theologischer Absicht. Im Mittelpunkt steht nämlich die spekulativ anmutende Frage nach der Herrlichkeit Gottes. in dem Sinne ist vom »pulchrum«, dem Schönen, die Rede. Das geschieht im Rückgriff auf eine durchweg trinitarisch angelegte Gotteslehre, d. h. von Gottes Herrlichkeit ist tendenziell christologisch zu sprechen: »Christus 52 Zu einer Einführung in von Balthasars Theologie vgl. W. Löser, Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar. Freiburg im Breisgau 2005. 53 Von Balthasar, »Irgendeinmal geschah die Wendung von der knienden Theologie zur sitzenden Theologie … Die wissenschaftliche Theologie wird gebetsfremder und damit unerfahrener im Ton, mit dem man über das Heilige reden soll, während die erbauliche Theologie durch zunehmende Inhaltslosigkeit nicht selten falscher Salbung verfällt.« Aus dem Jahre 1948 in Verbum Caro, 1960, 224. 54 Des., a. a. O., 29. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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ist die gesamte doxa Gottes«. Das wiederum läuft – in klarem Rekurs auf biblische Zeugnisse – auf die Spannung von Gestalt und Verhüllung hinaus. Gottes Herrlichkeit kann immer nur als Geheimnis der Herrlichkeit göttlicher Doxa bezeugt werden. »…  diese Gestalt beginnt schon mit der Auferstehung des Herrn, die ihrerseits ihren Hehr-Glanz (Kabod, Doxa, Gloria) über die Welt der Kirche und aller Gnadenspendung ergiesst.«55 Das im besten Sinne Problematische liegt dann in der »Verhüllungsgestalt der Kreuzesdispensation«56. Es geht also um geheimnishafte Gestalt Gottes in der Offenbarung, um das beinahe Unsagbare: »Die Worte, die das Schöne auszusagen versuchen, kreisen zuerst um das Geheimnis der Gestalt oder des Gebildes.«57 Wenn man so sagen will: »kategorial« entwickelt von Balthasar dies im Rückgriff auf das von Thomas von Aquin benutzte Begriffspaar »Gestalt« und »Glanz«, »species« und »splendor«. Der splendor des Glaubenslichtes eröffnet die »subjektive Evidenz« des Glaubens. Die »objektive Evidenz« oder auch »Gestalt« der Offenbarung sichert als komplementären Bezugspunkt einen »radikalen Objektivismus«58, was insbesondere gegen die von ihm kritisierte protestantische Verabsolutierung einer Glaubensinnerlichkeit festgehalten wird. Diese christologische Gestalt-Theologie kann ohne Schwierigkeit mit einer modernen Ästhetik des Erhabenen erläutert werden. »… die Gestalt wäre nicht schön, wäre sie nicht elementar die Anzeige und Erscheinung einer Tiefe und Fülle, die an sich und abstrakt genommen unfassbar, unsichtbar bleibt. So erscheint die Seele im Leib, in verschiedenen Verhältnisstufen, die Kant und Schiller als das Schöne im engeren Sinne und das Erhabene als Anmut und Würde beschrieben haben, so erscheint (in Verhüllung) der Geist in der Geschichte, so erscheint in noch grösserer Verhüllung, weil er unendlich frei und weltüberlegen ist, Gott in seiner Schöpfung und Heilsordnung.«59

6.4.2 Ein kosmo-theologischer Ansatz Was charakterisiert von heute aus gesehen den hier verwendeten theologischen Gestaltbegriff? Es ist nicht nur aus Gründen anhaltender konfessioneller Befremdlichkeit bei der Lektüre schwer, den bei von Balthasar gebrauchten Gestaltbegriff theoretisch zu rekonstruieren. Denn er mutet durchweg vormodern an, weil er so unbefangen metaphysisches Denken in Anspruch nehmen kann. Von Balthasars Grundintention geht dahin, das Einzigartige und das universale der göttlichen Offenbarung der Heiligkeit zu thematisieren. »Wie alle Worte, die auf Christus und seine Offenbarung angewandt werden, will auch das Wort »Gestalt« mit der Vorsicht 55 56 57 58 59

Des., a. a. O., 36. Ebd. Des., a. a. O., 18. Des., a. a. O., 208. Des., a. a. O., 111. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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gebraucht sein, die den abstrakt-allgemeinen Begriffsgehalt auf die Einmaligkeit seiner Anwendung hin in suspenso hält. Nicht auf das Wort kommt es an, sondern auf die Sache, die im folgenden erklärt werden soll. Eine Sache, die sich als die endgültige gibt, auch wenn sie in verschiedenen Erscheinungsweisen – als wirkender, leidender, sterbender Mensch, und als in Herrlichkeit leiblich auferstandener – auftritt, oder vom auffassenden Menschen in verschiedenen Zuständen – hier im Glauben, einst im Schauen – aufgefasst wird. Man könnte statt von Offenbarungsgestalt auch – mit der gleichen Vorsicht – vom Offenbarungsleib reden …«.60 Das ist bei aller Freundschaft zu Barth ein Gestaltansatz mit erweiterter Perspektive. Denn wo Barth vom exklusiv angesetzten christologischen Grundaxiom ausgeht: »Das verkündigte Wort Gottes als die eine Gestalt Gottes«61, da verfolgt von Balthasar auf dem Hintergrund katholischer Traditionsbildung eine kosmologische Lesart der Christologie. »Nicht das, was wir seit Luther als das Wort Gottes zu bezeichnen uns gewohnt haben, die Heilige Schrift, ist seine ursprüngliche Sprache und Selbstaussage, sondern Jesus Christus, als der Eine und Einzige und dennoch nur im Zusammenhang mit der Gesamtgeschichte der Menschheit und mit dem gesamten geschöpflichen Kosmos zu Deutende, ist das Wort, das Bild, der Ausdruck und die Exegese Gottes, er, der als Mensch den ganzen menschlichen Ausdrucksapparat geschichtlicher Existenz zwischen Geburt und Tod mit allen Lebensaltern, Lebensständen, die einsamen und sozialen Situationen benützt, gibt Zeugnis.«62 Versucht man, durch diese material eher der Scholastik verpflichteten Theologie hindurch, die formale Seite des Gestaltbegriffs bei von Balthasar zu rekonstruieren, so zeigt sich, dass innerhalb der Klammer einer theologischen Ästhetik ein durchaus moderner, starker Gestaltbegriff verwendet wird. Ich resümiere folgende Punkte: –– Im gesamten oeuvre ist selten ein expliziter Bezug zur Gestaltpsychologie erkennbar, nur einmal findet sich ein Verweis auf Chr. von Ehrenfels.63 Dafür, dass von Balthasar gleichwohl mit deren Perspektiven und Grundanschauungen vertraut gewesen sein muss, spricht die Tatsache, dass er doch häufig in ähnlicher Begrifflichkeit formuliert. Er spricht häufig von Wahrnehmung, von »Gestaltgesetz«, »Gestaltsehen«.64 Von Balthasar spricht der Sache nach »von einem synästhetischen Wahrnehmungs- und Kommunikationspotential des menschlichen Geistes, respektive Gehirns. Der Mensch nimmt nicht nur Sinn wahr, sondern es bildet sich ihm eine komplexe Darstellung ein, die ihn ganz »betreffen«, erfassen kann.«65Allerdings ist von den Sinnen nicht die Rede, ohne dass die innere 60 Des., a. a. O., 416 f. 61 K. Barth, KD I,1; Vgl. auch E. Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, der die Trinitätslehre Barth als »Gestalthaben« als »Selbstoffenbarung« auslegt, 31 f. 62 Des., a. a. O., 26 f. 63 So eine Bezugnahme auf von Ehrenfels Schrift »Höhe und Reinheit der Gestalt«. 64 Des. a. a. O., 166. 65 J. Ehret, Schönheit. Zum Verhältnis von Kunst und Seinserfahrung bei H. U. von Balthasar, S. 5 http://www.info.sophia.ac.jp/philosophy/lec_rec-pdf/lec2009_ehret02.pdf. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Anschauung der »Wesensgestalt« betont wird, die mit den »Augen des Glaubens«66 erschaut werden. Diese Augen schauen eine Gestalt und die in ihr aufscheinende Tiefe der Seinsordnung. –– Von Balthasar gibt immer wieder ein Plädoyer für die Idee der Ganzheit (»vom Ganzen zu den Teilen«)67 und für organologisches Denken. Er wehrt sich gegen atomisierendes Raisonnieren in der Theologie. Das gilt auch im Umgang mit der Bibel. So ist er erkennbar kein Verfechter historisch-kritischer Analytik, er fasst die »wissenschaftliche« Bibelerschließung eher mit spitzen Fingern an. Das Erfassen biblischer Zeugnisse soll ganzheitlicher inspirationsgeleiteter Bibellektüre und pneumatologischer Synthetik folgen, welche auf »lebendige Ganzheit der Gestalt«68 achtet. –– Bedeutsam ist weiterhin der Umstand, dass von Balthasar eine signifikative Differenz im Gestaltbegriff nach dem Schema »Zeichen« – »Bezeichnetes« ablehnt. »Die sichtbare Gestalt »verweist« nicht nur auf ein unsichtbares Tiefengeheimnis, sie ist dessen Erscheinung, sie offenbart es, indem sie es freilich zugleich auch birgt und hüllt. Sie hat als Natur- wie als Kunstgestalt ein erscheinendes Aussen und eine inwendige Tiefe, die aber beide an der Gestalt nicht trennbar sind. Der Gehalt liegt nicht hinter der Gestalt, sondern in ihr. Wer die Gestalt nicht zu sehen und zu lesen vermag, der verfehlt eben damit auch den Gehalt. Wem die Gestalt nicht einleuchtet, dem wird auch der Gehalt kein Licht werden.«69 –– Über die Herkunft des Gestaltbegriffs bei von Balthasar gibt es klare Richtungsanzeigen. Er selbst nannte in autobiografischen Anmerkungen Goethe: »… ich studierte in Wien nicht Musik, sondern vor allem Germanistik, und was ich dort lernte, war das, was ich später in meinem theologischen Schrifttum ins Zentrum stellte : das Erblicken-, Werten- und Deutenkönnen einer Gestalt, sagen wir: den synthetischen Blick (im Gegensatz zum kritischen Kants, zum analytischen der Naturwissenschaft), und dies Gestaltsehen verdanke ich … Goethe. Ihm danke ich dieses für alles Hervorgebrachte entscheidende Werkzeug … Dies war das für alles Spätere unentbehrliche Instrument.«70 Kl. Huzing nennt daneben Herder als Ahnherren seines Gestaltbegriffs.71 Beide Namen verweisen nicht eben auf genuin katholische Tradition, zeigen einmal mehr den offenen Geist dieses eigenwilligen Theologen, der Klassik und Romantik in Philosophie und Dichtung für die Theologie fruchtbar gemacht hat. Auch den Fragment-Gedanken der Romantik, der

66 67 68 69 70

Von Balthasar, a. a. O., 28. Des., a. a. O., 22. Des., a. a. O., 29. Des., a. a. O., 144. Vgl. die Rede H. U. von Balthasar, »Dank des Preisträgers an der Verleihung des Wolfgang Amadeus Mozart-Preises am 22. Mai 1987 in Innsbruck«, in: E. Gueriero, Hans Urs von Balthasar, 420. 71 »Aufgelesen hat von Balthasar seine Gestalttheorie bei Herder.« Kl. Huzing, Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen, Berlin 1996, 183. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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bei H. Luther bedeutsam wird (s. u.), hat bereits von Balthasar theologisch aufgenommen.72 Wenn man sich erkenntnistheoretisch keine direkten Rückwege mehr in vorneuzeitlich-metaphysische Spekulation erlaubt, wenn man ekklesiologisch keine Rede von der »glorreichen Kirche« zu führen wagt, wenn man sich gesellschaftskritisch keine Aussagen über Gott ohne ihr direktes Korrelat in der kritischen Beschreibung menschlichen Lebens in konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, Zwängen und Deformationen erlaubt – wie kann man dann eine solche Theologie der Herrlichkeit und das in ihr entfaltete Gestaltdenken beerben? Sicherlich wird dazu gehören, theologische Gestaltimpulse als Kriterium weltlicher Gestaltung zu entfalten, sich auf konkrete Lebenspraxis in konkreter Kultur und konkreter Gesellschaft zu beziehen, und zwar gerade auch vom christologischästhetischen Impuls der radikalen Erniedrigung her als Kritik an Wahrnehmungsweisen des Menschlichen. Der katholische Pastoraltheologe W. Fürst hat denn auch – im Erbe von Balthasars – empfohlen, dessen Programm in Richtung auf eine ›Ästhetik der christlichen Vollzüge‹ hin zu überschreiten73, um Wahrnehmungs- und Gestaltungskompetenz in auch den gesellschaftlich relevanten Handlungsfeldern zu behaupten. Hier bietet, wie der katholische Dogmatiker J. Wohlmuth – ebenfalls in kritischer Auseinandersetzung mit von Balthasar – reklamiert, das Gespräch der Theologie mit zeitgenössischer Kunst, ein Potential zur Entfaltung einer notwendig kritischen Ästhetik, die zudem vor allzu kirchlicher Binnenorientierung bewahrt. Schließlich hat S. Bergmann mit seiner Interpretation der Patristik gezeigt, dass und wie man altkirchliche spekulative Theologie im Horizont spätmoderner Ökologie erneut mit Gewinn lesen kann, ohne in vorneuzeitlicher Metaphysik stecken zu bleiben.74

6.5 Paul Tillich: Gestalt und Kritik Ich mache abermals einen Sprung. Im 20. Jahrhundert hat neben Bonhoeffer innerhalb der protestantischen Theologie den Gestalt-Begriff niemand so breit thematisiert wie Paul Tillich (1886–1965). Dieser war über eine große Spanne Zeitgenosse zu Bonhoeffer wie zu von Balthasar und doch sehr viel gesellschaftskritischer in seinem Grundansatz. Bei Tillich taucht der Begriff der »Gestalt« bereits sehr früh auf und 72 Von Balthasar: Das Ganze im Fragment. Aspekte der Geschichtstheologie, 1963. 73 W. Fürst, Was veranlasst die Praktische Theologie heute, Pastoralästhetik zu betreiben? in: ders., (Hg.): Pastoralästhetik. Die Kunst der Wahrnehmung und Gestaltung in Glaube und Kirche, Freiburg i. Br. 2002, 50. 74 S. Bergmann, Geist der Natur befreit: Die trinitarische Kosmologie Gregors von Nazianz im Horizont einer ökologischen Theologie der Befreiung, Mainz 1995. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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wird dann immer wieder genutzt.75 Das geschieht allerdings nicht als ein kohärent identifizierbarer Topos. »Gestalt« kommt in ganz verschiedenen Werkteilen und Forschungsbereichen vor, in der Wissenschaftslehre und Metaphysik, der Kosmologie, der Anthropologie, der Ekklesiologie, den Reflexionen zur Seelsorge, und insbesondere im Rahmen kulturtheologischer Überlegungen und in Arbeiten zur ästhetischen Erfahrung.

6.5.1 Der Horizont: Kultur-Theologie Einen Gestalt-Ansatz unter dezidiert theologischen Vorzeichen hat Tillich unverkennbar im Zusammenhang kulturtheologischer Reflexionen entwickelt. In »Protestantismus als Kritik und Gestaltung« (1929) entwirft Tillich seine Position zu einer kritischkulturbezogenen Praxis von Kirche wie auch zur Wahrnehmung religiöser Gestalten in der Kultur generell. Sachlich maßgebend ist dabei Tillichs kulturtheologische Grundthese von 1919 (»Über die Idee einer Theologie der Kultur«): »Der tragende Gehalt der Kultur ist die Religion, und die notwendige Form der Religion ist die Kultur«.76 Sein Ansatz von Kritik und Gestaltung wird in der Frontstellung gegen den katholischen Sakramentalismus einerseits, gegen den Barthianismus andererseits profiliert. Protestantismus als religiöser Impuls zielt auf Durchbrechung der Form im Interesse der Negation jeglicher Verabsolutierung irdischer Formen. Aber der Protest gegen die Form bzw. Gestalten der Tradition und das Vermögen zur Formgebung bzw. weiteres Gestalten sollen in gegenseitiger Abhängigkeit ernst genommen werden. Aufgenommen wird erkennbar die formale Doppelbedeutung von Gestalt als Rezeption eines vorgegeben Ganzen und als kreative Produktion. Das Problem der Praxisgestaltung als prinzipielles theologisches Problem wird dabei von einem theologisch angereicherten Gestalt-Begriff her angegangen und zwar unter der Frage: »Kann der Protestantismus trotz der entschlossenen Durchführung der prophe­tischen Kritik, die er nicht abschwächen darf, ohne sich selbst aufzu­geben, Wirklichkeit werden in einer Gestalt der Gnade?«77 Eben hier liegt das theologische Interesse an Gestalt. Die Ausgangsthese vom prae der Gestalt lautet: »… die Gestalt ist das Prius der Krisis, die rationale Gestalt die Voraussetzung der rationalen Kritik, die Gestalt der Gnade die Voraussetzung der prophetischen Kritik.«78 Tillichs Lösung liegt in der Bestimmung zeitgenössischer Kultur unter dem Begriff der »protestantischen Profanität«. Der Protestantismus drängt mit seinem Weltbezug zu Profanität, was mit der Formkritik eine Tendenz zur Selbstauflösung einschließlich aller bisher als sakral geltenden Formen beinhaltet. Damit wird einer 75 Vgl. ausführlich H.-G. Heimbrock, Gestalten der Praxis – Praxis gestalten. Praktische Theologie nach Paul Tillich, in: Chr. Danz (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur, Berlin 2011, 349–371. 76 P. Tillich, »Über die Idee einer Theologie der Kultur« (1919), in: ders., GW IX, Stuttgart 1967, 13–31. 77 Tillich, Protestantismus als Kritik und Gestaltung, a. a. O. 49. 78 Ders., a. a. O., 36. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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segmentalen Scheidung durch gegenstandsbezogene Abgrenzung zwischen religiösen und profanen Gestalten, dem Sinn der Rede von einer sog. »religiösen Kultur« widersprochen. Zur Abwehr der Selbstauflösung ist die Theologie genötigt, sich mit Tillich gesprochen, der »religiösen Substanz der Kultur« zu befassen. Denn: »Die Formen der religiösen Kultur, in denen die Gestalt der Gnade lebt, sind Formen, in denen die Profanität den Charakter des transzendenten Bedeutens, die Vorwegnahme des Jenseits von Sein und Freiheit, annimmt. Diese Formen bleiben demgemäß in strenger Korrelation zur Profanität. Sie schaffen kein Sondergebiet, keine religiöse Sphäre, die gegenständlich abgegrenzt wäre, kein sanctum oder sanctissimum gegenüber dem profanum.«79 Folge dieses Gedankens ist ein doppelter Religionsbegriff, der neben organisierter Religion und der korrespondierenden persönlichen Religiosität auch »latente Religion«80 zur Geltung bringt.

6.5.2 Gestalten des Unbedingten in der Profanität Aus dieser kulturtheologischen Perspektive hat sich Tillich früh und durchgängig in philosophischem und theologischem Interesse mit Fragen der Kunst befasst, insbesondere mit Malerei und Architektur. Formale Brücke ist ein Gestaltbegriff, der nun auch die symbolische Relation, also »Symbolform« als »Ausdrucksformen« betont. Wenn gilt »Die Gestalt der Gnade ist Bedeutungsgestalt«, dann kann das nicht nur (unprofessionell) kunstgeschichtlich, sondern vor allem theologisch durchbuchstabiert werden an Epochen und Stilen der Kunst. Paradebeispiel war für Tillich der Expressionismus. Insbesondere im expressiven Element sah er Ausdrucksgestalten des christlichen Zentralsymbols des Kreuzes.81 Mit der inhaltlich sehr viel weitergehenden These, Kunst sei Ausdruck von menschlichen Relationen zum Unbedingten82, mit der Zuordnung von Typen religiöser Erfahrung zu Kunstepochen und Stilrichtungen, hat sich Tillich bekanntlich den Protest von Vertretern einer Autonomie moderner Kunst eingehandelt. Unterhalb dieser in der Tat problematischen These finden sich m. E. jedoch analytische Beobachtungen ästhetischer Gestaltungselemente wie Formganzes und Umgang mit Licht und Farbe, die für eine Gestalttheologie von bleibendem Interesse sind. In Tillichs Gestaltdenken findet sich gelegentlich auch der Begriff des »religiösen Handelns«, den Tillich früh schon im Sinne kultisch-liturgischen Gestaltens benutzte.83 79 Ders., a. a. O., 49 f. 80 P. Tillich, Protestantische Gestaltung, a. a. O., 62. 81 »Die neuen expressiven Stilelemente sind offenbar geeignet, das zum Ausdruck zu bringen, was im Symbol des Kreuzes enthalten ist.« P. Tillich Zur Theologie der bildenden Kunst und Architektur, GW IX 242–355, Zitat 351. 82 »Ohne eine Theologie der Kultur, und ohne eine Theologie der bildenden Kunst gibt es kein Verstehen des letzten Sinnes der Kunstwerke.« P. Tillich, a. a. O., 347; vgl. auch ders., Die Kunst und das Unbedingt-Wirkliche (1959) GW IX, 356–369. 83 Vgl. P. Tillich, Protestantische Gestaltung (1929), GW VII, 54–69, Zitat 62. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Selbstmitteilung von »Wort Gottes« kann nicht nur durch menschliche Predigt wirksam werden, sondern auch »geschehen durch Handlungen, Gesten, Gestaltungen, natürlich nicht ex opere operato […] wohl aber ohne begleitendes Wort. Sakramente, sichtbare Symbolik, leibliche, musikalische, künstlerische Ausdrucksformen sind »Wort Gottes«, auch wenn nichts gesprochen wird, was nicht bedeutet ohne Erfassung des geistigen Sinnes […]«.84 Auf der Linie theologischer Reflexion zur Kunst aus dem Prinzip »protestantischer Profanität« entwickelte Tillich immerhin skizzenhafte Bemerkungen zum liturgischen Gestalten im Gottesdienst. Kultische Formen in menschlichem Gestalten sollen keine sakrale Gestaltung als Sonderbereich sein, »kein heiliger Bezirk!«. Sie sind angemessen, wenn sie der Ergriffenheit vom Grund unseres Daseins Ausdruck verleihen. Die Parallele zur Rekonstruktion von Kunst jenseits »religiöser Kunst« wird streng durchgeführt.85 Im kurzen Vortrag »Kult und Form«86, gehalten bei der Eröffnung der Ausstellung des Kunst-Dienstes in Berlin am 10. November 1930, werden Kriterien genannt, die für Kunst ebenso gelten wie für angemessenes liturgisches Gestalten, nämlich Korrespondenz zum Alltag, zur Gegenwart und zur Wirklichkeit. Eindringlich warnt er vor musealer Wiederbelebung der Tradition: »Wenn uns heute expressionistische Formen die Möglichkeit geben, uns in byzantinischromanische Formen der christlichen Vergangenheit einzufühlen, so ergibt sich daraus kein Recht, diese Möglichkeit zur Wiederbelebung des Vergangenen zu benutzen … denn nicht unser Wesen ist es, das dort zur Gestalt gebracht ist, und es bleibt vielleicht das Schlimmste übrig, was kultische Gestaltung treffen kann: eine ästhetische Impression. Man sei hier aufs äußerste empfindlich! Man schweige lieber zu lange, als daß man zu früh rede. Vielleicht sind nur noch wenige Inhalte des vergangenen Kultus und Mythos uns ganz zugänglich. Dann bekenne man unsere Armut und versuche nicht, sie mit dem Reichtum der Vergangenheit aufzuputzen. Man habe den Mut, sich mit dem zu begnügen, was wir haben: Licht, Farbe, Material, Raum, Proportionen …«.87

6.5.3 Bedeutungsgestalt und Form-Kritik Worin liegt das Profil von Tillichs theologischem Gestaltdenken? So breit seine Beschäftigung mit dem Gestaltbegriff ausfällt, so begrenzt oder gar randständig fällt bei ihm der holistische Ansatz des Gestaltgedankens aus. Der Theorierahmen fällt widersprüchlich und einseitig aus. Denn mit dem aus der Gestaltpsychologie abkünftigen Gestaltgedanken importierte Tillich geradezu ein mit seinem eigenen 84 P. Tillich, a. a. O., 66 f. 85 Auch H. Jahns Behauptung, das sei »identisch mit dem traditionell so genannten Bereich der ›Sakramente‹« (dies., Theologie als Gestaltmetaphysik, a. a. O., 435) ist korrekturbedürftig, es geht mindestens auch um Liturgie des Gottesdienstes. 86 P. Tillich, Kult und Form, GW IX, 324–327. 87 A. a. O. 326. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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ontologisch und sinntheoretisch orientierten Denkansatz kaum vereinbares Theoriemoment. Tillich thematisiert Gestalt von seinem kulturtheoretischen Ansatz her durchweg und insbesondere in seinen Schriften zur Kunst im Begriffsfeld von Form, Inhalt und Gehalt. Entsprechend werden »Gestalten der Gnade« thematisiert als kulturelle Korrelate zu einer theologischen Grundidee. Dabei dominiert eine existenzialistische und implizit bewusstseinstheoretische Betrachtung. Es geht um den Sinn der Gestalten, letztlich um den religiösen Sinn, notabene: im Kontext von Tillichs breitem Religionsverständnis. Der Sinn der Gestalten ermittelt sich dann – mit Traditionen eines bestimmten ästhetischen Denkens – als Vordringen von einer äußeren Einkleidung zu einem dieser »äußeren« Gestalt vorgängigen Gedanken. Bei Tillich wird diese Relation »Bedeutungsgestalt« genannt (vgl. oben). Tillichs Korrelationsdenken, die Analyse von Religion und Kultur im Begriff des Symbols, hat hier weite Perspektiven eröffnet.88 Gänzlich unterbelichtet im Gestalt-Ansatz Tillichs bleibt so der Wahrnehmungsgedanke, wie dieser bereits im Grundgedanken bei Chr. von Ehrenfels angelegt war und wie er bei M. Wertheimer, dem Begründer der Berliner Schule der Gestalttheorie und Tillichs Kollegen in der Frankfurter Zeit, entfaltet wurde.89 Und so drängt sich der Verdacht auf, dass er mit den vielen Thematisierungen des Gestaltgedankens ein seiner eigenen Bewusstseinstheorie fremdes oder zumindest nur schwer vermittelbares Element aufgenommen hat, das er theoretisch nur unzureichend verorten konnte. Es gehört gleichwohl zu den Stärken dieses theoretisch inkonsistenten Denkens, dass Tillich als wacher und stets kulturoffener Beobachter immerhin auf der FragWürdigkeit auch solcher Gestalt-Phänomene insistierte, die er theoretisch nicht mehr einholen konnte. Vom hier waltenden Mut gibt noch sein letzter Beitrag zur Kunst, ein Vortrag in Santa Barbara von 1965, deutlich Auskunft.90 In dieser, an der religiösen Dimension der Kunst orientierten Analyse, findet man neben bekannten Thesen zu der Bedeutung und Erschließungskraft des Stilelements immerhin auch Bemerkungen zur irritierenden Sperrigkeit bestimmter Darstellungsphänomene, die sich einer Diskursivierung widersetzen. Tillich führt nicht nur den aus vielen anderen Texten bekannten Kanon der Stile des naturalistischen, des idealistischen und des expressionistischen an. Sondern er berührt im Vortrag in großer Offenheit das Versagen seines auf Sinnerschließung ausgerichteten Zugangs vor Phänomenen der Pop-Art. Mit sicherem Gespür nimmt er wahr, dass in Werken der zeitgenössischen Pop-Art das Figurale zurückkehrt, dass dabei gerade die Oberfläche, die Banalität des Alltags und nicht metaphysische Tiefen einer Bedeutsamkeit der Kunst thematisiert 88 Vgl. M. von Kriegstein, Paul Tillichs Methode der Korrelation und Symbolbegriff, Hildesheim 1975. 89 Chr. von Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten (1890), in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14 (1890), 249–292; M. Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt I, Prinzipielle Bemerkungen, in: Psychologische Forschung, Bd. 1, 1922, 47–58; Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, in: Psychologische Forschung, Bd. 4, 1923, 301–350. 90 P. Tillich, Religious Dimensions of Contemporary Art (1965), in: P. Tillich, On Art and Architecture, Ed. J. Dillenberger, New York 1987, 171–198. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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werden. »This certainly makes us dizzy: A kind of metaphysical dizzyness grasps us.« Aber dann folgt die Empfehlung, trotz aller sinntheoretischer Kalamitäten sich den Phänomen zuzuwenden: »Yet we must encounter it«.91 Es ist ein weiter Weg ästhetischer Erfahrung, den Tillich vom ästhetischen Urerlebnis beim Anblick des Madonnenbildes Botticellis in den 20er Jahren bis hin zu diesem »metaphysischen Schwindelgefühl« gegangen ist.92 Man kann diesem Ansatz  – bei allen notwendigen kritischen Rückfragen  – spezifische Impulse zur Entfaltung einer »Gestalt-Theologie« entnehmen. Tillichs Programm der »Gestalten der Gnade« impliziert zweierlei, die Überschreitung einer auf »Gestalten des Wortes« zentrierten Haltung hin auf stärkere Beachtung anderer kultureller Symbolwelten.93 Und zwar ohne solche Gestalten (insbesondere Kunst) in ihrer konkreten Ausdruckskraft immer gleich auf religiöse Symbolik hin zu biegen: »Man habe den Mut, sich mit dem zu begnügen, was wir haben: Licht, Farbe, Material, Raum, Proportionen …«.94 Gleichzeitig unternimmt er den Versuch der theologischen Kriterienbildung für diese Operation. Tillich empfiehlt nicht den naiven Gang ins Kunstmuseum, sondern das Wagnis der Gestalt in der Koppelung mit der Kritik der Form. Diesem kritischen Ansatz liegt nicht nur der allgemeine religionsphänomenologische Sachverhalt zugrunde, dass »Religion als Gestalt« erscheint. Sondern er wird in protestantischer Zuspitzung präsentiert. Diese Aufgabe, Ausdruck des unendlichen Sinnes in endlichen Gestalten zu wagen, beinhaltet zumal für eine praktisch werden wollende und sollende Theologie enorme Herausforderungen.

6.6 Henning Luther: Die Gestalt des Fragments Wenn man bei von Balthasars ästhetischer Gestaltreflexion einen gesellschaftskritischen Horizont vermissen mag, bei Tillich von der sozialistischen Entscheidung her eine kritische Kulturtheologie findet, so setzt auch der letzte hier zu skizzierende theologische Ansatz des Gestaltdenkens die ästhetisch-kritische Linie fort. Auch der früh verstorbene Marburger Theologe Henning Luther (1947–1991) hat dem Gestaltbegriff eine dezidiert theologisch-kritische Richtung gegeben. Das geschah keineswegs 91 P. Tillich, a.a.O, 182. Ich verdanke den Hinweis auf die Bedeutung dieser Textstelle R. R. Manning, Tillichs Theologie der Kunst. 92 Vgl. Tillich, Zur Theologie der bildenden Kunst und Architektur, GW IX, 345. M. Moxter hat darauf hingewiesen, dass es sich dabei um die ex post vollzogene Selbststilisierung des alternden Tillichs handelt. 93 Notiert werden muss allerdings, dass im Protestantismus neuerdings gerade in der Got­tes­dienst­ theologie unter der Perspektive »Gestalten des Wortes« eine Öffnung symbolisch-liturgischen Handelns avisiert worden. U. Körtner, Gestalten des Wortes, in: H. Chr. Schmidt-Lauber u. a. (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 706 ff. 94 P. Tillich, Kult und Form, a. a. O., 326. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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durchgängig in seinen Arbeiten, sondern profiliert an einer Stelle, in einem Beitrag, dessen Thesen seither immer wieder rezipiert wurden. Als Schüler von G. Otto startete er in den 80er Jahren im Feld der Religionspädagogik und legte diese bereits mit seiner Arbeit zu Niebergall95 in weit di­men­sio­ nierter bildungstheologischer Konzeption an. Von da aus hat er dann im Verlauf seines kurzen Lebens mehr und mehr Fragen von gesamttheologischem Rang erschlossen, etwa die Neubestimmung des Religionsverständnisses, die Fragen von Heil und Identität. Theologisch wie biografisch bestimmend wurde die Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Leben, Transzendenz, Grenze und Tod. Gerade auch von moderner Literatur sowie von Literaturtheorien hat er dabei Impulse aufgenommen und theologisch kreativ verarbeitet, theoretisch wie in seinen Predigten.

6.6.1 Der Kontext: Kritische Theorie des Subjekts Der Gestaltbegriff steht bei H. Luther im Kontext eines der Kritik verpflichteten theologischen Gesamtprogramms. Im Mittelpunkt seiner (praktisch-)theologischen Theoriebildung steht hier nicht wie bei von Balthasar kirchliche Tradition, auch nicht kirchlich verfasste Religion. Nicht Vergegenwärtigung von Kirche, sondern die Gegenwart von Religion im Subjekt ist das eigentliche Thema der Theologie H. Luthers. Damit wies er der Praktischen Theologie die Aufgabe zu, sich mit lebensweltlich präsenter und subjektiv angeeigneter Religion zu befassen. Wissenschaftsmethodisch lassen sich zwei wichtige Linien identifizieren: Zum Einen: Von seinem Mainzer Lehrer G. Otto hatte Luther den theoretischen Impuls aufgenommen, auch Theologie als kritische Gesellschaftstheorie zu entfalten. Bei Otto hieß das mit Habermas programmatisch so: »… Philosophie … kann sich nicht länger als Philosophie begrei­fen, sie versteht sich als Kritik. Kritisch gegen Ursprungsphiloso­phie, verzichtet sie auf Letztbegründung und auf eine affirmative Deutung des Seienden im Ganzen. Kritisch gegen die traditionelle Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, begreift sie sich als das reflexive Element gesellschaftlicher Tätigkeit. Kritisch gegen den Totalitätsanspruch von metaphysischer Er­kenntnis und religiöser Weltauslegung gleichermaßen, ist sie mit ihrer radikalen Kritik der Religion die Grundlage für die Auf­nahme der utopischen Gehalte auch der religiösen Überlieferung und des erkenntnisleitenden Interesses an Emanzipation. Kri­tisch schließlich gegen das elitäre Selbstverständnis der philoso­phischen Tradition, besteht sie auf universeller Aufklärung -auch über sich selber.«96 Der Horizont von Theologie ist nicht mehr nur isolierte Christentumsgeschichte, sondern Gesellschaft; Religion als gesellschaftliche, nicht nur als kirchliche Praxis. Praktische Theologie ist 95 H. Luther, »Religion – Subjekt – Erziehung. Grundbegriffe der Erwachsenenbildung am Beispiel der Praktischen Theologie Friedrich Niebergalls«, München 1982. 96 J. Habermas: Philosophisch-politische Profile 1981, zitiert nach G. Otto, Praktische Theologie Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1986, 77. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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auf dieser Linie als »kritische Theorie religiös vermittelter Praxis in der Gesellschaft zu konzipieren«97. Zum Anderen: In Weiterführung einer gesellschaftskritisch angelegten Theologie und deutlich über sie hinausführend nahm H. Luther für seine am Subjekt orientierte Theologie Denkmode der Alltagssoziologie und der Phänomenologie (M. Heidegger; A. Schütz; E. Lévinas; B. Waldenfels) auf. Dies ermöglichte, die eher grobschlächtigen Analysen entfremdeter Lebenspraxis bei G. Otto zugunsten einer sensibleren Beschreibung konkreter Lebenspraxis aufzugeben. Erfahrung der Fremdheit gewinnt neue Auslegungshorizonte: Sie wird ansichtig nicht nur als gesellschaftlich bedingte Entfremdung, sondern zugleich als Fremdheit und Differenz im Subjekt, entsprechend der romantischen Erfahrung (vgl. A. Rimbaud »Ich ist ein Anderer«). Religion kann dann begriffen werden als Erfahrung, Erhellung und Ausdrücklichmachung von Differenz. Und Wirklichkeit wird nicht mehr nur begriffen anhand des Rasters der ideologiekritischen Klassenanalyse, sondern in Wahrnehmung des alltäglich Unscheinbaren und der unabgegoltenen Möglichkeiten des Alltags. Luther nimmt für eine wirklichkeitshaltige Entfaltung von Theologie eine Blickrichtung auf, die dem Alltag nicht nur das Gewicht unkritischer Faktizi­ tät attestiert, sondern die zugleich mit produktiven Valenzen rechnet. Diese zeigen sich nicht im Jenseits des Alltags, sondern eher an seinen Rändern. Philosophischer Gewährsmann ist hier insbesondere B. Waldenfels mit dessen lebensweltorientierter Phänomenologie des Alltäglichen und des Außeralltäglichen: »Die Ränder, das wäre das Unge­sagte und Unsagbare im Gesagten, das Nichtgetane und Nichttubare im Getanen, das Ungeregelte und Unvertraute im Geregelten und Vertrauten – das Unalltägliche im All­täglichen. Die Ränder gehören dem bestimmten Deutungsfeld selbst zu; sie verkörpern keine andere Welt, sondern das andere der bestehenden Welt.«98

6.6.2 Gegen erschlichene Ganzheit »Gestalt« hat H. Luther im Zusammenhang eines theologisch erneuerten Bildungsgedankens aufgenommen.99 Es sind wenige Bemerkungen, sachlich und sprachlich gleichwohl von hoher Prägnanz und Wirkung. Gestalt wird dabei auch als ethische Kategorie im Sinne der Lebens-Gestaltung ernst genommen. Für seine kritische Bildungstheorie macht Luther jedoch mit dem Gestaltbegriff stärker eine bestimmte ästhetische Denkrichtung fruchtbar. Gegen erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Persönlichkeitsmodelle im Rückgriff auf neuhumanistisches 97 G. Otto, Praktische Theologie als kritische Theorie religiös vermittelter Praxis, in: F. Klostermann/ R. Zerfaß (Hg.), Praktische Theologie heute, München/Mainz 1974, 195–205. 98 B. Waldenfels, Im Labyrinth des Alltags, in: ders., In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt/M. ²1994, 175 f. 99 Das geschah zuerst in einem Vortrag auf der Evangelischen Akademie Tutzing 1990 »Identität und Fragment. Theologische Anfragen an die Idee der Vervollkommnung des Menschen durch Bildung«. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Bildungsideale mit der Tendenz zur Verabsolutierung von Harmonie, Ganzheit und Überhöhung menschlicher Gestaltungskräfte, verwies er auf die dabei ausgeblendeten Erfahrungsmomente von Begrenztheit, Schmerz und Zerrissenheit des menschlichen Lebens. Geht man dem theoretisch nach, fragt man, wie Identitätsbildung zu denken sei. Dann ist mit Kierkegaard und Adorno gegen eindimensionale Perfektibilitätsideale menschlicher Identität die Verkürzung, das trügerische Moment und die Bodenlosigkeit solcher anthropologischer Ideale zur Geltung zu bringen. Luther verwies darauf, dass anthropologisch ›Schmerz‹ und ›Sehnsucht‹ und die Kategorie des ›Fragments‹ als integrale Momente menschlicher Bildungsprozesse zu verstehen seien. »Schmerz und Sehnsucht haben im offiziellen Curriculum kaum einen Platz, weder in dem der Schule noch in dem unseres sozialen Lebens. Sie sind gleichsam die abgespaltenen, verdrängten und vergessenen Anteile am Entwicklungs- und Bildungsprozess, die diesen wie einen Schatten begleiten.«100 Gegen ein illusionistisches Modell von Identitätsbildung zu letzter Vollkommenheit plädierte Luther für eine Sicht von »Fragment« als ein kreatives Element im Bildungsgeschehen zu humaner Ich-Identität. »Das Fragment trägt den Keim der Zeit in sich. Sein Wesen ist Sehnsucht. Es ist auf Zukunft aus. In ihm herrscht Mangel, das Fehlen der ihn vollendeten Gestaltung. Die Differenz, die das Fragment von seiner möglichen Vollendung trennt, wirkt nun nicht nur negativ, sondern verweist positiv nach vorn.«101 In diesem Kontext greift Luther nun einen solchen Gestaltbegriff auf, der gerade gegen naiven Holismus und gegen »erschlichene Ganzheit« profiliert wird. Menschliche Entwicklungsprozesse werden von künstlerischen Produktionsprozessen her neu bestimmt, aus der Ästhetik entlehnt Luther die Stärke und Aussagekraft eines nicht defizient gedachten Fragmentbegriffs. Es geht um die »Gestalt des Fragments«.102 Damit wird im Gestaltbegriff ein neues Moment geltend gemacht, nämlich das Spannungsverhältnis von Ganzheit und Fragment. In der Entwicklung der Person wie in künstlerischer Gestaltung ist viel stärker zu achten auf »die unvollendet gebliebenen Werke, die ihre endgültige Gestaltungsform nicht – noch nicht – gefunden haben, also die Fragmente der Zukunft.«103 Damit wird der Gestaltbegriff zugleich in Hinsicht auf Gestaltung verflüssigt. Nicht eine endgültige und womöglich unüberbietbare Letzt-Gestalt des Werkes steht im Blick, sondern eine Anschauung der »Gestaltung des Gesamtlebens«, die ausdrücklich den Horizont der Zeit mit einbringt: Wir sind »immer zugleich auch gleichsam Ruinen unserer Vergangenheit« und »ein Fragment aus Zukunft«.104

100 Ders., Schmerz und Sehnsucht. Praktische Theologie in der Mehrdeutigkeit des Alltags, in: Ders., Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 255. 101 H. Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: ders., Religion und Alltag, Stuttgart 160 ff. Zitat 169. 102 Luther 181. 103 Luther 167. 104 Luther, 168 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Vom Gedanken des Fragments wird hier eine christologisch gebrochene radikalisierte Krisentheorie der Bildung entworfen. H. Luther insistiert aus dieser theologischen Perspektive darauf, dass positive Entwürfe von Identität zu verweigern sind. Bei ihm gibt es im Sinne »negativer Dialektik« explizit nur negative Fassungen des Identitätskonzeptes. »Gerade der über sich hinaus, auf andere und auf Zukunft verweisende Charakter des Fragments setzt Bildungsprozesse frei. Allerdings ohne je an ein positiv fixierbares Ziel zu gelangen. Daher muss der Identitätsgedanke auch anders ins Spiel kommen denn als die Formulierung einer abschließenden Zielangabe. Das Identitätskonzept kann prinzipiell nur kritische Funktion besitzen.«105 Was kennzeichnet H. Luthers Thematisierung von Gestalt? Dass hier ein starker und auch theologisch fundierter Gestalt-Begriff benutzt wird, ist offensichtlich. Der theologische Gestaltbegriff mit dem Akzent auf dem Pathischen hat in der Christologie von Phil 2,5 im Gedanken der Solidarität Gottes mit der leidenden Gestalt Jesu in der Passion eine biblische Wurzel, in der paulinischen Rechtfertigungslehre eine andere. Daraus kann anthropologisch ein Gestaltdenken in deutlicher Kritik an Schönheitsästhetik und Vollkommenheitsidealen abgeleitet werden. Dies eröffnet, gerade gesehen im Gedanken der Spannung zwischen empirisch erreichten Gestalten und noch unabgegoltenen Gestaltungsmöglichkeiten bzw. nie erreichbaren Gestaltungsstufen, qualifizierbare Perspektiven für humane Gestaltungsmöglichkeiten von Leben. Deutlich wird so von Luthers enger fokussierten Überlegung her die generelle normative Implikation eines theologisch angelegten Gestaltbegriffs. Von Luthers ästhetisch-theologischer Reflexion ist der Gestaltbegriff in seiner gesamttheologischen Leistungsfähigkeit angesprochen. Neben dem theologischen Verständnis von Leben (im Horizont seiner »unabgeschlossenen Gestalten«) wären dann auch fundamentale Themen des christlichen Glaubens zu entwickeln: etwa Gestalten der Offenbarung als Erscheinungen106 oder eine neue Sicht auf Sakramente als Gestalten der Gnade jenseits des aristotelischen Schemas von Substanz und Akzidenz zu entwickeln. Die mit Luther skizzierte bildungstheologische Debatte macht insgesamt eine normative Dimension im Gestaltbegriff ansichtig. Diese impliziert Fragen nach Gestalten der Transzendenz in der Wirklichkeit, denen Praxis gelebter Religion nachzugehen hätte.

6.7 Zwischenbilanz Wenn man nach diesem Durchgang durch dezidiert theologische Gestalt-Ansätze ein vorläufiges Fazit formulieren will, so ergibt sich ein reichhaltiger und z. T. divergierender Befund. Theologische Entwürfe, wie etwa die von Bonhoeffer und Tillich, lassen sich trotz Herkunft aus gemeinsamen lutherischen Wurzeln kaum auf 105 Luther, 177. 106 Dies hat A. Grözinger eindrucksvoll entwickelt, vgl. ders., Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1987. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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eine gemeinsame Linie bringen, zumal die historischen, kulturellen und politischen Kontexte, in die jeweils hinein gedacht wurde, sehr differieren. Gleichwohl kann man einige übergreifende Momente benennen. Dazu gehört zunächst die Einsicht, dass vor der ethischen Fragestellung nach angemessener Gestaltung theologisch der Begriff der Gestalt Anderes thematisiert und transportiert. Mit dem Gestalt-Begriff werden zentrale theologische Themen verhandelt. Der Begriff wird, je nach Autor mit unterschiedlichen Akzenten, zur Beschreibung der Mitte christlicher Theologie herangezogen. Er taugt zur Versprachlichung von Grundsachverhalten wie Offenbarung, Theo-Logie, Christologie und Anthropologie. Was die geistesgeschichtliche Herkunft und theoretischen Referenzpunkte angeht, ist erkennbar, dass der Gestalt-Begriff oft, aber keineswegs immer äquivalent zum Form-Begriff benutzt wird, also in Anlehnung an die klassischen Polaritäten von Inhalt und Form oder von Gestalt und Gehalt. Erkennbar ist eine zweite Linie, die das holistische Moment des Gestalt-Denkens aufnimmt und z. T. kommentiert. Und schließlich gibt es eine dritte Bedeutungslinie, in der in sachlicher Anlehnung an Gestalt-Theorie des frühen 20. Jahrhunderts die Bedeutungsmomente einer Wahrnehmungs-Gestalt abgehoben wird. Damit wäre dann der starke Gestalt-Begriff berührt. Für unseren Zusammenhang von besonderer Bedeutung scheint mir dieses Resultat: Im Mittelpunkt theologischer Rede von der Gestalt steht Kreuzestheologie, die Reflexion auf die Gestalt des Gekreuzigten als Gestaltwerdung Gottes. Was in altkirchlicher Terminologie innerhalb der Zwei-Naturen-Lehre oder auch der Denkfigur der Kenosis Gottes verhandelt worden war, kann im 20. Jahrhundert mit Mitteln des Gestalt-Denkens zum Ausdruck gebracht werden. Der jenseitige Gott tritt im Ereignis am Kreuz als Gestalt irdisch und konkret in Erscheinung. Allerdings wird Wert gelegt auf die Dialektik von Erscheinung und Verhüllung. (Der katholische Theologe von Balthasar prägt dabei sogar den treffenden Begriff der »Verhüllungsgestalt«). Festzuhalten ist ferner, dass in unterschiedlicher Weise das Verhältnis von Logos und Gestalt, Wort und Gestalt thematisiert wird. Auch damit wird eine alte theologische Tradition, nämlich die Zuordnung von Wort und Sakrament, aufgenommen und in neuer Sprachform thematisiert. Gestalt zielt nicht immer nur nach dem Schema von Gehalt und Gestalt auf sekundäre Konkretion in der anschaulich werdenden Gestalt, welche dem abstrakten Gehalt nachgeordnet wäre. Zugleich hat man in der Theologie ein Gespür für die Begrenztheit des Wortes artikuliert: »Die Worte … kreisen zuerst um das Geheimnis der Gestalt oder des Gebildes.«107 Der Prolog des Johannes-Evangeliums sprach vom inkarnierten Logos. Mit dem Begriff der Gestalt wird in den vorgeführten Ansätzen der Gegenwart inkarnatorische Theologie entfaltet, die Gestalt-Werdung Gottes als Anschaulich-Werden in der Welt thematisiert. Gestalt ist dabei nicht als religiöse Sondergestalten innerhalb der weitgehend säkularisierten Moderne aufgefasst, sondern als weltliche Erscheinung. 107 H. U. von Balthasar, Herrlichkeit, Bd. 1 Schau der Gestalt, Einsiedeln 1961, 18. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Wie Inkarnation und Welt ins Verhältnis gebracht werden, fällt allerdings sehr unterschiedlich aus. Ein streng christologischer Ansatz bei Bonhoeffer stellt die eine Gestalt exklusiv heraus; ein kulturtheologisch erweiterter Horizont wie Tillich ihn aufspannt, nimmt auch andere Gestalten mit in den Blick, fragt ohne Vergötzung nach Gestalten der Gnade in Kunst und Literatur; ein alltagstheoretisch fundierter Ansatz theologischer Ästhetik bei H. Luther schließlich nimmt unter der Polarität von Fragment und Gestalt lebensweltliche Spuren der Transzendenz auf. Ex post, von heute aus gesprochen kann man sagen, dass damit in die GestaltTheologie eine ästhetische Dimension eingezeichnet ist. Es war jedoch ein weiter Weg von Bonhoeffers grundsätzlicher Reserve gegenüber dem Ästhetischen und von einer Ästhetik des Schönen bei von Balthasar bis zur Neuentdeckung und expliziten Neu-Beschreibung der Ästhetik in der neueren Theologie jenseits einer Lehre oder Verherrlichung des »Schönen«, etwa in H. Luthers Entwurf. Damit ist zugleich das theologische Verhältnis von Gestalt und Kritik berührt. Gerade der Protestantismus hat hier seit je her im Namen des 1. Gebots den kritischen Vorbehalt gegenüber irdischer Gestaltung stärker verfolgt als das Wagnis irdische Gestalten zu entwerfen. Das führte gerade für die Praktische Theologie oft zu Blockierungen, nämlich einerseits der Favorisierung eines gewissen Traditionalismus überlebter Formen im Namen theologischer Kritik, andererseits der sich von theologischer Reflexion abkoppelnden Bemühung um Verlebendigung von liturgischen Formen und der Praxis des Glaubens im Alltag. Einen anderen Weg geht hier die Gestalt-Theologie Tillichs mit der Vorordnung der Gestalt vor der Kritik. Sein Programm einer Kulturtheologie mit weitem Horizont eröffnet neue Perspektiven, Kultur auf ihre religiös relevanten Gestalten hin zu betrachten und ohne Vergötzung des Irdischen als »Gestalten der Gnade« zu lesen. Noch deutlicher aber ist diese Gegenbewegung in der neueren ästhetisch orientierten Gestalt-Theologie vollzogen, wenn im Gestaltbegriff auf einer differenztheoretischen Basis gegen »erschlichene Ganzheit« (H. Luther) Front gemacht wird und das Moment der Kritik in lebensweltliche Wahrnehmung eingetragen wird.

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Schritte zur Praxis Praktisch-theologische Gestalt-Theologie des Kreuzes geht aus von lebensweltlich situierten Gestalten und zielt auf Ermöglichung neuer Praxis. Diese Zielsetzung nehme ich im folgenden Teil wahr. Was der Gestalt-Impuls konkret im Blick auf Handlungsfelder leisten kann, soll exemplarisch im Blick auf Religionsunterricht und Praxis von PfarrerInnen gezeigt werden. Dabei wird das schon in der Einleitung genannte doppelte Verständnis von Gestalt im Sinne vorgängiger Gestalten und Gestaltungsprozessen genutzt. Entsprechend frage ich in Bezug auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene in empirischen Erkundungen nach Voraussetzungen des Gestaltumgangs, um daraus religionspädagogische bzw. pastoraltheologische Handlungskonsequenzen abzuleiten. Wie dabei die Wahrnehmung der ästhetischen Dimension von Praxis neue Zugänge zu ganz alten kreuzestheologischen Traditionen wie der »Kenosis-Lehre« ermöglichen kann, beleuchtet das dritte Kapitel dieses Abschnitts.

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Vorstellungen vom Kreuz bilden. Religionspädagogische Aufgaben

7.1 Kreuz und Passion: Verlegenheiten und Fehlstellen der Religionsdidaktik Moderne Religionsdidaktik als interdisziplinäre Reflexion zwischen Theologie, Bildungstheorie und Fachdidaktik ist bei aller Öffnung zu religiös pluralen Horizonten einer zunehmend säkularen Welt unzweifelhaft auch auf die Sinnmitte des christlichen Glaubens, also auf den thematischen Zusammenhang des Verständnisses von Gott in der Anschauung von Christus am Ort des Kreuzes verwiesen. Die Botschaft vom Kreuz soll ein neues Verständnis von geglücktem Leben in die Erfahrung der Zweideutigkeit und Heillosigkeit auch der Erfahrung von Kindern und Jugendlichen wirksam einbringen. Die Tatsache, dass hier in der jüngeren Vergangenheit nur ganz wenige Unterrichtsvorschläge vorgelegt worden sind, spricht neben den methodischen Schwierigkeiten dieses Topos zunächst eher für große Verlegenheit mit der Sache. Dahinter stehen wohl epochale Umbrüche im Weltbild wie in der persönlichen Frömmigkeit vieler Zeitgenossen. Auch das Gottesbild vieler Menschen hat sich, wie eingangs angesprochen, gewandelt. Mit dem Zerfall des metaphysischen Weltbildes sind die Verlegenheiten im Umgang mit der Botschaft der Auferstehung trotz aller Entmythologisierungstheologie nicht verschwunden. Zu den Folgekosten sinnvoller und notwendiger moderner Religionskritik an der von Menschen gemachten »Gottesvergiftung« (T. Moser) gehört die schleichende Verharmlosung der Gottesvorstellung, wie sie sogar an neuesten theologischen Versuchen einer Neuinterpretation des Kreuzes zuweilen auftritt.1 Im Bild des »lieben Gottes« kann die Abgründigkeit und Schrecklichkeit von Leben und Tod weder emotional noch kognitiv festgemacht werden. Zu den nach-biblischen Lehraussagen etwa über die sogenannte Zwei-Naturenlehre eines im Kreuz zum Gott erhöhten Jesus können zumal wissenschaftlich-theologisch weniger geschulte Lehrer des 21. Jahrhunderts immer weniger Zugang finden. Was sie sich aber nicht einmal selbst plausibel rekonstruieren können, fällt in einem zusehends ethisch gewendeten Religionsunterricht dann einfach aus. Diese Entwicklung ließe sich an entsprechenden Kapiteln der Schulbücher zum Religionsunterricht seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts leicht nachzeichnen. Aus einem eher distanzierten Christus wurde tendenziell »Jesus der Freund«. Selbstverständlich ist die Passion Jesu aus dem Religionsunterricht nicht einfach verschwunden, aber ihr Vorkommen ist nach inhaltlichem Profil wie nach Häufigkeit von den angesprochenen Verlegenheiten und Trends erfasst. Und das hat etwas mit 1

Vgl. K. P. Jörns, Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentu, Gütersloh 2004, ³2006 und die Anmerkungen im Kapitel »Im Fokus«. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Vorstellungen vom Kreuz bilden

den Grenzen rein kognitiv-lehrhafter Vermittlungsformen zu tun. Eine Sichtung jüngerer thematisch einschlägiger Versuche zu Unterrichtsentwürfen zeigt ein klares Übergewicht in Richtung auf Vermittlung biblisch-erzählender Traditionselemente.2 Daneben finden sich in einigen Veröffentlichungen symboldidaktisch orientierte Ansätze, die allerdings das Kreuz vor allem wiederum auf sagbare Bedeutung als Anzeichen für Glaubensinhalte vermitteln wollen.3 Wenn also das Thema der Passion generell eher randständig geworden ist, kann man sagen, dass nur wenige Versuche auf visuelle Vorstellungen vom Kreuz Bezug nehmen.4 Das hängt damit zusammen, dass eine tendenziell fundamentalistische Abbilddidaktik vermieden werden soll, von denen ja eine Reihe von Illustrationsprogrammen von Bibelausgaben keineswegs frei ist. Es hängt wohl auch damit zusammen, dass sich jenseits dessen aber viele ReligionslehrerInnen nach wie vor in Sachen ästhetischer oder (mit abfälliger Bewertung) »musischer« Bildung weder kompetent noch herausgefordert fühlen. Die oben genannte Notwendigkeit der Verschränkung der intellektuellen mit der ästhetischen Dimension der Bildung hat bei aller vordergründigen Hochschätzung der Symboldidaktik noch nicht wirklich Platz gegriffen. Allzu schnell wird in der schulischen Religionsdidaktik inzwischen die ästhetische Dimension wieder mit Bildermalen als Lückenfüller am Ende der Stunde assoziiert bzw. darauf reduziert. Und gerade, wenn es »um’s Eingemachte« des christlichen Glaubens gehen soll, um Kreuz und Auferstehung, dann werden eher Elemente handfesten »Sachwissens« vorgezogen. Das gilt zumal im Zeichen der aufgeregten Debatte nach PISA um Bildungsstandards für einen schulischen Religionsunterricht, der den Anschluss an die allgemeinen Qualitätsstandards nicht verpassen soll. Auch ausweislich neuerer Lehrpläne für den evangelischen Religionsunterricht ist die Gewichtsverteilung zugunsten der kognitiven Komponente evident. Das steht in deutlicher Spannung zu neueren Einsichten in wirkungsvolle Lernwege in Sachen Religion, die über Anhäufung von Wissen hinausgehen. »Vorstellungen bilden«5 lautet nämlich ein bekannter Imperativ und Indikativ moderner arrivierter Bildungstheorie. Seit der Erfindung der Symboldidaktik in der Religionspädagogik der 2

Vgl. insbes. folgende Schulbücher: Glauben heute. 5./6. Schuljahr, Hannover 1988, (Kreuz und Auferstehung 91–98); Das Neue Kursbuch Religion 5/6, Ffm 1984, Warum das Kreuz? 134 f. bzw. Lehrerhandbuch, 205f206; 209 f. Vgl. ferner aus der Reihe von Unterrichtsentwürfen folgende Titel: Das Kreuz, in: Kirchenräume begreifen. 70 Bausteine für Kirchenbesuch und Klassenzimmer, Lahr 2002, 49–51; RU im Museum, in: http://www.kaththeol.unimuenchen.de/praktisch/didaktik/ seminar_ kreuz_und_kruzifix/rel_musuem1.htm; M. Stoffel, Ein Kreuz wird zum Lebensbaum, in: Braunschweiger Beiträge; http://www.arpm.org/religionsunterricht/pdf/Stoffel_106.pdf; D. Krausnecker, Es ist ein Kreuz. Wege zur zeitgenössischen Kreuzgestaltung mit Schülerinnen, in: cpb1998, 24 f. 3 So bei P. Noß, Das Kreuz als Zeichen Aus: http://www.rpi-loccum.de/kreuz.html, so auch im originellen Ansatz von J. Dichtl, RU im Museum, http://www.kaththeol.uni-muenchen.de/ praktisch/didaktik/seminar_kreuz_und_kruzifix/rel_musuem1.htm. 4 Zu nennen sind hier Malte Stoffel, Ein Kreuz wird zum Lebensbaum, in: Braunschweiger Beiträge http://www.arpm.org/religionsunterricht/pdf/Stoffel_106.pdf. 5 P. Fauser/E. Madelung (Hg.), Vorstellungen bilden, Beiträge zum imaginativen Lernen, Velber 1996. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Kreuz und Passion127

80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist es geläufiges Wissen, dass die Sache der christlichen Religion in Lern- und Unterrichtsprozessen gerade dadurch sach-angemessen erschlossen wird, dass neben der Erweiterung kompetenten religiösen Wissens auch die Entfaltung der gestalterischen Fähigkeiten gefördert wird. P. Biehl hat dies in seiner religionspädagogischen Bildungstheorie in der Verschränkung »intellektueller Bildung« mit »ästhetischer Bildung« eingefordert und zugleich breit entfaltet.6 Bildung zielt dabei insgesamt auf den Prozess der Subjektwerdung, über eine sich wechselseitig ergänzende Erschließung von neuem Wissen für das lernende Subjekt in Aneignungsprozessen wie auch der Aus-Bildung von Vorstellungen zur Steigerung der persönlichen Ausdrucksfähigkeit in Wort und Handeln. Diese didaktische Linie ist in gestaltpädagogischen Ansätzen der Religionspädagogik in einigen interessanten Versuchen aufgenommen worden.7 Zu dieser skizzenhaft markierten Fehlstelle zum Unterrichtsthema »Kreuz« korrespondiert der Befund in der Entwicklungsforschung. Kindliches Verstehen des Kreuzestodes Christi war lange Zeit schlicht kein Thema. Im Rahmen der Forschung zu religiöser Sozialisation ist der Problemzusammenhang um Passion und Kreuz bisher nur selten aufgegriffen worden. Der erste, der hier dezidiert nach den Vorstellungen vom Kreuz gefragt hat, war der Finne K. Tamminen.8 Die weitere Forschung konzentrierte sich stark auf Genese von Gottesbildern, Gottesvorstellungen und Fragen des moralischen Urteils. Vor einigen Jahren hat T. Ziegler in seiner Tübinger Dissertation hier Neuland betreten, indem er mittels methodisch sehr fundierter Einzel- und Gruppeninterviews nach elementaren Verstehenszugängen Jugendlicher zu Jesus Christus gefragt hat.9 Die materialreiche Analyse liefert gewissermaßen in einer Nebenbemerkung den Hinweis darauf, dass lebensgeschichtlich lange vor der selbständigen Reflexion über Jesus bereits frühe Prägungen der Vorstellung von Jesus

6 P. Biehl, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und das Problem der Bildung, in: ders., Erfahrung, Glaube und Bildung, Gütersloh 1991, 124–223. Hinzu kommt bei Biehl als dritte Komponente ethische Bildung, vgl. ders, Religionspädagogik und Ästhetik, in: JRP Bd. 5, Neukirchen-Vluyn 1989, 3–44. 7 Chr. Bizer, Die Gesellschaft auf dem Dachboden und von einem biblischen Kobold, in: JRP Bd. 7, Neukirchen-Vluyn 1991, 161–178; B. Dressler, Die »Gestaltqualität« des Religionsunterrichts – ein Aufgabenfeld für die Forschung? in: D. Fischer/V. Elsenbast/A. Schöll (Hg.): Religionsunterricht erforschen. Beiträge zur empirischen Erkundung religionspädagogischer Praxis, Münster/ New York/München/Berlin 2003, 51–61; S. Leonhard, Leiblich lernen und lehren. Ein religionsdidaktischer Diskurs. Praktische Theologie heute Bd. 79 Stuttgart 2006; vgl. dazu auch den auf Bildung bezogenen Abschnitt im Schlusskapitel dieses Bandes. 8 K. Tamminen, Religious Development in Childhood and Youth. An Empirical Study, Helsinki 1991, 197 ff. unter Rückgriff auf eigene Sudien von 1974 und 1986. 9 T. Ziegler, Jesus als »unnahbarer Übermensch« oder »bester Freund«. Elementare Zugänge Jugendlicher zur Christologie als Herausforderung für Religionspädagogik und Theologie, NeukirchenVluyn 2006. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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über Bilder berichtet wurden, die im Religionsunterricht gemalt wurden bzw. im Kindergottesdienst angeboten wurden.10 Generell gesehen dominiert in der religiösen Entwicklungsforschung von den leitenden theoretischen Bezugsrahmen (Goldman; Fowler; Oser/Gmünder; Schweitzer) her das Interesse an der Rekonstruktion der Wissensinhalte bzw. der Denkformen für religiöse Inhalte und Urteile und ihre Abhängigkeit von Sozialisationsfaktoren. Vorstellungen im Sinne von ästhetischen Gestalten und Formen sind durchweg nicht von Interesse.11 Selbst in der relativ breit ausgebauten Forschung zur Genese kindlicher Gottesbilder12 sind visuelle Phänomene und gestalterische Prozesse von Kindern eher als Ausdruck und Auswirkung bestimmter kognitiver Schemata, gelegentlich sogar als deren pure Illustration, behandelt worden. Dabei wird nicht selten das vorstellende Denken als die frühe kindliche Durchgangsstufe behandelt, welche in gelingender Entwicklung den abstrakteren begrifflichen Vorstellungen weichen. Wie wir aus der gestalttheoretisch orientierten Psychologie sowie der ästhetisch sachkundigen Bildungstheorie wissen, wird eine solche Sicht jedoch den komplexen Bildungsprozessen und speziell der Eigendynamik von Sehprozessen in der Bildung religiöser Vorstellungen von Individuen nicht gerecht (vgl. dazu ausführl. das Kap. »Gestalt und Gestalt-Wahrnehmung«). Ich möchte deshalb diese Fehlstelle aufgreifen und dieser ästhetischen Dimension in Vorstellungsbildungen von Kindern und Jugendlichen zum Thema Kreuz genauer nachgehen. Die Fokussierung auf das Kreuz ist in erster Linie vom Thema dieses Buches her bestimmt und soll den theologischen Gewinn einer solchermaßen erweiterten Interpretation zeigen. Der Weg steht jedoch zugleich exemplarisch für die Gestaltdimension religiöser Bildungsprozesse insgesamt. Ich gehe auf dem Hintergrund von Gestaltpsychologie und Gestalttherapie hier davon aus, dass ein starker Begriff von Gestalt auch andere Elemente in die Religionspädagogik einbringt, so dass er zur weiteren Klärung der Grundaufgaben des Faches insgesamt Hilfestellung geben kann. Was H. Schröer für die Praktische Theologie anmahnte, »das Moment der Fantasie, der Bildungskraft, der Sehfähigkeit, der Vorausschau«13, das wird man für eine theologisch und bildungstheoretisch fundierte Religionspädagogik kaum vernachlässigen können. 10 Ziegler 400 ff. Aufgrund des anders gearteten Forschungsinteresses nimmt Ziegler diesen Befund aber nicht weiter auf und konzentriert sich auf die elementaren kognitiv-theologischen Zugänge der befragten Gymnasiasten. 11 Das gilt auch für die Studie an niederländischen Vorschulkindern von M. van’t Zand/S. de Roos, »Ich denke, diese Kreuze auf dem Hügel sind Vogelscheuchn!« Die Vorstellungen kleiner Kinder von Ostern, in: Jahrbuch für Kindertheologie, Bd. 2, Stuttgart 2003, 75–88, die außerordentlich interessante Kinderzeichnungen lediglich auf Wissensinhalte hin interpretiert. 12 Vgl. etwa D. Fischer/A.Schöll (Hg.): Religiöse Vorstellungen bilden. Erkundungen zur Religion von Kindern über Bilder, Münster 2000 sowie H. Hanisch/G. Orth (Hg.), Was Kinder glauben. 24 Gespräche über Gott und die Welt, Stuttgart 1997. 13 H. Schröer, Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung (1986), in: ders., In der Verantwortung gelebten Glaubens. Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Lebenskunst, Stuttgart 2003, 40. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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So will ich zeigen, wie gerade am zentralen Element der christlichen Religion, am Umgang mit dem Kreuz, Verstehen und Gestaltwahrnehmung mit Gewinn miteinander verschränkt werden können. Eine Klärung der Bedingungen und Gestaltungen von Lernprozessen zu diesem sachlichen Zentrum christlicher Religion versucht zu zeigen, wie die sachlich-theologische Perspektive erzählter Deutungen des Kreuzes immer schon auch mit Bildern und bildhaften Vorstellungen vom Kreuz verschränkt ist. Damit gehört es zur Aufgabe der Sozialisations- und Entwicklungsforschung anthropologisch fragender Religionsforschung, Näheres über Bedingungen und Eigenarten von menschlichen Verstehenszugängen zum Kreuz Christi als Leben erschließender Botschaft zu ermitteln. Dabei kann nicht nur ausschnitthaft demonstriert werden, welche Selbstbildungsprozesse hier bei Kindern und Jugendlichen immer schon stattgefunden haben, auf denen dann intentionales Lernen in einer Schulstunde aufruht. Vielmehr ergeben sich aus dieser Analyse auch neue gestaltdidaktische Erschließungsmöglichkeiten für theologisches Verständnis des schwierigen Themenkomplexes Kreuz, Passion und Auferstehung. Zumal für Wort-zentrierte protestantische Theologie scheint es ein auf den ersten Blick eher abwegiger Gedanke zu fragen, ob und inwieweit theologisch relevante Prozesse der Erschließung der Kreuzesbotschaft an Vorstellungen hängen. Hier berühren sich jedoch Fragestellungen ästhetisch orientierter Entwicklungsforschung mit ästhetisch orientierter Theologie.

7.2 Sehen: Wissen und Strukturen Visuelle Gestalten des Kreuzes begegnen Menschen auch in einer nachchristlichen Epoche vielfältig, so hat es sich in den lebensweltlichen Zugängen herausgestellt (vgl. oben Kapitel 2 und 3). Das geschieht, für manche heute vielleicht seltener, beim Gang in die Kirche und ins Museum, unübersehbar jedoch in der Alltagskultur: in Inszenierungen der Pop-Kultur, auf Spielkarten, in Videoclips, in Reklamespots, auf Werbeplakaten und als modische Accessoires der Kleidung. Mit Kreuzen im religiös eher unthematischen Sinne haben es heute auch Kinder und Jugendliche unablässig zu tun. Wie erschließt sich der mögliche religiöse Sinn und Sinnzusammenhang entsprechender visueller Zeichenkomplexe? Es entspricht generell einer gängigen Auffassung, dass das Verständnis der visuellen Phänomene an Wissen geknüpft ist und dass Deutungsprozesse an Bilder, Skulpturen und anderen Artefakten unabdingbar verbal-inhaltliche Voraussetzungen haben. D. h. in unserem Fall, in dem es um das christliche Kreuz als visuelles Phänomen geht, dass Verstehensprozesse dieser Gestalt an die Voraussetzung von Kenntnissen über biblische Überlieferungen und zumindest an elementare theologische Deutungen gebunden seien. Behauptet wird damit also entwicklungstheoretisch, dass sich die Bedeutung des Kreuzes in seiner visuellen Gestaltung über das Lernen der entsprechenden Bedeutungskonventionen vollzieht. Eine solche konventionalistische © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Hypothese scheint gestützt durch Erklärungsmuster, die man im Einzelfall sogar schon bei Kindern im Grundschulalter nachweisen kann. Es bedarf keiner eingehenden empirischen Untersuchung, um den angesprochenen Zusammenhang zwischen Wissen und Wahrnehmen als einen wichtigen Faktor des Sinnverstehens in der Gestaltwahrnehmung zu erkennen. Fordert man ein Kind etwa im Umfeld des Religionsunterrichts oder des Kindergottesdienstes dazu auf, ein Bild von Jesus am Kreuz zu malen, so wird man im kindlichen Malprodukt fast in jedem Falle auch Elemente reproduzierten Vor-Wissens identifizieren können. In den Bildern kommen aber bei näherer Betrachtung zugleich fast immer eigene produktive Deutungen durch das Kind zur Darstellung. In analoger Richtung zeigt das Bild des elfjährigen Jungen eine von spezifischer Deutung geprägte bildliche Gestaltung: Silvio, aufgefordert, Jesus am Kreuz zu malen, lieferte nebenstehendes Bild-Text-Produkt.14 Die eher kraftvoll ausgestreckten Arme korrespondieren mit dem triumphalen Gestus des Textes.

Abbildung 16

Geht man allerdings heute davon aus, dass viele Heranwachsende kein oder nur noch sehr geringes Wissen über Erzähltraditionen der biblischen Passionsgeschichten haben, dann würde das heißen, dass die Zugangsmöglichkeiten zum Verstehen der Gestalt gefährlich reduziert wären.

14 Ich verdanke dieses Bild Isabell Ranft. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Abbildung 17

Der solchermaßen gedachte Zusammenhang von Vor-Wissen und Gestaltverständnis vernachlässigt allerdings wichtige Faktoren jenseits inhaltlicher Bestimmungen. Inhaltsunabhängig sind gewiss die jedem Kinderbild vom Kreuz sichtbaren feinmotorischen Fähigkeiten und jeweils verfügbaren Malschemata der Urheber.15 Betrachtet man die thematischen Inhalte der produzierten Bilder im Horizont geläufiger strukturgenetischer Theorien über religiöse Entwicklung, so zeigt sich neben inhaltlichem Wissen als Bedingungsfaktor des kindlichen Gestaltens rasch auch die Relevanz formaler Denkstrukturen. Wir finden in den Bildern etwa die auch religionsgeschichtlich bekannte Oben-Unten-Polarität16 des Kreuzes, je nach Verstehenshorizont als Bildfolie also ein eher mythologisches oder eher naturwissenschaftlich realistisches Weltbild. Dieser Aspekt ist auf Abbildung 17 deutlich erkennbar. Die Aufgabe, ein Bild von Gott zu malen, beantwortet Alexander mit einer 15 Aus der Fülle der hierzu vorgelegten Untersuchungen nenne ich exemplarisch A. Bareis, Vom Kritzeln zum Zeichnen zum Malen, Donauwörth 1989 und H.-G. Richter, Die Kinderzeichnung. Entwicklung – Interpretation – Ästhetik, Düsseldorf 1987. 16 Vgl. R. L. Fetz, Die Entwicklung der Himmelssymbolik in Menschheitsgeschichte und individueller Entwicklung. Ein Beitrag zur genetischen Semiologie, in: Zweig, A. (Hg.): Zur Entstehung von Symbolen, Bern 1985, 111–150. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Darstellung Jesu als Superman17; der verbale Kommentar des Jungen bestätigt diese Wahrnehmungsauffassung: Alexander: Also, ich habe ihn ans Kreuz, also, gebunden und dann, dann … Ja, ich habe ihn ans Kreuz gebunden. I: Wie hast du gesagt mit dem Wegfliegen? Alexander: Ja, und da wollte er dann so fliegen. Halt in die Höh’. I: Und hast du auch Flügel gemalt? Alexander: Ja. l: Die waren für den Gott, sozusagen? Alexander: Zum Fliegen. I: Zum Fliegen. Und da, wieso war das Gott, der da am Kreuz ist? Alexander: Ich habe es mir einfach nur so vorgestellt. I: Du stellst dir Gott vor, der am Kreuz hängt, und dann fliegt er weg vom Kreuz? Alexander: Naja, es soll darstellen, also, daß er sich … daß er der Mächtigste, und daß er halt alles kann, und alles. 18 Auffällig an den beiden zufällig herausgegriffenen Beispielen ist die Abwesenheit jeder Leidensmomente der Gestalt am Kreuz. Wie weit in solchen bildlichen Gestaltungen symbolisch verschlüsselt zugleich eine dezidierte Verdrängung der Leidensthematik zum Ausdruck kommt, muss angesichts der unzureichenden Datenbasis im Bereich von Vermutungen bleiben. Bereits diese wenigen aufgeführten Einzelbeispiele lassen an einer ausschließlichen Abhängigkeit der Gestaltdeutung vom inhaltlich biblischen Vorwissen zweifeln. Erst recht legen aber gestalttheoretische und gestaltpsychologische Forschungen Zweifel darüber nahe, ob die Wahrnehmung und Gestaltformung bei Kindern wirklich dominant durch das inhaltliche Vorwissen konstituiert wird. Neben den bekannten zeichnerischen Schemata (Kritzelbilder, Kopffüßler usw.) hat einschlägige Forschung der Gestaltpsychologie eine ganze Reihe von inhaltsunabhängigen Wahrnehmungsschemata figürlicher Gebilde ermittelt. Der Wahrnehmungstheoretiker R. Arnheim hat sie in seinen ausgedehnten Studien auch bei Kindern19 für jede Art des Umgangs mit visuellen Phänomenen als relevant nachgewiesen und im Einzelnen erläutert: das Gesetz der Prägnanz, der Nähe, der Gestaltschließung usw. Diese Gestaltgesetze der Wahrnehmung beziehen sich nicht auf wahrgenommene Inhalte, sondern auf abstrakte Muster, Zusammenhänge, Eigenschaften und Verhältnisse. Sie beschreiben, wie wir »Dinge« wahr17 Entnommen aus U. Arnold/ H. Hanisch/G. Orth (Hg.), Was Kinder glauben. 24 Gespräche über Gott und die Welt, Stuttgart 1997, 334. 18 Arnold u. a., 335. 19 Vgl. R. Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges (1936),³2000, Berlin, insbes. das Kap IV Wachstum 157 ff. Vgl. zum Ansatz Arnheimers das Kap. »Gestalt und Gestaltwahrnehmung« in diesem Band. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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nehmen – unabhängig davon, ob es sich um menschliche Körper, Bleistifte, Hunde oder eben Kreuze handelt. Ebenfalls nachgewiesen ist in der Gestaltpsychologie, dass solche Wahrnehmungsdynamik nicht-sprachlicher Inhalte beim Menschen mit der Wahrnehmung gleichursprünglich Prozesse der Sinnbildung freisetzt. Damit liegt in unserem Zusammenhang der Gedanke nahe, dass bereits bei den erwähnten simplen Malübungen nicht nur Wissen re-produziert wird. Das Aktivieren von Vorwissen verschränkt sich vielmehr mit Schritten des Sinnverstehens, welche neben der sprachgebunden kognitiven Seite an Bildung ästhetischer Vorstellungen und Symbole geknüpft wird; in all dem kann – mehr oder weniger – produktive Deutung stattfinden.

7.3 »Magieamulett« – »… sieht aus wie eine Leberwurst«: Zwei junge Menschen nehmen Gestalten des Kreuzes wahr 7.3.1 Zur Methode der explorativen Feldforschung So relevant auch immer ein Vor-Wissen  – oder dessen individuelle kognitive Abwandlung und Ersatzbildung  – sein mag, so vielschichtig bleibt der Gestaltzugang zum Kreuz Christi und zur Kreuzigungsszene bei Kindern und Jugendlichen. Anhand von explorativen Feldforschungen mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlichen Alters möchte ich die Verschränkung von sprachlichen Deutungen und Gestaltelementen in der Wahrnehmung des Kreuzes genauer zu ermitteln versuchen. Als methodischer Zugang dient dazu jedoch nicht das eben genannte simple Verfahren über Kinderbilder. Als motivierender und ergiebiger hat sich ein Procedere erwiesen, bei dem Kindern bzw. Jugendlichen Kreuz-Skulpturen zur Betrachtung und Kommentierung vorgelegt wurden. Das geschah bewusst außerhalb des Kontextes von Schule und Religionsunterricht, um bei den Befragten die Erwartung »richtiger« Antworten im Sinne des »Religionsstunden-Ichs« möglichst gering zu halten. Von Nutzen ist für eine genauere Rekonstruktion der Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse, in diesen halboffen-narrativ strukturierten Einzelinterviews neben den verbalen Deutungen zugleich auch diejenigen Deutungs- und Ausdrucksmomente der Kinder zu berücksichtigen, die über deren nicht-sprachliche und körperbezogene Kommunikationskanäle wie Gesichtsausdruck, Körperbewegung und Hantieren mit den Gegenständen erschließbar sind. Wir haben im Rahmen eines Seminarprojektes dabei mit drei kleinen Skulpturen aus Metall gearbeitet: Die erste Figur ist aus dünnem Aluminium gefertigt (Abb. 18). Sie ist ca. 12 cm hoch, 9 cm breit und wiegt ca. 42 Gramm. Ins Auge springt dem Betrachter das Besondere der Gestalt: Innerhalb der Kreuzform ist eine menschliche Figur mit Kopf, Rumpf, erhobenen Armen und ausgestreckten Händen als Aussparung erkennbar. Dieses »Negativ-Kreuz« hat am oberen Ende ein kleines Loch, an dem es aufgehängt werden kann. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Abbildung 18

Die zweite Figur (Abb. 19) hat mit 11 zu 9 cm etwas kleinere Ausmaße. Sie ist jedoch aus massivem Edelstahl gefertigt, fast 1 cm dick und liegt mit ihrem Gewicht von 254 Gramm deutlich schwerer in der Hand. Die beiden Holme des Kreuzes zeigen in stilisierter Form menschenähnliche Gestalten mit Kopf und Rumpf, die ineinander verschlungen sind. Die senkrechte Gestalt ist glatt poliert, die waagerecht liegende durch fühlbare und sichtbare Riefen gezeichnet. Die Horizontale mündet in einen kleinen Fuß, auf dem die Figur stehen kann. (Vgl. auch die Beschreibung der Gestalt im Kap. »Kreuz-Gestalten« in diesem Band.) Als dritte Figur diente ein kleiner Anhänger in den Maßen 4 mal 4 cm (Abb. 20). Dieses Kreuz ist an einer dünnen Lederschnur befestigt und wiegt nur 21 Gramm. Die Formgebung ist auch hier eigentümlich. Die mit den breiteren Schenkeln variierte Grundform des lateinischen Kreuzes ist abgewandelt durch ein asymmetrisch angebrachtes Loch, das von einem Strahlenkranz umgeben ist. Die Strahlen sind gelb markiert. Die Holme des Kreuzes sind abgerundet.

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Abbildung 19

Abbildung 20

Für das primär explorative Interesse an Eigenarten kindlicher Wahrnehmung und seiner Entwicklungsdynamik bleiben in unseren Versuchen die künstlerische Qualität und auch die theologische Angemessenheit der Figuren im Sinne biblischer Kreuzestheologie zunächst außer Betracht. Auf sie komme ich später zurück. Wichtig ist, dass jede Skulptur eine eigene prägnante Gestaltung der Kreuzes-Form präsentiert, sodass den Betrachtenden ein Spektrum unterschiedlicher Formgebungen des Materials, unterschiedlicher thematischer Orientierungen und symbolischer Bezüge vorgelegt wird. Die drei Figuren legten wir nun Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Situationen innerhalb der Freizeit vor, um sie in ein halboffen narratives Interview zu verwickeln. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Ich greife im Folgenden auf die Gespräche mit zwei Kindern unterschiedlichen Alters, Lena (6 Jahre) und Danny (14 Jahre) zurück. Zunächst werden die Interviewtexte jeweils in wichtigen Ausschnitten wiedergegeben und dann jeweils auf spezifische Elemente der Verstehenszugänge hin kommentiert. Daraus ergeben sich übergreifende Momente der Gestaltwahrnehmung und Schlussfolgerungen für die Religionsdidaktik, die im Schlussteil notiert werden sollen.

7.3.2 Lena Lena ist ein aufgewecktes und neugieriges Mädchen, das zum Zeitpunkt des Interviews am Beginn des 1. Schuljahrs stand. Sie ist sehr sprachgewandt, kann auch schon lesen und schreiben. In der Familie spielen religiöse Fragen und biblische Traditionen keine erkennbare Rolle; sie geht gelegentlich mit ihrer Tante in den Kindergottesdienst. Im Interview, das ca. 20 Minuten dauerte, wurde Lena zunächst die zweite, massive Figur vorgelegt, dann die Erste aus Aluminium. In einem späteren Abschnitt des Gesprächs kam die Dritte hinzu. I.: Na guck mal. L.: Ja I.: Was du erkennen kannst? L.: He, he guck mal hier, das ist ja so en, hier Jesus, wie ist denn das … mmh kann man umdrehen … also hier ist der Jesus am Kreuze hängen da, hier denk ich einfach mal wird der Jesus so im Arm gehalten, denke ich mal, och ich weiß es nicht. I.: Wer hält den in den Arm? L.: Vielleicht die Mutter oder der Papa. I.: Ja L.: Wie auf dem Bild, ein kleines Baby wo er im Arm gehalten von meiner Mama, weil es sieht irgendwo so merkwürdig aus, das könnte das sein was ich gerade gesagt habe … äh … I.: Hast du ne Idee? L.: Mmmh, das was ich gerade gesagt habe I.: Ja L.: Das müsste eigentlich stimmen, aber sonst weiß ich gar nichts anderes I.: Ja L.: Und hier ist er schon etwas älter [zeigt auf Figur 1] I.: Warum? L.: Weil er da so am Kreuz hängt und das erst wenn der schon erwachsen ist. I.: Ach so. L.: Und da erst als Baby, Riesenbaby. … L.: Wie das so war, das hier so, das will ich hier genau übereinander haben. I.: Ja und passen sie übereinander? © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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L.: Nicht so richtig. I.: Mmmh und welches Kreuz findest du den besser? … L.: Ich finde das hier besser [zeigt auf Figur 3]. I.: Warum findest du das besser? L.: Weil das so fast ne Kette ist. I.: Ach, so. I.: Kannst du dir das umhängen? L.: Mein Kopf passt da nicht durch. I.: mmh, knapp, ne. L.: Ja. I.: Das passt nicht. L.: Hätt ich nen kleineren Kopf … I.: würdest du dir das umhängen … Das dritte Kreuz (Figur 3) am Lederband wird präsentiert. L.: Mmmh, das sieht ja mal witzig aus. I.: Das ist ganz anders als die anderen, ne. L.: Ja, ja … Warte mal, also, mmh soll ich mal sagen welches Kreuz ich das schönste finde? I: Ja, das will ich jetzt gerne mal hören. L.: Das kommt erst mal so … [ordnet die drei Figuren vor sich auf einem Blatt neu an] So, so mmh, warte mal, … welches war das jetzt noch mal? I.: Das sieht ja wirklich ganz anders aus, ne. L.: Hier das da I.: Das in der Mitte, was kannst du denn da eigentlich sehen? L.: Eigentlich, das finde ich noch das schönste I.: Wie sieht denn das aus? L.: Ist so ein ganz kleines Kreuz, hat hier so eine kleine Öffnung, kleiner Kreis, das ist Silber wie das und hier sind noch die en kleiner Halbkreis, der was so … und hier noch die Strahlen von der Sonne. I.: Mmm, ist das auch ein Kreuz von dem Jesus? L.: Mmh … ne. I.: Meinst du nicht? L.: Ne. I.: Warum nicht? L.: Man sieht eh …, das sieht nicht so aus wie ein Jesuskreuz. I.: Wie sieht es aus? L.: Mehr nach, en nach en anderem, aber, ein anderes aber kein Jesuskreuz. I.: Und warum sieht das Andere nach dem Jesuskreuz aus? L.: Also das auf jeden Fall! [sie zeigt auf die erste Figur] I.: Warum? © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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L.: Weil der Jesus ja, weil Geister gibt’s ja nicht, weil sonst wenn’s noch Geister gäbe, wär’s ja en Geist. I.: Warum meinst du, dass es en Geist wär? L.: Wenn’s den Jesus nicht gäbe und nur die Geister gäbe, kein Jesus, dann wäre es ja natürlich en Geist. I.: Warum wär’s en Geist? Wie kommst du denn auf die Idee, mit dem Geist? L.: Wie heißt das … fünfzig gerade … I.: Mmm. L.: Wie heißt das? I.: Das sieht nicht aus wie ein Geist, ne? L.: Ne, ne. I.: Warum sieht das Andere aus wie ein Geist? L.: Das sieht erst mal so ähnlich aus wie ein Geist, weil er hatte auch der Geist macht auch manchmal so … und kuckt so … und er hat so en, weißte, und der ist ganz weiß … das ist auf jeden Fall nich der Jesus. I.: Warum ist das nicht der Jesus? L.: Überleg nur gerade erst. I.: Ja. L.: Das ist nicht der Jesus. Das is irgendjemand aus der Kirche, der macht so … I.: Aber warum meinst du, dass es nicht der Jesus ist? L.: Weil, auf jeden Fall hat der Jesus kein Kleid an. I.: Und da siehst du ein Kleid? L.: Ja, guck doch hier, die Ärmel, Jesus hat keine Ärmel. I.: Ja. Ok. … L.: Das ist auch nicht der Jesus! [sie nimmt die zweite Figur in die Hand] Also es könnte ja sein, dass das die Mutter mit dem Jesus im Arm ist aber sonst weiß ich nicht. I.: Mmm. L.: Und das sieht auf jeden Fall, das sieht so ähnlich aus wie ein kleines Amulett [sie zeigt auf Figur 3]. I.: Ja, könnte man sagen, ne. L.: Ja. Interviewer dreht die dritte Figur L.: … muss anders rum! Sieht echt aus wie ein kleines Amulett … Soll ich mal was sagen? I.: Bitte. L.: Wenn das hier auch so en Kreuz wär wie, wenn das hier auch so zu wär und ne Ecke wär wie da und da eine kleine Sonne draufgemalt wär, in der Mitte genau, dann hätt ich das en Amulett genannt, dann wüsste ich direkt, das wär en Amulett. I.: Ok. L.: Jetzt ja auch. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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I.: Ja. L.: Haha, das ist en Magieamulett, derjenige der das anzieht als Halskette ist en eh Zauberer oder die Bibi Blocksberg, jaaaaa Bibi Blocksberg! [sie hebt dabei beide Arme zur Siegerpose hoch]. Kommentar Lena kommentiert bereitwillig und flüssig, was ihr vorgelegt wurde. Dass sie über ein für ihr Alter beachtliches sprachliches Ausdrucksvermögen verfügt, ist von den Antworten her evident. Sie kann Details der Gegenstände genau wahrnehmen und in Worte fassen. Der Satzbau ist mitunter recht komplex. Von den Figuren 1 und 2 fühlt sie sich angeregt zur Assoziation personaler Konfigurationen (Geist bzw. Mutter). Sie verfügt über Begriffe, mit denen sie Gestaltelemente einordnet und zuordnet, und das nicht nur in Bezug auf konkretere Dinge wie Krone und Sonne, sondern auch – in der Schlusssequenz – unter Bezugnahme auf den komplexen Begriff des Amuletts. Wir erfahren, dass sie auch die bekannte Heldenfigur der Kinderliteratur Bibi Blocksberg kennt. Auffällig und ein wenig altklug wirkt bei Lena, dass und wie sie in mehreren Erklärungsversuchen argumentiert und räsoniert, etwa bei der Sequenz über Geister und über die Entscheidung, ob Jesus ein Geist sei oder nicht. Den vom Interviewer eingebrachten Bezug zu Jesus nimmt sie sofort auf, hantiert aber dabei klare ästhetische Vorstellungsmuster als Maßstab, ob eine der Skulpturen ihrem Bild von Jesus gleicht oder nicht (Kleid und Ärmel). Das Wort »Kirche« taucht zwar einmal auf, aber insgesamt wird damit von Lena kein bestimmender Rahmen für ihre Wahrnehmungen der drei Skulpturen benannt. Interessant ist hingegen, wie sich in ihren Kommentaren wie ein roter Faden das Interesse am Realitätsstatus der in den Figuren präsentierten Phänomene durchzieht. Das gilt für die Diskussion um Geister ebenso wie für das Amulett. Denn da liegt schließlich die Pointe beim Wort »Magieamulett«. Man kann deshalb wohl insgesamt festhalten, dass Lena mit ihren Deutungsansätzen die vorgelegten Metallkreuze nicht mit kirchlich-religiösen Erzählüberlieferungen verknüpft, auch nicht mit Passionsgeschichten, aber dass sie ihre Wahrnehmungen und Symboldeutungen der Figuren hingegen sehr wohl mit einer bestimmten kognitiven Strukturierung der Realitätsvorstellung, formal gesprochen, nach dem Muster eines bestimmten Weltbildes strukturiert. Allerdings bleibt gerade die Schlusssequenz keineswegs auf diese kognitive Dimension beschränkt. Das Gespräch mit Lena konnte glücklicherweise im Videomitschnitt festgehalten werden. Es ist an einigen Stellen äußert instruktiv, über den Text des Transkripts hinaus auch die parasprachlichen und nonverbalen Elemente wie Satzmelodie, Körperhaltung, Gestik und vor allem den Blickkontakt zum Interviewer mit einzubeziehen. Dadurch werden viele Antwortversuche des Kindes in ihrer Bedeutung sehr viel klarer. Das beginnt bereits in den ersten Minuten des Gesprächs, wenn man sieht, wie Lena zunächst die drei Kreuzfiguren auf dem Papier hin und her © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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schiebt und dabei auf die Frage nach der schönsten Figur kommt. Auch zahlreiche andere Einzelbeobachtungen und Schlussfolgerungen ergeben sich für das Kind über das konkrete Be-greifen und Abtasten der Materialien. Bei der Beschreibung des dritten Kreuzes geht jeder sprachlichen Äußerung eine Fingerbewegung voraus, mit der sie Einzelheiten abtastet. Die letzte Sequenz zum Thema Amulett (Figur 3) beginnt damit, dass Lena das Lederband in die Hände nimmt und sich umzuhängen versucht. Am interessantesten ist allerdings die im Text überhaupt nicht fassbare nonverbale Kommunikation des Kindes mit dem erwachsenen Interviewer. Dabei zeigt sich nämlich, dass Lena über die intensiven Blickkontakte gleichsam dialogisch aushandelt, ob und inwiefern Jesus ein Geist genannt werden kann oder nicht. Sie gibt »Testdeutungen«, die jeweils von neugierig-herausfordernden Blicken begleitet sind. Das kippt erst in der Schlusssequenz um: Hier zeigen die Bilder einen Szenenwechsel, wenn nämlich Lena begeistert in die Rolle von Bibi Blocksberg mit Fähigkeiten zum Zaubern einsteigt.

7.3.3 Danny Der Junge ist zum Zeitpunkt des Interviews 14 Jahre alt, geht in die 8. Klasse der Realschule und hat zwei Geschwister. Abgesehen vom sprachlichen Bereich sind seine schulischen Leistungen eher mittelmäßig. Seine Hobbys sind Judo und Lesen. Er ist das Mittlere von drei Geschwistern und steht in der Familie etwas im Schatten von Bruder und Schwester. Er hat gleichwohl guten Kontakt zu seinen Freunden. Seit drei Jahren ist Danny Mitglied in einer evangelischen Freikirche, zunächst begeisterter Kirchgänger und Teilnehmer einer Jugendgruppe, mittlerweile auch aktiv als Leiter einer Gruppe für jüngere Kinder. Mit seinem Engagement für religiöse Fragen hat er zunehmend die Familie angesteckt; inzwischen nehmen alle am Leben der Gemeinde regen Anteil. Danny ist sehr redegewandt und mitteilsam, das Gespräch erstreckte sich über zwei Stunden.20 Da die Erklärungen rasch zwischen verschiedenen Figuren hin- und herspringen, ist im Text jeweils die Nummer des Kreuzes hinzugefügt. [Danny nimmt gleich zu Beginn des Interviews Figur 3 in die Hand] D: Also, was ich schon daran sehe, das sind alles drei Kreuze. Also ich glaube, ein Kreuz ist … das Kreuz hat immer den gleichen Sinn, also erinnert immer an Jesus. Also, das Jesus da ist und sie habe immer verschiedene Formen. Das hier (Figur 3) ist eher kleiner, kann man sich um den Hals hängen. Das kann man sich zwar auch um den Hals hängen, (Figur 2) aber das würde etwas ins Gewicht fallen. Es hat eine ganz andere Form. Es ist schwerer, es ist halt nicht so klein und handlich. Sondern das ist ein Kreuz, was man in der Kirche benutzt, wenn der Pfarrer dann so macht (hält das Kreuz mit beiden Händen in den Himmel) und sagt: »Halleluja« oder so. Und das ist halt so ein Kreuz (Figur 1) … das erinnert mich an so ein Todeskreuz, glaub ich. Also, weil mein Opa ist 20 Das Interview wurde von Kathrin Zöllner durchgeführt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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letztens gestorben und dann hat der auch so einen Engel bekommen und durch dieses Kreuz spricht der Engel. Es ist leicht, im Gegensatz zu dem hier (Figur 2). Kann man sich auch um den Hals machen, aber weiß nicht, wie das aussehen würde. [Er hält sich das Kreuz vor die Brust] Auf jeden Fall würde ich mal sagen, das Kreuz hier (Figur1) gefällt mir am besten, weil es ist leicht und handlich. I: Also, das mit der Person darin? D: Ja, das Mittlere (Figur1) hat den Charakter von den beiden anderen Kreuzen, also das kleine zum Hals umhängen (Figur 3) und das große, schwere (Figur 2). Es ist leicht (Figur 1) und es kommt eine Message rüber, weil das Schwere, kann man sich ja nicht mit in die Schule nehmen und um den Hals hängen, damit die Anderen sehen, dass man an Gott glaubt. Das Kreuz (Figur 3) kann man sich um den Hals hängen und das ist auch nicht so schwer und da wird noch was rüber gebracht. Ja, also zu dem Großen noch mal (Figur 2), das würde ich ganz persönlich zum Beten benutzen. Wenn ich etwas für die Hand brauche, dann brauche ich etwas großes, und weiß, Gott ist immer bei mir. Oder ich würde es an die Zimmerdecke hängen, damit ich weiß, Gott ist in diesem Raum, ist immer da. Das kleinere (Figur 3) würde ich mir um den Hals hängen, oder so. Die Sonne auf dem kleinen Kreuz erinnert mich an das Leben Gottes und das Jesus auf die Welt gekommen ist und die Erleuchtung. Und er macht das Leben hell von einem Menschen und vielleicht, will das Kreuz das bewirken. Und bei dem (Figur 1), ein Engel mit ausgestreckten Armen, der sagt: »Komm zu mir, ich bin immer bei dir.« Und bei dem Großen halt (Figur 2), kann man halt nicht wirklich was erkennen, finde ich. Sieht aus wie eine Leberwurst (Dany zeigt waagerecht). Und das Andere wie eine Schachfigur (Danny zeigt senkrecht). Na ja, wie ein Frosch. Also, so als ob zwei Körper miteinander verkuppelt wären. Das beide miteinander zusammen stehen und durch dick und dünn gehen. Und egal was passiert, immer füreinander da sind. Und sagen wir, das sind zwei Menschen, die sich gestritten haben, und dann kommt der Eine zum Anderen und sagt: »Komm das war echt blöd von mir, der Streit« und dann haben die halt gesagt, dass sie sich wieder versöhnen wollen und so dicht zusammenhalten, wie dieses Kreuz und nie auseinander gehen. Was kann ich noch sagen? Das könnte man hinstellen. I: Könnte man, ja. D: Könnte man. I: Stimmt. D: Auf jeden Fall ist das wirklich das beste Kreuz [Figur 1]. Klar, könnte man das Kreuz zum Beten nehmen und so sagen: »Gott komm, komm und hilf mir, in dieser Situation« Also ich denk mal, bei mir ist das so, wenn ich bete und meine Bibel in der Hand hab, brauche ich etwas Schweres in der Hand. Das hier (Figur 1) trage ich halt gerne, weil dann sehen wirklich Alle, das ist ein Kreuz mit etwas darauf. Klar könnte man auch das kleine (Figur 3) nehmen, aber da ist ein Engel drauf (Figur 1), der seine Arme so ausstreckt, und da sehen auch alle, ihr könnt zu Jesus kommen, egal wie ihr seit. Das, finde ich, bringt mehr Message rüber, also mehr Botschaft für andere, die nicht an Gott glauben. Wenn mich jetzt jemand ansprechen würde, mit welchem Kreuz, du Leute © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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probierst zu Jesus zu bringen, dann würde ich ganz klar das Mittlere (Figur 1) nehmen, weil dass, drückt was aus. I: Was drückt es denn aus? D: Das hier drückt aus, also wie ich schon gesagt hab, dass der Engel da … also Liebe und Hoffnung. Wenn ihr zu Jesus kommt, dann empfängt er euch mit offenen Armen, er strahlt Wärme aus und er ist so was, wie ein zweiter Vater. Du kannst immer zu ihm kommen und er ist nie sauer auf dich. Wenn du Scheiße gebaut hast, gehst du zu ihm und sagst: »Jesus ich hab Scheiße gebaut, das weiß ich« und dann empfängt er dich mit offenen Armen und sagt nicht, du gehst jetzt ab in die Hölle. Sondern er nimmt dich trotzdem auf und sagt zu mir: »Es ist vergessen, dir wurden deine Sünden abgenommen. Vor der Sünde, würde ich mich fühlen, so schwer, wie dieses Kreuz hier ist« (Figur 2). So schwer im Herzen und denken: »Oh, was hab ich da schon wieder gemacht«. Wenn Gott zu mir gesprochen hat, dann würde ich mich fühlen, wie das kleine Kreuz (Figur 3). Da ist nix mehr da! Klar, wiegt das auch schon was, aber dann ist das halt ein kleiner Unterschied. Dann hat Gott einem halt einfach die Schuld weggenommen und die Sonne scheint wieder im Leben. Kommentar Im Vergleich zu Lena fallen die Erläuterungen des 14-jährigen Jungen sehr viel ausführlicher und selbstbewusster formuliert aus. Hier interpretiert ein sich seiner persönlichen Erlebnis- und Gedankenwelt bewusster Junge. Auffällig ist an diesen Zugängen für theologisch geschulte LeserInnen, dass Danny seine Gestaltdeutungen durchgängig ganz selbstverständlich mit theologischen Gedankengängen verbinden kann. In fast allen Kommentaren entwickelt der Junge in sehr aktiver Weise – und ohne Stimulus der Interviewerin – religiöse Bedeutungsgehalte anhand der Figuren. Offenbar ist Danny in einer von theologischer Reflexion bestimmten Welt zuhause, was im Vergleich zu durchschnittlichen 14-jährigen allerdings recht ungewöhnlich wirkt. Gleich zu Anfang wird die symbolhafte Bedeutung der ästhetischen Formen im theologischen Zentrum klar angesprochenen. Alle drei Figuren variieren das eine Thema »Kreuz«. Die Kreuzformen sind nicht nur Zeichen der Zugehörigkeit des Trägers zum christlichen Glauben. Sie repräsentieren in der Wahrnehmung des Jungen zugleich religiös hoch besetzte Erfahrungsqualitäten. Die Schwere des zweiten Kreuzes etwa führt zur Erfahrung »schwer im Herzen« zu sein, für Danny die Erfahrung der Sünde. Die Sonne auf dem dritten Kreuz erinnert ihn an die in Jesus erschienene Erleuchtung der Welt. Immer wieder drängt es ihn, Wahrnehmungen formaler Details der Gestalten und der Materialien auf eine »Message« hin zu befragen und kreativ zu bündeln. Sein ästhetisches Urteil über die Präferenz des zweiten Kreuzes zeichnet schließlich aus, dass gerade diese Gestalt, die ihm zunächst so irritiert (»wie eine Leberwurst«), in der weiteren Betrachtung gerade den stärksten Ausdruck vermittelt. Charakteristisch für den Verstehenszugang dieses Jungen ist es ferner, dass erklärende Passagen über symbolische Bedeutungen der Formen nicht nur in sehr freier Weise mit religiösen Vorstellungen (Gott; Jesus, Engel, Sünde usw.) kombiniert © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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werden, sondern dass Danny unaufgefordert immer wieder auch Fantasien über liturgische Szenen entwerfen kann. Neben die kognitive Erschließung tritt so gleichgewichtig für die Erschließung auch eine handlungsbezogene. Das Umgehen mit den materiellen Symbolen ist mehr als bloßes Hantieren – im Be-greifen und im fantasierten Verwenden in spezifischen Situationen wie Gebet bahnt sich Begreifen an. Dabei geht es aber weniger um instrumentelle Nutzung, als vielmehr um ästhetisch wahrnehmbare Aussagedimensionen durch diese hindurch (Der Pfarrer erhebt das Kreuz zur Segensgeste im Gottesdienst; Gott an der Zimmerdecke deutet auf seine Allgegenwart). Das geht im Einzelfall sogar bis hier zur Fantasie missionarischer Aktivitäten (»Leute probierst zu Jesus zu bringen«). Bei näherer Betrachtung des Interviews zeigt sich eine Passage, in der Danny mit seinen ansonsten quasi selbstverständlich theologisch bestimmten Deutungen zunächst aus dem Tritt kommt. Figur 2 irritiert ihn zunächst: »Bei dem Großen halt … kann man nicht wirklich was erkennen, finde ich«. Und er tastet sich mit ebenso anschaulichen wie profanen Vergleichen zum Verständnis vor: »wie eine Leberwurst«, »wie eine Schachfigur« und »wie ein Frosch«. Die Unklarheit reizt ihn jedoch zum Hinsehen und Nachdenken, er projiziert in der aufmerksam gewordenen Wahrnehmung der eigentümlichen Gestalt dieses Kreuzes eine menschliche Begegnung, »so als ob zwei Körper miteinander verkuppelt wären« und deutet erst dann die Form mit Streit und Versöhnung. Man kann festhalten, dass die Interviewpassagen zeigen, wie dieser Junge, der zweifellos in seiner bisherigen Biografie intensiv mit Elementen christlicher Deutungsbestände in Berührung gekommen ist, an die ihm präsentierten Gestalten auf unterschiedliche Weise herangeht. Einerseits fungieren für ihn die Kreuzskulpturen eher als ästhetische Stichwortgeber, welche ihm sehr bekannte religiöse Deutungsmuster in Erinnerung rufen (Figur 1 und 3). In den Passagen zum zweiten Kreuz taucht aber daneben auch die Möglichkeit auf, dass eine befremdliche Wahrnehmung eine Suchbewegung und neue Deutung provoziert.

7.3.4 Elemente und Dimensionen des Gestaltverstehens Was ergibt sich aus den explorativen Skizzen zu den Bedingungen und Eigenarten der Deutungen des Kreuzes? In welcher Art und Weise bilden sich Vorstellungen bei Kindern und Jugendlichen über leib-bezogene Wahrnehmungswege? Die relativ zufällig herausgegriffenen individuellen Erschließungswege fördern interessante Zugänge zutage, damit zugleich Dimensionen, die so in der Forschung zu religiöser Sozialisation bislang noch keine Beachtung gefunden haben. Die Resultate dürfen im Blick auf generalisierende Schlussfolgerungen gewiss nicht überschätzt werden. Das gilt nicht nur angesichts eines methodisch immer noch relativ simplen Verfahren der Datenerhebung. In den Interviews mit Lena und Danny wurden zudem zwei recht sprachbegabte Probanden präsentiert, so zeigt sich hier wohl keine durchschnittliche Ausdruckstärke, die für die jeweilige Altersstufe typisch wäre, sondern © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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eher ihr Maximum. Von Momentaufnahmen kann auch schwerlich auf die komplexe individuelle Genese des jeweiligen Zugangs im lebensgeschichtlichen bzw. auf die Wirkfaktoren des sozialisatorischen Kontextes rückgeschlossen werden. Und doch lassen sich aus den Gesprächsausschnitten Indikatoren dafür erheben, welche spezifischen Elemente der Gestaltwahrnehmung und der Gestaltdeutung des Kreuzes über eine Re-Produktion von gelerntem Wissen und über kognitive Deutungen über Jesus bzw. über Passionsüberlieferungen hinaus wirksam sind. Beide Kinder bringen ohne nennenswerte Impulse vom Erwachsenen den Zusammenhang der Skulpturen mit Jesus bzw. mit ihrem Wissen von Jesus zur Sprache. Und beide deuten die verschiedenen Kreuze darauf hin, wie sie zu ihrem Wissen passen. Die Kommentare geben so auch den jeweiligen Kenntnisstand über religiöses Wissen, biblische Passionsgeschichten und von der Person angeeignete theologische Deutungsmuster zu erkennen. Insbesondere an den Kommentaren des Mädchens zeigte sich jedoch, dass über konkreten Bezug auf inhaltliches Wissen hinaus für den persönlichen Verstehenszugang zugleich auch Aspekte der Gestaltwahrnehmung eine Rolle spielen, und gerade diese leib-bezogen Herangehensweise wird aktiviert, ohne dass dies von Erwachsenen induziert oder provoziert würde. Dass ein Kind das Wort »Magieamulett« benutzt, erscheint zunächst eher komisch und zudem theologisch unpassend zum Thema Kreuz. Stellt man diese Beobachtung jedoch in einen weiteren Kontext von kulturund mentalitätsgeschichtlichen Überlegungen, dann ergibt sich ein bedeutsamer Aspekt für den Horizont der Wahrnehmungen des Kreuzes. Nicht nur die mittelalterliche Volksfrömmigkeit behandelte das Kreuz ganz selbstverständlich als magisch aufgeladenen Gegenstand, mit dessen Berührung bzw. richtigem Gebrauch heilsame Effekte verbunden wurden. (Und neuere religionsgeschichtlich informierte Analyse zur reformatorischen Frömmigkeit hat zutage gefördert, dass Elemente eines solchen magischen Verständnisses durchaus auch in Praxis und Theologie etwa M. Luthers zu finden sind.21 Generell gilt wohl, dass die Verstehenszugänge zum Kreuz als ein sehr komplexes Ineinander unterschiedlicher Wirkfakten zu bestimmen sind, bei denen die Aktivierung von Wissen, kognitive Leistungen, Gestaltwahrnehmung und in Handlungsvollzügen initiiertes gestisches Darstellen ineinanderfließen. Eine Unterscheidung der Verstehenskomponenten zu analytischen Zwecken kann immer nur sekundär vollzogen werden, im Wissen darum, dass solche Trennung Produkt der nachgehenden Analyse der Deutungspraxis ist. 21 Neuere religionsgeschichtlich informierte Analyse zur reformatorischen Frömmigkeit hat zutage gefördert, dass Elemente eines solchen magischen Verständnisses durchaus auch in Praxis und Theologie etwa M. Luthers zu finden sind, so etwa in Luthers Taufbüchlein im Zusammenhang mit dem Kreuzschlagen; theologisch expliziert hat er sie in einem Empfehlungen M. Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519) WA 2, 689; Vgl. zum Ganzen auch den historischen Durchblick im Kap. »Das Auge sollte ein Lehrer der höheren Wahrheiten werden« in diesem Band. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Unterschiedlich ausgeprägt ist bei konkreten Menschen jeweils das sprachliche Vermögen zur Beschreibung und Reflexion der Wahrnehmungen, aber in den Gesprächssituationen ist zugleich auch eine unterschiedliche Wahrnehmungsfähigkeit festzustellen, die nicht nur an Sprachkompetenz hängt. Diese äußert sich nicht nur und nicht erst in verbalen Kommentaren, sondern im Hantieren mit den Formen, im prüfenden Blick, im Abtasten der Materialien usw. Offensichtlich ist: Am Beginn des Gesprächs stand in allen Fällen unmittelbar das Be-Greifen, das neugierige Hantieren mit denen Skulpturen, das Hin- und Her-Wenden in der Hand, das Abtasten mit Fingern und mit den Augen. Das reicht vom Hantieren mit den Gegenständen bis zur non-verbalen gestischen Imitation des Gesehenen. Verstehen der Formen zeigt die Leib-haftigkeit der Hermeneutik des Ästhetischen. Die komplexe Verstehenspraxis der beiden Interviewpartner, das Ineinander von Wahrnehmungen, gestischem Hantieren, metaphorischer Beschreibung und abstrakterer Interpretation kann – unbeschadet ihrer jeweils ganz unterschiedlichen Altersstufe – mit dem vom Psychoanalytiker und Symbolforscher A. Lorenzer entwickelten Begriff des »szenischen Verstehens« gefasst werden.22 Damit bezeichnete der Psychoanalytiker die Fähigkeit, Dinge zu materialen Bedeutungsträgern werden zu lassen, sie zu Szenen ausspinnen zu können, in denen Personen emotional in Erleben und Handeln verwickelt werden. Die gedankliche Annäherung an die Gestaltelemente der vorgelegten Kreuze schließt spontane Geschmacksurteile ein, allerdings erschöpft sich die subjektive Verarbeitung der Wahrnehmungen darin nicht. Lena und Danny zeigen eine ganz unterschiedliche Art, ihre sinnlichen Eindrücke beschreibend zu qualifizieren. Das geschieht im Fall des jüngeren Mädchens eher narrativ, eingebunden in Geschichten und Schilderungen situativer Sequenzen. Der 14jährige Danny ist in kognitiv weiter entwickelter Weise dazu in der Lage, mit Beschreibungen zugleich reflexiv-begrifflich gefasste Interpretationen zu äußern, die sich auf Erschließung von »Sinn« der Darstellungen (z. B. »Todeskreuz«) richten. Die Qualität und Intensität dieser Versprachlichung ist abhängig vom genauen Hin-Sehen auf die Formen und Details der Materialien, jedoch auch vom Entwicklungsstand der Kompetenz zum Umgang mit symbolisch-metaphorischer Sprache. Fundiert ist diese Fähigkeit jedoch, wie schon der Philosoph L. Wittgenstein23 prägnant formuliert hat, im menschlichen Vermögen, nicht nur ein »Etwas zu sehen«, sondern darüber hinaus ein »Etwas in etwas sehen« zu können. Gerade das Aufleuchten bestimmter Aspekte im Seherleben nennt Wittgenstein zu Recht »halb Seherlebnis, halb ein Denken«24. Für unseren thematischen Zusammenhang gilt: In diese Dynamik sind auch diejenigen Aspekte der Wahrnehmung eingebunden, die sich nun speziell auf das Kreuz als religiösen Sinnträger beziehen. 22 Vgl. A. Lorenzer, Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewußten, Marburg 2004. 23 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953) Frankfurt/M 1984, 520 ff. 24 A. a. O. 525. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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7.4 Lern-Wege ästhetischen Weltverhaltens Die Überlegungen in diesem Kapitel gingen von der Annahme aus, dass für Menschen die Botschaft des Kreuzes nicht einfach als Wissen angeeignet wird, sondern sich der existenzielle Sinn des Kreuzes in komplexer Weise erschließt, insofern zu kognitiv zentrierten Interpretationen auch ästhetisch-leibhafte Erschließungen der Gestalt hinzugenommen werden müssen und dass diese Prozesse in Bildungsprozessen Jugendlicher virulent sind. Entsprechend gilt, dass Lernprozesse zum Verstehen und Aneignen der Passion Jesu als Zentrum des christlichen Glaubens in persönlicher Aneignung der Botschaft wirkungsvoll bereichert werden können, wenn neben der text- und wissensbezogenen Lerndimension auch ästhetische und gestaltpädagogische Lernlinien mit einbezogen werden. In den Bildern wie in den beiden Interviews zeigt sich, dass im deutenden Umgang mit den Formen der Kreuze mehr geschieht, als diese als pure Anzeichen eines zuvor erworbenen narrativen Wissens »wiederzuerkennen« – genauer gesagt: dass dabei mehr geschehen kann. Damit rückt die Frage nach förderlichen methodischen Arrangements für den Religionsunterricht wieder ins Blickfeld der Aufmerksamkeit. Welche methodischen Anregungen für Bildungsprozesse ergeben sich aus alledem? Und inwieweit kann dabei auch das Interesse an der Vermittlung einer theologisch relevanten Botschaft ästhetischer Phänomene im Fokus der Kreuzestheologie wahrgenommen werden? Dazu abschließend einige Notizen. M. E. lässt sich aus den in den Interviews zunächst eher zufällig ermittelten individuellen Zugängen zu Gestalten des Kreuzes eine Reihe von Annäherungsweisen entnehmen, die ihrerseits in einem bewusst und zielbestimmten gestaltpädagogischen Vorgehen eingebracht und systematischer ausgebaut werden können. Ich möchte hier folgende Elemente benennen: Erstens: Es sei noch einmal die dichteste Stelle aus den Kommentaren von Danny in Erinnerung gerufen: Aus der Irritation über den zunächst unklaren Sinngehalt der ihm begegnenden Figur 2 eröffnet sich für den theologisch beachtlich vorgebildeten Jungen gerade die neue Perspektive. Es spricht einiges dafür, dass diese Reaktion auch etwas mit den unterschiedlichen Gestaltqualitäten der drei in den Interviews benutzten Kreuze zu tun hat. Zwei dieser Skulpturen sind nämlich durch eine eindeutige symbolische Relation gekennzeichnet. Die Gestalt des ersten Kreuzes wird von beiden Probanden eindeutig als Figur wahrgenommen, ebenso wie diejenige des dritten Kreuzes für sie die Sonne repräsentiert. Das zweite Kreuz ist mit seiner Mehrdeutigkeit offener. Wo von den eindeutigen ästhetischen Symbolen her an vielen Stellen relativ automatisch erworbene abstrakte religiöse Deutungen eher abgespult werden, da verhilft offenbar das weniger eindeutige Symbol zu persönlichen und eher kreativen Deutungsprozessen der Kreuzgestalt. Ich denke, dass man diesen Hinweis didaktisch weiter aufnehmen sollte. Er spricht jedenfalls dafür, auch zum Thema Kreuz und Passion ästhetische Elemente weniger im Sinne der Illustration und der bloßen An-Zeichen für gewusste Lehrbestände © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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einzusetzen, sondern zur Stimulierung offener Deutungsprozesse, welche die Mehrdimensionalität symbolischer Kreuzesdarstellungen in reicherer Weise annähert. Demnach ist also nicht jeder Einsatz visueller Mittel gleich wertvoll. Zwei (oft genutzte) Gegenbeispiele zur Illustration: Fordert man SchülerInnen dazu auf, in einer Foto-Ralley die Kreuze in ihrer alltäglichen Umgebung zu fotografieren, so werden sie vielleicht zum Erstaunen über die unerwartete Häufigkeit und die unerwarteten profanen Fundstellen gebracht. Eine ernsthafte Gestaltwahrnehmung und ästhetische Bildung ist damit allein aber noch nicht begonnen. Bastelt man im Kindergottesdienst oder in der Grundschule mit Kindern aus mitgebrachten Zweigen kleine Holzkreuze, so wird vielleicht der von Erikson für Schulkinder beschriebene kindliche »Werksinn« angeregt. Der Gestaltwahrnehmung kommen Kinder damit allein noch nicht auf die Spur. Das geschieht erst dann, wenn Anregung zu eigener Gestaltung mit den oben angesprochenen Elementen verbunden wird. Zweitens: Konstitutiv für eine sinnhafte Gestaltwahrnehmung ist das Vermögen, gestaltbezogene Wahrnehmungsinhalte auch in Metaphern ausdrücken zu können. Der Einsatz solcher Metaphernübungen ist z. T. bereits in den seit Jahrzehnten bekannten didaktischen Zugängen zu Bildbetrachtungen geschehen, soll hier jedoch gezielt für etwas Bestimmtes eingesetzt werden. Zugang zu den Kreuzgestalten ist daran gebunden, dass das Sehen von etwas »als etwas« gelingt, auf welcher Ebene der Metaphernbildung auch immer. Das erfordert neben dem Erlernen von Wissen um historische Zusammenhänge der Passionsüberlieferungen andere Schritte, die man durchaus einüben kann. Einer ästhetisch sensiblen Didaktik zum Thema Kreuz und Passion im theologischen Interesse entspricht es deshalb, hier bestimmte Vollzüge des ästhetischen Weltverhaltens zu kultivieren. Dazu zählen u. a. Beschreibungsübungen an Gestalten, welche Erweiterung des Vermögens zu metaphorischem Sehen zum Ziel haben (»das sieht aus wie …«), in Verbindung damit Erweiterung der Kompetenz zur Handhabung metaphorischer Sprache. Dazu gehört auch die Einübung »szenischen Verstehens«, bei dem wahrgenommene und beschriebene Gestaltelemente in einen fiktiven oder realen Handlungszusammenhang gestellt werden. Dazu gehört schließlich das, was Lena wie Danny mit leib-bezogenem Verstehen und fantasiertem Hantieren vormachen, also der Einsatz von Übungen, wo Verstehen mit Körperbewegungen verbunden wird (»wozu fordern dich diese Gestalt, diese Materialien auf?«). Diese Dimension wird im Schlusskapitel weiter entfaltet. Insgesamt zeigen die Erkundungen, dass und in welcher Weise kreative theologische Auseinandersetzung mit dem in der Religionspädagogik vernachlässigten Thema »Kreuz und Auferstehung« auf dem Wege über ästhetisches Lernen befördert werden kann. Das sollte der Religionsunterricht – und auch der Konfirmandenunterricht – nicht ungenutzt lassen.

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8.

Kompetent für das Kreuz. Vom Umgang mit dem Kreuz im Leben und im beruflichen Alltag von Pfarrerinnen und Pfarrern

8.1 »Der Kandidat muß verstanden haben …« Die Diskussion über theologische Kompetenz hatte der Tübinger Systematiker E. Herms 1978 mit Überlegungen angestoßen, die später im Rahmen der EKD aufgegriffen worden sind. Herms formulierte als unverzichtbare Anforderung u. a.: »Der Kandidat muß verstan­den und selbst eingesehen haben, daß und inwiefern das Wort vom Kreuz auch die heutige Lebenswirklichkeit der Menschen ganz umfaßt und betrifft.«1 Viele Pfarrerinnen, ältere wie jüngere, würden, wenn man sie nach einer »Kompetenz für das Kreuz« fragte, in ihrer Antwort vermutlich fernab wissenschaftlich-theologischer Kompetenzdebatten zunächst auf ein persönliches und theologisches Verhältnis zur Heilsbotschaft des Kreuzes abheben. Es ist unstrittig, dass es für professionelles Handeln von Theologen und Theologinnen erforderlich ist, persönliche Antworten mit fachlich-theologischem Wissen kohärent zu verbinden. Die Befragten würden wahrscheinlich kaum an künstlerische Darstellungen vom Kreuz denken. PfarrerInnen sind in aller Regel ja keine Kunstexperten. Aber sie alle haben in ihrem Studium gelernt, dass das »Wort vom Kreuz« im Mittelpunkt des Evangeliums steht. Sie gehen also von Berufs wegen permanent mit der biblischen Botschaft des Kreuzes und ihrer Lebensbedeutsamkeit um, im Gottesdienst, im Gespräch mit Taufeltern, im Trauergespräch vor einer Beerdigung. Sie sollen Experten in puncto Bibelauslegung und Aktualisierung des Evangeliums in pastoralen Handlungsfeldern sein, in Predigt und Gottesdienst, in Seelsorge und im Unterricht, in der Gemeindeleitung und an Schnittstellen zur außerkirchlichen Kultur. Daneben haben sie noch eine Menge anderer Dinge zu tun. Auch im Blick auf die Botschaft vom Kreuz Christi gehören zum Pfarramt neben exegetischen und dogmatischen Kompetenzen auch seelsorgerlicher, religionspädagogischer sowie homiletischer und liturgischer Art. Wer eine Pfarrstelle in einer x-beliebigen Gemeinde innehat, wird allein im Laufe eines einzigen Jahres voraussichtlich 40 Mal eine Predigt und Liturgie für den Sonntagsgottesdienst zu entwerfen haben. Es geht im Gottesdienst um homiletische und liturgische Gestaltungsarbeit. In die Verlegenheit, ein neues Kreuz für den Altar oder für die Altarwand auszusuchen, wird sie oder er dagegen vielleicht ein einziges Mal im beruflichen Leben insgesamt kommen. Allenfalls haben sie zusammen mit dem Kirchenvorstand zu überlegen, ob man den Konfirmanden bei der Einsegnung auch ein Holzkreuz oder einen Anhänger mit Kreuz schenken soll, wenn ja, welches. Nun ist unbestreitbar, dass in vielen protestantischen Kirchen ein Kreuz im Altarraum hängt, ein Kreuz auf dem Altar steht und ggf. auch Kreuzdarstellungen die 1

E. Herms, Was heißt »theologische Kompetenz«? in: WzM 30 (1978) 253–265. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Kompetent für das Kreuz

Antependien zieren. Auch protestantische Pfarrerinnen und Pfarrer schlagen zwar – je nach konfessioneller Traditionsprägung – mehr oder weniger oft das Kreuz, am Ende des Gottesdienstes, bei einer Taufe oder bei der Aussegnung eines Verstorbenen. Auf vielfältige Weise begegnet ihnen in ihrer beruflichen Praxis also der Umgang mit Kreuzgestalten und -skulpturen. Strukturveränderungen in Gemeinde und Kirche im 21. Jahrhundert haben zu Diskussionen über eine fällige Neuorientierung der pastoralen Kompetenzen geführt. Auf der Ebene akademischer Theologie und auch in der kirchlichen Ausbildungsdebatte im Blick auf den Nachwuchs spielt die Frage nach notwendigen oder verzichtbaren Kompetenzen fürs Pfarramt seit Jahren eine zunehmende Rolle. Der Stoff theologischen Wissens ist im Zuge der Spezialisierung der theologischen Teildisziplinen mächtig angewachsen. Um dem und der Einzelnen im Alltag des Pfarramtes nicht schier unmögliches aufzubürden, wird mancherorts die Neubestimmung des Pfarrberufes auf die Frage der »Kernkompetenzen« im Sinne elementarer Fähigkeiten und Fertigkeiten konzentriert. U. a. in den beiden hessischen Landeskirchen sind in den letzten Jahren entsprechende Arbeitsgruppen gebildet worden, um Vorschläge zur Neuorientierung zu formulieren und dabei die Konzentration auf das »Kerngeschäft« im Auge zu behalten.2 Was aber ist heute als das »Kerngeschäft« der Profession anzusehen, welcher kirchenordnungsgemäß der »öffentliche Dienst am Wort in Verkündigung und Sakramentsverwaltung«3 aufgetragen ist? Für viele ist hier im Blick auf das Predigtamt mit der auf E. Lange zurückgehenden Standardformel von der »Kommunikation des Evangeliums«4 alles gesagt. Andere zählen zu zeitgemäß notwendigen Berufskompetenzen sprachlich-kommunikative Fähigkeiten und Organisationstalent mittlerweile auch Wahrnehmungskompetenz, Deutungskompetenz und Symbolisierungskompetenz.5 Die »christliche Deutung der Wirklichkeit« richtet sich in der Regel auf interpersonale Begegnungen, wo also Menschen in ihren Lebensbezügen und Nöten wahrgenommen werden und wo die Deutung der christlichen Botschaft vom Kreuz mit Worten artikuliert werden soll. Es wäre sicher abwegig, von PfarrerInnen zu verlangen, dass sie nun auch Profis in Sachen christlicher Kunst werden sollen. Aber man kann etwas bescheidener ansetzen 2 EKKW (Hg.), Das Amt des Pfarrers und der Pfarrerin in der modernen Gesellschaft, Kassel 2001; EKHN (Hg.), Perspektiven des Pfarrberufs. Ein Diskussionspapier zur Konsultation in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 2005. 3 So die Formulierung in Artikel 13 der Kirchenordnung der EKHN (2010), auf die hier exemplarisch verwiesen wird. 4 Vgl. exemplarisch These 1 des EKHN Papiers »Perspektiven des Pfarrberufs« Ein Diskussionspapier zur Konsultation in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 2005: »Pfarrerinnen und Pfarrer haben eine Schlüsselrolle für die öffentliche »Kommunikation des Evangeliums« durch Wort und Sakrament in Gottesdienst, Seelsorge und Unterricht. Das kirchlich geordnete Pfarramt sichert das allgemeine Priestertum. Der Pfarrdienst wird als Beruf bzw. Profession gestaltet.« 5 Diese Symbolisierungskompetenz ist bereits bei Herms, Was heißt theologische Kompetenz a. a. O. expliziert. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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und fragen, welcher Platz dem außersprachlichen Umgang mit der Botschaft vom Kreuz im persönlichen und im Berufsalltag zukommt und welcher ihm zukommen soll. Gehört ästhetische Wahrnehmung ebenfalls zur theologischen und speziell zur pastoralen Kompetenz von Professionellen? Und wie verhält es sich mit dem einschlägigen pastoralen »Hand-Werk«, wie praktizieren und deuten PfarrerInnen relevantes ästhetisches Handeln, wenn sie etwa am Ende des Gottesdienstes oder bei Taufe und Bestattung die Geste des Kreuz-Schlagens praktizieren? Im Folgenden soll dieser Frage genauer nachgegangen werden. Im Unterschied zur normativ gedachten Bestimmung eines »Soll« an Fähigkeiten und Fertigkeiten innerhalb der KompetenzDebatte verfolge ich dabei eine andere Fragerichtung. Ich möchte nicht den SollKatalog noch weiter vergrößern, sondern zunächst eher erkunden und nachzeichnen, welche Fähigkeiten und Kompetenzen PfarrerInnen bereits erworben haben und aktivieren. Darauf aufbauend kann man dann weiterfragen, ob solche vorhandenen Kom­ pe­tenzen im ästhetischen Bereich theologisch in Verbindung gebracht werden mit einer geforderten Kompetenz, dass sie mit Herms gesprochen, »verstanden und selbst eingesehen haben, daß und inwiefern das Wort vom Kreuz auch die heutige Lebenswirklichkeit der Menschen ganz umfaßt und betrifft.«6

8.2 Konkretionen Ich habe zur empirischen Annäherung an meine Fragestellung einige Pfarrerinnen und Pfarrer besucht, um mit ihnen in ihrem Arbeitszimmer bzw. in ihrer häuslichen Umgebung ins Gespräch zu kommen. Das ist eine ganz zufällige und in keiner Weise repräsentative Auswahl. Nach Art eines narrativen Interviews versuchte ich, mit wenigen Stichworten mein Gegenüber zum Erzählen zu bringen, zunächst allgemeiner über seine oder ihre Lebensgeschichte, über religiöse und theologische Prägungen, über den beruflichen Alltag und dann spezifischer im Blick auf persönliche Zugänge zu Kreuzesdarstellungen und Bildern sowie zum Umgang mit dem Kreuz-Schlagen. Der Verlauf des Gesprächs war je unterschiedlich, denn es ging mir nicht ums stereotype Abfragen, sondern eher um ein flexibles Mitgehen mit den angebotenen ganz persönlichen Themen. Es sollte auch nicht um kunstgeschichtliche Aspekte gehen. Ich wollte wissen, warum da in der Studierstube ein Kreuz hängt oder nicht, welchen Zugang er oder sie zu Kreuzesdarstellungen in der eigenen Kirche gefunden hat. Die Gespräche waren ein paar Wochen zuvor am Telefon verabredet worden, sodass sich

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Ders., a. a. O. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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meine Partner zuvor innerlich darauf einstellen konnten, in Erinnerungen kramen konnten, vielleicht auch bedeutsame Bilder oder Skulpturen mitbringen konnten.7

8.2.1 Ralf: »die offene Form, die mir Raum gibt« Ralf, Ende 50, ist seit fast 30 Jahren Pfarrer einer kleinstädtischen Kirchengemeinde im Dunstkreis eines urbanen Ballungsraums. In dieser Gemeinde wurde vor ein paar Jahren der Kirchenraum umgebaut. Dabei wurden auch alle Prinzipalstücke (Kanzel, Taufstein, Altar) ersetzt. Nach eigener Aussage stammt Ralf nicht aus einem frommen Elternhaus. Seine Erinnerungen gehen zurück an eine eher erweckliche kirchliche Kinderarbeit. Diese Art Frömmigkeit wirkte jedoch eher abstoßend und gesetzlich auf ihn. Die kirchliche Jugendarbeit ermutigte ihn zum weiteren und dann hauptberuflichen Engagement in der Kirche. Theologisch geprägt sieht er sich in der Rückschau vom Studium in der 68er-Zeit her eher von politisch-aktionistischen Programmen, da ging es um Fragen von Gerechtigkeit, Mission und weltbezogener Auslegung der biblischen Botschaft. Im Laufe der Biografie vollzog sich dann eine für Ralf wichtige Erweiterung über ethische Themen und aktionistische Auslegung des Glaubens hinaus. Er ist inzwischen seit Jahren engagiert im landeskirchlichen Arbeitskreis »Kirche und Kultur« und hat auch dazu einmal einen Lehrauftrag in diesem Themenfeld an einer kirchlichen Akademie wahrgenommen. Vor einigen Jahren hat er maßgeblich die künstlerische Umgestaltung der eigenen Kirche mit betrieben. Dabei wurde u. a. das vormals hängende wuchtige Holzkreuz an der Stirnwand der Kirche durch einen kleinformatigen Kreuz-Stein, eine Darstellung eines zeitgenössischen Künstlers, ersetzt. Als ich ihm im ersten Telefonkontakt versichere, dass mich nicht sein Kunstverstand interessiert, sondern seine persönlichen theologischen Zugänge, ist er sehr erleichtert. Im Gespräch kommen wir erst nach dem längeren biografischen Einstieg auf das Thema Kreuz. Ich bin zunächst erstaunt zu sehen, dass in seinem Amtszimmer jede Art Kreuz fehlt. Und das mit voller Absicht, erläutert er mit Hinweis auf seine reformierte Prägung. Auch im Laufe der beruflichen Sozialisation hat er das Kreuz lange Zeit eher als abschreckendes Zeichen erlebt (»jemand stirbt am Kreuz«, »Verzicht, Tod, Opfer, all diese Begriffe«). Als anthropologisches Symbol fand er das Kreuz allerdings immer schon faszinierend: »die klare Form des Kreuzes fand ich immer schon genial: Die Horizontale, die Welt, trifft sich mit der Vertikalen, mit dem Mystischen, dem Supranaturalen.« Im weiteren Verlauf unserer Unterhaltung geht es dann aber nicht um gene­ ralisierende Ausführungen. Vielmehr wird Ralf rasch sehr konkret. Und verblüfft bin ich dann, wie vehement Rolf nun ins Thema einsteigt. Seine Aussagen drehen sich ganz 7 Die nachfolgenden Texte wurden den Betroffenen zuvor noch einmal vorgelegt, um Hörfehler und falsche Akzentuierungen korrigieren zu können, auch um das Einverständnis zur Veröffentlichung einzuholen. Alle Namen sind anonymisiert. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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um »alt« und »neu« in der Ausgestaltung des Kirchenraumes. Ohne, dass ich viel einbringen muss, steuert er in seinen Erzählsequenzen mit verschiedenen biografischen Stationen immer wieder die Polarisierung der Darstellung an. Er blickt zurück auf das ehemals in der Kirche befindliche große glatte Holzkreuz ohne Corpus, dass stattdessen mit einem metallenen Chi-Rho-Zeichen versehen war. Und er kommentiert dann die nach der Renovierung angebrachte neue Kreuzesdarstellung, ein Gebilde, das weniger scharf konturiert ist, jedoch für Ralf in sehr faszinierender Weise eine Andeutung menschlicher Gestalt am Kreuz macht.

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Im Blick auf das alte einfache wuchtige Holzkreuz unterstreicht er: »Ich fand das immer hart und scharf. Für mich war das nicht ein Symbol der Öffnung, Verzicht, Tod, Opfer, … es hatte so was Puritanisches, so was Ausschließliches, ein Zeichen der Unterwerfung … ja, es konzentrierte auch Sachen, und schloss Sachen auch aus. Immer assoziiere ich damit, dass ich mich unterwerfen soll.« Mit Verweis auf die neue Kreuzesdarstellung heißt es dann: »Auferstehung ist erst durch dieses Kreuz Gestalt geworden, das neue hat menschliche Züge. Das alte Zeichen war strenger – das Material beim neuen Kreuz ist etwas diffus – der Schatten der Negativ-Form verändern das Kreuz noch einmal.« Als ich die Formulierung der »Negativ-Form« nicht gleich verstehe und um Erläuterung bitte, blendet er eine Episode aus der eigenen Vergangenheit ein. Ein erwecklicher Prediger aus England konfrontierte ihn vor Jahren bei einem aufgedrängten Besuch wortgewaltig und eindrücklich mit der Frage nach dem persön© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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lichen Bekehrungserlebnis. »Da habe ich mich klein gefühlt. Da kam die Wut in mir hoch, dass ich dem so ausgeliefert war, dass ich das nicht so sagen konnte … Später dachte ich dann: warum unterwerfe ich mich dem eigentlich.« Lange Zeit theologisch prägend war für ihn das Kreuz als Symbol der Unterwerfung gewesen. Als befreiend für seinen Glauben erlebte er deshalb die gänzlich andere Formsprache des später in der Kirche installierten Kreuz-Steines. Befreiend – und faszinierend. »Für mich ist das die offene Form, die mir Raum gibt.« Die weniger zeichenhaft reduzierte Form, die eher figürlich angedeutete Szene, die nur schemenhaft angedeutete Gestalt, gibt ihm eher Offenheit im Hinblick auf den Auferstehungsgedanken. Das versucht er auch in Predigten umzusetzen. In seelsorgerlichen Begegnungen hat für ihn eine Kreuzfigur etwa in Gestalt eines Handkreuzes keinen Platz. Und dort verwendet er auch keine Gesten des Kreuzschlagens. Das gehört für ihn in den Gottesdienst, beim Schlusssegen, bei Taufhandlungen und bei Aussegnungen von Verstorbenen. Diese ist selbstverständlicher Teil der eigenen Praxis. Und die deutet er als wirkmächtige Zeichenhandlung: Das Kreuzschlagen »verbindet sich für mich mit dem Segen«. Auf sein Verständnis dieser Handlung befragt, antwortet er spontan, »dass ich demjenigen jetzt mitgebe, das derjenige mit dem Zeichen des Kreuzes« gesegnet ist. Und dann schiebt er nach: »Es ist auch ne Wirkung da drin, … dass derjenige jetzt mit Christus verbunden ist, … vielleicht sogar etwas Magisches«. Da er Interesse signalisiert, frage ich nun doch nach seiner Einstellung zu Kunst generell. Er kommt dabei auf seine Mitarbeit im landeskirchlichen Kreis »Kirche und Kultur« zu sprechen. Auch hier zeigt sich Ralf reflektiert und auskunftsfähig. »Ich liebe Bilder, ich find Bilder sehr anregend … überhaupt das Sehen ist mir sehr wichtig.« Durch eine von Bildern überflutete Gesellschaft sieht er wohl die Gefahr, dass die eigene Fantasie zugedeckt wird: »Wir brauchen und gebrauchen diese Ikonen, auch die Ikonen der Werbung, aber es bleibt auch immer noch Platz für die eigenen Bilder«. Es ist deutlich in diesem Gespräch, dass und wie Ralf trotz seiner reformierten Grundhaltung und Reserviertheit gegenüber den Zeichen die Details der ästhetischen Darstellungen genau wahrnimmt und wie er gerade mit ihrer Hilfe theologische Grundeinsichten zum Thema Kreuz und Auferstehung in persönlicher Weise versprachlicht. Nicht das abstrakte theologische Räsonieren ist seine Sache, nicht der Bezug auf große Programme akademischer Theologie, aber doch eine auf das Wesentliche zugespitzte Theologie des Kreuzes. Insgesamt richtet sich bei Ralf die ästhetische Kommentierung nicht objektivistisch auf Kommentare zum Kunstwerk, sondern auf persönliche Deutung, wobei mit ästhetischen Details biografische Erlebnisse und theologische Gedanken verbunden werden. Für Rolf repräsentiert die Kreuzdarstellung, die er visuell vor Augen hat, eine theologische Grundspannung im Feld von Begrenztheit – Öffnung – Integration. Gestalt hilft ihm zur Klärung seiner Kreuzes-Theologie. Eine harte, klare Form wird dabei als Ausdruck von Begrenztheit erlebt. Demgegenüber gilt für ihn: »die offene Form« ist es, »die mir Raum gibt«. Die ästhetisch offene Form vermittelt ihm theologisch einen Freiheitsgewinn im Kreuz. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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8.2.2 Effie: »… dass das Kreuz Jesu zum Lebensbaum wird« Auch Effie ist schon viele Jahre im Pfarrdienst. Nach der Arbeit im Gemeindepfarramt ist sie nun seit 12 Jahren als Krankenhauspfarrerin in einer Großstadt tätig und hat inzwischen daneben auch eine übergemeindliche Leitungsfunktion inne. Sie erzählt mir zunächst von ihrem Weg ins Pfarramt, von Kindheit und Jugend in einem sehr pietistischen Umfeld, von den Eltern, die im CVJM waren und ihr religiöses Engagement vorgelebt haben. Zur Theologie ist sie nach der Konfirmation gekommen, motiviert durch Impulse wiederum aus dem CVJM. Der Gemeindepfarrer zog sie zur Jugendarbeit heran und so fand sie Zugang zur landeskirchlichen Schülerarbeit, war dabei aber eher an »moderner« Theologie als an erwecklicher Frömmigkeit in der »Stunde« interessiert. Beim Thema »Kreuz« assoziiert sie zunächst pietistische Leidensfrömmigkeit. Das, so sagt sie, war schon früh nicht ihre Sache, und gleich aus mehreren Gründen. Sie mochte einfach nicht »so die Engführung aufs Kreuz«, und auch nicht die fraglose Richtigkeit in theologischen Antworten: »Alles so schön rund; keiner hat was gefragt« – das reichte ihr nicht. Sie wollte Theologie treiben, um Fragen stellen, um sich beim Glauben auf die Suche nach einer eigenen Sprache zu begeben. Als Frau hatte sie es in den 70er Jahren ohnehin nicht leicht mit dem Plan, Theologie zu studieren. Die fragende Haltung eckte dann im persönlichen Umfeld noch mehr an. Ich komme in eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung, in der künstlerische Darstellungen auf dem Tisch oder an der Wand nicht fehlen, allerdings auf den ersten Blick nirgendwo ein Kreuz zu sehen ist. Zum Gespräch über das Thema im Esszimmer hat sie mir einiges mitgebracht, zwei Kreuze und ein Buch mit Bildern von einem Kreuzweg. Aber sie wirkt zunächst im Blick auf eigene Zugänge zu KreuzesDarstellungen im persönlichen wie im dienstlichen und gottesdienstlichen Bereich eher reserviert und zurückhaltend. Das geschnitzte Kreuz, das sie von ihren Paten auf eigenen Wunsch hin geschenkt bekommen hat, hängt bis heute im Arbeitszimmer nebenan. Aber es ist eher ein Erinnerungsstück, hat heute keinen speziellen Ausdruckswert: »Es hängt da, steht eher im Hintergrund«. Aber sie ist jetzt in der Rückschau doch erstaunt, warum sie sich damals eigentlich so ein Kreuz gewünscht hat, wo Kreuzesdarstellungen generell »nicht so wichtig sind« für sie … »ich kanns jetzt nicht so genau sagen …«. Schmuckkreuze trägt sie seit ihrer Jugend nicht. Nicht einmal die Ohrringe mit ganz kleinen Kreuzen, die sie vor langer Zeit einmal von der Tochter zu Weihnachten geschenkt bekommen hat. Zu Schmuckkreuzen hat sie eine klare Meinung: »… es ist ein zu starkes Symbol … es verliert irgendwie an Wert, wenn es jeder Mensch am Hals hängen hat.« Dagegen steht ihr ein ganz anderer, ethischer Zugang vor Augen. »Dieses Kreuz-Tragen hat für mich ’nen anderen Klang, so dieses Stück weit das Kreuz auf sich zu nehmen, so, Nachfolge. Das find ich nicht gut, wenn das zum Alltagsgegenstand wird.« Im Laufe unserer Begegnung spricht Effie dann behutsam auch ihre theologischen Zugänge zu künstlerischen Darstellungen an. Als wir gemeinsam einen Blick in ihr © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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winziges Arbeitszimmer werfen, zeigt sie mir freimütig mit Stolz ein Bild an der Wand, das in einer Exerzitienwoche entstanden ist. »Das war für mich ein Auferstehungsbild. Damit verbinde ich eher Auferstehung«. Und sie fügt hinzu »Das war mir wichtig. Das muß da hängen.« Auch eine Tonstatue kommt zum Vorschein, die sie vor langer Zeit gemacht hat und die jetzt ebenfalls einen festen Platz in der Arbeitsumgebung hat. Ich frage weiter nach im beruflichen Arbeitszusammenhang der verschiedenen Tätigkeitsfelder. Sie beschreibt mir das Kreuz im Fenster des Kirchsaals in der früheren Gemeinde. Auch hier kommt eher ihre Präferenz für dezente, hintergründige Anwesenheit der Kreuze zum Ausdruck. Zum optischen Gesamteindruck des Raumes kommentiert sie: »Aber es war auch nicht so, dass das Kreuz einem entgegen sprang, war mehr so in der Gestaltung, dass es verborgen war, aber … nicht so, dass es einen ansprang.« Das gilt auch jetzt für die Nutzung des Kreuzes im Handköfferchen der Seelsorgerin für den Sterbefall und zur Taufe. »Mir ist aufgefallen, wenn ich eine Nottaufe mach, dann hol ich die Taufschale raus, die Osterkerze und das Kreuz. Das gehört sozusagen zu meinen Utensilien dazu, aber das … hat … jetzt nicht so ’ne Bedeutung für mich … Es signalisiert, hier bin nicht nur ich, hier steh ich für die Kirche.« Die von vielen in Gesprächen mit Patienten weitergegebenen Fingerkreuze nutzt sie lieber nicht. »Ich merk, da bin ich sehr vorsichtig, also zu sagen, ich halt mich am Kreuz fest.« Einen lebendigen Zugang hat sie zu einer ganz bestimmten Kreuzdarstellung, zum vielfach in der Krankenhausseelsorge verwendeten Zeichen. »Was ich ’en schönes Kreuz find, ist, was die Krankenhausseelsorger als Symbol haben. Das ist ehr so ne weiche Kreuzform, und in dem Kreuz ist ne stilisierte Blume«. Sie trägt das Kreuz nicht, wie andere Kolleginnen an der Kleidung. Und doch kommt für Effie deutlich der Bezug zur Auferstehung zum Ausdruck: »also auch vom Bild her so … dieses, … dass das Kreuz Jesu zum Lebensbaum wird.« Wenn sie frühgeborene Kinder tauft, gibt sie ihnen als Segnung ein Kreuzzeichen auf die Stirn. Als Motivation führt sie eine Erinnerung aus dem Vikariat an, wo sie einmal eine bestimmte katholische Symbolpraxis als außerordentlich hilfreich erleben konnte. Auf die Frage, ob und wie das Kreuz-Schlagen wirkt, antwortet sie spontan »also das löst unheimlich viel aus … so, als ob die in ’nen anderen Machtbereich kommen … Vielleicht auch, weil ich in dieser Situation merke, dass es mehr braucht wie nur Worte.« Genau hier, in bedeutungsvollen Gesten neben dem Wort, sieht Effie auch das Prä der Seelsorge gegenüber der psychologischen Beratung: »Dass da was is, wo ich auch keine Worte hab, oder … wo die mir schwerfallen, dass dann … dieses Ritual, dieser Segensgestus auch sehr tief wirkt.« Vergleicht man Effies Umgang mit ästhetischen Darstellungen des Kreuzes und mit Gesten des Kreuz-Schlagens in ihrem persönlichen Leben wie in ihrer pastoralen Praxis mit Ralf, so zeigt sich ein etwas anderes Profil. Zunächst gilt: Das Kreuz gehört als Zeichen zur Kirche selbstverständlich dazu, allerdings eher als Gruppenmarkierung und als Hintergrundphänomen, nicht als Demonstrations© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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objekt. Aus theologischen Gründen ist für sie die Fokussierung von künstlerischen Gestaltungen des Kreuzes weniger relevant. Zur Begründung dafür muss sie keine explizite dogmatische Argumentation (etwa das Bilderverbot) nutzen. Bei dieser Haltung spielen Frömmigkeitsentwicklung wie auch aktuelle berufliche Kontexte eine wichtige Rolle. Klar erkennbar ist für mich bei Effie der Grundgedanke der Verbindung von Kreuz und Auferstehung. Gerade auch von ihrem Arbeitskontext Krankenhaus, in der Begegnung mit leidenden Menschen, lehnt sie eine Leidenstheologie klar ab. Es ist ihr wichtig, dass sich das Leiden Christi mit dem Leiden der Menschen heute verbinden kann, dass dies in der seelsorgerlichen Zuwendung und dann auch im politischen Engagement von Kirche lebendig werden kann. Dem entspricht es, wie sie – behutsam – in ihren Kommentaren und Erzählungen an Einzelbeispielen artikuliert, dass sie in persönlicher Weise die visuell-darstellende Formsprache der Kunst und des Rituals mit theologischen Inhalten verbinden kann. (Auferstehungsbild; Kreuz als Lebensbaum; Kreuz-Schlagen). Das geht dann allerdings im Einzelfall so weit, dass sie dieser Praxis jenseits der Worte theologische Bedeutung zuerkennt, auch wenn sie das eher andeutungsweise artikuliert, als begrifflich klar sagt.

8.2.3 Carsten: »Dieser kleine Zwischenraum ist für mich ein Sinnbild« Carsten ist seit zehn Jahren Pfarrer, zum Zeitpunkt des Interviews in seiner zweiten Gemeindepfarrstelle. Nach eigener Beschreibung hat er keine klassische kirchliche Sozialisation durchlaufen. Im Elternhaus gab es keine Kreuze. Aber da die Mutter katholisch war, gehörte das Sich-Bekreuzigen bei Mutter und Großmutter in der Kindheit ganz selbstverständlich zum Alltag. Das Gespräch führen wir im Dienstzimmer des Gemeindeamtes. Da gibt es kein Kreuz, nur eine Kinderzeichnung seines kleinen Sohnes aus der Vorschulzeit, der damals für seinen Papa einen Jesus malen wollte. Carsten hat zum Gespräch Kreuze mitgebracht, kommt auch schnell zur Sache, spricht frei und ausführlich von Kreuzen, die ihn fasziniert haben. Da ist aus seiner Studentenzeit ein Buchprospekt, welches auf dem Cover einen Christus am Kreuz zeigt, für ihn ein fast fröhlicher Christus: »Der ist nicht leidend … der leidet nicht«. Dann kommt die Rede auf das wuchtige Kreuz an der Stirnwand in seiner Kirche, gezimmert aus Balken eines ehemaligen Bauernhofes. »Es ist einfach … es ist ’ne Wucht. Und, was ich so faszinierend finde, ist einfach, sind die Linien, diese Trockenheitsbrüche, die in dem Holz sind. Das ist einfach … das hat einfach für mich ganz viel mit dem Leben zu tun, dass da Risse drin sind, Brüche, die aufhören … Ich sitz da oft im Gottesdienst und schau mir das an, und denk an was, wo ich dran arbeite, wo auch ein Riss oder ein Bruch ist.« Zu diesem Kreuz hat er auch schon mehrfach gepredigt »An Karfreitag besonders. Und da hab ich drauf hingewiesen. Dieser kleine Zwischenraum ist für mich ein Sinnbild, dass es nach dem Kreuz weitergeht. Ja, es klebt nicht an der Wand, wie so viele andere Kreuze.« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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In seiner theologischen Selbstbeschreibung verortet sich Carsten eindeutig als von reformiertem Denken geprägt. Und schnell fügt er dann auch eine gewisse Reserve gegenüber allen sichtbaren Zeichen an: »ich brauch’ das nicht« bzw. »Für meinen Glauben brauche ich nicht mal den sichtbaren Fokus des Kreuzes«. Aber Theologie in korrekten Sätzen reicht ihm nicht. Er weiß nicht, wie er das ausdrücken soll …, gesteht schließlich: »Aber da steckt ja mehr dahinter.« Als ich nach persönlichen Zugängen zur Passionstheologie frage, antwortet er zögerlich: »Ich hab sehr lange überlegt, was ich mit dem Gekreuzigten anfangen kann«. Die Auseinandersetzung mit TheologInnen wie H. Braun und D. Sölle standen im Studium zunächst im Vordergrund. Er nennt das »Diesseitigkeit als Herausforderung«. Später kam anderes hinzu, die Entdeckung, dass Kreuzestheologie auch zu tun hat mit dem »hinter dem hier, mehr als nur hier neu anfangen«, eine stärkere Gewichtung der Dimensionen von Jenseits und Sündenvergebung. Zum Umgang mit Kreuz-Gesten in der Berufspraxis zeigt er sich zunächst reserviert, ein Kreuz-Schlagen im Gottesdienst oder bei Kasualien sind für ihn eher seltene Gesten. Während er erzählt, kommen aber Ausnahmen und dann auch Veränderungen im Laufe der Berufspraxis zur Sprache. So erzählt er ausführlich von der außerordentlichen Situation der Beerdigung einer russisch-orthodoxen Frau, die beim Besuch in Deutschland verstarb und die er zu bestatten hatte. In diesem Gottesdienst hat er sich ausführlich bekreuzigt, um, wie er sagt, das was mit Worten nicht rüberzubringen ist, den symbolischen Ausdruck von Heimat für die Menschen weiterzugeben. Beim Segen am Ende des Gottesdienstes schlägt er normalerweise kein Kreuz. Anders verhält sich das, wenn er tauft. Hier schildert er, wie sich im Laufe der Berufspraxis bei der Taufe sein Verhalten verändert hat. »Da bin ich inzwischen dazu übergegangen, dem Täufling mit dem Finger ein Kreuzzeichen auf die Stirn zu zeichnen.« »Das ist etwas, was ich hier mit der Zeit gemacht habe … Das erste Mal, das ich mich damit auseinandergesetzt habe war, als ein fünf Jahre altes Kind bei der Taufe gesegnet werden wollte … und ich daran festgestellt habe, dass … dass dieses Zeichen an dem Kind, dieses Hineingesenkt-Sein in dieses ganze Geschehen, in Christus, dass ich das gut verbinden kann mit dem Kreuz-Zeichen.« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Und so verfährt er gelegentlich auch bei Aussegnungen. »Da schlage ich ein Kreuzzeichen über der verstorbenen Person«. Aber Carsten schiebt gleich nach: »Wobei: Aussegnung ist für mich ein seelsorgerliches Geschehen. Der Verstorbene braucht theologisch gesprochen weder das Kreuz noch die Bestattung. Sondern es ist ein Abschiedsritus für die Verstorbenen … Also von daher ist das nicht so stringent.« Ich zeige Carsten als vertiefenden Gesprächsimpuls ein Kreuz aus Metall8 und bitte ihn um seine spontanen Fantasien. Hier äußert er sich ausführlich und flüssig zur Wahrnehmung der Gestalt. Der horizontale Balken ist für ihn eindeutig eine Frau, der vertikale Balken scheint ihm dagegen unklar, »konturenlos, nicht greifbar, interessant, da bleibt ein Geheimnis.« Dass es sich um eine Kreuzesskulptur handelt, ist für ihn außer Frage. Die Ebene Mensch ist eindeutig »Die Vertikale, das sind wir Menschen«. Anders »die Achse, die Himmel und Erde verbindet, da bleibt etwas nicht Fassbares, die andere Achse, da bleibt ein Geheimnis.« Und dann fallen ihm spontan Sätze aus dem Apostolicum ein, die er im Blick auf Details des Kreuzes durchbuchstabiert und wo er rasch gedankliche Verbindungen zwischen Darstellungsmerkmalen und theologischen Sätzen ziehen kann. Als ich nach dieser Gesprächssequenz das Ende der Begegnung signalisiere und beinahe schon im Gehen begriffen bin, fällt ihm noch etwas ein. Er geht zu einem Schrank und holt zwei schmiedeeiserne Kreuze vom letzten Dekanats-Konfi-Tag heraus. Die hat er mitgenommen, weil andere keine Verwendung dafür hatten, er die Stücke aber interessant fand und auch gelegentlich genutzt hat. Und dann kommentiert er das eine Stück und macht Bemerkungen zu seinem persönlichen Zugang zur theologischen Bedeutung der Gestaltsprache und fantasiert: »Das setzt Rost an, fängt an zu leiden.« Faszinierend findet er besonders das obere Ende des Kreuzes, »es verschwindet im Nichts … Da gibt’s Bereiche, wo ich einfach nicht mehr weiter weiß. Wie kommt ein Mensch dazu? Für mich ist da Brechung drin.« Das sagt ihm theologisch viel zum Kreuz. Und mit diesem Kreuz hat er auch schon in Andachten gearbeitet.

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8 Vgl. Abb. 3 im Kap. »Kreuz-Gestalten« in diesem Band. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Carsten zeigt gegenüber den beiden vorhergehenden Interviewten im Blick auf die Fragestellung wiederum ein eigenes Profil mit eigentümlichen Spannungsmomenten. Ich erkenne einerseits theologisch unter Berufung auf reformierte Prägung die Aussagelinie der Abweisung der Zeichen und der Bildkritik. Gleichwohl präsentiert sich hier ein Pfarrer, der sehr wahrnehmungs- und sprachfähig im Blick auf ästhetische Elemente ist. Im Laufe seiner Berufszeit hat sich einiges entwickelt und verändert. Er kann sich situativ intensiv auf bildliche Darstellungen einlassen und zeigt Neigungen zur expliziten Gestaltwahrnehmung. Ihm gelingt in der spontanen Rede über das Kreuz die Verbindung von sprachlichen und bildlichen Metaphern. Seine Präferenz einer bildkritischen Theologie hält ihn keineswegs davon ab, sich intensive und kreative Gedanken zu machen über die Bedeutsamkeit ästhetischer Phänomene. Das kommt besonders sinnfällig zum Ausdruck in seiner Deutung des »Abstands« des Kreuzes von der Wand. Dieser Abstand wird ihm theologisch zum Sinnbild für hoffnungsvolle Zukunft im Kreuz. Bemerkenswert finde ich bei Carsten zudem, wie nach eigenem Bekunden eine zunehmende seelsorgerliche Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen seine zeichenreservierte theologische Ausgangshaltung modifiziert. Es fiel mir im Nachhinein beim Abhören des Tonbands auf, wie sich der Gesprächsfluss im Laufe der Stunde verändert hat. Generell zeigt er sich deutungsstark, kann ästhetische Momente in kreativer Weise mit persönlicher theologischer Bedeutung plausibel in Verbindung setzen. Er startet mit eher klaren Aussagen, redet dann, als er auf Veränderungen der beruflichen Praxis zu Sprechen kommt, zunehmend langsamer und bedächtiger. Er deutet mit Nebenbemerkungen Unklarheiten und Inkonsistenz zwischen eigenem theologischen Verständnis und seiner tatsächlichen Praxisgestaltung an. Da gibt es einen Überschuss in Wirklichkeit und Wirkung des Kreuzes gegenüber dem eigenen Denken, den er ahnt und signalisiert: »von daher ist das nicht so stringent«.

8.3 Kreuzes-Theologie: Berufliche Gestaltpraxis und theologische Lernprozesse Was ist aus diesen Facetten dreier Gespräche aufgrund einer völlig zufällig herausgegriffenen Auswahl von PfarrerInnen im Blick auf unsere Fragestellung zu entnehmen? In welcher Hinsicht kann man hier von Kompetenzen im Blick auf ästhetische Wahrnehmung und ästhetisches Handeln sprechen? Und inwiefern können diese empirisch erhobenen Elemente der Gestaltwahrnehmung und Gestalt-Praxis etwas sagen im Blick auf Hermeneutik der Kreuzestheologie? Alle interviewten Pfarrerinnen und Pfarrer wollen keine Kunstexperten sein. Und die Gespräche zeigen subjektive ästhetische Präferenzen, die kunsttheoretisch wohl kaum belastbar wären. Gleichwohl zeigen sich die Personen, mit unterschiedlen Akzenten, nicht nur reflektiert und auskunftsbereit zum Thema Kreuz, sondern sie bringen auch persönliche Wahrnehmungs- und Deutungsmomente ins Spiel. In dem © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Sinne bringen sie eine elementare Wahrnehmungs- und Sprachkompetenz zur Sache zum Ausdruck. Insofern wird eine Verbindung verbaler und gestalthafter Theologie erkennbar, man kann sagen: Sie betreiben selber eine Art Gestalt-Theologie des Kreuzes. Sie tun es mit persönlichen, erfahrungsnahen Worten, nicht unter irgendeinem Zwang, etwas theologisch »Richtiges« zu sagen. Gleichwohl erleben sie diesen Prozess der Versprachlichung als befreiend. Ich versuche, die Einzelaussagen im Blick auf Knotenpunkte der Thematik »Kreuzestheologie und Gestalt« zu sortieren. Dabei ergeben sich für mich vier Ansatzpunkte: Zum Ersten: Eingebunden finde ich bei allen drei Interviewpartnern die Kommentare und Fantasien zu ästhetischen Symbolen des Kreuzes in eine jeweilige theologische Interpretation der Heilsbedeutung des Kreuzes. Die Wahrnehmungen zu Gestalt und ihrer Wirkung werden nicht isoliert davon vorgetragen, sondern im deutlichen Bezug auf das jeweilige Grundverständnis dieser christlichen Botschaft von Kreuz und Auferweckung. Im Blick auf konkrete visuell wahrnehmbare Objekte und auch auf eigene Gesten des Kreuz-Schlagens wird der Bogen geschlagen zu ästhetischen Phänomenen. Was sich da an Deutungen ergibt, ist nicht deduktiv als »Anwendung« der theologischen Lehre gefolgert, sondern in kreativer Weise von Impulsen der Formsprache her formuliert. Ob die »offene Form« bei Ralf, die Gestalt, »die zum Lebensbaum wird«, bei Effie, oder die von außen betrachtet signifikante Kleinigkeit des » kleinen Abstands« des Kreuzes von der Wand bei Carsten – ästhetische Momente werden aufgenommen und eigenständig als Elemente in einem offenen Prozess der theologischen Verständigung über das Kreuz fortentwickelt. Ästhetische Phänomene sind sinnbildend, sie fungieren als Sinn-Bilder im Rahmen der Kreuzes-Theologie. Zum Zweiten: Wenn für die theologische Deutung des Passionsgeschehens seit den Texten des Paulus immer wieder die Paradoxie des Kreuzes hervorgehoben worden ist, dann nehmen die Interviewpartner dies, ohne dass sie große Gelehrsamkeit an den Tag legen wollen, gerade im Rekurs auf ästhetische Elemente deutlich auf. Der Bezug auf Gestaltelemente fungiert in den Gesprächen als Katalysator für den Ausdruck der im Kreuzesgeschehen erfahrenen Grundspannung. Ästhetische Elemente werden in eigener Deutung verschränkt mit den von der Person als zentral aufgefassten Grundspannungen der Kreuzestheologie, sei es die Polarität von Freiheit – Begrenztheit, die Spannung von Offenheit – Geschlossenheit oder diejenige von Tod – Leben. Hier liefert also die Einbeziehung ästhetischer Momente interessante Beiträge zur Erschließung der Kreuzes-Theologie. Zum Dritten: Alle drei artikulieren in Bezug auf die Mitte des Glaubens, in unterschiedlichen Spielarten, das theologische Grundanliegen der Relativierung äußerer Zeichen, ob sie sich dabei nun auf explizite konfessionelle Prägung berufen oder nicht. Der Glaube hängt nicht an der äußeren Gestalt oder gestischen Gestaltung des Kreuzes, aber jener Ausdruck kann hilfreich sein. Dem wird aber etwas hinzugefügt, explizit oder auch im tentativen Suchen. Nämlich die Einsicht oder die Ahnung, dass © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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da – durch die Worte hindurch – noch etwa wirksam ist, dass sogar gelegentlich selbst praktiziert wird, weil man seine Wirksamkeit erfahren hat, das gleichwohl nicht klar zu sagen ist. Spricht man Pfarrerinnen und Pfarrer darauf an, dann kommt ihnen oft selbst eine Diskrepanz zwischen Bilderkritik, Zeichenkritik und solcher Wirksamkeit des Sichtbaren zum Bewusstsein. Gerade die Beschäftigung mit visuellen Gestalten des Kreuzes bringt theologisch Gebildete an die Grenze der Sagbarkeit der Botschaft vom Kreuz. Hier liegt für sie, trotz aller Bedeutung des Wortes, ein theologischer Überschuss des darstellenden Handelns und des Ästhetischen. Zum Vierten: Für das Verständnis theologischer Kompetenz, von dem ich ausgegangen war, ergeben die Erkundungen in den alltäglichen Umgang von Profis mit dem Kreuz interessante Anstöße zum Weiterdenken. Die Gespräche haben uns ausschnittsweise theologisches Lernen aus der Praxis vorgeführt. Spricht man vom Kreuz nicht im luftleeren Raum des Prüfungswissens, sondern in beruflich erlebten Lebens-Situationen, dann zeigt sich die hohe Bedeutsamkeit und das beachtliche eigenständige Deutungsinventar, das Menschen hier entwickelt haben. Es steht mitunter (aber keineswegs immer) gegen erlernte »richtige« Theologie des Kreuzes. »Einsehen« und »Verstehen« sind gewiss unverzichtbare Kompetenzanteile. Aber das reicht wohl nicht. Wenn bei meinen Gesprächspartnern das »Wissen« über das Kreuz und der »Umgang mit dem Kreuz« miteinander produktiv verschränkt werden können, dann ergibt sich daraus die Prüffrage an theologische Ausbildung, welche Reflexionskompetenz für die Aufklärung des tatsächlichen Umgangs mit dem Kreuz angebahnt werden sollte. Die Praxiserfahrungen legen nahe, für ein solches Lernen in/mit Theologie zu plädieren, das in der beruflichen Praxis »gebrauchsfähig« ist in dem Sinne, dass es primäre Erfahrungs- und Gestalt-Praxis von Menschen aufzuschließen vermag. Dogmatische Information und produktives Handeln (sprachlich und ästhetisch) müssen in ein besseres Gleichgewicht gebracht werden. Zur kreuzestheologischen Kompetenz zählt auf alle Fälle die Einsicht in die Grenze des eigenen Wissens, Verstehens und Sagens.

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»… sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an« – Gestalthafte Erschließung theologischer Gestalt-Verweigerung

9.1 Auf die Probe gestellt Ein Zeitgenosse Martin Luthers, der Kantor und Lehrer Nikolaus Hermann, dichtete 1554 das bis heute unter Protestanten wie Katholiken sehr populäre Weihnachtslied »Lobt Gott ihr Christen alle gleich« (EG 27). Damit war ein Stück gesungene christliche Elementarpädagogik intendiert. Denn 1560 ließ Hermann das Lied zusammen mit zahlreichen anderen in einer Sammlung unter dem Titel Die Sonntagsevangelia über das Jahr in Gesänge verfasset für die Kinder und christlichen Hausväter drucken. In der dritten Strophe des Weihnachtsliedes heißt es: Er äußert sich all’ seiner G’walt, Wird niedrig und gering, Und nimmt an sich ein’s Knechts Gestalt, Der Schöpfer aller Ding’, Der Schöpfer aller Ding’. In Anlehnung an den Hymnus aus dem Philipper-Brief des Paulus hat der Liederdichter in vormoderner Zeit eine zentrale christologische Vorstellung in Verse gebracht: Die Entäußerung Gottes in Knechtsgestalt. Im Kapitel über den theologischen Gestaltbegriff ist uns dieser dogmatische Topos unter der Formel der »Kenosis-Lehre« begegnet. Am Kreuz Christi wird die wahre Gestalt Gottes sichtbar, gerade indem sie verhüllt wird. Dieses Paradoxon der Kreuzes-Theologie ist wahrhaft keine leicht eingängige Sache. Wir wissen nicht, wie die Kinder des 16. Jahrhunderts, mit denen Nikolaus Hermann es zu tun hatte, diesen Vers verstanden haben. Die dem Lied zugrunde liegende dogmatische Vorstellung zur Bedeutung Christi am Kreuz wird in ihrer Einzelheit kaum je dem theologisch nicht gebildeten Christenmenschen durchsichtig gewesen sein. Die entsprechenden Sätze waren gleichwohl lange Zeit prägend für das Glaubenswissen auch des theologisch weniger oder gar nicht gebildeten Kirchenvolks. Der katechetisch-dogmatische Stil in den bekannten Sätzen von Luthers Erklärung zum 2. Artikel oder in der Antwort auf die Frage 1 des Heidelberger Katechismus war so lange plausibel, bis infolge einer breiteren Erschütterung des in ihnen mit transportierten vormodernen Weltbildes die Christologie im 19. Jahrhundert zunehmend durch eine ethisch-moralisch gewendete »Jesulogie« ersetzt wurde. Die Nachwirkungen dieser in ihrer Zeit durchaus als Rettungsver-

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Gestalthafte Erschließung

suche gemeinte Neuformulierung von Christologie sind in empirischen Studien noch heute belegbar.1 Für den kulturellen Kontext der meisten westlichen Gesellschaften braucht man keine weitläufigen empirischen Untersuchungen, um zu realisieren, dass Lehrelemente wie »Inkarnation« und »Kenosis« nicht zu den verfügbaren Glaubensinhalten eines jeden Christen gehören. Es ist um so bemerkenswerter, dass der zeitgenössische italienische Religionsphilosoph Gianni Vattimo in einem wichtigen Werk diese Lehre der Kenosis zur Diagnose der Religion in säkularer Zeit aufgegriffen hat2 und damit eine erhebliche Wirkungsgeschichte angestoßen hat3, die bis in die Religionspädagogik reicht.4 Vattimo wendet die Kenosis-Lehre großflächiger an, behauptet im Unterschied zu gängigen religionssoziologischen Theoremen der Säkularisierung, die christliche Religion sei eigentlich nie verschwunden, sondern lediglich im Zustand der Kenosis, der Verhüllung. Die Kontroverse um Vattimo kann hier nicht aufgegriffen werden.5 Was wäre die Aufgabe der Praktischen Theologie in diesem Punkt? Die auf die Praxis Gelebter Religion gerichtete Bemühung wird sicher die Hilfestellung zu denkendem Glauben nicht verweigern. Aber man kann im Kontext unseres gestalttheoretischen Ansatzes fragen, ob es da nur um kognitive Inhalte des Glaubens ging und geht. Wenn in vormodernem Denken die Vorstellung der »Verhüllung« Gottes einmal große Akzeptanz genossen hat (sinnfällig zum Ausdruck kommend etwa im liturgischen Brauch der Kreuzesverhüllung am Karfreitag), und wenn mit dieser Metapher in nachmoderner Zeit erneut operiert wird – dann wäre es der Mühe wert und sachlich kreuzestheologisch angemessen, auch nach äquivalenter Praxis heute in Bezug auf die Vorstellung der Verhüllung der Göttlichkeit Christi zu suchen. Eine produktive Aufnahme der Herausforderung scheint mir darin möglich, über die rein sprachliche Mitteilung hinauszugelangen und Theologie mit ästhetischen Mitteln voran zu bringen. Wie erschließt man dieses Wort vom Kreuz in Zeiten, da das vormoderne unwiederbringlich zerfallen ist? Wie erschließt man das in praxisveränderndem Sinn? Dazu ist zunächst der Rückgang auf die hinter der Kenosis-Lehre liegende frühe Etappe der Deutungsgeschichte des Kreuzes Jesu im Neuen Testament hilfreich.

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Vgl. T. Ziegler, Jesus als »unnahbarer Übermensch« oder »bester Freund«. Elementare Zugänge Jugendlicher zur Christologie als Herausforderung für Religionspädagogik und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006. G. Vattimo, Glauben – Philosophieren, (deutsch) Stuttgart 1997. Vgl. den Sammelband O. Zijlstra (ed.) Letting go. Rethinking Kenosis, Bern 2002. St. Scholz, Bibeldidaktik im Zeichen der Neuen Medien, Münster 2012. J. Habermas hat dem Ansatz des »schwachen Denkens« heftig widersprochen, vgl. ders., Die Dialektik der Säkularisierung 2008. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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9.2 Der Anfang: Sprach-Gestalten des Wortes vom Kreuz 9.2.1 Frühe Etappen sprachlicher Deutungen Am Anfang der Jesus-Bewegung stand die Passion Jesu, in Gestalt einer mündlich weitergegebenen Erzählung. Daraus wurden dann literarische Kompositionen der Evangelien, die nach einer bekannten These von M. Dibelius nichts anderes als eine »verlängerte Passionsgeschichte« darstellen. So bildete sich Tradition über den Ursprung des neuen Glaubens der jungen jüdischen Sekte, die sich Nazarener nannten. Die synoptischen Erzählungen sind in Bezug auf die Passion Jesu klar, aber sparsam. In nüchternen Worten berichten sie, dass Jesus am Kreuz gelitten hat, gestorben ist und begraben wurde. Ausmalungen der Kreuzigungssituation, wie sie etwa die stark affektive Wirkung der Bilder im spätmodernen Jesusfilm von Gibson erzeugen, fehlen in den alten Texten gänzlich. Am Anfang stand so unbestreitbar das Kreuz, aber eben nicht seine künstlerische Ausgestaltung oder fromme Betrachtung in meditativer Versenkung. Am Anfang stand die Passion als ein kaum spektakuläres Ereignis, der Galgen des Jesu von Nazareth. Und mit diesem Galgen wollten, nach allem was wir heute historisch gesichert wissen, nicht die Juden, sondern die römische Obrigkeit den Aufrührer Jesus loswerden. Man brachte ihn deshalb in der damals üblichen Strafe für Gewaltverbrecher vom Leben zum Tode. Aus den Akten der Christenverfolgung römischer Cäsaren wissen wir, dass man in den ersten beiden Jahrhunderten zuweilen ganze Straßenzüge mit solchen Kreuzen ausstaffiert hatte. Von Anfang an gab es dann aber auch prägnante Deutungen über diesen Kreuzestod des unbekannten Wanderpredigers Jesus. Die deprimierten und enttäuschten Anhänger, die mit Jesus nach Jerusalem gekommen waren, dort die Revolution aller Lebensverhältnisse erwartet und sich nach dem gewaltsamen Tod mutlos und verängstigt zurückgezogen hatten – unter denen wurde plötzlich das Kreuz nicht mehr nur als Zeichen des Todes begriffen, sondern auch als Zeichen des Lebens, des Sieges. Das geschah in und mit den Überlieferungen der Ostergeschichten, zentriert um die Grundbotschaft »Christus ist auferstanden.«6 Römische Zeitgenossen empfanden die Vorstellung der Erhöhung eines Gehenkten zum göttlichen Christus so anstößig und lächerlich, dass sie ihren Spott mit der Karikatur eines Esels am Kreuz bildhaft darstellten.7 Die Freunde und Freundinnen Jesu ließen sich aber von ihrem Glauben nicht abbringen. Sie versuchten, ihre Deutungen des unfassbaren Geschehens in Sprachbildern zu fassen. Zu den ganz frühen sprachlichen Ausdrucksformen zählt das Lied im 2. Kapitel des Philipperbriefs, in dem Jesu Gang in die Erniedrigung am Kreuz 6 Vgl. zum ganzen St. Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, Tübingen 2009. 7 Unterschrieben wurde die Karrikatur mit »Alexamenos sebete Theou« »Alexamenos betet seinen Gott an«. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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als Verzicht auf göttliche Gestalt besungen wird. Als unfassbar und zugleich von unerhörter Kraft erlebten die enttäuschten Freunde und Freundinnen Jesu die Botschaft, dass im Kreuz Christi die verborgene Weisheit Gottes offenbar geworden sei (1Kor 2, 6 ff.). Das brachte man mit damals geläufigen Metaphern zum Ausdruck. »Wahrlich dieser ist Gottes Sohn« (Mk 15,39; Mt 27,54). Auch das Bild des Opferlammes wurde früh auf Jesu Kreuz übertragen. Aus Erzählungen vom Kreuz wurden dann komplexere und abstraktere theologische Deutungen.8 Der Apostel Paulus hat in seinen Briefen solche Deutungsmuster geprägt. Der Protestantismus als Theologie des Wortes berief sich u. a. auf diese paulinische Lehre. Für die Deutung des Ereignisses um das Kreuz wurde – bei unterschiedlichen sprachlichen Fassungen – vor allem ein Moment charakteristisch, nämlich die Einzigartigkeit und Unüberbietbarkeit des Geschehens für das Heil aller Menschen und des gesamten Kosmos: Christus hat für andere gelitten, und er ist ein für alle Mal gestorben.9 Lange vor der Möglichkeit zu künstlerischer Gestaltung haben die frühen Überlieferungen des Christentums sprachliche Gestaltungsmittel für die angemessene Mitteilung gesucht: hymnische, narrative und dogmatisch argumentierende. Zu den ältesten Ausdrucksformen der Theologie des Kreuzes als der »Mitte der Theologie des Neuen Testaments«10 gelten Texte wie der Christus-Hymnus im Philipperbrief: »Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz« (Phil 2,6 ff.).

Wenn dort der Begriff »Gestalt« (morphe) gleich mehrfach und in doppelter Bedeutung auftaucht, so verweist dies auf das Problem, das dann die Zwei-Naturen-Lehre der späteren Bekenntnisbildung in der Kirche auf eine dogmatische Formel brachte: Christus ist »wahrer Gott und wahrer Mensch«, eines gleichen Wesens mit dem Vater (»homoousios«). Diese Formel sollte sprachlich und gedanklich das Unfassbare fassen, nämlich den Gedanken, dass die irdische Gestalt Jesu als menschlich leibhafte Gestalt mit dem Moment des göttlichen Wesens zusammengebracht werden muss. Damit sollten gnostische wie auch arianische Glättungsversuche christologischer Interpretationen abgewehrt werden. Bis heute ist es immer wieder versucht worden, die logische Anstößigkeit dieser Formel einseitig zu überspielen, etwa da, wo jemand jüngst in spiritualistischer Sicht behauptet: »Der Ausdruck ›Gestalt Gottes‹ lässt uns  8 Vgl. zu einem Überblick A. Dettwiler/J. Zumstein (Hgg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, Tübingen 2002.  9 Vgl. zu theologischen und psychologischen Aspekten des Leidens Christi bei Y. Spiegel/P. Kutter, Kreuzwege a. a. O. insbes. den Abschnitt 7, S. 158 ff. 10 U. Luz, Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament, EvTheol 1974, 116–141. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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nicht an eine äußere Erscheinungsform denken, sondern an seine ewige Existenz, sein Bestehen an sich nach Wesen und Natur …«.11 Man muss jedoch bezweifeln, ob dies der Intention des biblischen Textes nachkommt. Gestalt meint bei Paulus die Gesamtgestalt inklusive der Körperlichkeit.12 Insbesondere Paulus, der Jesus leibhaftig nie begegnet ist, hat in seiner Theologie bekanntlich die Weitergabe des Christus-Ereignisses nicht nur in (sprachlicher) Gestalt von Hymnen vorgenommen, die er mit ihrer metaphorischen Sprache zitierte. Er hat sie vielmehr mit viel Anstrengung und in immer neuen Anläufen vor allem auf die Sprachformel des »Wortes vom Kreuz« hin zugespitzt. Einer seiner Kernsätze ist die schon zu Eingang zitierte Formel: »Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist’s eine Gotteskraft.« (1Kor 1,18) Dieser Satz findet sich in den Lutherbibeln fett gedruckt, er ist für traditionell sozialisierte Protestanten gut bekannt, weil sie vermutlich viele Predigten dazu gehört haben. Der Satz gehört für Pfarrer seit Generationen zum jederzeit verfügbaren Zitatenschatz in den Wechselfällen pastoraler Praxis. Wer als nicht-professioneller Bibelleser den Text des Paulus aufschlägt, dem werden sich diese Sätze zu christologischen Aussagekomplexen von ihrer abstrakten Sprache und der kompakten theologischen Argumentation jedoch heute nur schwer erschließen. Im Gegensatz zur narrativen Kreuzes-Theologie der Evangelien mit ihren eher anschaulichen Passionsgeschichten, auch im Unterschied zu hymnischen Texten wie Phil 2, ist hier die lehrhafte Diktion der dogmatischen Experten getreten, die es in sich hat und deren Erschließung in der kirchlichen Praxis heute deshalb vor große Herausforderungen stellt.

9.2.2 Die Pointe: Das Kreuz als Subjekt Bevor ich den Brückenschlag von kreuzestheologischen Einsichten zur Gegenwart wage, sei aber den Spezialdiskurs der Neutestamentler noch einen Schritt weiter verfolgt. Denn das hilft zur Verstehen der Pointe sprachlicher Gestaltung und damit mittelbar für unser Thema erheblich weiter. Worin theologisch die Sinnspitze des »Wortes vom Kreuz« liegt, ist in jüngerer Zeit in der neutestamentlichen Forschung mit neuer Intensität herausgearbeitet worden. Besonders bemerkenswert scheint mir dabei, dass exegetische Fachleute bei Paulus auf die Verknüpfung von inhaltlichen Bestimmungen des Glaubens vom Kreuz Christi mit Eigenheiten der Sprach-Gestaltung und der Form theologischer Argumentation aufmerksam machen. Es geht dabei nicht einfach um die Mitteilung von Inhalten über »Heilstatsachen« objektiver Art, sondern um das Verweben von materialem Sprachgeschehen und Heilsbewegung. Entsprechend handelt Paulus nicht über das Kreuz als Objekt, 11 So K.-H. Weber, http://www.bibelkommentare.de/pdf/367.pdf. 12 Vgl. dazu R. Brucker, ›Christushymnen‹ oder ›epideiktische Passagen‹? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt, Göttingen 1997. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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vielmehr stellt für ihn »das Kreuz das Kriterium dar, von dem aus die gesamte Wirklichkeit interpretiert wird.«13 Und in sachlicher Korrespondenz dazu steht der Hinweis, dass ein theologisch angemessenes Verständnis des Kreuzes insbesondere zwei Aspekte berücksichtigen muss. Einerseits repräsentiert es die paradoxe Struktur der zentralen Idee Gottes: Der Allmächtige in seiner möglich weitest entfremdeten Gestalt, im Leiden in Golgatha. Andererseits inkorporiert es die umgekehrte Struktur der theologischen Epistemologie: Das Kreuz Christi ist nicht länger das Objekt des theologischen Interesses, sondern das Subjekt.14 »Das Wort vom Kreuz lässt sich nicht auf eine propositionale Aussage, auf einen dogmatischen Lehrsatz oder eine im Wortlaut zu tradierende Formel reduzieren.«15 Die Theologie des Kreuzes, welche auf das »Wort vom Kreuz« hin zugespitzt wird, so könnte man den Ertrag dieser neueren Forschung zusammenfassen, ist Grundlage christlicher Theologie überhaupt, aber dies gerade nicht in der Abstrahierung von ihrer sprachlichen Form, sondern in der Resonanz von theologischer Bedeutung und sprachlichem Vollzug. So wurde die angemessene Mitteilung zunächst und vor dem historisch späteren Versuch der Mitteilung durch Gestalten in der christlichen Kunst vor allem durch Sprach-Gestaltung vollzogen. Ihre Intention lag in der emphatischen Weitergabe einer der ganzen Erfahrung des Menschen umgreifenden Umorientierung. In unserem Zusammenhang der Gestaltaspekte des Kreuzes scheinen mir drei Besonderheiten erwähnenswert: –– Zum einen bezeugen die Texte des Neuen Testaments und ihres literarischen Umfeldes, dass im Spektrum der urchristlichen Gruppen neben den genannten Aussagen bald auch andere Deutungen kursierten. Es gab also nicht nur die eine paulinische »Normalform« der Überlieferung, nicht nur das eine ›Wort vom Kreuz‹, sondern von Anfang an eine gewisse Pluralität oder Variation der Deutungen. Im späteren Kolosserbrief z. B. wurde eine kosmologische Bildsprache bemüht mit der Aussage Christus machte Frieden mit Gott durch sein Blut am Kreuz (Kol 1, 20). Der Verfasser des Hebräerbriefs griff auf jüdische Kulttraditionen zurück, deutete Jesus als Hohenpriester, der sich am Kreuz durch sein eigenes Blut selbst für die Sünden der anderen opferte (Hebr 9ff). –– Zum anderen gilt nach 150 Jahren historischer Jesusforschung generell, dass Jesu Tod am Kreuz ein historisches Ereignis war, dass es gleichwohl heute von den Texten des Neuen Testaments her unmöglich ist, historische Ereignisse »hinter« diesen Texten rekonstruieren zu können. Die literarischen Quellen sind keine Tatsachenberichte, deren Ereignis unabhängig von Erzählungen rekonstruierbar 13 J. Zumstein, Das Wort vom Kreuz als Mitte der paulinischen Theologie, in: A. Dettwiler (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, Tübingen 2002, 27–41, Zitat 33. 14 K. Haldimann, Kreuz – Wort vom Kreuz – Kreuzestheologie, in: A. Dettwiler (Hg.), Kreuzestheologie a. a. O. 1–26. 15 S. Alkier, Die Vielfalt der Zeichen und die Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments, in: M. Witte (Hg), Religionskultur – zur Beziehung von Religion und Kultur in der Gesellschaft, Würzburg 2001, 197. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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wären. Die Texte haben also vielmehr selbst in den Erzählungen, den SprachBildern oder auch den entwickelten theologischen Begriffen Gestaltcharakter. Es sind durchweg literarische Texte im Sinne verdichteter Erfahrung von bestimmten Menschen, aus der Erfahrung »Christus ist auferstanden« zu neuen Erfahrungen. Sie sind sprachlich gestaltete Glaubenserfahrungen. –– Zum dritten muss im Blick auf die außersprachliche Bildgestalt daran erinnert werden, dass sich Abbildungen des Gekreuzigten für die ersten Jahrhunderte nicht nachweisen ließen. Kuzifixe standen kunst- und frömmigkeitsgeschichtlich keineswegs am Anfang, sondern entwickelten sich erst später. Und dies geschah mittels der Nutzung einer weit verbreiteten vorchristlichen Kreuzessymbolik.

9.3 Welche Gestalt entspricht dem »Wort«? 9.3.1 Die Aufgabe Das also lehrt neutestamentliche Forschung: Paulus und seine urchristlichen Freunde wollten in ihrer Sprache eben nicht nur ihre Zeitgenossen über objektive Dinge »dort draußen« informieren oder belehren. Sondern sie wollten auf erneuerte Weise in Welt und Wirklichkeit einführen, was sie nicht nur als verstandesmäßige Umorientierung ansahen, sondern mit wahrhaft »ganzheitlicher« Wirkung dachten16, als die Erfahrung einer komplett neuen Existenz und als »neue Schöpfung« im umfassenden kosmologischen Sinn. Die Frage scheint mir heute, ob solche erneuerte Sicht mit lebenspraktischer Wirkung sich auf dem Wege der hermeneutisch differenzierten Einsichten theologischer Expertenschaft mitteilen lässt, die wohl nur für intellektuelle Eliten zugänglich ist, oder ob es andere Wege gibt, welche Begegnung mit der Botschaft des Kreuzes im ganzheitlichen und personalen Sinne ermöglichen. Damit ist erneut die Frage nach theologisch sinnfälligen Gestalten mit ästhetischen Mitteln jenseits sprachlicher Darstellungsformen gestellt. Ich bezweifle allerdings, dass dies auf dem Wege der Zitatmontage nach Anlage der zu Eingang genannten Beispiele am besten gelingt. Möglicherweise entspricht man dem »Wort vom Kreuz« gerade so, dass eine Gestaltung nicht allein kognitive Botschaften biblischer Texte kopiert, sondern, dass sie – entsprechend der Kreuzes-Theologie des Paulus – Welterfahrungen thematisiert, in denen nicht ein Ich sich Objekte erschließt, sondern dieses Ich in bestimmten Begegnungen sich gerade als durch ein Anderes erschlossen erfährt. Denn genau dies ist wie oben skizziert die Pointe der Kreuzestheologie: Paulus handelt nicht über das Kreuz als innerweltliches Objekt, vielmehr stellt für ihn das Kreuz den Angelpunkt dar, von dem aus die gesamte Wirklichkeit und der Mensch neu erschlossen werden. Eine solche Umkehrung der Weltsicht lässt sich zwar begriff16 Dabei dürfen die Probleme eines überladenen Begriffs von »ganzheitlich« nicht übersehen werden, vgl. dazu das Kap. »Gestalt und Gestaltwahrnehmung«. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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lich nach-sagen, aber wirkmächtig darstellen und »an-sagen« lässt sie sich wohl eher in anderen Medien, in Bildern. Sie scheint eher vermittelbar über bestimmte ästhetische Erfahrungen moderner Kunst zu sein. Dabei werden nicht Wissenserwerb, sondern Sehprozesse ermöglicht/verlangt. Das führt zu der auf den ersten Blick absurd erscheinenden Frage, ob und wie man das »Wort vom Kreuz« sehen kann. Hier kann ein Impuls von Tillichs Gestalt-Theologie aufgenommen werden.17 Bereits vor gut fünfzig Jahren hat der Theologe Paul Tillich auf die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für eine zeitgenössische Erschließung von Evangelium hingewiesen und dabei insbesondere profane Kultur in den Blick genommen. Sein Paradebeispiel war expressionistische Kunst. »Die Formen der religiösen Kultur, in denen die Gestalt der Gnade lebt, sind Formen, in denen die Profanität den Charakter des transzendenten Bedeutens, die Vorwegnahme des Jenseits von Sein und Freiheit, annimmt. Diese Formen bleiben demgemäß in strenger Korrelation zur Profanität. Sie schaffen kein Sondergebiet, keine religiöse Sphäre, die gegenständlich abgegrenzt wäre, kein sanctum oder sanctissimum gegenüber dem profanum.«18 Er warnte mit Sensibilität für eine fortschreitend minder religiös bestimmte Kultur die Kirche davor, im überlebten Gestus der religiös Besitzenden aufzutreten.

9.3.2 Black Paintings Ich greife diesen Impuls Tillichs auf und erprobe ihn an einem Beispiel eines Bildes des US-amerikanischen Künstlers und Kunsttheoretikers Ad Reinhardt.19 Der Künstler Ad Reinhardt (1913–1967), ursprünglich Adolph Dietrich Friedrich Reinhardt, zählt in der Szene zu den Minimalisten, im weiteren Sinne zu den Expressionisten der abstrakten Malerei, auch wenn er das selbst nie von sich hätte sagen wollen. Er kritisierte bereits in der Phase der Comics alles Narrative in der zeitgenössischen Kunstszene, so z. B. mit dem berühmten Baum »How to Look at Modern Art in America« (1961). Er experimentierte in verschiedenen Phasen seines Schaffens mit fast monochromen Öl-Bildern, rot, grün, blau. Ab 1953 malte er dann ausschließlich schwarz, »Black Paintings«20 lauten die Titel lapidar. Diese nannte er »letzte Bilder«.

17 Vgl. zu Tillich das Kap. »Gott als Gestalt denken«, Abschnitt 5. 18 P. Tillich, Protestantismus als Kritik und Gestaltung, (1929), Ges Werke Bd. VII, Stuttgart 1962, 29–53. Zitat 49. 19 Vgl. dazu auch meine Darstellung in H.-G. Heimbrock:Korintherbriefe, in: B. Drechsler/H. Schröder-Wittke (Hgg): Religionspädagogischer Kommentar zur Bibel, Leipzig 2012, 527 ff. 20 Black Paintings/deutsche Ausgabe: Robert Rauschenberg, Ad Reinhardt, Mark Rothko, Frank Stella. Buch zur Ausstellung im Haus der Kunst, München, von Stephanie Rosenthal. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Abbildung 24

An der Wand hängt eine neutrale quadratische Leinwand vor dem Betrachter, auf der man kaum etwas erkennen kann, so hoch, wie ein erwachsener Mensch groß ist, in der Breite im Maße ausgestreckter Arme. Das Bild ist (auch im Original) mehr oder weniger dunkel; eine horizontale Form durchbricht eine vertikale. Aber eigentlich gibt es keine Form, auch kein Oben und Unten, eine Farbgestaltung als farblose Farbe. Und kein Etwas, das man aus der externen Realität als gemaltes Objekt identifizieren könnte. Das Bild fordert, fordert sehr. Die Betrachtung ist anstrengend, sie kostet Zeit. Es zwingt zum Verweilen. Mancher mag sich beim Gang durchs Museum ungeduldig abwenden, weil ja doch fast gar nichts zu sehen ist auf diesem Bild. Hier bietet sich dem Betrachtenden kein gefälliges Sujet, keine figürliche Komposition, die man schnell überblicken könnte, um dann zu sagen, was das Bild darstellen soll. Denn dieses Bild stellt überhaupt nichts dar, auch der Titel verweigert eher Information, als dass er welche gibt. Man muss sehr genau hinsehen, um in diesem Bild überhaupt so etwas wie eine Struktur zu erkennen. Es wirkt fast leer, es zeigt Leere als Gestalt. Erst bei genauer Betrachtung sind feinste Abstufungen in den Farbstrukturen zu erkennen. (In der Reproduktion des Originals in der Druckfassung hier bleibt davon kaum etwas übrig.) Kein externes Objekt ist hier wiedergegeben, dem Betrachter begegnet eine fast schwarze Leinwand. Erst nach längerer Betrachtung erschließt sich ein strukturiertes Etwas, Schatten von Rechtecken und geometrischen Figuren, schwarz abgetönte, rechteckige Bilder mit kreuzartigen Rechteckformen, die für den Betrachter indessen kaum noch wahrnehmbar sind. Das Schwarz wird hier überlagert durch bläuliche Schwarztöne, die eine matte, das Licht absorbierende Fläche ausbilden. Schwarz, die konventionell mit Trauer und Tod konnotierte Farbe wird lebendig, verschwindet aber gerade nicht. Sagt dieses Bild irgendetwas? Eine mattschwarz erscheinende Oberfläche wird durch grünliche, rötliche und bläuliche Töne kaum sichtbar unterlegt, so entsteht eine charakteristische, kaum wahrnehmbare Transparenz. Darin treibt er Kunst bis an die Grenze der Darstellungsmöglichkeiten. Bilder wie dieses sind extrem reduzierte Bilder mit rechteckigen Formen und Farbgebungen, die man eher »Nicht-Farbe« nennen könnte. »In den Bildern von © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Ad Reinhardt ist das Verfahren der Reduktion in der Form der ›aktiven Negativität‹ am weitesten entwickelt worden. Seine Bilder sind nur noch durch Abwesenheiten gekennzeichnet: Sie sind Nichtkomposition, Nichtform, Nichtfarbe, Nichtillusion usw.«21 Reinhardts Programm war »Kunst als Kunst«22, praktisch wie theoretisch. In seinen Schriften umschreibt er vor allem unablässig, was Kunst nicht sei, ähnlich der »negativen Theologie«. Seine Bilder »behaupten das absolute Ende der Malerei als Illusion, als Fenster zur Welt.« Tatsächlich »formulieren [sie] den Anfang einer Malerei als selbstständiges Objekt der Wahrnehmung. So beziehen sie den Betrachter mit ein und positionieren ihn neu.«23 Er begriff Kunst als einen Reduktionsprozess, »der alle wesensfremden und akzidentellen Elemente wie etwa Symbol, Inhalt, Aussage, Stil und Komposition langsam eliminiert«24, zum Schluss auch noch alle Farben außer Schwarz. Ad Reinhardt war kein Theologe und das Bild »Black Painting« ist kein Bild, das die biblische Botschaft der Passion Christi thematisiert. Die hier und da durchschimmernden Kreuze sind keine Zitate. Obwohl Reinhardt sich mit östlicher Meditation beschäftigt hat, wäre es abwegig, ihn für Paulinische Theologie zu vereinnahmen. Der Künstler nennt seine schwarzen Bilder »Meditationstafeln«. Er hat keine Kreuzesdarstellungen gemalt, keine Darstellungen von Inhalten religiöser Tradition, überhaupt keine Darstellungs-Inhalte. Worauf er sich konzentriert, was er ermöglicht, sind spezifische Seherfahrungen. Und mir geht es um die Antwort des Theologen auf diese Seherfahrung. In aller Behutsamkeit kann man die in den »Black Paintings« gegebenen Seherfahrungen theologisch reflektieren, theologisch im Sinne Tillichs nach einer Korrespondenz zwischen ästhetischer Erfahrung und religiöser Botschaft fragen. Diese Seherfahrungen führen den Betrachter an Leere, Leere der Farbigkeit und Leere der Struktur. Künstlerische Gestaltung in den Bildern Reinhardts bietet mit ihren Ausdrucksmitteln in meiner Sicht eine spezifische Erfahrung der Abwesenheit und Verborgenheit eines Objekts, die der Betrachter trotz aller Anstrengungen nicht überwinden oder entschlüsseln kann. Als Theologe deute ich diese Seherfahrung hier in ihrer Gleichnisförmigkeit zur paulinischen Theologie des Kreuzes. Nach dem Zerfall des mittelalterlichen Weltbildes gibt es auch im Verstehen der Botschaft von Kreuz und Auferweckung keine einfache Rückkehr zum Goldgrund der Malerei, keine Rückkehr zu Fundamentalismus in christlichem Gewand in naiver Erzählung, wie Hollywoods Jesus-Filme das glauben machen wollen. Das Skandalon des Kreuzes, von dem Paulus 1Kor spricht, die 21 Zit nach H. Friesen, An den Grenzen der Kunst in der Moderne, in: Thema 1. Jg., Heft 1 Oktober 1996, 22 A. Reinhardt, Art as Art: The Selected Writings of Ad Reinhardt, New York 1975, 82 ff. Vgl. zu Reinhardt die Darstellung bei A. Schmidt-Burkardt, Stammbäume der Kunst: Zur Genealogie der Moderne, Berlin 2005, 284 ff. 23 Vgl. St. Rosenthal, in: Ausstellungs-Katalog Black Paintings, Ostfildern-Ruit 2006, 6. 24 U. Reißer/N.Wolf, Kunstepochen, Bd. 12: 20. Jahrhundert II, Stuttgart 2003, 73. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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memoria passionis kann nicht als Seh-Objekt angeeignet werden (schon gar nicht als Wissensportion), sondern eher in Gestalt einer Verstörung. Das »Wort vom Kreuz« kann man da »sehen«, wo man beginnt auszuhalten, dass es nichts zu sehen gibt. In dieser Beziehung »können wir dabei von der Kunst lernen und mit dem biblischen Text wie mit einem Bild, einem Kunstwerk umgehen, seine Verdichtungen wahrnehmen, seine elementaren Formen, Gesten, Wörter«25. Diese Kunst setzt nicht ein mit Wissen um religiöse Inhalte, ihre Aussage zielt auf Enthüllung des Geheimnisses durch Verhüllung des Kreuzes. Gerade so wird Welt transparent, wird »Durch-Blick« vermittelt, der die Weisheit des Besitz ergreifenden Bildermachens »Da weiß man was man (gesehen) hat« immer wieder durch-kreuzt.26

25 D. Zilleßen, Sinn und Sinne. Perspektiven religiöser Bilddidaktik, in: ders., Gegenreligion, a. a. O., 67. 26 Vgl. dazu didaktische Anregungen und phänomenologische Anleitungen zur Didaktik bei D. Zilleßen/U. Gerber, Und der König stieg herab von seinem Thron. Das Unterrichtskonzept religion elementar, Frankfurt/M. 1997. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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An der Oberfläche Dieser Band will Praxis des Kreuzes als Gestalt-Praxis näher erkunden. Dort, wo die Gestalt eines Kreuzes über den binnenkirchlichen Raum hinaus die breitere Öffentlichkeit erreicht, steht sie in unserer Kultur unweigerlich aber im Spannungsfeld christlicher Überzeugungen und deren Bestreitung. Die kirchliche Darstellung des christlichen Zentralsymbols wird politisch und juristisch angefochten. Und sie ist als kirchliche Praxis in der Gesellschaft den Mechanismen von Marketing und Markt ausgesetzt. In diesem Teil werden gesellschaftliche und kulturelle Dynamiken der Gestalt-Praxis unter weitere Horizonte gestellt. Daraus ergeben sich für KreuzesTheologie neue Herausforderungen.

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10. »Dem Anblick ausgesetzt« – Das Kreuz im Rechtsstreit

10.1 Religion in der »post-säkularen« Gesellschaft Alle Religionen beanspruchen im Unterschied zu Geheimbünden, mit ihrer Botschaft öffentliches Daseinsrecht, öffentliche Präsenz. Das gilt auch und gerade für Gesellschaften, in denen man nicht mehr auf selbstverständliche Geltung tradierter Religion zurückgreifen kann. Zumindest in Europa muss man von der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Entwicklungstendenzen ausgehen. Auf der einen Seite sind ehemals christlich geprägte Gesellschaften im religiösen Wandel von Erosionen überkommener religiöser Bindungen an christliche Kirchen erfasst, sodass Selbstverständlichkeiten religiöser Praxis zusehends schwinden und die Gruppe der religiös Indifferenten zur größten Konfession herangewachsen ist. Auf der anderen Seite ist mit dem Vordringen des Islams (unbeschadet seiner diversen Transformationsprozesse) gerade die Berufung auf religiöse Bindungen für alltägliche Lebenspraxis überraschend präsent geworden, sodass die Säkularisierungsthese der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts kaum noch aufrechtzuerhalten ist. Wie der gesellschaftliche Wandel angemessen zu begreifen sei und welchen Platz religiöse Äußerungen in der gegenwärtigen säkularen Zivilgesellschaft legitimerweise beanspruchen dürfen, ist Gegenstand weniger der theologischen als vielmehr der sozialphilosophischen und politiktheoretischen Debatten. J. Habermas, Ch. Taylor, C. Casanova und G. Viattimo zählen zu den international dominierenden Protagonisten auf diesem Feld. Wenn auch die differenzierte Rezeption ihrer Argumente in aller Regel dem akademischen Diskurs vorbehalten bleibt, so finden sich mittlerweile im Feuilleton überregionaler Tageszeitungen ebenso regelmäßig wie in Debatten auf Pfarrkonventen und Synoden Diskussionsbeiträge, die in der einen oder anderen Weise von den Diagnosen der »post-säkularen« Gebrauch machen. Die Paulskirchen-Rede »Glauben und Wissen«1 vom 14. Oktober 2001 mit ihrer paradox klingenden Formel des Ineinanders von »nach-christlich« und »post-säkular« hat große Wirkraft entfaltet. Die Frage des Philosophen nach Sinn und Berechtigung religiöser Sprache im öffentlichen Diskurs der pluralistischen und säkularen Demokratie wurde in vielen Diskussionsfeldern aufgegriffen. Für Habermas selbst stand die Relevanz religiöser Tradition für öffentliche Auseinandersetzung um ethische Grundfragen im Vordergrund. Deswegen hat er seine Position nicht zufällig am Beispiel der Risiken der Gentechnologie näher ausgeführt. Dabei reklamierte er ausdrücklich von der Position eines atheistischen Denkers her, dass das biblische Theologumenon der Gott-Ebenbildlichkeit auch im öffentlichen 1

J. Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt/M. 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Das Kreuz im Rechtsstreit

Diskurs des säkularen Staates etwas zu suchen habe: »Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Dass der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen schafft, die ihm gleichen, muss man nicht glauben, um zu verstehen, was mit Ebenbildlichkeit gemeint ist … Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann.«2 Geltung von Religion wird in massenmedial geprägten Gesellschaften freilich auch auf ganz andere Weise behauptet: Jesus-Filme aller Art boomen seit Jahrzehnten, wobei die Palette der Angebote eine große Vielfalt inhaltlicher Konzepte wie der künstlerischen Ansprüche zeigt. Auf dem Felde visueller Präsentation wird der Streit mit ganz anderen Mitteln ausgetragen. Hier geht es weniger um Argumente, sondern eher um emotionale Unmittelbarkeit visuell und narrativ behaupteter Tatsächlichkeiten von Jesusbildern jenseits aller hermeneutischen Imperative. Es mag Theologen und Theologinnen überraschen und zugleich ärgern, dass und wie das christliche Zentralthema des Kreuzes von der filmischen Unterhaltungskultur besetzt ist. »Obsessive Sehzwänge der Zeit haben im Einzelfall jedes Tabu des Nicht-Zeigbaren der Passion auf Golgatha zugunsten des spannungsgeladenen Kinos geopfert. So kommen mit der anspruchsvollen Weitererzählung oder Gegeninszenierung biblischer Motive nicht nur theologisch gehaltvolle Deutungen auf die Leinwand, sondern ebenso Gewaltexzesse, Horrorvisionen und Heldenmythen, sublime Gewaltverherrlichung oder auch verquaste Opfermythen.«3 Während über die Wirkung dieser Bilder z. T. heftig gestritten wird, finden zeitgleich in der Kultur auch an anderer Stelle Auseinandersetzungen um Wirkungen des Kreuzes bzw. der Abbildung des Gekreuzigten statt, nämlich auf dem Terrain religions-politischer und religions-rechtlicher Auseinandersetzungen. Moderne säkulare Verfassungsstaaten haben mit dem Recht ein System von Normen mit allgemeiner Geltung eingeführt, welches in Konfliktfällen von öffentlichem wie privatem Charakter im Interesse der Wahrung von Grundrechten angerufen werden kann. Wenn für das Kino inzwischen nur noch selten nach Begrenzung des Sichtbaren gefragt wird, finden sich anderswo z. T. heftige Fehden um die Frage, was wem an AnSichten des Kreuzes eigentlich (noch) zugemutet werden darf bzw. soll. Wenn Theologie sich bereits intensiver insbesondere mit massenmedial wirksamer Inszenierung des Christus am Kreuz auseinandergesetzt hat, so scheint die rechtliche Debatte um Darstellungen des Gekreuzigten bzw. des Kreuzes weniger im Blickfeld der Theologie. Man könnte fragen, ob das überhaupt theologisch relevant sei, was da im Rechtsstreit in aller Regel ohne theologischen Deutungsanspruch daherkommt. Man muss aber jedenfalls theologisch fragen, welche Auswirkungen eine rechtlich erhobene Wirkung bzw. gerade eine gerichtlich attestierte Wirkungslosigkeit des Kreuzes auf die kirchliche Verkündigung des gekreuzigten Christus hat. Um diese Frage soll es 2 Ebd. 30. 3 W. Schneider-Quindeau, Zwischen Kult, Opfer und Hingabe – die Passion Jesu im Film, in: Kirchenleitung der EKHN (Hg.), Opfer? Deutungen des Todes Jesu, Darmstadt 2012, 61. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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in diesem Kapitel gehen. Zur breiteren Information blende ich zunächst eine kleine Phänomenologie der juristischen Streitigkeiten zum Kreuz ein.

10.2 Kleine Phänomenologie der Streitfälle Die biblische Botschaft vom Kreuz begann mit einem Rechtsstreit. Zu den historisch gut verbürgten Elementen neutestamentlicher Passionserzählungen gehört der Name des römischen Präfekten Pontius Pilatus. Es war ein römischer Galgen, an dem Jesus von Nazareth nach einem dubiosen Prozess elend zu Tode kam.4 Durch die gesamte Geschichte hindurch lässt sich das Kreuz als Streitobjekt identifizieren. Ich liste im Folgenden Streitigkeiten der letzten Jahrzehnte in chronologischer Reihenfolge auf. Dabei stehen bewußt bedeutsame Fälle neben skurrilen Auseinandersetzungen. Auf Kommentierung der Argumentation wird ebenfalls verzichtet. Deutlich wird, dass Menschen Anstoß nehmen an sichtbaren Kreuzen, dass die Anstößigkeit des Kreuzessymbols aber in ganz unterschiedlichen Momenten liegen kann, welche keineswegs direkt mit dem religiösen Verweisungszusammenhang in Verbindung stehen. Kreuze im Hunsrück gegen atomare Bewaffnung An der Hunsrückhöhenstrasse in der Ortschaft Bell errichteten Frauen und Männer der Friedensbewegung im Jahre 1983 zum Zeichen des Protestes gegen die NatoStationierung der atomar bestückten Cruise Missile Raketen 93 Holzkreuze. Bei Tage wurden diese Protestobjekte von den Militär- und Zivilverwaltungen wieder abmontiert, jedoch allnächtlich wie von unsichtbarer Hand immer wieder neu aufgerichtet. Die aufgerichteten Kreuze machen den Beginn einer neuen Zeit nach dem Kreuz Christi synchronisch mit der Durch­kreuzung von gegenwärtigen Tendenzen, unsere Weltzeit durch Rüstungswahn gewaltsam zu beenden. Mauerkreuze am Checkpoint Charlie Am 31. Oktober 2004 wurde am berühmten Grenzübergang Checkpoint Charlie in Berlin ein neu errichtetes Mahnmal eröffnet. Auf einem Grundstück links und rechts von der Friedrichstraße wurden über 1000 Holzkreuze errichtet sowie ein 200 Meter langes Stück der Berliner Mauer nachgebaut. Die Kreuze waren zum Teil mit Namen und Fotos von erschossenen Flüchtlingen versehen und sollten an die Toten an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze erinnern. Diese Installation war als »Kunstaktion« deklariert worden. Die Genehmigung dazu beim Bezirksamt Berlin Mitte und der Pachtvertrag mit der Verwalterin des Geländes, der Bank-Aktiengesellschaft Hamm, liefen zum 31. Dezember 2004 aus. Da sich die Initiatorin Alexandra Hildebrandt weigerte, die Installation wieder zu entfernen, reichte die Bank-Aktiengesellschaft Hamm eine Räumungsklage ein, der 4 W. Reinbold, Der Prozess Jesu, Göttingen 2006. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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am 8. April 2005 stattgegeben wurde. Am 5. und 6. Juli 2005 wurde die Räumung vollzogen. Einige wenige Demonstranten hatten sich in den frühen Morgenstunden des 5. Juli an die Kreuze gekettet. Während der Abrissarbeiten wurde die Friedrichstraße weiträumig durch die Polizei gesperrt. Vereinzelt kam es zu Protesten gegen den Abriss. Das Papst-Kreuz in Auschwitz In Polen wurde im Jahre 1998 ein erbitterter Streit um die Errichung des sog. »Papstkreuzes« hinter dem Stammlager Auschwitz geführt. Papst Woitila begründete diese Aktion als Geste der Handreichung ehemals verfeindeter Gruppen über den Gräbern. Katholiken in Polen argumentierten, es ginge insbesondere um die Ehrung politischer Häftlinge. Rabbiner in Israel und anderswo beklagten allerdings, mit dem Errichten des christlichen Zeichens würde am Ort des Gedenkens der Shoah »Götzendienst« betrieben. Der Jerusalemer Oberrabbinner Joskowicz kommentierte: »Den Juden ist es verboten, neben Götzenbilder zu beten. Das Kreuz muß weg.«5 Nachbarschaftsstreit in Rödermark Zwischen 2007 und 2009 stritten zwei Nachbarn in einer Dorfgemeinde im Kreis Offenbach um die Anbringung eines gut sichtbaren Scheunenkreuzes. Der eine hatte zum Abschluss der Renovierung einer alten Hofreite aus Dachsparren das Kreuz gezimmert und an der Außenwand seiner Scheue angebracht. Zur Begründung erläuterte der Nachbar, der sich »explizit als Christ« versteht: »Es ist ein Symbol unserer Herkunft und vielleicht unserer Zukunft«. Der gegnerische Nachbar sah in dieser Aktion einen Affront gegen sich und startete gewaltsame Aktionen wie das Abhängen oder das Verkleinern des Scheunenkreuzes. Sein Anwalt erklärt: »Das Kreuz war nie ein Ausdruck von Religiosität, sondern war immer eine Provokation. Der Nachbar ist ja gar nicht religiös. Er benutzt die religiösen Themen nur, um seine Nachbarschaft zu ärgern.«6 Streit um die Verleihung des Hessischen Kulturpreises Auf Vorschlag der Jury sollte dem muslimischen Intellektuellen und Schriftsteller Navid Kermani 2009 der Hessische Kulturpreis verliehen werden, dies mit der ausdrücklichen Widmung der Bemühung um Verständigung zwischen den Religionen. Gegen diese Absicht erhoben der damlige Kirchenpräsident der EKHN Prof. Steinacker sowie der Mainzer Kardinal Lehmann unter Berufung auf einen Kommentar des Preisträgers zu einem Kreuzbild vehementen Einspruch. »Wegen der so fundamentalen und unversöhnlichen Angriffe auf das Kreuz als zentralem Symbol des christlichen Glaubens« in einem Text des Schriftstellers würden sie Kermani ablehnen, ließen sie verlautbaren. Kermani hatte in einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung eine persönliche 5 Vgl. http://www.hagalil.com/archiv/98/02/p-kreuz2.htm. 6 Frankfurter Neue Presse 9. April 2009; vgl. auch ZDF-Reportage 17. Mai 2009. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Betrachtung eines Kirchengemäldes Guido Renis aus dem 17. Jahrhundert veröffentlicht. Darin formulierte Kermani unterschiedliche Wertungen des Kreuzes. Es fanden sich nicht nur Sätze wie: »Kreuzen gegenüber bin ich prinzipiell negativ eingestellt. Nicht, dass ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vorwurf. Es ist eine Absage.« Anstoß bei den Kirchenführern erregten aber Vokabeln wie »Gotteslästerung und Bilderdienst«. Der lautstark in überregionaler Presse und im Fernsehen ausgefochtene Streit führte nicht zum direkten Meinungsaustausch der Kritiker mit dem Kandidaten für den Preis. Er verschob sich schließlich durch die Debatte in den Medien auf die Frage, ob der Staat von Kirchenführern unter Druck gesetzt werden dürfe, welches Mandat den Kirchen in kulturellen Angelegenheit eigentlich zukäme. Das Kuratorium des Preises und dessen Vorsitzender, der damalige Ministerpräsident des Landes Hessen R. Koch, kam in Bedrängnis. Der Streit endete 2010 mit der einvernehmlichen Verleihung des Preises an Kermani, Steinacker und Lehmann. Koch entschuldigte sich bei Kermani. Ärger in Schweizer Kantonen Seit Jahren weigerte sich ein Sekundarstufenlehrer im katholisch geprägten Schweizer Kanton Wallis, das Kruzifix im Klassenzimmer aufzuhängen. Den Ärger auf sich gezogen hatte Lehrer Abgottspon aus der Gemeinde Stalden im Herbst 2010 aber erst, als er im Sommer als Präsident der Walliser Sektion der Freidenker-Vereinigung bei der kantonalen Dienststelle für Unterrichtswesen Protest einlegte. Er regte an, die Schulleitungen zu informieren, dass gemäß einem Bundesgerichtsurteil von 1990 auf Wunsch von Eltern das Kruzifix in Schulräumen anstandslos zu entfernen sei. Er wurde vorgeladen und eine fristlose Kündigung wurde ausgesprochen. Gleichzeitig hängten Unbekannte in der Nacht das Kreuz in der Schulstube wieder auf. Zur Begründung hieß es, das gegenseitige Vertrauensverhältnis sei zerstört »Die Schulbehörde muss davon ausgehen, dass der ordentliche Schulbetrieb mit Ihnen nicht mehr gewährleistet ist.«7 Ein ähnlicher Fall ereignete sich im Kanton Luzern. Das Kreuz in der Wüste darf stehen bleiben Der Supreme Court, das Verfassungsgericht der USA, entschied Ende April 2010 positiv über den Verbleib eines großen Kreuzes, das in der Mojave-Wüste in Kalifornien steht. Dieses war dort 1934 zum Gedenken an die gefallenen Soldaten des 1. Weltkriegs errichtet worden. Man hatte jetzt geklagt, dass ein auf öffentlichem Grund und Boden platziertes religiöses Symbol gegen die im »First Amendment« konstitutionell verbriefte Trennung von Staat und Religion verstoße.8 7 NZZ Online, 10. Oktober 2010. 8 Eine genaue Analyse des Urteils samt eines Rechtsvergleichs mit dem Luxemburger Urteil findet sich bei J. Witte/N.-L. Arold, Lift high the Cross? Contrasting the New European and American Cases on Religious Symbols on Government Property, in: Emory International Law Review Vol 25 2011; download http://www.law.emory.edu/fileadmin/journals/eilr/25/25.1/Witte_Arold.pdf. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Ich breche die Liste ab, gewiss wäre sie mühelos zu erweitern. Die gesammelten Fälle sind sehr heterogen, zeugen von unterschiedlich gelagerten und unterschiedlich gewichtigen Konflikten. Insgesamt gilt: Seit den Tagen des Pilatus, seit dem »Ecce homo« (Joh 19,5) ist das Kreuz in politischen Streit verwickelt, im großen wie im Kleinen. Und es ist nicht gefeit gegen seine Instrumentalisierung.

10.3 Höchst-Richterliche Ansichts-Sachen In der Reihe rechtlicher Auseinandersetzung um das christliche Kreuz sind zwei Streitfälle in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, und zwar nicht allein wegen des Gewichtes letzter rechtlicher Instanzen, eines Bundesverfassungsgerichts bzw. eines Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechtsfragen. Bemerkenswert sind diese Urteile vielmehr wegen spezifischer Argumentationen, welche in der einen oder anderen Weise auf die Sichtbarkeit des Kreuzes besonderes Gewicht legen. Deshalb sollen die relevanten Argumentationen dieser Fälle hier etwas genauer behandelt werden.

10.3.1 Das Kruzifix-Urteil von 1995 Selten rief ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) derart harsche Proteste von Theologen und Politikern hervor wie das Karlsruher Urteil mit dem Hauptsatz: »Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.«9 Zur Vorgeschichte: Im Jahre 1986 riskierten Eltern einer Schülerin einen öffentlichen Einspruch gegen den Brauch, dass in allen Klassenzimmern auch der öffentlichen Schulen im Freistaat Bayern Kruzi­fixe hingen und riefen 1991 die Gerichte an. Ihr Argument: Das christliche Kreuz und insbesondere das Kruzifix sei ein Symbol einer spezifischen Glaubensanschauung, Ausdruck einer religiösen Überzeugung, welche als solche vom Grundgesetz her in die Privatsphäre des Einzelnen ge­höre. Wenn ein säkularer Staat dieses Symbol aber in allen öffentlichen Schulen präsentiere, so verletze dies das grundgesetzlich geschützte Recht der Religionsfreiheit. Der Staat lasse dabei seine Verpflichtung zur Neutralität in religiös-weltanschaulichen Angelegenheiten außer Acht. Kein Schüler dürfe gegen seinen Willen dazu gezwungen werden, das christliche Kreuz sehen zu müssen. Diese Klage wurde 1991 vom obersten Bayrischen Gericht abgewiesen. Der Streitfall kam vor das BVG, welches am 16. Mai 1995 mit dem sog. »KruzifixUrteil« eines der meist beachteten und meist umstrittenen Urteilssprüche seit dem Bestehen des Gerichts fällte. Darin verpflichtete das höchste deutsche Gericht den Frei­staat Bayern unter Berufung auf das Grundgesetz zur Entfernung der Kruzifixe. 9 Der Glaube ist nicht Sache des Staates, Beschluss des BVG 16. 5. 1995, FR 15. 8. 1995, Nr. 188. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Daraufhin regelte das Land Bayern den Streitfall formal so, dass am 23. Dezember 1995 (GVBl. 850) ein neues Gesetz in das Schulgesetz (Art.7 3) eingefügt wurde: Es beginnt mit dem Satz: »Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht.« Der nach Verkündung des BVG-Urteils lange Zeit anhaltende Streit war auf die Frage der angemessenen Interpretation des Kreuzes in öffentlichen Räumen wie Schulzimmern oder Gerichtssälen fokussiert. Die bayerischen Verhandlungsführer und Politiker hatten argumentiert: Das Kreuz stelle ledig­lich einen Ausdruck allgemein akzeptierter kultureller Werte dar, artikuliere nicht eine be­stimmte Glaubensüberzeugung. Konserva­tive Politiker der CSU wie deren damaliger Vorsit­zende Th. Waigel organisierten einen »Volksprotest«. Unter der Überschrift »Unsere christlichen Wurzeln bewahren« wetterte er: »Wer also im Kreuz­zeichen einen Ausdruck missionarischen Glaubenseifers sieht, irrt fundamental. Er über­sieht die geistigen und moralischen Grundlagen der abendländischen Kultur. Geschichte und Kul­tur Bayerns, Deutschlands und seiner europäischen Nachbarn sind vom Christentum gestal­tet und geprägt … Unsere Heimat ist unverwechselbar durch ihre Kirchen und Kapellen, durch Zeichen der Volksfrömmigkeit, kirchliche Feste und ihren Einfluß auf das Leben der Men­schen.«10 Das BVG widersprach mit der Mehrheit seiner Mitglieder ge­nau dieser Interpretation und unterstrich die besondere religiöse Bedeutung des Kreuzes:11 »Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur.«12 Besondere Aufmerksamkeit fand der Urteilsspruch auch deswegen, weil er einen neuen kulturellen Trend westlich säkularer Gesellschaften mani­fest macht, der das Grundrecht auf Religionsfreiheit in bestimmter Weise interpretiert, nämlich unter der Betonung negativer Religionsfreiheit. Dass es auch einen gegenläufigen Trend gibt, zeigt die Argumentation in Italien, auf die im zweiten Streitfall eingegangen wird (vgl. unten). In der Auseinandersetzung spielte neben den genannten Interpretationsmomenten des Kreuzes allerdings auch eine andere Argumentation eine Rolle, die in unserem Zusammenhang hervorgehoben werden soll. Es ging nämlich nicht nur um strittige Deutungen des Kreuzes, sondern auch um die Frage der Zumutbarkeit des Zeichens bzw. der visuellen Präsentation. Das kommt bereits im Schriftsatz der Klage führenden Partei zum Ausdruck: »Bei der Einschulung der Beschwerdeführerin zu 3) im Spätsommer 1986 war in deren Klassenzimmer ein Kruzifix mit einer Gesamthöhe von 80 cm und einer 60 cm hohen Darstellung des Korpus unmittelbar im Sichtfeld der Tafel angebracht. Die Beschwerdeführer zu 1) und 2) forderten die Entfernung dieses 10 Zit. nach dem Abdruck im Bayernkurier 19. 8. 1995, 1. 11 Vgl. aber auch ›Das Kreuz in der Schule verletzt die staatliche Neutralitätspflicht nicht‹ (E. Haas u. a., Minder­heitenvotum), FR 24. 8. 1995, Nr. 196. 12 Ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Kruzifixes und lehnten es ab, die Beschwerdeführerin zu 3) zur Schule zu schicken, solange sie dem Anblick ausgesetzt sei.«13 (Kursivierung hinzugefügt). Und dabei handelt es sich nicht um einen einmaligen und beiläufigen Gedankengang. Zugespitzt wird in der Klage der Eltern formuliert, dass nicht erst von einer sekundären Interpretation, sondern bereits von der Darstellung eine erhebliche und kritikwürdige Wirkung auf die Kinder ausgehe: »Sie machen geltend, daß durch diese Symbole, insbesondere durch die Darstellung eines ›sterbenden männlichen Körpers‹, im Sinne des Christentums auf ihre Kinder eingewirkt werde; dies laufe ihren Erziehungsvorstellungen, insbesondere ihrer Weltanschauung, zuwider.«14 Auf eben dieses Argument stützten die Eltern dann auch ihre spätere Klage vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Dort verlangten sie das Entfernen der Kreuze aus den Schulstuben ihrer Kinder, »weil durch das Kreuzessymbol auf die geistige Entwicklung leicht beeinflußbarer schulpflichtiger Kinder eine tiefgreifende und nachhaltige Wirkung ausgeübt werde.«15 Eben diese nach der Wirkung des Anblicks fragende Argumentationslinie findet sich auch in anderen Dokumenten aus der Geschichte und Vorgeschichte dieses Kasus. Eltern und Freistaat Bayern stritten schließlich darüber, ob die vom Anblick der Darstellung des Gekreuzigten ausgehende Wirkung erheblich, zu groß oder eben unerheblich sei.Und auch im Minderheiten-Votum der Senatsmitglieder Seidl und Söllner und der Richterin Haas zum BVG-Urteil 1995 spielt diese Thematik erkennbar eine Rolle: »Entscheidend ist vielmehr, welche Wirkung der Anblick des Kreuzes bei den einzelnen Schülern entfaltet, insbesondere welche Empfindungen der Anblick des Kreuzes bei Andersdenkenden auslösen kann.«16 Eine mögliche Bedrohung des Rechtsgutes der (negativen) Religionsfreiheit durch den staatlich verordneten Anblick des Kruzifixes hatte auch schon das bayerische Verwaltungsgericht in seinem die Klage der Eltern abweisenden Urteil diskutiert. Dort hieß es: »Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als begründet, dann sind die Beschwerdeführer zu 3) bis 5) bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde weiterhin mit dem Anblick von Kreuzen in ihren Klassenzimmern und größeren Kruzifixen in anderen Schulräumen konfrontiert und die Beschwerdeführer dadurch – wie im summarischen Verfahren der einstweiligen Anordnung zu unterstellen ist – in ihrer negativen Religionsfreiheit verletzt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die tatsächliche Beeinträchtigung durch die derzeitige Handhabung – Ersetzung der Kruzifixe in den Klassenräumen durch Kreuze an weniger auffälliger Stelle – erheblich abgemildert ist.«17

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Ebd. Zit. aus dem Beschluß des BVG 1995, a. a. O. Ebd. Ebd. Beschluß des 1. Senats vom 5. Nov. 1991 des BvR 1087/91 (Kursivierung hinzugefügt). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Das BVG hat, soviel ist deutlich, in seinem Urteil von 1995 mit der Mehrheit der Stimmen des 1. Senats nicht nur kulturalistische Deutungen zugunsten der theologisch gehaltvolleren Interpretation abgewiesen. (»Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur.«) Sondern es hat mit dem bildungstheologischen Argument der Wirkung eine zweite Argumentationslinie bekräftigt. (»Nach Dauer und Intensität ist die Wirkung von Kreuzen in Unterrichtsräumen noch größer als diejenige von Kreuzen in Gerichtssälen.«) In die rechtliche Auseinandersetzung – und zwar bis hin zu höchstrichterlichen Instanzen – sind wirkungspsychologische bzw. rezeptionsästhetische Abwägungen zum Kreuz verwickelt. Diskutiert und mit richterlicher Autorität entschieden wird also nicht nur eine abstrakte Größe »Glaubensfreiheit« aus Art. 3 GG, entschieden wird nicht mehr nur, welche Handlungen des Staates zulässig sind bzw. welche Interpretationen sich aus der Verwendung religiöser Symbole durch staatliche Stellen entnehmen lassen und die innerlichen Glaubensüberzeugungen des Individuums tangieren. Vielmehr wird zum mitbestimmenden Argument die Frage, wie Glaubensüberzeugungen ästhetisch tangiert werden können und welche (möglicherweise unzulässige) Wirkung von der sinnlichen Wahrnehmung auf innere Überzeugungen ausgeht. Nicht welche der Neutralitätspflicht des Staates zuwiderlaufende Gesinnung hier zum Ausdruck kommt, sondern welche Wirkung Kreuzesdarstellungen auf Kinder machen. Das Kruzifix-Urteil von 1995 beinhaltet mithin auch die rechtliche Regelung einer religionsästhetischen Dimension.

10.3.2 Die Causa Lautsi Der zweite hier zu diskutierende Rechtsstreit liest sich wie die komplementäre Position zum Kruzifix-Urteil in Deutschland, auch wenn einzelne Sätze aus dem BVG-Urteil direkt von der klagenden Partei in Italien übernommen wurden. Diesmal geht es um eine bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gelangenden Streit. Am 18. März 2011 entschied die große Kammer des EGMR in Straßburg im Verfahren »Lautsi u. a. gegen die Republik Italien« mit großer Mehrheit der Richter, dass Kruzifixe im Klassenzimmer nicht gegen Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (bzw. dem Artikel nachgeordnete Protokolle) verstoßen.18Auch in diesem Verfahren wurde in verschiedenen Etappen auf die rechtliche Relevanz der Wirkung des Anblicks des Kruzifixes im Blick auf Religionsfreiheit Bezug genommen, interessanterweise mit anderen Argumentationen als im deutschen Kruzifix-Urteil 1995. Zur Vorgeschichte: Soile Lautsi, eine gebürtige Finnin, hatte für ihre beiden schulpflichtigen Söhne 2002 bei der Schulleitung in Abano Terme, Region Venetien, beantragt, die in dieser staatlichen Schule in allen Klassenräumen hängenden Kruzi18 EGMR Beschwerde 30814/06¸ das Urteil Application no. 30814/06. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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fixe zu entfernen, weil sie sich als eine erklärte Atheistin durch die Kruzifixe im elterlichen Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit unzulässig eingeschränkt sah. Dieser Antrag wurde von der Schule abgewiesen und die Mutter beschritt den Rechtsweg. Alle italienischen Gerichte bis zum Verfassungs- und Cassationsgericht hatten in dem Rechtsstreit gegen die Mutter für den Verbleib der Kruzifixe in Klassenräumen entschieden. Das Kruzifix repräsentiere die italienische Identität. Es stehe für Gleichheit, Freiheit und Toleranz und sei auch als Symbol für die Trennung von Staat und Religion anzusehen. Das geschah auch unter Berufung auf ein Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofs von 1988, der entschieden hatte, dass das Anbringen von Kreuzen in öffentlichen Gebäuden mit der Verfassung konform sei, weil es sich um das Symbol einer kulturellen Tradition handle. Der Fall Lautsi kam schließlich vor das Straßburger EGMR. Die Anwälte der Klägerin sahen Art 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Die dortige »Kleine Kammer« gab der Mutter im November 2009 recht, sprach ihr 5000 Euro zu mit der Begründung, dass Italien gegen das Recht auf Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit der europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen habe. Die italienische Regierung beantragte daraufhin, den Fall an die Große Kammer zur erneuten Überprüfung zu verweisen. Mit ihrem Urteil 2011 wich die Große Kammer nun überraschenderweise von einer früheren Entscheidung der Kleinen Kammer ab. Der sehr ausführliche Urteilstext mit Bezugnahme auf unterschiedlichste Prozessbeteiligte zeugt von einem sehr komplexen Verfahren europäischer Rechtsprechung, das hier in Gänze selbstverständlich nicht rekonstruiert werden kann. Ich beschränke mich auch hier auf die in unserem Zusammenhang relevanten Argumentationen; dabei sind unweigerlich gewisse Simplifizierungen in rechtswissenschaftlicher Hinsicht unvermeidlich. Zu Einzelheiten ist auf den authorisirten Urteilstext Bezug zu nehmen, der authorisiert nur in englischer und französischer Sprache vorliegt.19 Auch in diesem Verfahren spielten Interpretationen des christlichen Kreuzes durch die verschiedensten beteiligten Rechtsinstanzen eine zentrale Rolle. Neben den, aus dem oben skizzierten Kruzifix-Urteil des BVG und den Schriftsätzen der am Klageverfahren direkt und indirekt beteiligten Parteien, bekannten Argumenten (Gefährdung positiver und negativer Religionsfreiheit, Neutralitätsgebot des Staates; Schutz von religiösen Minoritäten u. a.) kamen im Prozess auch Speficia Italiens zum Tragen. Dazu gehörten die Berufung auf den Grundsatz kollektiver kultureller Identität Italiens wie denjenigen christlicher Exklusivität, aber auch auf allgemein humanen Ausdruck von Toleranz, Respekt vor jedem Individuum, Ablehnung jeder Art von Diskriminierung usw. Der Staatsgerichtshof Italiens war zur Auffassung gekommen, dass dem Kreuz in unterschiedlichen Kontexten (Gottesdienst; staatliche Schule) unterschiedliche Bedeutungen zukomme, weil hier jeweils unterschiedliche Perspektiven relevant seien. Dabei hob er auf eine »evokative Kraft der Bilder« durch ihre unmittelbare 19 Deutschsprachige Zitate aus dem Urteil sind meine Übersetzung des englischen Textes. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Sichtbarkeit ab, schränkte dies jedoch ein mit der Unterscheidung »passiver Symbole« und »aktiven Verhaltens«. Er urteilte, das Kruzifix sei ein »passives Symbol, dessen Einfluss auf die Schüler nicht mit … der Teilnahme an religiösen Aktivitäten verglichen werden kann«20. Im Urteil von 2009 kam die Kleine Kammer des EGMR zur Auffassung, dass in der Sache nicht nur Glaube der Kläger (»belief«) und damit die negative Religionsfreiheit beeinträchtigt seien. Hinzu komme der inkriminierte Sachverhalt, dass deutlich sichtbare Kreuze Kinder emotional verstören. Die Große Kammer konzentrierte sich in ihrem Urteilsspruch nach eigenem Bekunden strikt auf die Frage, ob die Präsenz eines Kruzifixes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße. Auch sie folgte der Auffassung des deutschen BVGs von 1995, das Kreuz sei primär ein religiöses Symbol, allerdings »ein passives«, wie schon das italienische Verfassungsgericht geurteilt hatte. Sie kassierte das Urteil der Kleinen Kammer mit Hinweis auf die übergeordnete Geltung nationalen Rechts, die außer Acht gelassen worden sei. Allerdings entschied auch dieses Gericht unter Berücksichtigung wirkungsästhetischer Fragen. Das Novum Straßburgs gegenüber der Karlsruher Rechtsprechung besteht nun genau darin, dass die Argumentation herumgedreht wird. Es geht nicht mehr darum, welche Wirkung das Kruzifix im Klassenzimmer entfaltet, sondern um die Argumentation, dass die Annahme eindeutiger Beeinflussung der Schülerinnen und Schüler bezweifelt wird. Entsprechend heißt es im Abschnitt 66: »There is no evidence before the Court that the display of a religious symbol on classroom walls may have an influence on pupils and so it cannot reasonably be asserted that it does or does not have an effect on young persons whose convictions are still in the process of being formed.« (Kursivierung hinzugefügt). Damit wird auch die Beweislast umgekehrt. Denn nun gilt, dass es nicht mehr reicht, wenn ein Einzelner sich auf eine bestimmte Wahrnehmung des Kreuzes beruft. Denn: »… the applicant’s subjective perception is not in itself sufficient to establish a breach of Article 2 of Protocol No. 1.«

20 »In a non-religious context like a school, used for the education of young people, the crucifix may still convey the above-mentioned values to believers, but for them and for non-believers its display is justified and possesses a non-discriminatory meaning from the religious point of view if it is capable of representing and evoking synthetically and in an immediately perceptible and foreseeable manner (like any symbol) values which are important for civil society, in particular the values which underpin and inspire our constitutional order, the foundation of our civil life. In that sense the crucifix can perform – even in a »secular« perspective distinct from the religious perspective specific to it – a highly educational symbolic function, irrespective of the religion professed by the pupils.« (Urteil Abschnitt 16). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Das Kreuz im Rechtsstreit

10.4 Ein wirksames Symbol? Religion ist öffentlich präsent in der Zivilgesellschaft, nicht nur in philosophischen Debatten von Eliten, unübersehbar zunächst in öffentlichen Darstellungen des Kreuzzeichens im Film und in den Medien, allerdings, wie schon die kleine Phänomenologie der Fälle gezeigt hat, unübersehbar auch im Konflikt um solche Darstellung. Gerade im Streit um Wahrung von Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität innerhalb der Zivilgesellschaft wird dem Umgang mit dem Kreuz öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Das könnte christliche Theologinnen und Theologen inmitten einer religiös zunehmend indifferenten Kultur erfreuen. Was zeigen diese gerichtlichen Auseinandersetzungen, insbesondere die beiden näher betrachteten prominenten Gerichtsverfahren über die öffentliche Wirkung des christlichen Zentralsymbols? –– Verfassungsgerichte regeln nicht den Alltag. Zunächst einmal scheinen mir beide Prozesse in überdeutlicher Sprache anzusagen, dass die lebensweltliche Selbstverständlichkeit der Geltung des Kreuzes verschwunden ist – wenn sie denn überhaupt je gegeben war. Was bis zu höchsten Gerichten durchgefochten werden muss oder mit Erfolg bestritten werden kann, das markiert keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern den höchst prekären Fall. –– Greifbar wird in den Prozessen das juristische, genauer gesagt, dass verfassungsrechtliche Problem, wie in der Zivilgesellschaft die positive und negative Religionsfreiheit im Blick auf den Umgang mit dem Kreuz zu begrenzen sind. –– Interessant ist, dass der Ausgangs- und Zielpunkt die Frage der Zumutbarkeit nicht einer verbalen Interpretation (etwa durch Lehrer) ist, sondern die der Zumutbarkeit des Anblicks eines Kreuzes. Strittig geworden ist nicht allein bestimmtes Reden vom Kreuz an bestimmten Stellen und in bestimmten Kontexten, sondern schon das Sehen. Gestritten wird um Zumutbarkeit von Zeigen und Wahrnehmen. Im Rechtsstreit wendet man sich dem Thema der Wirkung des Anblicks zu – freilich ohne irgendein konkretes Kreuz in Augenschein zu nehmen, ohne Lokaltermin eines Gerichts vor einem konkreten Kreuz. –– Die geschilderten Rechtsdiskurse markieren spezifische und ihrerseits sicher nicht unwirksame Kontexte von kirchlicher Verkündigung. Insbesondere das Straßburger Urteil kommt einem trojanischen Pferd gleich. Dass es von katholischen Kreisen eher bejubelt wurde, scheint mir unverständlich angesichts seiner Pointe. Denn der Betonung »christlicher« Bedeutung des Kreuzessymbols folgt der höchstrichterlich festgeschriebene Zweifel an seiner visuellen Wirksamkeit auf dem Fuße.21 Die Verteidiger des Kreuzes sagen, dass es keinen Schaden anrichten 21 »Die katholische Kirche wird die Entscheidung stürmisch begrüßen. Es wird eine Weile dauern, bis sie begriffen haben wird, dass das Kruzifix, das von der atheistischen Mutter zweier schulpflichtiger Sohne empört nach Straßburg getragen worden war, nichts mit dem zu tun hatte, das sie nun zurückbekommt. Die Mutter protestierte gegen die Verkündigung »Christi als Gekreuzigten«, gegen das »empörende Ärgernis« (1. Korintherbrief l, 22) des Kruzifixes. Die Richter aber wiesen die Klage ab, weil sie im Kruzifix alles Mögliche erkennen können, doch beim besten Willen kein Ärgernis, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Ein wirksames Symbol?189

kann. Spätestens das nötigt Theologie zur Stellungnahme, insbesondere zu neuer Artikulation des »Skandalons« der Kreuzesbotschaft, auf die Paulus so großen Wert legte. Die juristischen Argumentationen in der neueren relevanten Rechtsprechung legen den Finger auf die Wirkungsfrage des Kreuzessymbols. Die Richter des EGMR in Straßburg haben hier symbolisch mit den Achseln gezuckt und die Wirkungsdebatte ad acta gelegt. Ich plädiere dafür, genau diese Suspendierung der Wirkungsdebatte nun theologisch aufzunehmen. Denn die ist eben nicht juristisch entscheidbar, die Frage der Wirksamkeit des Kreuzes berührt die Perspektive des christlichen Glaubens. Eine Antwort der Theologie auf die Gerichtsurteile sollte deshalb nicht nur auf verständliche Explikation der Lehre vom Kreuz abzielen, sondern in die Auslegung des Glaubens stärker die Wirkungsfrage aufnehmen. So ist die Debatte um die theologische Bedeutung der ästhetischen Dimension mit dem »passiven« Symbol des Kreuzes erst eröffnet. Die Rechtsentscheide kommen in einer Zeit zustande, da sich zumindest beachtliche Minderheiten der Gesellschaft im Museum gern der verstörenden Wirkung ästhetischer Produktion aussetzen. Ein Beispiel dafür sind die im letzten Kapitel angesprochenen »Black Paintings« von Ad Reinhardt. In der zeitgenössischen Kunst finden sich auch Werke, die mit Recht als moderne Nachfahren klassischer Kreuzesdarstellungen gelten können, man denke an die Übermalungen von Arnulf Rainer oder an Bilder von Josef Beuys. Den Streit gegen die Anästhetik des Kreuzes, wie diese auch in prominenten Gerichtsurteilen zum Ausdruck kommt, muss christliche Kirche in nachchristlicher Zeit nicht allein führen. Autonome Kunst kann ein höchst wirkungsvoller Partner sein – gerade dann, wenn er nicht christlich vereinnahmt wird.

keine Heilsbotschaft, kein Glaubenssymbol. So betrachtet, droht vom Kruzifix selbstverständlich keine Indoktrination. Folgerichtig hat die Große Kam­mer sie problemlos verneint. Indoktrinieren kann nur, wer was zu sagen hat. In Straßburg aber wurde gestern dem Gekreuzigten das Wort entzogen, ein fiir allemal. Fiir die katholi­sche Kirche sollte das kein Grund zum Jubeln sein.« Christian Bommarius im Kommentar FR 19./20. März 2011 »Nur ein schlichtes Kreuz«. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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11. Das Kreuz als kirchliches Markenzeichen.1  Zur Phänomenologie und Theologie einer Werbeaktion

11.1 Protestantische Gestaltungsschwäche »Das ›Wort‹ … ist Markenzeichen des Protestantismus.«, so formulierte es M. Käßmann in ihrer Predigt 2012 zur Einführung als EKD-Botschafterin für das Reformationsjubiläum.2 Das klingt theologisch ebenso richtig wie unproblematisch. Mit den öffentlich sichtbaren Markenzeichen hatte sich der Protestantismus jedoch von Anfang an schwer getan. Es gehört auf der einen Seite unbestreitbar zu den in der Reformation hochgeschätzten Markenzeichen der protestantischen Form des Christentums, dass sie ihre Botschaft mit Öffentlichkeitsanspruch proklamierte. M. Luthers bekannte Formel vom Gottesdienst als »öffentlicher Reizung zum Glauben«3 ist dafür ein Beispiel unter vielen. Auf der anderen Seite tat man sich aus theologischen Gründen schwer mit der öffentlichen Darstellung von Symbolen; religionskritisch motivierte Bildkritik stand der zu demonstrativen Zurschaustellung oder gar Vergötzung von Symbolen entgegen. Davon war auch der Umgang mit dem Kreuz betroffen (vgl. dazu das Kapitel »Das Auge sollte ein Lehrer der höheren Wahrheiten werden«, insbesondere Abschnitt 2.3). Solche Grundspannung im Umgang mit öffentlicher Darstellung verschärft sich unter Bedingungen einer weitgehend säkularisierten und von Medien dominierten Kultur der Gegenwart. Dass sich die evangelische Kirche im post-volkskirchlichen Zeitalter öffentlich neu profilieren muss, wenn sie außerhalb kirchlicher Insiderzirkel noch wahrgenommen werden will, ist kaum noch zu bestreitendes Resultat der im Verlauf der 80er Jahre geführten selbstkritischen Debatte in vielen Landeskirchen Deutschlands. Für die EKHN wurden entsprechende Konsequenzen im Bericht der Perspektivkommission »Person und Institution« von 1992 angemahnt. Kirche in einer medial bestimmten Kultur, so die in diesem Zusammenhang relevante These, bedarf der öffentlichen Sichtbarkeit und einer darauf hinarbeitenden professionellen Öffentlichkeitsarbeit, um das spezifisch protestantische Profil öffentlich wahrnehmbar zu machen. »Nur wenn dabei hohe fachliche Qualifikation (und ein entsprechender materieller Aufwand) eingesetzt wird, bietet Öffentlichkeitsarbeit die Chance, die Öffentlichkeit nicht auf dem Umweg über Dritte, sondern authentisch über das eigene 1

In diesem Kapitel werden Gedanken weitergeführt, die unter dem Titel »Evangelisch aus gutem Grund«. Facetten zur Phänomenologie und Theologie einer Werbeaktion, in: G. Linde u. a. (Hg.), Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken. FS für Hermann Deuser zum 60. Geburtstag, Marburg 2006, 361–376 veröffentlicht wurden. 2 http://www.ekd.de/predigten/kaessmann/20120427_kaessmann_einfuehrung_predigt.html. 3 Luther, WA 19, 75,1 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Das Kreuz als kirchliches Markenzeichen

Anliegen zu informieren.«4 Kirchenaustrittswellen und dramatisches Abschmelzen der Finanzressourcen haben den entsprechenden Handlungsdruck mittlerweile beträchtlich erhöht. Freilich, auch mit solcher der Profilbildung hat der Protestantismus seine Schwierigkeiten. Und die sind eben zum Teil hausgemacht. Denn was evangelische Kirche ausmacht – so weiß man es zwar aus dem kirchengeschichtlichen Proseminar – das muss nicht neu erfunden werden, weil es theologisch nach protestantischem Verständnis seit der Reformation an bestimmten Kennzeichen festzumachen ist – aber an Kennzeichen des Glaubens. Zur schulmäßigen Antwort beruft man sich dann bis heute auf Artikel VII der Confessio Augustana: »Es wird auch gelehrt, daß allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden …«.5 Ohne in diesem Zusammenhang eine gründlichere historische Rekonstruktion leisten zu können, möchte ich jedoch behaupten, dass die dort vorgenommene Profilbildung bei aller inhaltlichen Berechtigung formal eine nicht unproblematische Gestaltungsschwäche induziert hat. Abgewehrt wurde theologisch zu Recht mit dem Bekenntnis zur ›doctrina‹ und vor allem zur kirchentragenden ›fides‹ das objektivistische Heilsverständnis. Nicht an den äußerlichen Formen und Gestalten hängt das Heil, sondern am Geist und Sinn der Vollzüge und am Glauben der sie in Brauch nehmenden Menschen. Die Unterscheidung von theologisch Wichtigem und Sekundärem entlang der Trennungslinie des göttlich eingestifteten Glaubens einerseits und den bloß von Menschen gemachten Formen (Riten und Zeremonien) anderseits, indiziert protestantisches Profil, markiert die Stärke des Protestantismus in theologischer Klarheit – und zugleich ihre Achillesferse im Blick auf die Gestaltungsfragen unter Bedingungen moderner und nachmoderner Kultur. Nicht zuletzt motiviert durch solche Perspektiven hat der Protestantismus den »Äusserlichkeiten« wenig Beachtung geschenkt, was zu einer mangelhaften Gestaltungskompetenz geführt hat. Denn es bleibt nicht nur der Schwachpunkt mangelnder theologischer Erschließung der Formen, sondern auch derjenige, die theologische Verständigung über das Profil der Gestaltung als Kommunikationsaufgabe in Richtung auf die große Mehrheit der Bevölkerung außerhalb der Kirche zu begreifen. Profilbildung wird dann vorzugsweise theologie- bzw. kirchenintern diskutiert und formuliert.6 Die »Argumente werden von einem kleinen Kreis kirchlich und theologisch Kundiger verstanden,

4 EKHN (Hg.), Person und Institution. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft, Frankfurt/Main 1992, 185. 5 Confessio Augustana VII (zit. nach Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche (6. Aufl.), Göttingen 1967, 61). 6 Die Spezialliteratur dazu ist Legion, ich verweise exemplarisch auf die Diss. von Chr. Braungart, Mitteilung durch Darstellung. Schleiermachers Verständnis der Heilsvermittlung, Marburg 1998. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Die Marke sichtbar machen193

nicht aber außerhalb der Kirche.«7 Und was dabei herauskommt, möchte ich an Beispielen weiter unten genauer ausleuchten.

11.2 Die Marke »Evangelische Kirche« sichtbar machen Dass die Kennzeichen der Kirche und die Darstellung des Glaubens nicht nur gelehrten Stoff zu – zweifellos notwendiger – binnentheologischer Klärung des Auftrags von Kirche ausmachen, sondern vielmehr auch für ihre wirksame Außendarstellung vonnöten seien, bahnt sich erst in jüngster Zeit Wege ins Bewusstsein von kirchenleitenden Gremien auf allen Ebenen. Wegbereiter dazu waren aufgeschlossene Theologen wie insbesondere Expertisen von Kommunikationsexperten, Marketingfirmen und Organisationsberatern, welche den Austausch von Kirche mit ihren Mitgliedern und mit der nichtkirchlichen Öffentlichkeit nun nicht aus dem angestammten theologischen Blickwinkel analysierten, sondern unter der rein formalen Fragestellung der Effizienz für die Institution. Zu den Elementen ihrer Botschaft zählte der dringende Rat, in Zeiten schwindender Selbstverständlichkeit kirchlicher Ausdrucksformen und wachsender distanzierter Kirchenmitgliedschaft die Kommunikation mit Mitgliedern eingreifend zu verbessern. Empfohlen wurde eine reiche Palette, von der Erneuerung kircheninterner Presse und Kirchenfunk bis hin zur Präsenz von Kirche im Internet. Zu den spektakulärsten und heftig diskutierten Aktionen zählt die 1995 und 1996 durchgeführte Studie der Unternehmensberater-Firma McKinsey an Münchener evangelischen Kirchen. Nach innen hin bedarf Kirche der Ausrichtung an Grundsätzen professioneller Unternehmensführung. Das non-profit-Unternehmen Kirche, so die klare Empfehlung der Unternehmensprofis, muss zur Optimierung seines Erfolgs (sprich: zur Steigerung der Mitgliederzahlen) für die Faktoren Finanzen, Mitarbeitermanagement, Public Relation und Marketing neue und professionelle Steuerungsmechanismen einführen. Folgen der Beachtung solcher Studien waren daneben verstärkte Bemühungen um wirksamere Darstellung von Kirche nach außen hin, u. a. die Einrichtung von Medienzentralen, Medienhäusern in Landeskirchen wie die EKD-weite Diskussion um ein gemeinsames Presseorgan; das verlustreiche Sonntagsblatt wurde in der Folge durch das neu konzipierte »Chrismon« abgelöst.8 Zu den früh gegebenen Empfehlungen gehörte mithin, dass mehr Aufmerksamkeit auf die »Verpackung« der kirchlichen Präsenz zu richten sei, dass endlich der Wiedererkennungswert der »Marke Kirche« als Aufgabe angefasst werden müsse. 7 J. Schmidt, Profil. Protestantische Probleme mit einem Lieblingswort, in: H. Deuser u. a. (Hg.), Theologie und Kirchenleitung. FS für P. Steinacker, Marburg 2003, 209–222. Ich verdanke weiteren Gesprächen mit dem Autor wichtige Anregungen auch zu diesem Beitrag. 8 Auch die Einrichtung von »Profilstellen« auf der »mittleren Ebene« in der EKHN steht mittelbar in diesem Zusammenhang der Restrukturierung von kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit.

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Die innerkirchliche Expertenklärung der »notae ecclesiae« ersetzt eben nicht, so die Einsicht ausweislich der kirchensoziologischen Befunde, die Instrumente und Zeichen, welche für kirchliche Laien direkt und eingängig auf Präsenz von Kirche verweisen. Andere, nichtkirchliche Großinstitutionen wie Autofirmen, Fernsehsender oder Banken hatten zur Steigerung ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit schon seit Langem Slogans, eingängige Sprüche und ins Auge fallende optische Signets eingeführt. Nachdem die katholische Theologie bereits in den 60er Jahren mit dem elementartheologischen Programm der »Kurzformeln des Glaubens« eine neue Art der Laiendogmatik entwickelt hatte, um das Wesentliche in knapper Form zu sagen, ging es jetzt, Ende der 80er Jahre, auf protestantischer Seite allerdings um formelhafte Komprimierung anderer Qualität. Auf den Punkt gebracht werden sollte sozusagen für den vorreflexiven Gebrauch und zur Steigerung der »Corporate Identity«, wofür denn Protestantismus steht. Dem verdankte sich u. a. die Einführung des Slogans »Evangelisch aus gutem Grund« sowie optische Logos für Kirche. Es schien sozusagen selbstverständlich, dass für Kirche nur ein Logo infrage käme, das auf den Kern der Botschaft verweist, das auf die Kirche hin orientiert ist, auf das Kreuz. So wurde das Facetten-Kreuz gekürt. Dieses Kreuz-Logo ziert mittlerweile nicht nur kirchenoffizielle Briefköpfe, Schilder und Internetportale von Kirchengemeinden, sondern es hat vielerorts auch Diskussionen über das Profil von Kirche provoziert, ganz so, wie die Kirchenleitung es im Internetportal der EKHNhomepage intendiert: »Zusammen mit dem Facettenkreuz weist ein Slogan auf die Evangelische Kirche und ihre Arbeit hin – evangelisch aus gutem Grund. Dieser regt zur Diskussion über die eigenen Arbeitsschwerpunkte an und ermuntert, das Profil der evangelischen Gemeinden und Dienste deutlich zu machen. Facettenkreuz und Slogan sollen die Mitglieder der Evangelischen Kirche dazu ermutigen, über ihren Glauben mehr als bisher miteinander zu reden und ihn deutlich nach außen zu zeigen und zu bezeugen. In Zukunft sollen mehr Leute als bisher sagen: ›Ja, ich bin evangelisch. Ich bin zusammen mit anderen bei einer guten Sache engagiert. Wir sind evangelisch aus gutem Grund.‹«9 Der Slogan ist also mindestens darin kirchenintern erfolgreich gewesen, dass er Kommunikationsprozesse darüber angestoßen hat, was es denn überhaupt heißt, »evangelisch zu sein«10. Insoweit hat also theologische Basisarbeit den skeptischen Einwand eines akademisch-theologischen Experten »Sind eigentlich ›Gründe‹ gefragt, also rationale Argumentationen«?11 bereits gegenstandslos gemacht.   9 http://www.ekhn.de/index.htm?http://www.ekhn.de/inhalt/kirche/profil/logo/~inhalt (download 10. 6. 2005). 10 Zu den frühesten innerkirchlichen Diskussionen vgl. die Beiträge der epd-Dokumentation Nr. 46a/1996 »Evangelisch aus gutem Grund«. Es ist bezeichnend, dass es in der dort dokumentierten Auseinandersetzung (angestoßen durch ein Interview im Sonntagsblatt von R. Wischnath, Cottbus) wiederum nicht um Fragen der Öffentlichkeitsarbeit geht. 11 Dies fragt D. Korsch, Evangelisch auf gutem Grund. [sic!] Von der Gestaltungskraft des Protestantismus, in: H. Deuser u. a. (Hg.), Theologie und Kirchenleitung. FS für P. Steinacker, Marburg 2003, © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Die Entwicklung von Markenlogos und eingängigen Zeichen einer »Corporate Identity« auch von Kirche stand und steht dabei immer in Verdacht der »adiaphora«, einem nicht intern theologischen, sondern angeblich nur »externen« kommunikationstechnischen Bedarf zu entsprechen, den theologisch ungebildete Marketingstrategen der Kirche von außen aufnötigen. In diesem Spannungsfeld von neu erwachter Sensibilität für erhöhten Darstellungsbedarf von Kirche einerseits und dem Generalverdacht, in dessen praktischer Umsetzung doch nur auf Beraterfirmen hereinzufallen andererseits, wird auch der seit 1993 in der EKHN in Brauch genommene Slogan »Evangelisch aus gutem Grund« wahrgenommen.

11.3 Wie macht ein Logo Sinn? Gemäß dem provozierenden Hinweis »Was spricht dagegen, die ›gute Nachricht‹ gut zu inszenieren?«12, wurde auch innerhalb der EKHN neben dem Slogan »Evangelisch aus gutem Grund« viel Fantasie zur Gestaltung der Inszenierung der Grundbotschaft in Formen aufgewandt worden. Von einer Facette dieser Aktionen, nämlich von Zeichen, Bildern und Inszenierungen rund um das Facettenkreuz soll jetzt die Rede sein. Eingeführt wurde es in der kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit als ein kirchenspezifisches Logo. »Ein Logo ist ein bildliches Element. Es ermöglicht Betrachtern, auf den ersten Blick wiederzuerkennen, mit welcher Einrichtung, Firma, Institution etc. sie in Kontakt sind. Ein Logo lebt aus gezielt gewählten Farben und ausdrucksstarken Formen. Unterschiedlich wird eingeschätzt, ob das Logo eine Eigenheit/ein Charakteristikum der Einrichtung, Institution, Firma etc. darstellen soll oder ob das Logo als optisches Element lediglich die Fantasie der Betrachter anregen soll.«13 Wie oben genannt, gehört das Logo des Facettenkreuzes inzwischen zu den in der EKHN verbindlich eingeführten Zeichen. Es ziert nicht nur jedes evangelische Gesangbuch (Ausgabe für die EKHN) und jede Nummer des Amtsblattes, sondern seine Nutzung durch alle Pfarrerinnen und Pfarrer der EKHN wird inzwischen auf dem Dienstweg eingefordert. Viele Firmen tragen solche Logos. Und normalerweise steht deren optische Gestaltung in keinem inneren Sinnzusammenhang mit den Produkten oder Dienstleistungen der Firma.

365, eher rhetorisch und befürchtet, dass die Antwort eher auf »bedürfniskonforme Apologetik« lautet. 12 G. Fermor, Religion in der Werbung – Werbung für die Religion, in: Pth 1997, 12. 13 http://www.kirche-im-bistum-aachen.de/kiba/opencms/traeger/100/werkzeugkoffer/handwerk/ glossar.html#Presse-%20und%20Öffentlichkeitsarbeit (download 26/06/2005). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Abbildung 25

Auch das aus der Urkirche abkünftige Ichthys-Zeichen kann heute als ein solches Logo verstanden werden, auch wenn es an seinem Ursprung eher eine Verschlüsselung der »Corporate Identity« darstellte, die allerdings für Insider einen eindeutigen Sinnverweis auf Kirche beinhaltete. Obwohl es sich auch beim Facettenkreuz zunächst um ein Logo zur Erzeugung einer »Corporate Identity« handelt, bleibt man als theologisch interessierter Betrachter geneigt, nach dem genaueren Sinn dieses als »Glaubenssymbol« angesprochenen Zeichens zu fragen. Schließlich steht das neue Zeichen mit dem Zentralsymbol der christlichen Kirche grafisch in Zusammenhang. Theologische Deutungsangebote finden sich in Gestalt von Kommentaren auf verschiedensten Medien. Das reicht von starken und eindimensionalen Behauptungen bis hin zu mehrschichtigen Zugängen. Das Frankfurter Medienhaus präsentierte in seiner Erläuterung von 2001 eine Mischung aus theologischer und kommunikationstechnischer Information: »Im Facettenkreuz wird das christliche Kreuz erkennbar. Das Kreuz entsteht als Freiraum gebildet aus acht Quadraten, die sinnbildlich für die verschiedenen Arbeitsformen und Aufgabenfelder von Kirche und Diakonie stehen. Das Facettenkreuz visualisiert die evangelische Präsenz vor Ort. Als Logo verstärkt es die Erkennbarkeit auch auf Druckerzeugnissen und an Gebäuden, auf Kirchenfahnen und Veranstaltungsplakaten. Als Anstecker getragen geben sich damit Menschen als evangelische Ansprechpartner zu erkennen. Vielfach wird das silberne Facettenkreuz als Schmuckstück oder für Auszeichnungen (in Gold) genutzt.«14 14 So zu finden in der Ausgabe der Medienhaus GmbH Rechneigrabenstr. 10 · 60311 Frankfurt/M. vom 13. 4. 2004 (Redaktion: Peter W. Schmidt). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Im Internetauftritt der EKHN wird zum Facettenkreuz folgende Interpretation geliefert: »Das Facettenkreuz spiegelt die vielgestaltige Einheit der Kirche wider. Die acht Quadrate können acht unterschiedliche Arbeitsbereiche oder inhaltliche Profile der Kirche symbolisieren, die um eine Mitte versammelt sind und von dieser Mitte her Sinn und Bedeutung entfalten. Die Mitte steht für das Leben spendende Kreuz Christi. Eine eindeutige und für alle gültige Interpretation des Facettenkreuzes gibt es nicht. Wie alle echten Symbole ist es in sich selbst reicher und sprechender als begriffliche Erklärungsversuche. Es steht der Interpretation der Betrachterin oder des Betrachters offen und deren Wahrnehmung, Pluralismus und Profil, Vielheit und Einheit der einen, auf Christus sich gründenden Kirche.«15

Nach diesem Kommentar ist also auch dem Logo mit hohem Wiedererkennungswert die Deutungspluralität, Kennzeichen des protestantischen Profils, inhärent. Weitere Kommentare ließen sich beliebig ergänzen. Auch einzelne Kirchengemeinden veröffentlichten entsprechende Internetseiten.16 Sie alle bieten mehr oder weniger plausible Sinndeutungen zur spezifischen Gestalt des Facettenkreuzes. Deren Vorgehen kann als das in der Theologie geläufige hermeneutische bzw. zeichentheoretische Verfahren charakterisiert werden, d. h. im Kontext der Textproduktionen der Kirche in Gegenwart und Vergangenheit wird nach dem inhaltlichen Profil des Logos gefragt. Der Sinn des Signets wird im allgemeinen theologischen Sinnzusammenhang spezifisch als Beitrag zur Kreuzestheologie gelesen bzw. gedeutet. Was für Werbefachleute nur ein optisch eingängiges Signet ausmacht, wird hier vom theologischen Erwartungshorizont einer mehr oder weniger gründlichen Exegese unterzogen. Liest man gegenwärtige Deutungen des Facettenkreuzes als Kon-Texte zu den biblischen Texten und bekenntnishaften Formeln der Kirchen, so können Zusammenhänge, Weiterentwicklungen und vielleicht auch Mängel der Rezeption ans Licht treten. Das ist im Rahmen einer Institution, die nicht irgendein Produkt am Markt absetzen will, sondern deren Handeln und Reden auf einen Grund-Sinn verpflichtet ist, wohl ein unausweichliches Verfahren. Das Kreuz ist ja nicht irgendein Zeichen, sondern das Merkmal des Christentums. Es verweist auf Leiden und Sterben Jesu Christi. Dem Zeichen des Kreuzes kommt im christlichen Glauben und in christlicher Frömmigkeit verschiedenster Konfessionen nach wie vor eminente Bedeutung zu: Als erzählte, gesungene oder gepredigte Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens im 15 http://www.ekhn.de/index.htm?http://www.ekhn.de/inhalt/kirche/profil/logo/~inhalt. Dieser Text stellt einen Ausschnitt des umfangreicheren Kommentars von E. Pausch, Das Facettenkreuz oder: Die Quadratur des Kreuzes dar http://www.ekhn.de/inhalt/download/ev_gut_grund/kreuz.pdf (download 13. 12. 2004). 16 http://www.friedensgemeinde-frankfurt.de/facettenkreuz/. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gottesdienst, als theologische Deutung in komplexen Formen von akademisch lehrhafter Christologie, als Basis christlicher Nachfolgeethik, als Klänge von Spirituals oder Passionsmusiken oder als Bestandteil christlicher Sakralarchitektur.17 Wo immer, für die Praxis des Glaubens hat das Kreuz Christi nach wie vor einen zentralen Stellenwert. Dem gemäß ist solche theologische Kontextualisierung auch kostspieliger Werbeaktionen der Kirche notwendig. Der semiotisch geschulte Betrachter dürfte allerdings bei manchen der vorgetragenen Sinndeutungen stutzen. Denn nicht alle tragen der zeichentheoretisch seit Langem geläufigen Einsicht Rechnung, dass Bedeutungsgehalte eines jeden Zeichens nur in einer dreistelligen Zeichenrelation angemessen aufgeschlüsselt werden können.18 Die passivisch formulierte Aussage »Im Facettenkreuz wird das christliche Kreuz erkennbar«19, lässt etwa außer Acht, dass auch das Facettenkreuz als Zeichen immer nur einen bestimmten Inhalt für bestimmte Zeichenrezipienten darstellt. Man könnte deshalb empirisch genauer nach Autoren und Rezeptionsvorgängen fragen, danach, wer die neue Symbolik des Facettenkreuzes im Einzelnen mit welcher Intention entwickelt hat, ob die genannten Deutungen für Menschen in Zusammenhang mit ihrem Verständnis biblischer Botschaft stehen und ob sie in sich nachvollziehbar sind. Eine wirklichkeitsorientierte Theologie und ebenso eine fundierte kirchliche Werbeaktion dürfen an solchen Deutungen des Facettenkreuzes und ihrer Reflexion sicher nicht vorbeigehen.

11.4 Das Werbeblatt »Glaubenssymbol Facettenkreuz« Infrage steht allerdings für mich über solche Rückfragen hinaus, ob dieser notwendige sinnzentrierte Zugang auf das Facettenkreuz auch einen hinreichenden Erschließungsweg bietet, welcher das Phänomen mit seinen Facetten zur Gänze wahrnimmt. Was macht eigentlich beim Facettenkreuz das Phänomen aus, um das es geht, um das es ästhetisch und theologisch gehen muss? Gewiss nicht das Zeichen als Text wie jeder andere aus Buchstaben bestehende Text, denn dabei würde sein Charakter als WerbeLogo noch gar nicht zur Geltung kommen. Genauer diskutiert wurde in vielen Gemeinden und Pfarrkonventen: Welchen Sinn macht eigentlich die spezifische Form, in der das Facettenkreuz erscheint? Und mit welchen Mitteln geschieht das hier speziell? Offenbar gaben und geben sich bereits kirchliche Insider mit der dekretorischen Auskunft »Im Facettenkreuz wird das christliche Kreuz erkennbar« (s. o.) nicht ganz zufrieden. Erkennbar ist doch 17 Zu Lesarten moderner Gestalten des Kreuzes vgl. H.-G. Heimbrock, Kreuz-Gestalten, in: I. Nord/ F. R. Volz (Hg.), An den Rändern. Theologische Lernprozesse mit Yorik Spiegel. Festschrift zum 70. Geburtstag, Münster 2005, 107–127. 18 Vgl. dazu H. Deuser, Art. Semiotik I. Religionsphilosophisch und systematisch-theologisch, TRE XXXI, Berlin 2001, 108 ff. 19 Vgl. oben Fußnote 15. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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wohl eine Menge mehr. Einige Betrachter machen darauf aufmerksam, dass Facettenkreuze in vielen Werbeaktionen etwas durchaus Spielerisches haben, für andere erscheint die Gestalt des in der Mitte erscheinenden Kreuzes eher als Wagenburg und symbolisiert dann eine den Herausforderungen der Gegenwart unangemessene Innenzentriertheit von Kirche. Wie immer, es gibt noch keine empirisch abgesicherten Ergebnisse darüber, wie eigentlich das Logo des Facettenkreuzes in der innerkirchlichen Rezeption aufgenommen worden ist.20

11.4.1 Die Phänomene Im Kapitel »Gestalt und Gestaltwahrnehmung« haben wir uns eingehend über anthropologische Grundlagen der Wahrnehmung von visuellen Formen und Gestalten orientiert. Menschen »lesen« visuelle und auch auditive Phänomene als Strukturen und Formelemente entlang bestimmter Prinzipien, im Alltag in aller Regel selbstverständlich im Vorbeigehen und ohne größere Reflexionsbemühungen. Das gilt auch für Form und Gestalt des Facettenkreuzes, wo immer es optisch erscheint. Nie erscheint es als bloße Idee der acht verschachtelten Einzelelemente, sondern stets in spezifischer drucktechnischer Aufmachung mit dieser oder jener Farbauswahl, eingebettet in optisch wahrnehmbare Rahmungen und fassbar in materieller Gestaltgebung. Und von solchen Rahmungen gehen sogar mitunter spezifische Handlungsimpulse an Rezipienten aus, und zwar nicht nur solche, das Logo zu »lesen«. Die Gestalt des Facettenkreuzes werde ich jetzt näher betrachten. Dabei folge ich methodisch nicht nur rezeptionsästhetischer und zeichentheoretischer Logik, sondern versuche das gestalttheoretische Instrumentarium zu nutzen. Das ist ein künstlicher Akt der Verlangsamung der Wahrnehmung zu Demonstrationszwecken, wohl wissend, dass dies im Normalfall eben so nicht abläuft. Weitere Näherung an das Phänomen gelingt, wenn man spezifische Präsentationsformen fokussiert. Das könnte ein kirchenamtlicher Briefbogen sein, das Deckblatt eines EKHN-Amtsblattes oder das Acrylschild am Eingang zum Versammlungsort der Kirchensynode der EKHN, dem Frankfurter Dominikanerkloster. Ich wähle einen anderen Fundort. Auch in den »EKHN Mitteilungen. Informationsdienst für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau« Heft 11 November 2004, findet sich das Facettenkreuz, u. a. auf einem doppelseitigen Prospekt, der den Mitteilungen beiliegt. Dort ist oben links auf der Vorderseite neben der Überschrift »Glaubenssymbol Facettenkreuz« das Logo der EKHN abgedruckt. Im Falle unseres Faltblatts gehört zum Kontext der Botschaft allerdings auch anderes. Das Facettenkreuz erscheint auf den vier Seiten des Werbeprospektes viele Male, in der 20 So bleibt auch der empirische Gehalt der Aussage »Es ist nicht verwunderlich, dass das Facettenkreuz – mit oder ohne den mit ihm verbundenen Slogan ›Evangelisch aus gutem Grund‹ in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau eine sehr hohe Akzeptanz und Verbreitung gefunden hat.« vgl. E. Pausch a. a. O. einstweilen ungedeckt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Regel aufgedruckt auf verschiedenste Gegenstände, die zum Kauf angeboten werden. Diese Gegenstände, und weniger die Aktion »Evangelisch aus gutem Grund«, haben vielfältigen Anlass zu kritischen Debatten gezeitigt. »Daß die Aktion mit der Verbreitung des EKHN-Logos und der Produktion und dem Verkauf einiger bescheidener Gebrauchsmaterialien … einherging, verstärkte vielerorts das bereits vorhandene Misstrauen. Abfällig wurde von einem ›Devotionalienhandel‹ gesprochen, der der evangelischen Kirche unwürdig sei.«21 Ohne die gesamte Aktion »Evangelisch aus gutem Grund« auf das Facettenkreuz oder gar die Geschenkartikel reduzieren zu wollen, scheint es mir lohnend und instruktiv, einen genaueren Blick auf das Facettenkreuz innerhalb eben dieses »Devotionalienhandels« zu werfen. Immerhin wird auf die entsprechenden Geschenkartikel in zahlreichen Internetseiten der EKHN zur Aktion »Evangelisch aus gutem Grund« mit dem Link »Facettenkreuz-Artikel bestellen« ausdrücklich und gut erkennbar verwiesen. In der genaueren Betrachtung der Beigaben zeigen sich nicht nur Sinn und Unsinn dieser relativ unwichtigen Werbeaktion. Vielmehr ergeben sich daraus für mich prinzipielle Anforderungen im Blick auf die Kompetenz von Theologie insgesamt. Was ist im Einzelnen auf dem Faltblatt zu sehen? Ich gehe probeweise die Vorderseite durch. Gezeigt wird ein Farbfoto mit vielen aufgespannten Regenschirmen, daneben in einer Textkolumne mit großen Lettern in grün und blau eine Überschrift, dann in petit ein Kurztext: Regenschirm Facettenkreuz Damit sind sie auch im Regen gut beschirmt Unter diesem Schirm kommen Sie immer trocken an Ihr Ziel … Die helle Grundfarbe erhält durch das am Rand entlang geführte in leuchtenden Farben verlaufende Facetten-Kreuz eine ganz besondere Note. … auch wenn der Himmel noch so dunkel ist – irgendwo erstrahlt ein Licht. Ein schönes Geschenk für Mitarbeiter … Darunter zu sehen sind zwei gelbe Gummibälle mit Aufdruck des Facettenkreuzes. Dazu die grüne Überschrift: »Flummi-Facettenkreuz«; dann die Unterschrift: »›Flummi‹ – Vollgummi-Springball – Mit Facettenkreuz«. Links unten eine kleine Taschenlampe »Bluelight Facettenkreuz« und rechts daneben ein großer schwarzer Schal: Schal Facettenkreuz Damit Sie sich keinen Schnupfen holen Eine tolle Geschenkidee, die garantiert keinen 21 Schmidt, a. a. O., 220. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Das Werbeblatt »Glaubenssymbol Facettenkreuz«201

»Schal-en« Beigeschmack Hat … Neu und zeitlos – Das perfekte Geschenk für Mitarbeiter und Jubilare … Unter der Überschrift des Faltblatts »Glaubenssymbol Facettenkreuz« und der Zeile »Glaubenssprünge bei Wind und Wetter« finden sich also Texte und Bilder. Und zwar Werbetexte, die häufig ebenso eingängig wie inhaltlich oberflächlich ausgefallen sind, jedenfalls weit entfernt von christlichen Sinngehalten des Kreuzes. Aber es springt ins Auge, dass zum Phänomen des Facettenkreuzes in diesem Falle mehr gehört, als erläuternde sprachliche Botschaften zu Kreuzen. Denn man muss annehmen, dass auch die Bilder die hier von den Betrachtern rezipierte Botschaft vom Facettenkreuz mit bestimmen. Und bereits die optische Botschaft ist über so komplexe Zeichenarrangements angeordnet, dass die versuchte sprachliche Repräsentation der Komplexität in keiner Weise gerecht wird und die Zurhandnahme der Werbeseite bzw. ihre Internetpräsentation dringend empfohlen wird. Aber im Sinne des Imperativs »Zur Sache selbst!« darf ein Element der Seite (und des ganzen Prospektes) nicht übersehen werden: An mehreren Stellen erscheint ein leuchtend roter Kreis mit dem Wort »Neu«. Und jedem Objekt mit Facettenkreuzaufdruck ist eine verkaufstechnische Information beigegeben. Sie enthält Größe, Bestellnummer, Preis und Angaben zum Mengenrabatt. Die ganze Seite sieht (in Schwarz-Weiß-Kopie) so aus:

Abbildung 26

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Wenn man davon ausgehen kann, dass mit diesem Faltblatt aus einem kirchlichen Mitteilungsblatt Phänomene der gegenwärtigen kirchlichen Praxis im Umfeld des Facettenkreuzes greifbar werden, dann wäre von der bisherigen Schilderung bereits eine ganze Reihe von Einzelheiten zu untersuchen. Die möglichen Ansatzpunkte reichen von der Farbgebung des jeweiligen Facettenkreuzes über die Sprache der Werbung bis hin zur Frage, welche Wirkung die Werbeaktion beim Betrachter auf seine Wahrnehmung von Kreuz und Kirche hat. Allerdings ist, wenn es wirklich um das Phänomen des Facettenkreuzes gehen soll, bereits von diesem Blatt her betrachtet, viel mehr in Sicht als Zeichen (oder gar nur Buchstaben) auf Papier. Indirekt wahrnehmbar sind ja auch verschiedene Gegenstände, die da abgebildet sind. Und die verdienen eine eigene Betrachtung, als Träger eines Facettenkreuzes, aber auch darüber hinaus. Es geht nämlich in der Wahrnehmung nicht um ein Facettenkreuz an sich, auch nicht nur um Abbildungen von Dingen, sondern das Kreuz auf einem Schal, auf einem Flummi, auf einem Schirm, auf der Taschenlampe, und das alles im Rahmen einer ganz bestimmten Aktion, einer Werbe-Aktion. Zu dieser Werbeaktion um das Kreuz gehören hier also kleine oder große Gegenstände mit dem Aufdruck des Logos. Wer aber diese Dinge ihrerseits in die Hand nimmt, der betrachtet nicht nur das aufgedruckte Facettenkreuz, um dabei Sinnentschlüsselungen der Zeichenbedeutung zu vollziehen, so wie er oder sie einen exegetischen Kommentar von E. Käsemann zu »Gottesgerechtigkeit bei Paulus« meint wahrzunehmen, sondern ihm teilen sich vorprädikativ sinnliche Eindrücke an Materialien mit. Er riecht den abstoßenden Plastikgeruch des Schirms, er fühlt die Größe und Elastizität des Flummis in der eigenen Hand, er spürt das Fleece des Schals auf der Haut am Hals oder in der Hand. Und zur leibgebundenen Wahrnehmung zählen auch motorische Handlungsimpulse, die sich mitteilen, z. B. der, den Flummi im spielerischen Wurf auszuprobieren. Und er oder sie wird nach zehn Mal Anknipsen des »blue light« das Facettenkreuz vergeblich suchen, weil die Farbe abgenutzt ist. Alle diese Elemente zusammen gehören zur spezifischen lebensweltlichen Fundierung des Phänomens. Kehren wir in der Wahrnehmung noch einmal zum Werbeblatt zurück: Alle dort abgebildeten Gegenstände werden als Kleingeschenke zum Kauf angeboten bzw. sollen als Geschenke für Mitglieder des Kirchenvorstands dienlich sein.22 Und auch für dieses Phänomen »Geschenk« gilt seine unausweichliche lebensweltliche Fundierung. Das Facettenkreuz in der Wiederholung aus den Werbeseiten ist nicht einfach eine frei schwebende Gestaltung eines Zeichens, nicht einfach eine »Darstellungsform« des Kreuzes, es erscheint in bestimmter Weise situiert, nämlich auf dem Prospekt. Bilder und Texte sind Reklamebotschaften. Die Aufmachung des Faltblatts ähnelt in Format 22 Nur am Rande sei das Problem notiert, wieweit dieser Personenkreis die in Rede stehenden Artikel wirklich als angemessene Anerkennung für langjähriges Engagement im kirchlichen Ehrenamt auffassen wird. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Das Werbeblatt »Glaubenssymbol Facettenkreuz«203

und Layout den Werbeprospekten für Möbel, Computer oder Schuhe, die fast jeden Morgen beim Frühstück aus der Tageszeitung herauspurzeln.

11.4.2 Die Botschaft der Gestalt Die Kombination von eingängigen Bildern und flotten Texten (nach dem Motto »So können Sie Zeichen setzen!«) verfolgt damit also objektiv betrachtet eine mehrschichtige Intention, die jedenfalls über Kommentierung von Kreuzestheologie weit hinausgeht: –– erkennbar ist zunächst die eine, von den Initiatoren der Werbeaktion beabsichtigte Intention zur Erzeugung einer »Corporate Identity« durch möglichst unablässige Wiederholung des »Markenzeichens« der EKHN, durch möglichst große Verbreitung (durch billige Geschenkartikel), –– darunter erkennbar ist die andere, subjektiv vermutlich nicht gewollte Intention, kirchliche Angebote in den Markt der von anderen Anbietern geläufigen Geschenkaktionen einzureihen, die Aufforderung zum Verschenken – und also zum Kaufen von mehr oder weniger nutzbaren alltäglichen Gebrauchsgegenständen. –– Mit dieser zweiten Intention und Präsentation ist das Kreuz nun aber zum Träger ganz anderer Botschaften geworden als der »ursprünglichen« vom Merksatz »Evangelisch aus gutem Grund«. Die Kreuz-Form wird als schickes Emblem zu Vermarktungszwecken genutzt.23 Mit alledem kommt der Verbreitungsstrategie des Logos »Facettenkreuz« in der Geschenkartikel-Werbeaktion nun aber auf der textpragmatischen Ebene nicht mehr nur moderne »Sinndeutung« des christlichen Ursymbols zu. Der Verbreitungszweck hat sich durch Kreation und Aufmachung der Dinge im einzelnen verselbständigt. Auch hier gilt »The medium ist the message« (M. McLuhan). Kirche nimmt Teil an kulturspezifischen Umgang mit der materiellen Welt im Sinne der »Geschenkkultur«. Und dort, fernab der Kirche, in der »Designer-Kultur« wird über »Gründe« für ein bestimmtes Verhalten gegenüber den Dingen schon wieder vollmundig und be-seelt gehandelt.24 23 Ein besonders prominentes und gewollt provokatives Beispiel solcher Werbestrategien findet sich im Angebot der Lufthansa World Shop Herbst/Winter 2004/2005 Edition Deutschland. Dort wird auf Hochglanz teurer Designer-Silberschmuck angepriesen: »Madonna! Seit dem Revival der Achtziger sind Kreuzanhänger wieder extrem im Trend. Mit diesem Kreuz tragen Sie die elegante Antwort darauf an einer 42 cm langen Kette um den Hals, 925er Sterlingsilber mit handgefassten weißen, schwarzen, champagnerfarbigen Zierkonia« zum Preis von € 89 oder für 23.000 Statusmeilen.« 24 So preist ein teurer online-Geschenke-Shop seine Produkte nach Strategien des »Kult-Marketings« an: »Ein guter Grund, das eigene Zuhause so schön als möglich zu gestalten. Diese Verbindung von einzigartigen Gegenständen und Hintergrundinformationen vereint mit dem Wissen der Hersteller finden Sie nur hier. Unser Kunde erhält so ein ganzheitliches Bild von seinem persönlichen Design-Gegenstand. Genießen Sie unsere Präsentation und lassen Sie sich von unserer Begeisterung anstecken. Unser Streben ist es, nicht nur bloße Dinge anzubieten. Es sind lebendige Werke mit einem Herzen und einer Seele.« http://www.geschenkeshop.de/ (download 28. 06. 2005). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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11.5 Theologie mit der Oberfläche Wozu dient diese akribische Analyse von Gestaltelementen einer Werbeaktion im theologischen Reflexionszusammenhang von Kreuzes-Theologie? Was erbringt sie an zusätzlichen Einsichten in unsere praktisch-theologische Erkundung der Gestalt des Kreuzes-Symbols? Welche Konsequenzen wären aus der Analyse zu ziehen? Der genauere und kritisch-phänomenologische Blick auf die Präsentation des EKHNLogos in der Werbeaktion könnte den pauschalen Schluss nahe legen, dass solche eher oberflächlichen Strategien der »Produktpflege« zum Ausverkauf theologischer Inhalte führen und Kirche deshalb besser beraten sei, bei ihren angestammten Kommunikationsstrategien zur Sinnvermittlung zu bleiben, sich also verstärkt um die verbesserte inhaltliche Auslegung der biblischen Botschaft vom Kreuz zu bemühen. Diesen Schluss halte ich allerdings für einen Kurz-Schluss, der den Gewinn der genaueren Analyse verspielt, ehe er eingeholt ist. Einen Kurzschluss, den sich Kirche im Übrigen m. E. heute gar nicht mehr leisten kann. Wehklagen und Feldgeschrei über die angeblich drohende Gefahr, dass das »Wort« und das Argument im medial dominierten Zeitalter auch im Handlungsraum der Kirche durch Bilderfluten, sinnentleerte benutzte platte Zeichen und Webegags ersetzt werden sollen, helfen aber wenig, so wenig, wie die Beschwörung des angeblichen Markenzeichens »Wort« in der Predigt von Fr. Käßmann. Es reicht nicht, in bester theologischer Anstrengung nur in gelehrten Traktaten reflexiv und in Treue zu den Vätern die Gründe zu entfalten für die Bedeutung der Botschaft vom Kreuz. Denn eben diese lange gepflegte Strategie ist ausweislich empirisch belegter Daten von begrenztem Effekt zur Stärkung der Bindung an Kirche unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen. So räumte der damalige Kirchenpräsident der EKHN P. Steinacker seinerzeit ein: »Den beiden großen christlichen Kirchen gelingt es derzeit nicht gut, ihre dogmatischen Überzeugungen von Gott, von der Bestimmung des Menschen und der Welt zu vermitteln.«25 Es bedarf auch in der Kirche des Wortes – trotz der geschilderten aus meiner Sicht missglückten Strategie zur Verbreitung des EKHN-Logos – der öffentlichkeitswirksamen und effektiven Kommunikation und deren Gestaltungsversuche. Denn keine noch so schlechte Werbe- oder Marketingaktion für sich kann die Einsicht wegwischen, dass dem Mitgliederschwund durch verbesserte Kommunikation der Kirche mit ihren »lose Verbundenen« Mitgliedern zu begegnen ist. Der eingangs angesprochene Bedarf an professioneller kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit bleibt bestehen, auch wenn nicht jede Aktion gleich gelingt. Freilich müssen nicht nur bessere Marketingstrategien her, nicht nur bessere Designer, sondern auch das »Design von Theologie« muss überprüft und erweitert werden. Wenn wissenschaftliche Theologie hier allerdings jenseits der oben skizzierten kritischen Rückmeldungen auch Impulse zur Gestaltung geben will, dann muss sie selbstkritisch eigene Positionen

25 P. Steinacker, Eine werteverschwiegene Gesellschaft ist schwach, FR 26. 11. 2004. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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überprüfen, damit sie selbst zuallererst konstruktive Grundlagen für die anstehenden Gestaltungsaufgaben der Öffentlichkeitsarbeit bereitzustellen in der Lage ist. Ich möchte dazu abschließend einige Gesichtspunkte formulieren:

11.5.1 Markenzeichen von Kirche und das Kreuz Christi Dabei ist zuallererst nach dem Verhältnis der Kreuzes-Zeichen genauer zu fragen. Unser bisheriger Gedankengang war stark auf Gestalten des Kreuzes-Symbols fokussiert, die als eigenständige ästhetisch vermittelte Gestaltung der Kreuzestheologie gelesen wurden oder werden konnten. Das ist ein Wahrnehmungshorizont, der, wie soeben gezeigt, von vielen in der Kirche auch im Umgang mit dem Phänomen der »Markenzeichen« aktiviert wird. So heißt dann etwa: »Im Facettenkreuz wird das christliche Kreuz erkennbar.«26 Ähnliche Tendenzen kann man zuweilen in populärtheologischen Erläuterungen zum Kreuz in seiner theologischen Bedeutung lesen, etwa dort, wo der Journalist H.-A. Pflästerer zum Thema Kreuz auf der Homepage der EKD mit der Frage zitiert wird: »Warum also ist das Kreuz zum Markenzeichen für die Kirche und für den christlichen Glauben geworden?«27 Unser theologischer Reflexionszusammenhang auf Gestalten des Kreuzes kann hier aber zu einer wichtigen Differenzierung zwischen Glaubenssymbolen und Markenzeichen verhelfen. Jede visuelle piktogrammartige Kreuzform, die als Markenzeichen im Sinne einer »Unternehmensphilosophie« oder als Logo zur Beförderung von »Corporate Identity« dient, ist intenzional zu unterscheiden von den Ausdrucksgestalten des Kreuzes Christi. Beide Phänomenbereiche präsentieren sich visuell, aber funktionieren nach unterschiedlichen Logiken und sollten deshalb mit unterschiedlichen Logiken erschlossen werden. Das ist eine entlastende Einsicht, weil sie einerseits den Anspruch der »Markenzeichen« nicht mehr unzulässig theologisch überhöht und weil sie andererseits den Blick schärft für die spezifischen Kriterien, die an gute Logos anzulegen sind. Dabei gilt zweierlei: Beide Phänomengruppen werden von Menschen im Normalfall vortheoretisch als »Gestalten« wahrgenommen, in ihrer visuellen Struktur, nicht als Illustration einer bestimmten verbal sagbaren »objektiven« Sinnzuschreibung. Und beide Gruppen, die »Markenzeichen« wie die Kreuzessymbole, mit denen wir uns bisher beschäftigten, haben für Kirche in der Doppelgestalt von sichtbarer Organisation und geglaubter »creatura verbi« beide ihre Bedeutung für die christliche Theologie. Man kann nicht das eine gegen das andere ausspielen, entweder auf McKinsey setzen wollen oder auf Christologie. Es geht nämlich bei dieser Differenz theologisch zugleich um die Grundunterscheidung zwischen Christus und Kirche. Die Kirche als Organisation muss sich im Interesse der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unter gegenwärtigen kulturellen Bedingungen (siehe oben) um die Ent26 Vgl. oben, Fußnote 15. 27 http://www.ekd.de/glauben/segen/kreuz.html. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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faltung optisch wirksamer Zeichen bemühen, generell gesprochen: Sie muss sich um öffentliche Darstellung und Kommunikation ihrer Botschaft kümmern. Das fällt nicht automatisch unter die Religions-Kritik des 1. Gebotes, sehr wohl aber unter die Kriterien wirksamen Designs. Es gibt erfolgreiche und weniger erfolgreiche Logos. Die »theologia crucis«, die Luther gegen die »theologia gloriae« verfolgte und entsprechende ästhetische Darstellungsformen, waren und sind in aller Regel kein Verkaufsschlager und können auch durch effiziente Steuerungsmechanismen der Organisation Kirche nicht dazu gemacht werden. Diese Symbolwelt folgt einer anderen Logik, der Logik von Gewaltüberwindung durch Schwäche. Einer solchen theologischen Deutung stehen, wie an verschiedenen Stellen im Band deutlich wurde, ästhetische Gestaltungen und ästhetische Praxis von Menschen mit ähnlicher oder analoger Botschaft zur Seite. Beschäftigung mit ihnen verläuft nicht suggestiv, sondern in Freiheit der ästhetischen Praxis des Subjekts, theologisch gesprochen: in Freiheit des glaubenden Menschen. In diesem Sinne kann die Überschrift dieses Kapitels mit Recht und gleichermaßen mit der Einschränkung gelten: ›Das Kreuz als kirchliches Markenzeichen‹.

11.5.2 Marke und Markt Im Mittelpunkt meiner Analyse in diesem Kapitel stand eine spezifische Werbeaktion von Kirche, die das Markenzeichen von Kirche bei »Kunden« (und potenziellen Kunden) einprägsam machen soll. Aber nicht erst diese verstärkte Bemühung, mithilfe professioneller Unternehmensführung den »Erfolg« kirchlicher Kommunikation zu steigern, schafft die dabei virulente gesellschaftliche, genauer gesagt: sozio-ökonomische Dynamik, dass nämlich auch Religion in der weltanschaulich pluralen und globalisierten Gesellschaft marktförmig geworden ist. Die Suche nach »Marken« (wie die Rhetorik der »Kunden«) ist nicht der auslösende Faktor, sondern die Folge von Prozessen, welche die Organisationsformen von Religion schon lange auch nach Marktgesetzen bestimmen. »Religion als Produkt« der Firma »McJesus, Inc.« (P. Berger) kann aus deutscher und europäischer Sicht nicht länger als pures Phänomen einer Gesellschaft des grenzenlosen Kapitalismus mit einem »göttlichen Supermarkt«28 ausgegrenzt werden, auch nicht als Kennzeichen bloß populärer Religion gelten im Gegensatz zu den eher intellektuell bestimmten Großorganisationen überkommener deutscher Landeskirchen.29 Die Marktförmigkeit von Religion ist auch für uns ernst zu nehmen. Das erspart nicht fachgerechte Gestaltung von Markenzeichen, sondern spricht für sie. Aber die Praxis des Glaubens heute, wie die von mir diskutierte 28 M. Ruthven, Der göttliche Supermarkt. Auf der Suche nach der Seele Amerikas 1991. 29 Diesen Schluß könnte man aus der Analyse von D. Plüss ziehen, vgl. ders., Individualisierung und Popularisierung von Religion. Strategieanalysen und Funktionsweisen popularisierter Frömmigkeit am Beispiel des Alpha-Kurses, in: W. Gräb/L. Charbonier (Hg.), Individualisierung – Spiritualität – Religion: Transformationsprozesse auf dem religiösen Fld in interdisziplinärer Perspektive, Münster 2008, 235 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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ästhetische Praxis des Umgangs mit Gestalten des Kreuzes, findet statt inmitten und unter Bedingungen, die von solchen Faktoren nicht frei sind.

11.5.3 Gestaltwahrnehmung und Ökonomie Für den theologischen Umgang mit dem Kreuzessymbol in seinen ästhetischen Gestaltungen, z. B. auch in der Gestalt des »Facettenkreuzes« habe ich auf Prinzipien der Gestaltwahrnehmung zurückgegriffen. Das hilft zur Korrektur der kirchlich oft eher dekretierten Sinnzuschreibungen der Experten und bringt empirisch nachweisbare Wahrnehmung der Phänomene. Allerdings habe ich mehrfach die Frage diskutiert, wie universal und zwangsläufig denn solche Gestaltwahrnehmung bei Menschen eigentlich verläuft (vgl. insbesondere die kitischen Rückfragen in Kap. Gestalt und Gestaltwahrnehmung). Eine genauere Betrachtung der Funktionsweise von Logos und Markenzeichen, wie sie jetzt diskutiert wurden, vertieft solche Einsicht in Kulturabhängigkeit von Wahrnehmung: Kulturelle Kontexte, in denen Logos systematisch verbreitet und vermarktet werden (Fernsehen; Printmedien; Internet) kanalisieren auch die individuellen Rezeptionsprozesse, und dies eben nicht durch elaborierte verbale Kommentare, sondern durch ästhetische Modellierung nach Art der Klischeebildung und allenfalls durch sprachliche Kürzel. Dies spricht wiederum nicht gegen Bemühung um die Entwicklung wirksamer Markenzeichen von Kirche, hilft aber zur Einsicht in ihre Funktionsweise.

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12. Das Ziel: Gestalt-Theologie

Das Kreuzessymbol als spannungsreicher Ausdruck geglückten Lebens in den Zweideutigkeiten der alltäglich erfahrbaren Gewaltgeschichten unseres Lebens ist die Sinnmitte des christlichen Glaubens. Wie Menschen im Umgang mit diesem Symbol Leben verstehen und gestalten können, das bewegt christliche Theologie seit ihrem Ursprung im Rückbezug auf Tod und Auferweckung Jesu Christi seit den Tagen der ersten christlichen Gemeinden bis heute. Aus der Fülle der Antwortversuche habe ich in diesem Band eine spezielle Fragestellung näher in den Blick genommen, nämlich die Frage, wie sich religiöse Praxis als Umgang mit ästhetischer Praxis des Kreuzes gestaltet hat. Das wurde in einzelnen Kapiteln des Bandes unter Einbeziehung lebensweltlicher und gestalttheoretischer Perspektiven genauer verfolgt. Wohin gelangt man, wenn man solche Kreuz-Gestalten nicht nur einfach als Erzählungen der Passionsgeschichte nimmt, sondern wenn man die Gestalt-Elemente stärker in den Mittelpunkt der Begegnung rückt? Wo kommt man hin bei der Betrachtung der Kreuze, wenn man mit Tillich den Mut aufbringt, sich zumindest temporär mit dem zu begnügen, was man an den Gestalten hat: Licht, Farbe, Material, Raum, Proportionen? Was trägt ein solcher Gestalt-Ansatz zur Kreuzes-Theologie bei, was trägt er für die Theologie insgesamt aus? Denn sicherlich gilt, dass die ästhetische Perspektive andere für die Theologie notwendige Perspektiven nicht ersetzen kann. Und da der Band auf eine praktisch-theologische Hermeneutik des Kreuzes abzielt, muss am Ende auch noch einmal die praktisch-theologische Frage wiederholt werden: Wenn Theologie auf Praxis zielt, wie wäre diese Praxis von der Orientierung an Gestalt verstehbar und gestaltbar? Diese prinzipiellen Fragen wurden in verschiedenen Kapiteln bereits gestreift. In diesem letzten Kapitel sollen sie im Sinne einer Vertiefung und Weiterführung zusammengeführt werden, um mein Vorhaben des Entwurfs einer praktisch-theologischen Gestalt-Theologie in systematisierter Weise zu umreißen.

12.1 Kreuzes-Theologie 12.1.1 Theologische Hermeneutik: Gestalt und Sinnverstehen Mein Ausgangspunkt lag in der Erinnerung an die alte theologische Frage nach angemessener und wirkungsvoller Mitteilung der Bedeutung des Kreuzes. Von biblischen Ausgangspunkten her stießen wir dabei auf die charakteristische Verbindung inhaltlicher Aussagen mit Sprachformen der Botschaft, in denen sich eine © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Das Ziel: Gestalt-Theologie

veränderte Wirklichkeitssicht ausspricht. Diese Denkbewegung ist über das begrenzte Beispiel im Blick auf erneuerte Beschäftigung mit visuellen Gestalten hinaus aufzunehmen. Sprachformen wie visuelle Formen der Darstellung sind kulturelle Ausdrucksmedien, entwickelt in kulturellen Kontexten. Der phänomenologische Impuls kann dazu beitragen, in dieser Richtung Theologie als qualifizierte Wahrnehmungslehre weiter zu entfalten: Ich sehe da ein Etwas, eine Form mit prägnanten Umrissen, wie etwa das Kastenkreuz der Madeleine Dietz aus Metall und getrocknetem Lehm (vgl. das Kapitel »Einem Kreuz begegnen«). Ich verhalte mich zu diesem Phänomen mit Sehen, Gehen, Betasten, Sitzen oder Schweigen. Ein menschliches Ich begegnet einer Skulptur im Kirchenraum. Ist mir der Raum und die Szenerie von vielen Gottesdiensten vertraut, dann werde ich nicht immer genauer hinsehen. Aber manchmal mache ich doch Entdeckungen, werde auf Übersehenes gelenkt, vielleicht von einem Satz in der Predigt, vielleicht von einer Bemerkung meines Banknachbarn. Dann taste ich die Figur mit meinen Augen genauer ab. Das geschieht aber immer in einer konkreten Szenerie, in der mein Ich leibhaftig in einem Raum anwesend ist. Mit meiner Körperbewegung im Raum kann ich den Standort wechseln und damit auch eine veränderte Perspektive einnehmen. Ich sehe auf einen Blick das Ganze, bei näherem Hin-Sehen werde ich gewahr, dass ein Etwas im Vordergrund des Bildes steht, anderes nur schemenhaft im Hintergrund, vor dem das zentrale Objekt postiert ist. Und mit dem Sichtbaren ist mir immer zugleich das nicht Sichtbare, das Un-Sichtbare gegeben. Es wird sinnlich wahrnehmbar abgeblendet: verschwiegen, unsichtbar gemacht. Schließlich: Ich bin beim Sehen nie allein und nicht nur im Augenblick, auch wenn ich in der leeren Kirche sitzen sollte. Denn inmitten einer Kultur massenmedial verbreiteter Bilder kann ich nicht mehr naiv von meiner momentanen subjektiven Wahrnehmung als einem isolierten Prozess ausgehen. Meine Augen und Ohren und alle Sinne sind kanalisiert von medialen Klischees. Bildangebote haben meine und unser aller Bildwahrnehmungen immer schon wirkkräftig vorgeprägt, gelenkt und verstellt. Damit verlaufen Gestaltwahrnehmung und Sinnerschließung auch im Raum der Kirche z. T. immer schon vorformatiert. Im Mittelpunkt meiner Wahrnehmungen standen plastische Gestalten des Kreuzes. Zu sehen war und ist dabei nicht ein Kreuz an sich, nicht die Idee des Gekreuzigten sozusagen. Sondern die Wahrnehmung führte stets an eine inkorporierte Gestaltung eines Kreuzes, das erst durch diese Kombination von plastischen Gestaltelementen und in räumlich situierten Kontexten diese oder jene Wahrnehmung ergibt, von da aus Wirkungen auf die Betrachter ausübt. Zu sehen ist in alledem nicht ein abstraktes Thema der christlichen Theologie, sondern es begegnet uns immer nur eine inkorporierte und sinnhafte Ausdrucksgestalt. Nie treffen wir auf die bloße Idee des Kreuzes, immer auf ein konkretes Kreuz. Die Betrachtung geschieht jeweils in der wechselseitigen Erschließung von Körper zu Körper, selbst da, wo im aus© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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gewählten Spezialfall das corpus Christi nur als abwesender präsent ist. Damit tragen die Kreuzgestalten und ihre Wahrnehmung unter den Bedingungen spätmoderner Welterfahrung ein theologisch notwendiges Moment der Verleiblichung des Glaubens ein.1 Zugleich steht auch die Erschließungskraft der Materialität für die Theologie neu zur Debatte.2 Für eine Theologie, welche neu nach wirksamen Vermittlungswegen der Botschaft sucht, scheint es mir wichtig, die Prozesse der Sinnentschlüsselung und der Sinnfindung als einen Teil der theologischen Aktivität von Menschen zu begreifen. Der Gestaltansatz setzt nicht ein beim Entziffern von Texten der religiösen Tradition, aber er leistet gleichwohl einen wichtigen Beitrag zur theologischen Hermeneutik. Wie hängen Gestaltwahrnehmung und Sinnverstehen zusammen? Ich skizziere die Antwort auf zwei Ebenen, zunächst stärker inhaltsbezogen christologisch, sodann stärker formal-hermeneutisch: Zum Einen: In vielen Einzelmomenten ist in den vorangegangenen Kapiteln angesprochen worden, wie Menschen in ihrer Wahrnehmung einer konkreten Kreuzesgestalt ästhetische Phänomene als Impulse zur Sinnbildung erlebt haben, in ihrer Kommentierung auch mitunter neue Sinn-Bilder im Rahmen der KreuzesTheologie kreieren. Im Kapitel »Kompetent für das Kreuz« sprechen Pfarrerinnen und Pfarrer diesen Zusammenhang konkret an. So Carsten, der das kleine Gestaltungsmoment des Zwischenraums zwischen Wand und Wandkreuz theologisch kommentiert: »Dieser kleine Zwischenraum ist für mich ein Sinnbild, dass es nach dem Kreuz weitergeht. Ja, es klebt nicht an der Wand, wie so viele andere Kreuze.« So Ralf, wenn er die unpräzisere Form in eine deutliche Verbindung zu seiner Theologie bringt. Die nur schemenhaft angedeutete Gestalt gibt ihm eher Offenheit im Hinblick auf den Auferstehungsgedanken, es ist »die offene Form, die mir Raum gibt«. Das Potenzial zur individuell-theologischen Resonanz zu non-verbalen Gestalten reicht auch an die Grenze menschlicher Darstellbarkeit der logischen und theologischen Widersprüchlichkeit des Kreuzes. Das bringt, wie im Kapitel »Einem Kreuz begegnen« näher beschrieben, einer der Studierenden, Stefan, gut in Worte: »Genau diese Zwiespältigkeit sehe ich im Kreuz. Die zwei Materialien decken die zwei Seiten eines jeden Menschen auf. Wenn aber der Mensch seine ›Lichtseite‹, wie das Gesamtwerk Kreuz, also die helle warme Erde im Mittelpunkt hat, dann hat er den gerechten und guten Weg gefunden. Die Sünde, also die dunkle Seite, umgibt sie zwar, aber im Mittelpunkt seines Inneren stehen das Licht und die Wärme. Das bildet also nicht nur den Mittelpunkt der paulinischen Theologie oder des Christentums, sondern auch die Mitte des Menschen.« 1

Gegen die »Körperlosigkeit« der Theologie hat Y. Spiegel, Glaube wie er leibt und lebt, Teil 3 Bilder vom neu er­standenen Leben, München 1984, zu entwerfen versucht. 2 Vgl. dazu die gründliche empirische Untersuchung von I. Mädler, Transfigurationen. Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive, Gütersloh 2006. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Gerade die Beschäftigung mit bestimmten visuellen Gestalten des Kreuzes bringt theologisch Gebildete an die Grenze der Sagbarkeit der Botschaft vom Kreuz. Gegenüber der Sprache, zumal der begrifflichen Sprache dogmatischer Lehrbildung, sind mit gestalterischen Mitteln zum einen die Ambivalenzen, die Gleichzeitigkeit kontradiktorischer Momente (etwa der Zwei-Naturen-Lehre) ohne denotative Eindeutigkeit, aber gleichwohl viel deutlicher ins Bild gesetzt. Im Extremfall kann mit Gestalt-Mitteln sogar die Durchbrechung der Gestalt ausgedrückt werden, wie ich dies am Beispiel der »Black Paintings« angesprochen habe (vgl. das Kapitel »Das Wort vom Kreuz«). Solche Darstellungsmöglichkeiten sind zumal in einer Situation von Belang, da überkommene dogmatische Sprache ihre Verständlichkeit für viele verloren hat. Die Annäherungen und Begegnungen mit visuellen Gestalten, von denen in einzelnen Kapiteln die Rede war, belegen allerdings, dass hier nicht ein simples Konkurrenzverhältnis oder ein Nacheinander lehrhafter Aussageformen und visueller Gestaltung anzunehmen ist. Für theologische Einsicht gehören sprachliche Formen, sprachliche Bilder und bildhafte Metaphern zusammen. Erst im Wechselspiel entwickeln sie theologische Produktivität, in Ergänzung wie in der Infrage-Stellung. Zum Anderen: Wenn Gestalt ein Wahrnehmungsphänomen ist, dann zielt der Gestaltansatz auf Stärkung der Wahrnehmung, indem jene als Moment des Verstehens aufgewertet wird. Denn Wahrnehmung der Gestalt meint nicht eine dem Deuten vorgelagerte quasi sinnleere Aktivität des puren »Sammelns«. Mit dem Gestaltansatz ist die Frage nach der Sinnerschließung keineswegs »für später« verschoben. Sinnkonstitution wird hier nicht über einen bewusstseinstheoretischen oder interpretationistischen Zugang zum Phänomen avisiert, sondern Wahrnehmung der Gestalt meint immer schon Wahrnehmung als Struktur. Gestaltpsychologie und Gestalttheorie haben dem differenzierte Einsichten hinzugefügt. Menschen nehmen die Dinge um sie herum gestalthaft wahr, d. h. ein etwas als eine Figur insgesamt, als ein Gebilde, in dem Umrisse, Material und andere Formelemente sinnhaften Ausdruck vermitteln. Dieser strukturbestimmte Zugang wurde insbesondere von Merleau-Ponty weiter ausgearbeitet. Diese blieb für den phänomenologischen Gestaltbegriff maßgeblich (vgl. dazu das Kapitel zu Gestalt und Gestaltwahrnehmung). Vom Thema der Gestalten des Kreuzes sind solche Einsichten in den Zusammenhang von Wahrnehmung und Sinnbildung für unser Thema besonders relevant. U. a. im Kap. »Kreuz-Gestalten« habe ich einzelne Objekte in dieser Perspektive näher zu erschließen versucht. Sie kann zeigen, dass gerade in Bezug auf visuelle Gestalten des Kreuzes gilt, dass Sinnbildung über sinnliche Wahrnehmung mit Gestaltwahrnehmung zusammenhängt. Die Formgebung eines Künstlers ist kein Akt der Illustration eines zuvor für sich existierenden Sinnes. Entsprechendes gilt für das Formverstehen von betrachtenden Menschen. Für theologisches Verstehen können Strukturwahrnehmungen zu Kreuzesgestalten und Textverstehen biblischer Rede vom Kreuz einander ergänzen und kommentieren. Sie stehen im Sinne des fleischgewordenen Logos (Joh 1,14) in einem Korrespondenzverhältnis. Für beide gilt: Der Glaube überschreitet das Sagbare. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Aus dem Gestaltansatz folgt für Theologie ein hermeneutisch wichtiger Impuls, auf den auch schon Tillich und von Balthasar deutlich verwiesen haben: Der Gehalt liegt nicht hinter der Gestalt, sondern in ihr. Dies ist in einzelnen Stationen im Band konkret durchbuchstabiert worden, es wäre auch im Blick auf textuelle und sprachliche Phänomene stärker zu würdigen. Denn auch die wollen nicht nur als Text entziffert werden, sondern zugleich als Gestalt wahrgenommen werden. Hier kann Tillichs Programm der »Gestalten der Gnade« aufgenommen werden, denn es impliziert auch die Überschreitung einer auf »Gestalten des Wortes« zentrierten Haltung hin auf stärkere Beachtung anderer kultureller Symbolwelten. Neuerdings hat U. Körtner gerade in der Gottesdiensttheologie unter der Perspektive »Gestalten des Wortes« eine Öffnung symbolisch-liturgischen Handelns avisiert.3

12.1.2 Ästhetik des Kreuzes und Verhalten zur Welt Das Kreuz, an dem Jesus von Nazareth nach kurzem Prozess der römischen Obrigkeit zu Tode kam, war das Resultat einer politischen Praxis, ein jämmerlicher Tod am Schandmal. Für die theologische Deutung dieses Ereignisses, etwa für eine »Theologie des Wortes vom Kreuz«, wie Paulus sie zu entfalten versuchte, stellt das Kreuz ein »Skandalon«, ein Ärgernis ersten Ranges, dar. M. Luther hat unter Bezugnahme auf Paulus scharf gegen eine Entleerung dieser Seite des Kreuzes mittels einer »theologia gloriae« polemisiert. So stehen die in einzelnen Kapiteln beschrieben Versuche, sich mit künstlerischen Gestalten des Kreuzes heute ins Verhältnis zu bringen, theologisch vor der immer wieder gestellten Frage, ob das denn angesichts der Schärfe und Härte des Kreuzes von Golgatha innerhalb christlicher Kirchen überhaupt zulässig sei und Glauben befördere. Die Heils-Botschaft vom Kreuz ist in der Geschichte des Christentums immer wieder vorzugsweise als Appell zu ethischer Praxis gedeutet worden, formelhaft zugespitzt im Schlüsselsatz Zinzendorfscher Frömmigkeit: »Das tat ich für dich, was tust du für mich?« 4 Die kritische Rückfrage, ob es neben dem ethischen Verhalten für Christen erlaubt sei Kunst zu genießen, gilt im Raum der Kirche generell. Sie gilt aber zweifellos verschärft im Blick auf das Thema »Kreuz«. Und sie hat biblisches Alter, denn sie klingt der Sache nach schon in der Passionsgeschichte an, in der Szene der Salbung in Bethanien: »Wozu diese Vergeudung? Dieses Wasser hätte mögen teuer verkauft und den Armen gegeben werden.« (Mt 26, 8) Bekanntlich gibt Jesus eine klare Antwort. Damit ist theologisch gesprochen das Verhältnis des Glaubens zur ästhetischen Praxis von Menschen berührt, und zwar am Punkt des scheinbar größten Dis3

U. Körtner, Gestalten des Wortes, in: H. Chr. Schmidt-Lauber u. a. (Hg.), Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 706 ff. 4 Dabei ist der Umstand bemerkenswert, dass Graf Zinzendorf diese Maxime dem KreuzigungsBild Domenico Fettis verdankt, auf dem der Satz als Unterschriftszeile stand. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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senses. Die biblischen Passionsgeschichten sind nicht mit Blut geschrieben, wie die Horrorbilder von Mel Gibson, aber sie verharmlosen nichts. In meiner Auswahl der modernen Kreuze, zumal in den künstlerisch ausgestalteten, scheint dieses schwere Element auf den ersten Blick verloren gegangen, das noch in Grünewalds Bild deutlich zu sehen ist und worauf M. Luther in seiner prägnanten Übersetzung des Jesajabuches verweist: »Er hatte weder Gestalt noch Schöne«. Nun wird man nicht bestreiten können, dass gegenwärtige Gestaltung von Kreuzen, zumal in der Alltagsverwendung als Ornament, Emblem oder Schmuckkreuz, oft nur ein glattes, harmloses und problemloses Zeichen bietet, bei dem nichts von der Anstößigkeit der Passion Christi mehr zu entdecken ist. Allerdings gilt das nicht unbeschränkt. An der Anstößigkeit juristischer Dekrete von der Wirkungslosigkeit der öffentlichen Kreuzesdarstellungen kann Kirche nicht vorbeigehen. Und für theologische Erschließung der Kreuzestheologie kommen wohl andere Objekte in Betracht. Der visuelle Ausdruck der von mir herangezogenen Kreuzgestalten ist nicht mit dem platten Prädikat »schön« zu belegen, betrachtet man etwa das Altarkreuz von Madeleine Dietz (vgl. das Kapitel »Einem Kreuz begegnen«) oder gar das Beispiel der »Black Paintings« von Ad Reinhard (im Kapitel »Das Wort vom Kreuz«). Denn diese zeigen das Kreuz nicht glatt und eingängig, sondern in eigenwilliger, ungewohnter Gestalt und in neuer Perspektive, damit stellen sie vertraute Darstellungen infrage. Im Extremfall thematisieren sie Verzicht auf Gestalt mit gestalterischen Mitteln. Wie verhalten sich Menschen zum Kreuz? Viele meiner Erkundungen sprechen dafür, dass von den Kreuzgestalten heute nicht mehr direkt (wie bei Zinzendorf) ein ethischer Appell zur tätigen Veränderung der Welt ausgeht, sehr wohl aber Impulse zur Resonanz. Sie laden zum Verzicht auf Handeln ein, zur Beschaulichkeit, zur meditativen Haltung. Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat auch die protestantische Theologie die Ästhetik als wichtigen Partner neu entdeckt. Das kann hier nicht entfaltet werden.5 Ein wesentliches Moment dabei besteht darin, religiöse und ästhetische Erfahrung in ihrer qualitativen Nähe, als Erschließungs-erfahrungen zu beschreiben. Ein anderes wichtiges Moment liegt darin, dass ästhetisches Weltverhalten gerade als Lebensmodus der im Glauben Befreiten beschrieben werden kann. Das gilt direkt wie indirekt. Direkt sind Menschen dazu befreit, in künstlerischen Darstellungen und Rezeptionsprozessen des Kreuzesgeschehens nicht mehr das Kreuz Christi selbst tragen zu müssen (wie sie das auch mit menschlicher verbaler Theologie nicht tun müssen). Vielmehr sind sie aufgerufen und von ihrer anthropologischen Konstitution auch dazu begabt, mit nie anschließbarer Fantasie und Imaginationsvielfalt Gestaltbildungen und -deutungen des Kreuzesereignisses zu geben. Und zwar solche, in denen ihr Glaube an Kreuz und Auferweckung authentischen Ausdruck finden kann bzw. andere Menschen zu solchem Ausdruck provozieren kann. Dazu gehört es allerdings auch, sich dem Irritierenden und mitunter höchst Verstörenden in moderner Kunst auszusetzen. Wo über Generationen eingeschliffene und gewohnte sprachliche Gestalten der Passions5 Vgl. exemplarisch A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, München 1987. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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geschichten oft nur mit großen Schwierigkeiten das Skandalon des Kreuzes ansagen, da kann bildhafter Ausdruck Neues an der bekannten Botschaft eröffnen. Indirekt, also auch über das Thema Kreuz hinaus, gilt, dass neben dem Wirklichkeitssinn auch der Möglichkeitssinn eine christliche Tugend darstellt. Ethisches Weltverhalten und das Streben nach verantwortlicher Lebenspraxis wird vom ästhetischen Weltverhalten, welches die Pflichtenorientierung temporär suspendiert, keineswegs ausgehebelt, sondern durch neue und ungewohnte Sehweisen des Bekannten gerade inspiriert, auch durch kritische Verfremdung der gewohnten Darstellung von Realität. In der nachchristlichen Epoche und unter der Dynamik des religiösen Marktes haben wir keine Sicherheit, dass wir inmitten der kunterbunten Zeichenwelt banaler alltäglicher Kreuze ein Kreuz mit religiösem Tiefsinn finden. Wir können es nur erproben. So gesehen, würde das Sehen zu einem Element im Prozess des Glaubens werden.

12.1.3 »Crux probat omnia« »Crux probat omnia« behauptete M. Luther doppelsinnig.6 Das habe ich aufzunehmen versucht, indem in einzelnen Studien die Mitte christlicher Theologie als Testfall auf phänomenologisch orientierter Theologie zu erschließen versucht wurde. Theologisch geschulte Leser und Leserinnen werden von da aus zum Programm einer Gestalttheologie des Kreuzes vermutlich spontan ein kräftiges »Ja, aber …« sagen. Ja: das Thema ist zentral: »Crux probat omnia«, das Kreuz ist der Prüfstein für alles, alles muss sich am Kreuz bewähren. Aber: so der gegenläufige Gedanke, was sollen da Bilder und ästhetische Gestaltungen? Gilt nicht mit der scharfen Formulierung Luthers aus der Heidelberger Disputation: »Der Theologe des Kreuzes sagt, was wirklich ist.«7? Der am Kreuz orientierte Theologe sagt, was Sache ist und der Glaubende soll hören. Nur zu vertraut ist protestantischen Theologen und Theologinnen diese Korrespondenz zwischen Sagen und Hören. Was hat eine kritische Theologie des Kreuzes von nicht-sprachlichen, bildhaften Darstellungen? Sich mit bildlichen Darstellungen vom Kreuz zu beschäftigen, scheint für ikonoklastische Traditionen des Protestantismus gewichtige biblische und theologische Warntafeln zu missachten. Wiederum in den Worten Luthers ausgedrückt: »Christi Reich (ist) ein Hör-Reich, nicht ein Sehe-Reich. Denn die Augen leiten und führen uns nicht dahin, da wir Christum finden und kennen lernen, sondern die Ohren müssen das tun.«8 Und doch: Gerade, wenn man dem Gestaltbegriff theologisch nachgeht, kommt man, wie im Kapitel »Gott als Gestalt denken« entfaltet wurde, nicht zufällig zurück an den Mittelpunkt der Theologie, an das Kreuz Christi und an seine frühesten 6 Luther, WA 5,179,31. 7 »Theologus gloriae dicit, Malum bonum, (et) bonum malum, Theologus crucis dicit, id quod res est.« (21. These der Heidelberger Disputation von 1518). 8 Luther, WA 51, 11. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Deutungen im Neuen Testament. Ein theologisch reflektierter Gestaltbegriff hat in der Christologie von Phil 2, 5 im Vorgang der Kenosis, der Verhüllung der Göttlichkeit in der Gestaltwerdung des leidenden Jesus Christus seine biblische Wurzel. Dieses »Leerwerden« kann mit Mitteln der Gestalt-Reflexion als ein ästhetischer Vorgang begriffen werden, der insbesondere eine negative Ästhetik umfasst. In dieser Problematik ist die offenbarungstheologische Denkfigur »Das Wort versus die Sichtbarkeit innerweltlicher Dinge« notwendig zu verschränken mit einem Neuverständnis theologischer Ästhetik: »Die Gewährung von Nähe in verborgener Gestalt und der Entzug, Anwesenheit und Abwesenheit gehören in der Offenbarung dia­lektisch zusammen«.9 Solche ästhetisch-theologische Reflexion hat der Reformator Luther in seiner Zeit nicht über Bilder oder Bildgebrauch eingeholt. Allerdings hat er sie in seiner theologia crucis gar nicht im Blick gehabt. Im Übrigen wird immer wieder unterschätzt, dass Luther bei aller Kritik am Missbrauch des Bildgebrauchs bildtheologisch dachte und argumentierte. Es war M. Luther, der in einer theologischen Auseinandersetzung um die Sakramente notierte, wie sehr menschliches Verstehen angewiesen auf bildhaftes Denken ist. Deshalb zögerte Luther nicht, diesen Zugang auch für menschliches Verstehen des Kreuzesgeschehens als ebenso unvermeidlich wie sinnträchtig zu empfehlen.10 Und das tat er nicht nur einmal.11 So gilt mit Zink insgesamt: »Luthers Verständnis des Evangeliums traut dem Individuum prinzipiell die Fähigkeit zu recht mit Bildern umzugehen.«12 Worin liegt das theologische Interesse an Gestalt? Es bezieht sich auf den Sachzusammenhang von Gestalt-Wahrnehmung wie auch auf den Gestalt-Begriff. Im Durchgang durch wichtige ältere und jüngere Etappen der Theologie, so zeigte sich, muss ein negativer Befund festgehalten werden: Es gibt keinen exklusiv oder spezifisch theologischen Gestalt-Begriff im sprachlich-etymologischen Sinne. »Gestalt« wurde in der Theologie in allen für christliche Traditionen maßgeblichen Sprachen aus dem allgemeinen Sprachgebrauch übernommen und in Dienst gestellt. Damit ist allerdings ein theologisches Interesse an »Gestalt« nicht erledigt. Der Gestaltbegriff ist theologisch relevant in der Erschließung des Ästhetischen, inhaltlich und kategorial. Christliche Theologie, zumal als Kreuzes-Theologie, handelt von Erscheinungen Gottes in Gestalten der Offenbarung. Das sind aber Gestalten   9 P. Biehl, Religionspädagogik und Ästhetik, in: JRP Bd. 5, Neukirchen-Vluyn 1989, 18. 10 Vgl. dazu das Kapitel »Das Auge sollte ein Lehrer der höheren Wahrheiten werden« in diesem Band. 11 Vgl. M. Plathow, Bildhafter Glaube. Martin Luthers Theologie in Bildern, in: ders., Freiheit und Verantwortung, Erlangen 1996, 329–349. 12 M. Zink, Theologische Bildhermeneutik. Ein kritischer Entwurf zu Gegenwartskunst und Kirche, Münster 2003, 309. Hilfreich für ein bildtheologisch erneuertes Verständnis Luthers scheint mir auch der Ansatz einer »Theologie der Sinne« des dänischen Theologen S. Bjerg. Er nimmt Luther in Anspruch für die Grundthese: der »falsche Bildsinn muss gestürmt werden, damit ein Weg freigelegt werden kann für eine authentische Theologie der Sinne«, ders., Synets teologi (= Theologie der Sinne), Fredriksberg 1999, 19 (Übersetzung HGH). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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nicht im Sinne idealer schöner Gestalt des griechischen Ideals, sondern auf der Linie von Jes 52 und Phil 2 als verhüllte Offenbarung von Gottes Herrlichkeit, also in der Spannung von Offenbarung und Verhüllung und in der Spannung von Manifestation und Durchkreuzung, der kritischen Negation des in Erscheinung Tretenden. Das Interesse der Theologie an Gestalt zielt in religionskritischer Hinsicht also nicht auf Verabsolutierung endlicher Gestalten zum Unendlichen, wohl aber auf Reflexion von Gestalt-Erfahrungen als Teilmoment der Theologie. Es bleibt gewiss ein Wagnis nach bekannten und gewichtigen religionskritischen Einsprüchen gleichwohl im theologischen Interesse die Augen aufzumachen und die Sinne zu gebrauchen. Ein Wagnis, zu probieren nicht nur das Wort wahr zu nehmen, sondern in diesem Interesse zugleich bei der Wahr-Nehmung der Gestalt des Kreuzes ansetzen zu wollen. Das Wagnis nutzt nicht nur die medientheoretische Einsicht, dass Bilder immer auch Macht ausübten und politischen Sprengstoff beinhalteten. Und das gilt, wie im Kapitel zum Kreuz im Rechtsstreit genauer ausgeleuchtet wurde, gerade für die öffentliche Darstellung des Kreuzes. Mein Wagnis geschieht zugleich aufgrund der theologischen Voraussetzung, dass die flotte und probate Ablehnung visueller Zugänge zur Kreuzesbotschaft einer näheren Betrachtung nicht Stand hält.

12.2 Gestaltungsaufgaben in Handlungsfeldern Alle (Praktische) Theologie soll praktisch werden. Vom Umgang mit dem Kreuz in ästhetischer Praxis war schon die Rede. Aber zu welcher Praxis lädt der GestaltImpuls Theologinnen und Theologen konkreter gesprochen ein? Wozu befähigt er oder nötigt gar? Hier ist in den letzten Jahrzehnten einiges erarbeitet worden, das erinnernd und weiterführend aufgenommen werden soll. Ich konzentriere mich auf die drei kirchlichen Grundfunktionen von Beraten, Verkündigen und Lehren, versuche die grundsätzlichen Perspektiven zu notieren und auch praxisbezogene Handlungsimpulse zu geben.

12.2.1 Gestaltwahrnehmung in der Seelsorge Der Gestalt-Impuls hat bereits wichtige Fortschritte innerhalb der Pastoraltheologie erbracht. Dabei muss das Feld der Seelsorge zuerst genannt werden. Für viele Pfarrerinnen und Pfarrer steht der Schlüsselbegriff »Gestalt« seit etwa dreißig Jahren für eine erneuerte seelsorgerliche Begegnungspraxis unter Aufnahme von Prinzipien und Haltungen der Gestalttherapie von F. Perls und der integrativen Therapie von H. Petzold.13 Die Rezeption dieser Ansätze, zuerst in der US-amerikanischen Pastoral13 Vgl. zum Ganzen D. Rahm, Gestaltberatung. Grundlagen und Praxis Integrativer Beratungsarbeit, Paderborn 1986. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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psychologie vorangetrieben, stellte und stellt eine wichtige Innovation für seelsorgliches Handeln dar, welche aus einer älteren fruchtlosen Alternative herausführte. Seelsorge nach der Erweiterungsmöglichkeit mittels gestalttherapeutischer Impulse ist nicht mehr gefangen in der unfruchtbaren Entscheidungsfalle, zwischen evangelischer Belehrung des ratsuchenden Individuums einerseits und den methodisch gut begründeten, aber theologisch unterbestimmten Konzepten interpersonaler Beratung (»Seelsorge als Gespräch«) andererseits wählen zu müssen. Gegenüber solcher Vereinseitigung führt eine von den praktischen Prinzipien der Gestalttherapie befruchtete Begegnungspraxis weiter, insofern die erweiterte Wahrnehmung des »ganzen Menschen« als Leib-Seele-Einheit im Erlebenskontext des Alltags die Engführung verbalistischer Seelsorge aufbrechen kann. Als hilfreich zur Realisierung dieses Ansatzes empfanden es führende Vertreter der Gestaltseelsorge wie K. Lückel14 und M. Klessmann15 als sinnvoll, Grundideen und methodische Elemente insbesondere aus der Gestalttherapie aufzunehmen. Die Stärke liegt vielleicht weniger in begrifflicher Reflexion als vielmehr in Impulsen und konkreten Hilfestellungen zur Einübung einer die seelsorgerliche Begegnung erneuernden Haltung. Diese Haltung entspricht jedoch, wie verschiedentlich aufgezeigt worden ist, dem von H. Luther beschriebenen Spannungsfeld des Evangeliums zwischen Gestalt und Fragment. Im Unterschied zu klassischen, an C. Rogers orientierten, Gesprächstechniken setzt gestalthafte Wahrnehmung andere Akzente und führt auch bestimmte Interventionen ein. Im Ansatz der seelsorglichen Praxis rücken signifikante Besonderheiten oder gar Störungen des Körperausdrucks in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dazu gehört Achtsamkeit nicht nur auf das, was gesagt wird, sondern auch darauf, wie es gesagt wird (Auftreten im Raum, Atem; Umgang mit Blickkontakt, ein gebeugter Rücken, Fußstellung etc.) und das, was nicht gesagt wird. Entlang solcher Phänomene versucht der seelsorgliche Dialog auf inter-subjektive Weise lebensgeschichtlich bedingte Einschränkungen und Blockierungen, Hintergründe aktuellen Konflikterlebens (»Blockierungen der Gestalt«) bewusst zu machen. Zum methodischen Instrumentarium zählt weniger die diskutierende Rekonstruktion, als eher die eben auch leib-haft erfahrbare Verlebendigung von aufgeschichteten Erfahrungen durch Traumarbeit, Imaginationsübungen, fiktive Rollenübernahme und dramaturgische Inszenierungen. Ansatzpunkt ist immer wieder das ganzheitliche Wahrnehmen und Erleben der Person im Hier und Jetzt, der »Kontakt« mit der Gestalt. Ihr Ziel liegt im Versuch fortschreitender Integration abgespaltener Erfahrungselemente (»Schließung von Gestalten«) und in der Veränderung des Selbst durch Einbeziehung neuer, bisher nicht wahrgenommener Anteile: »Veränderung ereignet sich, wenn jemand der wird, der er ist, nicht, wenn er versucht, der zu 14 K. Lückel, Begegnung mit Sterbenden, Mainz 1981. 15 M. Klessmann, Gestalttherapie in der Klinischen Seelsorgeausbildung, in: WzM (1981), 33 ff., vgl. ferner K. H. Ladenhauf, Integrative Gestalttherapie in der Ausbildung von Seelsorgern und Religionspädagogen, in: WzM (1981), 2 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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werden, der er nicht ist.«16 (Vgl. dazu insgesamt das Kapitel »Gestalt und Gestaltwahrnehmung«, insbesondere den Abschnitt 4.4.2 Gestalttherapie). Die spezifische Aufgabe des Seelsorgers und der Seelsorgerin in diesem Konzept liegt nicht in direktiver Intervention. Gleichwohl spiegelt der Seelsorger nicht nur, er/ sie gibt, wenn der Prozess gelingt, Raum zur Selbstwahrnehmung. »Ob der Träumende ein Gespür für seine Träume entwickeln kann, ob er sich auf den Dialog mit sich selbst einzulassen wagt, ob er das Geträumte nachzusprechen, neu zu sprechen und überhaupt auszusprechen bereit ist …, dies alles ist mitbeeinflußt von der Atmosphäre der Gesprächssituation, von den verbalen und nonverbalen Interventionen und Reaktionen, m.a.W. von dem Gespür, das der Seelsorger für den anderen entfalten oder nicht entfalten kann.«17 In der theologischen Diskussion dieser Ansätze habe ich bereits darauf verwiesen, dass eine der Gestalttherapie zugrunde liegende Anthropologie von »Integration, Ganzheit und Selbstverwirklichung« (Petzold) nicht unproblematisch ist. Zu den Prinzipien des »Gestalt-Schließens« im seelsorgerlichen Kontakt zählt allerdings in der entsprechenden Seelsorge ausdrücklich auch, wo notwendig, das Akzeptieren der Unabschließbarkeit von Gestalten im Sinne von H. Luthers Fragment-Gedanken, und dies nicht nur in der Sterbeberatung bzw. der Trauerseelsorge an Hinterbliebenen. Die gestalttherapeutisch orientierte Seelsorge hat aufs Ganze gesehen schwerpunktmäßig wohl eher in Richtung auf Praxis-Innovation gewirkt.18 Impulse zu theologischer Reflexion sind am ehesten im Bereich einer leib-bezogenen erweiterten Hermeneutik nachzuzeichnen, wie sie insbesondere in der bibliodramatischen Arbeit unternommen wurde.19 In dieser Richtung habe ich im Kapitel »Einem Kreuz begegnen« einige Übungselemente zur Erschließung einer Kreuzskulptur aufgenommen, welche auf interaktive und geist-körperbezogene Erschließung zielen.

16 A. R. Beisser, The Paradoxical Theory of Change, in: J. Fagan/I. L. Shepherd (Hg.), Gestalt Therapy, New York 1971, 77. 17 K. Lückel, Gestalttherapeutische Traumarbeit in der Seelsorgebegleitung sterbender Menschen, in: WzM 1981, 55 f. 18 Davon geben auch die zahlreichen bei K. Henke/A. Marzinzik-Boness (Hg.), »Aus dem etwas machen, wozu ich gemacht worden bin« Gestaltseelsorge und Integrative Pastoralarbeit, Stuttgart 2005 zusammengestellten Einzeprojekte Auskunft. 19 Vgl. G. M. Martin, Sachbuch Bibliodrama. Praxis und Theorie, Stuttgart ²2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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12.2.2 Predigt und Feier gestalten Schon in der älteren Homiletik tauchte gelegentlich ein dogmatisch akzentuierter Gestaltbegriff auf.20 Immer schon wurde in der Homiletik auf »Sprachgestaltung«21 Bezug genommen, das aber im Sinne eines schwachen Gestaltbegriffs. Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden dann in Predigtforschung wie Predigtvorbereitung Einsichten der Gestalttheorie in Richtung auf einen »starken« Gestaltbegriff aufgenommen. Das kann in dreierlei Richtung verfolgt werden: 1. Eine Predigt hat neben und zusammen mit inhaltlichen Aussagen immer eine Gestalt, verlautet auf der Kanzel als ein u. a. sprachlich gestaltetes Gebilde, das Hörerinnen und Hörern, Gottesdienstbesuchern entgegenkommt. Dieses Geschehen zu analysieren bedarf der empirischen Annäherung an Predigt. 2. Die Predigt vorbereiten und eine Predigt halten stellen unabweisbar Gestaltungsaufgaben. Hier können vom Gestaltimpuls spezifische methodische Innovationen freigesetzt werden. 3. Homiletik als theologische Reflexion auf Predigt schließlich fragt nicht nur nach wirksamer, sondern auch nach angemessener Gestaltung, dies in mehrfachem Sinne. Es geht einmal um die inhaltliche Frage nach den Gestalten von Offenbarung in der Wirklichkeit (etwa mit Tillich gesprochen »den Gestalten der Gnade«), denen die Predigt nachzugehen hätte, zum anderen um die methodische Frage, wie die Gestalt einer Predigt dem Ziel der Verlautbarung des Evangeliums angemessenen gewählt werden kann. In empirisch-homiletischem Interesse hat schon E. Lerle in zahlreichen Arbeiten versucht, gestaltpsychologische Impulse für die Homiletik aufzunehmen.22 Er fragte im Blick auf die Wirkung von Sprache in der Predigt differenzierter, konnte Wirkmechanismen beim Hören und Behalten von Predigten nachweisen (prägnante Ausdrücke und durchsichtig strukturierte Sprachgestalten werden besser erinnert als komplexe Sätze). Auch Rhythmus und Melodie der Stimme haben erhebliche Wirkung auf Behalten oder Vergessen des Gehörten. Von der Predigt als Sprach-Gestalt über die leib-haftige Repräsentanz in der Gestalt eines Predigers erscheint Predigt als die Gesamtgestalt eines Geschehens, das

20 Ich verweise dazu auf die Arbeit von K. Chr. Töpperwien, Zur Theologischen Grundlegung der Predigtgestalt (Diss. theol. Bonn 1958), deren Grundthese lautete: »Gestalt der Predigt ist predigtgemäß, wenn sie in Kontinuität zur menschlichen Gestalt des Ewigen Wortes steht. Um die Gestalt der Predigt zu erkennen, müssen wir darum die menschliche Seinsweise Gottes in Jesus Christus zu erkennen suchen.« 21 M. Haustein, Sprachgestalten der Verkündigung, in: Handbuch der Predigt, (Berlin Ost) 1990, 459– 496, neuerdings auch bei M. Nicol/A. Deeg, Im Wechselschritts zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 20905, 45 ff. 22 E. Lerle, Arbeit mit Gedankenimpulsen, Berlin 1965. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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mir als Hörer entgegenkommt als das Vorgegebene der vorfindlichen Gestalten.23 ­Die Erschließung des empirischen Predigtgeschehens kann und muss also über die Beachtung der Text-Gestalt hinaus erweitert werden.24 Ob gewollt oder nicht, der Prediger/die Predigerin geht als Person in den Prozess des Predigtgeschehens ein. Seine/ihre gesamte Persönlichkeit als leib-haftige Gestalt ist von Relevanz – auch für seine/ihre Ausstrahlung als Prediger und Predigerin. Er/sie predigt mit seiner/ ihrer ganzen Person, mit seiner/ihrer Leiblichkeit. Der junge Vikar mit dem Kindergesicht, der mit großväterlicher Würde im Talar einherschreitet, der Kollege mit dem hektisch-nervösen Augenzwinkern und dem tief zwischen die Schultern eingezogenen Kopf – oft sagen sie mit ihrem Körper etwas ganz anderes als das, was sie eigentlich bezeugen wollen. Für das Predigtverständnis ist der Gestaltbegriff insofern wertvoll, als damit das Ineinander von Erscheinung und Sinn der Sprachgestalt wie des gesamten Predigtgeschehens einsichtig gemacht werden kann. So wird das Missverständnis verhindert, man könne einen zuvor fixierbaren »Inhalt« von einer äußeren »Hülle« trennen. Wenn Wahrnehmung der vorfindlichen Gestalten von Religion immer schon auch aktiv-konstruktive Momente enthält und wenn dem Gestaltbegriff ein prozessuales Moment von Gestalt-Ung zugehört, dann kann der Gestaltansatz in der Predigtvorbereitung zugleich eine Erneuerung homiletischer Gestaltungskompetenz vermitteln. Schließlich führt der Gestalt-Impuls in Bezug auf den Entwurf der Predigt auch wieder zurück zum biblischen Text als einem unerlässlichen Bezugspunkt von Predigt generell. Aber gegenüber historisch-kritisch angeleiteter Textarbeit mit ihrem zergliedernden Instrumentarium fordert Gestalttherapie den Prediger dazu auf, unbeschadet exegetisch differenzierender Kontrolle den biblischen Text als Gestalt wahrzunehmen. Das meint mehr als eine Klärung des eigenen »Vorverständnisses«. Es kann konkret zur Erweiterung der Vorbereitungsschritte führen.25 Indem die Homiletik Gestalt als Leitbegriff einbezieht, können schließlich auch neue homiletisch bedeutsame Gestaltungsperspektiven wie inszenatorischer Praxis26,

23 Vgl. dazu ausführl. H.-G. Heimbrock, Spuren Gottes wahrnehmen. Phänomenologische Impulse für Predigt und Gottesdienst, Stuttgart 2003, darin insbes.»Enzyklopädisches Stichwort« a. a. O. S. 197 ff. 24 Wichtige Anregungen dazu finden sich bei H. Heimbrock-Stratmann, Integrative Pastoralarbeit und Predigt. Eine homiletische Arbeitshilfe in Auseinandersetzung mit Ernst Lange, in: K. Henke/A. Marzinzik-Boness (Hg.), »Aus dem etwas machen, wozu ich gemacht worden bin«, Gestaltseelsorge und Integrative Pastoralarbeit, Stuttgart 2005, 156–171 vgl. ferner J. Ahlmeyer, Versuche gestaltischer Predigtarbeit, (Unveröffentliche Graduierungsarbeit FPI), Düsseldorf 1883; vgl. Ingo Neumann, Gestalttherapie und Predigtarbeit, in: Fritz Kamphaus/Rolf Zerfaß (Hg.), Ethische Predigt und Alltagsverhalten, München, 118–128. 25 Vgl. dazu Heimbrock-Stratmann, a. a. O. 26 S. bereits H. Luther, Predigt als inszenierter Text, in: TheologiaPractica 18, 1983, 89–100; s. neuerdings: Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums, Göttingen 1997 sowie Wilhelm Gräb, Der inszenierte Text, in: IJPT 1997, 209 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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»Performance«27, Fantasie und Improvisationen buchstäblich ins Spiel kommen. Predigt eröffnet dann Perspektiven auf das Reich Gottes als Spielraum der Freiheit – im Angesicht von Leid, Katastrophen und Tod. Das ist gerade für eine nicht gesetzliche am Thema des Kreuzes orientierte Predigt von Belang. Den Gestaltimpuls aufzunehmen ist sicherlich über die Predigt hinaus für die Gestaltung der gesamten Liturgie als »Spielraum der Freiheit« mindestens ebenso möglich und theologisch angezeigt wie für die Predigt. Gottesdienst als »darstellendes Handeln« (Schleiermacher) ist im Protestantismus in mannigfachen Bemühungen der letzten Jahrzehnte theologisch neu zu seinem Recht gekommen. Ich erinnere an die Bewegung der »Lebendigen Liturgie« oder auch den Prozess unter der Formel »Erneuerte Agende«. Soweit ich sehe, hat dabei der Gestaltbegriff im starken Sinne noch keine fokussierende Bedeutung gewonnen, was sachlich jedoch sehr wünschenswert wäre. Ich kann dazu hier nur einen Ansatzpunkt notieren. Es gilt, die These von K.-H. Bieritz »Wort und Antwort ›verleiblichen‹ sich im konkreten liturgischen Geschehen in einer Vielzahl höchst unterschiedlicher Gestalten«28 auch zuzuspitzen auf die gottesdienstliche Feier als Gesamtgestalt. Gottesdienst als gelungene Feier ist nicht einfach eine Abfolge von liturgischen Einzelelementen, sondern soll als »ein Weg« verstanden werden29, zielt auf »ganzheitliche Erfahrung«30. Die Erarbeitung des Grundmodells der viergliedriegen Struktur »Erneuerten Agende« (Eröffnung und Anrufung; Verkündigung und Bekenntnis; Abendmahl; Sendung und Segen) zielte auf Praxis und Theorie von Gottesdienst als »sinnvoll geordnete Dramaturgie«31. »Eröffnung/ Begrüßung; Orientierung; Feier; Sendung« sind nicht nur Strukturmomente liturgiewissenschaftlicher Reflexion, sie können vielmehr zugleich als Elemente einer für die Gottesdienstteilnehmer erlebbaren rhythmisierten Gestalt in Erscheinung treten. Den Gottesdienst als Ritual im Sinne eines kohärenten »sozialen Dramas« im Sinne V. Turners mit einer inneren Logik zu verstehen, hat hier hilfreiche Impulse gegeben, die es gilt, zukünftig weiter auszubauen. Um es konkret zu sagen: Gestaltung des Gottesdienstes als ein Sinn-Ganzes wird darauf achten, dass die Einzelelemente im Erleben der teilnehmenden Menschen neben und mit inhaltlichen Akzenten auch formal eine transparente Strukturierung 27 Vgl. dazu D. Zilleßen, Phänomenologische Religionspädagogik: Diskurs und Performance, in: B. Dressler/F. Johannsen/R. Tammeus (Hg.), Hermeneutik-Symbol-Bildung. Perspektiven der Religionspädagogik seit 1945, Neukirchen-Vluyn 1999, 84–104. Zu methodischen Impulsen vgl. auch Neumann, Gestalttherapie und Predigtarbeit, in: F. Kamphaus/R. Zerfaß (Hg.), Ethische Predigt und Alltagsverhalten, München, 118–128. 28 K.-H. Bieritz, Liturgik, Berlin 2004, 261. 29 M. Josuttis, Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, Gütersloh 1991. 30 K. B. Ritter, Gottesdienst als ganzheitliche Erfahrung, in: D. Stollberg, Liturgische Praxis, Göttingen 1993, 99 ff. 31 Wolfgang Ratzmann, Struktur des Gottesdienstes, in: Chr. Grethlein/G. Ruddat (Hg.), Liturgisches Kompendium, Göttingen 2003, 420. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Gestaltungsaufgaben in Handlungsfeldern223

aufweisen, dass sie als rhythmisiertes Erleben von Einatmen und Ausatmen, von Ankommen, Sich-Vertiefen und Abschied-Nehmen aufgefasst werden können.

12.2.3 Gestalten bilden Die religionspädagogische Thematik ist bereits ausführlich und unter spezieller Fragestellung im Kapitel »Vorstellungen vom Kreuz bilden« behandelt worden. Jetzt sei die Thematik in Richtung auf einen größeren Überblick ausgeweitet. Auch in der Religionspädagogik wurde immer schon didaktisch von Unterrichts-Gestal­ tung im Sinne eines schwachen Gestaltbegriffs gehandelt. Stellt dies zweifellos eine bleibende Aufgabe dar, so hat der Gestaltansatz im starken Sinne des Begriffs wichtige Innovationen erbracht. Versuche dazu mittels Rezeption von Prinzipien und Lernverfahren der »Gestalt-Pädagogik« zeigen das Potenzial zur Erweiterung des Lernverständnisses über Informationslernen hinaus in Richtung auf personale Begegnung, bedürfen aber nicht nur der Vertiefung, sondern auch der kritischen Sichtung (vgl. dazu den Überblick im Kapitel »Gestalt und Gestaltwahrnehmung«, insbesondere den Abschnitt 4.4.3). Die Erschließung des empirischen Unterrichtsgeschehens kann von gestaltpsychologischen Analysen profitieren. Denn diese haben differenzierter aufgewiesen, welche Mechanismen beim Hören und Behalten von Lerninhalten wirksam sind. Diese analytische Perspektive muss heute mittels gestalttherapeutisch orientierter Überlegungen über die Sprach-Gestalt hinaus erweitert werden.32 Ehe ein Unterrichtsinhalt kognitiv verarbeitet wird, prägt eine situative Raumgestalt den Lernvorgang. Und alle Demokratisierung des Unterrichtsgeschehens kann nicht daran vorbeilenken, dass in der kindlichen Wahrnehmung die personale leib-haftige Präsenz der LehrerIn-Gestalt von hoher Wirkung bleibt. Von der Sprach-Gestalt über die leib-haftige Repräsentanz in personalen Gestalten bis hin zur Raum-Gestaltung erscheint Unterricht als die Gesamtgestalt eines Geschehens. Dieses kommt den Lernenden als Vorgegebenes entgegen, als vorfindliche Gestalten. Der analytisch-deskriptive Gestaltbegriff verhilft der Religionsdidaktik in dieser Hinsicht zur Steigerung ihrer Wahrnehmungskompetenz. Auch für eine konzeptionelle Orientierung des Religionsunterrichts kommt dem Gestaltbegriff fokussierende Funktion zu. Man kann die Grundaufgabe der Religionsdidaktik als Vermittlung zwischen (vorgegebenen) Gestalten von Religion und deren gestaltende Aneignung und Inszenierung in Lernprozessen umschreiben. Wenn also ›Gestalt‹ über formale und eher instrumentelle Ansätze hinaus für die Religionspädagogik als fundierender Begriff relevant werden soll, so ist es sachgemäß, eine bildungstheoretische Basis für religiöse Lernprozesse mit zu berücksichtigen.33 In der neueren Religionsdidaktik spielt der Gestaltbegriff dementsprechend ins32 Vgl. H. Petzold/R. Frühmann, Modelle der Gruppe Bd. I, Paderborn 1986. 33 Vgl. dazu H.-G. Heimbrock, Gestalten Bilden. In: Th. Schreijäck (Hg.), Werkstatt Zukunft. Bildung und Theologie im Horizont eschatologisch bestimmter Wirklichkeit, Freiburg 2004, 104–124. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Das Ziel: Gestalt-Theologie

besondere für die Symboldidaktik eine zentrale Rolle. Wie vor allem P. Biehl in seinem Konzept grundsätzlich und mit reichen unterrichtspraktischen Materialien entfaltet hat, gewinnen religiöse Erfahrungen in Symbolen Gestalt. Sie vermitteln sinnlich wahrnehmbare Erscheinung von Religion solche Erfahrungen, gleich, ob in Sprach-Gestalten der Metapher, in materialen Gestaltungen wir sakraler Architektur oder in Handlungsgestalten von Ritualen. Exemplarisch demonstriert Biehl diese erschließende Leistung von Symbolen an der Gestalt der Hand. Komplementär zu vorgegebenen Gestalten ergeben sich hier konkrete Gestaltungsmöglichkeiten. Ansätze »Performativer Religionspädagogik« haben den Gestaltansatz über den Formgedanken stark gemacht.34 Unter Berufung auf P. Biehls Arbeiten haben J. Kunstmann35 und M. Kumlehn36 religiöse Bildung als ästhetischer Bildung neu formuliert und dabei Gestaltdenken aufgenommen. Ein von H. Luthers ästhetisch-kritischem Denken informierter Gestaltansatz kann auch für religiöse Lernprozesse die Wahrnehmungsdimension stärken, und zwar im deskriptiven wie im kritischen Sinne. Die theologische Engführung des ästhetischen Gestaltgedankens in Elementen christlicher Religion scheint hilfreich, wenn in der erziehungstheoretischen Debatte nach dem Spezifikum eines christlich begründeten Religionsunterrichts gefragt wird. Diese Perspektive ist freilich ergänzungsbedürftig wie auch ergänzungsfähig, wenn Religionsunterricht in der öffentlichen Schule der nachchristlichen Gesellschaft nicht einfach nur als Unterricht des Christlichen eingebracht werden kann.37 Ehe hier konkurrierende weltanschauliche Optionen aufeinander prallen, ist ein elementarer Zusammenhang zu berücksichtigen, der gerade mithilfe des Gestaltbegriffs benannt werden kann. Wenn Wahrnehmung der vorfindlichen Gestalten von Religion immer schon auch aktiv-konstruktive Momente enthält und wenn dem Gestaltbegriff ein prozessuales Moment von Gestalt-ung inhärent ist, dann kann ein solcher Ansatz mit der Erweiterung von Wahrnehmungskompetenz zugleich eine Erneuerung ihrer Gestaltungskompetenz hin auf Inszenierung vermitteln. Auch Religionsunterricht erscheint dann als spezifischer »Spiel-Raum«38 des Verhaltens, der nicht nur festes Wissen verschiebt, sondern zugleich zu neuen Gestaltungen des Lebens einlädt. Unterricht als Experimentiertheater zu charakterisieren, scheint dem Ernst der Schule als gesellschaftlicher Zwangsinstitution zu widersprechen. Gemeint 34 Th. Klie/S. Leonhard (Hg.), Performative Religionsdidaktik. Religionsästhetik – Lernorte – Unter­ richts­praxis, Stuttgart 2008. 35 J. Kunstmann, Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse, Gü­ tersloh 2002. 36 M. Kumlehn, Blickwechsel, Gestaltfindung, Experiment und Übung. Lebenskunstkonzepte als Herausforderung einer Religionspädagogik im Spannungsfeld von Ästhetik und Ethik, in: ZPTh 2009, 262–276. 37 Die katholische Katechetik, insbes. A. Höfer, hat dabei für Entfaltung des Religionsunterrichts als ganzheitliches und personales Lernen die Zielsetzung christlicher Persönlichkeitsbildung stark akzentuiert; vgl. zu kritischen Anfragen da Kapitel »Gestalt und Gestaltwahnehmung« oben. 38 B. Waldenfels, Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt/M. 1980. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Praxis als Gestalt225

ist allerdings keine naive und oberflächliche Entertainment-Didaktik des Lehrers als Unterhalter. Denn mit der Gestaltung des Unterrichts als äußerer Bühne kann zugleich wirkungsvoll ein innerer Bildungsprozess angestoßen werden. Unterricht als Inszenierung rückt dabei den Lernenden auf den Leib. »Indem wir uns selbst darin spielen, unseren eigenen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen, Ängsten darin begegnen, nimmt etwas Gestalt an. Gestalttheoretische Einsichten unterstreichen, dass Wahrnehmungen, Erlebnis- und Denkprozesse sich als Rollenspiele auf der inneren Bühne jedes Einzelnen abspielen.«39

12.3 Praxis als Gestalt Im ersten Kapitel habe ich als Zielsetzung dieses Bandes den Beitrag zu einer praktisch-theologischen Hermeneutik des Kreuzes angekündigt. Nach kreuzestheologischen Überlegungen und nach dem Durchgang durch Handlungsfelder möchte ich abschließend im Blick auf die Disziplin insgesamt fragen: Wohin führt dieser Ansatz für ein realitätsorientiertes Modell Praktischer Theologie? Und was könnte der Gewinn für die Wahrnehmung von Religion in »post-säkularen« Alltagskulturen sein? Der Gestalt-Impuls, so meine abschließende These, liefert einen Beitrag zur Erneuerung des theologischen Praxis-Verständnisses insgesamt. Das scheint mir Desiderat in einer Diskussionslage, da der Praxis-Begriff und seine ehedem innovative Bedeutung für das Fach aus dem Blick zu geraten drohen. Unter Praxis versteht man gemeinhin das, was man tut, bzw. das, was man tun soll. Praxis ist keine Erfindung der Theologie, sondern der Wissenschaftslehre generell, er ist dabei zunächst ein formaler Begriff. Für die Theologie hat der Praxis-Begriff seit Schleiermacher die wichtige Funktion, das Ganze der Theologie auf Orientierung an professionellem Handeln auszurichten. Wie im Kapitel zum theologischen Gestaltbegriff oben angesprochen, hat H. Schröer schon vor Jahren den Vorschlag eingebracht, die Disziplin nicht wie üblich am Handlungsbegriff, sondern am Leitfaden des Gestaltbegriffs zu orientieren.40 Soweit ich sehe, fand dieser unorthodoxe Vorschlag Schröers zunächst keine Resonanz. Ich meine aber: Praxis als Gestalt zu begreifen, öffnet den Horizont theologischer Reflexion in mehrfacher Hinsicht. Welches Tun liegt auf der Linie mit der Beschäftigung mit Gestalten des Kreuzes, wie sie in vielen Stationen des Bandes skizziert worden ist? Es sind offenbar nicht in erster Linie Vollzüge handelnder Praxis, keine »action«, um die es hier geht, 39 D. Zilleßen/U. Gerber, Und der König stieg herab von seinem Thron. Das Unterrichtskonzept religion elementar, Frankfurt/M. 1997, 37. 40 H. Schröer, Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung (1986), in: ders., In der Verantwortung gelebten Glaubens. Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Lebenskunst, Stuttgart 2003, 33–46. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

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Das Ziel: Gestalt-Theologie

keine instrumentelle Praxis, mit der ein agierender Mensch in die Realität verändernd eingreift. Die Beschäftigung mit dem speziellen Thema dieses Bandes, mit visuellen Gestaltungen des Kreuzes-Symbols und deren Rezeption, hat immer wieder gezeigt: menschliche Praxis wäre zu eng begriffen, wollte man sie auf zweckmäßiges, instrumentelles Handeln eingrenzen. Praxis schließt auch zweckunabhängiges Sehen, Denken und Verhalten, emphatische Bereiche wie Erleben und Erleiden, Sehnsucht und Schmerz mit ein.41 Menschen vollziehen keineswegs durchgängig subjektgesteuertes bewusstes oder gar verfügendes Handeln. Sie können in spezifischen Situationen auch in Erfahrungen verwickelt, in Grenzsituationen jenen sogar ausgeliefert sein, von ihnen mitgenommen, überwältigt oder gebannt werden. Dieser Ansatz erbringt somit nicht nur eine differenzierende Näherbestimmung religiöser Praxis, sondern zugleich im interdisziplinären Diskurs eine präzisierende Erweiterung des Handlungsbegriffs, die sehr wohl auch in der anthropologischen Debatte über die Theologie hinaus von Belang ist. Der Gestaltbegriff verhilft dazu, menschliche Praxis in erweitertem Sinne zu verstehen. Zum einen gilt die Öffnung hin auf kulturelle Praxis insgesamt. Es gibt – mit Tillichs Kulturtheologie argumentierend – protestantisch gesprochen keine spezifisch »religiösen« Gestalten, auf die Theologie primär verwiesen wäre. Daraus ergibt sich der Impuls für Theologie, ihren Gegenstand jenseits der Enge kirchlicher oder »religiöser« Praxis neu zu bestimmen. Jenseits applikativer Ansätze wird Religion als Gestalt-Praxis in den Blick genommen als notwendige wie stets vorläufige Kette kulturell vermittelter Gestaltungsversuche. Kulturelle Praxis als Gestalten der Kultur muss als Horizont und als Thema von Theologie in Betracht kommen, und zwar nicht nur in Form von Säkularisaten. Den kulturellen Formen ist jenseits solcher theologischen Ableitungs- und Ordnungsversuche ein Eigenleben zuzugestehen, um den Phänomenen gerecht zu werden. Gerade von den Grenzen her ist Kultur, sind Kulturen als das Feld theologischer Reflexion auf Leben und Wirklichkeit hin zu erschließen. Zum anderen gilt die Erweiterung hin auf erlittene Praxis. Dem theologisch rekonstruierten Begriff von Gestalt korrespondiert ein spezifischer Zugang auf Wirklichkeit im Ganzen. Der theologisch-theoretische Anspruch, der in der Kreuzestheologie entfaltet ist, richtet sich auch auf die Frage, wie Praktische Theologie Realität und menschliches Verhalten versteht. Theologie, die sich an Einsichten der Kreuzestheologie orientiert, versteht und eröffnet Realität als die Praxis zwischen gelebter und erlittener Erfahrung einerseits, der Hoffnung auf die Umwandlung der Welt andererseits. Der memoria passionis des Kreuzes entspricht ein »pathisches« Element, nicht nur in der Lebenspraxis, sondern auch innerhalb des Erkenntnisprozesses. Das ist überaus wichtig für eine Methodologie der Praktischen Theologie als Empirische Theo-

41 H.-G. Heimbrock, From Action to Lived Experience. Considering Methodological Problems of Modern Practical Theology, in: H. Streib (Ed.), Religion inside and outside Traditional Institutions, Leiden 2007, 43–59. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Praxis als Gestalt227

logie.42 Theologie kann nur dann als Wirklichkeitswissenschaft bezeichnet werden, wenn sie einen theologisch angemessenen Begriff von Wirklichkeit zugrunde legt. Und der umfasst mehr als eine »Ursache-Wirkung-Logik«. Denn gerade »Leiden ist die Wirklichkeit, auf die Evangelium sich bezieht … Wirklichkeitsverlust entsteht dort, wo wir uns der Wahrheit des Leidens entziehen und so die Hoffnung unrealistisch verankern. In einer formelhaften These ausgedrückt bedeutet das, so wie Luther den Streit zwischen theologia speculativa und practica durch die Frage nach dem Ort und Inhalt der Theologie als Kreuzestheologie reaktiviert: Praktische Theologie kann dem wahren, entscheidenden Wirklichkeitsverlust nur entgehen, wenn sie sich als scientia praxeos crucis begreift.«43 Somit ist der Gegenstand der Praktischen Theologie die christliche Praxis in der Lebenswelt als Aktion und Passion, als Wahrnehmen und Bilden von Gestalten zu fassen, eine Doppelbewegung, die auf einer bestimmten, einfühlenden Wahrnehmungshaltung beruht, von der aus sich in fruchtbringender Weise dann eine neue Phänomenbreite öffnet. Für die Lebens- und Glaubenspraxis derjenigen aber, die sich vom Kreuz her als Christen bewusst im Raum der Kirche verorten, ergeben sich daraus neue Impulse: Das Kreuz wahrzunehmen im phänomenologischen wie im theologischen Sinne heißt von den hier zusammengetragenen Wahrnehmungen und Überlegungen auch die Folgen und Möglichkeiten seiner Geschichte heute neu zur Geltung zu bringen. Dabei müssen theologische Reflexion, künstlerische Inszenierung und gesellschaftlich-politisches Handeln keineswegs unverbunden nebeneinander stehen. Das Kreuz in seiner Dialektik von Gewaltgeschichte und Gewaltüberwindung, seiner lebenschaffenden Kraft heute weiterzugeben heißt nicht nur es zu zitieren, sondern es mit allem Ernst aufzunehmen, es dabei mit Fantasie in je neuem Ausdruck zu variieren und neu zu gestalten.

42 A. Dinter/H.-G. Heimbrock/K. Söderblom (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie (UTB), Göttingen 2007. 43 H. Schröer, Forschungsmethoden in der Praktischen Theologie, in: F. Klostermann/R. Zerfaß (Hg.), Praktische Theologie heute, München/Mainz 1974, 206–224, Zitat 224. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525550526 — ISBN E-Book: 9783647550527

Abbildungen

Abb. 1, S. 23

Schattenkreuz Foto: Mitsuo Matsuoka Katalog Abb. 2, S. 24 Giebelwand des ehemaligen Gemeindezentrums am Bockenheimer Kirchplatz (Frankfurt-Bockenheim) Foto: H.-G. Heimbrock Abb. 3, S. 37 Künstler unbekannt Foto: H.-G. Heimbrock Abb. 4, S. 39 Altarkreuz Friedenskirchengemeinde Schwalbach/Taunus Foto: H.-G. Heimbrock Abb. 5, S. 40 Altarkreuz Lommedalen, Norwegen Foto: David Brooks Abb. 6, S. 41 Kreuz in der Kapelle der Klosteranlage Åkersberg, Schweden Foto: Rune Larsson Abb. 7, S. 43 Installation W. Schmölders im Rahmen der Aktion »Kunst in der Apsis« in der Evangelische Kirche in Meerbusch-Ostherath Foto: Daniel Brunner Abb. 8, 9, 10, S. 46, 47, 49 Kreuz-Installation M. Dietz Ev. Paulus-Kirche Kelkheim Fotos: H.-G. Heimbrock Abb. 11, S. 78 Kreuz als Lebensbaum Künstler unbekannt Abb. 12, S. 80 Kreuz aus: Rabanus Maurus, De laudibus Sanctae Crucis Foto: Österreichische Nationalbibliothek Abb. 13, S. 86 Idol von Pomos Rückseite der 2-Euro-Münze Abb. 14, S. 87 Sarkopharg aus dem Ossuarium in Talpioth, Nähe Jerusalem aus: E. Dinkler, Zur Geschichte des Kreuzsymbols, in: ZThK 48 (1951) Abb. 15, S. 89 Michelangelo Buonarotti, Proportionsskizze zum »vitruvianischen Menschen« Abb. 16, S. 130 Zeichnung von Silvio Foto: H.-G. Heimbrock Abb. 17, S. 131 Zeichnung von Alexander, mit freundl. Genehmigung des Hg. aus: U. Arnold/H. Hanisch/G. Orth (Hg.), Was Kinder glauben. 24 Gespräche über Gott und die Welt, Stuttgart 1997, 334. Abb. 18, S. 134 Aluminium-Kreuz Foto: H.-G. Heimbrock Abb. 19, S. 135 Künstler unbekannt Foto: H.-G. Heimbrock Abb. 20, S. 135 Künstler unbekannt Foto: H.-G. Heimbrock Abb. 21, S. 153 Thomas Virnich, Schlußstein an der Stirnwand der Christus-Kirche St. Tönis Foto: Arno Meier Abb. 22, S. 158 Altarkreuz Friedenskirchengemeinde Schwalbach/Taunus (Seitenansicht) Foto: H.-G. Heimbrock Abb. 23, S. 159 Künstler unbekannt Foto: H.-G. Heimbrock

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Abbildungen229

Abb. 24, S. 171 Abb. 25, S. 196 Abb. 26, S. 201

Ad Reinhardt (1966) Foto: John Loengard Facetten-Kreuz EKHN Medienhaus, Frankfurt/M. Werbeblatt »Glaubenssymbol Facettenkreuz« Referat Öffentlichkeitsarbeit der Kirchenverwaltung der EKHN

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Namensregister

Adam, Gottfried  69 Adorno, Theodor W.  118 Ahlmeyer, Johannes  221 Alkier, Stefan  14, 76, 165, 168 Aquin, Thomas von  99, 106 f. Arnheim, Rudolf  62, 132 Arnold, Ursula  132 Arold, Nina-Louisa  181 Balthasar, Hans Urs von  8, 105–121, 213 Bareis, Alfred  131 Barth, Friederike  101, 103 Barth, Karl  97 f., 105 f., 108 Baumgarten, Alexander Gottliebe  106 Beisser, Arnold  219 Bergmann, Sebastian  51, 110 Beuys, Joseph Heinrich  94, 189 Bialas, Sebastian   88 Bick, Rolf  67, 71 Biehl, Peter  90, 127, 216, 224 Bieritz, Karl-Heinrich  222 Bizer, Christoph  69, 96, 127 Bjerg, Svend  216 Blumenberg, Hans  51 Bocian, Bernd Oliver  67 Bohren, Rudolf   96, 105 Bonaventura 106 Bonhoeffer, Dietrich  100–103 Braungart, Christiane  192 Brown, George  69 Brucker, Ralph  167 Bultmann, Rudolf  106 Calvin, Johannes  82, 99 Charbonier, Lars  207 Clemens von Alexandria  77 Cramer, Winfrid   77 Cranach, Lukas  83 Cyrill von Jerusalem  77 Danz, Christian  111 Deeg, Alexander  96, 220 Dettwiler, Andreas  166, 168 Deuser, Hermann  191, 193, 194, 198 Dichtl, Johanna  126 Diehl, Johannes F.  99

Dietz, Madeleine  46, 210, 214 Dinkler, Erich  77, 87, 88, 90 Dinter, Astrid  14, 31, 227 Drescher, Klaus-Jürgen  71 Dressler, Bernhard  127, 222 Ehrenfels, Christian von  59, 60 f., 108, 114 Ehret, Jean  108 Eliade, Mircea  85 Elsenbast, Volker  127 Embree, Lester  59, 66 Ephraim, dem Syrer  78 Essen, Siegfried   96 Fagan, Joen  219 Fauser, Peter  126 Fermor, Gotthard  195 Fetz, Reto Luzius  131 Fischer, Dietlind  127 f. Fitzek, Herbert  58, 63 Fleischer, Christian  103 Fowler, James W.   128 Franz, Michael  72 Freud, Sigmund  88 Friesen, Hans  172 Frühmann, Renate  223 Fürst, Walter  110 Gastgeber, Karl   96 Geffcken, Johannes  82 Gmünder, Paul  128 Goethe, Johann Wolfgang von  58, 109 Goldstein, Kurt  67 Goodman, Paul  68 Gräb, Wilhelm  207, 221 Graf Zinzendorf  213, 214 Graumann, Carl Friedrich  63 Gregor von Nyssa  79, 91, 93 Grethlein, Christian  222 Groddeck, Georg   88 f. Grözinger, Albrecht  119, 214 Gründer, Karlfried  98 Grünewald, Matthias  34, 81, 117 Habermas, Jürgen  116, 164, 177 Haldimann, August  168

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Namensregister231

Hanisch, Helmut  128, 132 Härle, Wilfried  95 f. Harley, Felicity  77 Hartmann, Wolfgang  103 Hauskeller, Michael  65 Haustein, Manfred  96, 220 Hefferline, Ralph F.  68 Heidegger, Martin  106, 117 Heilmann, Alfons  91 Heimbrock, Hans-Günter  14, 16, 31, 35, 111, 170, 198, 221, 223, 226 f. Heimbrock-Stratmann, Hildegard  221 Heinrich, Klaus  72 Henke, Katharina  219, 221 Herms, Eilert  149, 150 f. Höfer, Albert  224 Holter, Kurt  80 Huber  75, 95 Hummel, Gert   96 Husserl, Edmund  29, 61, 64 Ignatius 90 Irenäus von Lyon  90 Jeffers, Ann  83 Johannsen, Friedrich  222 Jörns, Klaus-Peter  14, 125 Josuttis, Manfred  222 Jüngel, Eberhard  31, 98, 108 Jünger, Ernst  72 Justinius   90 Käßmann, Margot  191 Kaiser Konstantin  77, 81 Kamphaus, Franz  221 f. Karlstadt, Andreas  82 Kierkegaard, Soren  106, 118 Klessmann, Michael   96, 218 Klie, Thomas  224 Klostermann, Ferdinand  117, 227 Knights, Ward A.  96 Koffka, Kurt  61 Köhler, Wolfgang  61, 72, 104 Korsch, Dietrich  194 Körtner, Ulrich  115, 213 Kraft, Heinrich  91 Krausnecker, Dietmar  126 Kriegstein, Matthias von  114 Kumlehn, Martina  224 Kunstmann, Joachim  224 Kutter, Peter  166 Kyrill von Jerusalem  92 Lachmann, Rainer  69

Ladenhauf, Karl Heinz   96, 218 Lämmlin, Georg  16, 96 Lanczkowski, Günter  85 Lange, Ernst  150, 221 Leonhard, Silke  127, 224 Lerle, Ernst  96, 220 Lévinas, Emmanuel  117 Lewin, Kurt  63 Linde, Gesche  191 Lorenzer, Alfred  145 Löser, Werner  106 Lückel, Kurt  96, 218 f. Luther, Henning  119, 121, 218, 221 Luther, Martin  144, 213–216 Luz, Ulrich  166 Madelung, Eva  126 Mädler, Inken  211 Manning, R. R.  115 Martin, Gerhard Marcel  219 Marzinzik-Boness, Annette  219, 221 Meister Eckart   106 Mennekes, Friedhelm  33 Merkt, Andreas  92 Merleau-Ponty, Maurice  64 ff., 212 Metzger, Wolfgang  60 Meyer, Peter  25 Meyer-Blanck, Michael  221 Michelangelo   88 Miller, Michael  71 Moser, Tobias  125 Müller, Burkhardt  14 Murray, Charles  90 Neumann, Ingo  221 f. Nicol, Martin  96, 220 Noß, Peter  126 Oden, Thomas C.  96 Orth, Gottfried  128, 132 Oser, Fritz  128 Otto, Gert  116 f. Pausch, Eberhard Martin  197, 199 Perls, Fritz  67, 68, 217 Perls, Laura  67 Petzold, Hilarion  68 f., 217, 219, 223 Pezzoli-Olgiati, Daria  83 Pfnür, Vinzenz  77 f., 90 f. Plathow, Michael  84, 216 Plüss, David  207 Preul, Reiner  95 Preuß, Horst Dietrich  97

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232Namensregister Rabanus Maurus  80, 92 Rahm, Dorothea  217 Rahner, Hugo  91 Raschzock, Klaus  96 f., 103 f. Ratzmann, Wolfgang  222 Reinbold, Wolfgang  179 Reinhardt, Ad  170 f., 214 Reißer, Ulrich  172 Reppenhagen, Martin  95 Richter, Hans-Günter  131 Rieger, Hans Martin  95 Ries, Julien   85 Rietschel, Christian  33 Ritter, Joachim  98 Ritter, Karl Bernhard  222 Röhrig, Johannes  33 Roos, Simone de  128 Rosenthal, Stephanie  170, 172 Rowland, Christopher  83 Rubin, Edgar  60 Ruddat, Günter  222 Ruthven, Malise  206 Salber, Wilhelm  58, 63 Scharfenberg, Joachim   96 Scharrer, Matthias   69 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  106 Schleiermacher, Friedrich D. E.  222, 225 Schmidt, Joachim  193, 200 Schmidt, Peter W.  196 Schmidt-Lauber, Hans Christoph  115, 213 Schmölders, W.  42 Schneider-Quindeau, Werner  94, 178 Schöll, Albrecht  127, 128 Scholpp, Stefan  16, 96 Scholz, Stefan  164 Schröer, Henning  97, 98, 128, 225, 227 Schumann, Friedrich Karl   58 Schürmann, Petra  65 Schütz, Alfred   117 Schweitzer, Friedrich  128 Schwinger, Reinhold  98 Shepherd, Irma L.  219 Sieper, Johanna  68, 69 Söderblom, Kerstin  14, 31, 227 Spiegel, Yorik  166, 198, 211 Spier, Jeffrey  77

Steinacker, Peter  180 f., 193 f., 204 Sternberger, G.  66 Stoffel, Malte  126 Stollberg, Dietrich  222 Streib, Heinz  14, 226 Stritzky, Maria-Barbara von   77 Sukenik, Eleazar Lipa  87 Tammeus, Rudolph  222 Tamminen, Kalevi  127 Tertullian  77, 90, 92 Tietz-Steiding, Christiane  103 Tillich, Paul  8, 29, 110–115, 120 f., 170, 209, 213, 220 Töpperwien, Karl Christoph  220 Turner, Victor  222 Uhrig, Christian  77 Van’t Zand, Marieke  128 Vattimo, Gianni  164 Waldenfels, Bernhard  29, 45, 64 f., 117, 224 Wassermann, Jakob  71 Weber, Karl-Heinz  167 Weinhandl, Ferdinand  59 Weizsäcker, Viktor von  64 Welsch, Wolfgang  13 Wertheimer, Max  61 ff., 104, 114 Wild, G.  71 Wischnath, Rolf  194 Witte, Markus  168 Witte, John  181 Wittgenstein, Ludwig  60, 66, 145 Wohlmuth, Josef  110 Wolf, Norbert  172 Zerfaß, Rolf  117, 221 f., 227 Ziegler, Tobias  127, 128, 164 Ziehr, Wilhelm  33, 76, 86 Zijlstra, Onno  164 Zilleßen, Dietrich  72, 173, 222, 225 Zimmerling, Peter  103 Zink, Markus  35, 216 Zumstein, Jean  166 Zweig, Adam  131 Zwingli, Huldrych   82

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