Das Kind im Recht [1 ed.] 9783428529292, 9783428129294

»Das Martyrium des zweijährigen Kevin aus Bremen steht für das tragische Versagen des Staates.« - »Mutter gibt Kind zur

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Das Kind im Recht [1 ed.]
 9783428529292, 9783428129294

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Das Kind im Recht Herausgegeben von

Reinhard Bork und Tilman Repgen

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

REINHARD BORK / TILMAN REPGEN (Hrsg.)

Das Kind im Recht

Das Kind im Recht Herausgegeben im Auftrag der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg von

Reinhard Bork und Tilman Repgen

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-12929-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort „Jedes siebte Kind in Deutschland hungert.“ – „Tod einer Siebenjährigen: Der Fall Jessica ist nur die Spitze eines grauenhaften Eisberges.“ – „Das Martyrium des zweijährigen Kevin aus Bremen steht für das tragische Versagen des Staates.“ – „Jugendstadtrat wegen Verbreitung von Kinderpornographie verhaftet.“ – „Mutter gibt Kind zur Adoption frei, verweigert aber dem Vater das Sorgerecht.“ – „Kinderkommission des Bundestages dringt auf die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz.“ Es vergeht kein Tag ohne solche oder ähnliche Schlagzeilen. Die Kinder sind seit einiger Zeit wieder ein wichtiges Thema für Politik und Gesellschaft. Die Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit der Kinder hat seit jeher die Rechtsordnungen zu besonderen Regeln für Kinder veranlasst. Veränderte Umstände fordern aber immer wieder neues Nachdenken über die jetzige Position, über Herkunft und Zukunft. Die demographische Situation mag das allgemeine Interesse an der Situation der Kinder verstärkt haben, doch die Dimension ist viel weiter: Es geht vor allem um die rechtlichen und tatsächlichen oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die erforderlich sind, um den Kindern als Subjekten gerecht zu werden. Kaum ein Feld der Politik, das nicht Berührungspunkte zum Thema „Kind“ aufwiese, gleichgültig ob es nun um Bildungsgutscheine und PISA, um Armut, Straftaten oder Wahlrecht, Fortpflanzungsmedizin, Kindergartenplätze, Steuern oder Werbung geht. Die Dringlichkeit des Themas hat die Professorinnen und Professoren der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg bewogen, im Wintersemester 2007/2008 eine Ringvorlesung anzubieten, die sich mit dem „Kind im Recht“ beschäftigt hat. Daraus sind die vorliegenden Aufsätze entstanden, in der die Autorinnen und Autoren aus ihrer jeweiligen Fachsicht Facetten eines Themas beleuchten. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen erweist sich als eine offenbar immer dringlicher werdende Aufgabe. Den einzelnen, in der Reihenfolge des Vorlesungsprogramms abgedruckten, Beiträgen geht es u. a. darum, für ausgewählte Detailfragen das geltende Recht auf seine Leistungsfähigkeit hin zu befragen, dabei durchaus auch Mythen von Fakten zu trennen, und gegebenenfalls rechtspolitische Vorschläge zu unterbreiten. Dazu haben verschiedene rechtswissenschaftliche Disziplinen auch jenseits der im Medieninteresse stehenden strafrechtlichen Aspekte etwas beizutragen – angefangen von der Rechtsgeschichte

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Vorwort

über das Familienrecht, das Medienrecht, das Steuerrecht, das Sozialrecht und das Wettbewerbsrecht bis hin zum Insolvenzrecht. In ihrer Gesamtschau erweisen sich die Aufsätze als Ausdruck einer gesellschaftlichen Gesamtverantwortung, zu deren Diskussion die Rechtswissenschaft beizutragen vermag. Hamburg, im August 2008

Reinhard Bork, Tilman Repgen

Inhaltsverzeichnis Tilman Repgen Privatrechtliche Altersgrenzen in rechtshistorischer Perspektive . . . . . . . . . . .

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Bettina Heiderhoff Das Kind und sein rechtlicher Vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peter Mankowski „Hol es dir und zeig es deinen Freunden“ – Der Schutz von Kindern und Jugendlichen im Werberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Reinhard Bork Das Kind als Schuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Dagmar Felix Das Kind im Sozialrecht – Objekt staatlicher Förderung mit Blick auf Nachwuchssicherung oder Subjekt mit eigenen Rechten? . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Arndt Schmehl Kinder im Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Karl-Heinz Ladeur Theoretische Überlegungen zu einer Neukonzeption des Jugendmedienschutzes – Von der Jugendgefährdung zum Risikomanagement? . . . . . . . . . . .

159

Thomas Eger Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit aus ökonomischer Sicht . . . . . . . .

185

Gerhard Struck Warum ist das Recht der Kindschaft so schwierig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Privatrechtliche Altersgrenzen in rechtshistorischer Perspektive Von Tilman Repgen

I. Einleitung „Kind im Recht“ – so heißt der Titel dieses Buches. Aber, wer ist ein Kind? Kind ist jeder, der vom Menschen abstammt1 – so könnte man zu definieren versuchen. Damit wäre auch für die Privatrechtsordnung bereits Wichtiges ausgesagt, entscheidet doch die Abstammung über Verwandtschaft, familienrechtliche Rechtsverhältnisse und eventuell auch über das Erbe. Viel engere Bedeutung bekommt der Begriff, wenn er in zeitlicher Dimension mit seinem Gegensatz konfrontiert wird – dem Erwachsenen. Das Kind ist dann ein „noch-nicht-erwachsener Mensch“. Die nächste Aufgabe besteht nun darin, zwischen beiden eine Grenze zu ziehen, möglicherweise eine Altersgrenze, mehr oder minder scharf. Das ist keine Eigenheit der Rechtsordnung, wie soziologische oder sozialhistorische Ansätze zeigen, die manchmal die Kindheit mit 3–4 Jahren beginnen und mit 13–14 Jahren enden lassen.2 Entwicklungspsychologen würden hingegen auf die prägende Zeit gerade der ersten Lebensjahre eines Kindes hinweisen, wobei sie keine Neuigkeit aussprechen. In der Spätantike bezeichnete Johannes Chrysostomus die ersten Lebensjahre als die wichtigsten, weil die Seele der Kinder in dieser Zeit „wie eine Wachstafel“ sei.3

1 Im 18. Jahrhundert setzte sich mehrheitlich die Auffassung durch, dass die Geburt der Anfang der Kindheit ist. Zuvor überwog die Vorstellung, dass die Kindheit mit der Empfängnis beginne, vgl. Jarzebowski, Claudia, Art. Kindheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Darmstadt 2007, Sp. 570–579, hier Sp. 571 f. 2 Vgl. Niehuss, Merith, Zwischen Seifenkiste und Playmobil. Illustrierte Kindheitsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2007, S. 13; ähnlich: van Dülmen, Richard, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Das Haus und seine Menschen, 3. Aufl. München 1999, S. 122; Jarzebowski, Kindheit (Fn. 1), Sp. 572 konstatiert die Unmöglichkeit, altersspezifisch die „Kindheit“ in der frühen Neuzeit einzugrenzen. 3 Chrysostomus, Johannes, Predigt 3, 1, in: Patrologia graeca-latina, Bd. 59, Paris 2006 (online), S. 38; vgl. bereits Plutarch, „Peri paidon agogäs“ [Über die Erziehung der Kinder], Kap. 5, 12 f., in: Plutarch’s Moralia, hrsg. von Babbitt, Frank C., Bd. 1, London 1969, S. 20 ff.

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Tilman Repgen

Es ist nicht unwichtig, wer die großen Leitlinien für das Leben in diese Wachstafel hineinzeichnet. Regelmäßig sind es zunächst einmal die Eltern, die diese Leitlinien zeichnen. Ausnahmsweise tritt an ihre Stelle ein Vormund. Die maßgebliche Vorschrift in § 1773 I BGB knüpft die Vormundschaft an die Voraussetzung der Minderjährigkeit. Minderjährig ist, wer noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat (§ 2 BGB). Die Relevanz der Altersgrenze für den privatrechtlichen Status des Kindes soll hier rechtsgeschichtlich interessieren. In sozialer Perspektive könnte man das Ende der Kindheit mit der Integration in den Arbeitsprozess gleichsetzen, wofür es freilich keine fest umrissene Altersgrenze gibt.4 Auch die Rechtsordnung reagiert auf diesen sozialen Tatbestand, indem sie den Minderjährigen, der sich in ein Arbeitsverhältnis begibt, rechtlich teilweise verselbständigt (§ 113 BGB). Entgegen einem früher verbreiteten Vorurteil kannten auch Mittelalter und frühe Neuzeit die Kindheit als eigenständige Periode menschlichen Lebens5 und nicht nur „kleine Erwachsene“, wie gerade auch manche Bilder lehren.6 Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten (1794) enthielt noch eine konkrete Definition des Kindes: 4 Zum Phänomen der Kinderarbeit: Papathanassiou, Maria, Kinderarbeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Darmstadt 2007, Sp. 553–557. Ein Bericht von Johann Baptist Schad (geb. 1758) zeigt, wie sich in der frühen Neuzeit diese Integration in die Arbeitswelt sehr allmählich vollzog, vgl. das Zitat bei van Dülmen (Fn. 2), S. 110; weitere Quellenzeugnisse bei Meier, Frank, Mit Kind und Kegel. Kindheit und Familie im Wandel der Geschichte, Ostfildern 2006, S. 119–128. 5 Vgl. Jarzebowski, Kindheit (Fn. 1), Sp. 571 f. mit Nachweisen. Vor allem Ariès, Philippe, L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime, Paris 1960 (Geschichte der Kindheit, 15. Aufl. München 2003 [inzwischen differenzierter als 1960]), hatte gemeint, erst seit der Wende zum 19. Jahrhundert habe man emotionale Beziehungen zu den Kindern aufgebaut. Diese Sichtweise ist heute überholt. Vgl. statt aller: Classen, Albrecht, Philippe Ariès and the Consequences: History of Childhood, Family Relations, and Personal Emotions: Where do we stand today?, in: Childhood in the Middle Ages and the Renaissance. The Results of a Paradigm Shift in the History of Mentality, hrsg. von Albrecht Classen, Berlin/New York 2005, S. 1–65; Meier, Mit Kind und Kegel (Fn. 4), S. 29–40; Hermsen, Edmund/Walter, Tilmann (Bearb.), Faktor Religion: Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 37 f. – Ein bemerkenswertes Zeugnis dafür, dass man auch in der frühen Neuzeit Kinder als Kinder wahrnahm, bietet das bekannte Porträt von Clarissa Strozzi aus der Hand Titians (1542), dazu: Reed, Laurel, Art, Life, Charm and Titian’s Portrait of Clarissa Strozzi, in: Childhood in the Middle Ages (wie zuvor), S. 355–371. 6 Z. B.: Kupferstich „Spielende Kinder“ aus dem Jahre 1618, abgedruckt bei van Dülmen (Fn. 2), S. 79; „Kinderspiele“ von Pieter Bruegel d. Ä., 1560, abgedruckt z. B. bei Jarzebowski, Kindheit (Fn. 1), Sp. 573; sozialhistorische Quellenzeugnisse für die spätmittelalterliche Einteilung des Lebens in Alterstufen bei Meier, Mit Kind und Kegel (Fn. 4), S. 33 f.

Privatrechtliche Altersgrenzen in rechtshistorischer Perspektive

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„Wenn von den Rechten der Menschen, in Beziehung auf ihr Alter, die Rede ist, so heißen Kinder diejenigen, welche das siebente, und Unmündige, welche das vierzehnte Jahr noch nicht zurückgelegt haben.“7

Das BGB ist diesem Sprachgebrauch nicht gefolgt, kennt aber die Altersgrenze von sieben Jahren für den Beginn beschränkter Geschäftsfähigkeit (§ 104 BGB). Das vierzehnte Jahr spielt im Privatrecht – abgesehen von der religiösen Kindererziehung8 – keine Rolle mehr, wohl aber hängt die Strafmündigkeit davon ab.9 Ältere Privatrechtsordnungen maßen hingegen, wie noch zu sehen sein wird, dem Erreichen der Pubertät auch für den rechtlichen Status des Kindes Bedeutung zu. Die Rechtsordnungen haben seit jeher an das Alter eines Menschenkindes bestimmte Rechtsfolgen geknüpft. Privatrechtstheoretisch besonders relevant ist der Termin der Mündigkeit, weil erst von da an die Verantwortlichkeit der Person ernst genommen wird. Bis zu einem mehr oder weniger bestimmten Alter hielt und hält man Kinder mangels ausreichender geistiger Reife10 von einer aktiven Teilnahme am Rechtsverkehr auch zu ihrem eigenen Schutz ab. Bis zum Erreichen der Mündigkeit unterliegen die Kinder der „Munt“, einer besonderen Gewalt, die die Eltern – früher insbesondere der Vater – oder ein Vormund ausüben. Altersgrenzen im Privatrecht und Vormundschaft hängen also eng miteinander zusammen. Der folgende Streifzug durch die Jahrhunderte der neueren Privatrechtsgeschichte soll zeigen, dass die Altersgrenze zur Mündigkeit ihre angedeutete privatrechtstheoretische Bedeutung im Laufe der Zeit verlor, um sie erst im Augenblick der Gleichsetzung von Mündigkeit und Volljährigkeit wiederzuerlangen.

II. Die Reichspolizeiordnung Im Januar 1530 erhielten alle Reichsstände eine Einladung zu einem Reichstag in Augsburg. Kaiser Karl V. formulierte als Zielsetzung dieser Versammlung: 7

ALR I 2 § 25. § 5 RelKErzG lässt die Kinder mit 14 Jahren religionsmündig sein. Schon mit 12 Jahren gewinnen sie eine Art Vetorecht. 9 Vgl. § 1 JGG, unter der weiteren Voraussetzung sittlicher und geistiger Reife, § 3 JGG. 10 So schon Stobbe, Otto, Handbuch des deutschen Privatrechts, Berlin 1882–1885, Bd. IV, § 264, S. 429 mit § 207, S. 5 gegen Kraut, Wilhelm Theodor, Die Vormundschaft nach den Grundsätzen des deutschen Rechts, Bd. 1, Göttingen 1835, S. 24 ff., 51, der die Waffenunfähigkeit von Kindern für entscheidend hielt. Das Rechtsinstitut der Vormundschaft bezweckt von Anfang an, einen Mangel selbstverantwortlicher Handlungsmöglichkeiten auszugleichen. Vgl. aus den Quellen die Begründung bei Gaius (unten Fn. 66) und die Begründung zum Hamburger Stadtrecht 1603 III, 6, 21 (unten Fn. 85). 8

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Tilman Repgen

„gute ainigkait und frid. auch sunst gute muntz pollicey und wolfahrt des hailigen Reichs allenthalben in disen und andern desselben obligenden sachen: zu beschliessen: zumachen: aufzurichten und zuvnderhalten.“11

Einigkeit und Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt, so lassen sich die Anliegen des Kaisers zusammenfassen. Ein greifbares, konkretes Ergebnis des Reichstags war ein Reichsgesetz unter dem Namen: „Römischer Kayserlicher Majestät Ordnung und Reformation guter Policey, im Heiligen Römischen Reich, zu Augspurg Anno 1530 auffgericht.“12

Später hat man dieses Gesetz als „Reichspolizeiordnung“ bezeichnet. In den seit dem 16. Jahrhundert entstandenen Policeyordnungen ging es vor allem um die „Herstellung eines Zustandes guter Ordnung.“13 Die Umwälzungen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit hatten ein neues Bedürfnis an sicheren Regeln für das Zusammenleben geweckt. Man verstand die Wandlungsprozesse in der Zeit seit 1450 als Zeichen eines Zerfalls – eines Zerfalls der alten Ordnung, einer „aus den Fugen geratenen Welt“14, auf die man mit neuen Gesetzen reagierte. 11

Ausschreiben Karls V. zum Reichstag nach Augsburg an die Reichsstadt Frankfurt am Main vom 21. Januar 1530, Stadtarchiv Frankfurt, Reichstagsakten 1397–1806, Bd. 44, hier zitiert nach: Härter, Karl, Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert, Ius commune 20 (1993), S. 61–141, hier S. 61. Herausragendes Ereignis des Reichstags war die Verlesung der von Philipp Melanchton verfassten „Confessio Augustana“, die schließlich 1555 im Augsburger Religionsfrieden reichsrechtlich anerkannt wurde. Prächtige bildliche Darstellung auf einem Ölgemälde von G. B. von Sand (17. Jh.), abgedruckt z. B. bei Putzger, Friedrich Wilhelm, Atlas und Chronik zur Weltgeschichte, Berlin 2002, S. 118. 12 Schmaus, Johann Jakob/Freiherr von Senckenberg, Heinrich Christian (Hrsg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Bd. II, Frankfurt am Main 1747, S. 332 ff. 13 Härter, (Fn. 11), S. 63. – Inwieweit die Polizeiordnungen des 16. Jahrhundert wirklich den Beginn einer neuen Epoche der Gesetzgebung markieren, so dezidiert Härter (Fn. 11), S. 62; Brauneder, Wilhelm, Der soziale und rechtliche Gehalt der österreichischen Polizeiordnungen des 16. Jahrhunderts, in: ZHF 3 (1976), S. 205– 219, hier S. 209, ist eine Frage, die an dieser Stelle nicht entschieden zu werden braucht. Vielleicht hat die Gesetzgebung hier in der Tat eine neue Qualität erreicht. Die Zielsetzung – Herstellung eines friedlichen Zustandes durch rechtliches Gebot – lässt sich allerdings genauso gut auch für Rechtsetzungsakte des Mittelalters reklamieren. Zum mittelalterlichen Rechtsbegriff vgl. die sehr differenzierten Ergebnisse bei: Cordes, Albrecht/Kannowski, Bernd (Hrsg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter, Frankfurt am Main 2002; Dilcher, Gerhard (Hrsg.), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, Berlin 1992; Rückert, Joachim, Rechtsbegriff und Rechtsbegriffe – germanisch, römisch, kirchlich, heutig, in: Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, hrsg. von Dilcher, Gerhard und Distler, Eva-Marie, Berlin 2006, S. 569–602.

Privatrechtliche Altersgrenzen in rechtshistorischer Perspektive

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Nach der großen Pest im 14. Jahrhundert mit riesigen Verlusten wuchs die Bevölkerung im Reich seit 1400 wieder stark an – mit einer Wachstumsspitze in den Jahren zwischen 1480 und 1530.15 Mit der Bevölkerungszahl stiegen Produktion und Handel.16 Gleichzeitig nahmen die Schattenseiten wie Wucher und Betrug, Straßenraub und Übervorteilung zu. Die Knappheit der Nahrungsmittel vergrößerte die Zahl der Armen, der Entwurzelten und Gestrandeten. Aus den „Fugen“ geriet die Gesellschaft auch, weil in den Städten das Bürgertum seinen Reichtum zu vermehren wusste, während der Adel oft in Abhängigkeit von den Krediten der Stadtbürger geriet. Der niedere Adel verlor seine militärische Funktion und war vom Abstieg bedroht.17 Zu erinnern ist weiter für einige Gebiete des Reiches18 an die Bauernaufstände, die 1524 im Schwarzwald ihren Anfang genommen hatten, als die Gräfin von Stühlingen ihren Bauern befohlen hatte, ausgerechnet während der Erntezeit Schneckenhäuschen zu sammeln, um darauf Garn aufzuwickeln.19 Schon das 15. Jahrhundert hatte in vielen Städten Bürgerunruhen und Aufstände gekannt. Alles dies verstand man als Zeichen einer zu bekämpfenden Unordnung. Die rasche Ausbreitung der 14 Schulze, Winfried, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert 1500–1618, Frankfurt am Main 1987, S. 75; zustimmend Härter (Fn. 11), S. 66 f., dort in Fn. 16 weitere Nachweise zur Wahrnehmung der gesellschaftlichen Krise. Sinnfällig zum Beispiel die Berichte und Zeichnungen vom Bildersturm seit 1522 in einigen protestantischen Gebieten. 15 Härter (Fn. 11), S. 92. – Zur Entwicklung der Bevölkerungszahlen und der Lebenswartung im Mittelalter bestehen nur mit einiger statistischer Unsicherheit verbundene Schätzungen. Eine der wichtigsten Quellen sind Ausgrabungen mittelalterlicher Friedhöfe. Sie lassen für das Gebiet Deutschlands und Skandinaviens erkennen, dass 15 bis 20 Prozent eines Jahrgangs im ersten Lebensjahrzehnt verstarben. Das 20. Jahr erreichten nur etwa 70 Prozent eines Jahrgangs. In den folgenden Lebensjahrzehnten unterschieden sich die Zahlen nach dem Geschlecht erheblich. Die Lebenserwartung der 20–30jährigen Frauen lag im Hochmittelalter erheblich niedriger als die durchschnittliche Lebenserwartung der 20–30jährigen Männer. Häufige Geburten und schwere Feldarbeit dürften die Frauen anfällig für Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose oder ähnliches gemacht haben. Dennoch berichten auch die mittelalterlichen Quellen durchaus von Menschen, die ein auch nach heutigen Maßstäben stattliches Alter erreicht haben, Russell, J. C., Die Bevölkerung Europas 500–1500, in: Europäische Wirtschaftsgeschichte, hrsg. v. Cipolla, Carlo Maria und Borchardt, Knut, Bd. 1, Stuttgart 1978, S. 13–43, hier S. 25–27. 16 Braudel, Fernand, Sozialgeschichte, Bd. 1, München 1985, S. 23. Dort auch weitere Einzelheiten zur Bevölkerungsentwicklung in Europa. – Man schätzt in Europa um 1450 ca. 55 Millionen Einwohner, um 1600 ca. 100 Millionen, cf. Braudel, wie zuvor, S. 39. 17 Vgl. Härter (Fn. 11), S. 92 f. m. w. N. 18 Insbesondere Kurpfalz, Elsaß, Schwaben, Thüringen, Salzburger Land und Tirol. 19 Scheuch, Manfred, Historischer Atlas Deutschland, Wien 1997, S. 54.

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Tilman Repgen

Reformation verschärfte die Situation. Der Bildersturm machte den Umbruch ganz sinnfällig. Unfrieden und Krisen aller Art verstand man damals als Strafen Gottes, die abzuwehren – in Fortsetzung eines aus der Antike tradierten Herrschaftsverständnisses – Aufgabe des Herrschers war.20 So hatte z. B. der Reichstag die Verfolgung und Bestrafung der Wiedertäufer 1529 angeordnet, weil sie durch ihr Tun die guten Sitten umgestoßen und zerrüttet hätten. Es stünde nichts anderes zu erwarten als der Untergang der Wohlfahrt des Gemeinwesens.21 Das Selbstverständnis, das sich darin äußert, erklärt schlüssig die aufkommende Gesetzgebungstätigkeit im Reich wie auch in den Territorien – noch lange bevor sich der absolutistische Fürstenstaat um „Sozialdisziplinierung“ kümmerte.22 Die neue rechtliche Verankerung des Königsgerichts in der Form des Reichskammergerichts auf dem Reichstag zu Worms 1495,23 die gleichzeitigen Bemühungen um Verwaltungsorganisation auf Reichsebene wie auch der Ewige Landfriede dienten der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung einer rechtsförmigen Friedensordnung. In diesem Kontext ist die Reichsgesetzgebung des 16. Jahrhunderts zu sehen. Gemeinsames Ziel war die Bewahrung oder nötigenfalls Wiederaufrichtung der „guten Ordnung“.24 Die Reichstage beschäftigten sich mit der Ordnung 20 Das wird besonders deutlich beim Delikt der Gotteslästerung, dazu neuestens: Angenendt, Arnold, Gottesfrevel. Ein Kapitel aus der Geschichte der Staatsaufgaben, in: Religionsbeschimpfung. Der rechtliche Schutz des Heiligen, hrsg. von Isensee, Josef, Berlin 2007, S. 9–29, Rezension dazu: Repgen, ZRG Germ. Abt. 2008, S. 581–584. Die Verfolgung des Gotteslästerers geschieht sozusagen zur Abwehr des Zornes Gottes, vgl. bereits scharfsinnig und treffend Härter (Fn. 11), S. 93 f. Das wird etwa sinnfällig beim Umgang mit den Wiedertäufern, die in der Schweiz, Tirol, Oberösterreich, Mähren und am Niederrhein zahlreiche Anhänger fanden. Sie wurden als Ketzer verfolgt und bestraft, besonders grausam in Münster in Westfalen, nachdem sie dort 1534 die Stadtherrschaft an sich gerissen hatten. Zur Täuferbewegung: Goertz, Hans-Jürgen, Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 1980. Umgekehrt drohte die RPO als Sanktion auch an, bei Nachlässigkeit der Obrigkeiten werde die Gesellschaft mit „theüwrunge/krieg/pestilentz/und andere[n] manigfaltige[n] plagen“ als Ausdruck des Zornes Gottes überzogen, RPO 1548, Vorspruch, fol. 1v/fol. 2r, (Weber, Matthias, Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548, und 1577. Historische Einführung und Edition, Frankfurt am Main 2002, S. 168), vgl. Härter (Fn. 11), S. 128. 21 Vgl. Härter (Fn. 11), S. 94 f. mit Zitat aus den Reichstagsakten. 22 Damit wird nicht die „sozialdisziplinierende“ Wirkung der Policeyordnungen in Frage gestellt, sondern nur betont, dass diese Politik lange vor dem absolutistischen Fürstenstaat begann. Dazu vgl.: Wüst, Wolfgang, Die „gute“ Policey im Schwäbischen Reichskreis unter besonderer Berücksichtigung Bayerisch-Schwabens, Berlin 2001, Einleitung, S. 35–42. 23 Der Wormser Reichstag 1495 markiert nach Schulze (Fn. 14), S. 60, den „Beginn der Neuzeit unter rechtspolitischen Aspekten“. 24 Vgl. Härter (Fn. 11), S. 69 in Bezug auf den Reichstag 1495.

Privatrechtliche Altersgrenzen in rechtshistorischer Perspektive

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des Münzwesens, der Kleiderordnung, den Vorschriften zur Vermeidung von Aufwand bei Festen, Vorschriften über die Bettelei, das Wucherverbot, dem Verbot der Gotteslästerung sowie einigen Qualitätsvorschriften (insbesondere für Wein) und weiteren, ganz disparaten Gegenständen.25 Seit 1521 beriet man über eine einheitliche Reichspolizeiordnung, in der die verstreuten Regelungen zusammengefasst werden sollten, um diesen mehr Durchsetzungskraft zu geben,26 weil aus Recht, Friede und Ordnung alle anderen Güter gedeihen und wachsen, wie sich Karl V. ausdrückte.27 1530 gelang schließlich die Verabschiedung der Reichspolizeiordnung, von der man aber von Anfang an sagte, etliche Gegenstände seien noch nicht geregelt worden. Dazu zählten Monopole und Wucherverträge,28 aber auch die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten.29 1547/48 folgte eine Neufassung.30 Die Änderungen betrafen Ehebruch und Kuppelei, den Fürkauf (spekulative Kaufgeschäfte über künftige Waren), die Überwachung von Apotheken, aber auch Einsetzung und Aufgaben der Vormünder. In der revidierten Fassung der RPO von 1548 findet sich eine Regelung über die Vormundschaft, die für das ganze Reich subsidiär31 gültig privatrechtliche Altersgrenzen festlegte: „Wiewol inn gemeynen geschribnen Rechten/ernstlich disponirt und versehen ist/ das den pupillen und minderjärigen kindern/von iren vormundern mit allem fleiß und ernst fürgestanden/und derselben nutz und wolfahrt gesucht/und gefürdert werden solle. So befindt sich doch vilmals/das inn solchen sachen/von den vormundern betrüglich/versaumlich/unnd nit mit dem fleiß/wie sie zuthun schuldig/ gehandelt würdet/den Pupillen unnd minder järigen/zu mercklichem nachtheyl und schaden. Wann aber nun den Oberkeyten zustehet/inn dem gebürlich unnd billich einsehens zuhaben/damit die Pupillen und minderjärigen kinder/unbetrogen und unvernachtheylt bleiben.“32

Der Text erklärt den Sinn der Regelungen über die Vormundschaft in der RPO: Zwar seien die Vorschriften des gemeinen römischen Rechts klar, 25

Nachweise bei Härter (Fn. 11), S. 72 f. Quellennachweise bei Härter (Fn. 11), S. 73 f. 27 Kaiserliche Proposition an die Stände zur Eröffnung des Reichstags, 27./28.1.1521, Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe II, S. 153–156, hier S. 154, zitiert auch bei Härter (Fn. 11), S. 74. 28 Härter (Fn. 11), S. 78. 29 Härter (Fn. 11), S. 79. 30 Zur Entstehung dieser Neufassung Ludwig, Ulrike, Der Entstehungsprozeß der Reichspoliceyordnung auf dem Reichstag von Augsburg 1547/48, in: Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, hrsg. von Härter, Karl, Frankfurt am Main 2000, S. 383–411. 31 Härter (Fn. 11), S. 117 m. w. N. 32 RPO 1548, Tit. 31 § 1 [Weber (Fn. 20), S. 205]; inhaltsgleich wiederholt in RPO 1577, Tit. 32 § 1 [Weber (Fn. 20), S. 260]. 26

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Tilman Repgen

doch man halte sich häufig nicht daran, sondern suche den eigenen Vorteil, betrüge und benachteilige die Mündel. Minderjährigen und Pupillen sei daher ein Vormund zuzuordnen. Im folgenden Paragraphen wird die Altersgrenze präzisiert: Kindern sei notfalls von Amts wegen ein Vormund zu bestellen, „biß sie zu iren vogtbarn unnd mannbarn Jaren kommen.“33

Der Gesetzgeber zieht eine Altersgrenze, nach deren Überschreiten offenbar keine Pflichtvormundschaft mehr gilt. In der überarbeiteten Fassung der RPO von 1577 wird die Pflichtvormundschaft für die „pupillen und minderjärigen Kinder[. . .]/jederzeit/biß sie zu iren vogtbaren jaren kommen“34

angeordnet. Der Begriff „Pupillen“ ist dem römischen Recht entlehnt, das ihn bereits in den Digesten verwendet (Pomponius D. 50.16.239 pr.) und meint die „Unmündigen“. Die Minderjährigkeit wird in der RPO zeitlich dadurch begrenzt, dass die Kinder „vogtbar“ werden. Auch dieser Begriff ist uns heute nicht mehr unmittelbar geläufig. „Vogt“, abgeleitet vom lateinischen advocatus, bezeichnet im Mittelalter und der frühen Neuzeit eine mit einer Schutzfunktion verbundene Herrschaftsposition.35 In privatrechtlichem Zusammenhang wird seit dem Schwabenspiegel (um 1250)36, die Vormundschaft oft als „Vogtei“ bezeichnet, um das Über-/Unterordnungsverhältnis von Vormund und Mündel herauszustellen.37 Ist nun ein Kind „vogtbar“, so ist es der „Vogtei bar“, ledig, also frei von einem Vormund. Die RPO 1577 trifft mithin in der zitierten Norm eine tautologische Aussage. Es liegt auf der Hand, das man längst implizit eine Altersgrenze vor Augen hatte, so ähnlich, als wenn man heute sagen würde, ein Kind sei minderjährig, bis es volljährig werde – jeder weiß, dass heute die Volljährigkeit mit 18 Jahren erreicht wird. Die RPO von 1548 hob auf die Mannbarkeit, also die Geschlechtsreife des Kindes ab.38 „Vogtbar“ ist in der RPO 1577 somit synonym zu „mündig“.39 Minderjährigkeit und 33 RPO 1548, Tit. 31 § 2 [Weber (Fn. 20), S. 205]; inhaltsgleich wiederholt in RPO 1577, Tit. 32 § 2 [Weber (Fn. 20), S. 260]. In RPO 1548, Tit. 31 § 4 bzw. 1577, Tit. 32 § 4 folgen Vorschriften über die Pflichten des Vormunds und die Kontrolle ihrer Einhaltung. 34 RPO 1577, Tit. 32 § 2 [Weber (Fn. 20), S. 260]. 35 Willoweit, Dietmar, Art. Vogt, in: HRG (1. Aufl.) V, Sp. 932–946, hier Sp. 932. 36 Trusen, Winfried, Art. Schwabenspiegel, in: HRG (1. Aufl.) IV, Sp. 1547– 1551. 37 Zur privatrechtlichen Begriffsbedeutung: Willoweit (Fn. 35), Sp. 942. 38 RPO 1530, Tit. 31 § 2. 39 Es ist nicht zu übersehen, dass die Gleichsetzung der Minderjährigkeit mit der Unmündigkeit in der RPO überrascht. Der präzise Sinn der Norm ist nur die Fest-

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Unmündigkeit werden hier gleichgesetzt, ohne jedoch eine präzise Altersgrenze anzugeben. Das Kind ist hiernach bis zur Pubertät unmündig. Die Reichsgesetzgebung folgt damit der älteren Privatrechtstradition in Deutschland.

III. Ältere deutsche Rechtstradition Oben war zu sehen, dass die RPO darauf abzielte, die „gute Ordnung“ aufzurichten. Darin scheint ein modernes Rechts- und Gesetzesverständnis auf, das die aktive Gestaltung der Rechtsordnung als Herrschaftsaufgabe begreift, während man im Mittelalter die Rechtsordnung eher als eine vorgegebene Größe angesehen hatte, die dem Gesetzgeber allenfalls zu erkennen aufgegeben sei. Im Privatrecht blieben die Gesetzgeber bis ins 20. Jh. hinein konservativ. So zielte auch die RPO zum Schutz der Kinder auf die Erhaltung des überkommenen Vormundschaftsrechts. Der konkrete Handlungsbedarf resultierte vor allem aus der Durchsetzung der Geldwirtschaft40 im Reflex zur Ausbildung einer regelrechten Marktwirtschaft.41 Das Münzwesen war seit dem Ende des weströmischen Reiches stark zurückgegangen. Die Entwicklung hatte sich dann, ausgehend von Italien, erst im 13. Jahrhundert wieder umgekehrt.42 Die größere Verbreitung von Geldmitlegung einer Pflichtvormundschaft bis zur Mündigkeit. Offen bleibt, ob die Praxis den Mündigkeitstermin nun auf die Volljährigkeit verlagerte. 40 North, Michael, Art. Geldwirtschaft, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Darmstadt 2006, Sp. 338–354; vgl. auch Fn. 42. 41 Lütge, Friedrich, Die wirtschaftliche Lage Deutschlands vor Ausbruch des 30jährigen Krieges, in: Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1963, S. 336 ff., hat bereits für die 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts eine regelrecht marktwirtschaftliche Orientierung der Volkswirtschaft Deutschlands konstatiert. Zustimmend: Kellenbenz, Hermann, Gewerbe und Handel 1500–1648, in: Handbuch der deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von Aubin, Hermann und Zorn, Wolfgang, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 414 ff., hier S. 437. Sinnfälliger Ausdruck der Veränderungen im Handel ist etwa die Entstehung der Börsen, z. B. Antwerpen 1531, Köln 1553, Hamburg 1558, vgl. Kellenbenz, wie zuvor, S. 446; Bernard, Jacques, Handel und Geldwesen im Mittelalter 900–1500, in: Europäische Wirtschaftsgeschichte (Fn. 15), S. 177, konstatiert für die Zeit seit 1340 einen wirtschaftlichen Schrumpfungsprozess. Zur Bedeutung des Geldes im Hochmittelalter vgl. z. B. Ilisch, Peter, Geld zur Zeit des Sachsenspiegels, in: Der sassen speyghel. Sachsenspiegel – Recht – Alltag, Bd. 2, hrsg. von Fansa, Mamoun, Oldenburg 1995, S. 361–366 sowie unten Fn. 42. 42 Vgl. Sprenger, Bernd, Das Geld der Deutschen. Geldgeschichte Deutschlands von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Paderborn 2002, S. 59 ff.; zum Münzwesen: Wielandt, Friedrich, Münzen, Gewichte und Maße bis 1800, in: Handbuch (Fn. 41), S. 638–678, hier S. 661 ff., insbesondere S. 666 f. zum 16. Jahrhundert mit Hinweisen zu den Ordnungsbemühungen des Reiches seit Maximilian I. Zur Geldwirtschaft im 16. Jahrhundert allgemein: Kellenbenz, Gewerbe (Fn. 41),

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teln ließ die Gefahr für unerfahrene Marktteilnehmer wachsen (wovor die Vormundschaft schützen sollte), machte aber auf der anderen Seite eine konkretere Überwachung des Vormunds nötig. Daher statuierte die Reichspolizeiordnung sehr genaue Rechenschaftspflichten. Die mittelalterliche Rechtstradition zeigt, dass die RPO mit der Pflichtvormundschaft für unmündige Kinder keine Neuerung eingeführt hat,43 wie Sachsenspiegel, gemeines Recht und das Hamburger Stadtrecht exemplarisch deutlich machen können: 1. Altersgrenzen im Sachsenspiegel Im Sachsenspiegel, dem bei weitem bedeutendsten Rechtsbuch des deutschen Mittelalters, begegnen Altersgrenzen in verschiedenem Zusammenhang, so etwa zur Strafmündigkeit,44 aber auch bei der Vormundschaft. Ob ein Geschäft ohne vormundschaftliche Zustimmung wirksam geworden ist, machte der Sachsenspiegel vom Alter abhängig: Er sinen tagen unde noch sinen tagen mus der man wol vormunden haben, ab hes bedarf, unde mus sin wol enpern, ab he will. . . . Ubir ein unzcwenzig jar, so is der man zu sinen tagen kumen. Ubir sechzcig jar so is he uber sine tage kumen, als he vormunden haben sal, ab he will, unde krenkit da mit sine buse nicht noch sin wergelt. Swelches mannes alder man nicht weis, hat he har an dem barte unde da nidene unde under iclichem arme, so sal man wissen, das he zu sinen tagen kumen is. Wen das kint zu sinen jaren kumt, so mus is wol vormunde sins wibes sin, . . .45

Vor seinen Tagen und nach seinen Tagen darf ein Mann wohl einen Vormund haben, wenn er dessen bedarf, und kann seiner entbehren, wenn er es will. . . . Mit einundzwanzig Jahren ist der Mann zu seinen Tagen gekommen. Über sechzig ist er mehr als dies, so daß er einen Vormund haben soll, wenn er es will, ohne daß damit seine Buße oder sein Manngeld gemindert werden. Wenn man das Alter eines Mannes nicht kennt und er hat Haare am Bart, an den unteren Körperteilen und unter den Achseln, so soll man daran erkennen, daß er volljährig ist. Wenn der junge Mann zu seinen Jahren gekommen ist, dann soll er Vormund seiner Ehefrau sein, . . .

S. 445 ff. Zum Aufschwung des Handels: Bernard (Fn. 41), S. 199, der von einem kapitalistischen Charakter des Großhandels und Finanzwesens im ausgehenden Mittelalter spricht. – Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ist wenigstens für Oberitalien die Technik der doppelten Buchführung belegt, Bernard (wie zuvor), S. 211. 43 So aber mindestens missverständlich Härter (Fn. 11), S. 117. Die Neuerungen betrafen nur die staatliche Obervormundschaft und Kontrolle der Vormünder. 44 Ssp. Ldr. II 65 § 1 – unmündige Kinder können nicht die Todesstrafe verwirken. 45 Ssp. Ldr. I 42 § 1. – Hier und im folgenden wird zitiert nach Repgow, Eike von, Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug 2º. Textband, hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand, Berlin 1998.

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Hier geht es vor allem um die Mündigkeit, also ab wann jemand vollständig rechts- und handlungsfähig ist, sowie um die Geschlechtsvormundschaft. Hinsichtlich der Männer unterscheidet das Fragment die Zeit vor, zu und nach seinen Tagen. Zu seinen Tagen kommt der Mann mit 21 Jahren.46 Hat er die 60 erreicht, ist er nach seinen Tagen. Es ergeben sich mithin drei Altersstufen: bis 21 Jahre, 21–60 Jahre, über 60 Jahre. In der Rechtsfolge darf der Mann bis zum vollendeten 21. Lebensjahr einen Vormund haben, wenn er ihn braucht und es will (Wahlvormundschaft). Interessant – und in der späteren Rechtstradition dann ohne konkrete Nachfolge – ist die Grenze bei 60 Jahren. Solche Senioren dürfen wieder einen Wahlvormund nehmen.47 Im Hinblick auf die Ehefähigkeit erwähnt das zitierte Fragment noch als weitere Altersgrenze „sine jare“ im Unterschied zu „sinen tagen“.48 Ssp. Ldr. I 23 § 1 bestimmt den ältesten Verwandten väterlicherseits zum Vormund der Kinder, die noch nicht zu ihren „Jahren“ gekommen sind und erlegt dem Vormund eine Rechenschafts- und Herausgabepflicht auf. Wann aber ein Kind zu seinen „Jahren“ kommt, ist in der Quelle im Unterschied zur Altergrenze der „Tage“ nirgends ausgesprochen. Wie auch in älteren deutschen Rechten49 legte bereits die von Johann von Buch um 1325 verfasste Glosse zum Sachsenspiegel die Altersangabe auf 12 Jahre fest.50 46 Zur Fortwirkung dieses Volljährigkeitstermins vgl. Stobbe (Fn. 10), Bd. 1, § 40, S. 290. Er wurde in Preußen durch Gesetz vom 9.12.1869 eingeführt, dann im Reich durch Gesetz vom 17.2.1875 (RGBl, S. 71). Dem folgte dann § 2 BGB. 47 Sie sind zur Verfügung über Grundstücke nur solange berechtigt, wie sie noch rüstig sind, Ssp. Ldr. I 52 § 2. – Seit dem Hochmittelalter wird der Ablauf des Lebens oft als Auf- und Abstieg interpretiert, wobei der Abstieg im Alter von 60 Jahren beginnt, vgl. Ehmer, Josef, Art. Alterstreppe, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Darmstadt 2005, Sp. 269–272; zu den antiken Vorstellungen über die Altersstufen vgl. Binder, Gerhard/Saiko, Maren, Art. Lebensalter, in: DNP VI (1999), Sp. 1207–1212. 48 Vgl. auch die „Jahre“ in Ldr. I 25 §§ 2, 3 als Eintrittsalter in ein Kloster. – Das durchschnittliche Heiratsalter im Spätmittelalter wird auf 15–18 Jahre, in den Städten auf 16–20 Jahre geschätzt, vgl. Meier, Mit Kind und Kegel (Fn. 4), S. 25. 49 Vgl. die Nachweise bei Kraut, Vormundschaft (Fn. 10), Bd. I, S. 113 f., 150. 50 Buch, Johann von, Glosse Swar de zone zu Ldr. I 23 § 1 (Kaufmann, I, S. 258 f.); ebenso ders., Richtsteig Landrechts, 43: „de wile dat yt [sc. das Kind] binnen synen jaren sy, dat sin twelf jar.“ Zu letzterem: D. Munzel, Art. Richtsteig, in: HRG IV (1990), Sp. 1061–1064. Der Richtsteig Landrechts wurde zwischen 1325 und 1334 verfasst. – Bemerkenswert ist, dass auch das so genannte „Kleine Kaiserrecht“, dass für das Königsgut Wetterau galt und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden ist, den Mündigkeitstermin auf 12 Jahre festgelegt hatte, dort heißt es (2, 17): „Eyn iclich mensche sal wissen, daz der keyser hod gegebin von allererst deme sone czwelff jar czu synen bescheyden tagen, – und hod ez der bobest bestediget in dem geystlichen rechte. – Me heldet dy – gyft von den – czwelffe jaren (over al de werld) in geystlichme und wertlichme rechte“ (zitiert nach Kraut, Vormundschaft (Fn. 10), Bd. I, S. 114). Zum Kleinen Kaiserrecht vgl. Dolezalek, Gero, Art. Frankenspiegel, in: HRG I (1971), Sp. 1202 f.

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Für die Lehnsmündigkeit spricht Ssp. Lnr. c. 26 § 1 das Alter von 13 ½ Jahren an. Das sind die 12 Jahre bis zur Mündigkeit zuzüglich einer auch sonst dem deutschen Recht geläufigen51 Zugabefrist von 1 ½ Jahren für das Lehensgesuch.52 Die Mündigkeit des belehnten Kindes wird in den Quellen ebenfalls auf 12 Jahre festgelegt. So sieht es die Glosse53 und so sieht es auch der Maler der Wolfenbütteler Bilderhandschrift aus dem 3. Viertel des 14. Jahrhunderts, wo ein gerichtlicher Streit mit einem belehnten Kind zu sehen ist.54 Für die unter 12jährigen (also unmündigen) Kinder sieht der Sachsenspiegel eine Pflichtvormundschaft vor. Kommen die Kinder zu ihren Jahren, dürfen sie noch einen Vormund bestellen, können aber auch darauf verzichten und ihre Rechtsgeschäfte selbst regeln. Bei der Wahlvormundschaft haben die nunmehr mündigen Kinder auch Einfluss auf die Auswahl der Per51

Vgl. Kraut, Vormundschaft (Fn. 10), Bd. I, S. 113. So genannte „Mutungsfrist“, vgl. Stobbe (Fn. 10), Bd. 1, § 40 Fn. 5, S. 284 mit Hinweis auf Homeyer, Carl Gustav, Sachsenspiegel II/2, Berlin 1844, S. 478 f. Näher zum Begriff der Mutung (= Anspruch, Forderung, Gesuch) vgl. SchmidtWiegand, Ruth, Art. Mutung, in: HRG III (1984), Sp. 808–810. Nach dem Herrenfall musste der Vasall „muten“, also um das Lehen nachsuchen. Das konnte nur innerhalb einer bestimmten Frist geschehen, die im Sinne der auch sonst verbreiteten Zugabefrist (vgl. Fn. 51) auf 1½ Jahre festgelegt ist. Sie beträgt im Ssp. also nicht – wie Schmidt-Wiegand allgemein feststellt (wie zuvor, Sp. 809) – „Jahr und Tag“ (= 365 Tage). Zu diesem Begriff vgl. Klein-Bruckschwaiger, F., Art. Jahr und Tag, in: HRG II (1978), Sp. 288–291, mit der interessanten Herleitung aus der Differenz von keltischen Mond- (= 364 Nächte und Tage) und julianischem Sonnenkalender. 53 Wie Fn. 50; Kannowski, Bernd, Art. Altersstufen, in: HRG2 I, Sp. 194–196, hier Sp. 195. – Die Buchsche Glosse sieht vier Weisen, Mündigkeit zu erlangen: (1) Nach Lehnrecht (Lnr. c. 26 § 1) werde man mit 12 Jahren mündig. Ferner führt Buch Inst. 1.23 pr. an. Letzteres ist wenig stimmig, weil danach die Mündigkeit mit Vollendung des 25. Lebensjahres erreicht wird. Möglicherweise wollte sich Buch auf den vorhergehenden Titel Inst. 1.22 pr. beziehen, der die Pubertätsgrenze kennt, aber das ist spekulativ. (2) Nach anderen Vorschriften – so die Buchsche Glosse – werden die Jungen mit 14, die Mädchen mit 12 Jahren mündig. Sie sollen sich dann einen Pfleger (Kurator) nehmen („zo mogen se zelegerede [Pfleger] setten“). Hierzu werden passend angeführt: gl. impuberes zu Inst. 2.12.1 sowie Ulpian D. 28.1.5. (3) Inst. 1.6.5 kenne die Grenze von 18 Jahren [die Vorschrift sagt freilich „ne minor septem et decem annis . . .“ – nicht weniger als 17 Jahre] für die Freilassung der „eigenen“ Leute. Hingegen spreche Nov. 119,2 von 14 Jahren als Grenze für die Freilassung. Die Novelle beziehe sich anders als die Institutionen jedoch auf diejenigen, die im Sterben liegen. (In der Tat gestattet die Novelle den Minderjährigen die Freilassung durch letztwillige Verfügung, erwähnt aber keine ausdrückliche Altersgrenze.) (4) Ssp. Ldr. I 23 § 1 lege hingegen 21 Jahre für die Mündigkeit fest, wie auch Inst. 1.23 pr. (unverständlich, da diese Norm, wie erwähnt, 25 Jahre festlegte). 54 4. Bild zu Ssp. Lnr. 26 § 2, W fol. 68 v; zur Bilderläuterung vgl. den Kommentar in: Sachsenspiegel, (Fn. 45), S. 327. 52

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son des Vormunds.55 Diese freiwillige Vormundschaft dauert während der Minderjährigkeit an, bis die Kinder zu ihren „Tagen“ kommen (Ssp. Ldr. I 42 § 1: 21 Jahre) und damit volljährig sind.56 Dann besteht keine Möglichkeit mehr zur Vertretung durch einen Vormund, bis das 60. Lebensjahr abgeschlossen ist. Die Aufgaben des Vormunds sind die Vermögensverwaltung und die Vertretung vor Gericht.57 Die Personensorge wird im Sachsenspiegel nicht behandelt. Sie steht in der Wahrnehmung der Zeit weit zurück hinter der vermögensrechtlichen Bedeutung, die im Mittelalter zunächst durchaus als ein Recht des Vormunds verstanden wurde, der von dem Mündelvermögen profitieren konnte.58 Die heutige Perspektive könnte leicht den Blick für einen in der damaligen Rechtswirklichkeit wichtigen Umstand verstellen, der die Bedeutung der beschriebenen Altersgrenzen stark relativiert: Während das geltende Recht das besondere Gewaltverhältnis zwischen Eltern und Kindern nach dem Vorbild der Vormundschaft geregelt hat,59 so dass auch zeitlich ein Gleichlauf mit der Pflichtvormundschaft herrscht, kann davon im Sachsenspiegel nicht die Rede sein. Solange der Vater lebte, übte er die väterliche Gewalt über das Kind ganz unabhängig von dessen Alter aus.60 Völlige rechtliche Selbständigkeit konnte das Kind zu Lebzeiten des Vaters nur durch Auszug aus dem gemeinsamen Haushalt, insbesondere im Falle einer 55 Vgl. neben Ssp. Ldr. I 42, 1 die Nachweise bei Stobbe (Fn. 10), Bd. 4, § 264, S. 430; dort mit Hinweisen auf die insoweit widersprüchliche Lage nach dem Schwabenspiegel. 56 Für weitere Nachweise vgl. Kraut (Fn. 10), Bd. I, S. 145 f. In anderen mittelalterlichen Rechten begegnet man auch der Grenze von 24 Jahren, vgl. die Nachweise bei Stobbe (Fn. 10), Bd. 1, § 40, S. 288. Verwirrend wirkt die gelegentliche Vermischung gemeinrechtlicher Altersgrenzen mit deutschrechtlichen Begriffen in spätmittelalterlichen Quellen, z. B. im Nürnberger Stadtrecht 1479 XVIII, 6, wo das Erreichen der pubertas mit 14 bzw. 12 Jahren (vgl. unten bei Fn. 68) abweichend von der Terminologie des Ssp. als „zu ihren Tagen kommen“ bezeichnet wird. Der Ssp. verwendet für diese Altersgrenze den Begriff „Jahre“. 57 Ssp. Ldr. I 23 §§ 1 und 2; Ldr. II 17 § 2. 58 Weiterführend etwa Erler, Adalbert, Art. Vormundschaft, in: HRG V (1. Aufl.), Sp. 1050–1055, hier Sp. 1051. 59 Vgl. Repgen, Tilman, Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2001, S. 336 m. w. N.; zur geschichtlichen Entwicklung der elterlichen Gewalt Schumacher, Silvia, Das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern in der Privatrechtsgeschichte, Frankfurt am Main 1999. 60 Stobbe (Fn. 10), Bd. 4, § 259, S. 387 ff.; Coing, Helmut, Europäisches Privatrecht, Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S. 250. Anders die Auffassung von Kraut (Fn. 10), Bd. II, Göttingen 1847, S. 591, 597, 646, die väterliche Gewalt habe ursprünglich auch ipso facto mit der Erreichung der Volljährigkeit geendet.

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Heirat, gewinnen.61 Bis dahin wurden die Hauskinder zwar mit Erreichen der Pubertät mündig, aber sie konnten nicht ohne Zustimmung ihres Vaters vermögenswirksame Verfügungen tätigen.62 2. Altersgrenzen im rezipierten römischen Recht Seit seiner Rezeption in Oberitalien ist das römische Recht auch nördlich der Alpen wirksam geworden. Zusammen mit dem Recht der katholischen Kirche war es am Ende des Mittelalters in ganz Deutschland als subsidiäre Rechtsquelle anerkannt und bildete das so genannte „gemeine“ Recht.63 Danach begann die Rechtssubjektivität des Menschen mit der Geburt.64 Bis zum Alter von 7 Jahren galten die Kinder (infantes) als unfähig zum Sprechen der Verpflichtungsformeln und daher als unmündig.65 Gaius hatte das mit dem fehlenden Verstand in diesem Lebensalter begründet.66 Die Unmündigen konnten nur durch ihren Vormund (tutor) rechtlich handeln. Beschränkte Geschäftsfähigkeit billigte man aber den „unreifen größeren Kindern“ während der sogenannten impubertas infantia maior zu. Lediglich rechtlich vorteilhafte Geschäfte konnte der impubes ohne Zustimmung abschließen.67 Die impuberes standen weiterhin unter einer Pflichtvormundschaft, die bis zum Eintritt der körperlichen Reife unabhängig vom konkreten Einzelfall bei Jungen im Alter von 14, bei Mädchen im Alter von 12 Jah61 Das ist auch weitgehend die Situation im gemeinen Recht, vgl. Coing, Europäisches Privatrecht (Fn. 60), S. 249 f. mit Nachweisen aus der gemeinrechtlichen Literatur. Der innere Grund ist vor allem die wirtschaftliche Unselbständigkeit der Hauskinder. Zur elterlichen Gewalt im Naturrecht vgl. Klippel, Diethelm, Elterliche Gewalt und Kindesrechte im deutschen Naturrecht, in: Festschrift für Dieter Henrich zum 70. Geburtstag, hrsg. von Gottwald, Peter, Bielefeld 2000, S. 371–384, m. w. N. S. 373 Anm. 5. 62 Schröder, Richard/Künßberg, Eberhard Frhr. v., Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl. Berlin und Leipzig 1932, § 61, S. 817; einige Quellennachweise bei Kraut, Wilhelm Theodor, Grundriß zu Vorlesungen über das deutsche Privatrecht, 6. Aufl., bearbeitet von Frensdorff, Ferdinand, Berlin und Leipzig 1886, § 184 Nr. 4 f., 15, § 186, § 187 Nr. 3 f.; vgl. auch Ogris, Art. Mündigkeit, HRG III (1. Aufl.), Sp. 738–742, hier Sp. 740 f. 63 Überblick bei Repgen, Tilman, Ius commune, in: Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Haferkamp, Hans-Peter und Repgen, Tilman, Köln 2007, S. 157–173. 64 Lauterbach, Wolfgang Adam, Collegii theoretico-pracitici, Tübingen 1726, tom. I, pp. 104 s., zu: D. 1.5. n. 26 f.; nichts anderes galt für das sächsische Recht, vgl. Ssp. Lnr. c. 26 § 1 am Ende. 65 Knothe, Hans-Georg, Zur 7-Jahresgrenze der „Infantia“ im antiken römischen Recht, in: Studia et documenta historiae et iuris 48 (1982), S. 239–256. Dort auch die Nachweise zu einigen Zweifelsfragen hinsichtlich von Interpolationen. 66 Inst. 3.19.10. 67 Weitere Einzelheiten bei HKK-BGB/Thier, §§ 104–115 Rn. 6.

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ren dauerte.68 Mit dem Erreichen dieses Alters endete die Vormundschaft. Die Kinder wurden voll geschäftsfähig. Dennoch trug das römische Recht seit der Einführung der Lex Plaetoria ungefähr 200 v. Chr. dem Umstand Rechnung, dass Jugendliche in diesem Alter leicht zu übervorteilen und deshalb schutzbedürftig sind.69 Bis zum Alter von 25 Jahren wurde den minores, den Minderjährigen, wie sie fortan heißen, eine besondere Einrede gegen eine Leistungsklage des Vertragsgegners gewährt, später auch noch ein Schadensersatzanspruch.70 Den Minderjährigen wurde ein curator zum Zwecke der Prozessvertretung und Vermögensverwaltung zugeordnet. Die Kuratel war schon in klassischer Zeit die Regel.71 So verschob sich praktisch die Grenze zur vollen Geschäftsfähigkeit trotz der Mündigkeit beim Erreichen der Pubertät auf die Volljährigkeit mit 25 Jahren.72 Dieses dreischichtige Modell – infantia (bis 7 Jahre) – impubertas (bis 12/14 Jahre) – pubertas (bis 25 Jahre73) – hat das gemeine Recht des Mittelalters übernommen. Ähnlich wie im Sachsenspiegel unterstand das Hauskind auch im gemeinen Recht der väterlichen Gewalt, auf die die genannten Altersgrenzen keinen unmittelbaren Einfluss hatten. Wer Hauskind war, bedurfte trotz Mündigkeit und Volljährigkeit für vermögenswirksame Verpflichtungen der Zustimmung des pater familias. Auch das Ende der väterlichen Gewalt hing nicht von der Erreichung einer bestimmten Altersgrenze, sondern von der wirtschaftlichen Verselbständigung des Hauskindes ab.74 68 Vgl. Inst. 1.22 pr. = C 5.60.3; die römische Differenzierung nach den Geschlechtern begegnet schon im spätmittelalterlichen deutschen Recht, vgl. die Nachweise bei Stobbe (Fn. 10), Bd. 1, § 40, S. 287 Anm. 11; ferner: Kraut (Fn. 10), Bd. I, S. 162. 69 Die Notwendigkeit des Schutzes Minderjähriger ergab sich gerade im Mittelalter aus dem Umstand, dass im Vergleich zu heute die Eltern oft sehr viel früher verstarben. Der Erbfall trat durchschnittlich in den frühen Zwanzigerjahren eines Menschen ein. Aber etwa die Hälfte von diesen hatten bereits unter 20 Jahren geerbt, Russell (Fn. 15), S. 29. Die Zahl der minderjährigen Erben war also erheblich groß. Auf 100 Arbeitsfähige (14–59jährige) kamen 52 unter 14jährige. Zum Vergleich: Bundesrepublik Deutschland 1973: 36,4 unter 14jährige zu 100 Arbeitsfähigen, Russell (wie zuvor), S. 28. 70 Wacke, Andreas, Zum Rechtsschutz Minderjähriger gegen geschäftliche Übervorteilungen, TRG 48 (1980), S. 203–225; HKK-BGB/Thier, §§ 104–115 Rn. 9 f. m. w. N. 71 Vgl. Ulpian D. 4.4.1.3. 72 Zu beachten ist die Möglichkeit, Männern mit 20, Frauen mit 18 Jahren die „venia aetatis“ zu gewähren und sie so von der Kuratel unabhängig zu machen. 73 So die Festlegung in Inst. 1.23 pr. Die Kuratel ist in dieser Vorschrift als Pflicht ausgestaltet. Zur antiken Entwicklung der Altersgrenzen vgl. Schiemann, Gottfried, Art. Minores, in: DNP VIII (2000), Sp. 232–234; Wesener, Gunter, Art. pubertas, in: DNP X (2001), Sp. 574–575. 74 Für nähere Einzelheiten vgl. Coing, Europäisches Privatrecht (Fn. 60), S. 249 f.

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3. Hamburger Stadtrecht Als Beispiel für eine städtische Rechtsordnung soll Hamburg dienen. Ein ganzes Kapitel des systematisch gegliederten Stadtrechts von 127075 befasste sich mit der Vormundschaft.76 Dort hieß es unter anderem: Noch pape noch vrouwe noch mannes houet benedden xviii iaren en mach sake vorderen vor richte, noch antworden, noch gud uplaten efte geven ane vormund . . .77

Weder Pfaffen noch Frauen noch Männer unter 18 Jahren dürfen (als Kläger) Forderungen vor Gericht erheben, noch (als Beklagte) antworten, noch Gut auflassen oder vergeben ohne Vormund.78

Die Norm schreibt für Geistliche, für Frauen79 und für unter 18jährige Männer eine Pflichtvormundschaft vor. Der Mündigkeitstermin liegt – wie übrigens auch in den mittelalterlichen Stadtrechten von Lübeck, Bremen und Braunschweig80 – bei 18 Jahren.81 Das revidierte Stadtrecht von 1497 (D III) behielt die Altersgrenze von 18 Jahren unverändert bei, unterwarf aber die Geistlichen nicht mehr der Pflichtvormundschaft. Das mittelalterliche Hamburger Stadtrecht kennt also ein zweischichtiges Modell. Mündigkeit, Ende der Minderjährigkeit und Ende der Pflichtvormundschaft fallen zusammen auf das Erreichen der Volljährigkeit. 75 Eine Rekonstruktion des Urtextes hat jüngst Eichler, Frank vorgelegt (Das Hamburger Ordeelbook in der Erstfassung von 1270, Hamburg 2007). 76 Stück E, vgl. Eichler, Erstfassung, S. 50 f. 77 HambStR 1270 E III; der Text ist zitiert nach dem Kopenhagener Codex von 1493, ed. bei Eichler, Frank, Das Hamburger Ordeelbook von 1270 samt Schiffrecht, Diss. jur. Hamburg 2005, S. 160. Nur orthographisch anders die Urfassung bei Eichler, Erstfassung, S. 50. 78 Übersetzung nach Eichler (Fn. 77). 79 Die so genannte Geschlechtsvormundschaft, der die Frauen unabhängig von ihrem Alter unterworfen waren, war im Mittelalter nur partikularrechtlich verbreitet, jedoch im gemeinen Recht nicht anerkannt, vgl. Coing, Europäisches Privatrecht (Fn. 60), S. 198 f. mit Nachweisen aus der älteren Literatur. 80 Lübeck 1240, art. 114; Bremen 1303, art. 8; Braunschweig 1408, cap. 49 b; später ist dieser Mündigkeitstermin auch zu beobachten im Bayerischen Landrecht 1518, tit. 51, art. 4, im Dithmarsischen Landrecht 1567, art. 24. Eine Parallele enthält auch die Goldene Bulle von 1356, die in cap. 7, § 4 den Mündigkeitstermin für die Kurfürsten ebenso festsetzte. Zu allem vgl. Kraut, (Fn. 10), Bd I, S. 135 f., forensische Beispiele ebendort, S. 150. 81 Abweichend verlangte Art. A XIII (= I 12) für das Einverständnis in eine Erbteilung ein Mindestalter von 20 Jahren. In den späteren Fassungen des Stadtrechts ist diese Altersgrenze auf 18 Jahre gesetzt worden. Möglicherweise war die ursprüngliche Diskrepanz ein schlichter Irrtum, Eichler, Ordeelbook (Fn. 77), S. 161; ohne Erklärung bleibt Baumeister, Hermann, Das Privatrecht der freien und Hansestadt Hamburg, Bd. 2, Hamburg 1856, § 90, S. 165.

Privatrechtliche Altersgrenzen in rechtshistorischer Perspektive

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Zu Beginn des 16. Jahrhunderts reformierte die Stadt ihr Rechtsbuch und publizierte es erstmals in hochdeutscher Sprache. Der Rat der Stadt Hamburg hatte beschlossen, „bey eingefallener enderung der Zeite und Leuffte, zu fürderlicher entscheidung der streitigen Partheyen, vnd schleuniger abrichtung . . . solche alte Statuta, Satzung und GerichtßOrdnung, in eine gute vorstendliche richtigkeit zu bringen.“82

Es waren letztlich dieselben Überlegungen wie auf der Reichsebene zur Reichspolizeiordnung, die nun in den Städten zur Reformation der Rechtsordnungen führten, also insbesondere die Änderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. So enthielt das Stadtrecht von 1603 beispielsweise zum ersten Mal in Deutschland ein geschriebenes Wechselrecht.83 Bemerkenswert ist die schon im römischen Recht84 geläufige Begründung der Vormundschaft mit der Unverständigkeit der Minderjährigen und dem Gemeinwohl: „Nach dem dieser guten Stadt/vnd gemeinem besten mercklich und viel daran gelegen/daß diejenige/so in ihrem vnverstendtlichem Minderjährigem alter/durch den zeitlichen todt ihrer Eltern beraubet werden/mit Vormündern gebürlich versehen/auch von denselben Vormündern ihren untergebenen Pupillen und Pflegkindern mit allem getrewem fleiß und ernst fürgestanden werde“.85

Hierbei habe man bisher „nicht wenig mangel gespüret“, so fährt das Gesetz fort und schließt sich dann bewusst der Reichspolizeiordnung von 1577 an: „Als haben wir so wol auß jetzt erregten vrsachen/vnd erinnerung vnsern Obrigkeit Ampts/als auch in krafft nehern sieben vnd siebentzigsten Jahres zu Franckfurt am Mayn/reformirten und verbesserten PoliceyOrdnung/diese hernach gesetzte Maß und Ordnung verfasset . . .“86

Mit derselben Motivation wie die RPO bestimmt das Stadtrecht: „Und demnach anfenglich/weil in gemeinen Rechten vnd üblichem gebrauch/ dreyerley unterschied der Vormünder/so den vnmündigen Kindern/biß sie zu ihren Jahren kommen/fürstehen sollen/ . . .“87

Die angesprochenen Unterschiede beziehen sich auf die Art und Weise der Bestimmung des Vormunds. An dieser Stelle bleibt aber offen, wo die Altersgrenze verläuft, also wann die Kinder „zu ihren Jahren“ kommen. Klarer spricht es eine andere Vorschrift desselben Titels aus: 82 Zitiert nach Gödan, Jürgen Christoph, Einführung zu: Der Stadt Hamburgk Gerichtsordnung und Statuta, 1605, ND Hamburg 1978, S. 2. 83 Kellenbenz, Handel und Gewerbe (Fn. 41), S. 449. 84 Vgl. oben Fn. 66. 85 StR 1603 III 6, Vorbem., S. 325. 86 StR 1603 III 6, Vorbem., S. 325 f. 87 StR 1603 III 6, 1.

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„Alle Vormünder/so vnmündigen Kindern gesetzt oder verordnet/die bleiben in Verwaltung solcher Vormundtschafft/biß die Pflegkinder ihr mündig Alter/das ist/ die Knaben viertzehen Jahr/und die Mägdlein zwölff Jahr völliglich erlangt haben/Vnd nach außgang dieser zeit/sollen die Vormünder deroselben ihrer Pflegkinder Curatores oder Versorger seyn/biß die Knaben achtzehen Jahr ihrers alters erfüllet haben/Alßdann dieselbe der Curation und Vormundtschafft allerdings erledigt/ihre Person und Güter in: vnd ausserhalb Gerichts selbst regieren und vertreten muegen . . .“88

Das Stadtrecht verlässt also das mittelalterliche Regelungsmodell und folgt dem gemeinrechtlichen Muster: Die Mündigkeitsgrenze liegt zwar bei 14 bzw. 12 Jahren, wirkt sich aber kaum auf die Bevormundung des Minderjährigen aus. Junge Männer werden mit 18 Jahren volljährig und damit aus der Vormundschaft bzw. Kuratel89 frei. Der Form nach lehnt sich das Stadtrecht an die RPO an, der Sache nach bleibt es aber bei der Zweischichtigkeit der mittelalterlichen Regelung, wonach die entscheidende Altersgrenze bei 18 Jahren liegt, weil die Zwischengrenze der Pubertät sich faktisch kaum auswirkte. Die Kinder behielten unter anderer Bezeichnung ihren tatsächlichen Status bei. Die Anpassung an das Reichsrecht fiel umso leichter, als man in der Sache auf dem Hergebrachten beharren konnte.90 Bis zur Volljährigkeit standen nun alle Kinder unter einer Vormundschaft, die nach Erreichen der Pubertät „Curation“ genannt wurde, sich aber inhaltlich nicht von der Vormundschaft unterschied.91 In einem Rezess von 1674 beschloss man eine Änderung der Grenze zur Volljährigkeit. Sie sollte nun bei 20 Jahren liegen: „Weil auch die Erfahrung bezeuget, daß junge Leute unter 20 Jahren ihren Sachen nicht wohl vorzustehen wissen, sondern gleich den Unmündigen durch böse Leute in gefährliche Handlung geführt, und um ihre väterliche angeerbte Mittel liederlich gebracht werden: so soll hinfüro nach dieser Stadt Rechte niemand vor mün88

StR 1603 III 6, 21. Vorbild dafür: Nürnberger Stadtrecht von 1564 III 39, 11

§ 1. 89 Die ursprüngliche Differenzierung von Tutel und Kuratel ist im neuzeitlichen Recht nicht mehr relevant; für die Nachweise vgl. Stobbe (Fn. 10), Bd. 4, § 265, S. 432 f. 90 Diese Feststellung gilt über die Frage der Altersgrenze hinaus. So behält StR 1603 III 6, 20 die auch im Mittelalter anzutreffende Praxis bei, dass der Vormund entgegen der gemeinrechtlichen Situation aus dem Vermögen des Kindes eine „zimliche belohnung“ zu ziehen berechtigt ist. Die RPO 1577 wollte das gerade verhindern, weil man hierin eine Gefahr der Benachteiligung der Mündel sah, vgl. etwa RPO 1577 Tit. 32, 4 [Weber (Fn. 20), S. 261], wo betont wird, dass der Vormund die Güter nicht zu seinem eigenen Nutzen verwenden dürfe. Das Stadtrecht hat die Abweichung vom gemeinen Recht in III 6, 20 sogar eigens betont. 91 Zur Auswahl des Vormunds und seinen Rechenschaftspflichten vgl. Baumeister (Fn. 81), S. 167 ff.; zur Gleichsetzung von Vormundschaft und Curation vgl. ebendort S. 201 f.

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dig geachtet werden, er habe denn das 20ste Jahr seines Alters völlig erreicht und zu Ende gebracht, . . .“92

Die Vorschrift wurde dann zu Beginn des 18. Jahrhunderts in die neue Hamburger Gerichtsordnung übernommen,93 allerdings, wie ein Kommentator trocken bemerkte, in der Praxis nicht befolgt – man blieb bei 18 Jahren.94

IV. Erträge Der kurze Rundgang durch die Privatrechtsgeschichte hat Aufschluss über vielfache Versuche gegeben, normativ die Kindheit einzugrenzen. Man stößt dabei auf einige verbreitete, gleichmäßige Erfahrungen, die zum Teil aus den Notwendigkeiten des Lebens geboren erscheinen. Kleine Kinder werden überall und ausnahmslos als unmündig behandelt. Eine erste Altersgrenze legt das gemeine Recht mit 7 Jahren fest. Die nächste Altersgrenze ist das Erreichen der Pubertät – eine Altersgrenze, die erst unsere moderne Privatrechtsordnung vollständig ignoriert. Insofern gleicht das heutige Modell wieder dem mittelalterlichen Stadtrecht Hamburgs. Das gemeine Recht schleppte hingegen die antikrechtliche Differenzierung fort. Das konnte man sich trotz geänderter Umstände erlauben, weil die praktische Bedeutung der Zwischengrenze beim Erreichen der Pubertät durch die regelhafte Kuratel bis zur Unkenntlichkeit relativiert worden war. Dass diese Zwischengrenze unwichtig geworden ist, lässt sich vor allem mit den veränderten wirtschaftlichen Lebensbedingungen erklären. Zunehmende Bedeutung hatte hingegen die Volljährigkeit, deren Beginn zwischen 18 und 25 Jahren schwankte. Fragt man nach der Relevanz der Altersgrenzen für die Vormundschaft, so fällt auf, dass mit der Rezeption und dem parallelen Wiederaufkommen der Geldwirtschaft die Grenze zur rechtlichen Selbständigkeit des Kindes hinausgeschoben wurde. Hatten noch manche mittelalterlichen deutschen Rechtsquellen die Mündigkeitsgrenze bei der Pubertät gezogen,95 mit der 92

Rezess von 1674, Art. 71, hier zitiert nach Baumeister (Fn. 81), S. 166 Fn. 6. GerichtsO 1711 VIII, 1; eine VO wegen der Minderjährigkeit vom 4.9.1732 setzte dann für Mädchen wieder den Mündigkeitstermin auf 18 Jahre fest. An der in Hamburg erhalten gebliebenen Institution der Geschlechtsvormundschaft ändert das nichts, vgl. Baumeister (Fn. 81), S. 202 Fn. 9. Vollends fragwürdig ist die bis ins 19. Jahrhundert beibehaltene Begründung für die Geschlechtsvormundschaft aus der „Schwäche und Unerfahrenheit des weiblichen Geschlechts“ (Baumeister, S. 206), da gleichzeitig „Handelsfrauen“ im Rahmen ihres Geschäftsbetriebs die volle Geschäftsfähigkeit zugestanden wurde (Baumeister, S. 212 f.). 94 Baumeister (Fn. 81), S. 166 Fn. 6. 95 Ausführliche Belege zu sonstigen deutschrechtlichen Quellen bei Kraut, Vormundschaft (Fn. 10), Bd. 1, S. 110–165; Stobbe, Handbuch (Fn. 10), Bd. 1, § 40, S. 284 ff.; zur 12-Jahres-Grenze: Stobbe, wie zuvor, S. 285 Anm. 5. 93

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Folge, dass der Jugendliche nur einer Wahlvormundschaft unterworfen war, gewann trotz der RPO von 1548 mehr und mehr die Volljährigkeit an Bedeutung. Bis zur Volljährigkeit bestand noch keine volle rechtliche Selbständigkeit. Diese Entwicklung geht allerdings auf der Seite des Vormunds mit einer Verschiebung vom Recht zur Pflicht einher. Beginnend bereits mit den mittelalterlichen Stadtrechten, die die behördliche Obervormundschaft kannten,96 wurden die Vormünder zur Rechenschaft verpflichtet.97 Die Nutzungen verblieben dem Mündel, nicht dem Vormund.98 Damit korrespondierte, dass die Kinder die Bevormundung nicht mehr mit 12 oder 14 Jahren „abschütteln“ konnten. Die Gefahr der Benachteiligung des Mündels wurde so gebremst.99 Die Minderjährigkeit, nicht die Unmündigkeit, wird in der frühen Neuzeit das entscheidende Faktum für Vormundschaft bzw. Geschäftsfähigkeit.100 Erklärlich ist diese Veränderung vor allem aus der seit dem Ende des Mittelalters gestiegenen Komplexität wirtschaftlicher Vorgänge, die komplementär einen verstärkten Schutz Minderjähriger erforderlich machte. Die Bedeutung der Altersgrenze der Volljährigkeit wird im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Recht durch das Rechtsinstitut der väterlichen Gewalt stark relativiert. Anders als heute endete die väterliche Gewalt nicht mit der Volljährigkeit des Kindes, sondern in der Regel erst mit der Begründung eines eigenständigen Hausstandes. Blieb der Volljährige im Elternhaus, so blieb er der väterlichen Gewalt unterworfen. Erst mit der Einführung des BGB wurde einheitlich in ganz Deutschland nach dem Vorbild des 96 Die Obervormundschaft ist aus der Verantwortung des Königs für die Witwen und Waisen entstanden, die bereits bei den fränkischen Königen ausgeprägt war, vgl. Ed. Liutpr. 74, zitiert z. B. bei Stobbe (Fn. 10), Bd. 4, § 265, S. 438; s. a. ebendort, § 266, S. 444 ff. 97 Nachweise bei Stobbe (Fn. 10), Bd. 4, § 268, S. 456; ein Beispiel für ein Rechenschaftsgelöbnis im Hanauer Hofgerichtsprotokoll vom 21.3.1561 führt Meier, Mit Kind und Kegel (Fn. 4), S. 36 f. an. 98 Dazu cf. Erler, Art. Vormundschaft, HRG V, Sp. 1051–1053. 99 Dazu diente auch die Einführung eines stillschweigenden Pfandrechts des Mündels am Eigentum des Vormunds, Stobbe (Fn. 10), Bd. 4, S. 457; aus den Partikularrechten: Nürnberger Reformation 1564 XXI, 2 und XXII, 4; Frankfurter Reformation II, 19, 7; II, 20, 5; VII 2 § 16; Ostfriesisches Landrecht II, 240, 296 nr. 5; Tiroler LandesO III, 46; Mainzer Landrecht V, 9; vgl. Baumeister (Fn. 81), S. 190 Anm. 22. 100 ALR I 1 § 25 begrenzt die Unmündigkeit auf die unter 14jährigen; ebenso § 244 ABGB a. F., cf. heute § 21 II 2 ABGB. Gebhard, Albert, Teilentwurf zum Allgemeinen Teil [1881], in: Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, hrsg. von Schubert, Werner, Berlin 1981, S. 455 (des Nachdrucks), hat bewusst die Anknüpfung an die Grenze der Pubertät abgelehnt.

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ABGB101 und des Code civil102 das Ende der elterlichen Sorge auf den Zeitpunkt der Erreichung der Volljährigkeit festgelegt.103 Da aber das Erreichen der Volljährigkeit nicht notwendig zugleich wirtschaftliche Selbständigkeit bedeutet, musste das BGB die Unterhaltspflicht der Eltern aus dem Bereich der elterlichen Gewalt ausklammern und in die allgemeine Unterhaltspflicht für die Verwandten integrieren.104 Über diese nahe liegenden Erkenntnisse hinaus, lässt sich den geschichtlichen Befunden noch eine weitere entnehmen: Keine Privatrechtsordnung kommt ohne besondere Regeln für die Kindheit aus. Eine gewisse Naturnotwendigkeit führt zur Ausbildung von Rechtsinstituten, die im Kindschaftsrecht zusammengefasst sind. Die Gesetzgeber mögen die Altersgrenzen insbesondere für das Erreichen der Volljährigkeit variieren, vollständig entbehren kann man sie nicht. Fragt man nach der Ursache, so findet man sie im Privatrechtsgedanken selbst. Die Freiheit der Person, die zu schützen die zentrale Aufgabe des Privatrechts ist,105 korrespondiert notwendig mit Verantwortung, die aber nur dem zugerechnet werden kann, der bereits die nötige Einsichtsfähigkeit besitzt. Sonst bedarf die Person des Schutzes. Und so zwingt nicht nur die praktische Erfahrung, sondern auch der Privatrechtsgedanke selbst zur Entwicklung von Altersgrenzen, die das BGB in Übereinstimmung mit dem römischen,106 preußischen,107 österreichischen108 und sächsischen Recht109 sowie dem Dresdner Entwurf,110 aber anders als im Code civil111 auf 7 Jahre für den Übergang zur beschränkten Geschäftsfähigkeit festgelegt hat. Damit trägt die Rechtsordnung dem Umstand Rechnung, dass Kinder in diesem Alter bereits eine gewisse geistige Reife erlangt haben, die es verantwortbar erscheinen lässt, sie begrenzt am Rechtsverkehr teilhaben zu lassen. Die Volljährigkeitsgrenze war im 19. Jahrhundert noch 101

§ 172 ABGB. Art. 372 Code civil a. F. 103 Dazu ausführlich Repgen, Soziale Aufgabe (Fn. 59), S. 346 ff., 360 ff., 367 ff., 381 ff. 104 Repgen, Soziale Aufgabe (Fn. 59), S. 347 f. mit Nachweisen für die Vorbilder im preußischen und sächsischen Recht in Fn. 89. 105 Einige Überlegungen dazu bei Repgen, Tilman, Antidiskriminierung, in: Vertragsfreiheit und Diskriminierung, hrsg. von Isensee, Josef, Berlin 2007, S. 11–98, hier S. 45 ff. 106 Vgl. Windscheid, Bernhard, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 7. Aufl. Frankfurt/Düsseldorf 1891, § 54. 107 ALR I 1 § 25. 108 § 21 ABGB. 109 § 47 SächsBGB 1867. 110 Art. 23 DresdE. 111 Vgl. Art. 1123 f. Code civil. – Nach diesen Vorschriften sind Minderjährige nicht geschäftsfähig. 102

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unterschiedlich: Das gemeine Recht verlangte 25 Jahre,112 Österreich und Preußen 24,113 Frankreich und Italien 21,114 die Schweiz 20,115 das BGB zunächst 21116 und seit dem 1.1.1975 nunmehr 18 Jahre. Es war zu sehen, dass die Mündigkeitsgrenze bei Erreichen der Pubertät zwar anfangs die genannte privatrechtstheoretische Bedeutung hatte, also die Anerkennung der Selbstverantwortlichkeit der Person markierte. Diese Bedeutung hat sich aber im Laufe der Zeit zunächst verloren, da man zwar an der Altersgrenze zur Mündigkeit festhielt, daraus aber nicht mehr die rechtliche Selbständigkeit ableitete. Erst seit der zeitlichen Gleichsetzung mit der Volljährigkeit hat die Mündigkeit ihre ursprüngliche Bedeutung wiedergewonnen.

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D. 4.4.1. § 21 ABGB; ALR I 1 § 26. 114 Art. 388 Code civil; Art. 240 Codico civile. 115 Art. 1 G v. 22.6.1881. 116 In Übereinstimmung mit dem älteren Reichsrecht, vgl. § 1 Reichsgesetz, betreffend das Alter der Großjährigkeit vom 17.2.1875, RGBl., S. 71. 113

Das Kind und sein rechtlicher Vater Von Bettina Heiderhoff

I. Bedeutung der rechtlichen Vaterschaft Wer der rechtliche Vater eines Kindes ist, richtet sich nicht nach der Biologie, sondern es ist im Gesetz bestimmt.1 Geht es um die Rechtswirkungen der Vaterschaft, so kommt es auf diese rechtliche Vaterstellung an. Die Wirkungen der rechtlichen Vaterstellung sind immens. Sie trägt den Charakter eines Alles oder Nichts. Das lässt sich an beinahe jedem beliebigen Punkt ablesen. Es beginnt beim Status: Von der rechtlichen Vaterschaft hängt zunächst die Weitergabe der Staatsangehörigkeit ab. Denn durch die Geburt erwirbt ein Kind nach § 4 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Ob Unterhalt für das Kind geleistet werden muss, richtet sich ebenfalls nach der rechtlichen Vaterschaft (§ 1601 BGB). Und ein gesetzliches Erbrecht besteht nur zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater. Auch die günstige Steuerklasse und die Freibeträge bei der Erbschaftssteuer gibt es nur dann, wenn der rechtliche Vater stirbt. Aber das BGB regelt auch, wer ein Kind pflegen und erziehen darf, bei wem es wohnen kann, wer sich um sein Vermögen kümmert und es gesetzlich vertritt. Das alles ist die elterliche Sorge, und sie steht nach § 1626 BGB den Eltern zu. Gemeint sind, wie stets, die Eltern im Rechtssinne. Von der Elternstellung weitgehend abhängig ist sogar, wer, für den Fall, dass er nicht mit dem Kind zusammenlebt, Kontakt zu dem Kind haben darf. Dieses Recht zum Kontakt mit dem Kind nennt das Gesetz das Umgangsrecht. Und das Umgangsrecht ist nach § 1684 BGB ebenfalls im Großen und Ganzen dem rechtlichen Vater vorbehalten. Überspitzt gesagt bedeutet das, dass das BGB regelt, wer dem Kind Zuwendung (und Liebe) geben darf. Die rechtliche Vaterstellung ist also von umfassender Bedeutung. 1 Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern weltweit. Auch die hier im Folgenden zu erörternden Streitfragen werden in vielen Rechtsordnungen diskutiert. Vgl. insgesamt Spickhoff/Schwab/Henrich/Gottwald, Streit um die Abstammung – ein europäischer Vergleich, Bielefeld 2007.

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II. Entstehung der rechtlichen Vaterschaft 1. Übersicht Wie ein Mann zum rechtlichen Vater eines Kindes werden kann, bestimmen die §§ 1592 ff. BGB. § 1592 BGB sieht dabei drei Möglichkeiten vor, wie ein Mann die rechtliche Vaterstellung erhalten kann. Bekommt eine verheiratete Frau ein Kind, so ist nach § 1592 Nr. 1 BGB ihr Ehemann der rechtliche Vater des Kindes. Es ist ganz gleich, ob es im konkreten Fall völlig ausgeschlossen ist, dass er das Kind gezeugt hat. Diese international verbreitete Regelung nennt man kurz auch die „pater est“-Regel. Bekommt eine unverheiratete Frau ein Kind, so greift § 1592 Nr. 2 BGB. Es wird derjenige zum Vater, der die Vaterschaft für das Kind anerkennt. Diese Anerkennung ist allerdings nur möglich, wenn die Mutter ihr zustimmt. Völlig egal ist dagegen, ob der Mann, der das Kind anerkennt, dessen genetischer Vater ist. Schließlich gibt es noch die Feststellung der Vaterschaft nach § 1592 Nr. 3 BGB: Wenn die Mutter unverheiratet ist und niemand die Vaterschaft anerkennt, dann kann die Vaterschaft auf Antrag gerichtlich festgestellt werden. Den Antrag können der vermeintliche Vater, die Mutter oder das Kind stellen. 2. Günstigkeitsprinzip versus Genetik In den Fällen, in denen § 1592 Nr. 3 BGB Anwendung findet, ist meist streitig, welcher Mann der genetische Vater des Kindes ist. Dann wird ausnahmsweise die Abstammung vom Gericht ermittelt. Der festgestellte Vater ist nach der Vorstellung des Gesetzes der genetische Vater. Darin unterscheidet sich die Feststellung nach Nr. 3 von den anderen beiden Fallgruppen. Insgesamt ist wichtig: Die Regelungen des BGB stellen nicht vorrangig auf die biologische Vaterschaft ab. Andere Aspekte sind wenigstens ebenso entscheidend: Der Ehemann der Mutter wird zum einen Vater, weil seine Vaterschaft wahrscheinlich ist. Aber zum anderen wird er auch Vater, wenn sicher ist, dass er biologisch gar nichts mit dem Kind zu tun hat. Diese Regelung hat natürlich einen Grund. Sie will dem Kind helfen. Denn es erscheint für das Kind günstig, wenn der Ehemann der Mutter sein rechtlicher Vater wird. Es ist dann Teil einer klassischen Familie. Noch deutlicher wird die Zurückstellung der biologischen Vaterschaft in § 1592 Nr. 2 BGB. Hier ist es überhaupt kein Problem, wenn ein Mann die

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Vaterschaft anerkennt, obwohl das Kind gar nicht von ihm abstammt. Eine gewisse Richtigkeitsgewähr wird oft der Regelung des § 1595 BGB zugesprochen, nach der zur Anerkennung die Zustimmung der Mutter erforderlich ist. Aber vielmehr als auf die genetische „Richtigkeit“ des Vaters wird die Mutter darauf sehen, ob sie den Anerkennenden für einen geeigneten Vater hält – oft wird das bedeuten, dass sie den Mann als Vater für das Kind „auswählt“, den sie liebt.2 3. Ausländerrechtliche Problematik Freilich muss das Motiv einer Mutter bei der Wahl des Vaters nicht immer ehrenhaft sein. So ist in den letzten Jahren das Phänomen aufgetreten, dass deutsche Männer – sei es aus eigenen Stücken oder sei es gegen Bezahlung – einzelne oder auch gleich hunderte von ausländischen Kindern als ihre anerkannt haben. Nach § 4 StAG erhält das Kind als Kind eines deutschen Vaters dann die deutsche Staatsangehörigkeit – und dadurch bekommt wiederum gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG auch die Mutter ein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Zur Eingrenzung dieser missbräuchlichen Vorgehensweise wurde jetzt mit § 1600 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 BGB sehr vorsichtig ein Gesetz geschaffen, welches den Behörden die Anfechtung der missbräuchlichen Anerkennung möglich macht. Aber dieses Gesetz gilt wirklich nur für den Ausnahmefall der Erschleichung des Aufenthaltsrechts. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich ausgesprochen, dass es ansonsten dabei bleiben solle, dass Männer Kinder anerkennen können, die nicht ihre genetischen Abkömmlinge sind.3 4. Konsequenzen Dieses Abstellen auf soziale Faktoren hat natürlich auch einen Nachteil. Wenn der Vater nach § 1592 BGB feststeht, dann sind nämlich die Beteiligten nicht immer zufrieden damit. Insbesondere derjenige, der aus biologischer Sicht zu Unrecht als rechtlicher Vater des Kindes angesehen wird, sowie derjenige, der nicht als rechtlicher Vater angesehen wird, obwohl er der biologische Vater des Kindes ist, können ein Interesse daran haben, dass die rechtliche Vaterstellung noch nachträglich geändert wird. 2 Weiterführend zu der Thematik der Zuordnung des Kindes zu den Eltern Büchler, AJP 2004, 1175 ff. 3 BT-Drs. 16/3291, S. 1.

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Der bekannteste Fall, in welchem rechtliche und biologische Vaterschaft auseinander fallen, sind die so genannten „Kuckuckskinder“, also Kinder, die in eine Ehe hineingeboren sind, bei denen jedoch der Ehemann der Mutter (unwissentlich) nicht der Vater ist.

III. Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft 1. Überblick über die gesetzliche Regelung Das Gesetz kennt zur Korrektur der „falschen Vaterschaft“ die Möglichkeit der Vaterschaftsanfechtung. Mit der Vaterschaftsanfechtung wird die rechtliche Vaterschaft beseitigt. Sie richtet sich nach §§ 1600 ff. BGB und steht dem rechtlichen Vater, der Mutter, dem Kind sowie, mit Einschränkungen, dem „nur biologischen“ Vater offen. Hier seien nur die Anfechtung durch den rechtlichen Vater sowie die Anfechtung durch den biologischen Vater kurz vorgestellt. 2. Anfechtung durch den falschen rechtlichen Vater a) § 1600 I Nr. 1 BGB Erfährt der rechtliche Vater, dass er nicht der biologische Vater ist, so kann er nach § 1600 I Nr. 1 BGB i. V. m. § 1600b BGB seine Vaterschaft binnen zwei Jahren anfechten. Wenn er damit Erfolg hat, hat das Kind keinen rechtlichen Vater mehr. Über diese Anfechtung durch den rechtlichen Vater wurde in den letzten Monaten heftig diskutiert.4 Eine gesetzliche Neuregelung, welche neben der Anfechtung auch die bloße Überprüfung der biologischen Vaterschaft vorsieht, trat zum 01.04.2008 in Kraft. Durch diese nun in § 1598a BGB enthaltene Option soll – überspitzt gesagt – die Anfechtung für den rechtlichen Vater einfacher und zugleich seltener werden. b) Problematik des Anfangsverdachts Der Hintergrund der Diskussion ist in der langjährigen Rechtsprechung des BGH begründet, der als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Anfechtungsklage des Vaters den Nachweis eines so genannten „Anfangsverdachts“ verlangt.5 Der rechtliche Vater muss also, um seine Vaterschaft 4 5

Vorerst nur Willutzki, ZRP 2007, 180. BGH FamRZ 1998, 955; FamRZ 2003, 155.

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überhaupt anfechten zu können, bereits ganz klare Anhaltspunkte dafür haben, dass das Kind nicht sein leibliches Kind ist. Es reicht dabei im Regelfall nicht, dass er meint, das Kind sehe ihm nicht ähnlich. Die Anforderungen der Rechtsprechung sind hoch. Um die Anforderungen zu erfüllen, versuchten nun einzelne Väter, bei Gericht genetische Abstammungstests einzureichen, die sie heimlich machen lassen hatten. Der BGH hat jedoch abgelehnt, solche heimlichen Gentests zu berücksichtigen. Er meinte, diese verstießen gegen das Persönlichkeitsrecht des Kindes.6 Hinter der „Erfindung“ des Anfangsverdachts steht ein ähnlicher Gedanke, wie er vorstehend schon als Grundlage des Abstammungsrechts aufgezeigt wurde: Das BGB findet es nicht so wichtig, ob der rechtliche Vater auch der biologische Vater ist. Wichtiger ist, dass jedes Kind einen rechtlichen Vater hat und dass diese Vaterschaft eine gewisse Stabilität aufweist. Trotz dieses Hintergrunds wird der Gedanke des BGH oft kritisiert. Das steife Festhalten an einer falschen Vaterschaft um des angeblichen Kindeswohls willen erscheint bereits in sich überaus konservativ. Insbesondere aber erscheint es kein geeignetes Mittel zur Erreichung der gewünschten Kontinuität zu sein, an der Schraube der Zulässigkeit von Anfechtungsklagen zu drehen.7 Nun gibt es jedoch auch eine Erwägung, die für den Kontinuitätsgedanken des BGH spricht: Es sind die radikalen Konsequenzen, die ein erfolgreiches Anfechtungsverfahren nach sich zieht. Das Band zwischen Vater und Kind ist danach gekappt – ganz gleich, ob der Vater eigentlich nur Klarheit gegenüber seiner Frau erreichen, das Kind im Grunde aber doch als sein Kind behalten wollte. Der Vater verliert die Sorge, Kind und Vater verlieren ihr Umgangsrecht, ihren Unterhaltsanspruch, ihre erbrechtliche Stellung und das Kind verliert unter Umständen sogar seine (deutsche) Staatsangehörigkeit.8 Diese Konsequenzen gilt es zu vermeiden. Es muss jedoch sachgerechtere Möglichkeiten dafür geben als die ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung des Anfangsverdachts. c) Entscheidung des BVerfG und Neuregelung Die Gesamtproblematik endete mit einem Urteil des BVerfG zur Frage der heimlichen Vaterschaftstests.9 Das BVerfG hat darin zum einen aus6

BGH FamRZ 2005, 340. Wellenhofer-Klein, MünchKommBGB-Ergänzungsband 2006, § 1599 BGB, Rn. 17; Staudinger/Rauscher, § 1599 Rn. 18 ff.; Ohly, JZ 2005, 626, 628. 8 Dazu BVerfG NJW 2007, 425 – jedenfalls bei einem jüngeren Kind kein Verstoß gegen Art. 16 Abs. 1 GG. 9 BVerfG NJW 2007, 753. 7

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gesprochen, dass das Recht des Vaters, zu wissen, wer von ihm abstammt, grundrechtlich geschützt ist und durchsetzbar sein muss. Zum anderen hat es vorgeschlagen, dass es ein isoliertes gerichtliches Verfahren geben solle, in welchem der Vater von Kind und Mutter die Mitwirkung an genetischen Tests zur Feststellung seiner Vaterschaft verlangen kann. Darauf basiert der neue § 1598a BGB.10 Dieser sieht eine isolierte Feststellung vor, die auch in umgekehrter Rollenverteilung (also Kind gegen Vater) möglich ist. Die Klage ist mit einer Anfechtungsklage zunächst nicht verbunden. So soll der bislang bestehende große Nachteil der Anfechtung, nämlich die unmittelbare und endgültige Auflösung des rechtlichen Bandes zwischen Scheinvater und Kind, vermieden werden. Denn allen Beteiligten bleibt nunmehr die Zeit, sich nach der gerichtlichen Feststellung über die Vaterschaft zu bedenken und genau zu überlegen, ob sie die Beendigung der rechtlichen Vaterschaft wirklich wünschen (vgl. auch § 1600b Abs. 5 BGB). 3. Anfechtung durch den nur biologischen Vater a) Notwendigkeit der Anfechtung Bisher hat uns das Anfechtungsrecht des rechtlichen Vaters beschäftigt. Ihm gleichen das Anfechtungsrecht der Mutter (§ 1600 Abs. 1 Nr. 3 BGB) und des Kindes (§ 1600 Abs. 1 Nr. 4 BGB). Das Anfechtungsrecht kann jedoch auch für den biologischen Vater, der nicht zugleich rechtlicher Vater ist, von Interesse sein. Man spricht von ihm kurz als dem „nur biologischen Vater“. Dieser kann dann nicht ohne weiteres rechtlicher Vater werden, wenn das Kind bereits einen anderen Mann als rechtlichen Vater hat. Denn die Möglichkeiten des § 1592 Nr. 2 und Nr. 3 BGB – also die Anerkennung und die Feststellung der Vaterschaft – bestehen nur, wenn das Kind noch keinen Vater hat. Hat es einen rechtlichen Vater (also z. B. den Ehemann der Mutter), so ist die Vaterschaft gewissermaßen schon besetzt – und der biologische Vater muss die bestehende Vaterschaft zunächst erfolgreich anfechten, bevor er selbst als Vater festgestellt werden kann. b) Erschwertes Recht zur Anfechtung Der biologische Vater hat seit einer Gesetzesänderung vom 23.4.2004 nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB grundsätzlich ebenfalls das Recht, die Vaterschaft anzufechten.11 Aber für ihn gibt es eine zusätzliche Hürde: Nach 10 Gesetz zur Klärung der Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren, BT-Drs. 16/6561; Entwurf des Bundesrats BT-Drs. 16/5370.

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§ 1600 Abs. 2 BGB ist die Anfechtung für den biologischen Vater nur dann möglich, wenn das Kind mit seinem rechtlichen Vater nicht in einer sozial-familiären Gemeinschaft lebt. Die dahinter stehende Intention des Gesetzgebers ist leicht zu verstehen. Er hat sich vorgestellt, dass ein Kind, welches einen rechtlichen Vater hat, in einer „heilen Welt“ lebt – in der Regel wird es in einer Ehe aufwachsen. Vielleicht weiß der Ehemann, der ja der rechtliche Vater ist, gar nichts von dem längst vergangenen Seitensprung seiner Frau. Vielleicht denkt er wenig daran oder hofft, das Kind sei doch sein leibliches Kind. Diese „heile Welt“ soll nicht durch die Anfechtung von außen zerstört werden können. c) Interessen hinter der Anfechtung Aber warum sollte der nur biologische Vater rechtlicher Vater werden wollen? Wozu ist es wichtig, dass er der rechtliche Vater ist? Hier kann auf die eingangs gemachten Ausführungen zurückgegriffen werden: Jegliche Rechtsbeziehung und beinahe jegliche faktische Beziehung zu dem Kind setzt für den nur biologischen Vater die Erlangung der rechtlichen Vaterschaft voraus. Für den Aufbau einer Beziehung zum Kind unentbehrlich ist zunächst das Umgangsrecht aus § 1684 BGB. Ein Umgangsrecht ist gewissermaßen der Minimalbedarf – und das ist wirklich nicht viel. Es bedeutet, dass Kind und Vater – auch gegen den Willen der Sorgeberechtigten – das Recht haben, sich zu sehen, gelegentlich Zeit miteinander zu verbringen, und den Kontakt, sei es auch nur per Brief oder Telefon, zu halten. Ein nur biologischer Vater hat kein Umgangsrecht aus § 1684 BGB.12 Erst recht hat der nur biologische Vater nicht die elterliche Sorge für das Kind. Die Sorge für das Kind haben nach § 1626 BGB die Eltern. Gemeint sind – natürlich – die rechtlichen Eltern.13 Auch um die Sorge erlangen zu 11 Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen, zur Registrierung von Vorsorgeverfügungen und zur Einführung von Vordrucken für die Vergütung von Betreuern, BGBl. I 2004, 598 (in Kraft seit 30.4.2004); vorausgegangen war die Entscheidung BVerfGE 108, 82 = NJW 2003, 2151. 12 Vgl. OLG Karlsruhe, NJW 2007, 922; BVerfG FamRZ 2006, 1661 – Nichtannahmebeschluss, keine Verletzung des Art. 6 II GG. In Betracht kommt allenfalls das Umgangsrecht des Kindes aus § 1685 BGB, wenn Vater und Kind länger zusammen gelebt haben. Zu beidem BGH FamRZ 2005, 705; etwas enger wohl EGMR FamRZ 2003, 813 (Entscheidung bereits vom 27.10.1994). 13 Nochmals OLG Karlsruhe NJW 2007, 922: „Inhaber dieser Rechtsposition ist vorliegend der Beteiligte Ziff. 3, der seine Elternrechte und -pflichten nicht allein dadurch verliert, dass die leibliche Vaterschaft des Antragstellers feststeht. Daneben kommt eine elterliche Verantwortung des biologischen Vaters, des Antragstellers, nicht in Betracht; das Nebeneinander von zwei Vätern entspricht nicht der Vorstel-

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können, muss der nur biologische Vater also zunächst rechtlicher Vater werden. Hier muss allerdings eingeschränkt werden. Selbst der rechtliche Vater hat die Sorge nämlich keinesfalls immer. Wie sich aus § 1626a BGB ergibt, hat der mit der Mutter nicht verheiratete Vater die Sorge nur, wenn er gemeinsam mit der Mutter eine Sorgeerklärung abgegeben hat. Ansonsten trägt die Mutter die Sorge nach § 1626a Abs. 2 BGB allein. Diese Regelung wird den biologischen Vater häufig selbst dann von der elterlichen Sorge ausschließen, wenn er die rechtliche Vaterstellung erlangt hat. Ohne ein Einverständnis der Mutter kann ein mit der Mutter nicht verheirateter Vater im geltenden Recht die elterliche Sorge nicht erhalten. Bevor sich diese Frage überhaupt stellen kann, bleibt es aber dabei: Die Erlangung der Sorge ist nach geltendem Recht ausschließlich dann denkbar, wenn der biologische Vater zunächst die rechtliche Vaterschaft erhält. Weitere Interessen des biologischen Vaters sind vorstellbar. So mag tatsächlich die Weitergabe der Staatsangehörigkeit wichtig sein, das Erbrecht kann eine Bedeutung haben und schließlich darf, wie bereits oben kurz aufgezeigt, die emotionale Wichtigkeit der Vaterstellung nicht übersehen werden.

IV. Reformüberlegungen 1. Änderung des Vaterkonzepts? Angesichts der obigen Ausführungen ergibt sich eine Fülle von Fragen. Sie haben alle mit dem Konzept der Vaterstellung zu tun. Enthalten sind die Überlegungen, ob der nur biologische Vater mehr Rechte bekommen sollte, ob sich die Vaterstellung teilen ließe, oder ob es gar angehen kann, dass ein Kind zwei Väter hat. Alle Überlegungen müssen von einem Ziel gelenkt sein, welches unstreitig das oberste Gebot des Abstammungs- und Kindschaftsrechts ist, nämlich vom Schutz des Kindeswohls. Die rechtlichen Interessen der betroffenen Väter müssen dort zurückstehen, wo ihre Durchsetzung das Kindeswohl beeinträchtigt.14 2. Die Realität: Mehrere „Sozialväter“ für ein Kind Untechnisch betrachtet haben viele Kinder zwei Väter, wenigstens aus ihrer eigenen Sicht. Denn es ist in der Realität so, dass viele Mütter in den lung von elterlicher Verantwortung, die Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zugrunde liegt (vgl. BVerfG FamRZ 2003, 812 [819]).“ 14 Hier nur Henrich, in: Spickhoff/Schwab/Henrich/Gottwald (Fn. 1), S. 412.

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Jahren, in denen die Kinder aufwachsen, den Partner wechseln. Sie trennen sich vom ersten Vater des Kindes, und schließen sich mit einem neuen Mann zusammen, der dann die Vaterrolle im Alltag oft einfach einnimmt. Die Kinder mögen unter dieser Veränderung wohl leiden. Aber in aller Regel finden sie es trotzdem ganz normal, zwei oder gar mehr Väter zu haben. Wenn sie klein sind, sagen sie vielleicht Papa Robert und Papa Klaus. Kommt der Vater zu spät in ihr Leben, wird es schwieriger. Dann mag es beim Vornamen bleiben – aber die enge Verbundenheit, das väterliche Verhältnis, kann trotzdem noch entstehen. Wenn in solchen Konstellationen der erste Vater, wie es immer häufiger der Fall ist, seine Vaterrolle trotz der Trennung nicht aufgibt, sondern den Kontakt hält, ja das Kind vielleicht sogar ganz regelmäßig zu sich nimmt oder besucht, dann hat das Kind sogar zwei aktive, erziehende, sorgende Väter.15 Aber damit ist allein ein faktischer Zustand beschrieben. Wie den beiden Vätern auch rechtlich ein dem faktischen Zustand entsprechender, zugleich dem Kindeswohl dienlicher Status verschafft werden kann, ist dagegen fraglich. Die faktische Ausgangslage kann im Übrigen auch ganz anders sein. Oftmals wird es so sein, dass es zwar mehrere Bezugspersonen für das Kind gibt, dass die Beteiligten sich aber nicht genügend vertragen, um eine dem Kindeswohl zuträgliche Lebensweise zu finden. In wieder anderen Fällen liegen sie vielleicht überhaupt nicht im Streit, sind aber dennoch nicht in der Lage, die Verhältnisse eigenständig und ganz ohne rechtliche Grundlage kindeswohldienlich zu klären. Dann hat das Kind zwar trotzdem faktisch zwei „Väter“. Allerdings erleidet es durch die nun dargestellte Situation deutliche Nachteile. Auch für solche komplizierteren Konstellationen muss überlegt werden, inwieweit eine gesetzliche Neuregelung Verbesserungen herbeiführen könnte. Sicher muss man realistisch bleiben: In einer ausweglos zerstrittenen Lage kann auch die beste gesetzliche Regelung nicht helfen. Helfen könnte sie aber in vielen weniger verfahrenen Familiensituationen. Ein plakatives Beispiel mag das illustrieren: Ein intellektuelles Ehepaar hat einen achtjährigen Sohn, der während der Ehe geboren wurde. Das Kind stammt allerdings aus einem Seitensprung, den die Ehefrau auf einem Segeltörn mit einem jugendlichen Skipper gemacht hatte. Beide Eltern wissen dies. Sie halten es für das Beste, wenn der in ihren Augen ohnehin bereits übertrieben wilde, sportbegeisterte und schulisch nur mäßig interessierte Junge nichts davon erfährt. Der biologische Vater würde sich eigentlich gern gelegentlich um das Kind kümmern. 15

Vgl. nochmals auch Büchler, AJP 2004, 1175, 1183.

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Wenn das Gesetz in einem solchen Fall eine stärkere rechtliche Position des biologischen Vaters – insbesondere ein Umgangsrecht – vorsähe, würden die beteiligten Personen damit vermutlich gut zurechtkommen. Das Kind wüsste dann gleichsam „von Anfang an“, dass es einen „zweiten Vater“ hat, und würde ihn gelegentlich treffen. Ob das gut oder schlecht für das Kind wäre, ist juristisch nicht zu klären. Hier sollen die gegenwärtigen Kenntnisse der Entwicklungspsychologie anerkannt werden, nach denen die Kenntnis von der eigenen Abstammung für jeden Menschen eine große Wichtigkeit hat.16 Rechtlich ist es aber wichtig, sich bewusst zu machen, dass eine solche Gesetzesänderung einen erheblichen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der rechtlichen Eltern darstellt. Anders ausgedrückt führt die Stärkung der Rechtsstellung des biologischen Vaters zu einer Schwächung der Rechtsstellung der (bisher alleinigen) rechtlichen Eltern. 3. Mehrere rechtliche Väter a) Konzept Zwei rechtliche Väter für ein Kind gibt es bisher nur dann, wenn in der Lebenspartnerschaft der eine Partner das Kind des anderen Partners adoptiert (§ 9 Abs. 7 LPartG). Durch eine Änderung des Abstammungsrechts ließe sich ohne weiteres erreichen, dass Kinder auch in anderen Fällen zwei rechtliche Väter haben können. Dazu muss man sich frei machen von dem Gedanken, dass rechtliche Vaterschaft etwas mit Abstammung im biologischen Sinne zu tun hat. Das sollte leicht fallen. Denn, wie gezeigt, achtet das Abstammungsrecht schon jetzt eher wenig auf die biologische Abstammung und bezieht recht deutlich soziale Faktoren ein. Gäbe es zwei Väter für ein Kind, so könnten beide in gleicher Weise Anspruch auf die Sorge haben, beide wären unterhaltspflichtig, nach beiden erhielte das Kind seine Staatsangehörigkeit und es würde nach beiden erben. Das Kind hätte so die rechtliche Verbindung zu dem Mann, der mit der Mutter eng verbunden ist und den auch die Mutter als Vater wünscht, zugleich aber zu dem Mann, von dem es biologisch abstammt und mit dem es durch diese genetische Abstammung in natürlicher Weise am meisten verbunden ist. Spontan betrachtet spricht nichts dagegen. Ein biologischer Vater, der sein Kind sehen möchte, sollte die Möglichkeit dazu haben. Ein Sozialvater sollte es auch erziehen dürfen. Und was kann dagegen sprechen, wenn ein 16

Nur Hoffmann-Riem, Das adoptierte Kind, 3. Auflage 1996; Grossmann/Grossmann, Bindung und menschliche Entwicklung; Spangler/Zimmermann, Die Bindungstheorie.

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Kind zwei Unterhaltsschuldner hat? Jedenfalls soweit sich die Beteiligten hinreichend verstehen und alle mit dieser Regelung einverstanden sind, erscheint sie faszinierend. b) Bedenken Genauer besehen kommen aber doch erhebliche Zweifel auf. Wenn das Kind, wie oben beschrieben, von Geburt an in einer Ehe lebt, vielleicht mit Geschwistern, und in dieser Ehe eine Mutter, aber auch einen Vater hat, von denen es erzogen wird – sollte dann der biologische Vater wirklich als gleichberechtigter Dritter hinzutreten? Soll er gar ein eigenes Sorgerecht erhalten können? Stört das nicht das Kind in seinem Aufwachsen? Erschwert das nicht die ohnehin schwierige Aufgabe, eine gerade Linie in der Erziehung des Kindes zu finden? Bei allem Optimismus ist wohl klar, dass es jedenfalls nicht sein kann, dass von Gesetzes wegen drei Personen die Sorge für das Kind haben. Zu bedenken ist, dass diese drei Personen einander häufig menschlich nicht nur nicht verbunden sein werden – im Gegenteil werden sie oft Argwohn gegeneinander hegen. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass eifersüchtige Gefühle zwischen den beiden betroffenen Männern bestehen, und auch die Mutter des Kindes wird nicht selten mit wenigstens einem der beiden betroffenen Männer ein schwieriges persönliches Verhältnis haben. Dieser Gedanke tritt bei der Sorge besonders dramatisch auf, er lässt sich aber verallgemeinern. Durch die Änderung des Abstammungsrechts mit der Folge, dass ein Kind zukünftig zwei Väter haben kann, wird nichts erreicht: Nicht nur die Frage der Sorge, auch viele andere Probleme bleiben weiter bestehen: Wenn zwei Väter unterhaltspflichtig sind, wie haften sie dann? Als Gesamtschuldner? Und wenn ein Mann ein „nur soziales“ und ein „soziales und genetisches“ Kind hat – stehen diese dann gleichberechtigt nebeneinander? Auch in Fragen des Erbrechts und des Unterhaltsrechts? Soll das Kind unter Umständen drei oder mehr Staatsangehörigkeiten haben können? 4. Festhalten am Einvatermodell Die gegenläufige Lösung müsste auf der Basis gefunden werden, dass für jedes Kind wie bisher nur eine Person die rechtliche Vaterstellung einnehmen kann. Hinzutreten müsste dann aber eine Stärkung der Rechtsstellung der weiteren mit dem Kind in Beziehung stehenden Männer. Wie sich aus dem Vorstehenden ergeben hat, können insbesondere drei Konstellationen ausgemacht werden, in denen eine rechtliche Verbindung von Kind und

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Mann sinnvoll sein kann. Zunächst gilt dies für den nur biologischen Vater. Dazu kommen Sozialväter in zwei unterschiedlichen Fällen: Betroffen ist zum einen der ehemalige rechtliche Vater, der seine Vaterstellung durch Anfechtung verloren hat. Zum anderen gibt es Sozialväter, die nie mehr als eine rein soziale Vaterstellung ausgefüllt haben. Es handelt sich um Partner der Mutter, die sich väterlich um das Kind kümmern oder über einen längeren Zeitraum gekümmert haben, ohne ihm biologisch oder rechtlich verbunden zu sein. 5. Notwendigkeit differenzierter Betrachtung Es besteht keine Notwendigkeit, sich von vorneherein für eines der soeben aufgezeigten Modelle zu entscheiden. Wichtiger ist es, zu überlegen, welche Rechte die unterschiedlichen nebeneinander stehenden Vaterfiguren haben sollten. Leitfaden hierbei muss zweierlei sein: An erster Stelle steht, wie im Kindschaftsrecht allgemein, das Kindeswohl. Das Recht des betroffenen Mannes hat daneben aber eine eigene Wertigkeit. 6. Umgangsrecht des nicht rechtlichen Vaters Wenn es für ein Kind zwei Väter gibt, nämlich einen rechtlichen Vater und einen nur biologischen Vater, so sollten beide die Möglichkeit des Umgangs mit dem Kind haben. Wie dies für den Sozialvater, wenn auch in eingeschränkter Form, in § 1685 BGB schon vorgesehen ist, so muss es für den biologischen Vater durch eine neue Regelung ebenfalls im Gesetz statuiert werden. Natürlich kann es ein solches Umgangsrecht nicht in jedem Fall geben. Wenn der Umgang in einem konkreten Fall für das Kind schädlich ist, dann muss er ausscheiden, ebenso wie er in diesen Fällen selbst für die rechtlichen Eltern ausscheidet. Aber der Normalfall liegt anders: Im Normalfall gibt es zwei interessierte Väter, die beide weitgehend gut und richtig mit dem Kind umgehen. Dann lassen sich die rechtlichen Interessen des biologischen Vaters und die Erfordernisse des Kindeswohls gut miteinander verbinden.17

17 Anderer Ansicht war hier der Gesetzgeber, als § 1685 BGB mit Gesetz vom 23.4.2004 eingeführt wurde. Es wurde, auch in der Literatur, vielfach bereits als bedenklich angesehen, dem (früheren) Sozialvater ein Umgangsrecht zu gewähren; der BGH verlangt denn auch, dass die sozial-familiäre Beziehung zum (im entschiedenen Fall sogar biologischen) Vater nur ausreiche, wenn sie noch andauere; so auch die ganz h. A. in der Lit., etwa Huber, FamRZ 2003, 825; Maurer, LMK 2006, I, 76, 77 (der für entscheidend hält, ob die emotionale Bindung noch besteht); Motzer, FamRZ 2004, 231; vgl. auch bereits oben Fn. 12.

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7. Die elterliche Sorge des nicht rechtlichen Vaters a) Elterliche Sorge bei sozialer Vaterschaft? aa) Der „nur soziale Vater“ Wesentlich komplizierter ist die Frage der elterlichen Sorge. Hier kommt nur eine differenzierende Lösung in Betracht. Zunächst sei der Fall der sozialen Vaterschaft betrachtet. Gemeint sind also alle die Fälle, in denen sich ein Mann um das Kind wie ein Vater kümmert, ohne die rechtliche Vaterschaft innezuhaben. In Deutschland kann so ein reiner Sozialvater die elterliche Sorge für das Kind auch mit dem Einverständnis der Mutter nicht erlangen.18 Andere Staaten haben dagegen bereits Regelungen eingeführt, um Sozialvätern die Möglichkeit einzuräumen, die elterliche Sorge zu erlangen. Frankreich hat ein anderes Modell gewählt. Dort kann bei der sog. „einfachen Adoption“19 der Stiefvater das Kind in einer speziellen Form der Adoption als seines annehmen, ohne dass es zugleich den alten Vater verliert.20 Im englischen Recht kann ein Stiefelternteil die elterliche Sorge erhalten. Dies kann auf Basis einer Einigung mit den rechtlichen Eltern oder durch gerichtliche Entscheidung erfolgen.21 Solche Regelungen haben durchaus auch Risiken. Was geschieht etwa dann, wenn der Sozialvater aus seiner Rolle ausscheidet? In England kann er aus der Sorge nur durch Gerichtsentscheidung wieder entlassen werden. In Hinblick auf die Kontinuität erscheint allerdings die französische Regelung noch günstiger. Indem sie einen adoptionsähnlichen Weg wählt, macht sie den Ernst und die Endgültigkeit der Entscheidung für den betroffenen Vater deutlich. bb) Der frühere rechtliche Vater Auch der frühere rechtliche Vater, der das Kind durch (vorschnelle) Anfechtung verloren hat, hat keine Möglichkeit, die elterliche Sorge zu erlan18

Vorgesehen ist nur die so genannte Alltagssorge in § 1687b BGB. Vgl. 360–370-2 Code Civil. 20 Chaussade-Klein/Henrich, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Frankreich, III A 8 (S. 48 f.). 21 Section 4A des Children Act 1989 in Form der Änderung durch den Adoption and Children Act 2002; Lowe, in: Spickhoff/Schwab/Henrich/Gottwald (Fn. 1), S. 340. 19

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gen. Das gilt auch dann, wenn er mit Mutter und Kind zusammenlebt. Immerhin könnte er, wenn er mit der Mutter des Kindes verheiratet ist, durch eine Stiefkindadoption die Vaterstellung erneut erlangen. Das ist allerdings ein äußerst künstlich wirkender, gesetzlich auch so nicht vorgesehener Weg. Nahe liegender wäre es hier, den Eltern die Möglichkeit einzuräumen, die elterliche Sorge einvernehmlich fortzuführen. Durch die Einführung des Gesetzes über die isolierte Feststellung der Vaterschaft sollte das Regelungsbedürfnis für diese Konstellation aber entfallen. b) Elterliche Sorge des „nur biologischen Vaters“? aa) Ausgangslagen Vollends ungesicherten Boden betritt man in dem Moment, in dem man überlegt, ob auch der nur biologische Vater die Möglichkeit der elterlichen Sorge erhalten soll. Er hätte die elterliche Sorge dann gemeinsam mit den rechtlichen Eltern des Kindes. Oftmals ist es realitätsfremd, eine solche elterliche Sorge auch nur anzudenken. Die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge durch mehrere Personen kann nur dann funktionieren, wenn diese Personen sich gut verstehen oder wenigstens in der Lage sind, zum Wohl des Kindes zusammenzuwirken. Im typischen „Kuckuckskindsfall“ wollen die rechtlichen Eltern dem biologischen Vater, wie oben gezeigt, aber noch nicht einmal den Umgang gewähren. Häufig sind Fälle, in denen der rechtliche und der biologische Vater sich persönlich überhaupt nicht kennen oder, anderenfalls, nicht akzeptieren. Es kann aber auch vorkommen, dass die Situation anders liegt. Dann verstehen die beteiligten Personen sich gut und würden gern die Sorge zu dritt ausüben. Schließlich kann es eine Konstellation geben, in der die Mutter gern die Sorge mit dem biologischen Vater gemeinsam ausüben würde, während sie dies mit dem rechtlichen Vater nicht möchte oder nicht kann. Insbesondere letzteres mag keine Standardkonstellation sein, auf die eine gesetzliche Regelung starr fixiert sein dürfte. Eine ideale gesetzliche Regelung sollte aber auch damit umgehen können. Zur besseren Vorstellbarkeit sei auch hier ein Beispiel gegeben: Das Kind ist die Frucht einer großen Jugendliebe der Mutter. Der Mann zeigte angesichts der Schwangerschaft jedoch keine Bereitschaft, sein Leben anzupassen und verfolgte vorrangig seine Karriere als internationaler Fotoreporter. Die Mutter fand bereits kurz vor der Geburt des Kindes einen neuen zuverlässigen und häuslichen Partner. Sie ließ diesen das Kind anerkennen (oder sie heiratete ihn noch vor der Geburt). Viele Jahre später erkennt der Fotoreporter seinen Verlust. Er wendet sich der Mutter wieder zu und die beiden beginnen gemeinsam mit dem Kind ein neues Leben.22

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Hier kann der biologische Vater die Vaterstellung nicht mehr erhalten. Alle Anfechtungsfristen sind abgelaufen. Damit ist auch die Möglichkeit zum Erhalt der elterlichen Sorge für ihn versperrt. Letzteres gilt selbst dann, wenn der rechtliche Vater die Sorge seinerseits nie hatte, weil die Mutter ihn nicht geheiratet hat und ihm die Sorge auch nicht nach § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB durch gemeinsame Sorgeerklärung eingeräumt hat. bb) Konzepte Gerade die zuletzt beschriebene Situation zeigt deutlich, dass die bisherigen Regelungen nicht ausreichen. Dem entgegenzusteuern, indem „einfach“ die Anfechtungsfristen nach § 1600b BGB verlängert bzw. gestrichen werden, kann dabei keine Lösung sein. Ob eine solche Verlängerung aus anderen Gründen sinnvoll wäre, sei hier nicht erörtert.23 Sie hätte jedenfalls einschneidende Folgen für Kind und rechtlichen Vater, die über die Frage der Sorge weit hinausgehen.24 Ein geeignetes Instrument, um zielgerichtet eine Lösung der Sorgerechtsproblematik herbeiführen, enthält sie nicht. Das gesuchte Instrument muss vielmehr passgenau bei der Frage der elterlichen Sorge selbst ansetzen. Es sollte die Möglichkeit bieten, individuelle, dem Kindeswohl dienliche Lösungen zu erreichen. Hierzu können die im BGB bereits vorhandenen Instrumente Vorbild sein. Denn das BGB kennt bereits eine ganze Reihe von Lösungsansätzen für die Problematik des Sorgerechtskonflikts zwischen den Eltern. Nach § 1626a BGB fällt der Mutter ein erheblicher Teil der Entscheidung zu. Diese Bevorzugung der Mutter wird allerdings zu Recht häufig kritisiert. Sie kann ihre Rechtfertigung allenfalls darin finden, dass es unmittelbar nach der Geburt einer sicheren Zuordnung des Kindes zu einem Elternteil bedarf.25 Hat ein Kind einen sorgeberechtigten Vater, so kann es keinesfalls sein, dass dieser durch Bestimmung der Mutter die Sorge verliert. Anders sind die §§ 1671, 1672 BGB ausgestaltet, deren Regelungsbereich der hier interessierenden Situation in gewisser Hinsicht ähnelt. Es geht dort um eine etwaige Umverteilung der Sorge bei einer Trennung der Eltern. Von überragender Bedeutung ist dann der einvernehmliche Wunsch der Eltern. Allerdings unterliegt auch die von den Eltern einvernehmlich gewünschte Ände22 Ähnlich in dem Jugendbestseller „Die wilden Hühner und die Liebe“ von Cornelia Funke. 23 Vergleiche zur aktuellen Situation angesichts des Gesetzes zur Klärung der Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren Schwab, FamRZ 2008, 23, 26. 24 Vgl. nochmals oben I.: Staatsangehörigkeit, Unterhaltspflicht, Verwandtschaft zu Großeltern etc., aber letztlich natürlich auch die Sorge des bisherigen rechtlichen Vaters. 25 BVerfG FamRZ 2003, 285.

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rung der Sorgerechtsträgerschaft immer der gerichtlichen Kindeswohlkontrolle. Eine Änderung auf Wunsch nur eines Elternteils kann jeweils nur dann erfolgen, wenn dies dem Kindeswohl in besonderer Weise dienlich ist. Ein wichtiges Element ist somit stets der gemeinsame Wille der Eltern. Darauf abzustellen hat mehrere Vorteile, die insgesamt gewissermaßen eine Kindeswohlvermutung in sich tragen. Denn es ist immer schon per se gut für das Kind, wenn seine Eltern einvernehmlich handeln. Zudem ist im Regelfall davon auszugehen, dass ihr einvernehmliches Handeln gezielt zugunsten des Kindes erfolgt. cc) Lösungsansatz Im Bewusstsein, dass damit nur ein Ansatz für eine Lösung vorgeschlagen wird, kann somit in folgende Richtung gedacht werden: Wenn alle drei Beteiligten die Sorge gemeinsam ausüben möchten, so soll diese durch gerichtliche Entscheidung mit Kindeswohlvorbehalt den drei Sorgerechtswilligen gemeinsam übertragen werden können. Beantragen dagegen ein oder zwei Elternteile, dass ihnen die Sorge zu Lasten eines bisherigen Sorgerechtsträgers (also des rechtlichen Vaters) erteilt wird, so spricht dagegen zunächst der Gedanke der Kontinuität. Ein solcher Antrag wird deshalb in höherem Maße auf seine Kindeswohldienlichkeit überprüft werden müssen. Er kann nur dann Erfolg haben, wenn er das Kindeswohl erkennbar fördert. Vorstellbar ist das immer dann, wenn der Elternteil, der aus der Sorge austritt, sich bereits zuvor sehr wenig um die Angelegenheiten des Kindes gekümmert hat oder wenn er die Sorge gar in einer dem Kindeswohl schädlichen Weise ausgeübt hat. Auch wenn die Zusammenarbeit der bisherigen Sorgerechtsträger so sehr erschwert ist, dass das Kindeswohl dadurch deutlich belastet wird, kann ein solcher Antrag Erfolg haben. Hierbei handelt es sich um Fälle, in denen auch ein einseitiger Antrag nach § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB, also ein einseitiger Antrag auf Übertragung der Sorge bei Getrenntleben, erfolgreich wäre. Der einseitige Antrag auf Übertragung der Sorge durch den biologischen Vater dagegen könnte, ähnlich wie der einseitige Antrag auf Übertragung der Sorge durch den nichtehelichen, bisher nicht sorgeberechtigten Vater, nur dann (ausnahmsweise) Erfolg haben, wenn den rechtlichen Eltern nach § 1666 BGB die Sorge entzogen worden wäre. Das sind freilich Sonderfälle, in denen die von § 1666 BGB verlangten hohen Voraussetzungen der Kindeswohlgefährdung ohne jede Einschränkung gegeben sein müssten.

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8. Unterhaltspflicht a) Vorüberlegung Die Unterhaltspflicht soll hier, wenngleich ebenfalls nur im Ansatz, erörtert werden, da sich die Frage aufdrängt, ob der aus der elterlichen Sorge ausgeschiedene rechtliche Vater weiter unterhaltspflichtig bleibt, wenn ein anderer Mann die elterliche Sorge übernommen hat. Grundsätzlich stehen elterliche Sorge und Unterhaltspflicht nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis. Beinahe erscheint es umgekehrt zu sein: Die Pflicht zur Zahlung von Unterhalt in Geld entsteht nämlich überhaupt erst, wenn ein Elternteil mit dem Kind nicht mehr zusammenlebt und daher seine Unterhaltspflicht nicht als Naturalunterhalt erbringen kann. Davon darf man sich aber nicht täuschen lassen. Tatsächlich trägt der rechtliche Vater die Unterhaltspflicht aus § 1601 BGB bisher ausnahmslos. Nach einhelliger Auffassung erlischt die Unterhaltspflicht selbst dann nicht, wenn der rechtliche Vater von der Mutter am Umgang mit dem Kind gehindert wird. Wie soll es nun aber sein, wenn der rechtliche Vater die elterliche Sorge an einen anderen Mann, nämlich den Sozialvater bzw. den biologischen Vater verliert? Und wie soll es sein, wenn drei Personen die elterliche Sorge gemeinsam tragen? b) Lösungsansatz Der Unterhaltsanspruch des Kindes muss ungefährdet bleiben. Der rechtliche Vater hat die dauerhafteste, engste und sicherste rechtliche Verbindung zu dem Kind. Eine Änderung des § 1601 BGB sollte daher ausscheiden. Das bedeutet aber nicht, dass nicht das Unterhaltsrecht an die veränderte Sorgesituation angepasst werden könnte. Nichts spricht dagegen, eine zusätzliche Unterhaltspflicht des Sozialvaters einzuführen. Wer eine so starke vaterähnliche Stellung einnimmt, dass er sogar die Sorge für ein Kind übernimmt, dem kann zugemutet werden, auch die entsprechenden materiellen Leistungen zu erbringen. Wäre klar, dass zur Sorgeübernahme auch die alltägliche materielle Versorgung gehört, so würde dies den Beteiligten auch den Ernst ihrer Entscheidung verdeutlichen. Dies gilt nicht nur für den biologischen Sozialvater, sondern auch für den nur sozialen Vater. Seine Rechtsstellung kann mit der Rechtsstellung des Vaters verglichen werden, der bewusst ein fremdes Kind anerkennt. Die Ausgestaltung im Einzelnen ist leider kompliziert. Ausgeschieden werden kann eine anteilige Haftung. Sie ist dem BGB nicht nur ohnehin fremd, sondern sie benachteiligt außerdem das Kind. Es würde nämlich so

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erneut einen Teil seines Anspruchs gegen den rechtlichen Vater verlieren, und es müsste sich stets mit zwei Schuldnern auseinandersetzen anstatt nur mit einem einzigen. Die Unterhaltspflicht von rechtlichem Vater und „Sorgevater“ könnte dem Kind gegenüber somit wohl nur gesamtschuldnerisch ausgestaltet sein. Im Innenverhältnis erscheint bei zwei sorgeberechtigten Vätern eine anteilige Haftung richtig. Bei nur einem sorgeberechtigten Vater sollte dieser vorrangig verpflichtet sein. Der rechtliche Vater haftet dann nur noch subsidiär, also bei Ausfall des Sorgerechtsträgers. Es sei eingeräumt, dass hier grob vereinfacht wurde. Schwierigkeiten können sich insbesondere dann ergeben, wenn die Väter in sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Muss der wohlhabende rechtliche Vater auch dann nach seinen eigenen Lebensverhältnissen leisten, wenn das Kind mit einem weniger gut verdienenden sorgeberechtigten Sozialvater zusammenlebt? Eine offene Frage ist auch, wer zahlungspflichtig ist, wenn das Kind volljährig geworden ist. Muss der Sozialvater die Ausbildung mit finanzieren? Schließlich ist zu beachten, dass § 1601 BGB auch eine umgekehrte Unterhaltspflicht des Vaters gegen das Kind begründet. Soll das Kind seinerseits auch zwei Personen zum Unterhalt verpflichtet sein?

V. Ergebnis und Bedeutung für das Abstammungsrecht Hier wurde vertreten, dass die Rechtsstellung des nur biologischen Vaters verbessert werden sollte. Es wurde zugleich aufgezeigt, dass es auch andere Personen geben kann, die faktisch eine Vaterrolle entweder bereits einnehmen oder die ein berechtigtes Interesse daran haben, diese zukünftig einzunehmen, und die darin rechtlich gestärkt werden müssen. Offen geblieben ist bisher die eingangs gestellte Frage, ob es dennoch nur einen rechtlichen Vater im engen Sinne geben sollte oder ob das Abstammungsrecht die Mehrvaterschaft zulassen sollte. Die vorstehenden Ausführungen scheinen am leichtesten zu realisieren zu sein, wenn es eine feste Zuordnung des Kindes zu einem einzigen Vater gibt und diese Zuordnung auch in Zukunft dem am Kindeswohl orientierten Modell der §§ 1592 ff. BGB folgt. Nach dem so bestimmten rechtlichen Vater richtet sich auch weiterhin die Staatsangehörigkeit, und er ist vorrangig unterhaltspflichtig. Er hat ein Umgangsrecht mit dem Kind und erlangt die Sorge gemäß der §§ 1626, 1626a BGB. Dazu muss es aber weitere väterliche Rechtsstellungen geben, und zwar zweierlei:

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Zunächst gibt es den „Sozialvater“. Das muss mehr sein, als wir bisher unter diesem Begriff verstanden haben. Es muss ein rechtlicher Status sein, der die Möglichkeit der Erlangung der elterlichen Sorge mit sich bringt und der eine subsidiäre Unterhaltspflicht (bzw. die Möglichkeit der Übernahme dieser Pflicht) begründet. Außerdem gibt es den „biologischen Vater“. Hier ist wichtig, dass der biologische Vater Rechte erlangen kann, ohne dem Kind zugleich einen bereits vorhandenen rechtlichen und sozialen Vater weg zu nehmen. Erreichbar sollte im Ergebnis die elterliche Sorge durch mehr als zwei Personen sein. Sie könnte, ähnlich dem Modell der §§ 1671, 1672 BGB, auf gemeinsamen Antrag aller Beteiligten durch Gerichtsentscheidung eingeräumt werden. Beantragen dagegen ein oder zwei Elternteile, dass ihnen die Sorge zu Lasten eines bisherigen Sorgerechtsträgers (also des rechtlichen Vaters) erteilt wird, so wird dieser Antrag nur dann Erfolg haben können, wenn er das Kindeswohl erkennbar befördert.

„Hol es dir und zeig es deinen Freunden“ Der Schutz von Kindern und Jugendlichen im Werberecht Von Peter Mankowski *

I. Money makes the world go round – Kinder und Jugendliche als Zielgruppe von Werbung Kinder und Jugendliche sind eine wichtige Zielgruppe für Werbung. Der Werbewirtschaft braucht man dies kaum zu erzählen. Kinder und Jugendliche sind ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor. Das ist augenfällig und eigentlich eine Platitüde. Diese Platitüde lässt sich indes mit Zahlen untermauern: 2005 hatten Kinder von 6–13 Jahren durchschnittlich e 398 an Taschengeld plus Sondermittel pro Jahr (neben dem Sparvolumen von e 518), Jugendliche erzielten damals ein durchschnittliches Jahreseinkommen von e 893.1 Für 2006 werden Kindern von 6–13 Jahren durchschnittlich e 615 Sparguthaben, e 145 Geldgeschenke und e 246 regelmäßig verfügbares Geld zugeschrieben, für 2007 e 692 Sparguthaben, e 169 Geldgeschenke und e 265 regelmäßig verfügbares Geld.2 Das bei Kindern regelmäßig verfügbare Geld summiert sich für 2006 auf e 1,44 Mrd. und für 2007 auf e 1,53 Mrd., hinzu kommen e 850 Mio. bzw. e 970 Mio. an Geldgeschenken.3 Wer Geld hat, wird umworben. Wer Geld hat, findet auch jemanden, der ihm für dieses Geld etwas anbietet. Kinder und Jugendliche sind eine inte* Ordentlicher Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privat- und Prozessrecht sowie Rechtsvergleichung an der Universität Hamburg seit dem 1. April 2001. Geschäftsführender Direktor des Seminars für Internationales Privat- und Prozessrecht. 1 Die Zahlen sind entnommen aus: KidsVerbraucherAnalyse 2007 des Egmont Ehapa Verlags, abrufbar u. a. unter: http://www.brandora.de/D1990brandora. Neues Zahlenmaterial bietet die KidsVerbraucherAnalyse 2008 Egmont Ehapa Verlags, abrufbar u. a. unter: http://www.ehapamedia.de/pdf_download/praesentation_%20KV AO8.pdf. 2 Die Zahlen sind entnommen aus: KidsVerbraucherAnalyse 2007 des Egmont Ehapa Verlags, zitiert nach Geisler, Jedes zweite Kind surft im Internet, Hamburger Abendblatt vom 8.8.2007, S. 23. 3 Die Zahlen sind entnommen aus: KidsVerbraucherAnalyse 2007 des Egmont Ehapa Verlags, zitiert nach Geisler, Jedes zweite Kind surft im Internet, Hamburger Abendblatt vom 8.8.2007, S. 23.

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ressante Zielgruppe für Leistungsanbieter. Kinder und Jugendliche sind deshalb eine heftig umkämpfte Zielgruppe für Werbung.4 Auch dies ist augenfällig und eine Platitüde. Man führe sich aber nur einen Zusammenhang vor Augen, auf den man gemeinhin nicht achtet:5 Werbeagenturen arbeiten bei der Platzierung im Fernsehen mit einer Werbezielgruppe. Der Kampf um diese als kaufkraftstark beurteilte Gruppe ist der zentrale Kampf. Mittelbar hat er, da Fernsehsender erzielbare Preise für Werbeminuten nach der Quote von Sendungen in der Werbezielgruppe kalkulieren müssen und verlangen können, allergrößte Auswirkungen sogar auf die Programminhalte: Gesendet wird, was jener Werbezielgruppe vermutlich gefallen wird. Diese quotenrelevante Werbezielgruppe für das Fernsehen erstreckt sich von 14 bis 49 Jahren. 14 Jahre liegen unter 18 Jahren. Schon in der Werbezielgruppe für Fernsehwerbung befinden sich also zumindest die Jugendlichen. Und die Untergrenze der Werbezielgruppe korrespondiert auffällig mit der Altersobergrenze für den Rechtsbegriff „Kinder“, die gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 JuSchG bei 14 Jahren liegt.

II. Unterschiedliche Ausformungen der Ansprache von Kindern und Jugendlichen in der Werbung Es gibt verschiedene Formen und Ausprägungen, wie Kinder und Jugendliche in der Werbung angesprochen werden. Zunächst begegnet die unmittelbare Direktansprache von Kindern und Jugendlichen als Nachfragern im eigenen Namen. Besonders plakative Beispiele bietet hier die Werbung für Klingeltöne oder sonstiges Handyzubehör: Dort kann es etwa „Hol dir den Klingelton auf dein Handy“ oder „Hol’s dir und zeig es deinen Freunden“ heißen. Daneben gibt es die Direktansprache von Kindern und Jugendlichen als indirekte Nachfrager über die Eltern. Sie läuft auf den Kern „Lass dir kaufen/schenken“ hinaus. Kinder werden hier als Kaufmotivatoren eingesetzt. Eine versteckte Ansprache von Kindern und Jugendlichen als indirekte Nachfrager über die Eltern oder begleitenden Erwachsenen ergibt sich z. B. bei Quengelware: Unmittelbar vor der Kasse befinden sich in Augenhöhe von Kindern, jedenfalls aber in kindgerechter Höhe Süßigkeiten oder andere für Kinder besonders interessante Artikel. Die Kinder sollen sie sehen und so lange quengeln, bis die sie begleitenden Erwachsenen die betreffende Ware kaufen.6 4 Ebenso z. B. Köhler, Werbung gegenüber Kindern: Welche Grenzen zieht die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken?, WRP 2008, 700. 5 Siehe Mankowski, Peter, Buchbesprechung, VuR 2007, 39, 40.

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III. Jugendspezifische Werbemedien Etliche Werbemedien sind spezifisch auf Kinder ausgerichtet. Ihnen geht es um eine horizontgerechte Erfassung ihrer intendierten Zielgruppe. Deshalb sind sie spezifisch auf deren Horizont zugeschnitten und bedienen sich auch entsprechender Erkenntnisse aus diesem klar eingrenzbaren Segment der Konsumentenverhaltensforschung. Ein kinder- oder jugendspezifisches Werbemedium erfordert keine ausschließliche, sondern nur eine überwiegende Ausrichtung auf Kinder und Jugendliche als Zielgruppe.7 Es schadet also nicht, dass es Erwachsene gibt, welche diese Medien ebenfalls nutzen, z. B. (wie immerhin der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg) noch in einem Alter von über 50 Jahren Fans von Disneys Lustigen Taschenbüchern sind. Indizien sind das redaktionelle Konzept, der Inhalt der Zeitschrift und gegebenenfalls auch das ausgewiesene Alter von Leserbriefschreibern.8 Ebenso wenig schadet es, wenn die inhaltlich unveränderte Werbung auch in anderen Medien geschaltet wird, die keine Jugendmedien sind.9 Die Beispiele für kinder- oder jugendspezifische Medien liegen auf der Hand. Sie beginnen bei den so genannten Musiksendern, also MTV, Viva und im Satelliten-Fernsehen auch z. B. Jamba-TV. Daneben treten spezifische Jugendsendungen auf allgemeinen Fernsehsendern (z. B. „The Dome“ auf RTL). Auch Jugendzeitschriften lassen sich schnell beispielhaft aufzählen. Zu nennen wären etwa „Bravo“, „Girl!“ oder „Mädchen“.10 Entsprechend konzentrierte Ecken mit Anschauungsmaterial bieten jeder gut sortierte Zeitschriftenladen oder jede gut sortierte Zeitschriftenecke in einem 6 Näher zu Quengelware und deren Behandlung im bisherigen Lauterkeitsrecht Brändel, Oliver C., Jugendschutz im Wettbewerbsrecht, FS Otto Frhr. v. Gamm, Köln/Berlin/Bonn/München 1990, S. 9, 11, 16, 20; Benz, Claudia, Kinderwerbung und Lauterkeitsrecht, Konstanz 2002, S. 108 f.; dies., Werbung von Kindern unter Lauterkeitsgesichtspunkten, WRP 2003, 1160, 1164; Heermann, Peter, Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen in der Werbung, FS Thomas Raiser, Berlin/New York 2005, S. 681, 686, 690; ders., in: Münchener Kommentar zum Lauterkeitsrecht, Bd. I, München 2006, § 4 Nr. 2 UWG Rn. 42; sowie Köhler, Helmut, in: Hefermehl, Wolfgang/Köhler, Helmut/Bornkamm, Joachim, Wettbewerbsrecht, 26. Aufl. München 2008, § 4 UWG Rn. 2.17. 7 BGH, GRUR 2006, 776, 777 – Werbung für Handy-Klingeltöne in Jugendzeitschriften; OLG Hamburg, GRUR-RR 2003, 317, 318 – BRAVO Girl. 8 OLG Hamburg, GRUR-RR 2003, 317, 318 – BRAVO Girl. 9 BGH, GRUR 2006, 776, 777 – Werbung für Handy-Klingeltöne in Jugendzeitschriften unter Hinweis auf BGH, GRUR 1994, 304, 305 – Zigarettenwerbung in Jugendzeitschriften; OLG Hamm, MMR 2005, 112. 10 Siehe z. B. BGH, GRUR 2006, 776, 777 – Werbung für Handy-Klingeltöne in Jugendzeitschriften; OLG Hamburg, GRUR-RR 2003, 317, 318 – BRAVO Girl.

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Supermarkt. Auch klassische Comics11 werden von Kindern immer noch viel gelesen. Sie enthalten aber an Werbung zumeist nur Eigenwerbung des publizierenden Verlages. Dies muss aber nicht so sein. Vielmehr können auch Comics und deren Beigaben mit Werbung versetzt sein.

IV. Bisheriger rechtlicher Rahmen für die Regulierung von Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen Der bisherige Rahmen für die Regulierung von Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen im deutschen Lauterkeitsrecht lässt sich so skizzieren: Spezifischster und damit zentraler Tatbestand ist § 4 Nr. 2 UWG. Er besagt: „Unlauter handelt insbesondere, wer Wettbewerbshandlungen vornimmt, die geeignet sind, die geschäftliche Unerfahrenheit insbesondere von Kindern und Jugendlichen, die Leichtgläubigkeit, die Angst oder die Zwangslage von Verbrauchern auszunutzen“. Im UWG steht als zweiter einschlägiger Spezialtatbestand daneben – also ergänzend und konkurrierend zu § 4 Nr. 2 UWG – § 4 Nr. 1 UWG zur Verfügung, soweit Kinder als so genannte Kauf- oder Druckmotivatoren angesprochen werden. Insoweit geht es um moralischen Druck und psychischen „Kaufzwang“ auf die Eltern,12 weil diese dem durch Werbung erweckten Habenwollen der Kinder nachgeben oder weil sie schlicht ihre Ruhe vor weiterem, wiederholtem Begehr der Kinder haben wollen. Dabei sind allerdings zwei Gegenmomente in die Abwägung einzubringen: die Eigenverantwortlichkeit der erwachsenen Eltern und deren Erziehungsaufgabe spezifisch als Eltern. Eltern müssen auch lernen, ihren Kindern Grenzen zu setzen.13 Weitere Werberegulierungen, die natürlich auch Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen erfassen, bieten die allgemeine Vorschriften, die bestimmte Werbearten unabhängig vom Adressaten regulieren: die Verbote irreführender und belästigender Werbung aus §§ 5, 7 UWG. Beide sind einschlägig. Beide weisen aber nichts auf, das gerade spezifisch auf Kinder und Jugendliche zugeschnitten wäre. Beide enthalten keinerlei Differenzierungen nach dem Alter der Adressaten. Ein belästigendes Fax oder eine 11

Angaben zu einzelnen Comics, deren Marktbedeutung und Verbreitung statistisch aufbereitet in KidsVerbraucherAnalyse 2007, http://www.presseportal.de/pm/ 8146/1028076/egmont_ehapa_verlag_gmbh. 12 BGH GRUR 1979, 157, 158 – Kindergarten-Malwettbewerb; OLG Celle GRUR-RR 2005, 387, 388 – Klassensparbuch; Heermann, in: MünchKomm UWG (Fn. 5), § 4 Nr. 1 UWG Rn. 69. Vgl. aber auch OLG Hamburg GRUR-RR 2005, 224, 225 – STERN. 13 Siehe Heermann, in: MünchKomm UWG (Fn. 6), § 4 Nr. 2 UWG Rn. 45; Dembowski, Jürgen, Kinder und Jugendliche als Werbeadressaten, FS Eike Ullmann, Saarbrücken 2006, S. 599, 601.

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Spam-Mail sind belästigende Werbung, gleich, ob Adressat ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener oder gar ein Unternehmen ist. Außerhalb des UWG gibt es einen speziell auf Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen zugeschnittenen Tatbestand: § 6 Abs. 2 Nr. 1 JMStV.14 Er setzt Art. 16 litt. a, b FernsehRL15 um und verfügt ein Verbot von direkten Aufforderungen an Kinder, etwas zu kaufen oder sich kaufen zu lassen, in Fernseh- und Rundfunkwerbung, soweit dadurch die Leichtgläubigkeit und Unerfahrenheit der Kinder ausgenutzt wird. Generell gilt: Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen ist nicht allgemein und schlechterdings verboten; vielmehr müssen jeweils besondere Momente hinzukommen.16

V. § 4 Nr. 2 UWG im Einzelnen: Ausnutzen der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen 1. Grundsätzliches Wettbewerbsrechtlich bedenklich ist das Ausnutzen der rechtlichen oder geschäftlichen Unerfahrenheit (potenzieller) Kunden zur Erlangung eines Wettbewerbsvorteils. Dem trägt § 4 Nr. 2 UWG Rechnung. Vor allem Kinder und Jugendliche sind häufig nicht in der Lage, die wirtschaftliche Bedeutung und die Auswirkungen eines Angebots abzuschätzen. Weiterhin (aber hier nicht weiter von Interesse) sind von § 4 Nr. 2 UWG Verbraucher 14 Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien vom 10.9.2002, zuletzt geändert durch Art. 7 Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 8.10.2004, u. a. GBl. Baden-Württemberg 2003, 93 = BayGVBl 2003, 147; abgedr. u. a. in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 11), Anh. II.13. Eine Verletzung des JMStV ist nach wie vor lauterkeitsrechtlich relevant; heute löst sie Sanktionen nach § 4 Nr. 11 UWG aus; OLG Nürnberg MMR 2005, 464; Schaffert, Klaus, in: MünchKomm UWG (Fn. 6), § 4 Nr. 11 UWG Rn. 182; Ullmann, Eike/Seichter, Dirk, UWG, Saarbrücken 2006, § 4 Nr. 11 UWG Rn. 19; Piper, Henning, in: Piper, Henning/Ohly, Ansgar, UWG, 4. Aufl. München 2006, § 4 Nr. 11 UWG Rn. 11/305. 15 Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30.6.1997 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. EG 1997 L 202/60, und zuvor Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. EG 1989 L 298/23. 16 Scheuch, Silke, Entscheidungsanmerkung, juris-PR BGHZivilR 35/2006 Anm. 4.

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geschützt, die sich in einer wirtschaftlichen, sozialen oder psychischen Zwangslage wie z. B. persönlicher Überschuldung befinden und deshalb stark gefährdet sind, auf unseriöse Jobangebote, Kredite oder Schuldnerberatungen hereinzufallen. Auf das Vorliegen einer Täuschung oder des Einsatzes anderer unsachlicher Mittel wie Zugaben oder aleatorische Reize, die die Unlauterkeit des Vorgehens verstärken können, kommt es nicht entscheidend an. Gegen § 4 Nr. 2 UWG verstößt schon die Ausnutzung der Unkenntnis, Ungewandtheit und Beeinflussbarkeit. Daran sind keine hohen Anforderungen zu stellen.17 Wettbewerbswidrig sind Werbe- und Verkaufsaktionen, die sich gezielt an unerfahrene Personen (Kinder, Jugendliche, Aussiedler usw.) wenden, um deren Unerfahrenheit auszunutzen. Kinder und Jugendliche sind typischerweise noch nicht in ausreichendem Maße in der Lage, Waren oder Dienstleistungsangebote kritisch zu beurteilen. Sie entscheiden sich meist gefühlsmäßig oder folgen einem spontanen Begehren.18 Bei überteuerten oder ungeeigneten Angeboten, die ein verständiger Durchschnittsverbraucher nicht annehmen würde, liegt in der Regel ein Versuch vor, Unerfahrenheit auszunutzen.19 Bei Kindern und Jugendlichen wird deren geschäftliche Unerfahrenheit abstrakt und unwiderleglich vermutet.20 Die Eingriffsschwelle ist bei ihnen niedriger als bei Erwachsenen.21 Die Zielgruppe lässt sich klar definieren und weicht vom Bild des verständigen Durchschnittsverbrauchers nach unten ab. Bei gruppenspezifischer Ansprache einer isolierbaren Gruppe, die ersichtlich nicht den Normalstandard hält, ist eine Beurteilung am Verständnis des betreffenden 17 Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 6), § 4 UWG Rn. 2.17; Henning-Bodewig, Frauke, Neuorientierung von § 4 Nr. 1 und 2 UWG?, WRP 2006, 621, 627; Zagouras, Georgios, Werbung für Mobilfunkmehrwertdienstleistungen und die Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit von Kindern und Jugendlichen nach § 4 Nr. 2 UWG, GRUR 2006, 731, 733; Mankowski, Peter, Klingeltöne auf dem wettbewerbsrechtlichen Prüfstand, GRUR 2007, 1013, 1014. 18 Siehe nur OLG Düsseldorf GRUR 1975, 267, 268 f. – Milky Way; OLG Stuttgart WRP 1978, 151 – Formularschreiben; OLG München WRP 1984, 46, 47 – Sammelschnipsel; OLG Frankfurt/Main GRUR 1994, 522, 523 – LEGO-Hotline; OLG Hamburg WRP 2003, 1003, 1006 = GRUR-RR 2003, 616, 617 – Klingelton; OLG Frankfurt/Main GRUR 2005, 1064, 1065 = WRP 2005, 1305, 1306 – LionSammelaktion; KG ZUM 2006, 56 = AfP 2005, 400 = WRP 2005, 1183 LS; LG Mannheim MMR 2004, 493, 494 m. Anm. Bahr/Radtke-Bonk; Heermann, FS Thomas Raiser, 2005, S. 681, 686; ders., in: MünchKomm UWG (Fn. 6), § 4 Nr. 2 UWG Rn. 16; Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 6), § 4 UWG Rn. 2.17. 19 OLG Frankfurt/Main GRUR 2005, 1064, 1065 = WRP 2005, 1305, 1306 – Lion-Sammelaktion; Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 5), § 4 UWG Rn. 2.17. Anders aber Ullmann/Seichter (Fn. 13), § 4 Nr. 2 UWG Rn. 23. 20 Siehe nur Lettl, Tobias, Das neue UWG, München 2004, Rn. 244; Boesche, Katharina Vera, Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. Heidelberg 2007, Rn. 326. 21 Bülow, Peter, Werbung gegenüber Kindern und Jugendlichen, FS Henning Piper, München 1996, S. 121, 128; Heermann, FS Thomas Raiser, 2005, S. 681, 690.

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Gruppenhorizonts geboten, nicht anhand des Verständnishorizonts eines verständigen erwachsenen Durchschnittsverbrauchers.22 Objektive Analysen des eigenen Bedarfs sind bei Kindern und Jugendlichen selten. Zudem sind sie in besonderem Maße Gruppenzwängen ausgesetzt. Bestimmte Dinge „müssen einfach sein“, um „dazu zu gehören“ und nicht als sozialer Außenseiter ausgegrenzt zu werden.23 Die hergebrachte lauterkeitsrechtliche Fallgruppe des Ausnutzens eines Spiel- und Sammeltriebs24 bildete dies nicht adäquat ab. Der vertragliche Minderjährigenschutz der §§ 107 ff. BGB schließt eine zusätzliche wettbewerbsrechtliche Kontrolle keineswegs aus.25 Dass der Jugendliche einen Vertrag nach § 110 BGB wirksam schließen kann,26 würde ja gerade ermöglichen, dass man seine geschäftliche Unerfahrenheit ausnutzt.27 Das Kostenbewusstsein von Jugendlichen ist auf der anderen Seite in einigen Bereichen dadurch geprägt, dass sie die Kosten ihres Handelns nicht selber zu tragen brauchen, sondern diese Kosten bei Dritten anfallen.28 Für § 4 Nr. 2 UWG ist im Übrigen die bloße Eignung der vorgenommenen Wettbewerbshandlung zur Ausnutzung der geschäftlichen Unerfahrenheit ausschlaggebend; ein Nachweis, dass tatsächlich eine konkrete Übervorteilung erfolgt wäre, ist nicht vonnöten.29 Dies belegt schon der Abgleich mit dem abstrakten Ansatz der §§ 104–115 BGB.30 § 4 22

BGH GRUR 2006, 775 – Werbung für Klingeltöne. OLG Hamburg WRP 2003, 1003, 1006 = GRUR-RR 2003, 616, 617 – Klingelton = MMR 2003, 467 m. Anm. Bahr, Martin; Ullmann/Seichter (Fn. 14), § 4 Nr. 2 UWG Rn. 26; Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1014. 24 Dazu OLG München WRP 1984, 46, 47 – Sammelschnipsel; Fezer, KarlHeinz/Scherer, Inge, UWG, München 2005, § 4-2 UWG Rn. 130–133. 25 Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 6), § 4 UWG Rn. 2.17; ders., Minderjährigenschutz im Lauterkeitsrecht, FS Eike Ullmann, Saarbrücken 2006, S. 685, 689; Dembowski, FS Eike Ullmann, 2006, S. 599, 609; Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1014. 26 Näher dazu Mankowski, Peter mit Bosse, Rolf/Richter, Thomas/Schreier, Michael, Der Missbrauch von Mehrwertdienstrufnummern zulasten der Verbraucher, Gutachten für das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (31.3.2006), S. 200–203; Mankowski, Peter/Schreier, Michael, Klingeltöne auf dem vertragsrechtlichen Prüfstand, VuR 2006, 209, 214 f. 27 Siehe Klees, Andreas M./Lange, Timo, Bewerbung, Nutzung und Herstellung von Handyklingeltönen, CR 2005, 684, 685. 28 Ullmann/Seichter (Fn. 14), § 4 Nr. 2 UWG Rn. 30; Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1015. Allerdings sind bei Klingeltonverträgen in der Regel die jugendlichen Handynutzer selbst die Vertragspartner; Mankowski/Schreier, Wer ist Vertragspartner beim Klingeltonvertrag?, VuR 2007, 1. 29 Klees/Lange, CR 2005, 684, 685 f. unter Hinweis auf Köhler, in: Hefermehl/ Köhler/Bornkamm (Fn. 6), § 4 UWG Rn. 1.8; Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1015 sowie OLG Frankfurt/Main GRUR 2005, 782, 783 – Milchtaler. 30 Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 6), § 4 UWG Rn. 2.10. 23

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Nr. 2 UWG dient direkt dem Schutz der Jugendlichen, nicht dem Schutz der Eltern.31 Daher kommt es darauf an, ob die von der Werbung bezweckte Vertragserklärung von einem Kind oder Jugendlichen abgegeben wird, nicht etwa darauf, wen sie bindet.32 Ausschlaggebend ist im Übrigen die objektive Eignung, geschäftliche Unerfahrenheit Jugendlicher auszunutzen, nicht erforderlich ist eine dahingehende Ausnutzungsabsicht; deshalb ist es nicht notwendig, über eine angebliche subjektive Gutgläubigkeit des Anbieters Beweis zu erheben.33 Andererseits erlaubt auch § 4 Nr. 2 UWG keine Kontrolle des Preis-Leistungs-Verhältnisses als solches.34 2. Deutliche Differenzierung zwischen technischer und geschäftlicher Erfahrenheit Geschäftliche Unerfahrenheit bezieht sich auch und zentral auf den Umgang mit Geld.35 Daher ist es ohne Bedeutung, dass Jugendliche im Umgang mit den technischen Hilfsmitteln der Werbung höchst versiert und sogar weiter als Erwachsene sein mögen, denn diese Versiertheit betrifft nicht die geschäftliche Unerfahrenheit.36 Technische und geschäftliche Erfahrenheit sind zweierlei. Technik hat etwas Spielerisches, Geschäftliches nicht.37 Allein dass die Zahl der infolge der Nutzung eines Handys hoch verschuldeten Jugendlichen stetig steigt, belegt die Notwendigkeit, entsprechende Werbung kritisch zu hinterfragen und ihr gegebenenfalls Einhalt zu gebieten. Die Verschuldungsfalle der Telekommunikationskosten im weiteren Sinne ist eine Gefahr, der man auch mit Hilfe des Wettbewerbsrechts entgegentreten sollte.38 Die Rechtsordnung muss gesellschaftliche Probleme angemessen regulieren.

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Heermann, FS Thomas Raiser, 2005, S. 681, 686. Heermann, in: MünchKomm UWG (Fn. 6), § 4 Nr. 2 UWG Rn. 40. 33 KG ZUM 2006, 56 = AfP 2005, 400 = WRP 2005, 1183 LS. Kritisch dazu Seichter, Dirk, Entscheidungsanmerkung, jurisPR-WettbR 1/2006 Anm. 3. Für ein Erfordernis bedingten Vorsatzes Scherer, Inge, Schutz „leichtgläubiger“ und „geschäftlich unerfahrener“ Verbraucher in § 4 Nr. 2 UWG n. F. – Wiederkehr des alten Verbraucherleitbildes durch die „Hintertür“?, WRP 2004, 1355, 1358; Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 6), § 4 UWG Rn. 2.15. 34 Seichter, jurisPR-WettbR 1/2006 Anm. 3. 35 OLG Hamm MMR 2005, 112, 113. 36 OLG Hamm MMR 2005, 112, 113; LG Mannheim MMR 2004, 493, 494 m. Anm. Bahr, Martin/Radtke-Bonk, Silvia; Klees/Lange, CR 2005, 684, 685; Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1014. 37 Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1014. 38 Ähnlich Bahr, Entscheidungsanmerkung, MMR 2003, 470. 32

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3. Möglichkeit zur Differenzierung je nach Entwicklungsstand und Alter § 4 Nr. 2 UWG eröffnet durchaus die Möglichkeit zu einer Differenzierung je nach Entwicklungsstand und Alter der angesprochenen (Teil-)Kreise von Kindern und Jugendlichen.39 Die Entwicklungspsychologie bestätigt unterschiedliche Potenziale an sozialen und kognitiven Fähigkeiten je nach Alter. Jugendlichen kann entwicklungspsychologisch mehr Eigenverantwortung zugemutet werden.40 Ein Siebzehnjähriger hat einen anderen Horizont als ein Zehnjähriger. Ein Siebzehnjähriger ist kurz vor der auch rechtlich anerkannten Schwelle zum Erwachsensein.41 Man kann ein Kleinkind, das typischerweise Werbung überhaupt nicht als solche wahrnimmt,42 nicht mit einen solchen Jugendlichen über einen Kamm scheren. Innerhalb des eben nur formell einheitlich erscheinenden Tatbestands sind also Binnendifferenzierungen je nach angesprochener Zielgruppe denkbar.43 Der Tatbestand ist kein monolithischer Block, der für alle Altersgruppen Maßstäbe derselben Strenge und Schärfe vorschreiben würde. Allerdings sollte es sich um eine Differenzierung nach Altersstufen und abstrahierenden Wertungen handeln. Werbung ist Massengeschäft, und daran muss sich auch die Regulierung orientieren. Es kommt also nicht darauf, wie verständig oder wie reif einzelne Adressaten der Werbung sind, sondern wie es mit dem typischen Adressaten der intendierten Altersstufe steht. Man mag in Anlehnung an psychologische Überlegungen44 ein Modell mit vier Phasen schon bis zum 14. Lebensjahr (bis 2; 2–6; 7–10; 11 oder älter) entwickeln.45 Indes werden praktische Rückschlüsse daraus nicht immer und häufig kaum möglich sein, denn eine punktgenaue Zuordnung der einzelnen Werbung dergestalt, dass sie nur auf genau eine dieser Phasen ausgerichtet wäre, wird bei vielen Produkten und vielen Werbeformen nicht 39 Albert, Frank, Die wettbewerbsrechtliche Beurteilung der werblichen Beeinflussung von Kindern, Herdecke 2001, S. 43 f.; Fezer/Scherer (Fn. 24), § 4-2 UWG Rn. 111–114; Dembowski, FS Eike Ullmann, 2006, S. 599, 607; Scherer, Inge, Kinderwerbung, in: Pahlow/Eisfeld (Hrsg.), Grundlagen und Grundfragen des Geistigen Eigentums, Tübingen 2008, S. 157, 159 f. Anderer Ansicht Heermann, in: MünchKomm UWG (Fn. 6), § 4 Nr. 2 Rn. 31. 40 Fezer/Scherer (Fn. 24), § 4-2 UWG Rn. 112; Dembowski, FS Eike Ullmann, 2006, S. 599, 607; Scherer, Inge (Fn. 39), S. 157, 160. 41 Albert (Fn. 39), S. 44; Fezer/Scherer (Fn. 24), § 4-2 UWG Rn. 112. 42 Charlton, Michael/Neumann-Braun, Klaus/Aufenanger, Stefan/Hoffmann-Riem, Wolfgang, Fernsehwerbung und Kinder, Opladen 1995, S. 325 ff., 376 ff. 43 Siehe Scherer, Inge, Kinder als Konsumenten und Kaufmotivatoren, WRP 2008, 430, 435. 44 Piaget, Jean, Theorien und Methoden der modernen Erziehung, 1994, S. 189 f. 45 Albert (Fn. 39), S. 43 f.; Scherer, Inge (Fn. 39), S. 157, 160.

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ernsthaft in Betracht kommen.46 Trotzdem wird es Werbung geben, die sich zuordnen lässt. Teletubbies sind für Zehnjährige uninteressant, während umgekehrt Fünfjährige Werbung mit körperlichen Reizen Heranwachsender nicht aufgreifen werden. Beworbenes Produkt, Darsteller oder Werbefiguren, Intensität, Art und Weise der Ansprache, die Platzierung der Werbung in ihrem Umfeld und die Gestaltung der Werbung können helfen, die Differenzierung konkret umzusetzen.47 4. Besondere Preiskorridore für Kinder oder Jugendliche? Preiskorridore oder Preisgrenzen, unterhalb derer eine Ansprache von Kindern und Jugendlichen zulässig sein soll, sind dezisionistisch und vermögen nicht zu überzeugen.48 Zudem können sich massive Probleme bei der Frage verstecken, wer denn berufen sein soll, Preiskorridore festzulegen. Ein gutes Beispiel bietet der für Klingeltöne usw. gerade bei Kindern und Jugendlichen besonders relevante Sektor der so genannten Mehrwertdienste: Wenn der Verhaltenskodex für Telefonmehrwertdienste der Freiwilligen Selbstkontrolle Telefonmehrwertdienste (FST) e. V. die Grenze innerhalb eines Jahres von DM 3,– (2001) auf e 5,– (November 2002) angehoben, also fast verdreifacht hat, ist dies Beleg für Dezisionismus. Denn weder die geistige Reifung der Jugendlichen noch die finanzielle Ausstattung der Jugendlichen werden innerhalb gerade des betreffenden Jahres korrespondierend gestiegen sein.49 Außerdem kann man hinsichtlich der FST Zweifel an deren Unabhängigkeit hegen, da sie allein von Mehrwertdiensteanbietern gegründet worden ist.50 Hinter ihr stehen also eigeninteressierte Kreise, bei denen eine Verständigung zum gemeinsamen Nutzen keineswegs ausgeschlossen ist.

46 Insoweit zutreffend Heermann, in: MünchKomm UWG (Fn. 5), § 4 Nr. 2 UWG Rn. 31. Siehe aber auch Albert (Fn. 39), S. 44; Fezer/Scherer (Fn. 24), § 4-2 UWG Rn. 113. 47 Albert (Fn. 39), S. 50 ff.; Fezer/Scherer (Fn. 24), § 4-2 UWG Rn. 113. 48 So mit Recht Bahr, MMR 2003, 470; Klees/Lange, CR 2005, 684, 686 gegen das Ergebnis in OLG Hamburg WRP 2003, 1003, 1006 = GRUR-RR 2003, 616, 617 – Klingelton; LG Hamburg MMR 2002, 834, 835. 49 OLG Hamburg WRP 2003, 1003, 1006 = GRUR-RR 2003, 616, 617 – Klingelton. 50 LG Hamburg MMR 2002, 834; Bahr, MMR 2003, 470.

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VI. Neue europäische Vorgaben In diese Welt ist der europäische Gesetzgeber massiv eingebrochen. Maßgebliche Rechtsgrundlage wird inhaltlich die Lauterkeitsrichtlinie,51 auch UGP-Richtlinie genannt. Nach ihrem Art. 19 Unterabs. 1 war sie bis zum 12.7.2007 in nationales Recht umzusetzen, das ab 12.12.2007 anzuwenden sein sollte. Für den Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Werbung ist einer ihrer Tatbestände zentral. Die LauterkeitsRL bedient sich – neben einer normativen Aufzählung von Verbotstatbeständen – der so genannten black list-Technik: In einem Anhang zählt sie Praktiken auf, die jedenfalls verboten sind. Die dort aufgezählten Praktiken sind gleichsam indiziert und stehen auf einer schwarzen Liste. Sie sind nicht abschließend, aber sie definieren einen Mindeststandard. Jedenfalls was dort steht, ist sicher verboten. Kindern widmet sich Nr. 28 der europäischen black list. Er brandmarkt als eine unter allen Umständen unzulässige, weil aggressive Geschäftspraxis „die Einbeziehung einer direkten Aufforderung an Kinder in einer Werbung, die erworbenen Produkte zu kaufen oder die Eltern oder andere Erwachsene zu überreden, die beworbenen Produkte für sie zu kaufen“.

VII. Die deutsche Umsetzung Wie ist der deutsche Gesetzgeber die ihm gestellte Aufgabe angegangen? Die erste, nicht eben schmeichelhafte Antwort muss lauten: im Prinzip zu spät. Zum Umsetzungstermin gab es keine deutsche Umsetzung. Zum Umsetzungstermin hatte nicht einmal das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren begonnen. Man hatte die Umsetzung schlicht auf die lange Bank geschoben und viel zu spät angefangen. Erst im Frühjahr 2007 bequemte man sich zu einem Diskussionsentwurf,52 auf dem wiederum ein Referentenentwurf vom Juli 200753 aufbaute. Der Regierungsentwurf erblickte erst im Mai 2008 das Licht der Welt. Die teilweise Koppelung mit Ideen, die eigentlich mit der Umsetzung der Richtlinie unmittelbar nichts zu tun hatten, aber politisch umstritten waren (wie namentlich der Einführung von vertraglichen Folgen bei Verträgen, die auf Grund belästigender Werbung zustande kommen), trug nicht eben zur Beschleunigung bei. Außerdem schien die Lust des deutschen Gesetzgebers auf eine schnelle Umsetzung schon 51

Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken, ABl. EU 2005 L 149/22. 52 Diskussionsentwurf zum Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb – BMJ (April 2007). 53 Referentenentwurf zum Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb – BMJ Referat III B 5 (27.7.2007).

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deshalb gedämpft, weil man erst 2005 die eigene, große UWG-Novelle verwirklicht hatte. 1. Kopiertechnik: Die europäische black list wird cum grano salis als deutsche black list kopiert Die zweite Antwort auf die Frage, wie der deutsche Gesetzgeber die Umsetzung der LauterkeitsRL angegangen ist, ist die inhaltliche und sachliche: Im Prinzip wird der Anhang zur RL 2005/29/EWG Anhang zu § 3 UWG. Es erfolgt weitgehend eine kommentarlose Direktübernahme ohne eigene Zutaten des deutschen Gesetzgebers. In der Sache ist dies nachvollziehbar, da die LauterkeitsRL eine europäische Vollharmonisierung anstrebt und deshalb keine echten Umsetzungsspielräume lässt. Dies schließt aber nicht aus, dass der deutsche Gesetzgeber doch die eine oder andere Eigenheit im Detail eingeführt hat. Er kopiert zwar die black list-Technik. Die deutsche und die europäische black list sind aber nicht hundertprozentig identisch. Zwar schreibt der deutsche Gesetzgeber zumeist ab und übernimmt die europäischen Tatbestände wörtlich. Dies ist aber nicht für alle Tatbestände der europäischen black list geschehen. Allerdings sind die Abweichungen gering an der Zahl und im Prinzip nur formaler Natur, während inhaltlich das deutsche Recht dem europäischen entspricht. Abweichungen gibt es bei wenigen Nummern der europäischen black list. Die Abweichungen haben allerdings eine für die Rechtsanwendung missliche Konsequenz: Die einzelnen Tatbestände haben, auch wenn sie identisch sind und auch soweit der deutsche Gesetzgeber nur abgeschrieben hat, in der deutschen black list nicht automatisch dieselbe Nummer wie in der europäischen black list. Dies kann verwirren, da man immer suchen muss, welche Nummer der europäischen black list hinter einer bestimmten Nummer der deutschen black list steht. Die fehlende Identität der Nummerierung ändert aber nichts an einer überragend wichtigen Konsequenz: Der deutsche Gesetzgeber fügt nichts hinzu und kopiert bis ins Detail. Noch der Wortlaut der beiden Nummern 28 ist nahezu identisch. Der deutsche Gesetzgeber konnte auch kaum anders vorgehen, denn die europäischen Vorgaben waren strikt und bindend. Die europäischen black list-Tatbestände erhoben eben den Anspruch, dass die von ihnen erfassten Praktiken zu verbieten seien, und geboten Vollharmonisierung. Sie ließen den nationalen Gesetzgebern materiell keinen eigenen Spielraum. Wegen der angestrebten Vollharmonisierung und wegen der Kopiertechnik sind nur die europäischen Begriffe relevant. Die europäische Begriffsbildung genießt verdrängenden Vorrang. Methodisch bricht sich diese über das primärrechtliche Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts und insbesondere nationalen Umsetzungsrechts Bahn. Die gebrauchten Wörter und Begriffe sind der Sache nach europäische Wörter

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und Begriffe. Die verwendeten Begriffe sind daher im Lichte der LauterkeitsRL zu verstehen;54 dabei ist gegebenenfalls auch das übrige Gemeinschaftsrecht unterstützend heranzuziehen.55 Das letzte Wort hat praktisch der EuGH.56 Die mehr oder weniger aufgezwungene Kopiertechnik hat für den Exegeten einen nicht zu unterschätzenden Nachteil: Sie bringt sehr weitgehend einen Verzicht auf eigene, kommentierende Materialien mit sich. Dadurch fehlt es häufig an einer effektiven und realen Möglichkeit zur genetischen oder subjektiv-teleologischen Auslegung. Die genetische Auslegung müsste sich auf europäische Materialien stützen – und diese geben kaum je wirkliche Begründungen im Detail. Andererseits könnte der deutsche Gesetzgeber auch dann keine Autorität entfalten, wenn er ausführlichere Materialien hinzufügen würde. Denn auf seinen Willen kommt es angesichts der detaillierten europäischen Vorgaben nicht an. Genetische Auslegung versucht indes gerade, den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln, wie er sich in der eigentlichen Gesetzgebungsgeschichte niederschlägt. Im vollharmonisierten Bereich hat der deutsche Gesetzgeber keinen Spielraum, um gemeinschaftsrechtskonform einen eigenen Willen mit eigenständigen Inhalten zu bilden. Erläuterungen zu den europäischen Regelungen wiederum würden vom falschen Gesetzgeber stammen. Mitgliedstaatliche Gesetzgeber haben keine Kompetenz zur autoritativen Interpretation von Gemeinschaftsrechtsakten. 2. Fortbestand des UWG im Übrigen und des § 4 Nr. 2 UWG im Speziellen Die Umsetzung der LauterkeitsRL hat noch eine zweite, gleichsam negative Komponente: Die bisherigen Tatbestände des UWG werden nicht geändert. Insbesondere wird § 4 UWG unverändert fortgeführt. § 4 Nr. 2 UWG wird nicht angetastet. Für den Schutz von Kindern und Jugendlichen gilt § 4 Nr. 2 UWG also in seiner bisherigen Gestalt und Entwicklung weiter, ohne dass man europäische Einflüsse in größerem Umfang gewärtigen müsste. Allerdings heißt die textlich unveränderte Fortgeltung nicht, dass sich gar nichts geändert hätte. Geändert hat sich nämlich der weitere Kontext. Auch nationales Altrecht aus der Zeit vor einer Richtlinienumsetzung, das textlich nicht verändert wird, unterliegt ab Ablauf der Umsetzungsfrist 54 Baukelmann, Peter, Jugendschutz und Lauterkeitsrecht – neue europäische Gesichtspunkte?, FS Eike Ullmann, 2006, S. 587, 589; Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698. 55 Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698. 56 Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698.

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dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung.57 Zum Umfeld des § 4 Nr. 2 UWG gehört heute deshalb Art. 5 Abs. 2 LauterkeitsRL. Unlauter ist demzufolge eine Geschäftspraxis, die den Erfordernissen der beruflichen Sorgfaltspflicht widerspricht und das wirtschaftliche Verhalten des angesprochenen Durchschnittsverbrauchers wesentlich beeinflusst bzw. geeignet ist, dieses wesentlich zu beeinflussen. Im hiesigen Zusammenhang verdient darauf aufbauend auch Art. 5 Abs. 3 LauterkeitsRL Beachtung. Er befasst sich mit sensiblen Verbrauchergruppen. Kinder sind eine a priori sensible Verbrauchergruppe. Umgekehrt kann sich natürlich ein Verdikt aus § 3 Abs. 2 UWG i. V. m. Nr. 28 der deutschen black list ergeben, ohne dass es eines Rückgriffs auf § 4 Nr. 2 UWG bedürfte.58 Fällt ein Sachverhalt unter den black list-Tatbestand, so reicht dies für eine Untersagung. Ein Rückgriff auf allgemeine Tatbestände ist nicht veranlasst. Im Gegenteil schließt das tatbestandliche Eingreifen eines black list-Tatbestandes sogar aus, dass die allgemeine Bagatellklausel geprüft werden dürfte.59 Zwischen Nr. 28 Anh. § 3 UWG und § 4 Nr. 2 UWG besteht Idealkonkurrenz: Ein Sachverhalt kann beide Verbotstatbestände erfüllen; diese schließen einander nicht wechselseitig aus, sondern sind nebeneinander anwendbar.60

VIII. Wer ist ein „Kind“ im Sinne von Nr. 28 Anh. § 3 UWG? Zentralbegriff für den persönlichen Schutzbereich des black list-Tatbestandes ist der Begriff „Kind“. Dieser Begriff ist nirgends in der LauterkeitsRL definiert, weder in Nr. 28 der europäischen black list noch in Erwägungsgrund (18). 1. Unzulässigkeit einer deutschrechtlichen orientierten Auslegung an § 1 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG oder § 4 Nr. 2 UWG Der deutschen Rechtstradition würde es entsprechen, zwischen Kindern und Jugendlichen zu differenzieren; unter einem solchen Ansatz würde die 57 Siehe nur EuGH 13.11.1990 – Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135, I-4159 Rn. 8 – Marleasing SA/La Comercial Internacional de Alimentación SA; EuGH 16.12.1993 – Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911, I-6932 Rn. 20 – Teodoro Wagner Miret/Fondo de garantía salarial; EuGH 14.7.1994 – Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325, I-3357 Rn. 26 – Paola Faccini Dori/Recreb Srl; EuGH 17.9.1997 – Rs. C-54/96, Slg. 1997, I-4941, I-4997 Rn. 43 – Dorsch Consulting Ingenieursgesellschaft mbH/ Bundesbaugesellschaft Berlin mbH. 58 Scherer, Inge (Fn. 39), S. 157, 165. 59 Scherer, Inge, Kinder als Konsumenten und Kaufmotivatoren, WRP 2008, 430, 431. 60 Scherer, Inge, WRP 2008, 430, 431.

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Altersobergrenze für „Kind“ bei 14 Jahren liegen, und es würde in der Konsequenz keinen besonderen Schutz für „Jugendliche“ zwischen 14 und 17 Jahren geben.61 Der Referentenentwurf befasste sich noch in diesem Sinne mit dem Begriff des Kindes: Kinder seien „Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind. Dies folge aus der Begriffsbestimmung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG, auf die mangels einer Definition des Begriffs „Kinder“ in der Richtlinien zurückgeggriffen werden muss.“62 Der black list-Tatbestand sei insoweit enger als § 4 Nr. 2 UWG, als er nur für Kinder gelte, während § 4 Nr. 2 UWG sowohl Kinder als auch Jugendliche, d.h. Personen schütze, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind (so die Begriffsbestimmung in § 1 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG).63 Man hatte sich also im BMJ Gedanken gemacht. Ergebnis sollte eine inzidente Verweisung innerhalb des deutschen Rechts sein. Wegen einer angeblichen Lücke in der europäischen Begriffswelt sollte eine Begriffsprägung durch ein anderes deutsches Gesetz erfolgen. Damit missachtete man jedoch den Vorrang der europäischen Prägung. Dass ein Begriff in der LauterkeitsRL nicht explizit definiert wird, ist nicht gleichzusetzen mit dem Fehlen eines europäischen Begriffsverständnisses. Der deutsche Gesetzgeber hat keine Kompetenz, europäische Begriffe verbindlich auszulegen. Eine genetische oder subjektiv-teleologische Auslegung an Hand nationaler Materialien ist nicht statthaft, wo der Gemeinschaftsgesetzgeber Vorgaben gemacht hat.64 Im Bereich der Vollharmonisierung hat der nationale Gesetzgeber keinen Spielraum, den er autonom und in eigener Verantwortung ausfüllen dürfte. Daher hat er auch keine Befugnis zu Festlegungen in den nationalen Materialien.65 Dies gilt erst recht, wenn es gilt, Begriffe mit Inhalt auszufüllen, die telles quelles aus der europäischen Vorgabe übernommen werden. Genetische oder subjektiv-teleologische Auslegung dient dazu, den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln. Bei einer Übernahme schon des Begriffs aus einer 61

So Scherer, Inge (Fn. 39), S. 157, 165. Begründung des Referentenentwurfs zum Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb – BMJ Referat III B 5 (27.7.2007), S. 60 Zu Anhang Nr. 28. 63 Begründung des Referentenentwurfs zum Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb – BMJ Referat III B 5 (27.7.2007), S. 60 Zu Anhang Nr. 28. 64 Vgl. Hommelhoff, Peter, Zivilrecht unter dem Einfluss europäischer Rechtsangleichung, AcP 192 (1992), 71, 95 f.; Wiegand, Wolfgang/Brülhart, Marcel, Die Auslegung von autonom nachvollzogenem Recht der Europäischen Gemeinschaft, Bern 1999, S. 32 ff.; Schwarz, Günter Christian, Europäisches Gesellschaftsrecht, München 2002, Rn. 251, S. 156. 65 British Sugar PLC v. James Robertson and Sons [1996], Reports of Patent, Design and Trademark Cases (R.P.C.) 281 (Ch. D., Jacob J.) = GRUR Int. 1996, 1219, 1220; siehe Lutter, Marcus, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593, 604. 62

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Richtlinie ist relevanter Gesetzgeber aber nicht der nationale Gesetzgeber, sondern der europäische.66 Der nationale Gesetzgeber schreibt gleichsam nur ab. Er kann und darf bei diesem Vorgang nichts Eigenes hinzufügen. Der Rückgriff auf § 1 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG ist daher methodisch unzulässig und unbeachtlich.67 Der Regierungsentwurf hat dies mit Recht korrigiert.68 Ebenso wenig darf man sich an § 4 Nr. 2 UWG anlehnen, wo der Begriff des „Kindes“ ebenfalls bei 14 Jahren endet, wie sich aus der Gegenüberstellung mit „Jugendlichen“ ergibt. Denn auch die systematische Auslegung findet ihre Grenzen, wo Begriffe aus zwei verschiedenen Begriffswelten auftreten, einmal einer nationalen, das andere Mal einer europäischen.69 2. Europäische Begriffsbildung Versucht man sich an einer europäischen Ausfüllung für den Begriff „Kind“, so stößt man auf viele Stellen, wo das Gemeinschaftsrecht den Begriff „Kind“ verwendet, aber auf keine expliziten Definitionen oder Festschreibungen von Altersgrenzen.70 Am Aussagekräftigsten71 ist noch Art. 24 GR-Charta,72 „Rechte des Kindes“ überschrieben. Die Altersgrenze für diese Grundrechtsposition ist bei 18 Jahren zu ziehen.73 Dies ergibt sich deutlich aus der Anlehnung an die UN-Kinderrechtekonvention, deren Art. 1 besagt: „Kind [ist] jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt.“ Allerdings ist die GR-Charta kein verbindlicher Teil des Gemeinschaftsrechts,74 solange sie nicht in einen gültigen Verfassungsvertrag integriert ist. Trotzdem ist sie wertvolle Ar66

Knobbe-Keuk, Brigitte, Niederlassungsfreiheit: Diskriminierungs- oder Beschränkungsverbot?, DB 1990, 2573, 2582; Franzen, Martin, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, Berlin/New York 1999, S. 351 f.; Wolff, Inke, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, Baden-Baden 2002, S. 82. 67 Mankowski, Peter, Wer ist ein Kind?, WRP 2007, 1398, 1399; Sosnitza, Olaf, Der Gesetzesentwurf zur Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken, WRP 2008, 1014, 1026; Steinbeck, Anja, Die Zukunft der aggressiven Geschäftspraktiken, WRP 2008, 865, 867. 68 Begründung des Regierungsentwurfs zum Ersten Gesetz der Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (Juni 2008), S. 70 zu Anhang Nr. 28. 69 Mankowski, WRP 2007, 1398, 1399 f. 70 Umschau und Übersicht bei Mankowski, WRP 2007, 1398, 1400 f.; zustimmend Steinbeck, WRP 2008, 865, 867. 71 Mankowski, WRP 2007, 1398, 1401. 72 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. EG 2000 C 364/1. 73 Streinz, Rudolf, in: Streinz, Rudolf, EUV/EGV, München 2003, Art. 24 GRCharta Rn. 4. 74 Siehe nur Streinz, in: Streinz (Fn. 73), Vorbem. GR-Charta Rn. 3.

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gumentationsgrundlage und entfaltet so Wirkungskraft.75 Ein Gegensatzpaar „Kind“/„Jugendlicher“, wie es das deutsche Recht von § 1 Abs. 1 JuSchG ausgehend prägt, kennt das Gemeinschaftsrecht jedenfalls nicht.76 Spezifisch im lauterkeitsrechtlichen Kontext versuchte sich das Gemeinschaftsrecht einmal daran, einen Begriff des „Kindes“ zu definieren: nämlich in dem 2001 vorgelegten Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Verkaufsförderung im Binnenmarkt,77 der 2002 novelliert wurde78 (und in seinem Art. 5 spezielle Werberegelungen gegenüber Kindern vorsah79). Dort zog Art. 2 lit. j die Altersgrenze für Kinder bei 14 Jahren. Die geplante Regelung findet sich indes in einem gescheiterten Vorschlag, während sie sich in dem erfolgreich durchgeführten Parallelprojekt der LauterkeitsRL gerade nicht findet. Letztendlich wurde jener Vorschlag insgesamt aufgegeben, weil man neben der LauterkeitsRL keinen rechten Platz mehr sah. LauterkeitsRL und Vorschlag der VerkaufsförderungsVO verfolgten unterschiedliche Tendenzen: Die VerkaufsförderungsVO sollte insgesamt liberaler ausfallen. In eine liberale Tendenz passt auch die niedrige Altersgrenze von 14 Jahren für den Begriff „Kind“. Denn bei 14 Jahren handelt es sich um die niedrigste und damit liberalste, für die werbende Wirtschaft freundlichste unter den denkbaren Lösungen. In ein weniger liberales Konzept passt eine niedrige Altersgrenze dagegen weit schlechter. Soll man trotzdem in diesem Einzelpunkt übertragen?80 Vorzugswürdig ist ein Umkehrschluss aus dem Scheitern des Vorschlags der VerkaufsförderungsVO. Eine Übernahme ist allenfalls dann vorstellbar, wenn die betreffenden Details mit dem Konzept der erfolgreichen Lösung, mit deren Linie, konsistent 75 Siehe nur EuGH 27.6.2006 – Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, I-5822 f. Rn. 38 – Parlament/Rat (Nichtigkeitsklage gegen RL 2003/86/EG); EuG 30.1.2002 – Rs. T-54/99, Slg. 2002, II-313, II-333 Rn. 48 – max.mobil Telekomminkations Service GmbH/Kommission; EuG 13.7.2005 – Rs. T-242/02, Slg. 2002, II-2793, II-2813 Rn. 51 – The Sunrider Corp./HABM; GA Tizzano, Schlussanträge vom 8.2.2001 in der Rs. C-173/99, Slg. 2001, I-4883, I-4891 Nr. 28; EGMR 11.7.2002 – No 28957/95, [2002] 2 FCR 577 – Goodwin/United Kingdom. 76 Mankowski, WRP 2007, 1398, 1401. 77 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Verkaufsförderung im Binnenmarkt, von der Kommission vorgelegt am 2.10.2001, KOM (2001) 054 endg., ABl. EG 2001 C 75/11. 78 Geänderter Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verkaufsförderung im Binnenmarkt, von der Kommission vorgelegt am 15.10.2002, KOM (2002) 585 endg. 79 Dazu Lehne, Klaus-Heiner/Haak, Andreas Max, Die europäische Verordnung über Verkaufsförderung im Binnenmarkt – ein wirklicher Fortschritt im Europäischen Wettbewerbsrecht?, FS Winfried Tilmann, Köln/Berlin/Bonn 2003, S. 179, 185 f. 80 Dafür Scherer, Inge (Fn. 39), S. 157, 167; dies., WRP 2008, 430, 432; Köhler, WRP 2008, 700, 703; Sosnitza, WRP 2008, 1014, 1026.

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sind. Wenn in jenen Details eine andere, eben gerade nicht zum Zuge gekommene Politik verfolgt wurde, besteht ein Graben. Die politische und die institutionelle Dimension, die Dimension der public choice, sprechen daher gegen eine Übernahme von Begriffsdefinitionen aus dem gescheiterten Vorschlag der VerkaufsförderungsVO.81 Direktes Vorbild für die Formulierung des europäischen black list-Tatbestandes war Art. 16 litt. a, b FernsehRL. Der FernsehRL ist der Minderjährigenschutz ein großes Anliegen. Dem Jugendschutz (und dies meint synonym Minderjährigenschutz) wendet sie seit den Anfängen ihrer Vorgeschichte, seit den ersten Anstößen, besonderes Augenmerk zu.82 Die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen will bereits das einschlägige Grünbuch schützen,83 und der Vorschlag folgt dem.84 Ganz konsequent bewirkt die FernsehRL deshalb Jugendschutz in zwei Tatbeständen: Art. 16 im Bereich der Werbung und Art. 22 im Bereich der Inhalte. Beide ergänzen einander und bilden zusammen die Bausteine eines einheitlichen Jugendschutzkonzepts.85 Allerdings mag man einzuwenden geneigt sein, dass in der deutschen Fassung des Art. 16 litt. a, b FernsehRL „Minderjährige“86 aufgeführt sind, dass also nicht „Kinder“ verwendet wird oder dass so den Kindern eindeutig die Jugendlichen beigesellt sind. Dies scheint einen Umkehrschluss für die Auslegung des Kindesbegriffs zu bedingen.87 Es scheint darauf hinzudeuten, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber im Normtext Jugendliche miterfasst, wenn er denn umfassenden Jugendschutz und umfassenden Minderjährigenschutz will. Der Wechsel im Wort allein bietet indes keine wirklich belastbare Grundlage für einen solchen Schluss. Die FernsehRL hatte den Vorteil, dass sie einen eindeutigen Ausdruck verwendet. Die LauterkeitsRL verwendet einen ambiva81

Mankowski, WRP 2007, 1398, 1402. Entschließung des Europäischen Parlaments zu Rundfunk und Fernsehen in der EG vom 12.3.1982, ABl. 1982 C 87/112 Nr. 7; Stellungnahme des Rechtausschusses an den Ausschuss für Jugend, Kultur, Bildung, Information und Sport, EP-Sitzungsdok. 1-1013/81 vom 23.2.1982, PE 73, 271 endg. S. 32. 83 Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat – Fernsehen ohne Grenzen – Grünbuch über die Errichtung des Gemeinsamen Marktes für den Rundfunk, insbesondere über Satellit und Kabel, KOM (84) 300 endg. S. 293 = BR-Drs. 360/84, S. 34. 84 Artt. 11; 15 f. Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Rates über den Rundfunk, KOM (1986) 146 endg. 85 Siehe Kreile, Johannes, Die Anforderungen an den Jugendschutz im grenzüberschreitenden Rundfunk, ZUM 1989, 407, 408 f.; Martín-Pérez de Nanclares, José, Die EG-Fernsehrichtlinie, Frankfurt/M. u. a. 1995, S. 147 f. 86 Hervorhebung hinzugefügt. 87 So in der Tat Scherer, Inge, WRP 2008, 430, 432; Köhler, WRP 2008, 700, 702 f.; Sosnitza, WRP 2008, 1014, 1026. 82

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lenten – der aber gerade wegen seiner Ambivalenz und fehlenden Eindeutigkeit keine eindeutige Abkehr im Gehalt beweist.88 Wertungskonsistenz mit dem Vorbild streitet aber im Gegenteil für das weite Verständnis, weil sonst im wichtigsten Werbebereich der Fernsehwerbung einerseits und im sonstigen Werbebereich andererseits unterschiedlich strenge Maßstäbe gelten würden, obwohl Konsistenz gewollt war.89 Ein weiterer Aspekt spricht für das weite, bis 18 Jahre reichende Verständnis von „Kind“: „Kind“ kann man sehr gut als Gegenbegriff zu „Erwachsener“ begreifen.90 Dafür streitet, dass sich ein solches Gegensatzpaar im Wortlaut des europäischen black list-Tatbestandes unmittelbar wiederfinden lassen würde. Die zweite verbotene Variante geht eben dahin, dass Werbung Kinder nicht dazu anhalten soll, Erwachsene (die Eltern oder andere Erwachsene) zum Kauf der beworbenen Produkte zu überreden. Deutlich wird also „Erwachsene“ als Komplementärbegriff zu „Kinder“ eingesetzt. Die Gruppe der Vierzehn- bis Siebzehnjährigen (die im deutschen Recht als „Jugendliche“ einem eigenen Begriff unterfallen) kann man kaum als „Erwachsene“ bezeichnen. „Erwachsen“ soll ersichtlich nur jemand sein, der voll geschäftsfähig ist. Noch nicht voll Geschäftsfähige als „erwachsen“, d.h. in der rechtlichen Qualität voll ausgebildet und ausgewachsen, zu bezeichnen verstieße gegen jeglichen denkbaren Wortsinn von „erwachsen“.91 Zudem nimmt das Schutzbedürfnis für 14-Jährige keineswegs ab. Im Gegenteil erscheinen gerade Jugendliche besonders schutzbedürftig,92 weil sie in besonderem Maße sozialen Zwängen und Gruppenmechanismen im Konsumbereich ausgesetzt sind.93 Gerade auf Jugendliche richten sich einzelne Werbemedien in besonderem Maße aus.94 Viele Angebote sind spezifisch auf Jugendliche zugeschnitten. Zudem sind Jugendliche für die werbende Wirtschaft deshalb interessanter als echte Kinder, weil sie in der Regel über größere Geldbeträge verfügen können als jene.95 Zwar wären Jugendliche (im deutschrechtlichen Sinne) keineswegs ungeschützt, wenn die black list 88

Mankowski, WRP 2007, 1398, 1403. Mankowski, WRP 2007, 1398, 1403. Gegenteiliges Ergebnis bei Steinbeck, WRP 2008, 865, 867 f. 90 Mankowski, WRP 2007, 1398, 1403 f. Als Auslegungsoption zur Diskussion gestellt von Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698. 91 Mankowski, WRP 2007, 1398, 1403 f. 92 Mankowski, WRP 2007, 1398, 1404. 93 OLG Hamburg WRP 2003, 1003, 1006 = GRUR-RR 2003, 616, 617 – Klingelton = MMR 2003, 467 m. Anm. Bahr; Ullmann/Seichter (Fn. 14), § 4 Nr. 2 Rn. 26; Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1014. 94 Siehe nur zuletzt BGH WRP 2006, 885 = GRUR 2006, 775 – Werbung für Klingeltöne. 95 Vgl. Ullmann/Seichter (Fn. 14), § 4 Nr. 2 Rn. 26 sowie BGH GRUR 2004, 960 – 500 DM-Gutschein für Autokauf. 89

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sie nicht erfassen sollte,96 jedoch würde die Schutzintensität merklich vermindert, da man dann auf nationales Recht verwiesen wäre und im deutschen Recht jeweils konkret prüfen müsste, ob Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausgenutzt würden. Insgesamt sprechen die weitaus besseren Argumente also dafür, den europäischen Begriffs des Kindes weit und damit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zu ziehen. Die Altersgrenze liegt kraft europäischer Vorgabe bei 18.

IX. Direkte Kaufappelle und direkte Ansprache unter Nr. 28 Anh. § 3 UWG 1. Grundsätzliches Auch der zweite zentrale Begriff in Nr. 28 Anh. § 3 UWG birgt erhebliche Auslegungsprobleme:97 Was ist eine „direkte Aufforderung, zu kaufen“? Darum dürften sich zukünftige Schlachten ranken. Denn an diesem Begriff und seinem Umfang entscheidet sich, wie viel Gestaltungsspielraum werbenden Unternehmen bleibt. Wie muss Werbung aussehen, um kein direkter Kaufappell zu sein? a) Kein vollständiges Verbot von Werbung gegenüber Kindern Nr. 28 Anh. § 3 UWG verfügt nicht etwa ein vollständiges Verbot von Werbung, die an Kinder gerichtet ist.98 Vielmehr inkriminiert er getreu der europäischen Vorgabe nur direkte Kaufappelle. Natürlich zielt Werbung direkt oder indirekt immer auf Absatz. Aber nicht jede Werbung besteht eben aus einem direkten Kaufappell. Werbung hat mehr Mittel. Werbung hat (auch) subtilere Mittel. Werbung arbeitet mit Sympathie, Image, Wohlfühleffekten, Suggestion, Insinuation. Werbung arbeitet häufig auf Umwegen und versucht, sich durch die Hintertür in die Gedanken des Betrachters einzuschleichen. Das platte „Kauf mich“ ist ihr oftmals viel zu simpel und zu wenig erfolgversprechend. Der Begriff der Werbung ist gerade dem europäischen Gesetzgeber wohl bekannt. Er hat ihn in Art. 2 Nr. 1 IrreführungsRL99 96

Insoweit zutreffend Scherer, Inge, WRP 2008, 430, 432. Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698. 98 Mankowski, Peter, Was ist eine „direkte Aufforderung zum Kauf“ an Kinder?, WRP 2008, 421, 421. 99 Richtlinie 84/450/EWG des Rates vom 10.9.1984 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung, ABl. EG 1984 L 250/17. 97

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(wenn auch mit Blick auf Nachfragewettbewerb zu eng)100 definiert, prinzipiell mit Gültigkeit für das gesamte Lauterkeitsrecht.101 Werbung ist danach jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes oder freien Berufs, mit der das Ziel verfolgt wird, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen zu fördern, also auch den Bezug von Waren oder Dienstleistungen zu fördern.102 Dies umfasst auch die Imagewerbung und die mittelbare Absatzwerbung.103 Ersichtlich geht dieser Begriff über jenen der „direkten Aufforderung zu kaufen“ hinaus und ist merklich weiter. Dies erhellt nicht zuletzt Nr. 28 Anh. I LauterkeitsRL selber, denn dort ist von der „Einbeziehung einer direkten Aufforderung an Kinder“ in eine Werbung die Rede. b) Definition der „Aufforderung zum Kauf“ in Art. 2 lit. i LauterkeitsRL Art. 2 lit. i LauterkeitsRL definiert die „Aufforderung zum Kauf“.104 Danach ist eine Auffordeurng zum Kauf jede kommerzielle Kommunikation, die die Merkmale des Produkts und den Preis in einer Weise angibt, die den Mitteln der verwendeten kommerziellen Kommunikation angemessen ist und den Verbraucher dadurch in die Lage versetzt, einen Kauf zu tätigen. Bei wörtlichem Verständnis verlangt dies nach der Möglichkeit eines sofortigen Erwerbs.105 Noch enger könnte man die konkrete Angabe von 100

Köhler, Helmut/Lettl, Tobias, Das geltende europäische Lauterkeitsrecht, der Vorschlag für eine EG-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken und die UWGReform, WRP 2003, 1019, 1022 f.; Köhler, Helmut, Rechtsprechungsbericht zum Recht des Unlauteren Wettbewerbs VII, GRUR-RR 2007, 129, 135 f.; Leible, Stefan, E-Mail-Werbung: Spam oder Nicht-Spam, das ist hier die Frage?, K&R 2006, 485, 486. 101 Siehe z. B. den Rekurs auf Art. 2 Nr. 1 IrreführungsRL im Zusammenhang mit dem Begriff der belästigenden Werbung unter § 7 UWG OLG Düsseldorf MMR 2006, 171, 172; OLG Oldenburg WRP 2006, 492, 496; OLG Naumburg NJOZ 2006, 2795, 2796 = JurPC Web-Dok. 97/2006 = OLGR 2006, 398 LS. 102 OLG Düsseldorf MMR 2006, 171, 172; OLG Oldenburg WRP 2006, 492, 496; OLG Naumburg NJOZ 2006, 2795, 2796 = JurPC Web-Dok. 97/2006 = OLGR 2006, 398 LS; Bornkamm, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 6), § 5 Rn. 2.16; Gloy, Wolfgang, in: Gloy, Wolfgang/Loschelder, Michael, Handbuch des Wettbewerbsrechts, 3. Aufl. München 2005, § 9 Rn. 3, § 15 Rn. 1; Nippe, Wolfgang, Belästigung zwischen Wettbewerbshandung und Werbung, WRP 2006, 951, 952–954; Scherer, Inge, WRP 2008, 430, 432 f. 103 Nippe, WRP 2006, 951, 955; vgl. auch OLG Hamm GRUR-RR 2006, 379 – Fahrzeugsuche. 104 Gegen einen Rekurs auf Art. 2 lit. i LauterkeitsRL wegen unterschiedlicher Terminologie etwa im Englischen und im Französischen Köhler, WRP 2008, 700, 703. 105 Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698.

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Merkmalen und Preis des zu erwerbenden Produkts verlangen.106 „Kaufen“ ist jedenfalls nicht spezifisch zu verstehen, sondern weit als „entgeltlicher Erwerb“.107 Auch zivilrechtliche Wirksamkeit des Vertrages ist nicht erforderlich108; vertraglicher Minderjährigenschutz ist ein unabhängiges, zweites Schutzsystem. aa) Begriff der „kommerziellen Kommunikation“ Den Begriff der kommerziellen Kommunikation definiert die LauterkeitsRL nicht. Vielmehr changiert die Terminologie innerhalb der LauterkeitsRL, in deren deutscher Fassung Art. 2 wiederum von „kommerziellen Mitteilungen“ spricht. In Erwägungsgrund (5) LauterkeitsRL wird indes die Kommissionsmitteilung „Folgedokument zum Grünbuch über kommerzielle Kommunikation im Binnenmarkt“109 ausdrücklich erwähnt. Dies legt nahe, das dortige Begriffsverständnis von „kommerzielle Kommunikation“ zu importieren und jenes Grünbuch110 samt Folgedokument zu befragen. Im geltenden Gemeinschaftsrecht ist „kommerzielle Kommunikation“ in Art. 2 lit. f e-commerce-RL111 definiert als alle Formen der Kommunikation, die der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung des Absatzes von Waren und Dienstleistungen oder des Erscheinungsbilds eines Unternehmens, einer Organisation oder einer natürlichen Person dienen, die eine Tätigkeit in Handel, Gewerbe oder Handwerk oder einen reglementierten Beruf ausübt (gefolgt von einem Katalog ausdrücklicher Ausnahmen). Diese Definition entspricht sehr weitgehend jener für Werbung aus Art. 2 Nr. 1 IrreführungsRL. Die Definition der e-commerce-RL zu entlehnen erscheint zudem systematisch treffend, da Art. 7 Abs. 5 LauterkeitsRL für „Informationsanforderungen in Bezug auf kommerzielle Kommunikation einschließlich Werbung oder Marketing“ auf die in Anhang II aufgeführten Rechsakte verweist. Im Anhang II begegnen Artt. 5, 6 e-commerce-RL als sechster Punkt der Liste. Da der dortige Kontext spezifisch als Verweisung nur auf Informations106 Köhler, in: Hefermehl/Köhler/Bornkamm (Fn. 6), Nr. 28 UGP-RL Anh. I Rn. 28.3; Scherer, Inge, WRP 2008, 430, 433; anderer Ansicht jetzt Köhler, WRP 2008, 700, 703. 107 Köhler, WRP 2008, 700, 703. 108 Köhler, WRP 2008, 700, 703 f. 109 Folgedokument zum Grünbuch über kommerzielle Kommunikationen im Binnenmarkt, CAB 15/0012/98-DE. 110 Grünbuch über kommerzielle Kommunikationen im Binnenmarkt, KOM (96) 192 endg. 111 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr), ABl. EG 2000 L 178/1.

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anforderungen ausgestaltet ist, verschlägt es nicht, dass auf den Definitionskatalog des Art. 2 e-commerce-RL nicht ausdrücklich verwiesen wird. bb) Unabhängigkeit vom Kommunikationsmedium Die Aufforderung zum Kauf ist wie die kommerzielle Kommunikation insgesamt nicht bezogen auf bestimmte Kommunikationsmedien oder bestimmte Kommunikationsformen. Der Begriff ist technikneutral. Vorausgesetzt ist Kommunikation. Dafür reicht jegliche Art der Kommunikation, unabhängig vom Kommunikationsmedium und vom Kommunikationsträger. Verkörperte Kommunikationsakte sind ebenso wenig verlangt wie reproduzierbare. Ebenso wenig ist optische oder akustische Kommunikation verlangt. Auch verbale Kommunikation ist nicht notwendig; nonverbale Kommunikation reicht aus. Insoweit erhebt sich die LauterkeitsRL natürlich über die e-commerce-RL, denn letztere hat ihre spezifische Beschränkung auf elektronische Medien. Die LauterkeitsRL ist eine Querschnittsregelung für prinzipiell alle Kommunikationsformen. Sie ist eben nicht medienmäßig beschränkt wie namentlich die FernsehRL. c) Direktheit der Aufforderung zum Kauf Auch in Art. 2 lit. i LauterkeitsRL findet sich indes keine Definition von „Direktheit“, also keine Definition des qualifizierenden „direkt“.112 Das Hinzufügen dieses Adjektivs ist eine Qualifikation und damit eine Einengung der Aufforderung zum Kauf, wenn das Wort „direkt“ denn eine Bedeutung haben soll. Nicht einmal jede Aufforderung zum Kauf wird inkriminiert, sondern nur die direkten unter den Kaufaufforderungen. „Direkte Aufforderung zu kaufen“ ist ungewöhnlich. Außer in Nr. 28 Anh. 1 LauterkeitsRL taucht dieser Begriff nirgends auf. „Aufforderung zum Kauf“ allein tritt zum einen in Art. 7 Abs. 4 und zum anderen in den Nummern 5, 6 Anh. 1 LauterkeitsRL wieder zutage, jedoch immer ohne „direkt“. Die Kombination ist also keineswegs notwendig. Sie ist kein stehender Begriff. Sie signalisiert eine besondere Regelungsintention. Der europäische Gesetzgeber hat mit der direkten Aufforderung zum Kauf bewusst einen engeren Begriff als jenen der Werbung und selbst als jenen der – sozusagen einfachen – Aufforderung zum Kauf gewählt. Man will nicht jedwede und jegliche Werbung und auch nicht jegliche und jedwede Aufforderung zum Kauf gegenüber Kindern verbieten. Dies gilt es zu respektieren und für die Auslegung tragend zu beachten. 112

868.

Vgl. Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698, Steinbeck, WRP 2008, 865,

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Was ist nun „direkt“? Gegenbegriff zu „direkt“ dürfte „indirekt“ oder „mittelbar“ sein,113 ohne dass dies wesentlich weiter helfen würde.114 „Direkt“ bezieht sich jedenfalls auf den Kommunikationsvorgang. Mittelbare Ansprache schaltet einen zusätzlichen Zwischenschritt zwischen Aufforderung und Entstehung des Konsumwunsches.115 Die Werbebotschaft muss ohne Transmitter und Zwischenschritte gegenüber dem Adressaten kommuniziert sein.116 Die gezielte persönliche Ansprache Einzelner etwa bei Veranstaltungen fällt sicherlich darunter.117 Wäre dies jedoch alles,117a so wäre der Begriff sehr eng und kaum brauchbar. So eng ist er indes nicht. Denn er tritt erstmals in Art. 16 litt. a, b FernsehRL zutage. Dort meint er aber gerade keine persönliche, individuelle Ansprache in Individualkommunikation, sondern eine abstrakte Ansprache über ein Massenmedium. Daher kann und soll auch eine abstrakt-generelle Ansprache in einem Massenmedium erfasst sein.118 Eine direkte Aufforderung zum Kauf soll nach dem bisherigen Verständnis im Fernsehbereich alle unmittelbaren Aufforderungen zum entgeltlichen Erwerb von Waren oder Dienstleistungen umfassen, die durch Worte, Gesten oder sonstige Darstellungen dem intendierten Kunden übermittelt werden, wobei es eines ausdrücklichen Kaufaufrufs nicht bedarf.119 Nicht erforderlich ist, dass bei Kindern als Adressaten deren Unerfahrenheit oder Leichtgläubigkeit ausgenutzt würde.120 Insoweit unterscheidet sich die Strenge der Anforderungen merklich von jener bei § 4 Nr. 2 UWG, denn die Schwelle ist hier weit niedriger. Der Blick auf die FernsehRL erklärt auch, weshalb die „direkte“ Aufforderung zum Kauf in Nr. 28 Anh. 1 LauterkeitsRL so singulär innerhalb der LauterkeitsRL dasteht: Vorbild für die Formulierung des europäischen black list-Tatbestandes war Art. 16 litt. a, b FernsehRL. Nr. 28 Anh. 1 LauterkeitsRL hat also andere Wurzeln als die anderen black list-Tatbestände. Er 113

Ebenso Scherer, Inge (Fn. 39), S. 157, 166; Köhler, WRP 2008, 700, 702. Mankowski, WRP 2008, 421, 423. 115 Scherer, Inge (Fn. 38), S. 157, 166. 116 Mankowski, WRP 2008, 421, 423. 117 Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698; Steinbeck, WRP 2008, 865, 868. 117a So Steinbeck, WRP 2008, 865, 868, die ansonsten nur auf Art. 5 Abs. 3 LauterkeitsRL setzt. 118 Im Ergebnis ebenso Köhler, FS Eike Ullmann, 2006, S. 685, 698. Anderer Ansicht Steinbeck, WRP 2008, 865, 868. 119 Scholz, Rainer/Liesching, Marc, Jugendschutz, 4. Aufl. München 2004, § 6 JMStV Rn. 7; Fechner, Frank/Schipanski, Tankred, Werbung für Handyklingeltöne, ZUM 2006, 898, 901. 120 Scholz/Liesching (Fn. 119), § 6 JMStV Rn. 7; Fechner/Schipanski, ZUM 2006, 898, 901. Anderer Ansicht Hartstein, Reinhard/Ring, Wolf-Dieter/Kreile, Johannes/Dörr, Dieter/Stettner, Rupert, RStV, Losebl. München, § 6 JMStV Rn. 8. 114

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speist sich aus einer anderen Quelle. Man hat etwas übertragen, ohne es in größerem Umfang mit seiner neuen Umgehung anzugleichen und eventuell deren Sprachcode anzupassen. Auf der anderen Seite hilft diese Herkunft, einen pragmatischen Auslegungsansatz zu entwickeln: Man muss von Fernsehwerbung her denken. Man muss die Auslegung so gestalten, dass Fernsehwerbung jedenfalls erfasst ist (auch wenn und soweit sie wegen des Spezialitätsverhältnisses eigentlich durch andere Normen reguliert wird).121 2. Beispiele Die Reichweite des Nr. 28 black list soll im Folgenden an Hand fortschreitender Beispiele erläutert werden.122 a) Imperativische Aufforderungen Aufforderungen im Befehlston123 – oder besser: im Imperativ, in der grammatischen Befehlsform – sind die direkteste Form der Ansprache. Sie sind auch in dem anderen Sinn „direkt“, wie man ihn in der modernen Sprache im Zusammenhang mit Ansprachen verwendet: „unverblümt“. Sie sagen offen, was sie wollen und was der Adressat tun soll. Das aus der Werbung für Klingeltöne bekannte „Hol es dir“ ist ein klarer Fall einer direkten Aufforderung.124 Auf der anderen Seite ist eine Beschränkung der direkten Ansprache auf im Befehlston gehaltene, also grammatikalisch imperativ formulierte Ansprachen nicht geboten.125 Dies fordern weder die englische noch die französische Fassung.126 „Inciter“ ist merklich weiter und drückt am besten aus, worum es geht und was gemeint ist: ein Anreizen. Auch „adhortation“ ist eben nicht „order“ oder ähnliches, sondern auch nur eine „Aufforderung“, ein „Ersuchen“, eine (durchaus nachdrückliche) Bitte. Englische Übersetzungen für das lateinische „adhortare“, die Stammform, lauten „encourage“, „stimulate“, „urge“, „rouse“.127 Befehlston oder Befehlsform stoßen bei vielen potenziellen Adressaten auf Ablehnung und veranlassen diese, sich zurückzuziehen. Sie sind in vielen Fällen kontraproduktiv. Des121

Mankowski, WRP 2008, 421, 423. Zu weiteren Beispielen Mankowski, WRP 2008, 421, 423–428. 123 So Baukelmann, FS Eike Ullmann, 2006, S. 587, 589. 124 Fechner/Schipanski, ZUM 2006, 898, 901 f.; Scherer, Inge (Fn. 39), S. 157, 166; dies., WRP 2008, 430, 433; Sosnitza, WRP 2008, 1014, 1026. 125 Dahin scheint aber Baukelmann, FS Eike Ullmann, 2006, S. 587, 589 zu gehen. 126 So aber Baukelmann, FS Eike Ullmann, 2006, S. 587, 589. 127 Allesamt bei http://humanum.arts/cuhk.edu/hk/~lhan/latin_lessons/conjuga tion/verb_12php?. 122

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halb werden sie in der Werbung nur zurückhaltend eingesetzt. Dem black list-Tatbestand kann man aber nicht bereits dadurch entgehen, dass man Befehlston oder Befehlsform vermeidet. Im Deutschen ist „Aufforderung“ auch nicht zwingend ein Befehl, sondern es sind auch Wortverständnisse als „Ersuchen“ oder „Bitte“ möglich: Eine „Aufforderung zum Tanz“ ist eben kein „Befehl zum Tanz“. b) Ansprache in der zweiten Person Häufig begegnen Werbeaussagen, die mit Textbausteinen wie z. B. „Deine Wahl“ oder „Du entscheidest“ arbeiten. Wird in Werbemedien, die für Kinder und Jugendliche besonders ansprechend sind, die zweite Person Singular, das „Du“, als Anrede gebraucht, so deutet dies stark auf eine unmittelbare Ansprache von Kindern und Jugendlichen hin.128 Bei Radiooder Fernsehspots kann zusätzlich die Tageszeit Indizwirkung entfalten.129 „Deine Entscheidung“ oder „Du entscheidest“ suggeriert eine Entscheidungsmöglichkeit. Es suggeriert die Freiheit zur Entscheidung. Und wessen Möglichkeit und wessen Freiheit suggeriert es? Wem suggeriert es dies? Dem Adressaten, denn der Adressat ist angesprochen und soll sich entscheiden. Das „Du“ ist hier nicht unpersönlich, sondern zielt direkt auf den einzelnen Empfänger der Werbebotschaft. Er soll den Anhauch von Freiheit und Abenteuer spüren. Er soll entscheiden. Er soll sich für das beworbene Produkt entscheiden. Abstrahierend kann man überlegen, ob eine direkte Ansprache immer bei Verwendung der zweiten Person (Singular oder Plural) vorliegt.130 Grammatikalisch spricht die zweite Person den Empfänger der Kommunikations128 LG Hamburg MMR 2002, 834, 835; LG München I NJW 2003, 3066, 3068 – Rubbel-Gewinnspiel; Harte-Bavendamm, Henning/Henning-Bodewig, Frauke/Stuckel, Marc, UWG, München 2004, § 4 Nr. 2 UWG Rn. 9; Klees/Lange, CR 2005, 684, 685; Fechner/Schipanski, ZUM 2006, 898, 899; Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1015 sowie KG ZUM 2006, 56 = AfP 2005, 400 = WRP 2005, 1183 LS. Anderer Ansicht Schmits, Volker, „Übertriebenes Anlocken“ und psychologischer Kaufzwang durch Gewinnspiele?, NJW 2003, 3034, 3035. Allerdings ist zuzugestehen, dass die zweite Person Singular bei der Fernsehwerbung von Mehrwertdiensten auch für Erwachsene, namentlich im Erotikbereich, sehr verbreitet ist (z. B. „Ruf mich an“, „Heiße Frauen warten auf dich“, „Alles, was deine Frau nicht macht“, „Melde dich bei mir“, „Deine Chance“ usw.). Insoweit besteht aber jeweils eine Wechselwirkung zwischen Zuschnitt des Werbemediums, ins Auge gefasster Zielgruppe und sprachlichem Gewand der Ansprache; Mankowski, GRUR 2007, 1013, 1015 Fn. 32. 129 LG München I NJW 2003, 3066, 3068 – Rubbel-Gewinnspiel. 130 Vgl. LG München I NJW 2003, 3066, 3068 – Rubbel-Gewinnspiel; Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/Stuckel (Fn. 128), § 4 Nr. 2 UWG Rn. 9.

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nachricht an und bezieht ihn ein, es sei denn, „du“ wäre im Sinne eines englischen „you“ (und damit eines sehr fortgeschrittenen und subtilen Denglisch) als Indefinitpronomen, also als „man“ zu verstehen. Bei englischen Werbesprüchen à la „You can’t miss it“ liegt ein solches unpersönlicheres Verständnis sogar vergleichsweise nahe131 – indes liegt es nur auch nahe, weil die Werbung hier unterschwellig mit der mehrfachen Einsatzmöglichkeit des Wortes „you“ in der Sprache spielt. Werbung will generell ihre Adressaten motivieren. Werbung will Impulse setzen. Werbung will Reize auslösen und Anreize setzen. Eine Ansprache in der zweiten Person ist ein gutes, ja ausgezeichnetes Instrument, um diesen Ziel näher zu treten. „Direkt“ meint eine gezielte und persönliche Ansprache im Sinne eines „Du bist gemeint“.132 Dies kann auch Werbung sein, die eine Gruppe (z. B. eine Schulklasse) anspricht.133 Ein Gruppenzwang ist aber nicht erforderlich.134 c) Appelle jenseits der zweiten Person Viele, ja die meisten Appelle sind indirekt und vermeiden die zweite Person. Sie setzen auf ihren Inhalt und dessen Wirkung. Man denke etwa an allgemein gebräuchliche Formulierungen wie „Wer das verschläft, ist . . .“ oder „Nur für Ausgeschlafene“. Wer möchte zu den Verschlafenen gehören? Wer möchte nicht zu den Ausgeschlafenen und Überlegenen gehören? Kinder sehen sich selber gern als hellwach. Kinder fühlen sich dann gut abgeholt. Wer ausgeschlafen ist, ist ja (vielleicht) sogar schlauer als diese dummen Erwachsenen . . . Man gerät in einen Zwiespalt. Es handelt sich eindeutig um Werbung, und ebenso eindeutig ist Absatz von Produkten das Ziel. Andererseits verbietet Nr. 28 der deutschen wie der europäischen black list eben nicht jede an Kinder gerichtete Werbung. An Kinder gerichtete Werbung soll, so der Schluss aus der engeren Fassung des black list-Tatbestandes, jenseits der direkten Kaufaufforderungen jedenfalls diesem black list-Tatbestand nicht zum Opfer fallen.135 Unternehmen sollen jenseits des inkriminierten Rahmens gegenüber Kindern durchaus werben dürfen. 131 Die Übersetzung wäre in dieser Bedeutung ungefähr, vielleicht etwas altbacken: „Das darf man nicht versäumen“. 132 Köhler, WRP 2008, 700, 702. 133 Köhler, WRP 2008, 700, 702. 134 Köhler, WRP 2008, 700, 702. 135 Eventuelle Verstöße gegen andere Tatbestände des Lauterkeitsrechts, seien sie in der black list oder sonst im UWG enthalten, werden im Folgenden aus der Betrachtung ausgeklammert, da sie keine kinderspezifischen Fragen aufwerfen.

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Klare Aussagen, direkt auf das Produkt bezogen (z. B. „X, wenn der Hunger kommt“), sind dagegen wieder als direkte Kaufaufforderungen einzustufen. Die Verkürzung des eigentlichen Hauptsatzes auf den Produktnamen und der Verzicht auf ein adhortatives Verb ändern nichts am unmittelbaren adhortativen Charakter der Aussage.136 Ansonsten wäre es zu einfach. „Wäre es nicht schön, dies zu haben?“ oder ähnliches machen die Ansprache noch nicht zu einer bloß mittelbaren Aufforderung.137 d) Suggestivwerbung Suggestivwerbung gegenüber Minderjährigen suggeriert, dass die Akzeptanz in der Gruppe und unter Gleichaltigen, also neudeutsch: in der Peer Group, nur über bestimmte Produkte zu erzielen sei und vom Besitz dieser Produkte abhängig sei. Suggestivwerbung arbeitet mit Verlassens- und Diskriminierungsängsten. Sie versucht, bestimmten Produkten den Charakter eines „Must have“ zu verleihen. Dafür muss natürlich das Produkt deutlich genug bezeichnet sein. Allerdings arbeitet sie mit indirekten Mitteln. Sie suggeriert nur, ohne ausdrücklich zu etwas aufzufordern. Auch sie arbeitet gleichsam mit der nonverbalen Aussage „Es wäre schön und sinnvoll, dieses Produkt zu haben“. Hierher gehört etwa Werbung, die Kinder beim Erwerb des beworbenen Produkts zeigt.138 e) Quengelware Quengelware arbeitet mit Kaufanreizen. Sie appelliert an das Habenwollen. Aber ist sie auch eine kommerzielle Kommunikation?139 Denn eine kommerzielle Kommunikation ist gemäß der Definition in Art. 2 lit. i LauterkeitsRL Basisvoraussetzung für eine Aufforderung zum Kauf. Quengelware arbeitet optisch. Sie kombiniert Ware und Preis. Sie enthält zwar keine verbale Botschaft „Kauf mich“, aber eine deutliche nonverbale. Genau dem dient ihre Präsentation. Einen anderen Zweck als jene Kaufbotschaft zu vermitteln verfolgen Präsentation und Aufbau der Ware nicht. Sie sagen ohne Worte „Kauf mich, und zwar sofort“.140 Die Ansprache verspricht sogar umso mehr Erfolg, weil der Weg zwischen Kaufimpuls und 136

Mankowski, WRP 2008, 421, 427. So aber Scherer, Inge (Fn. 39), S. 157, 166; dies., WRP 2008, 430, 433. 138 Anders Köhler, WRP 2008, 700, 702. 139 Baukelmann, FS Eike Ullmann, 2006, S. 587, 591 sieht Quengelware außerhalb der Nr. 28 Anh. 1 LauterkeitsRL, ohne die hier verfolgten Verästelungen zu diskutieren. 140 Mankowski, WRP 2008, 421, 424. 137

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Griff zur Ware so kurz ist. Der Angesprochene muss sich nichts merken, muss keine Wege machen und muss keine Zeitplanung vornehmen – er braucht nur zuzugreifen.141 Man kann nicht sagen, dass die Beeinflussung hier nur mittelbar stattfinde.142 Dann müsste man nämlich beantworten, wodurch eine Mediatisierung stattfinde und was denn vermitteln solle, sich also zwischen Botschaft und Adressaten stelle. Dass die Kinder hier zumeist angehalten werden, die sie begleitenden Erwachsenen zum Kauf zu bewegen, kann jedenfalls nicht schaden, denn der black list-Tatbestand erfasst ausdrücklich auch die Konstellation, dass Kinder als Kaufmotivatoren Erwachsene zum Kauf bewegen sollen.143 Andererseits findet die Kommunikation durch die Ware selbst statt. Es handelt sich nicht um eine von der Ware verschiedene Werbemaßnahme. Man tut sich intuitiv schwer, Warenpräsentation als Werbung einzuordnen, ungeachtet ihres unbestreitbaren kommunikativen Gehalts. Spezifisch die Anordnung als Quengelware fügt indes eine weitere Dimension hinzu. Als allgemeines Warenangebot wäre kaum etwas zu beanstanden, bei Quengelware mit ihrer spezifischen Intention kommt jedoch mehr hinzu. Die Anordnung ist alles andere als Zufall, sondern gezielt angewandte Konsumentenverhaltensforschung. Damit sollte das Recht Schritt halten. Die Reaktion sollte sein, auf eine Anordnung als Quengelware zu verzichten, also etwa Süßigkeiten nicht mehr im Kassenbereich in Kindessichthöhe zu platzieren.144 Dies bedingt nicht, dass Süßigkeiten generell nur noch oberhalb von anderthalb Metern einsortiert werden dürften (oder gar, dass die betreffenden Warengruppen überhaupt nicht mehr angeboten werden dürften)145. Den Hersteller dürfte man im Übrigen nicht verantwortlich halten, wenn nachweisbar entgegen seinen Anweisungen Geschäfte die Ware doch als Quengelware angeordnet haben.146 3. Werbung, die sich sowohl an Kinder als auch an Erwachsene richtet Spezifisch für Nr. 28 Anh. § 3 UWG muss man eine weitere Frage aufwerfen und klären: Erfasst dieser Tatbestand ausschließlich Werbung, die 141

Mankowski, WRP 2008, 421, 424. So aber Baukelmann, FS Eike Ullmann, 2006, S. 587, 591. 143 Insoweit zutreffend Baukelmann, FS Eike Ullmann, 2006, S. 587, 591. 144 Mankowski, WRP 2008, 421, 424. 145 In Frankreich wird geplant, per nationalem Recht Quengelware zu verbieten, um so den Kampf gegen das Übergewicht zu verstärken; Quengelware wird verboten, Lebensmittel-Zeitung vom 29.2.2008, S. 32. 146 Mankowski, WRP 2008, 421, 426. 142

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nur an Kinder gerichtet ist, oder erfasst er darüber hinaus Werbung, die auch an Kinder gerichtet ist? Wie steht es um nicht jugendspezifische Werbung, die auch Erwachsene anspricht? Reicht es für Nr. 28 Anh. § 3 UWG aus, wenn Kinder auch angesprochen sind? Oder, dritte und vermittelnde Option, müssen Kinder primär angesprochen sein? Die Probe aufs Exempel bietet etwa eine Reklame, die zuvörderst Kinder anspricht, aber Erwachsene danach ausdrücklich einbezieht, z. B. ein fröhlicher Slogan, der auf „macht Kinder froh – und Erwachsene ebenso“ oder „Schmeckt auch Erwachsenen“ oder „Gefällt auch den Müttern“ endet. Deutlicher könnte man nicht ausdrücken, dass man zum einen beide Zielgruppen, Kinder und Erwachsene, im Auge hat und dass man aber zum anderen in erster Linie Kinder im Auge hat (da diese zuerst erwähnt werden, und die Erwachsenen abgestuft mit einem „auch“ gleichsam angehängt werden).147 Übrigens soll auch Werbung, in der sich Kinder freuen, wenn ihnen Erwachsene (vorzugsweise die Eltern) etwas Bestimmtes schenken oder mitbringen, sowohl Kinder als auch Erwachsene ansprechen. Denn sie vermittelt Kindern, dieses Etwas haben zu wollen, und Erwachsenen, dass Kinder sich freuen, wenn man ihnen dieses Etwas gibt.148 Der Wortlaut schon der Nr. 28 Anh. 1 LauterkeitsRL weist eher dahin, dass es ausreicht, wenn Kinder auch angesprochen sind. Er enthält keine Einschränkungen durch ein „nur“ oder „ausschließlich“ oder „überwiegend“ oder „vorrangig“. Im Gegenteil spricht er von der „Einbeziehung einer direkten Aufforderung an Kinder in eine Werbung“.149 Diese Formulierung ist umständlich. Sie zeigt aber – ebenso wie die zumeist eleganteren und verständlicheren Fassungen in anderen Sprachen150 – relativ deutlich, dass die Kaufaufforderung an Kinder nicht isoliert stehen muss, sondern dass sie vielmehr Teil einer über sie hinausgehenden Werbung sein darf. „Einbeziehung“ meint (auch) ein Element unter mehreren. Natürlich schadet es nicht, wenn die Werbemaßnahme nur aus einer Kaufaufforderung an Kinder besteht. Aber verlangt ist dies nicht. Anderenfalls wäre der Tatbestand sehr eng und drohte kaum effektiv zu sein. Denn dann bräuchte man als Werbender nur Elemente in die Werbung einzufügen, die sich (auch?) an Erwachsene richten, und könnte sich so dem Verdikt ent147

Mankowski, WRP 2008, 421, 426. Mankowski, WRP 2008, 421, 426. 149 Hervorhebung hinzugefügt. 150 Englisch: including in an advertisement a direct adhortation; französisch: dans une publicité, inciter directement; italienisch: includere in un messagerio pubblicitario un’esortazione diretta; spanisch: incluir en una publicidad una exhortación directa; dänisch: en reclamer opfordrer direkte; portugiesisch: incluir en um anfflncion publicitário uma excortação directa; niederländisch: in reclame rechtstreeks toe aanzetten; schwedisch: att i en annons direkt uppmana. 148

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ziehen.151 Zudem würde sich bei einzelnen Elementen die Grenze, was sich an Kinder und was sich an Erwachsene richtet, kaum zuverlässig und belastbar ziehen lassen. Kinder werden nicht weniger schutzwürdig, wenn sie nicht die einzigen sind, die angesprochen werden. Vielmehr kann das Gegenteil richtig sein: Eine sowohl für Kinder als auch für Erwachsene konzipierte Werbung kann und wird in Zweifel, um die Erwachsenen anzusprechen, auch Elemente enthalten, die weniger kindgerecht und für Kinder weniger verständlich sind, als sie es bei einer rein für Kinder konzipierten Werbung wären. Die auf beide Zielgruppen zielende Werbung wird Kinder tendenziell eher überfordern als Werbung, die nur auf Kinder zielt.152 4. Art. 3e Abs. 1 lit. f RL Audiovisuelle Medien (Geänderte FernsehRL) Die RL Audiovisuelle Medien153 erweitert und verändert die FernsehRL erheblich. Insbesondere gliedert und strukturiert sie auch die Werbetatbestände der FernsehRL neu. Art. 16 FernsehRL wird aufgehoben.154 Der Urquell der direkten Kaufaufforderung versiegt, aber nur nominell. Denn er lebt in Art. 3e Abs. 1 lit. f RL Audiovisuelle Medien (oder wohl genauer: Geänderte FernsehRL) durchaus fort. Am Begriff der direkten Aufforderung zu kaufen und dessen eigenem Inhalt ändert sich nichts. Indes bleiben merkliche Unterschiede im sachlichen Umfeld. Nun gilt:155 „Audiovisuelle Kommunikation darf nicht zur körperlichen oder seelischen Beeinträchti151

Mankowski, WRP 2008, 421, 426 f. Mankowski, WRP 2008, 421, 427. 153 Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinie des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. EU 2007 L 332/27. Zu dieser Richtlinie z. B. Burri-Nenova, Mira, The New Audiovisual Media Services Directive: Television without Frontiers, Television without Cultural Diversities, (2007) 44 C.M.L. Rev. 1689; Castendyk, Oliver/Böttcher, Kathrin, Ein neuer Rundfunkbegriff für Deutschland? – Die Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste und der deutsche Rundfunkbegriff, MMR 2008, 13; Herold, Anna, Country of Origin Principle in the EU Market for Audiovisual Media: Consumer’s Friend or Foe?, (2008) 31 J. Cons. Policy 5; Woods, Larna, The Consumer and Advertising regulation in the Television without Frontiers and Audiovisual Media Services Directive, (2008) 31 J. Cons. Policy 63; Prosser, Tony, Self-Regulation, Co-Regulation and the Audiovisual Media Services Directive, (2008) 31 J. Cons. Policy 99. 154 Durch Art. 1 Nr. 17 RL Audiovisuelle Medien. 155 Generell zum Minderjährigenschutz unter der RL Audiovisuelle Medien Füg, Oliver C., Save the Children: The Protection of Minors in the Information Society and the Audiovisual Media Services Directive, (2008) 31 J. Cons. Policy 45. 152

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gung Minderjähriger führen. Daher darf sie keine direkten Aufrufe zum Kaufen oder Mieten von Waren oder Dienstleistungen an Minderjährige richten, die deren Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausnutzen, Minderjährige nicht unmittelbar dazu auffordern, ihre Eltern oder Dritte zum Kauf der beworbenen Ware oder Dienstleistung zu bewegen, nicht das besondere Vertrauen ausnutzen, das Minderjährige zu Eltern, Lehrern oder anderen Vertrauenspersonen haben, und Minderjährige nicht ohne berechtigten Grund in gefährlichen Situationen zeigen.“ Das entscheidende Moment, das sich so in Nr. 28 der europäischen black list nicht findet, bleibt, dass die direkte Kaufaufforderung nur unter der zusätzlichen Voraussetzung inkriminiert ist, dass sie Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit Minderjähriger ausnutzt.156 Indes schreibt dies nur Art. 16 lit. a FernsehRL fort. Im Übrigen setzen sich die litt. b–d Art. 16 FernsehRL fort. Der Inhalt der Regulierung bleibt also für Fernsehwerbung unverändert, nur der Standort ändert sich innerhalb der novellierten Richtlinie. Wie steht dies alles systematisch zu Nr. 28 der europäischen black list? Deren zweiter Satz, der einen Vorbehalt zu Gunsten des Art. 16 FernsehRL ausspricht, geht nun ins Leere, wenn man ihn wörtlich nimmt. Der im zweiten Satz ausgedrückte Gedanke ist aber nichts anderes als ein Spezialitätsprinzip. Der Regulierungstatbestand aus dem allgemeineren Instrument nimmt sich selber angesichts des Regulierungstatbestands aus dem spezielleren Instrument zurück. Dies lässt sich auch mit neuer Verortung des Spezialtatbestands fortschreiben. Zudem könnte Art. 3e Abs. 1 lit. f RL Audiovisuelle Medien (Geänderte FernsehRL) für sich reklamieren, die jüngere Regelung zu sein, und daher Vorrang über die Rangkollisionsregel des Posterioritätsgrundsatzes, wie sie auch dem europäischen Recht geläufig ist, beanspruchen.157

XI. Résumé 1. Kinder und Jugendliche sind eine für die Werbewirtschaft interessante Zielgruppe mit nicht zu unterschätzenden verfügbaren Mitteln. Der gezielten Ansprache muss eine gezielte rechtliche Reaktion folgen. Modernes Lauterkeitsrecht schützt Kinder und Jugendliche in spezifischer Weise. Dem bisherigen Instrumentarium fügt Nr. 28 Anh. I LauterkeitsRL, umgesetzt als Nr. 28 Anh. § 3 UWG, ein wichtiges Element hinzu. 2. § 4 Nr. 2 UWG schützt Kinder und Jugendliche dagegen, dass ihre geschäftliche Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit ausgenutzt wird. Dies ist 156 157

Mankowski, WRP 2008, 421, 429. Mankowski, WRP 2008, 421, 429.

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gleichsam ein abstrakter Gefährdungstatbestand. Große technische Fertigkeit schließt ihn nicht aus. Innerhalb des Schutzes ist eine Differenzierung nach Altersstufen möglich. Je älter die angesprochenen Verkehrskreise sind, desto entwickelter sind diese, und desto mehr kann (noch) erlaubt sein. 3. „Kind“ im Sinne von Nr. 28 Anh. § 3 UWG ist, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Maßgeblich ist die europäische Begriffsbildung. Daher hat der nationale Gesetzgeber keine Kompetenz, in den Materialien nationale Festlegungen zu treffen. Insbesondere kann man dem deutschen black list-Tatbestand nicht § 1 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG unterlegen und die Altersgrenze bei 14 Jahren ziehen. Gleiches gilt für einen Abgleich mit § 4 Nr. 2 UWG. Die Altersgrenze von 14 Jahren aus dem gescheiterten Vorschlag für eine VerkaufsförderungsVO lässt sich nicht auf die LauterkeitsRL übertragen. Der Vorschlag für eine VerkaufsförderungsVO trug eine andere Handschrift und war insgesamt wirtschaftsfreundlicher als das von der Generaldirektion SanCo stammende Konzept der LauterkeitsRL, das letztlich erfolgreich war. Für ein bis 18 Jahren reichendes Verständnis des Begriffs „Kind“ in Nr. 28 Anh. I LauterkeitsRL sprechen: – die Wertungskonsistenz mit Art. 16 litt. a, b FernsehRL, der eindeutig alle Minderjährigen schützt; – der Einfluss von Art. 24 Abs. 2 GR-Charta; – das Fehlen eines Gegensatzpaars „Kind“/„Jugendlicher“ im Gemeinschaftsrecht; – die Verwendung von „Kind“ als Komplementärbegriff zu „Erwachsener“ im Normtext; – das Schutzbedürfnis der Vierzehn- bis Siebzehnjährigen (der „Jugendlichen“ in deutschrechtlicher Terminologie), die wegen der größeren Geldsummen, über die sie im Vergleich zu Kindern bis 13 Jahren verfügen können, eine besonders interessante Zielgruppe für Werbung sind. 4. Der Begriff der „direkten Aufforderung zu kaufen“ stammt aus Art. 16 litt. a, b FernsehRL (und war schon bisher als § 6 Abs. 2 Nr. 1 JMStV im Fernsehbereich geltendes Recht in Deutschland). Die Herkunft aus der Regulierung von Fernsehwerbung ist bei der Auslegung eine wichtige Leitlinie. Die „Aufforderung zum Kauf“ definiert Art. 2 lit. i LauterkeitsRL. Der dortige Zentralbegriff „kommerzielle Kommunikation“ wiederum ist Art. 2 lit. f e-commerce-RL zu entnehmen. Der Begriff der „direkten Aufforderung zu kaufen“ ist enger als jener der Werbung. Nicht jede Werbemaßnahme kann eine direkte Aufforderung zu kaufen sein. Ob Kinder direkt angesprochen werden, richtet sich nach dem Werbemedium, nach der inhaltlichen Ausgestaltung der Werbung (z. B. ob sie Kinder als Werbefiguren einsetzt) und insbesondere nach der beworbenen Ware. Es reicht aus,

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dass Kinder auch angesprochen werden, also dass Kinder, sei es auch neben Erwachsenen, ebenfalls Werbeadressaten sind. „Geschichten“ in einer Werbung schließen nicht von vornherein aus, dass Kinder angesprochen werden. Eine imperativische Ansprache ist Musterfall einer direkten Aufforderung zu kaufen. Eine Ansprache in der zweiten Person ist typischerweise eine direkte Ansprache. Quengelware ist eine an Kinder gerichtete direkte Aufforderung zu kaufen. Appelle jenseits der zweiten Person sind jeweils individuell zu beurteilen. Allgemeine Imagewerbung oder selbstironische Werbung lassen sich in der Regel nicht als direkte Aufforderung zu kaufen bewerten.

Das Kind als Schuldner Von Reinhard Bork Die Überschuldung von Kindern und Jugendlichen ist ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem. Nach dem 11. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung waren schon 2001 mehr als 250.000 Jugendliche und Heranwachsende in Deutschland überschuldet.1 Aus der Studie des „SchuldnerAtlas Deutschland 2006“ ergibt sich, dass die Verschuldung Jugendlicher und junger Erwachsener derzeit besonders schnell wächst. Viele Schüler haben einen „Nebenjob“ und verfügen deshalb bereits früh über ein kleines eigenes Einkommen, mit dem sie ihren Konsumbedarf decken. Im Schnitt geben die Zehn- bis Siebzehnjährigen ihr Geld für Fastfood, Markenkleidung, Computerspiele, „Ausgehen“ mit Freunden und das Handy aus.2 „Markenklamotten“ und das neuste Handy haben in der Altergruppe der Heranwachsenden oft Statuscharakter. Einige verschulden sich mit dem ersten selbst abgeschlossenen Vertrag bei einem Mobilfunkanbieter, indem sie schnell den Überblick über verlockende Angebote wie Klingeltöne, Logos, Internetinhalte fürs Handy (WAP) und Kurzmitteilungen (SMS, MMS) verlieren. Zwar bezahlen oft die Eltern die Rechnungen oder versuchen über Prepaid-Verträge die Handykosten zu begrenzen. Nicht selten bleiben die Rechnungen aber offen. Auch der Versand- und der Internethandel melden der Schufa häufiger Zahlungsschwierigkeiten junger Leute. Immerhin: Laut der Schufa-Studie „Jugend und Geld 2005“ gehen minderjährige Jugendliche in der Regel noch relativ verantwortungsbewusst mit ihrem Geld um und unterscheiden sich daher bezüglich ihrer Schulden stark von den Älteren, bei denen etwa ab dem 18. Lebensjahr die Verschuldung wegen der vollen Geschäftsfähigkeit und der noch bestehenden finanziellen Unerfahrenheit sprunghaft ansteigt und im Falle der Arbeitslosigkeit schnell in die Überschuldung führen kann.3 Zwei tabellarische Übersichten aus dem von der Creditreform erstellten SchuldnerAtlas Deutschland 20064 mögen das abschließend belegen:

1 2 3 4

BT-Drs. 14/8181, S. 146. Lange/Fries, Schufa-Studie Jugend und Geld 2005, 2006, S. 6. Lange/Fries (Fn. 2), S. 81. Creditreform, SchuldnerAtlas Deutschland 2006, S. 18.

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Reinhard Bork Tabelle 1

Altersgruppe/ Jahr

unter 20

20–29

30–39

über 40

2004

+0,41%

+7,55%

+13,21%

28,74%

2005

+0,62%

+8,02%

+13,32%

28,08%

2006

+0,92%

+8,48%

+13,23%

27,57%

Abweichung 2004/2006

+0,51%

+0,93%

+0,02%

–1,17%

Quelle: Creditreform

Abbildung 1: Schuldnerindex nach Altersgruppen – Abweichungen 2004–2006

Vor diesem Hintergrund wird sich dieser Beitrag zunächst in einem ersten Schritt mit der Frage beschäftigen, wie und ab welchem Alter es überhaupt möglich ist, dass sich Kinder trotz des Minderjährigenschutzes des Zivilrechts überhaupt verschulden können. Dabei stellen neben genehmigten rechtsgeschäftlichen Verpflichtungen deliktische Schadensersatzansprüche die größten Schuldenursachen dar. Sodann wird die Haftungsbeschränkung des § 1629a BGB in den Blick genommen. Allerdings werden von der Haftungsbeschränkung des § 1629a BGB nicht alle Verbindlichkeiten der Minderjährigen erfasst, weshalb der letzte Abschnitt auf die Möglichkeit der Durchführung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens mit anschließender Restschuldbefreiung eingeht.

I. Verpflichtungsgründe Zunächst ist also nach den Ursachen für die Verschuldung Minderjähriger zu fragen. Hier ist zwischen rechtsgeschäftlichen und gesetzlichen Verbindlichkeiten zu unterscheiden.

Das Kind als Schuldner

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1. Rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten Rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten können Minderjährigen aus eigenem Handeln oder aus dem Handeln ihrer gesetzlichen Vertreter entstehen. a) Eigengeschäfte des Minderjährigen Grundsätzlich können nur voll geschäftsfähige Personen ohne fremde Zustimmung Schulden begründen. Vollgeschäftsfähig wird man erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres. Ohne Mitwirkung der Eltern kann der Minderjährige somit keine eigenen rechtsgeschäftlichen Verpflichtungen eingehen (§ 107 BGB). Stimmen die Eltern jedoch zu, etwa beim Abschluss eines Handyvertrages, so wird der Minderjährige selbst Vertragspartner und die Schulden, die aus solchen Rechtsgeschäften entstehen, sind ausschließlich diejenigen des Kindes. Dabei ist es im Ergebnis gleich, ob die Zustimmung im Voraus erteilt wird (Einwilligung, § 183 BGB) oder im Nachhinein (Genehmigung, § 184 BGB) und ob sie gegenüber dem Minderjährigen oder gegenüber dem Vertragspartner erklärt wird (§ 182 Abs. 1 BGB). Es kommt gar nicht so selten vor, dass Minderjährige ihre Eltern vorher nicht fragen und einen Vertrag ohne deren Einwilligung schließen, etwa indem sie bei einem Versandhaus unter falscher Altersangabe bestellen. Die Ware wird daraufhin geliefert und von den Eltern ahnungslos angenommen. Genehmigen die Eltern die Bestellung nach §§ 108, 184 BGB gegenüber dem Kind, indem sie die Ware nicht wieder zurückschicken, heilt die Genehmigung den sonst ungültigen Vertrag zwischen Gläubiger und Minderjährigem, der dadurch zur Zahlung verpflichtet wird. Schließlich kann der Minderjährige auch durch solche Rechtsgeschäfte zum Schuldner werden, die er im Rahmen des § 112 BGB nach Ermächtigung der Eltern zum selbstständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäfts und mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts tätigt. Während dieser Fall allerdings seltener auftritt, kommt der Regelung des § 113 BGB größere praktische Bedeutung zu. Nach dieser Vorschrift kann sich der Minderjährige nach einer elterlichen Ermächtigung im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses, insbesondere eines Ausbildungsverhältnisses als Lehrling, rechtsgeschäftlich allein betätigen, also auch verschulden. b) Fremdverpflichtung durch die Eltern Daneben treten Verbindlichkeiten, die die Eltern als gesetzliche Vertreter der Kinder in deren Namen begründen. Ein in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswertes Phänomen ist, dass immer mehr zahlungsunfähige

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Eltern bei Versandhäusern Bestellungen auf den Namen ihrer Kinder abgeben, um Konsumgüter für eigene Zwecke zu erwerben, weil für die Kinder noch kein Eintrag bei der Schufa besteht.5 Handeln die Eltern dabei offen als Vertreter im Namen des Kindes, wird dieses verpflichtet. Aber auch bei einem Handeln unter fremden Namen kommt es den Vertragspartnern auf die wahre Identität der Erwerber an, da es sich wegen der Vorleistung des Verkäufers um ein Kreditgeschäft handelt, so dass die Kinder Vertragspartei werden und für die Beschaffung der Konsumgüter bezahlen müssen. Auch wenn sich die Eltern durch den Abschluss von Verträgen im Namen ihrer minderjährigen Kinder im Innenverhältnis schadensersatzpflichtig machen können, so führt dieser Missbrauch der Vertretungsmacht aus Gründen der Verkehrsicherheit doch nicht zur Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts.6 2. Gesetzliche Verbindlichkeiten Neben die rechtsgeschäftlich begründeten Schulden treten die gesetzlichen Verbindlichkeiten. Hier sind zunächst Haftungsansprüche aus § 128 HGB in direkter oder analoger Anwendung zu erwähnen, die insbesondere dann in Betracht kommen, wenn Eltern – meist aus steuerlichen Gründen – ihren Kindern Anteile an Personengesellschaften schenken. In einer solchen Konstellation hat die Insolvenz der Gesellschaft in der Regel auch die Insolvenz der persönlich haftenden Gesellschafter zur Folge. Ferner kann ein Minderjähriger Schulden erben, wenn seine Eltern es unterlassen haben, den überschuldeten Nachlass für ihn auszuschlagen. Vor allem aber können Minderjährige Schuldner von existenzvernichtenden Schadensersatzforderungen aufgrund deliktischer Haftung werden, wenn ihre Eltern keine Risikovorsorge für sie getroffen haben, etwa durch den Abschluss einer Haftpflichtversicherung. Zunächst besteht die Gefahr, andere Kinder beim Spielen fahrlässig zu verletzen. Aber auch vorsätzlich begangene Delikte wie Ladendiebstähle, Sachbeschädigungen oder Raub und Erpressungen unter Jugendlichen („Abziehen“) sind relevant. Außerdem können auch kleine Verfehlungen große Schäden anrichten. Zu leicht ist es beispielsweise heute geworden, einen Gegenstand von überragendem Wert im Straßenverkehr zu beschädigen. Jedenfalls ist das Risiko einer Verursachung von Schäden durch Kinder in der täglichen Praxis wegen des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts in den letzten Jahrzehnten deutlich angestiegen.7 5 6

Ausführlich Steenbuck, FamRZ 2007, 1064 ff. Die Ausnahmefälle (Kollusion und Evidenz) werden regelmäßig nicht vorlie-

gen. 7

Goecke, NJW 1999, 2305, 2308; Ludyga, FPR 2006, 460, 461.

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II. Materiell-rechtliche Schutzmechanismen gegen die Überschuldung Minderjähriger Das Leben in der Konsumgesellschaft erfordert Wissen und Informationen im Umgang mit Geld und Geldgeschäften. Jugendliche verfügen oft noch nicht über diese Finanzkompetenz. Aus diesem Grund will das Bürgerliche Gesetzbuch die Minderjährigen schützen, indem dem Minderjährigenschutz sogar Vorrang vor dem Vertrauensschutz des Geschäftsverkehrs eingeräumt wird.8 Mit der Normierung des gesetzlichen Vertretungsrechts der Eltern nach § 1629 Abs. 1 BGB soll verhindert werden, dass Kinder Verträge abschließen, die nicht in ihrem Interesse liegen.9 Allerdings besteht insoweit, wie gesehen, auch ein gewisses Missbrauchsrisiko. 1. Präventiver Überschuldungsschutz Einen präventiven Überschuldungsschutz bietet das Minderjährigenrecht zunächst durch die notwendige Mitwirkung der Eltern, mitunter sogar des Familien- oder Vormundschaftsgerichts. Daneben treten Vertretungsverbote und Regelungen über die Deliktsfähigkeit. a) Mitwirkung der Eltern Kinder, die das siebente Lebensjahr nicht vollendet haben, sind gemäß § 104 Nr. 1 BGB geschäftsunfähig und können somit Willenserklärungen wirksam weder abgeben (§ 105 Abs. 1 BGB) noch empfangen (§ 131 Abs. 1 BGB). An der Stelle der Kinder handeln die Eltern als gesetzliche Vertreter, indem sie für diese Willenserklärungen gemäß § 164 Abs. 1 BGB abgeben und nach §§ 131 Abs. 1, 164 Abs. 3 BGB entgegennehmen. Die von den Eltern vorgenommenen Rechtsgeschäfte berechtigen und verpflichten dann ausschließlich das geschäftsunfähige Kind.10 Ein Minderjähriger, der das siebente, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, ist beschränkt geschäftsfähig. Anders als geschäftsunfähige Kinder können beschränkt Geschäftsfähige auch selbst rechtsgeschäftlich handeln, soweit ihnen die Willenserklärung keinen rechtlichen Nachteil bringt.11 Allerdings bedarf der Minderjährige gemäß § 107 BGB zu einer Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen 8 Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, § 25 Rn. 10. 9 BVerfGE 72, 155, 171. 10 Bork, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2. Aufl. 2006, Rn. 985. 11 Bork (Fn. 10), Rn. 995.

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Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters. Schließt ein Minderjähriger einen Vertrag ohne die Einwilligung seiner Eltern, so ist dieser Vertrag zunächst schwebend unwirksam und wird erst gemäß § 184 Abs. 1 BGB rückwirkend wirksam, wenn ihn der gesetzliche Vertreter nach § 108 Abs. 1 BGB genehmigt. Durch die Kontrolle der gesetzlichen Vertreter, welche grundsätzlich über mehr Erfahrung im Geschäftsverkehr verfügen, soll der Minderjährige umfassend vor negativen Folgen seiner eigenen Handlungen geschützt werden. b) Mitwirkung des Vormundschafts- oder Familiengerichts Damit der Minderjährige – als Ausnahmen zu § 106 BGB – die partielle Geschäftsfähigkeit für Tätigkeiten im Rahmen eines selbstständig betriebenen Erwerbsgeschäfts erhält, bedarf er nach § 112 BGB neben der Ermächtigung des gesetzlichen Vertreters der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts.12 Vor allem aber enthalten die §§ 1643 Abs. 1 i. V. m. 1821, 1822 Nr. 1, 3, 5, 8–11 BGB einen Katalog von im Namen der Kinder vorgenommenen Rechtsgeschäften, die zu ihrer Wirksamkeit gemäß § 1643 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 1829 Abs. 1 S. 1 BGB einer familiengerichtlichen Genehmigung bedürfen. c) Ausschluss der Vertretungsmacht Sodann sind bestimmte Rechtsgeschäfte vollständig ausgeschlossen. So untersagt § 1641 S. 1 BGB den Eltern und § 1804 S. 1 BGB dem Vormund, Schenkungen aus dem Vermögen des Kindes bzw. des Mündels vorzunehmen, um die aus dem Fehlen einer Gegenleistung resultierende Verminderung des Minderjährigenvermögens zu verhindern. d) Eingeschränkte Deliktsfähigkeit Im Bereich der gesetzlichen Verbindlichkeiten kommt den Regelungen über die Deliktsfähigkeit besondere Bedeutung zu. Minderjährige verfügen nur in vermindertem Maße über das nötige Urteilsvermögen, um das Verbotensein und die Folgen bestimmter Handlungen einschätzen zu können, und bedürfen deshalb eines besonderen Schutzes, dem das Haftungsprivileg des § 828 BGB gerecht werden will.13 Nach dieser Vorschrift sind Kinder bis zur Vollendung des siebenten Lebensjahres für einen Schaden aus uner12

Ausführlich dazu Bork (Fn. 10), Rn. 1037 ff. Goecke, NJW 1999, 2305, 2307; Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 10. Aufl. 2006, S. 130 Rn. 337. 13

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laubter Handlung überhaupt nicht verantwortlich. Nach § 828 Abs. 2 BGB wird die Verantwortlichkeit für fahrlässiges Handeln bis zum zehnten Lebensjahr für den fließenden Straßenverkehr eingeschränkt. Kinder und Jugendliche, die das siebente, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, sind gemäß § 828 Abs. 3 BGB nur beschränkt deliktsfähig, so dass der Minderjährige nur verantwortlich ist, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hatte. Dabei wird allerdings kritisiert, dass § 828 Abs. 3 BGB nicht die Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung erfasse.14 Zwar ist in diesem Zusammenhang noch ein besonderer sozialrechtlicher Schutz erwähnenswert. Gehen nämlich nach § 116 SGB X Schadensersatzansprüche auf einen Sozialversicherungsträger über, so hat der Minderjährige gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung durch den Sozialversicherungsträger über einen Forderungserlass zur Vermeidung unbilliger Härten.15 Trotzdem bestehen hinsichtlich der unbeschränkten deliktischen Haftung Minderjähriger für fahrlässiges Verhalten im Rahmen der §§ 828 Abs. 2 und 3, 829 BGB Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit.16 Als Überschuldungsschutz wird eine elterliche Pflicht zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung für das Kind diskutiert, weil dieses keine eigenverantwortliche Risikovorsorge gegen derartige Haftungsrisiken treffen kann.17 Eine solche Haftpflichtversicherung hilft freilich nicht bei vorsätzlichem Verhalten, da in diesen Fällen die Versicherungsbedingungen (AHB) in Übereinstimmung mit § 103 VVG die Inanspruchnahme des Versicherers ausschließen. 2. Nachträglicher Überschuldungsschutz Versagt der präventive Überschuldungsschutz, so gibt es Korrektive auf verschiedenen Ebenen. 14 Goecke, NJW 1999, 2305, 2307; Ludyga, FPR 2006, 460; Steuerungsfähigkeit ist für das Verschulden bedeutsam, OLG Nürnberg NJW-RR 2006, 1170. 15 BVerfG NJW 1998, 3557, 3558. 16 OLG Celle NJW 1989, 1952; LG Dessau VersR 1997, 242; Ahrens, VersR 1997, 1064, 1066; Canaris, JZ 1990, 679; Glöckner, FamRZ 2000, 1397, 1404; Klumpp, ZEV 1998, 409, 411; nach BVerfG NJW 1998, 3557, 3558 steht weder der Wille des vorkonstitutionellen Gesetzgebers noch der Wortlaut des § 828 BGB einer Einschränkung der Minderjährigenhaftung aus Billigkeitsgründen zwingend entgegen. 17 Glöckner, FamRZ 2000, 1397, 1405; Klüsener, Rpfleger 1999, 55, 58; ausführlich Peters, FamRZ 1997, 595; v. Hippel, VersR 1998, 26; offen gelassen Klumpp, ZEV 1998, 409, 412; ablehnend Schlegelmilch, ZAP 1999, Fach 2, 227, 231.

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a) Haftung der Eltern Die Haftung der Eltern gegenüber dem Kind wegen unzulänglicher Vermögensvorsorge wird durch den Haftungsmaßstab des § 1664 BGB deutlich erschwert. Aber jedenfalls bei einem Missbrauch der Vertretungsmacht haften die Eltern ihrem Kind aus dem Innenverhältnis. Ein solcher Schadensersatzanspruch wegen Pflichtverletzung bei Ausübung der elterlichen Sorge steht auch nach Erreichen der Volljährigkeit des Kindes als Haftungsvermögen zur Verfügung.18 Bereits während der Minderjährigkeit des Kindes kann ein Ergänzungspfleger den Schadensersatzanspruch nach §§ 1629 Abs. 2 S. 1, 1795 Abs. 1 Nr. 1 und 3, 1909 Abs. 1 S. 1 BGB geltend machen. Allerdings sind diese Schadensersatzansprüche oft wertlos, weil auch die Eltern vermögenslos sind. Außerdem besteht in den meisten Fällen eine natürliche Hemmung, die eigenen Eltern auf Schadensersatz zu verklagen. b) Haftungsbeschränkung nach § 1629a BGB Aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der zufolge es mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar ist, dass Eltern kraft ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht ihre Kinder bei Fortführung eines ererbten Handelsgeschäfts in ungeteilter Erbengemeinschaft unbegrenzt verpflichten könnten,19 trat am 1. Januar 1999 mit § 1629a BGB eine Haftungsbeschränkung für den volljährig Gewordenen auf den Bestand seines Vermögens zum Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres in Kraft. Zwar können Eltern ihre Kinder nach Maßgabe des vorstehend Ausgeführten weiterhin in beliebiger Höhe als Schuldner verpflichten, so dass der Minderjährige immer noch für sämtliche Verbindlichkeiten unbeschränkt haftet.20 Dafür kann sich aber nun der volljährig Gewordene auf den Schutz des § 1629a BGB berufen. aa) Erfasste Verbindlichkeiten § 1629a Abs. 1 BGB erfasst grundsätzlich alle Verbindlichkeiten, welche die Eltern oder andere vertretungsberechtigte Personen als gesetzliche Vertreter des Minderjährigen durch Rechtsgeschäft oder sonstige Handlungen 18 Münchener Kommentar zum BGB (= MünchKomm.BGB)/Huber, 4. Aufl. 2008, § 1629a Rn. 40; Palandt/Diederichsen, BGB, 67. Aufl. 2008, § 1629a Rn. 23. 19 BVerfGE 72, 155. 20 Bittner, FamRZ 2000, 325; Glöckner, FamRZ 2000, 1397, 1400; Palandt/Diederichsen (Fn. 18), § 1629a BGB Rn. 8.

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in dessen Namen begründet haben. Auch eigene Rechtsgeschäfte des Minderjährigen, die gemäß §§ 107, 108, 111 BGB mit Zustimmung der Eltern vorgenommen wurden oder durch das Familiengericht21 genehmigt wurden, unterliegen dieser Norm. Die Haftung für Verbindlichkeiten, die auf Grund eines während der Minderjährigkeit erfolgten Erwerbs von Todes wegen entstanden sind, beschränkt sich ebenfalls auf den Bestand des bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandenen Vermögens des Kindes. Sodann fallen Forderungen aus Dauerschuldverhältnissen, die während der Minderjährigkeit begründet wurden, aber erst nach Eintritt der Volljährigkeit fällig werden, als Altverbindlichkeiten in den Anwendungsbereich der Vorschrift.22 bb) Nicht erfasste Verbindlichkeiten Allerdings ist der Überschuldungsschutz des § 1629a BGB nicht umfassend.23 Denn gemäß Absatz 2 der Norm sind von der Haftungsbeschränkung Verbindlichkeiten ausgeschlossen, die aus dem selbstständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäfts stammen, soweit der Minderjährige hierzu nach § 112 BGB ermächtigt war, ferner solche die allein der Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse des Kindes dienten, wie Geschäfte zur Ernährung oder Gesundheitsvorsorge. Problematisch ist dabei der weite Begriff der persönlichen Bedürfnisse. Ihm fehlt die klare Bestimmbarkeit, weil die Bedürfnisse von Minderjährigen sehr unterschiedlich sein können.24 Schließlich haftet der volljährig Gewordene für alle Verbindlichkeiten, welche zur Zeit der Minderjährigkeit allein durch von ihm zu verantwortende Handlungen verursacht wurden.25 Neben Unterhaltspflichten – zu denken ist etwa an minderjährige Väter, sofern deren Vermögensverhältnisse Unterhaltspflichten zulassen – und Herausgabepflichten gemäß §§ 985, 812 BGB sind vor allem deliktische Ansprüche gegen den Minderjährigen und solche aus Gefährdungshaftung nicht von § 1629a BGB erfasst.26

21 § 1629a Abs. 1 BGB spricht nur versehentlich vom Vormundschaftsgericht, weil der Gesetzgeber § 1643 Abs. 1 BGB übersehen hat; ebenso Glöckner, FamRZ 2000, 1397, 1401; Muscheler, WM 1998, 2271 Fn. 3. 22 Klüsener, Rpfleger 1999, 55, 57. 23 Frankfurter Kommentar zur InsO (= FK.InsO)/Ahrens, 4. Aufl. 2006, § 286 Rn. 31; Palandt/Diederichsen (Fn. 18), § 1629a Rn. 2. 24 Glöckner, FamRZ 2000, 1397, 1401. 25 Coester, JURA 2002, 88, 90. 26 Bittner, FamRZ 2000, 325, 326; Palandt/Diederichsen (Fn. 18), § 1629a Rn. 13; Peschel-Gutzeit, FPR 2006, 455, 458; a. A. Petersen, JURA 2006, 280, 282; für eine analoge Anwendung Ludyga, FPR 2006, 460, 461.

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cc) Geltendmachung Die Haftungsbeschränkung des § 1629a Abs. 1 BGB tritt mit Vollendung des 18. Lebensjahres nicht kraft Gesetzes ein, sondern der volljährig Gewordene muss sich gemäß § 1629a Abs. 1 S. 2 BGB darauf berufen.27 § 1629a BGB stellt somit eine dauernde, unbefristete Einrede einer auf das Altvermögen beschränkten Haftung für während der Minderjährigkeit entstandene Verbindlichkeiten dar.28 Beruft sich der volljährig Gewordene nicht auf § 1629a BGB, so haftet er unbeschränkt mit seinem gesamten Vermögen.29 Es bleibt somit ihm überlassen, gegenüber welchem Gläubiger er sich aus Gründen seiner Kreditwürdigkeit auf diese Norm berufen möchte.30 Hat der Gläubiger vor Gericht einen Titel gegen den Minderjährigen erwirkt, kann der volljährig Gewordene nachträglich die Aufnahme eines Vorbehaltes nach § 780 ZPO erwirken. Aufgrund der Verweisung in § 786 ZPO kann der volljährig Gewordene die Haftungsbeschränkung jedoch auch ohne den Vorbehalt nach § 780 ZPO durch die Vollstreckungsabwehrklage nach §§ 786, 785, 767 ZPO geltend machen.31 Der Volljährige ist dabei nicht nach § 767 Abs. 2 ZPO präkludiert.32 Wird der volljährig Gewordene auf Zahlung verklagt, muss er bis zum Schluss der letzten Tatsachenverhandlung darauf hinwirken, dass im Urteil der Vorbehalt der beschränkten Haftung gemäß §§ 786, 780 ZPO aufgenommen wird.33 Die Klärung des Vermögensumfangs erfolgt dann im Vollstreckungsverfahren.34 Die Vollstreckung in das Neuvermögen muss mit der Vollstreckungsabwehrklage nach §§ 767, 780 Abs. 1, 785, 786 ZPO verhindert werden.35 Nicht verpflichtend, aber auch unter Berücksichtigung der Vermutung des § 1629a Abs. 4 S. 2 BGB empfehlenswert, ist die Er27

Staudinger/Coester, BGB, Neubearbeitung 2002, § 1629a Rn. 49. Bittner, FamRZ 2000, 325, 329; Habersack, FamRZ 1999, 1, 5; Petersen, JURA 2006, 280, 282; Staudinger/Coester (Fn. 27), § 1629a Rn. 49. 29 Bittner, FamRZ 2000, 325. 30 Schwartze, in: Festschrift für H. Pieper, 1998, S. 527, 544. 31 Habersack, FamRZ 1999, 1, 5; Konz, Die Möglichkeit der Haftungsbeschränkung volljährig Gewordener gem. § 1629a i. V. m. §§ 1990, 1991 BGB, 2006, S. 106; MünchKomm.BGB/Huber (Fn. 18), § 1629a Rn. 34; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066. 32 Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066. 33 BGHZ 122, 297, 305; Bittner, FamRZ 2000, 325, 327; Konz (Fn. 31), S. 104; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066; beim Einkommensteuerbescheid kann die Einrede erst im Zwangsvollstreckungsverfahren geltend gemacht werden, BFH DB 2003, 2528. 34 BGH NJW 1983, 2378, 2379; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066. 35 Behnke, NJW 1998, 3078, 3079; Bittner, FamRZ 2000, 325, 327; Petersen, JURA 2006, 280, 283; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066. 28

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stellung eines Vermögensverzeichnisses bei Vollendung der Volljährigkeit, um Streitigkeiten über den Umfang des haftenden Volljährigkeitsvermögens vorzubeugen.36

III. Insolvenzrechtlicher Schutz Die materiell-rechtliche Haftungslage hat insolvenzrechtliche Konsequenzen, denen die folgenden Überlegungen gewidmet sind. 1. Kein Minderjährigen-Insolvenzverfahren Wie sich aus der Rechtsfolgenverweisung37 in § 1629a Abs. 1 S. 2 BGB auf §§ 1990, 1991 BGB indirekt ergibt, hat der Gesetzgeber ein spezielles „Minderjährigen-Insolvenzverfahren“, vergleichbar etwa dem Nachlassinsolvenzverfahren, nicht vorgesehen. Daraus folgt zunächst, dass es für die Geltendmachung der Haftungsbeschränkung der Einleitung eines Insolvenzverfahrens gerade nicht bedarf.38 Während im Erbrecht die Einrede aus § 1990 BGB tatbestandlich nur eingreift, wenn der Nachlass so dürftig ist, dass es an einer die Kosten einer Nachlassverwaltung bzw. eines Nachlassinsolvenzverfahrens deckenden Masse fehlt,39 kommt es hier mit Erhebung der Einrede aus § 1629a BGB ganz unabhängig von der Kostendeckung zu einer Spaltung der Vermögensmassen des volljährig Gewordenen in das den Altgläubigern vorbehaltene Altvermögen und in das nach Vollendung der Volljährigkeit erworbene Neuvermögen.40 Daher verliert der Volljährige auch nicht die Verwaltungsbefugnis über das während der Minderjährigkeit erworbene Altvermögen.41 Dieses hat er vielmehr gleich einem Beauftragten – gleichsam „treuhänderisch“ für die Altgläubiger – gemäß §§ 1629a Abs. 1 S. 2, 1991, 1978 Abs. 1, 662 ff. BGB zu verwal36 Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066; kritisch Glöckner, FamRZ 2000, 1397, 1401. 37 Bittner, FamRZ 2000, 325, 327; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1065; ausführlich Konz (Fn. 31), S. 89 ff. 38 Behnke, NJW 1998, 3078, 3080; Bittner, FamRZ 2000, 325, 329; Konz (Fn. 31), S. 90, 140; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1065; für die Einführung eines „Volljährigkeitsinsolvenzverfahrens“ Laum/Dylla-Krebs, in: Festschrift für R. Vieregge, 1995, S. 513, 540; für ein „Minderjährigen-Insolvenzverfahren“ May, Minderjährigkeit und Haftung, Diss. Bonn 1991, S. 54 ff.; Müller-Feldhammer, FamRZ 2002, 13, 17; Schwartze (Fn. 30), S. 527, 547. 39 Konz (Fn. 31), S. 89. 40 Coester, JURA 2002, 88, 91; Petersen, JURA 2006, 280, 283. 41 Bittner, FamRZ 2000, 325, 329; Coester, JURA 2002, 88, 91; Konz (Fn. 31), S. 102.

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ten.42 Mangels eines besonderen „Minderjährigen-Insolvenzverfahrens“ ist auch eine gleichmäßige Gläubigerbefriedigung nicht vorgesehen, sondern der nun Volljährige befriedigt die Altgläubiger nach dem Prioritätsprinzip, bis das Altvermögen aufgebraucht ist.43 Der Minderjährige ist sogar nicht einmal zur gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung berechtigt.44 Erst nach Erschöpfung des Altvermögens bleibt ihm die Einrede aus § 1629a BGB und die nicht befriedigten Gläubiger fallen mit ihren Forderungen aus.45 Gemäß § 390 BGB kann eine Forderung, der die Einrede des § 1629a BGB entgegensteht, auch nicht aufgerechnet werden.46 Allerdings haftet der nun Volljährige seinen Altgläubigern auf Schadensersatz mit seinem Neuvermögen nach §§ 1629a Abs. 1 S. 2, 1991, 1978 Abs. 1 S. 1, 667, 280 BGB, wenn er das haftende Altvermögen unter Wert weggegeben hat.47 2. Verbraucherinsolvenzverfahren und Restschuldbefreiung Die vorstehenden Ergebnisse werfen die Frage nach der Notwendigkeit und Möglichkeit eines (Verbraucher-)Insolvenzverfahrens mit anschließender Restschuldbefreiung auf. a) De lege lata Nach geltendem Recht ist diese Frage zunächst eine rein insolvenzrechtliche. Denn nach dem bei Abschluss dieses Manuskripts geltenden Rechtszustand48 ist das Insolvenzverfahren Voraussetzung für eine Restschuldbefreiung (§§ 1 S. 2, 286 ff. InsO). Angesichts dessen sollen nach einem kurzen Überblick über das Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren die Besonderheiten der Minderjährigeninsolvenz beleuchtet werden. 42

Coester, JURA 2002, 88, 91; Petersen, JURA 2006, 280, 283. Bittner, FamRZ 2000, 325, 329; Habersack/Schneider, FamRZ 1997, 649, 654; Klüsener, Rpfleger 1999, 55, 58; Klumpp, ZEV 1998, 409, 414; Konz (Fn. 31), S. 91, 192; Staudinger/Coester (Fn. 27), § 1629a Rn. 60; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066; kritisch Glöckner, FamRZ 2000, 1397, 1401; auf die Erhöhung der Planungssicherheit bei gleichmäßiger Gläubigerbefriedigung macht Schwartze (Fn. 30), S. 527, 546 aufmerksam. 44 Klumpp, ZEV 1998, 409, 414; Staudinger/Coester (Fn. 27), § 1629a Rn. 60. 45 Bittner, FamRZ 2000, 325, 330; Staudinger/Coester (Fn. 27), § 1629a Rn. 60; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066. 46 Zur Aufrechnung gegen Forderungen des Volljährigkeitsvermögens und gegen Forderungen des Neuvermögens ausführlich Konz (Fn. 31), S. 206 ff.; Muscheler, WM 1998, 2271, 2287. 47 Bittner, FamRZ 2000, 325, 331; MünchKomm.BGB/Huber (Fn. 18), § 1629a Rn. 46; Steenbuck, FamRZ 2007, 1064, 1066. 48 Vgl. auch unten 2. 43

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aa) Überblick über den Verfahrensablauf Unter einem Verbraucherinsolvenzverfahren versteht man ein stark vereinfachtes Insolvenzverfahren. Zunächst wird gemäß § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO zwischen Schuldner und Gläubiger eine außergerichtliche Einigung über die Schuldenbereinigung angestrebt.49 Es wird den Gläubigern dabei – in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Restschuldbefreiungsvoraussetzungen – regelmäßig angeboten, dass sie sechs Jahre lang das pfändbare Einkommen und das derzeit vorhandene Vermögen des Schuldners bekommen. Allerdings lässt sich wegen der oft vorherrschenden Unpfändbarkeit, die dazu führt, dass der Schuldner einen vollständigen Schuldenerlass vorschlägt (sog. „Null-Plan“), kaum ein Gläubiger auf die außergerichtliche Regelung ein. Gelingt die außergerichtliche Einigung nicht, folgt in einem zweiten Schritt nach Stellung eines Insolvenzantrags die gerichtliche Vermittlung einer Schuldenbereinigung, bei welcher die Gläubiger gemäß § 307 InsO über die Annahme eines Schuldenbereinigungsplanes entscheiden müssen. Wird auch dieser nicht angenommen, kommt es zu einem stark vereinfachten Insolvenzverfahren. Es gibt vor allem keinen Insolvenzverwalter, sondern dessen Aufgaben werden gemäß § 313 Abs. 1 InsO in reduziertem Umfang von einem Treuhänder wahrgenommen. Gemäß § 1 S. 2 InsO besteht für den redlichen Schuldner die Möglichkeit einer Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff. InsO, die zwar die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens voraussetzt, aber keiner Zustimmung der Gläubiger bedarf.50 Seit der Einführung der Stundungsmöglichkeit nach §§ 4a–4d InsO im Jahre 2002 kann die Restschuldbefreiung auch nicht mehr daran scheitern, dass der Insolvenzantrag mangels Masse abgewiesen wird.51 Gemäß § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO muss sich der Schuldner um Arbeit bemühen und hat nach § 287 Abs. 2 InsO ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens während einer sechsjährigen Wohlverhaltensphase den pfändbaren Teil seines Arbeitseinkommens zur Befriedigung seiner Gläubiger zur Verfügung zu stellen. Ein gerichtlich bestimmter Treuhänder kontrolliert in dieser Zeit die Vermögensverhältnisse des Schuldners. Gemäß § 294 Abs. 1 InsO ist der Schuldner während der Wohlverhaltensperiode vor Zwangsvollstreckungsmaßnahmen seiner Gläubiger geschützt. Nach sechs Jahren kann der Schuldner somit schuldenfrei sein, unabhängig davon, ob er zwischenzeitlich etwas zurückzahlen konnte. Die Wirkung der Restschuldbefreiung besteht darin, dass die angemeldeten Forderungen der Insolvenzgläubiger zu unvollkommenen Ver49

Ausführlich dazu Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2005, Rn. 410 ff.; Hofmeister, ZVI 2003, 12 ff. 50 Ausführlich dazu Bork (Fn. 49), Rn. 386 ff. 51 Andres/Leithaus/Andres, InsO, 2006, § 286 Rn. 4.

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bindlichkeiten werden.52 Sie sind zwar noch erfüllbar, aber nicht mehr durchsetzbar. Nach § 301 Abs. 1 S. 2 InsO tritt diese Wirkung auch gegenüber den Gläubigern ein, die ihre Forderungen nicht zur Tabelle angemeldet haben. bb) Insolvenzverfahren gegen (vormals) Minderjährige Im vorliegenden Zusammenhang resultieren die Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus der Zeit seiner Minderjährigkeit. Das wirft verschiedene insolvenzrechtliche Fragen auf. (1) Der Minderjährige als Verfahrenssubjekt Das Insolvenzverfahren kann sowohl von einem Gläubiger als auch vom Schuldner beantragt werden (§ 13 Abs. 1 S. 2 InsO). Im Hinblick auf die Restschuldbefreiung wird der Antrag im Verbraucherinsolvenzverfahren regelmäßig vom Schuldner gestellt. Das ist völlig unproblematisch, wenn der Schuldner bei Antragstellung bereits volljährig ist. Aber auch geschäftsunfähige Kinder und beschränkt geschäftsfähige Jugendliche sind nach § 11 Abs. 1 S. 1 InsO insolvenzfähig,53 können also Schuldner in einem Insolvenzverfahren sein. Sie müssen freilich mangels Prozessfähigkeit gemäß §§ 4 InsO, 51 ZPO im Verfahren durch ihren gesetzlichen Vertreter vertreten werden. (2) Eröffnungsvoraussetzungen Wegen § 1629a BGB ist allerdings fraglich, wie es mit den gesetzlichen Voraussetzungen für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens aussieht. (a) Antragsbefugnis eines Gläubigers Ein Gläubiger ist nur antragsbefugt, wenn er eine Forderung glaubhaft machen kann (§ 14 Abs. 1 InsO). Das ist solange kein Problem, wie der Schuldner noch minderjährig ist, denn dann steht diesem die Einrede aus § 1629a BGB nicht zur Verfügung. Ist der Schuldner hingegen mittlerweile volljährig geworden, so kann er sich mit § 1629a BGB wehren, wenn die Gläubigerforderung von dieser Norm erfasst wird. Nach heute herrschender Meinung54 52

Andres/Leithaus/Andres (Fn. 51) § 302 Rn. 10; Bork (Fn. 49), Rn. 398. FK.InsO/Ahrens (Fn. 23), § 286 Rn. 31. 54 Vgl. nur Jaeger/Gerhardt, InsO, Band 1, 2004, § 14 Rn. 12; Roth, Die Einrede des Bürgerlichen Rechts, 1988, S. 287 ff.; je m. w. N. 53

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nimmt die bloße Einredemöglichkeit einem Gläubiger aber nicht den insolvenzrechtlichen Rechtsschutz. Erst wenn der Schuldner sich auf die Einrede berufen hat, kann der Gläubigeranspruch nicht mehr als Insolvenzforderung berücksichtigt werden. (b) Zahlungsunfähigkeit Entsprechend wird man für den Eröffnungsgrund entscheiden müssen. Bei natürlichen Personen kommt als Eröffnungsgrund nur die Zahlungsunfähigkeit in Betracht (§ 17 Abs. 1 InsO), die vorliegt, wenn die fälligen und ernsthaft eingeforderten Verbindlichkeiten die liquiden Mittel dauerhaft um mindestens 10% übersteigen.55 Dabei sind auch einredebehaftete Forderungen zu berücksichtigen, solange der Schuldner die Einrede nicht geltend gemacht hat.56 Hat sich also der volljährig Gewordene (noch) nicht auf § 1629a BGB berufen, ist eine von dieser Norm erfasste Forderung in die Liquiditätsbilanz einzustellen.57 Ist die Einrede hingegen erhoben, so fehlt es an der Zahlungsunfähigkeit und das Insolvenzverfahren erübrigt sich, sofern alle Verbindlichkeiten von § 1629a BGB erfasst werden.58 (c) Rechtsschutzbedürfnis des Schuldners Fraglich kann auch das Rechtsschutzbedürfnis des Schuldners sein, wenn und soweit sich dieser mit § 1629a BGB wehren kann.59 Der von dieser Norm vorgezeichnete Weg ist erheblich einfacher und billiger, als ein (Verbraucher-)Insolvenzverfahren. Daher wird man einem volljährig Gewordenen das Rechtsschutzbedürfnis absprechen müssen, wenn er nur Verpflichtungen hat, die von § 1629a BGB erfasst werden. Ist der antragstellende Schuldner hingegen noch minderjährig, so steht ihm die Einrede aus dieser Norm nicht zur Verfügung. Er hat daher das notwendige Rechtsschutzbedürfnis für ein Insolvenzverfahren. Dasselbe gilt für den mittlerweile Volljährigen, wenn er (auch) Verbindlichkeiten hat, die von dieser Norm nicht erfasst werden, insbesondere solche aus Delikt. 55

Grundlegend BGHZ 163, 134, 139 ff. Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl. 2003, § 17 Rn. 8; tendenziell anders freilich BGHZ 173, 286 Rn. 17 für nur auf Einrede zu beachtende Nachrangvereinbarungen. 57 Eine besondere Konstellation liegt vor, wenn zunächst ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Minderjährigen eröffnet worden ist und dieser dann volljährig wird. Näher dazu unten unter (3). 58 Konz (Fn. 31), S. 90. 59 Vgl. dazu FK.InsO/Ahrens (Fn. 23), § 286 Rn. 31. 56

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(3) Insolvenzmasse Wird über das Vermögen des Minderjährigen ein Insolvenzverfahren eröffnet und wird dieser während des Verfahrens volljährig oder wird erst über das Vermögen eines schon Volljährigen ein Insolvenzverfahren eröffnet, so fällt nach § 35 InsO mangels besonderer Regelungen wie solcher über das Nachlassinsolvenzverfahren das gesamte Vermögen des Schuldners, welches ihm zur Zeit der Verfahrenseröffnung gehört und das er während des Verfahrens erlangt, in die Insolvenzmasse. Der Insolvenzverwalter kann bei Volljährigkeit des Schuldners die Einrede des § 1629a BGB erheben, hat dabei jedoch die Interessen der Alt- und Neugläubiger zu beachten.60 Erst mit Berufung auf § 1629a BGB wird die gesamte Insolvenzmasse in Alt- und Neuvermögen geteilt und die Altgläubiger, deren Ansprüche aus der Zeit der Minderjährigkeit herrühren und von § 1629a BGB erfasst werden, können nur noch auf das zum Zeitpunkt der Erreichung der Volljährigkeit vorhandene Vermögen zugreifen. Der Insolvenzverwalter muss daraufhin die Gegenstände des Altvermögens als Sondermasse von der übrigen Insolvenzmasse separieren. Aus der Wertung des über § 1629a Abs. 1 S. 2 BGB anwendbaren § 1990 Abs. 1 S. 2 BGB ergibt sich, dass das Altvermögen so zu behandeln ist, als hätten die Altgläubiger daran ein Absonderungsrecht. Für dieses gelten aber nicht die allgemeinen Regeln der §§ 165 ff. InsO, sondern auch für die Rechtsfolge setzt sich § 1990 Abs. 1 S. 2 BGB durch. Das bedeutet, dass der Insolvenzverwalter den Altgläubigern trotz § 89 InsO den Zugriff nach dem Prioritätsprinzip zu ermöglichen hat.61 Als Konsequenz wird es zu einem Wettlauf der Altgläubiger auf das abgesonderte Altvermögen kommen.62 Aber das liegt in der Konsequenz der gesetzlichen Regelungen. Das Neuvermögen wird dagegen unter den zugriffsberechtigten Gläubigern nach den allgemeinen Regeln des Insolvenzverfahrens, insbesondere nach dem Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung, aufgeteilt. Daraus folgt zugleich, dass das Insolvenzverfahren gemäß § 212 InsO nach Erhebung der Einrede aus § 1629a BGB wegen Wegfalls des Eröffnungsgrundes einzustellen sein kann. Die Voraussetzungen dieser Norm liegen vor, wenn der volljährig Gewordene nur von § 1629a BGB erfasste Verbindlichkeiten hat oder seine Liquidität im Übrigen ausreicht, um seine Neugläubiger zu befriedigen.

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Bittner, FamRZ 2000, 325, 333; Staudinger/Coester (Fn. 27), § 1629a Rn. 50,

73. 61 62

Bittner, FamRZ 2000, 325, 333; Konz (Fn. 31), S. 101. So auch Bittner, FamRZ 2000, 325, 334.

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(4) Besonderheiten im Restschuldbefreiungsverfahren Da die Reichweite des § 1629a BGB beschränkt ist, hat auch der volljährig gewordene Schuldner unter Umständen ein Interesse an einer Restschuldbefreiung. (a) Erwerbsobliegenheit Hier stellt sich zunächst die Frage, ob von einem jungen Erwachsenen gemäß § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO verlangt werden kann, dass er vorrangig während der sechsjährigen Wohlverhaltensperiode eine angemessene Erwerbstätigkeit ausübt, statt eine auf seinem Schulabschluss aufbauende Ausbildung, etwa ein Studium, zu beginnen oder fortzusetzen. Die herrschende Meinung ist hier streng und fordert, dass das Studium zunächst im Interesse der Gläubigerbefriedigung zurückgestellt wird.63 Dem ist zu widersprechen. Wenn sogar die Unterhaltspflichten gegenüber dem Ehegatten und den Kindern während der Ausbildung eingeschränkt sind,64 dann muss das erst recht für die Gläubigerbefriedigung gelten. Mehr, als dass die Ausbildung in der Regel(studien)zeit abgeschlossen wird, kann man daher auch während der Wohlverhaltensperiode nicht erwarten.65 (b) Von der Restschuldbefreiung ausgenommene Forderungen Ausgenommen von der Restschuldbefreiung sind gemäß § 302 InsO angemeldete Forderungen aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung des Schuldners66 und Geldstrafen. Dabei ist zu beachten, dass eine Schadensersatzverbindlichkeit wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315c Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 StGB keine Forderung aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung i. S. v. § 302 Nr. 1 InsO darstellt67, da die Schadensfolge bei Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen nicht vom Vorsatz umfasst ist.68 Ansprüche aus fahrlässig begangenen unerlaubten Handlun63 Stellvertretend Graf-Schlicker/Kexel, InsO, 2007, § 295 Rn. 5; Uhlenbruck/ Vallender (Fn. 56), § 295 Rn. 15. 64 Vgl. dazu BGH NJW 1994, 1002, 1004; NJW-RR 1987, 706, 708; Palandt/ Diederichsen (Fn. 18), § 1603 Rn. 50 m. w. N. 65 Ebenso AG Göttingen ZVI 2002, 81, 82. 66 Ausführlich dazu Brückl, ZInsO 2005, 16 ff. 67 BGH NZI 2007, 532; dagegen für Privilegierung von Ansprüchen aus einer vorsätzlichen Verletzung eines Schutzgesetzes i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB FK.InsO/ Ahrens (Fn. 23), § 302 Rn. 5; Kübler/Prütting/Wenzel, InsO, Stand Oktober 2007, § 302 Rn. 2. 68 BGH NZI 2007, 532, 533.

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gen und aus Gefährdungshaftung werden anders als bei § 1629a BGB nicht von § 302 Nr. 1 InsO erfasst,69 so dass der Minderjährige wegen solcher Forderungen eine Restschuldbefreiung erreichen kann.70 Schadensersatzforderungen wegen einer vom Minderjährigen vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung fallen dagegen weder unter § 1629a BGB noch unter die Restschuldbefreiung und können weiter von den Gläubigern durchgesetzt werden.71 Wegen der Vernichtung der künftigen Lebensperspektive wird darüber nachgedacht, ob der Vorbehalt des § 302 Nr. 1 InsO bei Minderjährigen gerechtfertigt ist.72 Dem LG Köln zufolge bedarf es bei Schadensersatzansprüchen aus vorsätzlich unerlaubter Handlung auch für den Fall der Minderjährigenhaftung keiner Korrektur des § 302 Nr. 1 InsO durch eine verfassungskonforme Auslegung.73 Dem ist zuzustimmen. Der Schutz Minderjähriger ist nicht unvollständig.74 Er wird allerdings nicht über § 302 InsO, sondern über § 828 BGB erreicht. Auch das Bundesverfassungsgericht hat lediglich gefordert, dass ein Volljähriger sein weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare Belastungen, die er nicht selbst zu verantworten hat,75 gestalten kann. Denn nur insoweit wird das Persönlichkeitsrecht des Minderjährigen berührt.76 Für vorsätzlich begangene unerlaubte Handlungen ist der minderjährige Täter unter den Bedingungen der §§ 828 ff. BGB jedoch selbst verantwortlich und hat daher auch nach Erreichen der Volljährigkeit dafür einzustehen. Die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Einschränkung der Minderjährigenhaftung betreffen somit gerade nicht die Folgen vorsätzlicher Rechtsverletzungen.77 Die Nachhaftung aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen ist daher wegen ihres besonderen Unrechtsgehalts auch bei Minderjährigen gerechtfertigt.78

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BGH NZI 2007, 532, 533; MünchKomm.InsO/Stephan, Band 3, 2003, § 302 Rn. 7. 70 BVerfG NJW 1998, 3357, 3558; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der vollen deliktischen Haftung Jugendlicher Rolfs, JZ 1999, 233, 236; Schwartze (Fn. 30), S. 527, 546. 71 Kritisch dazu Goecke, NJW 1999, 2305, 2308. 72 FK.InsO/Ahrens (Fn. 23), § 302 Rn. 6. 73 LG Köln NZI 2005, 406, 407: Minderjähriger begeht Raub gegenüber einer 89-Jährigen. 74 So aber Goecke, NJW 1999, 2305, 2306 ff.; Ludyga, FPR 2006, 460, 461. 75 Hervorhebung von mir; R.B. 76 Ebenso Schwartze (Fn. 30), S. 527, 532. 77 LG Köln NZI 2005, 406, 407. 78 FK.InsO/Ahrens (Fn. 23), § 302 Rn. 1.

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cc) Notwendigkeit des § 1629a BGB trotz Restschuldbefreiungsverfahrens Schließlich ist zu überlegen, ob es der Norm des § 1629a BGB angesichts der Möglichkeit zur Restschuldbefreiung überhaupt bedarf. Das wird teilweise bezweifelt.79 Bei der Haftungsbeschränkung des § 1629a BGB ist jedoch zunächst zu beachten, dass sie den Vorteil hat, dass bei Erhebung der Einrede die Schulden des volljährig Gewordenen sofort auf das zur Zeit der Erreichung der Volljährigkeit vorhandene Vermögen beschränkt werden, wodurch sich unter Umständen ein Insolvenzverfahren mit der beschwerlichen sechsjährigen Wohlverhaltensperiode vollständig erübrigt, sofern nämlich allen bei Volljährigkeit vorhandenen Gläubigern die Einrede aus § 1629a BGB entgegen gehalten werden kann. Nach der Forderung des Bundesverfassungsgerichts sollte der Gesetzgeber dafür Sorge tragen, dass dem volljährig Gewordenen Raum bleibt, sein weiteres Leben selbst und ohne fremdverschuldete finanzielle Belastungen zu gestalten.80 Daher ist § 1629a BGB trotz der Möglichkeit eines Verbraucherinsolvenzverfahrens mit anschließender Restschuldbefreiung notwendig,81 um dem Minderjährigen mit Vollendung des 18. Lebensjahres einen finanziellen Neuanfang zu ermöglichen. b) De lege ferenda Am Ende der insolvenzrechtlichen Betrachtungen soll ein kurzer Blick auf das künftige Entschuldungsverfahren stehen. Das Bundeskabinett hat am 22. August 2007 den Entwurf für ein Gesetz zur Entschuldung mittelloser Personen beschlossen,82 dem zufolge das Restschuldbefreiungsverfahren durch Schaffung eines sog. Entschuldungsverfahrens vereinfacht werden soll. Anlass war die Erkenntnis, dass ungefähr 80% der Schuldner über keinerlei Vermögen verfügen, so dass die Vorschaltung eines letztlich für den Staat teuren Insolvenzverfahrens mangels zu erwartender Gläubigerbefriedigung in diesen Fällen sinnlos ist. Sind daher die Kosten eines Insolvenzverfahrens aus dem Schuldnervermögen nicht gedeckt, so erfolgt nach dem Gesetzesentwurf die Restschuldbefreiung in einem vereinfachten Entschuldungsverfahren. Auf die Darstellung von Einzelheiten kann hier verzichtet werden, zumal über die richtige Lösung weiterhin gestritten wird, so dass 79

So Bittner, FamRZ 2000, 325, 326. BVerfGE 72, 155, 173. 81 Müller-Feldhammer, FamRZ 2002, 13, 17: Restschuldbefreiung nach §§ 286 ff. InsO entspricht den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht. 82 Im Internet abrufbar unter www.bmj.bund.de/files/-/2368/RegE%20Entschul dung%20mittelloser%20Personen.pdf. 80

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die endgültige Gesetzesfassung noch nicht abzusehen ist. Es mag der Hinweis genügen, dass es künftig auch ohne Insolvenzverfahren eine – im Detail modifizierte – Wohlverhaltensperiode als Restschuldbefreiungsvoraussetzung geben wird, so dass die vorstehenden Überlegungen, soweit sie nicht das eigentliche Insolvenzverfahren betreffen, ihre Gültigkeit behalten.

IV. Fazit Damit lassen sich die Ergebnisse dieses Beitrages wie folgt zusammenfassen: Das Zivilrecht will über verschiedene Normen den Minderjährigen vor nachteiligen Verpflichtungen schützen und vertraut dazu in § 1629 Abs. 1 S. 1 BGB grundsätzlich den Eltern das Vertretungsrecht für ihre Kinder an. Auch nach Einführung des § 1629a BGB ist es den Eltern daher immer noch möglich, die Kinder unbegrenzt zu verpflichten. Allerdings kann der volljährig Gewordene seine während der Minderjährigkeit erworbenen Schulden gemäß § 1629a Abs. 1 BGB auf das zum Zeitpunkt des Erreichens der Volljährigkeit vorhandene Vermögen beschränken. Gleichwohl kann § 1629a BGB die Gefahr übermäßiger Schulden volljährig Gewordener nicht völlig verhindern, weil insbesondere deliktische Schadensersatzforderungen nicht erfasst werden. Der Minderjährige bzw. später der volljährig Gewordene muss vielmehr ein Restschuldbefreiungsverfahren mit sechsjähriger Wohlverhaltensphase durchlaufen, um von Ansprüchen aus § 112 BGB, von Ansprüchen aus Gefährdungshaftung und von Schadensersatzansprüchen aus einer fahrlässig begangenen unerlaubten Handlung befreit zu werden. Schadensersatzforderungen wegen einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung werden weder von § 1629a BGB noch von der Restschuldbefreiung erfasst. Eine Korrektur des hier einschlägigen § 302 Nr. 1 InsO ist abzulehnen. Dass es zu § 1629a BGB nur wenige Gerichtsentscheidungen gibt, zeigt, dass von dieser Haftungsbeschränkung kaum Gebrauch gemacht wird. Verbreiteter ist bei jungen Erwachsenen die Einleitung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens mit anschließender Restschuldbefreiung. Gegenüber dem geltenden Recht sieht der Gesetzentwurf zur Entschuldung völlig mittelloser Personen vor, dass der Schuldner ohne ein Insolvenzverfahren Restschuldbefreiung beantragen kann. Gleichwohl: Trotz der geschaffenen rechtlichen Grundlagen werden die Lage am Arbeitsmarkt, die oft unzureichend ausgebildete Fähigkeit der Jugendlichen, vernünftig zu wirtschaften, sowie der strenge Standard im Deliktsrecht stets die Chance auf ein schuldenfreies Leben beeinflussen. Es gilt daher auch hier: Vor der Restschuldbefreiung kommt die Erziehung.

Das Kind im Sozialrecht Objekt staatlicher Förderung mit Blick auf Nachwuchssicherung oder Subjekt mit eigenen Rechten? Von Dagmar Felix

I. Einführung Kaum ein Rechtsgebiet ist so häufigen und mitunter weitreichenden Änderungen unterworfen wie das Sozialrecht. Die Medienberichterstattung der letzten Jahre und Jahrzehnte wird beherrscht von immer neuen sozialrechtlichen Reformen,1 die letztlich alle Bereiche des Sozialrechts erfassen und deren Auswirkungen gerade in jüngerer Zeit weit vor Inkrafttreten der maßgeblichen Änderungsgesetze ausführlich öffentlich erörtert werden. Jeder interessierte Bürger hat deshalb geradezu zwangsläufig von der „RiesterRente“2, der „Hartz-IV-Reform“3 oder etwa dem geplanten „Gesundheitsfonds“4 gehört. Bei all diesen Reformvorhaben war das Thema „Kind im Sozialrecht“ ohne Bedeutung. Anders als beispielsweise bei der aktuellen Debatte über den Umgang mit Jugendkriminalität5 geht es im Sozialrecht eher selten um die spezifische Rechtsstellung junger Menschen,6 sondern primär um 1 Gerade hier dürfte der Vorwurf einer „inflationären Gesetzesproduktion“, die auf die laufenden, in ihrem Auftreten sich an keinerlei Systematik haltenden rechtspolitischen Probleme reagiert (hierzu in anderem Kontext Battis, Ulrich, in: Hamburg Deutschland Europa, Tübingen 1977, S. 11, 30) berechtigt sein. Vgl. auch Wendt, Rudolf, zur „mangelnden Kohärenz der Rechtsordnung“ in der „Hektik und fehlenden Koordination“ des Gesetzgebers (Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, 778 ff.). 2 Mit dieser Form staatlich geförderter privater Vorsorge soll die Kürzung der gesetzlichen Rente aufgefangen werden (hierzu Myßen, Michael, Private Altersvorsorge – soziale Vorsorge, Absicherung contra Selbstverantwortung, in: Steuern im Sozialstaat, Köln 2006, S. 249 ff.). 3 Hierzu Münder, Johannes, SGB II, 2. Aufl. Baden-Baden 2007, Einl. Rn. 5 ff. 4 Vgl. etwa Schmidt, Tillmann, GKV-WSG – Die Relativierung klassischer Sozialversicherungsmerkmale in der GKV durch veränderte Beitragsbemessung und Wahltarife, GesR 2007, 295 ff. 5 Hierzu www.suedeutsche.de/deutschland/artikel/291/150916. 6 Das Sozialrecht definiert den Begriff des Kindes in verschiedenen Teilen des SGB; den Kindbegriff gibt es jedoch nicht. In der vorliegenden Abhandlung geht es vor allem, aber nicht nur, um minderjährige Personen.

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grundlegende Strukturreformen und vor allem um als dringend notwendig erachtete Leistungskürzungen. In einer Zeit, in der das moderne System des Sozialrechts an seine finanziellen Grenzen stößt und die Zurückdrängung des Sozialstaats die Diskussion beherrscht, steht die Finanzierbarkeit von Sozialleistungen7 im Vordergrund. Insoweit mag die Einbeziehung des Sozialrechts in die Reihe „Das Kind im Recht“ auf den ersten Blick überraschen. Diese Betrachtung greift jedoch zu kurz: Es darf nicht verkannt werden, dass gerade die Finanzierbarkeit des allumfassenden Sozialstaats untrennbar mit dem Thema „Kind“ verbunden ist – genauer: mit dem Fehlen von Kindern. Die demografische Entwicklung der letzten Jahrzehnte8 beschwört in der Medienberichterstattung geradezu düstere Visionen von einem „Land ohne Kinder“9 herauf: Ein „Land der leeren Häuser, bewohnt von Greisen ohne Enkel, mit verlassenen Dörfern, verödeten Vierteln, vereinsamten Spielplätzen, verfallenen Schwimmbädern und stillgelegten Bahngleisen. Wo einst Läden und Restaurants standen, werden Geld- und Zigarettenautomaten übrig bleiben, wo früher Kinder tobten, werden Alzheimer-Patienten sitzen. Schieben wird sie keiner mehr: Wo heute die Kinder ausbleiben, fehlen morgen die Eltern“.10 Angesichts solcher Zukunftsvisionen verengt sich vor dem Hintergrund der erforderlichen Nachwuchssicherung gerade im Sozialrecht der Blick zunehmend auf das Kind als Objekt staatlicher Förderung: Wer als Eltern ein Kind betreut und erzieht, erbringt einen gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der weitgehend umlagefinanzierten Sozialsysteme11 – und verdient nach Einschätzung der Gerichte und des Gesetzgebers uneingeschränkte staatliche Anerkennung durch Gewährung von Geldleistungen oder anderen sozialrechtlichen Vorteilen.12 Diese immer stärker werdende Tendenz im Sozialrecht, die mit dem zum 01.01.2007 eingeführten Elterngeld13 einen neuen Höhepunkt erreicht hat, 7 Hierzu jüngst Felix, Dagmar (Hrsg.), Die Finanzierung der Sozialversicherung, Münster 2007. 8 Das zugrunde liegende Problem ist seit langem bekannt: In allen Ländern Westeuropas liegen die Geburtenziffern unter 2,1 Kindern je Frau – dem Wert, der nötig wäre, um eine stabile Bevölkerungsentwicklung zu garantieren. Deutschland belegt mit einer Kinderzahl von 1,31 Kindern je Frau einen der schlechtesten Plätze innerhalb der Europäischen Union (zu demografischen Entwicklungstendenzen vgl. auch den Bericht der Hochrangigen Gruppe über die Zukunft der Sozialpolitik in der erweiterten europäischen Union, Europäische Kommission 2004, S. 18). Vgl. auch Hartwig, Jürgen, Demografischer Wandel, NDV 2008, 74 ff. 9 So etwa der Stern, Heft Nr. 27 vom 30.06.2005. 10 Stern, Heft Nr. 27 vom 30.06.2005, S. 28. 11 So ausdrücklich BVerfGE 103, 242, 264. 12 Einzig nicht in das Bild passt die Einschränkung der Leistungsverpflichtung der GKV für künstliche Befruchtungen (hierzu § 27a SGB V sowie BVerfGE 117, 316); hier dürfte eine Kosten-/Nutzenanalyse aber auch zu eindeutigen Ergebnissen kommen.

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soll im Folgenden zunächst nachgezeichnet werden. Es geht allerdings nicht allein darum, den zahllosen Beiträgen zum Thema „Familienlastenausgleich“ einen weiteren – wenn auch kritischen – hinzuzufügen; vielmehr soll auch die subjektive Rechtsstellung des Kindes selbst in den Blick genommen werden, die bislang – soweit ersichtlich – nicht gezielt untersucht wurde. Dabei beschränkt sich die Untersuchung auf das Sozialrecht im pragmatischen Sinne, d.h. auf diejenigen Normenkomplexe, die im Sozialgesetzbuch geregelt sind oder aufgrund der gesetzlichen Fiktion des § 68 SGB I als Teil des Sozialgesetzbuchs gelten.14

II. Das Kind als Objekt staatlicher Förderung im Sozialrecht 1. Allgemeines Dass der Staat Familien unterstützt, ist nicht neu. Allein das staatliche Kindergeld kann auf eine über 50-jährige Tradition zurückblicken;15 die Anfänge der beitragsfreien Familienversicherung in der Krankenversicherung reichen gar bis in das vorletzte Jahrhundert zurück.16 Der nach wie vor gültige Begriff des Familienlastenausgleichs17 beschreibt staatliche Transferleistungen, die an das Vorhandensein einer Familie anknüpfen und insbesondere einen Ausgleich für die kindbezogenen Aufwendungen darstellen. Das Sozialrecht, dessen Aufgabe seit jeher auch die Unterstützung der Familie ist, spricht in seinem Allgemeinen Teil von „Minderung des Familienaufwands“ (§ 6 Abs. 1 SGB I); für das Steuerrecht hat der Gesetzgeber mit dem Jahressteuergesetz 1996 den Begriff des „Familienleistungsausgleichs“ geschaffen – damit werden die praktisch bedeutsamen Aspekte der Kindergeldgewährung und des Freibetragsrechts umschrieben. Betrachtet man den vielfältigen Familienlastenausgleich innerhalb des Sozialrechts, fällt zunächst auf, dass das Recht häufig den Eltern – mit Blick auf das Vorhandensein von Kindern – eine sozialrechtliche Vergünstigung einräumt. Das Kind erweist sich in diesen Konstellationen als Objekt staatlicher Förderung. Sehr deutlich ist dies im Bereich des Kindergeld13

Hierzu unter II.2.b). Zur langjährigen Diskussion über den Sozialrechtsbegriff vgl. nur Muckel, Stefan, Sozialrecht, 2. Aufl. München 2007, § 3. 15 Ausführlich hierzu Seewald, Otfried/Felix, Dagmar in: Wickenhagen/Krebs, BKGG, Einführung Rn. 44 ff. 16 Kruse, Udo/Kruse, Silke, GKV – Die Familienversicherung im Grenzbereich des Solidarprinzips, Sozialer Fortschritt 2000, S. 192. 17 Hierzu Felix, Dagmar in: Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl. Baden-Baden 2008, S. 1262 ff. 14

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rechts; hier haben die Eltern den materiell-rechtlichen Anspruch und erhalten feste Beträge „für ein Kind“.18 Entsprechendes gilt für das Sozialversicherungsrecht,19 wo etwa eine für die Eltern als Versicherte beitragslose Mitversicherung der Kinder gewährt wird oder Zeiten der Kindererziehung positive Konsequenzen für den Rentenanspruch der Eltern haben.20 Ein ähnliches Modell findet sich auch in anderen Rechtsgebieten, die einen Familienlastenausgleich praktizieren – genannt sei hier nur das Besoldungsrecht, das für Beamte mit Familie besondere Zuschläge vorsieht.21 Den verfassungsrechtlichen Hintergrund des Familienleistungsausgleichs bildet Art. 6 Abs. 1 GG, der den Staat zu besonderem Schutz von Ehe und Familie verpflichtet. Aus der darin enthaltenen Wertentscheidung lässt sich i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip „. . . die allgemeine Pflicht zu einem Familienlastenausgleich entnehmen“,22 wobei lange Zeit insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers angenommen wurde.23 2. Die Wandlung des Familienlastenausgleichs: Von allgemeiner Familienförderung hin zu gezielter Familienpolitik Auch wenn der Familienlastenausgleich auf eine lange Tradition zurückblicken kann, haben sich seine Ausgestaltung und Zielrichtung gerade in den letzten Jahren drastisch verändert, wobei der Trend hin zu einer gezielten Familienpolitik geht. Erheblichen Einfluss auf diese Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), die allerdings nicht nur auf Zustimmung24 gestoßen ist25 und vom Gesetz18

Vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 BKGG. Ausführlich zum Familienlastenausgleich in der Sozialversicherung vgl. Rust, Ursula, Familienlastenausgleich in der gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung, Berlin 1990. 20 Zu den Kindererziehungszeiten und ihren Auswirkungen vgl. Niesel, Klaus in: Kasseler Kommentar, § 56 Rn. 2. 21 §§ 39 ff. BBesG. 22 BVerfGE 103, 242, 259. 23 BVerfGE 87, 1, 35 f. m. w. N. 24 Papier, Hans-Jürgen, Ehe und Familie in der neuen Rechtsprechung des BVerfG, FF 2003, S. 4: „Die Lage der Familie in Deutschland ist schlecht. . . . Die Situation wäre noch deprimierender, hätte das Bundesverfassungsgericht nicht immer wieder korrigierend eingegriffen und die grundgesetzlichen Wertentscheidungen zur Geltung gebracht“. 25 Mitunter ist gar die Rede von „verfassungsgerichtlicher Familienpolitik“ (Ebsen, Ingwer, Familienlastenausgleich und die Finanzierung der Sozialversicherung aus verfassungs- und sozialrechtlicher Sicht, VSSR 2004, 3, 5). Diese Kritik ist berechtigt vor allem bezüglich der Entscheidungen zum Familienleistungsausgleich, die nach der – dogmatisch nicht gelungenen – Umsetzung des Kindergeldbeschlusses durch Schaffung der §§ 31 und 32 EStG getroffen wurden (vgl. BVerfGE 99, 19

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geber zum Teil auf wenig überzeugende, wenn nicht gar ihrerseits verfassungswidrige Weise umgesetzt wurde. Einen ersten Paukenschlag im Reigen der maßgeblichen Entscheidungen zum Familienlastenausgleich bildet der bekannte Kindergeldbeschluss aus dem Jahre 1990,26 mit dem das Gericht eine an Art. 6 i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG orientierte Besteuerung der Familie einforderte, die auch das Existenzminimum der Kinder in den Blick nimmt. In Konsequenz dieser und weiterer steuerrechtlicher Grundsatzentscheidungen27 kam es zu einer dogmatisch schlicht abwegigen28 Verlagerung der gesamten Materie vom Sozialin das Steuerrecht.29 Die aktuelle Konzeption des so genannten Familienleistungsausgleichs lässt – dies mag beabsichtigt sein – für den Bürger nicht mehr erkennen, inwieweit es sich beim Kindergeld im Einzelfall um eine echte staatliche Familienförderung oder aber um die bloße Erstattung zuviel gezahlter Steuern handelt. Auch wenn der Kindergeldbeschluss zu einer maßgeblichen Umgestaltung des Familienlastenausgleichs geführt hat, kam dem Thema „Nachwuchssicherung“ in dieser Entscheidung noch keine Bedeutung zu. Dies änderte sich mit dem Urteil des BVerfG zum Beitragsrecht in der gesetzlichen Pflegeversicherung, dessen Inhalt und Konsequenzen im Folgenden erläutert werden sollen. a) Das Beitragsrecht in der gesetzlichen Pflegeversicherung Seit dem 01.01.2005 haben kinderlose Versicherte der sozialen Pflegeversicherung gemäß § 55 Abs. 3 SGB XI einen Beitragszuschlag in Höhe von 0,25% zu entrichten.30 Sie zahlen nunmehr einen Beitragssatz von 1,95% 216, 244, BVerfGE 99, 246 und BVerfGE 99, 273; zu den Konsequenzen dieser Rechtsprechung Felix, Dagmar, Das Zweite Gesetz zur Familienförderung NJW 2001, 3073). 26 BVerfGE 82, 60 ff. 27 BVerfGE 99, 246. 28 Felix, Dagmar, Familienleistungsausgleich – eine Aufgabe des Steuerrechts?, in: Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung, Berlin 2004, S. 621. 29 Vgl. §§ 31, 32 und 62–78 EStG. Das BKGG besteht nach wie vor, ist aber nur für wenige Eltern relevant (hierzu Felix, Dagmar, Kindergeldrecht, München 2005, § 1 BKGG Rn. 1). 30 Vgl. § 55 Abs. 3 in der Fassung des Kinder-Berücksichtigungsgesetzes (KiBG vom 15.12.2004, BGBl. I, S. 3448). Hierzu Bauer, Kea/Krämer, Ottmar, Das Gesetz zur Berücksichtigung der Kindererziehung im Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung, NJW 2005, 180. Der Zusatzbeitrag ist von den Versicherten allein zu entrichten; die sonst in der Sozialversicherung übliche paritätische Mitfinanzierung durch den Arbeitgeber entfällt. Zu ungewollt kinderlosen Paaren BSG v. 27.02.2008 – B 12 KR 38/06 R.

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ihres beitragspflichtigen Bruttolohns, während für Eltern weiterhin der Beitragssatz von 1,7% gilt. Hintergrund dieser Neuregelung war eine Entscheidung des BVerfG, das auf die Verfassungsbeschwerde eines Vaters von zehn Kindern festgestellt hatte, dass eine gleich hohe Belastung mit Beiträgen zur Pflegeversicherung von Versicherten mit Kindern und Versicherten ohne Kinder mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei.31 Der Gesetzgeber wurde verpflichtet, bis zum 31.12.2004 Versicherte mit Kindern bei den Beiträgen zu entlasten, da versicherte Eltern neben dem „echten“ Beitrag in Form des Geldbetrags einen „generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der im Umlageverfahren finanzierten sozialen Pflegeversicherung“ leisten.32 Während das Gericht noch in der so genannten „Trümmerfrauenentscheidung“ aus dem Jahr 2002 zum Ergebnis kam, dass Kindererziehung und Beitragszahlung nicht gleichartig seien,33 lesen sich die entscheidenden Passagen nunmehr anders: „Wenn aber ein soziales Leistungssystem ein Risiko abdecken soll, das vor allem die Altengeneration trifft, und seine Finanzierung so gestaltet ist, dass sie im Wesentlichen nur durch das Vorhandensein nachwachsender Generationen funktioniert, die jeweils im erwerbsfähigen Alter als Beitragszahler die mit den Versicherungsfällen der vorangegangenen Generationen entstehenden Kosten mittragen, dann ist für ein solches System nicht nur der Versicherungsbeitrag, sondern auch die Kindererziehungsleistung konstitutiv.“34 Ohne dass das Thema „Steigerung der Geburtenrate“ explizit angesprochen worden wäre, liegt trotz der primär gleichheitsrechtlich orientierten Begründung35 der unmittelbare Bezug zum Thema „Nachwuchssicherung“ auf der Hand. Der Gesetzgeber hat sich infolge dieser Entscheidung für eine relative Entlastung von Versicherten mit Kindern entschieden, indem er durch den Zuschlag einen Beitragsabstand zu den Versicherten ohne Kinder schafft. Die Änderung des § 55 SGB X dürfte allerdings wahrlich keine ausreichenden finanziellen Anreize für die Schaffung nachwachsender Generationen bieten. Unabhängig von aller berechtigten Kritik an der Entscheidung selbst,36 die den gesamten Charakter der Sozialversicherung verändert37 und deren 31

BVerfGE 102, 242. BVerfGE 102, 242, bezüglich der privaten Pflegeversicherung wurde kein Verfassungsverstoß ausgemacht (BVerfGE 103, 271 ff.) 33 BVerfGE 87, 1, 38 f. 34 BVerfGE 103, 242, 265 f. 35 Hierzu auch Lenze, Anne, Kindererziehung als generativer Beitrag in der Gesetzlichen Rentenversicherung, NZS 2007, 407, 408. 36 Den Ausführungen von Ruland, Franz, Das BVerfG und der Familienlastenausgleich in der Pflegeversicherung, NJW 2001, 1673 ff. ist insoweit nichts hinzuzufügen. 32

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neues Verständnis von „Beitrag“ man konsequenterweise auch bei der Handhabung von Art. 14 Abs. 1 GG im Sozialrecht berücksichtigen müsste,38 hat die vom BVerfG geforderte Reform nunmehr ihrerseits zu einer verfassungswidrigen Rechtslage geführt. Dies ergibt sich nicht etwa aus der vermeintlich fehlenden Entlastung der Eltern,39 sondern vielmehr allein schon daraus, dass der Gesetzgeber keine Differenzierung nach der Kinderzahl vorgenommen hat. Wenn man schon Beitrag und Produktion der nachwachsenden Generation gleichstellen will, dann ist der „generative Beitrag“ bei mehreren Kindern schlicht größer als bei nur einem Kind.40 Mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar dürfte auch die gewählte Altersgrenze sein: Als kinderlose Versicherte definiert das Gesetz alle kinderlosen Versicherten nach Vollendung ihres 23. Lebensjahres mit Ausnahme der Jahrgänge 1940 und älter. Warum Versicherte, die beispielsweise erst im Alter von 35 Jahren ihren „generativen Betrag“ leisten, weniger für die Nachwuchssicherung getan haben sollen als junge Eltern bleibt völlig unklar – die von ihnen bis zur Geburt ihrer Kinder gezahlten Beitragszuschläge werden jedoch nicht erstattet. Die – auch verfassungsrechtliche – Kritik an der Neufassung ließe sich fast noch beliebig erweitern.41 Insgesamt erscheint es vor diesem Hintergrund beruhigend, dass die maßgebliche Entscheidung des BVerfG lediglich zu einer Reform des Beitragsrechts der Pflegeversicherung geführt hat. Das Gericht hatte ausdrücklich die Prüfung der Auswirkungen auf andere Sozialversicherungszweige gefordert;42 jüngst hat das Bundessozialgericht (BSG) festgestellt, dass es nicht gedenkt, die Grundsätze über den generativen Beitrag auf den Bereich der Rentenversicherung zu übertragen.43 b) Das neue Elterngeld Noch deutlicher wird die Sorge um das Fehlen einer nachwachsenden Generation im Kontext des neuen Elterngeldes. Das Gesetz zum Elterngeld 37 Zu den grundlegenden Unterschieden auch Schuler-Harms, Margarete, Familienleistungsausgleich als Herausforderung an das Verfassungsrecht, Habilitationsschrift Hamburg, Manuskript S. 468. 38 Hier kommt es ganz entscheidend darauf an, dass die jeweilige Sozialleistung durch „Beiträge“ erbracht wurde (vgl. grundlegend BVerfGE 53, 257, 290). 39 Hierzu Ruland, Franz, Das Kinderberücksichtigungsgesetz, in: Perspektiven des Familienrechts, Bielefeld 2005, S. 1063, 1074. 40 Zutreffend Ruland (Fn. 39), S. 1077; wie groß wäre zweifellos der Aufschrei, gäbe es für drei Kinder ebenso viel Kindergeld wie für ein Einzelkind. 41 Hierzu auch Ruland (Fn. 39), S. 1069 ff. 42 BVerfGE 103, 242, 270. 43 BSG, NZS 2007, 311.

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und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG) hat das seit dem 01.01.1986 geltende Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG)44 abgelöst, wobei es für die Anwendbarkeit der jeweiligen Normenkomplexe allein auf den Tag der Geburt des Kindes ankommt45 – diese Stichtagsregelung (01.01.2007) wurde jüngst vom BSG für verfassungsgemäß erachtet.46 Das BEEG enthält zwei verschiedene Regelungsinstrumentarien: Der erste Teil (§§ 1–14 BEEG) enthält sozialrechtliche Vorschriften über die Gewährung des Elterngeldes; der zweite Teil regelt den Anspruch auf Elternzeit (§§ 15–21 BEEG) und damit arbeitsrechtliche Fragen. Während letztere im Wesentlichen inhaltsgleich übernommen wurden,47 hat der Gesetzgeber mit dem neuen Elterngeld einen grundlegenden Paradigmenwechsel vollzogen, der nicht nur unter Juristen, sondern auch in den Medien für heftige Diskussion gesorgt hatte.48 Die Neuausrichtung des aus Steuermitteln des Bundes gewährten49 und selbst steuerfreien50 Elterngeldes in Abgrenzung zum bislang gezahlten Erziehungsgeld soll zunächst anhand der maßgeblichen Normen dargestellt werden. Es geht in diesem Kontext ganz offensichtlich um die Lösung des „demografischen Problems“, was wiederum – auch und gerade – verfassungsrechtliche Probleme aufwirft. Die grundlegenden Leistungsvoraussetzungen für das Elterngeld – insbesondere die Betreuung und Erziehung von Kindern verbunden mit einem jedenfalls teilweisen Verzicht auf Erwerbstätigkeit – entsprechen weitgehend denen des nach Maßgabe des BErzGG gezahlten Erziehungsgeldes.51 Die wesentliche Neuerung des BEEG gegenüber dem BErzGG und 44 Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub vom 06.12.1985 (BGBl. I, S. 2154). 45 Für vor dem 01.01.2007 geborene Kinder gilt das BErzGG bis Ende 2008 fort. 46 BSG v. 23.01.2008 – B 10 EG 3/07 R zu § 27 BEEG (vgl. auch schon SG München v. 11.07.2007 – S 30 EG 34/07 sowie SG Aachen v. 11.12.2007 – S 13 EG 27/07). 47 BT-Drs. 16/1889, S. 2. Bezüglich der arbeitsrechtlichen Regelungen kann auf die vorhandene Kommentarliteratur zum BErzGG verwiesen werden. Vgl. auch LAG Rheinland-Pfalz v. 13.12.2007 – 10 Sa 500/07 zur Urlaubsabgeltung nach Elternzeit. Zu „Zweifelsfragen zum Recht der Elternzeit“ Bruns, Patrick, BB 2008, 330 und 386. 48 Hierzu etwa Seiler, Christian, Das Elterngeld im Lichte des Grundgesetzes, NVwZ 2007, 129. 49 § 12 Abs. 2 BEEG. 50 Vgl. § 3 Nr. 67 EStG; das Elterngeld unterliegt jedoch dem Progressionsvorbehalt (Richter, Roland, Das Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit, DStR 2006, 32, 33). 51 Grundlegend zum Elterngeld vgl. Fuchsloch, Christine/Scheiwe, Kirsten, Leitfaden Elterngeld, München 2007 und Kettl-Römer, Barbara, Elterngeld, Planegg 2007; vgl. auch Wiegand, Bernd, BEEG, Loseblattsammlung Berlin; Böttcher, Inge,

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der damit verbundene bereits oben angesprochene Paradigmenwechsel bildet die inhaltliche Ausgestaltung der Sozialleistung „Elterngeld“. Worin sich das Elterngeld vom Erziehungsgeld vor diesem Hintergrund im Einzelnen unterscheidet wird im Folgenden zu zeigen sein. Die Höhe des Erziehungsgeldes beträgt gemäß § 5 BErzGG monatlich in Abhängigkeit von der Dauer, für die es beantragt wird, entweder 300 e (Regelbetrag für die Zahlung bis zur Vollendung des 24. Lebensmonats) oder 450 e (Zahlung bis zur Vollendung des 12. Lebensmonats; so genanntes Budget). Das Einkommen52 der Eltern ist dabei zunächst bezogen auf den Leistungszeitraum von der Geburt des Kindes bis zur Vollendung des sechsten Lebensmonats zu prüfen. Der Anspruch entfällt, wenn das Einkommen bei nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten 30.000 e und bei anderen Berechtigten 23.000 e übersteigt. Für den Anspruch auf das Budget gelten Einkommensgrenzen von 22.086 e bzw. 19.086 e. Vom Beginn des siebten Lebensmonats an verringert sich das Erziehungsgeld, wenn das Einkommen bei Ehegatten 16.500 e und bei anderen Berechtigten 13.500 e übersteigt; die maßgeblichen Beträge werden gemäß § 5 Abs. 3 S. 4 um jeweils 3.140 e für jedes weitere Kind des Berechtigten oder seines Ehegatten erhöht, für das – jedenfalls grundsätzlich – ein Anspruch auf Kindergeld besteht. Der Regelbetrag vermindert sich bei Überschreiten der maßgeblichen Grenzen um 5,2% des Einkommens, das die maßgeblichen Grenzen übersteigt; für das Budget beträgt die Minderung 7,2%. Aufgrund der in § 5 Abs. 3 BErzGG genannten Beträge kommen so genannte „besser verdienende“ Eltern gar nicht in den Genuss des Erziehungsgeldes; die ab dem siebten Lebensmonat geltenden Beträge sind so gering angesetzt, dass bei einem erheblichen Anteil der Eltern das Erziehungsgeld gemindert wird bzw. vollständig wegfällt.53 Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland häufig jedenfalls ein Elternteil nach der Geburt eines Kindes seine Erwerbstätigkeit vorübergehend aufgibt oder deutlich einschränkt, erleben Paare aller Einkommensgruppen, bei denen beide Partner zuvor erwerbstätig waren, die Frühphase der Familiengründung in Konsequenz der gesetzlichen Konzeption mit deutlichen Einkommenseinschränkungen. Das Erziehungsgeld hatte damit – gerade für bestimmte soziale Schichten – eine zu geringe Steuerungswirkung. Bereits die Höhe der maximal gezahlten Beträge – 300 e bzw. 450 e – eröffnete keinen finanziellen Anreiz für eine Familiengründung. Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, Frankfurt 2007 und Schwitzky, Carsten, Das neue Elterngeld, Regensburg 2007. 52 Zum Begriff vgl. § 6 BErzGG. 53 Becker, Ulrich, in: Buchner, Herbert/Becker, Ulrich, Mutterschutzgesetz und Bundeserziehungsgeldgesetz, 7. Aufl. München 2003, § 5 Rn. 14 ff.

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Vollständig anders konzipiert ist das Elterngeld. Führte bislang ein zu hohes Einkommen zur Kürzung des Anspruchs oder gar zum Anspruchsverlust, orientiert sich das Elterngeld in gleichsam umgekehrter Richtung am bisherigen Einkommen: Je höher das bisherige Einkommen, umso höher nunmehr der sozialrechtliche Anspruch.54 § 2 BEEG regelt, in welcher Höhe Elterngeld gezahlt wird,55 wobei – anders als bislang – keinerlei Bedürftigkeitsprüfung stattfindet. Gemäß § 2 Abs. 1 BEEG wird Elterngeld in Höhe von 67% des in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes durchschnittlich erzielten monatlichen Einkommens56 aus Erwerbstätigkeit gezahlt.57 Als Höchstbetrag ist ein Betrag von 1.800 e monatlich angesetzt.58 Das Mindestelterngeld beträgt gemäß § 2 Abs. 5 BEEG jedenfalls 300 e. Dieser Betrag wird ausgezahlt, wenn in den zwölf Monaten vor der Geburt überhaupt kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt wurde. § 2 Abs. 5 BEEG ist damit insbesondere für Hausfrauen oder -männer, Studenten und Arbeitslose relevant. Der Betrag von 300 e entspricht dem Regelsatz des bislang gezahlten Erziehungsgeldes. Gering verdienende Eltern erhalten gemäß § 2 Abs. 2 BEEG ein erhöhtes Elterngeld. Anders als das Erziehungsgeld kann Elterngeld gemäß § 4 Abs. 1 BEEG nur in der Zeit vom Tag der Geburt bis zur Vollendung des 14. Lebensmonats des Kindes bezogen werden. Ein Elternteil allein kann in der Regel59 höchstens 12 Monate Elterngeld beziehen (§ 4 Abs. 3 S. 1 BEEG). Der Gesetzgeber gewährt allerdings zwei zusätzliche Monate, wenn auch der andere Elternteil mindestens zwei Monate lang Elterngeld bezieht; es werden damit so genannte Partnermonate (§ 4 Abs. 2 S. 3 BEEG) als Bonus gewährt.60 Mit dieser Regelung will der Gesetzgeber insbesondere Vätern die Möglichkeit eröffnen, eine aktivere Rolle in der Familie zu übernehmen und ihnen auch gegenüber Dritten – vor allem wohl dem Arbeitgeber gegenüber – die Entscheidung erleichtern, sich eine Zeit lang der Betreuung ihres neugeborenen Kindes zu widmen.61 54 Zur Anrechnung anderer Sozialleistungen auf das Elterngeld vgl. § 3 BEEG. Das Verhältnis zu anderen Sozialleistungen ist in § 10 BEEG bestimmt; hierzu Wiegand (Rn. 51), § 10 Rn. 5 ff. 55 Vgl. insoweit auch schon SG Münster v. 25.09.2007 – S 2 EG 26/07. 56 Zum Einkommensbegriff hier § 2 Abs. 7–9 BEEG. 57 Zum so genannten Elterngeldrechner des zuständigen Ministeriums vgl. unter www.bmfsfj.de/Elterngeldrechner. Der rechtzeitigen Wahl der Steuerklasse kommt grundlegende Bedeutung zu (Lenz, Martin, in: Rancke, Friedbert, Mutterschutz, Elterngeld, Elternzeit, Baden-Baden 2007, § 2 BEEG Rn. 7). 58 Zur Begründung BT-Drs. 16/1889, S. 20. 59 Zu Ausnahmen § 4 Abs. 3 BEEG. 60 Zu den „Kombinationsmöglichkeiten bei Inanspruchnahme von Elterngeld durch beide Eltern“ vgl. Schramm, Barbara, FPR 2007, 342. 61 BT-Drs. 16/1889, S. 15.

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Die Zielsetzung des Elterngeldes liegt auf der Hand. Seine Konzeption dient als Steuerungsmaßnahme, um die Gründung von Familien in allen sozialen Schichten zu fördern und damit dem demografischen Wandel Einhalt zu gebieten.62 Sehr prägnant sind insoweit die Ausführungen in der Gesetzesbegründung: „Moderne Familienpolitik hat auf die Tatsache zu reagieren, dass Männer und Frauen sich immer später und seltener für Kinder entscheiden. Das Alter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes hat sich in Deutschland in Ost und West seit 1980 um fast fünf Jahre erhöht. Bei verheirateten Müttern liegt es jetzt bei knapp 30 Jahren. Oft werden Familiengründungen aufgeschoben, bis es zu spät dafür ist.“63 Der Gesetzgeber, nach dessen Einschätzung das Erziehungsgeld „die beschriebenen Schwierigkeiten nicht zufrieden stellend vermeiden konnte“,64 zielt mit dem neuen Elterngeld explizit darauf ab, dass „Lebensentwürfe mit Kindern verwirklicht werden“ können.65 Klare Gewinner der Reform sind gut verdienende Paare, die bis zur Geburt des Kindes beide berufstätig waren; während sie bislang maximal 300 bzw. 450 e erhielten und gegebenenfalls eine Minderung des Erziehungsgeldes fürchten mussten, gibt das BEEG nunmehr einen Anspruch auf 67% des bisherigen Erwerbseinkommens desjenigen Elternteils, der um der Betreuung des Kindes willen seine Erwerbstätigkeit aufgibt bzw. reduziert. Eindeutiger Verlierer der Reform sind dagegen die Alleinverdienerehen im unteren Einkommensbereich sowie die sozial schwachen Familien, die Einkommen zwischen 0 und 300 e im Monat erzielen. Sie haben zwar Anspruch auf das Mindestelterngeld in Höhe von 300 e; der Bezugszeitraum hat sich jedoch im Vergleich mit dem Erziehungsgeld schlicht halbiert. Mit dem Elterngeld fördert der Staat die Familien nicht gleichermaßen; vielmehr liegt dem Elterngeld ein elitärer Steuerungsansatz zugrunde, der durch eine umgekehrt soziale, förderungsprogressive Staffelung gekennzeichnet ist:66 Vor diesem Hintergrund überrascht die teils heftige Kritik am Elterngeld nicht. Die Politik hofiere die Gut- und Besserverdienenden; das Elterngeld wirke „eugenisch“, weil es darauf abziele, Geburten in ganz bestimmten sozialen Schichten zu befördern.67 Gefördert werden sollten offenbar besonders „wertvolle“ Kinder.68 Durch die so genannten Partnermo62 So ausdrücklich Brosius-Gersdorf, Frauke, Das Elterngeld als Einkommensersatzleistung des Staates, NJW 2007, 177, 182. 63 BT-Drs. 16/1889, S. 15. 64 BT-Drs. 16/1889, S. 15. 65 BT-Drs. 16/1889, S. 15. 66 So treffend Brosius-Gersdorf (Fn. 62), S. 178. 67 Vgl. etwa sueddeutsche.de/deutschland/artikel/977/74903: „Hofierung der Besserverdienenden“. 68 Seiler (Fn. 48), S. 131.

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nate mische sich der Staat auf unzulässige Art und Weise in das Familienleben seiner Bürger ein.69 Nach einer groß angelegten und ihrerseits nicht ohne Kritik gebliebenen Werbekampagne70 ist es nunmehr – jedenfalls in der öffentlichen Diskussion – eher ruhig geworden um das Elterngeld. Auch die Verfassungsmäßigkeit des Elterngeldes ist nicht zweifelsfrei. Abgesehen von berechtigten Zweifeln an der formellen Verfassungsmäßigkeit des BEEG71 ergeben sich Bedenken im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, wobei vor allem der gleichheitsrechtliche, teilweise aber auch der freiheitsrechtliche Aspekt des Grundrechtsschutzes in Frage steht. Bezogen auf die gleichsam umgekehrte soziale Staffelung des Elterngeldes, die vor dem Ziel der Anreizfunktion für bestimmte soziale Schichten verständlich ist, wäre bereits die Berechtigung des Regelungsziels zu hinterfragen. Angesichts der freiheitsrechtlichen Dimension auch von Art. 6 Abs. 1 GG ist es nicht damit getan, auf ein „verfassungskräftig fundiertes Ziel“72 zu verweisen. Auch wenn man davon ausgehen darf, dass die demografische Entwicklung Konsequenzen für sämtliche Bereiche in Staat und Gesellschaft haben wird,73 wird man sich doch fragen müssen, inwieweit die Elternschaft für den Staat instrumentalisiert werden darf.74 Der freiheitsrechtliche Grundgehalt von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG ist relevant auch für die Beurteilung der so genannten Partnermonate, durch die der Gesetzgeber auf die Aufteilung der Erziehungsverantwortung zwischen den Eltern einzuwirken versucht. Es hat den Anschein, als wolle der Gesetzgeber zu einem „richtigen“ Familienleben erziehen.75 Ob sich dies mit der Verpflichtung des Staates vereinbaren lässt, gegenüber der innerfamiliären Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit die gebotene Neutralität zu wahren,76 ist auch unter 69 Hierzu Scheiwe, Kirsten/Fuchsloch, Christine, Rechtspolitische Ziele und rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten beim Elterngeld, ZRP 2006, 37, 38 m. w. N. – dort auch zu „Vatermonaten im internationalen Vergleich (a. a. O., S. 39). 70 Hierzu www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,502566,00.html: „Gratisreklame für die Ministerin von der Ministerin“. 71 Der Gesetzgeber hat sich auf den Kompetenztitel „öffentliche Fürsorge“ gestützt (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG). Kritisch zu Recht Seiler (Fn. 48), S. 129 f. 72 So Brosius-Gersdorf (Fn. 62), S. 181. 73 Insoweit ist das Volk eine von der Verfassung vorausgesetzte Größe (Pechstein, Matthias, Familiengerechtigkeit als Gestaltungsgebot für die staatliche Ordnung, Bayreuth 1994, S. 71). Selbstverständlich lassen sich die durch die mangelnde Reproduktion des Staatsvolks entstandenen gesellschaftlichen Probleme auch durch Zuwanderung lösen. Um das Beitrags- und Leistungsniveau der Sozialversicherungssysteme stabil zu halten, müsste die Bundesrepublik nach Modellrechnungen bis 2050 175 Millionen Zuwanderer aufnehmen (Kingreen, Torsten, Familie als Kategorie des Sozialrechts, JZ 2004, 938, 939). 74 Kritisch zu Recht Schuler-Harms (Fn. 37), S. 294 f. 75 So zutreffend Seiler (Fn. 48), S. 132. 76 Hierzu BVerfGE 61, 319; vgl. auch schon BVerfGE 6, 55, 81 f.

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Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG jedenfalls zweifelhaft. Der Aspekt staatlicher Neutralität – wiederum verbunden mit dem Vorwurf der nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung – wird schließlich auch im Vergleich staatlicher Unterstützung verschiedener Familienmodelle über die Teilrechtsordnungen hinweg relevant. So lassen sich eklatante Unterschiede zwischen sozial- und steuerrechtlicher Familienförderung erkennen, wenn man die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten77 mit dem Anspruch auf Elterngeld vergleicht. In bestimmten Fallkonstellationen haben weiterhin berufstätige Eltern, die für die Kinderbetreuung Dritte bezahlen, unter dem Strich weniger Geld zur Verfügung als Eltern, bei denen ein Elternteil zur Betreuung des Kindes auf die Erwerbstätigkeit verzichtet.78 Angesichts der Tatsache, dass das BVerfG es als Aufgabe des Staates ansieht, „die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern“,79 lassen sich sachliche Gründe für diese ungleiche Familienförderung – jedenfalls bei Beachtung der üblichen „political correctness“ – weder mit den Strapazen der elterlichen Betreuung noch mit dem Kindeswohl rechtfertigen.80 Insgesamt ist festzuhalten, dass die verfassungsrechtliche Kritik am neuen Elterngeld ernst zu nehmen ist. Ob Gerichte in der Praxis diese Bedenken teilen oder auf den zunehmend als Leerformel verwandten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers verweisen,81 ist naturgemäß eine andere Frage.

III. Die subjektiven Rechte des Kindes im Sozialrecht Die bisherigen Ausführungen haben eines verdeutlicht: Wenn das Sozialrecht das Thema „Kind“ in den Blick nimmt, geht es gerade in jüngerer Zeit um die Leistung der Eltern, die dieses Kind auf die Welt gebracht haben und es nun – zum Wohle der Gesellschaft und insbesondere der umla77

Hierzu Brosius-Gersdorf, Frauke, Elterngeld und steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten, JZ 2007, 326, 331. 78 Hierzu Brosius-Gersdorf (Fn. 77), S. 331. 79 BVerfGE 88, 203, 260; der Staat hat danach dafür Sorge zu tragen, dass es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und zeitweise auf eine eigene Erwerbstätigkeit zu Gunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten wie auch Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden. 80 Zutreffend Brosius-Gersdorf (Fn. 77), S. 335 f. 81 Selbst das unstreitig in Art. 6 Abs. 1 GG verankerte Verbot der Schlechterstellung der Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften (hierzu SchmittKammler, Arnulf in: Sachs, Michael, GG, 4. Aufl. München 2007, Art. 6 Rn. 32) wird in jüngerer Zeit mit eher fadenscheinigen Begründungen verletzt (hierzu im Kontext der Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung Felix, Dagmar, Die Familienversicherung auf dem Prüfstand – verfassungsrechtliche Bemerkungen zu § 10 Abs. 3 SGB V, NZS 2003, 624).

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gefinanzierten Sozialsysteme – betreuen und erziehen. Trotz aller Ausrichtung sozialrechtlicher Leistungen am „Objekt Kind“ gewährt das Sozialrecht aber auch dem Kind selbst eigene Rechte. Neben insoweit bestehenden verfahrensrechtlichen Besonderheiten des Sozialrechts soll im Folgenden die Rechtsstellung des Kindes im Sozialrecht – jedenfalls kursorisch – dargestellt werden. 1. Verfahrensrechtliche Besonderheiten des Sozialrechts In verfahrensrechtlicher Hinsicht hat das Kind eine dem allgemeinen Verwaltungsrecht entsprechende Position. Das SGB X, das für alle Bereiche des Sozialrechts das Verwaltungsverfahren regelt, entspricht in weiten Teilen dem VwVfG. Bezüglich der in § 11 SGB X geregelten Verfahrensfähigkeit gibt es allerdings eine sozialrechtliche Besonderheit mit Blick auf § 11 Abs. 1 Nr. 2 SGB X. Verfahrenshandlungen können neben nach bürgerlichem Recht geschäftsfähigen Personen auch solche natürlichen Personen selbständig vornehmen, die entweder durch Vorschriften des bürgerlichen oder des öffentlichen Rechts als handlungsfähig anerkannt sind. Neben den maßgeblichen Vorschriften des BGB82 ist hier die weithin unbekannte Regelung des § 36 SGB I zu beachten. Danach kann jeder, der das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hat, Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen, sowie Sozialleistungen entgegennehmen. Diese spezifisch sozialrechtliche Altersgrenze ermöglicht es dem Kind, seine Rechte selbständig wahrzunehmen. Allerdings handelt es sich – gerade im Verhältnis zu den Eltern des Kindes – um ein leidlich stumpfes Schwert. Neben der – letztlich mit dem gebotenen Minderjährigenschutz83 zu rechtfertigenden – Regelung des § 36 Abs. 2 S. 2 SGB I, wonach etwa der Verzicht auf Sozialleistungen oder die Entgegennahme von Darlehen in jedem Fall der Zustimmung der gesetzlichen Vertreter bedürfen, kann die Handlungsfähigkeit des minderjährigen Kindes auch in allen anderen Fällen vom gesetzlichen Vertreter durch schriftliche Erklärung und ohne weitere Begründung84 gegenüber dem Leistungsträger eingeschränkt werden.85 Vor dem Hintergrund, dass Sozialleistungen häufig als Anspruch der Eltern „für das Kind“ ausgestaltet sind, kommt einer weiteren – und leider weithin unbekannten – Vorschrift aus dem Allgemeinen Teil des Sozial82

Vgl. z. B. § 112 BGB. Vgl. §§ 106 ff. BGB. 84 Hierzu Mrozynski, Peter, SGB I, 3. Aufl. München 2003, § 36 Rn. 20 ff. 85 In diesem Kontext ist zu beachten, dass der Leistungsträger den gesetzlichen Vertreter über eine Antragstellung durch das Kind gemäß § 36 Abs. 1 S. 2 SGB X unterrichten soll. 83

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rechts gerade auch für die Praxis erhebliche Bedeutung zu. Es geht um die in § 48 SGB I geregelte so genannte Auszahlungsanordnung oder Abzweigung,86 die es dem Sozialleistungsträger ermöglicht,87 laufende Geldleistungen, die zur Sicherung des Lebensunterhalts bestimmt sind, in angemessener Höhe an den Ehegatten oder die Kinder des Leistungsberechtigten auszuzahlen, wenn er ihnen gegenüber seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Geldleistungen für Kinder – etwa Kindergeld88 – können nur an die Kinder ausgezahlt werden. Die Vorschrift dient dem Zweck, im konkreten Bedarfsfall schnelle und unbürokratische Hilfe leisten und Sozialleistungen an die Personen auszahlen zu können, denen sie letztlich zugute kommen sollen. Zugleich soll damit den Kindern der oft zeitraubende „Umweg“ über einen Prozess vor dem Zivilgericht und eine anschließende Zwangsvollstreckung erspart bleiben. Die Auszahlung an Dritte kann nach dem Gesetzeswortlaut von Amts wegen erfolgen, in der Regel liegt aber ein entsprechender Antrag des Kindes vor, das darlegen muss, dass tatsächlich eine Verletzung der Unterhaltspflicht auf Seiten des stammberechtigten Anspruchsinhabers vorliegt.89 Die Regelung des § 48 SGB I stellt eine Verbindung zwischen den zivilrechtlichen Unterhaltsvorschriften und dem Sozialverfahrensrecht her, die jedoch durch die Norm selbst wiederum gelockert wird: Gemäß § 48 Abs. 1 S. 3 SGB I kann eine Abzweigung des Kindergeldes auch dann erfolgen, wenn der kindergeldberechtigte Elternteil mangels Leistungsfähigkeit gar nicht unterhaltspflichtig ist. Bezüglich der Sozialleistungen, die trotz anderweitiger Anspruchsberechtigung letztlich den Kindern selbst zugute kommen sollen, gilt zudem ein gesonderter Pfändungsschutz. Sozialleistungen sind unter den in § 54 SGB I genannten Voraussetzungen von Dritten pfändbar. Um zu verhindern, dass etwa das Kindergeld wegen anderweitiger Schulden des Anspruchsberechtigten gepfändet wird, wurde § 54 SGB I vor 20 Jahren um seinen Absatz 5 ergänzt.90 Die Regelung erlaubt nunmehr ausschließlich eine Pfändung durch das Kind selbst – und Pfändungsgrund können allein gesetzliche Unterhaltsansprüche sein. Mit der Neufassung der Norm hat sich ein jahrzehntelanger Streit über die Pfändbarkeit von Kindergeld erledigt.91 Sozialleistungen, die „für ein Kind“ gezahlt werden, dienen – unabhängig von der bereits aufgezeigten Zielsetzung der staatlichen Nachwuchssiche86 Zu weiteren Fallgestaltungen vgl. § 49 und 50 SGB I (Auszahlung und Überleitung bei Unterbringung). 87 Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung im Sinne von § 39 SGB I. 88 Mit der Verlagerung des Kindergeldes in das Steuerrecht wurde mit § 74 EStG eine wortgleiche Norm in das Einkommensteuerrecht aufgenommen. 89 Zu den Voraussetzungen im Einzelnen Mrozynski (Fn. 84), § 48 Rn. 2 ff. 90 Gesetz vom 20.07.1988 (BGBl. I, S. 1046). 91 Ausführlich hierzu Seewald/Felix (Fn. 15), § 12 BKGG Rn. 170 ff.

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rung – häufig der Minderung der wirtschaftlichen Belastungen, die durch den Unterhalt für die Kinder entstehen.92 Um sicherzustellen, dass überhaupt ein entsprechender Bedarf der Eltern besteht, normiert das Sozialrecht zu Lasten der Kinder entsprechende Mitwirkungspflichten. Illustriert werden kann das wiederum am Beispiel des Kindergeldrechts: Gemäß § 2 Abs. 2 S. 2 BKGG wird ein Kind nur berücksichtigt, wenn seine eigenen Einkünfte und Bezüge kalenderjährlich nicht mehr als 7.680 e betragen. Um diese Anspruchsvoraussetzung für den Kindergeldanspruch der Eltern prüfen zu können, normiert § 10 BKGG eine Auskunftspflicht der Kinder selbst.93 Dogmatisch werden die allgemeinen Mitwirkungspflichten des § 60 Abs. 1 SGB I, die grundsätzlich nur für den Antragsteller – in diesem Fall also die Eltern – gelten, auf das Kind erstreckt. Vergleichbare Regelungen finden sich in vielen Teilen des Sozialgesetzbuchs.94 Abschließend sei noch auf eine sozialrechtliche – wenn auch nicht im eigentlichen Sinne verfahrensrechtliche – Besonderheit verwiesen, die sich auf die Rechtsstellung des Kindes auswirken kann, wenn ein Elternteil verstirbt. Das Sozialrecht kennt mit den §§ 56 bis 59 SGB I von den allgemeinen zivilrechtlichen Vorgaben abweichende Regelungen zur Rechtsnachfolge. Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen, die nicht beim Tod des Berechtigten erloschen sind,95 stehen unter den in § 56 Abs. 1 SGB I genannten Voraussetzungen nacheinander dem Ehegatten/Lebenspartner, den Kindern, den Eltern und dem Haushaltsführer zu. Eine vorrangige Person schließt dabei die anderen aus, so dass etwa die bereits fällige Rente des verstorbenen Versicherten allein seiner Ehefrau zusteht. 2. Zur materiell-rechtlichen Anspruchsberechtigung von Kindern im Sozialrecht Das Kind ist im Sozialrecht selbstverständlich auch materieller Rechtsinhaber. Zwar prägt das beschriebene Modell der Gewährung von Leistungen an die Eltern „für das Kind“ weite Bereiche des Sozialrechts; in vielfältiger Hinsicht kann das Kind jedoch eigene Ansprüche geltend machen – einige wichtige sollen im Folgenden dargestellt werden. Dabei kann unterschieden werden zwischen abgeleiteten und eigenen Ansprüchen.

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§ 6 SGB I. Vgl. zum steuerrechtlichen Pendant Felix (Fn. 29), § 63 EStG Rn. 97 ff. Vgl. etwa § 25 WoGG. Hierzu § 59 SGB I.

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a) Von den Eltern abgeleitete Ansprüche des Kindes Bestimmte sozialversicherungsrechtliche Ansprüche des Kindes leiten sich mittelbar aus der Berechtigung der Eltern ab. Ein geradezu klassisches Beispiel ist die Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV),96 die zu Recht als geradezu klassischer Aspekt des Familienlastenausgleichs gesehen wird.97 Neben dem Ehegatten oder Lebenspartner sind auch die Kinder98 von Mitgliedern unter den in § 10 SGB V näher genannten positiven wie negativen Voraussetzungen beitragsfrei99 versichert. Diese Versicherung des Kindes begründet eine eigene, rechtlich selbständige Versicherung der Angehörigen;100 diese ist jedoch abhängig von der Stammversicherung des Mitglieds. Endet diese, endet auch die Familienversicherung; es besteht allerdings die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung in der GKV.101 Die nach § 10 SGB V versicherten Personen haben einen eigenen Anspruch gegen die Krankenkasse und können die ihnen zustehenden Rechte selbst geltend machen, ohne auf ein Tätigwerden des Mitglieds angewiesen zu sein. Es gibt – wie auch sonst im Recht der GKV – keine Wartezeit und keine Risikoprüfung; mit dem Eintritt der Familienversicherung hat der Betreffende Anspruch auf die meisten102 Leistungen der GKV, selbst wenn der Versicherungsfall Krankheit schon vorher eingetreten sein sollte. Allerdings führt die Versicherung der Angehörigen nicht zu einer Mitgliedschaft bei der Krankenkasse; insoweit ist zwischen Mitgliedschaft einerseits und Versicherung andererseits zu unterscheiden. So haben die familienversicherten Personen kein Wahlrecht bei den Sozialversicherungswahlen.103 Vor allem aber können sie ihrerseits keine Familienversicherung ihrer eigenen Angehörigen begründen: Ist also beispielsweise ein Student bei seinen Eltern familienversichert, so kann er für sein Kind, also das Enkelkind der Mitglieder, keine Familienversicherung begründen.104

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Zur vergleichbaren Regelung in der Pflegeversicherung vgl. § 25 SGB XI. Zur Entwicklung der Familienversicherung Kruse/Kruse (Fn. 16), S. 193; vgl. auch Peters, Karl in: Kasseler Kommentar, § 10 Rn. 3. 98 Zum Kindbegriff insoweit § 10 Abs. 4 SGB V; die für das Sozialrecht typischen Altersgrenzen sind in § 10 Abs. 2 SGB V normiert. 99 § 3 S. 3 SGB V. 100 Anders war dies unter der Geltung des § 205 RVO (hierzu Kruse, Udo, in: LPK-SGB V § 10 Rn. 1.) 101 Hierzu § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB V. 102 Für Familienangehörige besteht allerdings kein Anspruch auf Krankengeld (§ 44 Abs. 1 S. 2 SGB V). 103 § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV stellt auf „Mitglieder“ ab. 104 Denkbar ist allerdings, dass auch der Enkel als Kind bei den Großeltern familienversichert ist (§ 10 Abs. 4 SGB V). 97

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Abgeleitet von der Versicherteneigenschaft der Eltern sind zudem die auf dem Prinzip des Unterhaltsersatzes beruhenden Renten für Hinterbliebene in der Sozialversicherung. Kinder haben Anspruch auf Waisenrente der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 48 SGB VI nach dem Tod eines unterhaltsverpflichteten Elternteils, wenn dieser die allgemeine Wartezeit105 erfüllt hatte. In der gesetzlichen Unfallversicherung wird auf den Versicherungsstatus der verstorbenen Eltern abgestellt; § 67 SGB VII bestimmt, dass „Kinder von versicherten Verstorbenen . . .“ eine Waisenrente erhalten, wenn der Tod infolge eines Versicherungsfalls eingetreten ist.106 Sowohl § 48 SGB VI als auch § 67 SGB VII liegt das für das Sozialrecht insoweit typische Modell zugrunde, nach dem der Anspruch neben anderen Voraussetzungen an das Alter des Kindes geknüpft wird. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres wird die Waisenrente nur dann gewährt, wenn auch danach noch von der fehlenden wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Kindes auszugehen ist; eine typische Fallkonstellation ist das Vorliegen einer „Schul- und Berufsausbildung“. Grundsätzlich107 erlöscht der Anspruch mit Vollendung des 27. Lebensjahres; dies gilt – anders als im Kindergeld108 – auch für behinderte Kinder. Aufgrund der Unterhaltsersatzfunktion wird das Einkommen volljähriger Waisen auf den Anspruch angerechnet.109 b) Nicht abgeleitete Ansprüche des Kindes Auch unabhängig von der Rechtsstellung seiner Eltern gewährt das Sozialrecht dem Kind eine Fülle von Ansprüchen, von denen hier nur einige wenige beispielhaft genannt werden sollen. Zunächst einmal können – auch noch minderjährige – Kinder selbst Mitglied in der Sozialversicherung sein. So ist etwa der 17 Jahre alte Auszubildende gesetzlich kranken-,110 pflege-,111 renten-112 und unfallversichert113. Zudem besteht Versicherungspflicht im Recht der Arbeitsförderung.114 Aus 105

Diese beträgt gemäß § 50 Abs. 1 SGB VI fünf Jahre. § 63 Abs. 1 S. 2 SGB VII. 107 Vgl. aber § 48 Abs. 5 SGB VI und § 67 Abs. 4 SGB VII – Verlängerung etwa infolge der Ableistung des gesetzlichen Wehrdienstes. 108 Vgl. insoweit § 2 Abs. 2 Nr. 3 BKGG. 109 Vgl. § 97 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Nr. 2 SGB VI sowie § 68 Abs. 2 SGB VII. 110 § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. 111 § 20 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI. 112 § 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI. 113 § 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII. 114 § 35 SGB III. 106

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dieser Versicherungspflicht resultieren die jeweiligen sozialrechtlichen Ansprüche, die das Kind grundsätzlich eigenständig geltend machen kann. Auch außerhalb des Sozialversicherungsrechts bestehen vielfältige Ansprüche. Was den Bereich der Fürsorge angeht, so haben minderjährige Kinder bei Vorliegen der maßgeblichen Voraussetzungen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) oder dem SGB XII (Sozialhilfe). Im Kontext der Ausbildungskosten ist das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bedeutsam, das bezogen auf den Bedarf allerdings in der Regel wiederum auch das Einkommen der Eltern in Bezug nimmt.115 Ansprüche auf soziale Entschädigung sind insbesondere im Kontext des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) denkbar.116

IV. Das Kind als mittelbar Begünstigter des Sozialrechts Ein Blick auf das „Kind im Sozialrecht“ wäre nicht vollständig ohne die Erkenntnis, dass das Sozialrecht auch die Rechtsstellung des Kindes in anderen Gebieten des Rechts beeinflusst. Das Kind erweist sich insoweit als mittelbar Begünstigter des Sozialrechts. Auswirkungen hat das Sozialrecht vor allem auf das Zivilrecht. Sozialrecht ist ohne Privatrecht weder denk- noch darstellbar – so ein Zitat von Eichenhofer,117 doch wird die soziale Sicherung jedenfalls in wirtschaftlichen Krisensituationen vorrangig, wenn auch selbstverständlich nicht ausschließlich,118 durch das öffentliche Recht bewirkt. Besonders deutlich wird dies, wenn man den Blick auf das Versicherungsrecht konzentriert, das in der modernen Industriegesellschaft dem starken Bedürfnis nach Sicherheit Rechnung trägt119 und deshalb im 19. und 20. Jahrhundert einen starken Aufschwung erlebt hat. Privatversicherung und Sozialversicherung sind zu 115

§ 11 Abs. 2 BAföG; hierzu Ramsauer, Ulrich, in: Ramsauer, Ulrich/Stallbaum, Michael/Sternal, Sonja, BAföG, 4. Aufl. 2005, § 11 Rn. 8 ff. 116 In gleichsam umgekehrter Richtung hat jüngst eine Entscheidung des BSG für Aufregung gesorgt: Danach kann auch ein 4 Jahre altes Kind einen „vorsätzlichen rechtswidrigen“ Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG vornehmen (BSG U. v. 08.11.2007 – B 9/9a VG 3/06 R). 117 Eichenhofer, Eberhard, Sozialrecht und Privatrecht, VSSR 1990, 161, 162, 189. Ob das umgekehrt auch gilt, erscheint mehr als fraglich: Jedenfalls der zivilrechtliche Versorgungsausgleich (hierzu ausführlich Fuchs, Maximilian, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992, S. 281 ff.) als zivilrechtliches Institut (BGH, JZ 1980, 61, 62) knüpft unmittelbar an sozialrechtlich erworbene Ansprüche an. 118 Eine bedeutende Rolle für die soziale Sicherung spielt in diesem Kontext der arbeitsrechtliche Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Fall von Krankheit. 119 Fuchs, Maximilian, Privatversicherung und Sozialversicherung, VSSR 1991, 281.

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den tragenden Säulen bei der Bewältigung sozialer Risiken geworden – insoweit besteht eine Bipolarität der Versicherungsordnung.120 Dennoch werden die zentralen Risiken bezogen auf den größten Teil der Bevölkerung von der Sozialversicherung getragen – gegen die klassischen Risiken sind der Beschäftigte und seine Familie durch das Sozialgesetzbuch geschützt. Die starke Ausrichtung der sozialen Sicherung auf die öffentlich-rechtlich ausgestaltete Sozialversicherung wirkt ihrerseits auf das Zivilrecht zurück: Selbst in der Kernfamilie verliert die gesetzliche Unterhaltsverpflichtung in dem Maße an Bedeutung, in dem die Beteiligten eigene oder abgeleitete Leistungen aus der Sozialversicherung beanspruchen können.121 Anders formuliert: Die Verpflichtung der Kinder, für den Unterhalt der Eltern im Alter und bei Invalidität zu sorgen, ist weitgehend durch die Alterssicherungssysteme abgelöst worden;122 verstärkt wurde diese Tendenz noch durch die in den 90er Jahren geschaffene Pflegeversicherung. Selbst wenn diese Leistungen die soziale Sicherung des Anspruchsberechtigten nicht vollständig bewirken können, kommt es häufig zu ergänzenden Leistungen über die Sozialhilfe als steuerfinanzierte Fürsorgeleistung des Staates; ein Rückgriff über § 94 SGB XII setzt voraus, dass ein zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch besteht – und dies ist im Verhältnis von Kindern gegenüber ihren Eltern jedenfalls nicht die Regel.123 Kritisch zu betrachten ist diesem Kontext die so genannte Grundsicherung, die heute in § 19 Abs. 2 i. V. m. §§ 41 ff. SGB XII geregelt ist. Das Ziel dieser Sozialleistung – Vermeidung verschämter Altersarmut124 – wird vor allem dadurch erreicht, dass Unterhaltsansprüche des Berechtigten gegenüber seinen Kindern unberücksichtigt bleiben, sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 SGB IV – Werbungskosten und Betriebsausgaben werden also abgezogen125 – unter einem Betrag von 100.000 e liegt und das wiederum wird nach § 43 Abs. 2 SGB XII vermutet. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Die Kinder als prinzipiell unterhaltsverpflichtete Personen werden, unabhängig davon, ob sie ihrerseits bereits eine Familie gegründet haben und entsprechenden Unterhaltsansprüchen ausgesetzt sind, von einem Rückgriff freigestellt. Mit dem Grund120 Bislang wurden häufig die Unterschiede beider Versicherungsarten betont; sinnvoll wäre es zu einer dogmatischen Neubestimmung zu gelangen; hierzu Fuchs (Fn. 117), S. 349. 121 Dies gilt umgekehrt natürlich auch im Verhältnis der Eltern zum Kind. 122 Hierzu von Maydell, Bernd, in: Sozialrechtshandbuch (Fn. 17), S. 46. 123 Vgl. Palandt/Diederichsen, BGB, 67. Aufl., § 1601 Rn. 5; vgl. auch Lipp, Volker, Finanzielle Solidarität zwischen Verwandten im Privat- und Sozialrecht, NJW 2002, 2201, 2204. 124 BT-Drs. 14/4595, S. 84. 125 Hierzu Seewald, Otfried, in: Kasseler Kommentar, § 16 Rn. 3 f.

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sicherungsmodell hat der Gesetzgeber sich vollständig von den Vorgaben des Zivilrechts gelöst und überträgt die bedeutsame Aufgabe der Existenzsicherung im Alter ohne entsprechende Einnahmen durch Beiträge nunmehr faktisch vollständig dem Öffentlichen Recht.126 Dass der Rückgriffsverzicht im Einzelnen problematisch ist,127 ist offenkundig – viel schwerer wiegt jedoch das Signal des Gesetzgebers, durch den das Funktionieren selbst der Kleinfamilie grundlegend – und aufgrund der im Gesetz genannten finanziellen Grenze von 100.000 e unnötigerweise – in Frage gestellt wird.128

V. Fazit Das Sozialrecht gewährt Kindern eine eigenständige soziale Absicherung gegen die wesentlichen sozialen Risiken des Lebens. Mittelbar begünstigt werden Kinder durch sozialrechtliche Ansprüche der Eltern; insoweit verdrängt das öffentlich-rechtliche Sozialrecht das private Unterhaltsrecht. Soweit es um das Kind als Objekt der Förderung geht, bedürfen die jüngsten Entwicklungen im sozialrechtlichen Familienlastenausgleich, die zunehmend an der Zielvorgabe der Nachwuchssicherung orientiert sind, einer kritischen Prüfung. Unabhängig von der Tatsache, dass „Schrumpfen“ unter Umständen auch eine Chance sein kann129 und jedenfalls bei globaler Betrachtung der Kampf gegen die demografische Entwicklung andernorts Verständnislosigkeit herbeiführen dürfte, darf bei aller Familienförderung die freiheitsrechtliche Dimension von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG nicht aus dem Blick geraten. In einer Zeit, in der die Benachteiligung von Familien kritisiert und eine verstärkte Förderung eingefordert wird, fehlt es zudem – und das ist in der Tat erstaunlich – an validen Daten, die das Ausmaß von Transferleistungen zugunsten der Familie und damit auch eventuelle Förderungsdefizite belegen könnten.130 Die maßgeblichen Regelungen in der nicht mehr zu überschauenden Fülle und Vielfalt von Leistungen und Vergünstigungen131 dürf126 Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, dass die Leistungen des SGB XII allenfalls einen Grundbedarf abdecken (hierzu Wahrendorf, Volker in: Grube, Christian/Wahrendorf, Volker, SGB XII, 2. Aufl. 2008, § 42 Rn. 2 ff.). 127 Hierzu Ruland, Franz, Rentenversicherung nach der Reform – vor der Reform, NZS 2001, 393, 398. 128 Zur Funktionsfähigkeit der Kleinfamilie noch Gitter, Wolfgang/Hahn-Kemmler, Jutta, Die Verdrängung des Zivilrechts durch das Sozialrecht, SGb 1979, 195. 129 So Gründinger, Wolfgang, Nachhaltigkeit durch höhere Fertilität? in: Generationengerechtigkeit 2007, S. 4; vgl. auch Ekardt, Felix, Familienförderung durch Steuerrecht?, KJ 2004, 116, 124. 130 Zutreffend Rosenschon, Astrid, Familienförderung in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme, Institut für Weltwirtschaft Kiel, 2001.

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ten nur noch den jeweiligen Experten überhaupt bekannt sein; eine Gesamtbewertung, die naturgemäß über alle Teilrechtsordnungen hinweg sämtliche familienrelevanten Regelungen in den Blick nehmen müsste, erscheint als ein fast aussichtsloses Unterfangen. Dies gilt umso mehr, als ständige Reformen der Familienförderung schon fast an der Tagesordnung sind.132 So überrascht es nicht, dass die politischen Akteure selbst den Überblick verloren zu haben scheinen: Während das zuständige Ministerium noch im Dezember 2006 von 145 familienpolitischen Leistungen mit einem Gesamtwert von rund 184 Milliarden e sprach,133 wurde diese Aussage wenig später korrigiert: Lediglich 43,86 Milliarden e könnten als „tatsächliche Familienförderung“ bezeichnet werden.134 Auch in dogmatischer Hinsicht hagelt es Kritik – selbst von Seiten des BVerfG: Die das Kindergeld betreffenden Regelungen genügten in ihren sozial-, steuer- und familienrechtlichen Verflechtungen immer weniger dem aus dem Rechtsstaatsprinzip erwachsenden Grundsatz der Normenklarheit.135 Schließlich sollten im fast verzweifelten Kampf gegen die demografische Entwicklung nicht die Nöte der Kinder selbst aus dem Blick geraten: In einem Sozialstaat geht es nicht nur um die Sicherstellung existentieller Bedürfnisse von Kindern,136 sondern mitunter auch um sonstige Unterstützung – und dies unter Umständen ohne oder gar gegen den Willen der Eltern. Vor diesem Hintergrund soll der – außer dem Bundeskindergeldgesetz – einzige Teil des Sozialgesetzbuchs, der das Wort „Kind“ tatsächlich im Titel trägt, das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII), jedenfalls noch abschließend erwähnt werden.137

131 So zu Recht Jung, Eberhard, Das Verhältnis des Elterngeldes zu anderen Sozialleistungen mit Familienbezug, SGb 2007, 449, 450. 132 Vgl. etwa zu § 6a BKGG, durch den die eigentlich klare Trennung von sozialund steuerrechtlichem Kindergeld dogmatisch wieder aufgehoben wurde (hierzu Felix [Fn. 29], Einführung Rn. 15) etwa Wild, Kati, Ein Weg aus der Kinderarmut – Der Kinderzuschlag gemäß § 6a BKGG, ZFSH/SGB 2005, 136. 133 Hierzu auch den Titelbericht in Der Spiegel vom 26.02.2007, 52, 53. 134 Hierzu die Stellungnahme des Deutschen Vereins zum Arbeitsvorhaben des Kompetenzzentrums familienbezogene Leistungen, NDV 2008, 12. 135 BVerfG, NJW 2003, 2733. Konkret ging es um die Handhabung des Kindergeldes im Rahmen des § 1612b BGB (hierzu Becker, Wolfram, § 1612b BGB V n. F. – ein Virus, FamRZ 2001, 1266). 136 Zur Kinderarmut vgl. nur www.Zeit.de/online/2007/34/kinderarmut. 137 Das KJHG bietet ein modernes familienstützendes Angebot für Kinder, Jugendliche und Familien (Rauschenbach/Thomas/Züchner in: Münder, Johannes, Kinder- und Jugendhilferecht, S. 26; dort auch zu den Arbeitsfeldern [S. 54]). § 7 KJHG enthält einen eigenen Kindbegriff.

Kinder im Steuerrecht Von Arndt Schmehl

I. Einführung Die Frage nach der Stellung des Kindes im Recht, die sich unsere Fakultät in diesem Semester zur gemeinsamen Diskussion vorgenommen hat, ist in diesem Beitrag für das Steuerrecht zu stellen. Da die Ringvorlesung auf ein die Fachsparten übergreifendes Gespräch gerichtet ist, wird das Thema im Folgenden vor allem auf die generellen Rechtsgedanken, deren Illustration sowie auf die gegenwärtigen Entwicklungsperspektiven bezogen. Auf der Suche nach den Orten des Kindes im Steuerrecht kann man das Kind zunächst als Subjekt eigener Steuerpflichten antreffen. Darauf möchte ich anschließend (unter II.) zuerst eingehen, verbunden mit einem Brückenbau zum Zivil- und Familienrecht. Kinder stehen außerdem als Konsumenten mit dem Steuerrecht in Berührung. Sie werden dabei gelegentlich auch als Adressaten von erzieherisch begründeten, speziellen Lenkungswirkungen steuerlicher Normen gesehen (dazu unter III.). Dies wird den mit Fragen des Kinder- und Jugendschutzes befassten Fächern an unserer Fakultät besonders nahe liegen. Kinder kommen im Steuerrecht sodann aber insbesondere als Mitglieder von Familien vor, da sie deren wirtschaftliche Verhältnisse wesentlich beeinflussen. Daraus erwächst einer der grundlegenden Themenkreise der öffentlichen Finanzordnung, der daher im Mittelpunkt des Vortrags steht. Er liegt an den Schnittstellen von Steuer-, Sozial- und Familienrecht1 und ist erheblich vom Verfassungsrecht geprägt. Einzugehen ist daraufhin zum einen auf die Frage staatlicher Mindestgewährleistung der allgemeinen wirtschaftlichen Basis für ein Leben mit Kindern (dazu unter IV.), zum anderen auf die Beachtlichkeit besonderer kindesbezogener Bedarfe und Aufwendungen (dazu unter V.) und schließlich auf das Kinder betreffende Verhältnis von Ehegatten- und Familienbesteuerung (dazu unter VI.). Für die Perspektiven ist es in Anbetracht der sich als vielfältig verknotet darstellenden Rechtslage insbesondere von Bedeutung, welcher Spielraum besteht, um eine Umset1 Dazu Felix und Axer, in: Mellinghoff (Hrsg.), Steuern im Sozialstaat, DStJG 29 (2006), 149 u. 175 ff.

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zung neuer Ziele und Instrumente in der Kinder- und Familienpolitik oder sogar einen systematischen Neuentwurf anzugehen (dazu unter VII.).

II. Kinder als Steuersubjekte Dass das Kind im Steuerrecht eine eigenständige Rolle spielt, findet neuerdings einen unverkennbaren verwaltungsmäßigen Ausdruck im Identifikationsnummernverfahren, denn die Meldebehörde übermittelt die Namens-, Wohnungs- und Geburtsdaten des vielfach ersehnten jungen Einwohners auch dem Bundeszentralamt für Steuern.2 Weiter geht es, gleichermaßen lapidar wie zwingend, wie folgt: „Das Bundeszentralamt für Steuern teilt jedem Steuerpflichtigen zum Zwecke der eindeutigen Identifizierung im Besteuerungsverfahren ein einheitliches und dauerhaftes Merkmal (Identifikationsmerkmal) zu.“3 Auch „der Steuerpflichtige ist über die Zuteilung [. . .] unverzüglich zu unterrichten.“4 Das nimmt Kinder nicht aus, denn steuerpflichtig ist etwa nach dem Einkommensteuergesetz jede natürliche Person mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland.5 Das Identifikationsmerkmal „besteht aus zehn Ziffern und einer Prüfziffer als elfter Ziffer“,6 es bleibt ein Leben lang und bei Bedarf noch bis zu zwanzig Jahre länger bestehen.7 Dass die Aufmerksamkeit der Steuerverwaltung auch für sehr junge Einwohner so gründlich ist, geht unter anderem darauf zurück, dass sie ohne weiteres selbst Steuerpflichtige sein können. Dies gehört auch aus Sicht von Eltern und deren Beratern zu den Perspektiven auf Kinder im Steuerrecht, da es eine ganze Reihe von vertraglichen Möglichkeiten gibt, bei Kindern Einkünfte zu installieren und dabei in einer gemeinsamen Gesamtbilanz die Steuerlast zu mindern. Das Steuerrecht knüpft an wesentlich durch ihre wirtschaftlichen Eigenschaften definierte Vorgänge und Zustände an, die zumeist Indikatoren einer ökonomischen Leistungsfähigkeit sind. Ebenso wenig wie die Gesetzes- oder Sittenwidrigkeit eines Verhaltens8 hindert daher die zivilrechtliche Unwirksamkeit eines Vertrags die Steuerbarkeit, falls der Vertragsinhalt trotzdem wirtschaftliche Wirklichkeit geworden ist.9 2

§ 139b Abs. 7 i. V. m. Abs. 6 AO; § 1 Hs. 2 Steueridentifikationsnummernverordnung (StIDV). 3 § 139a Abs. 1 Satz 1 AO. 4 § 139a Abs. 1 Satz 4 AO. 5 § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG. 6 § 1 Hs. 2 StIDV. 7 § 4 StIDV. 8 § 40 AO. 9 § 41 AO.

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Für die Rollenteilung zwischen Steuer- und Zivilrecht läuft dies darauf hinaus, dass das Zivilrecht für den Schutz des Kindes zuständig ist, während das Steuerrecht sich dazu neutral verhält. Die klare Verteilung ist zudem praktisch vorteilhaft. Auf den ersten Blick scheint sie nun genau bei Verträgen zwischen Eltern und Kindern verwischt zu sein, betrachtet man die hierzu entwickelte Rechtsprechung: Sie verlangt, dass unter Familienangehörigen geschlossene Verträge, wollen sie steuerliche Anerkennung finden, nicht nur tatsächlich durchgeführt, sondern auch zivilrechtlich wirksam geschlossen worden sind sowie inhaltlich einen Fremdvergleich bestehen müssen, also im Rahmen dessen zu liegen haben, was auch mit einem fremden Dritten für den Leistungsaustausch vereinbart worden wäre.10 Dass damit auch Aspekte eines Schutzes des Kindes verbunden sein können, ist gleichwohl lediglich als Reflex der eigentlichen Zielrichtung dieser Rechtsprechungsgrundsätze zu verstehen, die vom materiellen Steuerrecht herrühren. Für den Hauptanwendungsbereich, das Einkommensteuerrecht, besteht ihr Grund darin, dass Erwerbs- und Privatsphäre, also Tätigkeit am Markt und Wahrnehmung von familiärer Unterstützung insbesondere durch Unterhaltsgewährung grundsätzlich unterschiedlich behandelt werden und daher eine entsprechende Abgrenzung erforderlich ist. Zugleich muss Familienangehörigen untereinander nicht nur der Abschluss von marktbezogenen Verträgen erlaubt sein, sondern sie dürfen dabei auch nicht gegenüber Beziehungen zu Familienfremden benachteiligt werden; dies ist auch im Diskriminierungsverbot des Art. 6 Abs. 1 GG verankert. Man wird einwenden müssen, dass eine Gleichbehandlung allerdings auf die beschriebene Weise gerade nicht gelingt, schon weil sie eine bereichsspezifische Rechtsprechung speziell für Beziehungen naher Familienangehöriger bedeutet und weil diese durch das Fremdvergleichskriterium einer Inhaltskontrolle der wirtschaftlichen Sinnhaltigkeit des Verhaltens unterworfen wird, die in dieser Weise bei Beziehungen zwischen Familienfremden allgemein nicht stattfindet und sich auf die steuerliche Würdigung insbesondere von ökonomisch ausgesprochen unvorteilhaften Verträgen auswirkt. Die familienbezogene Spezialentwicklung ist gleichwohl gerechtfertigt, da sich eben nur hier die einschlägigen Abgrenzungsprobleme zur Unterhaltsgewährung stellen. Jedoch muss Beachtung finden, dass der Anlass der Entwicklung eben auf diesen Grund beschränkt ist und dass dieser ein neutral fiskalischer und kein etwa auf den Schutz von Kindern bezogener ist. Insbesondere eine möglichst genaue Anknüpfung der geschilderten Rechtsprechung an das Gesetz herzustellen und eine stets drohende weitgehende Loslösung der Rechtsprechungskriterien von ihrer Begründung in der prakti-

10

Übersicht über die Wirkungen z. B. bei Funke-Lachotzki, EStB 2003, 236 ff.

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schen Anwendung zu verhindern, bleibt daher eine Daueraufgabe für das Steuerrecht. In Anbetracht der Gestaltungsfragen ist es kein Zufall, wie die Positionen im stetigen Ringen um die Definition des „Missbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts“ meist verteilt sind, dem jedenfalls § 42 AO dann schließlich die steuerrechtliche Anerkennung versagt und die soeben mit dem Ziel einer Präzisierung und tendenziellen Verschärfung der inhaltlichen und verfahrensmäßigen Anforderungen neu gefasst wurde.11 Die Vorschrift ist nicht nur praktisch, sondern auch in theoretischer und systematischer Hinsicht besonders interessant und schwierig: Geht sie doch davon aus, dass den Möglichkeiten zur Gestaltung wirtschaftlicher Beziehungen, obwohl sie vom (Zivil-)Recht selbst eröffnet werden, zugleich eine Begrenzung beispielsweise des Zwecks, des Umfangs oder der Motive ihrer Nutzung entnommen werden kann, und verlangt dann dem Rechtsanwender die Aussage ab, ob der konkrete Fall jenseits dieser Begrenzungen liegt. Daher mag bezweifelt werden, ob die Norm überhaupt einen eigenständigen Regelungsgehalt hat. Dies ist nach der hier aufgezeigten Normstruktur insoweit zu bejahen, als dass sie die steuerlichen Konsequenzen der Rechtsgestaltung konstitutiv und nicht bloß deklaratorisch begrenzt, indem sie für das Verhältnis des Steuerrechts zur vorgängigen Rechtsgestaltung eine eigene allgemeine Regel setzt. Die Regelung ist daher nicht bloß eigenständig, sondern als Grundentscheidung über die Maßgaben der Aufnahmefähigkeit des Steuerrechts für zivilrechtliche Gestaltungen grundlegend. Die Gefahr, dabei vom Ergebnis statt von der Begründung her zu denken, liegt nahe. Daher ist die gesetzliche Neufassung – unabhängig von ihrer rechtspolitischen Beurteilung im Übrigen – jedenfalls hinsichtlich ihrer klärenden Wirkungen verdienstvoll, indem sie den Missbrauchstatbestand durch eine Übernahme des Angemessenheitskriteriums aus der bisherigen Rechtsprechung weitgehend objektiv und steuerrechtsbezogen ausrichtet und durch eine Beweislastregel mit einem Konkretisierungsprozess verbindet. Ein Missbrauch liegt demnach vor, wenn „eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Steuerpflichtigen oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt. Dies gilt nicht, wenn der Steuerpflichtige für die gewählte Gestaltung außersteuerliche Gründe nachweist, die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beachtlich sind.“ Liegt es so, dann wird durch die Missbrauchsnorm das Verhältnis von zivilrechtlicher 11

Zur Reformkontroverse Crezelius, DB 2007, 1428 ff.; Borggreve, AOStB 2007, 333 ff.; Brockmeyer, DStR 2007, 1325 ff.; Geerling/Gorbauch, DStR 2007, 1703 ff.

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Wirksamkeit und wirtschaftlicher Sinnhaltigkeit als steuerrechtlich relevanter Widerspruch aufgedeckt und insoweit der eigenen Rationalität des Steuerrechts der Vorrang verschafft.

III. Kinder als Schutzobjekte und Erziehungsadressaten steuerlicher Lenkungsnormen Überlässt das Steuerrecht in der vorher besprochenen Sichtweise die Fragen des Schutzes der Kinder also trotz allem letztlich dem Zivilrecht und konzentriert sich stattdessen darauf, dessen wirtschaftliche Folgen steuerrechtlich abzubilden, so gibt es im Steuerrecht auch die komplett umgekehrte Unterordnung, indem die wirtschaftlichen Folgen der Besteuerung als Schutz- und Erziehungsmaßnahme eingesetzt werden. Hier wird das Steuerrecht wieder andere Fachkolleginnen und -kollegen ansprechen als im vorigen Teil. So ist das Steuerrecht der Sache nach auch Kinder- und Jugendschutzrecht und Verbraucherschutzrecht, wenn es beispielsweise eine Sondersteuer für bestimmte alkoholhaltige Süßgetränke „verhängt“, weil diese durch eine für eine junge Zielgruppe verführerische Mischung von Limonaden und hochprozentigen Alkoholika sowie ein einschlägig „buntes“ und zugleich „cooles“ Marketing besonders für junge Konsumentinnen und Konsumenten attraktiv gemacht werden. Das 2004 in Kraft getretene Alkopopsteuergesetz definiert die Alkopopsteuer offen als „Sondersteuer zum Schutz junger Menschen“ und benennt als „Alkopops im Sinne dieses Gesetzes“, etwas vereinfacht gesagt, solche Getränke, die aus einer Mischung von prinzipiell alkoholfreien Getränken mit Branntweinen bestehen, einen Alkoholgehalt von bis zu 10 Volumenprozent aufweisen und trinkfertig gemischt oder in gemeinsam verpackten Komponenten angeboten werden.12 Nicht nur der Steuertatbestand, auch das Steuermehraufkommen wird der Gesundheit insbesondere der Jugend gewidmet, indem es für die Finanzierung von Maßnahmen zur Suchtprävention der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gesetzlich zweckgebunden ist.13 Die Steuer macht bei Getränken in handelsüblicher Größe (z. B. 0,275 l, Alk. 5,5% vol.) 84 Cent aus, zu denen die Umsatzsteuermehrbelastung hinzutritt. Ihre unmittelbar wirtschaftlichen, aber auch symbolischen Wirkungen begründen die Plausbilität der Annahme, dass sie neben anderen Einflüssen zu dem feststellbaren, erheblichen Rückgang des Konsums beigetra12 § 1 AlkopopStG. Zu Verfassungsmäßigkeit und Abgrenzungsproblemen Pfab, DStZ 2006, 249 ff. 13 § 4 AlkopopStG.

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gen haben. Beispielsweise ist der Anteil der Jugendlichen, die angeben, mindestens einmal im Monat spirituosenhaltige Alkopops zu trinken, von 28 Prozent im Jahr 2004 auf 16 Prozent im Jahr 2005 gesunken.14 Der Aufenthalt bei der Alkopopsteuer soll hier nur ein kurzer bleiben, denn aus spezifisch steuerrechtlicher Sicht stehen sicherlich die allgemeinen Funktionen der öffentlichen Finanzordnung in Bezug auf Kinder im Mittelpunkt des Interesses.

IV. Die Gewährleistung einer wirtschaftlichen Mindestbasis für ein Leben mit Kindern – zwischen Einkommensteuerrecht und Sozialrecht 1. Funktionen des Steuerrechts in Bezug auf Kinder und Familie Eine Schlüsselfrage zum Verständnis dieser Funktionen liegt darin, welche Aufgaben das Steuerrecht bei der wirtschaftlichen Ermöglichung und Unterstützung eines Lebens mit Kindern hat und wie demgegenüber die Rolle des Sozialrechts und anderer Förderungsmittel zu bestimmen ist. Inwieweit soll die Berücksichtigung der durch Kinder entstehenden wirtschaftlichen Belastungen der Familie eine Frage der Verschonung vorhandener wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Eltern sein – inwieweit ist sie hingegen eine Frage der Bereitstellung staatlicher Hilfe? Diese Weichenstellung ist nicht nur für das Thema vom „Kind im Recht“ bedeutsam, sondern auch ungebrochen aktuell, spielt sie doch in die Diskussion darüber hinein, auf welche Weise die staatliche Mitverantwortung für Kinder und Familie angemessen wahrzunehmen ist. Es besteht erheblicher Anlass, dies auch hinsichtlich der Wirksamkeit des Mitteleinsatzes zu beobachten, denn dessen Ergebnisse werden oft als nicht zufriedenstellend betrachtet, obwohl sich sein Umfang sehr wohl sehen lassen kann. So werden die finanziellen Auswirkungen familienpolitischer Maßnahmen etwa für das Jahr 2005 vom Bundesfinanzministerium auf 41 Mrd. e für steuerliche und 18 Mrd. e für sozialpolitische Maßnahmen des Bundes beziffert, zu denen die Kosten der Jugendhilfe und Kindergärten von ca. 13 Mrd. e und der beitragsfreien Mitversicherung der Kinder in der Gesetzlichen Krankenund Pflegeversicherung von ca. 12 Mrd. e hinzutreten, was zusammen mit annähernd 85 Mrd. e pro Jahr durchschnittlich etwa 400 e für jedes Kind im Monat ausmacht. Weiter gefasste Begriffe von familien- und kindbezo14

Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des Alkopopsteuergesetzes auf den Alkoholkonsum von Jugendlichen unter 18 Jahren sowie die Marktentwicklung von Alkopops und vergleichbaren Getränken, BT-Drs. 5929, S. 2.

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genen staatlichen Leistungen, wie sie etwa unter Einbeziehung der Sachleistungen der Gebietskörperschaften gefasst werden, kommen auf 150 Mrd. e (Bundesbank, 2000) oder 180 Mrd. e (Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, 2001).15 Die „steuerrechtliche“ Strategie der Berücksichtigung von Kindern geht vornehmlich davon aus, dass die Familie wirtschaftlich für die Kinder sorgt und durch diese belastet wird, und bezieht meist den Effekt mit ein, dass Steuerfreistellungen von Einkommensanteilen bei mit dem Einkommen steigenden, progressiven Steuersätzen eine höhere absolute Entlastung für Bezieher höherer Einkommen haben und somit die Kinderentlastung an der höheren Leistungsfähigkeit der Familie teilhaben lassen. Demgegenüber würde sich die, grob umrissen, „sozialrechtliche“ Sichtweise primär an der Bedarfsgerechtigkeit pro Kind orientieren. In dem Wechsel von der seit 1955 geltenden, kombinierten Steuerfreibetrags- und Kindergeldlösung, die vor allem noch auf „kinderreiche“ Familien zielte, zur reinen Kindergeldlösung ohne Steuerfreibetrag 1974/1975 und wieder zurück zum dualen System 1982/1983 kommen diese unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen besonders stark zum Ausdruck.16 Es wirkt zuerst erstaunlich, dass diese wesentlich der politischen Grundausrichtung anheim gegebene Thematik heute zu wesentlichen Teilen rechtlich bestimmt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit mit seiner Rechtsprechung zur steuerlichen Behandlung des Mindest-Kinderbedarfs wichtige Grundlinien festgeschrieben. Sie sind auch deshalb bedeutsam, weil der Zustand der kinder- und familienbezogenen Steuerbestimmungen oft als hoffnungslos unübersichtlich und verflochten empfunden wird. Veränderungen dieses Zustands können allenfalls dann gelingen, wenn im Gedächtnis behalten wird, wie es zu ihm gekommen ist und wo genau die verfassungsrechtlichen Rahmensetzungen über den Einzelfall hinaus liegen. 2. Der Gedanke der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums für ein Leben mit Kindern Den Eltern für ein Leben mit Kindern nicht dasjenige mit der einen Hand zu nehmen, was man ihnen mit der anderen Hand wieder geben müsste, ist durchaus ein einleuchtender Gedanke für eine Rechtsordnung, die sich unter anderem den Zielen der inneren Kohärenz und der Freiheits15

Vorstehende Angaben jeweils aus dem BMF-Monatsbericht 9/2005, 45. Historischer Überblick etwa in Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Gerechtigkeit für Familien, 2002, 16–29. 16

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schonung verpflichtet sieht.17 Er liegt dem heutigen Sozialrecht umso mehr nahe, als es den Gedanken der Eigenverantwortlichkeit betont, die Entfaltungsraum braucht. Dazu passt es, denjenigen, der für sich und seine Familie ganz oder teilweise selbst sorgen kann, nicht so zu belasten, dass er sich trotzdem um direkte staatliche Transferleistungen bemühen muss. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist eine steuerrechtliche Freistellung des Familienexistenzminimums folgerichtig begründbar, allerdings insbesondere wegen des Spielraums des Gesetzgebers bei der Definition des steuerlichen Belastungsgegenstands nicht vollauf alternativlos: Die Herleitung muss nämlich neben der Achtung für die Entscheidung von Eltern zugunsten von Kindern außerdem zu Grunde legen, dass der Maßstab der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit als Legitimationsbasis des Steuereingriffs nicht allein am Vermögenszugang, sondern in bestimmter Hinsicht auch an der konsumbezogenen Fähigkeit bemessen werden muss, hiervon ungebunden Ausgaben zu tätigen. 3. Mangelnde Familiengerechtigkeit der allgemeinen Verbrauchsteuer Die aufgezeigte Idee lässt sich in weiten Teilen des Steuerrechts nicht verwirklichen. Dies gilt bereits für die neben der Einkommensteuer aufkommensstärkste Steuerart, die Umsatzsteuer. In dieser allgemeinen Verbrauchsteuer ist es sowohl praktisch ausgeschlossen als auch vom Belastungsansatz her nicht konsequent, für die Verschonung eines notwendig auf die Person des Endabnehmers bezogenen Existenzminimums zu sorgen. Mit der Verbilligung des Steuersatzes für bestimmte Güter kann ein allgemeiner sozialpolitischer Zweck verfolgt, nicht aber das Existenzminimum bestimmter Personen gewährleistet werden. Die indirekten Steuern verlangen generell nicht nach „Familiengerechtigkeit“, in ihnen ist sogar eine relativ stärkere Belastung der Familien angelegt und folgerichtig – mit der Konsequenz, dass man Familiengerechtigkeit von ihnen auch verfassungsrechtlich nicht verlangt.18 Es besteht nicht nur keine Verpflichtung zu einer familiengerechten Umsatzsteuer, sondern es fehlt dem deutschen Gesetzgeber übrigens sogar weitgehend an der Möglichkeit dazu. Auch die für Kinder verbrauchten Güter und Leistungen unterfallen der positiven Harmonisierung durch das Gemeinschaftsrecht, insbesondere der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie,19 die 17 Grundlegende Untersuchung durch Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993. 18 Vgl. BVerfG, NJW 1999, 3478 ff.

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insoweit wenig Spielraum belässt. Dies hat weiterhin zur Folge, dass das Bundesverfassungsgericht das nationale Recht regelmäßig schon nicht auf die Vereinbarkeit mit Grundrechten überprüft, soweit nicht der nationale Gesetzgeber Spielräume bei der Umsetzung der Richtlinie hat.20 Als der Ort im Steuerrecht, an dem Familienverhältnisse berücksichtigt werden können, verbleibt die auf natürliche Personen bezogene Besteuerung des Hinzuerwerbs, also im Wesentlichen nur die Einkommensteuer. Dies macht die starke Abhängigkeit des Steuerverfassungsrechts von den systematischen Grundentscheidungen des Gesetzgebers deutlich und markiert zudem, warum trotz eines Vielsteuersystems doch letztlich die Einkommensteuer explizit viele gesellschaftspolitisch zentrale Funktionen schultert – was mit Tendenzen zur Überforderung und damit zugleich zur Überschätzung der Bedeutung des Einkommensteuerrechts verbunden sein kann. Jedenfalls wird sich hier der wichtigste Ort für das „Kind im Steuerrecht“ befinden; dieser Effekt hat sogar selbstverstärkende Anteile, da die Folgen der umsatzsteuerlichen Belastung bei der Familienbesteuerung im Rahmen der Einkommensteuer berücksichtigt werden.21 4. Die Verankerung des Familienexistenzminimums im Einkommensteuerrecht So einleuchtend die Idee einer Steuerbefreiung des Familienexistenzminimums prinzipiell politisch und steuersystematisch ist, so fern ist seine Umsetzung, wenn der Gesetzgeber sie nicht ganz aus freien Stücken verwirklicht. Das Bundesverfassungsgericht hat sie aber, unterstützt von anderen Akteuren, trotzdem durchzusetzen gewusst, und zwar mit einem zusätzlich spezifizierten Inhalt. a) 1976: Ausgabenbezogene Aspekte der Leistungsfähigkeit und subjektives Nettoprinzip im Rahmen einer familienleistungsbezogenen Gesamtschau Eine solche Durchsetzung ist nicht ohne erhebliche Beschränkung des gesetzgeberischen Spielraums im Verhältnis von Steuer- und Sozialrecht möglich. Derer hat sich das Bundesverfassungsgericht zuerst, 1976,22 noch vergleichsweise stark enthalten. Die Abschaffung der steuerlichen Kinderfrei19 RL 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem v. 28.11.2006, ABl. L 347. 20 Vgl. BVerfG, NVwZ 2007, 937 ff. 21 Vgl. BVerfG, NJW 1999, 3478 ff. 22 BVerfGE 43, 108 ff.

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beträge und die Umstellung des Systems auf ein einkommensunabhängiges Kindergeld befand der Erste Senat als einen hinnehmbaren Ausdruck gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit, solange auf diese Weise die Belastung durch Unterhaltsverpflichtungen hinreichend beachtet werde. Einkommensteuerliche Freibeträge, eine Negativsteuer oder Kindergeld stünden zur Wahl. Denn: Das Ziel könne, wie seinerzeit angestrebt, auch die Überlegung einschließen, Defizite an Chancengleichheit von Kindern mit verschiedenen Einkommensverhältnissen durch eine Gleichbehandlung im Sinne fester Geldbeträge abzubauen, zumal höhere Unterhaltsbelastungen bei höheren Einkommen auch relativ weniger belastend wirkten. Zwar weist das Bundesverfassungsgericht schon darauf hin, dass das Gebot der Steuergerechtigkeit, die Besteuerung nach der (wirtschaftlichen) Leistungsfähigkeit auszurichten, eine Beachtung des Kindesunterhalts wegen dessen Unvermeidbarkeit verlange. Es müsse aber nicht so interpretiert werden, dass der für den Konsum der Kinder verwendete Teil des Einkommens auszunehmen sei; das Gericht weist darauf hin, dass das Einkommensteuerrecht vielmehr zwischen Einkommenserzielung und Einkommensverwendung unterscheide und zunächst einmal erstere als ihren Gegenstand betrachte. Außerdem helfe der Staat den Eltern bei ihrer individuellen Verantwortung für die Kinder auch durch das Bildungssystem sowie steuerlich im Bereich der Vorsorge- und sonstigen Aufwendungen. Die Entscheidung basiert damit darauf, dass der vom Bundesverfassungsgericht auf den damals meist noch nicht als Familienleistungs-, sondern als Familienlastenausgleich bezeichneten Gegenstand23 einen weiten, die verschiedenen Instrumente integrierenden Horizont aufweist und zugleich auch die gesetzgeberische Gestaltbarkeit des steuerlichen Leistungsfähigkeitsbegriffs stark respektiert. Die Entscheidung mag aus heutiger Sicht eher restriktiv gegenüber Art. 6 Abs. 1 GG im Steuerrecht klingen, was auf der „verwässernden“ Wirkung der Gesamtbetrachtungsweise beruht. Jedoch ist in der Entscheidung trotzdem schon ein Verfassungsrang für ein subjektives Nettoprinzip in dem Sinne festgehalten, dass unvermeidbare persönliche Ausgaben bei der Leistungsfähigkeitsmessung zu beachten sind. Damit war durchaus bereits ein Anknüpfungspunkt für die Neuausrichtung gegeben, als die dann die nachfolgende Entscheidung von 1990 empfunden worden ist.

23

Dazu Renner, Familienlasten- oder Familienleistungsausgleich, 2000.

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b) 1990: Einkommensteuerliches Familienexistenzminimum als Folge der notwendigen Kohärenz zum Sozialhilfeminimum Grundlegend für eine stärkere Bindung in bestimmter Hinsicht entschied sich der Erste Senat 1990.24 Daraus entsteht eine der systematisch bedeutsamsten und wirkungsvollsten Rechtsprechungslinien für die Steuer- und Sozialordnung,25 die gerichtlich zunehmend bis in Einzelstrukturen hinein ausbuchstabiert wurde. Der Ausgangsfall bezog sich auf die ersten Anwendungszeiträume der 1982/1983 erfolgten Rück-Umstellung des Familienleistungsausgleichs von der Sozialleistung des Kindergeldes auf ein zweispuriges System. Die Begründung stellt in den Mittelpunkt, die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Existenzminimums letztlich als eine einheitlich zu betrachtend, um sodann Systemkohärenz zu verlangen: Als Rechtsgrundlage wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz herangezogen, die verlangt, dem mittellosen Bürger den Betrag, den er zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt, bereitzustellen. Im gleichen Umfang dürfe selbst Erworbenes dann aber auch nicht entzogen werden. Dies betreffe in Anbetracht von Art. 6 Abs. 1 GG auch das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder. Auf dieser Grundlage trifft der Senat die Aussage, dass das Familienexistenzminimum steuerfrei bleiben muss, wenn der Staat dem Steuerpflichtigen die Unterstützung der Familienmitglieder selbst überlässt. Wegen des Allgemeinen Gleichheitssatzes in Verbindung mit der Grundsatzentscheidung für den Schutz der Familie komme dann hinzu, dass das Familienexistenzminimum dem Steuerpflichtigen nicht nur nach Steuern verbleiben müsse, sondern überhaupt nicht besteuert werden dürfe, da nur dann keine Benachteiligung gegenüber Steuerpflichtigen ohne Kinder eintrete. c) 1992: Einkommensteuerliches Familienexistenzminimum als Folge der individuellen Funktion der Erwerbstätigkeit Wirkt der Beschluss des Ersten Senats doch noch wesentlich wie ein Weiterdenken des Gesetzes und die Forderung nach dessen Kohärenz und Systemgerechtigkeit, so wählte der Zweite Senat zwei Jahre später,26 ohne eine Divergenz anzusprechen, einen zweiten Ansatz. Statt weitgehend vom Sozial- auf das Steuerrecht zu schließen, wird nun von einer steuerrecht24 25 26

BVerfGE 82, 60 ff. Dazu auch P. Kirchhof, StuW 1990, 331 ff. BVerfGE 87, 153 ff.

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lichen Wurzel aus auf die sozialrechtlichen Grundsätze Bezug genommen. So erhält die steuerrechtliche Tradition von Freibeträgen bereits im Sachbericht breiten Raum. Im Maßstabsteil wird die Steuerbefreiung des Existenzminimums sodann daraus hergeleitet, dass Steuergesetze in die allgemeine Handlungsfreiheit in ihrer Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen und im beruflichen Bereich (Art. 14 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG) eingreifen. Dies bedeute, dass ein Steuergesetz keine erdrosselnde Wirkung haben dürfe. Folglich müsse dem Steuerpflichtigen ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich, also der Privatnützigkeit und der Verfügungsbefugnis über das Erworbene erhalten bleiben. Der existenznotwendige Bedarf für die Familie bilde daher die Grenze, die allerdings nicht unbedingt einen entsprechenden Freibetrag verlange, sondern auch auf andere Weise gesichert werden könne. Damit wird wertungsreich vom Sinn der erwerbsbezogenen Grundrechtsausübung und ihrer staatlichen Rahmensetzung aus argumentiert. Die teleologische Interpretation des Sachverhalts „Einkommenserzielung und seine Besteuerung“ bildet die Schaltstelle der Herleitung. Sie bedeutet zugleich die Zurückweisung einer rein an ökonomischen Größenordnungen orientierten Betrachtung der Einkommensteuer und ordnet dieser, soweit es um das Existenzminimum geht, eine Orientierung an einer bedarfs- und damit an einer verbrauchsbezogenen Größe zwingend zu, obwohl das Einkommensteuerrecht sich die Frage, inwieweit es sich eine konsumorientierte Betrachtung beilegt, ansonsten selbst offen hält. Die stetige Ermittlung des aktuellen Existenzminimums anhand von Verbrauchsdaten auch von Kindern ist daraufhin jetzt eine feste Größe des Steuerrechts mit eigener Institutionalisierung. So legt die Bundesregierung inzwischen in einem Existenzminimumbericht regelmäßig Rechenschaft darüber ab. Eine Kontrolle ist prinzipiell dauerhaft beim Bundesverfassungsgericht angesiedelt. Dies ließ etwa die Anwendung der „Mehrbedarfs-“ anstelle der „Pro-Kopf-Methode“ bei der Ermittlung des Wohnbedarfs zum Gegenstand einer Verfassungsgerichtsentscheidung werden und führte dazu, dass das Bundesverfassungsgericht selbst vorrechnete, dass unter bestimmten Prämissen der existenznotwendige Mindestbedarf eines Kindes beispielsweise im Veranlagungszeitraum 1987 4.416 DM pro Kind und Jahr betrage.27 Dadurch hat das Kind mit seinen Grundbedürfnissen einen sehr fest gefügten Ort im Steuerrecht gefunden. Zwar stünden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht einer Regelung entgegen, die der kindesbedingten Belastung im Sozialrecht durch die Gewährung eines ausreichenden Kindergeldes Rechnung trägt. So ist ein Vorrang des völligen Eingriffsverzichts 27

BVerfGE 99, 246 ff.

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vor einer Kindergeldzahlung nicht absolut verfassungsrechtlich verankert; es kann etwa ein Nehmen der Lohnsteuer mit einem gleichzeitigen Geben des Kindergeldes verbunden werden. Die Ergebnisse müssen aber in ihren Auswirkungen gleichwertig sein.28 Ein einheitliches Kindergeld als einziges Mittel würde diesen Anforderungen nur genügen, wenn es so hoch wäre, dass es auch in der höchsten Steuersatzzone noch die Wirkung des Kinderfreibetrags hat. Spielraum verbleibt nur im über das steuerbezogene Existenzminimum hinaus gehenden Teil des Kindergeldes. Die Anordnung der Stellschrauben der finanziellen Familienförderung ist damit in der jetzigen Konstellation zum erheblichen Teil auf die Verfassungsrechtsprechung zurückzuführen, die juristisch nicht alternativlos war. Inhaltlich sind das Steuer- und das Sozialrecht daraufhin bei der Bewahrung des Kinderexistenzminimums eine Rollenverbindung eingegangen, in der die steuerliche Seite stärker inhaltsbestimmend ist. Obwohl das Kindergeld teilweise die Form und den Inhalt einer Sozialleistung behält und daher auch gut in einem sozialrechtlichen Gesetz aufgehoben wäre, ist es auf der geschilderten Basis wegen der inhaltlichen Dominanz der steuerlichen Seite gleichwohl konsequent, dass sich der allgemeine Familienleistungsausgleich, bestehend aus Kindergeld und Steuerfreibeträgen, in dem seit 1996 eingeführten, neuen System im Einkommensteuergesetz findet. Das Kindergeld bewerkstelligt nun zuerst die Steuerfreistellung des Existenzminimums und des allgemeinen Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarfs und wird, soweit es im Ergebnis darüber hinausgeht, zur Familienförderungsmaßnahme,29 was sich vor allem bei Familien mit vergleichweise geringem Einkommen und großer Kinderzahl eigenständig auswirkt. Die Einkommensgrenze, ab der die Entlastung durch Freibeträge höher ist als durch Kindergeld, verlief 2005 für Alleinstehende bei 32.827 e.30 Die Steuermindereinnahmen durch das Kindergeld machten etwa im Jahr 2005 ca. 34,5 Mrd. e, durch den Kinderfreibetrag ca. 1,4 Mrd. e aus.31 Die Bedeutung dieser Entlastungselemente als Schwergewichte der Kinder- und Familienförderung wirkt sich auch dahin aus, dass Veränderungen stark zu Buche schlagen; so macht eine Erhöhung des Kindergeldes um 5 e für jedes Kind knapp 1,1 Mrd. e jährlich aus.32 Bei der Verstärkung familienpolitischer Mittel erlangt daher die Überlegung, ob sich anstelle von Erhöhungen des Kindergeldes alternative Verwendungen der Ressourcen anbieten, zu Recht zunehmende Aufmerksamkeit. 28 29 30 31 32

BVerfGE 99, 246 ff. § 31 S. 1–2 EStG. BMF, Steuerpolitische Datensammlung 2005, 60. BMF-Monatsbericht 9/2005, 46. BMF, Steuerpolitische Datensammlung 2005, 69.

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d) 1998: Die Mindestgarantie für Betreuungs- und Erziehungsbedarf ohne Rücksicht auf tatsächlichen Aufwand Die nächste Entwicklungsstufe erreichte die Verfassungsrechtsprechung 1998,33 indem der Zweite Senat das Thema außerhalb des vom zu entscheidenden Fall gebotenen Umfangs nun noch grundsätzlicher aufnahm – mit der Folge einer erheblichen Erweiterung des steuerlichen Kinder-Existenzminimums unter Inkaufnahme eines Bruchs mit der vom Gesetzgeber vorgesehenen Konzeption der Einkommensteuer in der Begründung. aa) Folgerungen aus dem Gegenstand und Zweck des Schutzes der Familie für die Verfassungsmäßigkeit ihrer Besteuerung Der Sachverhalt betraf lediglich die Frage einer Benachteiligung von Ehepaaren durch Freibeträge, die nur Unverheirateten wegen Mehrbelastungen aus Anlass von Kindesbetreuung und -erziehung gewährt wurden. Der Senat nahm dies zum Anlass, um auszuführen, dass die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht seien. Es bestehe verfassungsrechtlich eine umfassende Elternverantwortlichkeit für die Entwicklung der Befähigung des Kindes zu einem verantwortlichen Leben in der Gesellschaft. Neben deren wirtschaftlichem Bedarf müsse auch ihr Bedürfnis nach Unterstützung, Anleitung und Vermittlung praktischer und kultureller Erfahrungen von den Eltern durch Betreuungs- und Erziehungsleistungen gedeckt werden. Diese Pflicht erfüllten die Eltern in der Familie, die vor allem Erziehungsgemeinschaft, aber auch Wirtschaftsgemeinschaft sei. Dies sei zwar eine höchstpersönliche Verantwortung, die aber nicht ausschließlich in eigener Person wahrgenommen werden müsse, denn, wie schon früher entschieden worden sei, garantiere Art. 6 Abs. 1 GG als Abwehrrecht die Freiheit, über die Art und Weise der Gestaltung des ehelichen und familiären Zusammenlebens selbst zu entscheiden. Das sei vom Staat sowohl im persönlichen wie im wirtschaftlichen Bereich zu respektieren. bb) Der Betreuungs- und der Erziehungsbedarf als verfassungsund steuerrechtliche Größen In der Folge betrachtet das Bundesverfassungsgericht die Steuerbelastung so, dass die ihm zugrunde liegende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht nur durch den existentiellen Sachbedarf und einen erwerbsbedingten Betreu33

BVerfGE 99, 216 ff.

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ungsbedarf des Kindes, sondern generell durch den Betreuungsbedarf gemindert ist: Denn schon die Betreuungspflichten führten dazu, dass die Steuerpflichtigen mit Kindern steuerlich weniger leistungsfähig seien. Um der gleichzeitig zu gewährleistenden Entscheidungsfreiheit der Eltern gerecht zu werden, müsse dies dann unabhängig davon gelten, ob die Eltern das Kind persönlich betreuen oder eine Fremdbetreuung in Anspruch nehmen. Der „Betreuungsbedarf“ ist nach der Auffassung des Senats als Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen, ohne dass es auf tatsächlich getätigte Aufwendungen ankommt. Zusätzlich fordert er die Steuerfreistellung des „Erziehungsbedarfs“ wegen der jenseits des Sozialhilfesatzes notwendigen Aufwendungen für die persönliche Entfaltung und Entwicklung des Kindes zu Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Dies umfasse beispielsweise die außerhäusliche Begegnung mit anderen, das Erlernen von Kommunikationstechniken, Kultur und Sprache und die verantwortliche Freizeit- und Feriengestaltung. Neben dieser besonders konkreten und daher spektakulären Seite der Entscheidung geraten deren weitere Ausführungen zu oft in Vergessenheit. Dabei sorgen diese erst für eine akzeptable Ausgewogenheit des Beschlusses. Sie betreffen die Schutzpflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG als, so das Gericht, Aufgabe des Staates, die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern. Ein ganzes Bündel weiterer Ziele, die auch einem Grundkonsens der Kinder- und Familienpolitik entsprechen, schlägt daraufhin gewisse verfassungsrechtliche Wurzeln: So hat der Staat nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dafür Sorge zu tragen, dass es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und zeitweise auf eine eigene Erwerbstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten wie auch Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden. Dazu gehörten auch die Voraussetzungen dafür, dass die Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führe, ein Nacheinander und Nebeneinander beider Lebensbereiche einschließlich beruflichen Aufstiegs für beide Elternteile während und nach Zeiten der Kindererziehung ermöglicht und die Angebote der institutionellen Kinderbetreuung verbessert würden. Die Rechtsprechung zum Betreuungs- und Erziehungsbedarf entstammt einer ähnlichen Denkweise wie diejenige, die das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis geführt hat, beim Pflegeversicherungsbeitrag müsse zwischen Eltern und Kinderlosen unterschieden werden. Dort konnte das Gericht nur noch einen Schritt weiter gehen, indem es nicht nur die grundrechtliche Freiheit der Familiengründung mit der Anerkennung von deren auch wirtschaftlich belastenden Wirkungen in der Gegenwart verbindet, sondern sich zusätzlich explizit auf die monetäre Verdienstlichkeit der Ge-

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währleistung von Betreuung und Erziehung von Kindern stützt, die es aus der Systementscheidung für die Umlagefinanzierung der Pflegeversicherung entnimmt.34 Dass eine Volkswirtschaft auch jenseits abgetrennter Umlagesysteme auf eine gelingende Generationenfolge angewiesen ist, passt zur verfassungsrechtlichen Fundierung der Anerkennung von Kinderbetreuungsund Erziehungsleistungen auch im Steuersystem. Die Begründung der Pflicht zur Freistellung des Betreuungs- und Erziehungsbedarfs ohne Rücksicht auf den Aufwand bedingt, entweder bloß denkbare Aufwendungen oder den Verzicht auf bloß denkbare Einnahmen zum zwingenden Gegenstand der steuerlichen Betrachtung werden zu lassen. Das steht ganz im Gegensatz zu dem vom Gesetzgeber zu Grunde gelegten Belastungsansatz der Einkommensteuer, bei dem nicht real geschehene wirtschaftliche Transaktionen prinzipiell keine Rolle spielen. Der Schritt zu einer Loslösung von diesem Ansatz ist auch deshalb ambivalent, weil er Gleichbehandlungsforderungen weiterer Gruppen von Steuerpflichtigen auf sich zieht, deren politische oder rechtliche Durchsetzung dann zu einer verstärkten Bindung familienbezogener Mittel im steuerlichen Bereich und der entsprechenden Einbuße an familienpolitischem Spielraum führt. cc) Die Umsetzung durch den Gesetzgeber Der Gesetzgeber hat zur Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht vorgesehenen Pflicht, die wirtschaftlichen Belastungswirkungen von Betreuungs- und Erziehungsbedarf aufwandsunabhängig realitätsgerecht zu beachten, die Freibetragslösung gewählt.35 Gegenwärtig werden pro berücksichtigungsfähigem Kind36 zusammen Kinderfreibeträge für das sächliche Existenzminimum von 3.648 e und Freibeträge für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf von 2.160 e, zusammen also ein steuerfreier Betrag je Kind von 5.808 e p.a. angesetzt.37 Vom allgemeinen Grundfreibetrag aller Steuerpflichtigen, der 7.664 e beträgt38, ist dies nicht weit entfernt.

34

BVerfGE 103, 242 ff. Zum genauen Inhalt der formulierten Anforderungen und zu ihrer gesetzgeberischen Umsetzung insbes. Schön, DStR 1999, 1677 ff.; Arndt/Schumacher, NJW 1999, 1689 ff.; Heuermann, DStR 2000, 1546 ff.; Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 ff.; Felix, NJW 2001, 3073 ff.; Lange, ZRP 2000, 415 ff.; Schneider, DStR 2002, 64 ff. 36 Zur Abgrenzung, insbesondere nach Alters- und Ausbildungskriterien, siehe § 32 Abs. 1–5 EStG. 37 § 32 Abs. 6 S. 1–2 EStG. 38 § 32a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EStG. 35

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Ein Effekt der Freibetragslösungen ist es, dass die Steuerminderung für eigene Betreuungs- und Erziehungsleistungen der Eltern von der Höhe ihrer Einkünfte abhängt. Da das Bundesverfassungsgericht gerade die Unabhängigkeit der Belastungswirkung vom tatsächlichen Aufwand angenommen, sich also von der spezifisch steuerlichen Belastungsidee der Anknüpfung an den wirtschaftlichen Saldo gelöst und im Kern vor allem die Gleichbehandlung von Eigen- und Fremdbetreuung hinsichtlich des Mindestbedarfs für Betreuung und Erziehung verlangt hat, wäre stattdessen, entgegen anders lautender Interpretationen, auch die Zuschusslösung mit der Rechtsprechung vereinbar gewesen.39 Dieses Verständnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist auch deshalb angebracht, weil die vom Gericht angesprochene Gleichstellung von tatsächlichen Aufwendungen mit ersparten oder jedenfalls nicht erbrachten Aufwendungen schwerlich mit dem Grundgesetz vereinbar wäre, wenn sie als ausschließlich durch Steuerfreibeträge umsetzbar verstanden werden würde: Dies würde dem Gesetzgeber die Möglichkeit entziehen, familiäre Betreuungs- und Erziehungsleistungen bei Steuerpflichtigen generell nach nicht-steuerlichen Kriterien zu bewerten und ihn seines anerkanntermaßen weit zu bemessenden Spielraums bei der Festlegung der grundsätzlichen Gegenstände der Besteuerung berauben, indem er den wirtschaftlichen Wert von immateriellen Elternleistungen an ihre Kinder zwingend in Abhängigkeit vom Elterneinkommen zu bewerten hätte. dd) Das Verhältnis zu den eigenen Einkünften der Kinder Ein anderer Kreis schließt sich zwischen Freibeträgen bei den Eltern und der oben beleuchteten, eigenen Rolle der Kinder als Steuerpflichtige.40 Es ist gerechtfertigt, eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes, die zur Deckung seines eigenen Existenzminimums hinsichtlich von Unterhalt und Berufsausbildung beizutragen geeignet sind, darauf in Ansatz zu bringen. Das Gesetz41 geht allerdings motivationshemmend vor, indem ab dem Überschreiten eines bestimmten Betrags solcher Einkünfte und Bezüge, 7680 e pro Jahr, sogleich das Kindergeld und die Freibeträge bei 18-jährigen und älteren Kindern vollständig entfallen. Dies ist zwar steuersystematisch nicht falsch, da es um den Verdienst des Kindes einerseits, aber Steuervorteile lediglich der Eltern andererseits geht und letztere mit dem Wegfall von Unterhaltspflichten nicht mehr erforderlich sind. Die Grenze 39

Hierzu und zum Folgenden Lange, ZRP 2000, 415 ff. Zum Problemkreis Hillmoth, DStR 2007, 2141 ff.; Ulmer, DStZ 2000, 596 ff.; Felix, FR 2001, 832 ff.; Hidien/Anzinger, FR 2005, 1016 ff. 41 § 32 Abs. 4 S. 2 EStG. 40

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ist zudem immerhin auch höher angesetzt als die steuerlichen Freibeträge für ein sogar auswärtig untergebrachtes Kind in Ausbildung, was eine gewisse zeitliche Übergangsphase berücksichtigt. Die „Fallbeilwirkung“ des Wegfalls der Vergünstigung ist aber im Vergleich zum gleitenden Übergang unglücklich, da sie den Anreiz zur Erhöhung des eigenen Verdienstes in Frage stellt; auch Härteregelungen wären wünschenswert, und die gegenwärtige Regelung darüber, welche Beträge anzurechnen sind, ist weiter überdenkenswert, beispielsweise hinsichtlich der Berücksichtigung des Abzugs von Lohnsteuer. Die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße, die zu Lasten der unterhaltsverpflichteten Eltern geht, hat das Bundesverfassungsgericht bereits als ungerechtfertigten Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz beurteilt.42

V. Die steuerliche Relevanz und Einordnung von besonderem Bedarf und Aufwand für Kinder 1. Der Ort des Kindes zwischen der Erwerbs- und der Privatwelt des Einkommensteuerrechts Kinder sind in steuerrechtlichen Tatbeständen außerdem als Grund für weitere, besondere Aufwendungen ihrer Eltern jenseits der Gewährleistung des sächlichen und betreuungs- sowie erziehungsbezogenen Mindestbedarfs anzutreffen. Solche Aufwendungen können sowohl dem Unterhalt und der Förderung des Kindes unmittelbar als auch der Vereinbarkeit von Familienund Berufsleben der Eltern dienen. Das zweite Ziel findet sich in der neueren Rechtsentwicklung verstärkt und zieht das Interesse daher besonders auf sich. Mindestens ebenso sehr wie im Bereich der Mindestgarantien berühren die steuerlichen Regeln auch die Gewichtsverteilung und Abstimmung zwischen grundsätzlich unterschiedlichen Wegen der staatlichen Kinder- und Familien- sowie auch der Ausbildungs- und Studienförderung. Die Berücksichtigung bei der Einkommensbesteuerung, zumal bei den Eltern, unterstützt die Möglichkeit der Nachfrage nach entsprechenden Leistungen, während insbesondere bei der Kinderbetreuung überlegt wird, ob die öffentliche Hand ihre Ressourcen mehr als bisher für deren direkte Finanzierung einsetzen und damit die angebotsorientierte Seite der Förderung ausbauen sollte. Bei der ersten, nachfragebezogenen Politik gilt es darüber hinaus noch zu unterscheiden, ob nur die wirkliche Verausgabung von Mitteln für Kinder zur Steuerminderung führen – und, wenn ja, ob in begrenzter oder voller Höhe – oder ob es darauf nicht ankommen soll. Die zugehörigen 42

BVerfGE 112, 164 ff.

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Rechtsgedanken können steuersystematisch noch nicht als allgemein konsolidiert gelten. Das Einkommensteuerrecht trennt Erwerbsaufwendungen und private Abzüge und enthält für die Erwerbswelt, da diese grundsätzlich die Basis für die Ertragsbesteuerung darstellt, Generalklauseln der Abzugsfähigkeit. Die durch die Einkünfteerzielung als marktbezogenes Verhalten veranlassten Aufwendungen des Steuerpflichtigen werden grundsätzlich steuerlich in Ansatz gebracht und nur das per Saldo Hinzuerworbene der Steuer unterworfen, so dass von einem objektiven Nettoprinzip gesprochen werden kann. Für die Privatwelt gilt dies, da Ausgaben zur persönliche Lebensführung nicht im Sinne eines Markteinsatzes durch die Einkünfteerzielung veranlasst sind, nicht. Es besteht demgemäß insoweit auch keine gesetzliche Generalklausel; der Geltungsbereich eines subjektiven Nettoprinzips ist wesentlich verfassungsrechtlicher Art, während eine Zusammenschau der disparaten Einzelregelungen kein inhaltlich stark konturiertes Prinzip ergibt. Im Einkommensteuerrecht werden die meisten der kinderbezogenen Einkommensverwendungen und Bedarfssituationen, die der Gesetzgeber als anerkennenswert betrachtet, bisher den privaten Abzügen zugeordnet (dazu unter 2.). Eine Tendenz der Zuordnung speziell von Kinderbetreuungsaufwendungen zu ihrer Veranlassung durch Erwerbstätigkeit43 zeichnet sich in jüngerer Zeit im Gesetz ab (dazu unter 3.). 2. Besondere Bedarfe und Aufwendungen für Kinder jenseits der allgemeinen Mindestgarantien Eine ganze Reihe unterschiedlicher Situationen und Ziele wird in Abzugstatbeständen abgebildet. Ein Eindruck davon lässt sich am ehesten durch ihre Sammlung erschließen: Ohne Bezugnahme auf tatsächlich getätigte Aufwendungen wird „echten“, außerhalb auch nichtehelicher Lebensgemeinschaften lebenden Alleinerziehenden, ein zusätzlicher, so genannter Entlastungsbetrag von 1308 e jährlich eingeräumt.44 Dies soll deren besondere Belastung vermindern, ohne aber zu einer mittelbaren Bevorzugung nichtehelicher Lebensgemeinschaften gegenüber Ehen zu führen, die das Bundesverfassungsgericht als 43 Vgl. Seer/Wendt, NJW 2000, 1904 ff.; Hey, NJW 2006, 2001 ff.; Seiler, DStR 2006, 1631 ff.; Tiedchen, BB 1999, 1681 ff.; Tünnemann, Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie und die Förderung der Kindererziehung im Rahmen des staatlichen Kinderleistungsausgleichs, 2002. 44 § 24b EStG.

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Verstoß gegen Art. 6 GG betrachtet.45 Die hierdurch eintretenden Steuermindereinnnahmen werden mit rund 390 Mio. e angegeben.46 Ebenfalls als Zusatzbelastung, und zwar als außergewöhnliche Belastung im Sinne des EStG in Höhe von 924 e, wird es ohne Rücksicht auf tatsächliche Aufwendungen angesehen, wenn ein volljähriges Kind in Berufsausbildung auswärtig untergebracht ist; eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes werden ab einer bestimmten Höhe darauf angerechnet (Steuermindereinnahmen: 185 Mio. e).47 Werden tatsächlich Aufwendungen für Unterhalt oder Ausbildung gesetzlich unterhaltsberechtigter Kinder getätigt, so sind sie als außergewöhnliche Belastung abziehbar, falls die Kinderfreibeträge nicht gelten, was vor allem wegen der hierfür geltenden Altersgrenzen in Frage kommt. Bis zu 7680 e können so geltend gemacht werden; eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes werden auch hier ab einer bestimmten Höhe in Anrechnung gebracht (Steuermindereinnahmen: 585 Mio. e).48 Bestimmte Betreuungsaufwendungen für Kinder von drei bis sechs Jahren werden zu zwei Dritteln der Aufwendungen und höchstens 4000 e je Kind und Jahr als Sonderausgaben für abzugsfähig erklärt.49 Darin liegt in Anbetracht der Altersgruppe, des ausdrücklichen Ausschlusses von Aufwendungen für Unterricht, die Vermittlung „besonderer“ Fähigkeiten sowie von „sportlichen und sonstigen Freizeitbetätigungen“ sowie der Unabhängigkeit von dem Grund, aus dem die Fremdbetreuung genutzt wird, in erster Linie eine „Kindergartenklausel“, wenngleich der Tatbestand nicht rechtlich auf diesen Anwendungsfall beschränkt ist. Eine nicht spezifisch kinderbezogene, aber zur Kinderbetreuung beispielsweise durch eine Tagesbetreuungsperson nutzbare Regelung ist die Ermäßigung der Einkommensteuer bei haushaltsnahen Dienstleistungen (Steuermindereinnahmen: 960 Mio. e).50 Beim Besuch bestimmter genehmigter oder anerkannter Schulen können 30% des Schulgeldes als Sonderausgaben steuerlich geltend gemacht werden (Steuermindereinnahmen: 20 Mio. e).51 Dies ist hier erwähnenswert, obwohl die Norm nach ihrer Entstehungsgeschichte in erster Linie keine 45

BVerfGE 99, 216 ff. Diese und die entsprechenden folgenden Zahlen sind jeweils dem BMF-Monatsbericht 9/2005, 45 ff., entnommen. 47 § 33a Abs. 2 EStG. 48 § 33a Abs. 1 EStG. 49 § 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG. 50 § 35a EStG. 51 § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG. 46

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Entlastungsnorm für die Eltern, sondern eine Förderungsnorm für die von ihr umfassten Schulen darstellt.52 Ihre generelle Beschränkung auf inländische Schulen wurde zuletzt vom EuGH wegen Unvereinbarkeit mit Art. 49 und 18 EG für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt.53 Im Rahmen der „Riester-“Förderung der privaten Altersvorsorge wird zur Altersvorsorgezulage eine Kinderzulage berechnet.54 Bei der, jetzt als Zuschuss gestalteten, Eigenheimzulage erhöhen sich die Einkommensobergrenzen durch zu berücksichtigende Kinder erheblich.55 Die Einkommensgrenzen sind auch bei der Arbeitnehmersparzulage und der Wohnungsbauprämie von den Kinderfreibeträgen abhängig. Der Berücksichtigung besonderer Situationen dient der Abzug von Betreuungsaufwand in Bezug auf Kinder bis 14 Jahre, wenn ein allein erziehender Elternteil krank oder behindert ist oder sich in einer Ausbildung befindet, als Sonderausgaben; eine Erweiterung dieser Regelung umfasst Kinder höheren Alters, die sich wegen einer Behinderung ihrerseits nicht selbst unterhalten können.56 Ist ein Kind krank, sind Aufwendungen für eine deshalb beschäftigte Haushaltshilfe bis zu 624 e, bei schwerer Behinderung eines Kindes bis zu 924 e im Kalenderjahr als außergewöhnliche Belastungen anzusetzen (Steuermindereinnahmen: 100 Mio. e).57 Der BehindertenPauschbetrag, der von 310 e ab 25% dauerndem Grad der Behinderung bis zu 3.700 e bei Hilflosigkeit reicht, ist bei behinderten Kindern auf die Eltern übertragbar.58 Wird eine hilflose Person, auch ein Kind, gepflegt, können Aufwendungen als außergewöhnliche Belastungen oder durch einen Pflege-Pauschbetrag in Höhe von 924 e abgesetzt werden.59 Zu berücksichtigende Kinder führen außerdem generell dazu, dass sich die Grenze für die Zumutbarkeit der eigenen Tragung außergewöhnlicher Belastungen der Eltern vermindert (Steuermindereinnahmen: 650 Mio. e).60 Die aufgezeigten steuerlichen Berücksichtigungen von Kindern erweisen sich demnach als ausgesprochen vielfältig und sind nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Drei Gruppen sind immerhin zu identifizieren: Erstens die Ausgestaltung der Konsequenzen des allgemeinen Familienleistungsausgleichs und dessen Abrundung und Lückenauffüllung an den Rän52 53 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. BFH DStR 2006, 1222 ff., Kanzler, FR 2005, 759 ff. EuGH v. 11.9.2007, C-76/05, DStR 2007, 1670 (noch nicht in Slg.). § 85 EStG. § 5 EigZulG. § 10 Abs. 1 Nr. 8 EStG. § 33a Abs. 3 EStG. § 33b Abs. 1, Abs. 5 EStG. § 33b Abs. 6 EStG. § 33 Abs. 3 EStG.

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dern, zweitens die Berücksichtigung unausweichlicher Sonderbelastungen und drittens die Förderregelungen für bestimmte, vom Gesetzgeber selektiv verfolgte Ziele. Dass die Zuordnung der einzelnen Normen zu den unterschiedlichen Gruppen allerdings in einigen Fällen mehrdeutig ist, erschwert nicht nur die Übersicht, sondern auch die gegenseitige Abstimmung der Regelungen und die Diskussion über ihre jeweilige künftige Entwicklung. 3. Kinderbetreuungskosten als Teil des Einkünftesaldos der Eltern Der aktuelle Wandel in der gesellschaftlichen Bewertung des Verhältnisses von „Kind“ und „Beruf“ verleiht insbesondere der Frage Nachdruck, ob Aufwendungen für die Kinderbetreuung nicht zumindest auch als Aufwendungen für die Ermöglichung der Einkünfteerzielung bewertet werden müssten oder sollten, ob sie also aus der Sphäre der Privataufwendungen in diejenige der Erwerbsaufwendungen zu überführen sind. a) Offenheit beim verfassungsrechtlichen Minimum Soweit es um die Erfüllung verfassungsrechtlicher Mindestanforderungen geht, bietet eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2005 Anschauung,61 die zur sichernden Nachhut des in den neunziger Jahren durchmarschierten Zentralteils der einschlägigen Rechtsprechungsserie gehört. Sie betrifft eine bis 1999 geltende Regelung, wonach ein für allein erziehende Elternteile möglicher Abzug erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten um die zumutbare Belastung gekürzt wurde.62 Die Kürzung sei in dieser Form, so das Bundesverfassungsgericht, verfassungswidrig. Zulässig sei demgegenüber eine typisierende Beschränkung mit dem Ziel, zwar tatsächlich entstandene, aber über das notwendig zu berücksichtigende Maß hinaus gehende Kinderbetreuungskosten vom Abzug auszuschließen; es könne mit einer sachgerechten Pauschalierung eine Obergrenze festgelegt werden, inwieweit die dem Grunde nach zwangsläufigen Kinderbetreuungskosten typischerweise auch der Höhe nach zwangsläufig sind. Es gehe auch nicht um den persönlichen Anwendungsbereich der streitgegenständlichen Alleinerziehenden-Regelung, sondern um den mangelnden Umfang der Berücksichtigungsfähigkeit. Verfassungsrechtlich sei nur die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen entscheidend. Ob sie einfachgesetzlich unter Berufung auf ihre Veranlassung durch die Erwerbstätigkeit den Werbungskosten und Betriebsausgaben zugeordnet oder unter Bezug auf ihre private 61 62

BVerfGE 112, 268 ff. § 33c Abs. 1 S. 2 EStG a. F. i. V. m. § 33 Abs. 3 EStG.

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(Mit-)Veranlassung, nämlich die Entscheidung für Kinder, vornehmlich zu den privaten Aufwendungen gezählt würden, sei verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Damit hat das Bundesverfassungsgericht letztlich zu Recht hingenommen, dass das einfache Recht sich für ein ausgeprägt aufnahmefähiges Steuerrechtsverständnis entschieden hat, schon indem es auf die beiden unterschiedlichen Welten des Erwerbslebens und des Privatlebens zugleich Bezug nimmt. Das Einkommensteuergesetz ist ein Multifunktionstalent der öffentlichen Finanzordnung. Das verbindet sich allerdings ernstlich mit der Gefahr seiner Überforderung und des Erweckens falscher Hoffnungen anderer Steuerpflichtiger. Gegen beides ist für sich genommen verfassungsrechtlich nichts auszurichten, soweit die Regelungsbereiche trotzdem sachgerecht und kohärent bleiben, um insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und seinen speziellen sachgebietsbezogenen Ergänzungen vereinbar zu sein. Geeint werden die verschiedenen Bereiche des Einkommensteuerrechts zwar dadurch, dass sie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen betreffen. Doch in welcher Weise dies der Fall ist, wird durch die gesetzestechnische Einheit noch nicht gesagt. Eine allgemeine Abgrenzung zu denjenigen wirtschaftlichen Fragen des Lebens, die einkommensteuerlich als irrelevant betrachtet werden, ist daher bei den privaten Aufwendungen nicht zu leisten. In der Inanspruchnahme des Gesetzes für unterschiedliche Zwecke ist angelegt, dass diese sich innerhalb desselben Gesetzes in durchaus unterschiedlichen Rationalitäten entfalten werden. b) Die steuerliche Relevanz von Betreuungskosten mit dem Ziel der besseren Vereinbarkeit von „Kind“ und „Beruf“ aa) Kinderbetreuungsaufwand als erwerbsbezogener Tatbestand nach neuer Rechtslage Innerhalb des Einkommensteuergesetzes sind die Ausgestaltungen des objektiven Nettoprinzips wegen ihres gemeinsamen Bezugspunkts die vergleichsweise weniger disparaten und daraufhin die größere systematische Konsistenz verlangenden Teile. Wenn Kinderbetreuungskosten ihnen zugeordnet werden, so verspricht dies schon deshalb eine verbesserte Position, abgesehen von den oft günstigeren steuerlichen Auswirkungen. Es ist deshalb eine besondere Erörterung wert, dass sich der Gesetzgeber nun 2006 dieser Ausrichtung zugewandt hat,63 indem er sich mit § 4f und § 9 Abs. 5 63

Gesetz vom 26.4.2006, BGBl. I S. 1091.

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EStG für die Zuordnung von wegen Erwerbstätigkeit aufgebrachten Kosten für die Betreuung von Kindern bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zu den Erwerbsaufwendungen und nicht zu den Privatabzügen entschied. Als typische Anwendungsfälle werden Aufwendungen zur Unterbringung des Kindes in einer Kindertagesstätte, einem Kindergarten, einer Kinderkrippe, bei einer Tagesmutter oder in Ganztagspflege sowie die Beschäftigung von Pflege- oder Erziehungskräften und Haushaltshilfen, wenn sie auch die Kinder betreuen oder beaufsichtigen, genannt.64 Dass der Gehaltsverzicht eines Elternteils wegen eigener Kinderbetreuung nicht dazu gehört, ist konsequent, schon da das Steuerrecht bloße Möglichkeiten der Einkünfteerzielung regelmäßig nicht beachtet – abgesehen von der oben dargelegten Begründung der aufwandsunabhängigen Freistellung des Betreuungsund Erziehungsbedarfs durch das Bundesverfassungsgericht, die aber, wie aufgezeigt, nicht in spezifisch steuerrechtlichem Denken wurzelt. bb) Die Ausgestaltung: Beschränkungen als Erläuterung des Grundtatbestands Die Regelung weist eine Reihe von Tatbestandsvoraussetzungen auf, die zuerst wie Beschränkungen oder Ausnahmen gegenüber einem weiter gefassten Grundtatbestand „erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten“ erscheinen könnten. Ihre gemeinsame Betrachtung zeigt hingegen, dass sie eigentlich selbst ein bestimmender Teil der Ausrichtung des Grundtatbestands sind. Insoweit erweist sich eine zuerst unscheinbare Eigenheit der Regelung als bezeichnend: Das Gesetz ordnet die Kinderbetreuungsaufwendungen zwar sowohl nach der Stellung im Gesetzestext als auch nach der Rechtsfolgenanordnung demjenigen Teil des Einkommensteuertatbestands zu, der ansonsten den Saldo der Einkünfte wiedergibt, der sich nach Abzug der durch die Einkünfteerzielung am Markt veranlassten Aufwendungen ergibt. Jedoch erreicht das Gesetz dies, indem es den Abzug nur „wie“ Betriebsausgaben oder Werbungskosten vorsieht, die Aufwendungen also gerade nicht als Erwerbsaufwendungen definiert. Eine Anschlussfrage zeigt die darin zum Ausdruck kommende Lage an einer steuersystematischen Grenzlinie auf: Fallen Aufwendungen für eine Steuerberatung im Zusammenhang mit Kinderbetreuungskosten oder deren steuerlicher Berücksichtigung an, so sind diese nach Auffassung der Finanzverwaltung keine Betriebsausgaben oder Werbungskosten,65 was allenfalls 64 65

BMF-Schreiben vom 19.1.2007, IV C 4 – S 2221 – 2/07. BMF-Schreiben vom 21.12.2007, IV B 2 – S 2144 – 07/0002.

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deshalb mit dem Gesetz vereinbar ist, weil Kinderbetreuungskosten lediglich „wie“ Betriebsausgaben/Werbungskosten, aber nicht „als“ solche abziehbar sind. Auch die enthaltenen umfangmäßigen Beschränkungen rücken die Norm in eine deutliche Distanz zu einer echten Ausprägung des objektiven Nettoprinzips: So werden Höchstbeträge von 4000 e pro Jahr gesetzt, die jedenfalls für eine vielstündige individuelle Kinderbetreuung nicht genügen, und es wird generell eine Kürzung auf zwei Drittel der Aufwendungen vorgesehen. Dies begründet der Gesetzgeber damit, dass Betreuungsbedarf für Kinder bei allen Eltern unabhängig von der Erwerbstätigkeit gegeben sei und das Recht zu einer Pauschalierung durch Obergrenzen bestehe.66 Ferner wird dem Tatbestand durch die Bezugnahme auf einen Begriff der „Erwerbstätigkeit“ anstelle desjenigen der Einkünfteerzielung eine gewisse Tendenz zur Engführung auf solche Fälle mitgegeben, die weitgehend dem Typus des – regelmäßig wohl als außerhäuslich gedachten – Einsatzes persönlicher Arbeitskraft entsprechen, also nicht alle steuerbaren Tätigkeiten umfassen: Sind die eingesetzten Quellen der Einkünfte Vermögensgegenstände wie Kapitalvermögen oder Immobilien, so dürften sie daraufhin jedenfalls nach Auffassung der Finanzverwaltung ausscheiden,67 obwohl sie ebenfalls des persönlichen Zeiteinsatzes bedürfen. Soweit Erwerbstätigkeit im Sinne des Gesetzes vorliegt, ist allerdings festzustellen, dass keine ausdrücklichen Anforderungen an deren zeitliches Ausmaß gestellt werden und daher zu erwarten ist, dass sich eine sehr weite Interpretation einstellt. „Wegen einer Erwerbstätigkeit“ müssen die Aufwendungen allerdings anfallen, was eine Entkoppelung von Umfang und Zeiträumen der Erwerbstätigkeit und den erbrachten Betreuungsdienstleistungen rechtlich ausschließt. Gleichwohl bahnt sich hier – gewiss auch wegen der faktisch begrenzten Nachprüfungsintensität – eine großzügige Praxis an, indem nach der Verwaltungsauffassung bei einer Arbeitszeit ab zehn Stunden wöchentlich jedenfalls von der Erwerbsbedingtheit der Betreuungsaufwendungen ausgegangen werden kann68 – und dementsprechend auch regelmäßig ausgegangen werden wird. Eine bezeichnende Abweichung von einer Ausgestaltung des objektiven Nettoprinzips besteht ferner darin, dass die vorliegende Regelung, parallel zur Sonderausgabennorm des § 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG, den Abzug bei Aufwendungen für „Unterricht, die Vermittlung besonderer Fähigkeiten sowie 66 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung, BT-Drs. 16/643, 9. 67 BMF-Schreiben vom 19.1.2007, IV C 4 – S 2221 – 2/07: Private Vermögensverwaltung scheide aus, ebenso Berufsausbildung. 68 BMF-Schreiben vom 19.1.2007, IV C 4 – S 2221 – 2/07.

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für sportliche und andere Freizeitbetätigungen“ ausschließt.69 Damit setzt sich die Vorschrift in den Gegensatz zu der sonst im Rahmen des objektiven Nettoprinzips geltenden Regel, wonach es grundsätzlich der ökonomischen Entscheidungsfreiheit des Steuerpflichtigen überlassen ist, welche Art von Aufwendungen er tätigt, um Einkünfte zu erzielen, und daher grundsätzlich, wenn der Veranlassungszusammenhang gegeben ist, insoweit keine staatliche Einflussnahme erfolgt. Die genannten Tatbestandsvoraussetzungen überbürden dem Rechtsanwender im Übrigen erhebliche Abgrenzungsfragen, wenn man etwa eine zeitgemäße und sinnvolle Kinderbetreuung ins Auge fasst, die über eine Kinder-„Aufbewahrung“ hinaus geht. Schließlich sieht das Gesetz bei zusammenlebenden Elternteilen den Abzug der getätigten Betreuungsaufwendungen nur dann vor, wenn beide erwerbstätig sind.70 Einverdiener-Paare kommen deshalb nur bei Drei- bis Sechsjährigen im Rahmen der „Kindergartenklausel“ des § 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG zu einem Abzug in gleicher Höhe, und zwar, ungünstiger, als Sonderausgaben, also als private Aufwendungen. Dass von dieser Einschränkung des § 4f EStG zusammenlebende Paare nicht betroffen sind, bei denen nur einer der Partner ein steuerrelevantes Kindschaftsverhältnis zum haushaltszugehörigen Kind hat, erscheint diskussionswürdig, aber als Folgeregelung zur verbleibenden Trennung in der Verantwortung für das Kind gerechtfertigt. Noch schärfere Kontroversen löst weiterhin die darin zum Ausdruck kommende Grundwertung der Klausel aus: Da nur auf das Zusammenleben mit gemeinsamen Kindern abgestellt wird, kann ihr nur die Auffassung zu Grunde liegen, dass eine Anrechnung der Kinderbetreuungskosten allein wegen eines erwerbstätigen „Einverdieners“ nicht angebracht ist. Diese Vorstellung reibt sich mit der Neutralität des Staates gegenüber der Freiheit von Eltern, über die Art und Weise der Kinderbetreuung zu entscheiden insoweit, als dass dazu auch die Option zu rechnen ist, Kinderbetreuungsdienstleistungen auch dann einzusetzen, wenn einer der Partner keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Die vorstehende Analyse zeigt, dass § 4f EStG im Kern nicht anhand seiner Stellung im Rahmen der Erwerbsaufwendungen verstanden werden kann, sondern sich als Förderungsnorm erklärt. Die Eigenarten der Norm geben das erklärte Ziel des Gesetzgebers, die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit zu verbessern,71 wieder; ein Beitrag zu einer Neuausrichtung der grundsätzlichen Einkommensteuersystematik auf Kinder ist 69 § 4f S. 3 EStG. Dies gehört zu der Reihe von Punkten, die parallel zu § 10 Abs. 1 Nr. 5 EStG n. F. geregelt wurden. 70 § 4f S. 2 EStG. 71 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung, BT-Drs. 16/643, 9.

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mit ihr nicht gemeint. Das „Anfallen“ von Betreuungsaufwendungen „wegen einer Erwerbstätigkeit“, von dem die Regelung spricht, ist keine bloße bereichsspezifische Wiederholung des allgemeinen Veranlassungsprinzips, sondern bringt zum Ausdruck, dass durch den Tatbestand die Finanzierung von Betreuungsdienstleistungen für die Arbeitszeit unterstützt werden soll. Die Platzierung bei den Erwerbsaufwendungen ist berechtigt, indem sie eine positive Anerkennung des Funktionszusammenhangs zwischen Erwerbstätigkeit und Beauftragung von Dienstleistungen zur Kinderbetreuung bedeutet und – inhaltlich konsequent – für deren Anrechnung bei den Erwerbsaufwendungen konstitutiv ist. Das eigentliche, gut begründbare Ziel ist die Einbeziehung bestimmter, als förderungswürdig betrachteter Aufwendungen in den, auch überperiodisch übertragbaren,72 Einkünftesaldo. Das unscheinbare Wörtchen von der Behandlung der Kosten „wie“ und nicht „als“ Betriebsausgaben oder Werbungskosten erweist sich damit zum Schluss erstaunlicherweise als ein Schlüssel zum richtigen systematischen Verständnis der Norm: Denn in ihm kommt zum Ausdruck, dass das Einkommensteuerrecht hier als geeigneter Träger für die Verfolgung familienund arbeitsmarktpolitischer Zwecke mitverwendet wird und es unpassend wäre, § 4f EStG mit einem rein ertragsbezogenen Denken zu erfassen. Die Beschränkungen der Abziehbarkeit erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten sind in ihrem Zusammenwirken so ausgeprägt, dass sie die Regelung im Gesamtbild nicht als deklaratorische Klarstellung zur Anerkennung von Erwerbsaufwand erscheinen lassen, sondern ihrem vorwiegenden Charakter als Sozialzwecknorm mit dem Ziel der Förderung der Vereinbarkeit von Kindern und Familie Ausdruck geben. cc) Verfassungsrechtliche Würdigung Verfassungsrechtliche Kritik73 löst insbesondere der Ausschluss zusammenlebender Elternpaare vom Abzug der Aufwendungen aus. Als eine Typisierung des Grundmerkmals des Anfallens der Aufwendungen „wegen“ einer Erwerbstätigkeit dürfte die Annahme, dass bei zusammenlebenden Eltern der nicht erwerbstätige Partner die Kinderbetreuung übernimmt und daher die weiteren Betreuungsdienstleistungen nicht „wegen“ der Erwerbstätigkeit beauftragt werden, allerdings die Realität in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle abbilden. Die Typisierung verletzt trotz der nachvollziehbaren Bedenken hinsichtlich der gebotenen Neutralität gegenüber unterschiedlichen Modellen der familiären Arbeitsteilung auch nicht 72

Vgl. § 10d Abs. 2 EStG. Zur Diskussion Hey, NJW 2000, 2001 ff., Seiler, DStR 2006, 1631 ff.; Brosius-Gersdorf, JZ 2007, 326 ff. 73

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die inhaltlichen Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 GG: Dies gilt, soweit das verfassungsrechtliche Minimum der kinderbetreuungsbezogenen Steuerverschonung bereits durch andere Normen gewährleistet74 ist, in Verbindung damit, dass es verfassungsrechtlich zwar möglich, aber nicht zwingend ist, den freizustellenden Teil des Kinderbetreuungsaufwands mit Erwerbsaufwand gleichzustellen. Hier wirkt es sich also aus, dass die Begründung für die verfassungsrechtliche Verankerung der steuerlichen Berücksichtigung von Kindern auf einer speziellen Betrachtung der Funktion der Einkünfteerzielung für die Familie beruht und damit ein eigenes System unabhängig von der einfachgesetzlichen einkommensteuerlichen Belastungsidee bildet. Jenseits des geschützten verfassungsrechtlichen Minimums behält der Gesetzgeber die Möglichkeit, positiv die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindern zusätzlich zu fördern und den Anwendungsbereich der hierfür vorgesehenen Normen sachgerecht abzugrenzen. Dass sie nur für das zusammenlebende Einverdienerpaar die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht erleichtert, beruht auf der Einschätzung, dass der Erwerbstätige dieser Förderung dann nicht bedarf und vermeidet zudem die Abschwächung der Auswirkungen der Regelung auf die Entscheidung für eine Erwerbstätigkeit, die damit verbunden wäre, wenn nur einer von zwei Partnern erwerbstätig zu sein bräuchte, um die Steuerminderung zu erreichen. Für die Regelung gibt es somit rechtfertigend wirkende Gründe und das Konzept des § 4f EStG ist grundsätzlich geeignet, den verfassungsrechtlichen Rahmen zu wahren. Das geltende Einkommensteuerrecht erfasst die Rolle von Kindern im Ergebnis somit auch bei den Betreuungsaufwendungen nicht mittels des objektiven Nettoprinzips. Die Diskussion erhellt letztlich indirekt, dass dies auch nicht sachwidrig ist: Denn der Gesetzgeber ist zwar berechtigt, die Kinderbetreuung steuersystematisch als Teil eines „Unternehmens Familie“ einzuordnen, aber nicht dazu verpflichtet.

VI. Kinder und Ehegattenbesteuerung: Vom Ehegatten- zum Familiensplitting? Es gehört zu den Eigenheiten unter anderem der deutschen steuerpolitischen Diskussion, dass die Berufung auf Kinder traditionell als – hier in der Regel Änderungen abwehrendes – Argument auch dort eine Rolle spielt, wo Kinder tatbestandlich gar nicht vorkommen, nämlich bei der reinen Ehegattenbesteuerung. Rechtstatsächlich ist dies allerdings durchaus verständlich: Denn zwar ist das Splitting-Verfahren75 nur mit der Zusam74 75

In diese Richtung zu Recht auch Seiler, DStR 2006, 1631 ff. § 32a Abs. 5 EStG.

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menveranlagung der verheirateten Eltern verbunden, ohne dass es auf Kinder ankäme, doch entfallen von den Steuerwirkungen des Splittings empirischen Untersuchungen zufolge rund zwei Drittel auf Ehepaare, die kindergeldberechtigte Kinder haben, ein weiterer Teil auf Ehepaare, die ältere Kinder haben, und nur rund 10% auf Ehepaare, die keine Kinder haben.76 Eine verfassungsrechtliche Begründung des Verfahrens77 bieten diese Zahlen allerdings nicht. Das Verfassungsrecht erlaubt indes das Splitting als – neben der reinen Individualbesteuerung mit Unterhaltsausgleich – eine der denkbaren Ausgestaltungsmöglichkeiten der Ehegattenbesteuerung, die der steuerlichen Betrachtung der Ehe zugrunde legt, dass diese nicht nur eine Unterhalts-, sondern auch eine Erwerbsgemeinschaft bildet und eine Zusammenveranlagung daher ermöglicht werden soll. Wenn die beiden Ehegatten daraufhin ein gemeinsames zu versteuerndes Einkommen ansetzen können, ist eine Sonderregelung wie das Splitting wegen des progressiven Steuertarifs erforderlich, um zu vermeiden, dass dieses Einkommen höher besteuert wird als wenn beide Partner getrennt veranlagt würden. Das Splitting ist angesichts dessen keine bloße Steuervergünstigung, sondern eine der Möglichkeiten einer folgerichtigen Ehegattenbesteuerung. Es als verfassungsrechtlich sogar ganz oder teilweise geboten zu betrachten, würde indes voraussetzen, dass der Gesetzgeber gezwungen wäre, eine steuerliche Betrachtung der Ehe als Erwerbsgemeinschaft zu ermöglichen; das Splitting umgekehrt als verfassungswidrig anzusehen, würde davon ausgehen, dass dies im Gegenteil verfassungsrechtlich untersagt wäre. Beides ist nicht der Fall. Die gegenwärtige Ehegattenbesteuerung, die eine Zusammenveranlagung ermöglicht und dies mit einem hälftigen Splittingfaktor kombiniert, ist folglich verfassungsrechtlich nicht zwingend, aber auch nicht verfassungswidrig, sondern als eine von mehreren verfassungskonformen Gestaltungen möglich.78 Sind oder waren Kinder also bei Splitting-Ehepaaren häufig tatsächlich vorhanden, aber ohne dass dies steuer- oder verfassungsrechtlich erheblich ist, so liegt die Überlegung zur Umstellung auf eine systematische, auch rechtliche Integration von Kinder- und Elternbesteuerung nahe.79 Dies gilt 76

Angaben bei Schlick, BMF-Monatsbericht 9/2005, 53, 59. Zum verfassungsrechtlichen Rahmen aus der Rspr. grundlegend: BVerfGE 18, 97 ff. (Verfassungswidrigkeit der Zusammenveranlagung ohne Splitting) und BVerfGE 61, 319 ff. (Ehegattensplitting als eine folgerichtige Besteuerung; Abgrenzung zur Kinderberücksichtigung bei Unverheirateten). 78 Zur Diskussion Vogel, StuW 1999, 201 ff.; Sacksofsky, NJW 2000, 1896 ff.; P. Kirchhof, NJW 2000, 2792 ff.; Vollmer, Das Ehegattensplitting: eine verfassungsrechtliche Untersuchung der Einkommensbesteuerung von Eheleuten, 1998; Winhard, DStR 2007, 1726 ff. 79 Zu den Gründen und Rahmenbedingungen die in der vorstehenden Fn. Genannten und Haller, Besteuerung der Familieneinkommen und Familienlastenaus77

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auch in Anbetracht der Friktionen, die derzeit mit dem Verhältnis von Eltern- und Kindereinkommen verbunden sein können. Bezieht man daraufhin die Kinder rechtlich in die Familienbesteuerung ein, so bietet ein tarifliches Familiensplitting mit zusätzlichen Kinderdivisoren für das Gesamteinkommen der Familie die eine, ein Realsplitting mit Abbildung der Unterhaltsverpflichtungen die andere unter den Möglichkeiten, die am ehesten praktisch relevant werden könnten. Ein Familiendivisorensplitting trägt beiden Schutzgütern des Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung und ist verfassungskonform möglich. Dies gilt auch für das Realsplitting, das zudem die Wirklichkeit der familienbezogenen Lastenverteilung am wirklichkeitsnächsten zum Ausdruck bringen kann: Die Unterhaltsaufwendungen werden dabei zum Abzug zugelassen und im Gegenzug bei den Kindern als steuerlich relevant gesehen, was unter dem Gesichtspunkt der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit die passgenaueste Konzeption darstellt.

VII. Fazit und Perspektiven Die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Kindern im Steuerrecht führt über die Frage nach „Freibetrag oder Kindergeld“ weit hinaus. Sie bringt rechtsnormative Wertungen über die Funktionen von Erwerbstätigkeit und Besteuerung, die Auffassung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, das Verhältnis von Eingriffsrecht und Leistungsrecht und von Angebotsund Nachfragesteuerung sowie von Staat und Elternentscheidung zum Tragen, die von der Rechtsordnung oftmals gerade anhand der steuerrechtlichen Fragen schärfer als bisher zu entfalten waren und sind. Kinder haben nach allem jetzt einen bedeutenden Platz im Steuerrecht, und sie haben ihn in erheblichem Umfang verfassungsrechtlich sicher. „Kind“ und „Besteuerung“ in starke Beziehung zu setzen, hat zu einer Befestigung der staatlichen Unterstützung der wirtschaftlichen Basis für ein Leben mit Kindern geführt, die in ihrer Art in weiten Teilen nicht alternativlos, als solche aber ausgesprochen wertvoll ist. Zugleich sind die steuerrechtlichen Bestimmungen in Bezug auf Kind und Familie allerdings sehr unübersichtlich geworden, und es bestehen Abstimmungsprobleme zwischen den unterschiedlichen Maßnahmen. Es ist unbefriedigend, dass trotz des eingesetzten erheblichen Finanzvolumens Gerechtigkeitsdefizite auftreten und teils Ergebnisse erzeugt werden, die gleich, 1981; J. Lang, StuW 1990, 331 ff.; Lingemann, Das rechtliche Konzept der Familienbesteuerung, 1994; Wendt, FS Tipke 1995, 67 ff.; Wosnitza, StuW 1996, 123 ff.; Lieber, DStZ 1997, 207 ff.; Horlemann, DStR 1999, 397 ff.; C. Maurer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Besteuerung von Ehegatten und Familien, 2004; Henschler, Die Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch Kinder im Einkommensteuerrecht, 2005, Pfab, ZRP 2006, 212 ff.

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weder unter dem Gesichtspunkt volkswirtschaftlicher Effizienz des Mitteleinsatzes noch unter dem der Chancengleichheit zufriedenstellen können. Ein aktuelles Beispiel sei dem besonders die Hochschulbildung angehenden Bereich entnommen: Die weitgehende Erstreckung des mit Mitteln des Steuerrechts umgesetzten Familienleistungsausgleichs auf die Phase des Hochschulstudiums gehört auch zu den Gründen dafür, dass der Anteil einer elternabhängigen Studienfinanzierung gegenüber der direkten Unterstützung der Studierenden und Hochschulen ausgesprochen hoch ist und dass überdies die staatliche Beteiligung an Studienaufwendungen in Bezug auf Studierende der sozioökonomisch schwächsten Herkunftsgruppe in Deutschland nicht wesentlich höher ausfällt als in der Gruppe der sozioökonomisch Stärksten; die Differenz liegt lediglich in der Größenordnung von fünf bis zehn Prozent.80 Zu beobachten ist ferner, dass das Einkommensteuerrecht bei der Berücksichtigung von Kindern in eine Lage gekommen ist, die nachhaltige Reformen praktisch erschwert. Anstelle eines kohärenten Systems, das – wobei Steuerrecht immer Anreize setzt – eine immerhin so weit wie möglich neutrale Haltung insbesondere gegenüber der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Modellen des familiären Zusammenlebens mit Kindern und des Verhältnisses zum Erwerbsleben einnehmen könnte, besteht ein Konglomerat von unterschiedlich ausgerichteten Regelungen mit teils klientelistischen Diskussionsstrukturen, in denen verschiedene Interessenten- und Adressatengruppen jeweils „ihre“ Regelung für sich reklamieren können und diese auch verteidigen. Für die Reformbereitschaft ist die Frage der Umverteilungswirkungen von Änderungen zwischen den Betroffenengruppen daraufhin oft ausschlaggebend, für die Erhaltung der notwendigen Beweglichkeit des steuer-, sozial- und familienpolitischen Gesetzgebers ist dies natürlich ausgesprochen ungünstig. Das Verfassungsrecht ist hingegen meist nicht der wirklich ausschlaggebende Grund für einen Verzicht auf kinderbezogene Innovationen der Steuer- und Finanzordnung. Denn auch unter Beachtung der auf diesem Gebiet besonders gestaltungsfreudigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beginnt bereits jenseits der Sicherung des Bedarfsminimums – für die überdies die Zuschusslösung anstelle der Steuerfreistellung in größerem Umfang zur Wahl stünde, als es der gegenwärtigen einfachgesetzlichen Lage entspricht – ein großer Spielraum, der allerdings durch immanent fol80 Schwarzenberger (Hrsg.), Public/private funding of higher education: a social balance, 2008, 78, 148. Zur Überlegung einer Integration von Familienleistungsausgleich und Ausbildungsförderung aus ökonomischer Sicht siehe etwa Dohmen, Ausbildungskosten, Ausbildungsförderung und Familienlastenausgleich, 1998.

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gerichtige und insbesondere die Inhalte von Art. 6 Abs. 1 GG beachtende Regelungen wahrgenommen werden muss. Es ist daher auch aus rechtlicher Sicht sinnvoll und erforderlich, das Gespräch insbesondere über eine andere Verzahnung der ehe- und familienbezogenen Steuerregelungen, über eine zunehmende Platzierung finanzwirksamer kinderbezogener Maßnahmen außerhalb des Steuerrechts und eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Einsatz finanzieller Ressourcen durch das Steuerrecht und der direkten Unterstützung von kinderbezogenen Angeboten zu führen. Die familien- und gesellschaftspolitische Gestaltungskraft der öffentlichen Hand gilt es auch aus rechtlicher Sicht zu pflegen – und der Umstand, dass sich inzwischen auf dem Gebiet des Unternehmenssteuerrechts erwiesen hat, dass doch recht weit reichende Systemumbauten bei entsprechender politischer Anstrengung durchaus weiterhin möglich sind, könnte sehr wohl wie eine Ermutigung zu weiteren innovativen Anläufen auch bei der Kinder- und Familienbesteuerung verstanden werden.

Theoretische Überlegungen zu einer Neukonzeption des Jugendmedienschutzes Von der Jugendgefährdung zum Risikomanagement? Von Karl-Heinz Ladeur

I. Die Beurteilung von „Jugendgefährdung“ – ohne Normalitätsstandards? 1. Gesellschaftliche Konventionen und Erziehungsvorstellungen Der Begriff der „Jugendgefährdung“1 verweist nach dem Verständnis des geltenden Rechts auf ein normatives Entwicklungsmodell, an dessen Ende das Ideal der „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“2 – und damit ein Problem steht, das wieder auf den gesellschaftlichen Prozess zurückweist. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde diese Entwicklung des Jugendlichen noch im Rekurs auf ein „Gefühl für das Gute und Böse, für das Schickliche und das Gemeine“ bestimmt.3 In 1

Dieser traditionelle Begriff ist um den Begriff der „Entwicklungsbeeinträchtigung“ ergänzt worden, ohne dass dadurch aber eine Veränderung erreicht werden sollte, § 14 Abs. 1 JSchGE, Begründung (BT-Drs. 15/1243); vgl. auch Knoll, Jörg H., Jugendbeeinträchtigung oder Jugendgefährdung, tv diskurs, 31 (2005), 18 ff.; Castendyk, Oliver, So viel Freiheit wie möglich, so viel Schutz wie nötig, a. a. O., S. 20 ff.; Mikat, Claudia, Was ist „entwicklungsbeeinträchtigend“?, a. a. O., S. 32 ff.; vgl. aber Hertel, Felix, in: Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2. Aufl., München 2007, § 5 JMStV Rn. 1, der meint, der neue Begriff solle eine Vorstufe der Jugendgefährdung bezeichnen; vgl. allg. Cole, Mark D., in: Dörr, Dieter/Kreile, Johannes/Cole, Mark D. (Hrsg.), Handbuch Medienrecht. Recht der elektronischen Medien, Frankfurt 2008, S. 268 ff.; auch Dörr, Dieter/Cole, Mark D., Jugendschutz in den elektronischen Medien – Bestandsaufnahme und Reformabsichten, München 2001; zur Neuordnung des Jugendmedienschutzes Liesching, Marc, Jugendmedienschutz – eine Bestandsaufnahme, BPJM Aktuell – H.2/2007, S. 5; Schulz, Wolfgang, Jugendschutz bei Tele- und Mediendiensten, MMR 1998, 182; vgl. zum zivilrechtlichen Begriff der „Gefährdung des Kindeswohls“ nur Olzen, Dirk, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 8, 4. Aufl. 2002, § 1666 Rn. 49; zu diesem Begriff im (allgemeinen) Strafrecht Bringewat, Bernd, Schutz des Kindeswohls – eine Aufgabe des Strafrechts?!, Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe 2007, 225 ff. 2 §§ 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 Nr. 5, 23 Abs. 1 S. 1 JSchG, 4 Abs. 2 Nr. 2, 5 Abs. 1 JMStV.

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der neueren Veröffentlichung eines Experten für den Jugendschutz wird konstatiert, dass dessen Verständnis nicht mehr durch einen Bestand an „gesellschaftlichen Werten“ geprägt sei; an dessen Stelle seien vielmehr heute die Grundrechte getreten.4 Diese Feststellung erscheint in mehrfacher Hinsicht problematisch: Der Wechsel kann nicht primär durch den Übergang von der Einheit zur rechtlich gewährleisteten Pluralität der Erziehungsstile und -ziele charakterisiert werden. Damit würde ein entscheidendes Moment des Wandels überspielt. Die Pluralisierung tritt nicht an die Stelle der Einheit der Werte allein, damit vollzieht sich ein tiefergreifender Wandel: Die Pluralität der Werte untergräbt durch den damit einhergehenden Mangel an praktischer Koordination verschiedener Institutionen der Erziehung (Familie, Schule, Medien etc.) zugleich die Stabilität der Erziehung5 und damit deren Einschreibung in eine Praxis der Normen, Konventionen, Standards, geteilten Verhaltens- und Bewertungsmuster,6 innerhalb derer Erziehung sich vollziehen kann. Diesen Zusammenhang hat der frühere Rekurs auf das „Schickliche“ zum Ausdruck gebracht: Das, was „sich schickt“, ist in einen praktischen Lebenszusammenhang eingeschrieben, innerhalb dessen Anschlusszwänge und -möglichkeiten beobachtet, variiert und fortgesetzt werden. „Werte“ verstetigen die der Praxis weitgehend implizit bleibende Ordnung einer gesellschaftlichen Normalität,7 an der auch Erziehung orientiert wird, in einer reflexiven Verallgemeinerung, ohne damit deren Bedeutung für die Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen ausschöpfen zu können. Dieses Zusammenspiel von gesellschaftlicher Praxis und Werten geht mit dem Rekurs auf die Grundrechte als Erziehungsprogramm verloren: Die Grundrechte setzen die Autonomie des (erwachsenen) Individuums und die Selbstorganisation von Teilsystemen (Kunst, Wirtschaft, Politik, Religion etc.) voraus.8 Daraus lassen sich noch keine Konkretisierungen für Erziehungsrechte und -pflichten von Eltern oder 3

Knoll, a. a. O. Vgl. nur Knoll, a. a. O. 5 Vgl. dazu kritisch Weissberg, Robert, Pernicious Tolerance: How Teaching to „Accept Differences“ Undermines Civil Society, Edison (NJ) 2007. 6 Vgl. zur früheren Referenz auf die „ordentliche Erziehung“ KG Berlin, ZBlJugR 1929, 336. 7 Vgl. zum „impliziten“ Wissen, das einen wesentlichen Teil der praktischen Kultur ausmacht, nur Polanyi, Michael, Science, Faith and Society, London 1946; ders., The Logic of Liberty: Reflections and Rejoinders, London 1951; ders., Personal Knowledge, London 1958; ders., Knowing and Being, London 1969; Vesting, Thomas, Rechtstheorie, München 2007, S. 122 ff. 8 Vgl. dazu auch noch heute aufschlussreich Luhmann, Niklas, Grundrechte als Institution, Berlin 1965; Willke, Helmut, Stand der neueren Grundrechtstheorie, Berlin 1975; weiterführend jetzt Teubner, Gunther, Globale Zivilverfassungen, ZaöRV 2003, 1 ff. 4

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Entwicklungsrechte von Kindern ableiten, die mehr als Komponenten eines staatlichen „Reformprogramms“ wären.9 Das sich daraus ergebende Problem der „sozialen Epistemologie“ eines staatlichen Handelns, das sich nicht mehr an einer relativ stabilen gesellschaftlichen Infrastruktur, an geteilten Wissens- und Normenbeständen orientieren kann, wird in der neueren Gesetzgebung zum Jugendschutz letztlich unbearbeitet an die bürokratische Praxis der Institutionen des Jugendmedienschutzes zurückgegeben.10 Es ist charakteristisch, dass der Gesetzgeber in der Begründung der Neufassung der Ziele des Jugendschutzes im Jugendschutzgesetz (JSchG) und im Jugendmedienstaatsvertrag (JMStV) die Konkretisierung der dort verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe, insbesondere das Ziel der Entwicklung einer „eigenverantwortlichen Persönlichkeit“11 ebenso wie die Konkretisierung der Gefährdungspotentiale nicht mehr an den gesellschaftlichen Prozess, an eine allgemeine geteilte Erfahrung, verweist, sondern an das besondere Expertenwissen der Institutionen des Jugendschutzes.12 Dazu gibt es möglicherweise keine praktische Alternative, man muss sich aber des entscheidenden Paradigmenwechsels des Jugendschutzes bewusst sein, wenn man die Tragweite dieser Veränderung erfassen will. 2. Der Aufstieg der „Peer Group“ als Sozialisationstypus Diese Entwicklung setzt sich fort in der Aufhebung der Kindheit13 als einer gesellschaftlichen Institution und in einer Tendenz zur Angleichung von Erwachsenen und Jugendlichen. Wenn man dies mit in den Blick nimmt, erscheint der Übergang von der Einheit zur Pluralisierung der „Werte“ in der Erziehung als keineswegs unproblematisch. Die klassische Form des Subjekts selbst ist von der Voraussetzung einer symbolischen 9 Die Formulierung von „Kinderrechten“ ist nur ein Symptom dafür, dass die gesellschaftlichen (familialen) Entwicklungsmöglichkeiten in erheblichem Maße beeinträchtigt sind, nicht aber eine Abhilfe, vgl. aber Marauhn, Thilo, Internationale Kinderrechte – politische Rhetorik oder effektives Recht?, Tübingen 2005. 10 Vgl. allg. zur Konkretisierung der Formeln des Jugendschutzes Mikat, Was ist „entwicklungsbeeinträchtigend“?, a. a. O.; zur Evaluation des neueren Jugendmedienschutzes Brunn, Inka u. a., Das deutsche Jugendschutzprogramm im Bereich der Video- und Computerspiele, Hans-Bredow-Institut, Hamburg 2007; Kritik (an einigen rechtlichen Annahmen) von Altenhain, Karsten, MMR 2008, Heft 1, S. V. 11 Vgl. zu dieser Evolution Jeand’Heur, Bernd, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, Berlin 1993, S. 47 ff. 12 Castendyk, Soviel Freiheit wie möglich, a. a. O.; Knoll, Jugendbeeinträchtigung oder Jugendgefährdung, a. a. O.; § 14 Abs. 1 JSchGE, Begründung (BT-Drs. 15/1243). 13 Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, München/Wien 1985.

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Ordnung abhängig,14 die den Allmachtphantasien des Menschen Grenzen zieht und ihn in eine Vielzahl von „Lebensformen“ einweist.15 Paradoxerweise wird nach dem früheren Verständnis ein Subjekt, das „ich“ sagen kann, erst geschaffen.16 Subjekt muss man durch Beteiligung an einer kollektiven Praxis und ihre Reflexion werden, man ist es nicht.17 Auf diesem Hintergrund kann die Behauptung der Grundrechte als einer neuen Grundlage der durch Erziehung und Entwicklung zu vermittelnden Werte nur ambivalent erscheinen, weil damit auf eine Art „imaginären Kommunitarismus“18 rekurriert und das prozesshafte transsubjektive Moment der Subjektivität und ihrer Emergenz in einem praktischen Zusammenhang verfehlt. Im Gegenstandsbereich der hier untersuchten Fragestellung lässt sich dies an zwei Beispielen erläutern: Hannah Arendt19 hat das gängige Plädoyer für den „schülerzentrierten Unterricht“ schon früh in einer ihrer heute weniger beachteten Schriften, vor 50 Jahren, am Beispiel der Probleme der schulischen Erziehung in den USA diagnostiziert. Hinter der Menschenfreundlichkeit des „autonomen Lernens“ verbirgt sich nichts anderes als die Unfähigkeit einer Gesellschaft, sich noch in und mit einer transsubjektiven symbolischen Ordnung zu identifizieren. Der Lehrer ist dann nicht mehr deren Repräsentant sondern der „Freund“, der die sich selbst regulierende 14 Vgl. nur zur Entwicklung des Subjekts m. w. N. Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne bis zur Postmoderne, Weilerswist 2000; allg. auch Žižek, Slavoj, Das Unbehagen im Subjekt, Wien 1998. 15 Schneider, Michel, La confusion des sexes, Paris 2007, S. 121. 16 Ogien, Albert, Les formes sociales de la pensée. La sociologie après Wittgenstein, Paris 2007, S. 44; Rey, Olivier, Une folle solitude. Le fantasme de l’homme auto-construit, Paris 2006, S. 42. 17 Védrine, Hélène, Le sujet éclaté, Paris 2000, S. 16. 18 Schneider, a. a. O., S. 77; wie weit heute Geschichtsvergessenheit, die nichts mehr von der kulturellen Leistung der bürgerlichen Erziehung wissen will, schon verbreitet ist, demonstriert z. B. eine ehemalige Familienministerin, Renate Schmidt, wenn sie in diversen Talk-Shows die Erziehung in vorindustriellen Gesellschaften als vorbildhaft hervorhebt: „Zur Erziehung bedarf eines ganzen Dorfs“ – eben eines Dorfes. Dass die Probleme globalisierter Gesellschaften zum erheblichen Teil damit zusammenhängen, dass dann, wenn es keine dörfliche Umgebung gibt, auch keine Erziehung stattfindet, kann nicht mehr verstanden werden; vgl. zur Nicht-Erziehung in Einwandererfamilien nur Kleijwegt, Margalith, „Schaut endlich hin!“, Freiburg 2008. 19 Arendt, Hannah, Die Krise der Erziehung (1958), in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 255; vgl. auch zur gegenwärtigen Krise der Schule als Institution Blais, Marie-Claude/Gauchet, Marcel/Ottavi, Dominique, Pour une philosophie politique de l’éducation, Paris 2002; jetzt dies., Conditions de l’éducation, Paris 2008.

Überlegungen zu einer Neukonzeption des Jugendmedienschutzes

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„Peer Group“ als Lern- und Lebensform – auch therapeutisch – stützt,20 die im Übrigen einen oberflächlichen Konformismus der wechselnden Moden durchsetzt.21 Ähnliches gilt für die Eltern, die heute zum großen Teil mit „Erziehung“ als einer praktischen Aufgabe überfordert sind und diese lieber an die Psychologie als „Fach“ abtreten.22

II. Von der gesellschaftlichen Konvention über das „Schickliche“ zur Beobachtung von Kausalitäten durch Experten? 1. Die wachsende Bedeutung des Expertenwissens Die hier angestellten Überlegungen werfen auch ein neues Licht auf die alles andere als unproblematische Verweisung der Konkretisierung des Begriffs der „Entwicklungsbeeinträchtigung“ oder der „Jugendgefährdung“ an die Praxis der öffentlichen Einrichtungen des Jugendschutzes selbst:23 Diese Verknüpfung zwischen einem unbestimmten Rechtsbegriff und einer staatlich-behördlichen Praxis nimmt eine Akzentverschiebung vor, die nur noch konstatiert, dass einer gesellschaftlichen Praxis der Erziehung (an die früher das Verständnis der Jugendgefährdung als Abweichung von einer Normalität angeschlossen hat) keine orientierungsbildende Kraft mehr zugeschrieben werden kann. Die Beobachtung der impliziten sozialen Bindungen als Voraussetzung der Entwicklung von Individualität und Subjektivität wird abgelöst durch eine davon getrennte bürokratische Praxis von Experten,24 die die Verbindung mit einer distribuierten, von einer gesellschaftlichen Praxis getragenen Erziehungserfahrung aufgegeben hat. Dies schlägt sich in einem Wandel der Terminologie nieder: Während früher der Verweisungszusammenhang zwischen Normativität und Normalität der Erziehung paradigmatisch gewesen ist, ist es heute die Reflexion der Wissenschaft, die mit 20

Vgl. Jeand’Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes, a. a. O., S. 51; auch Nolan, James L., Acquiesence or Consensus? Consenting to Therapeutic Pedagogy, in: Criss, James J. (Hrsg.), Counseling and the Therapeutic State, Hawthorne/NY 1999, S. 107, 116 f., wo dies mit dem neuen Erziehungsziel „Stärkung des Selbstbewusstseins“ assoziiert wird. 21 Dies wäre die postmoderne Variante der „Erziehung durch das ganze Dorf“. 22 Jeammet, a. a. O.; es gibt Indizien dafür, dass die Anerkennung von „Pubertät“ als einen quasi-natürlichen Prozesses der Entfremdung des Jugendlichen von den Erwachsenen in einer Art self-fulfilling prophecy zu den eben damit verbundenen gesellschaftlichen Problemen führt: Epstein, Robert, Der Mythos vom Teenager-Gehirn, Gehirn und Geist 2008/1, S. 24 ff. 23 Vgl. Castendyk; Knoll; Mikat, jeweils a. a. O. 24 Vgl. zu dieser Problematik des Einsatzes von wissenschaftlichem „Expertenwissen“ durch „Analogie“ außerhalb eines wissenschaftlichen Kontextes Turner, Stephen J., Liberal Democracy 3.0, Thousand Oaks 2003, S. 59, 61.

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ihrer Frage nach sozialen Kausalitäten einen Ersatz für den Bezug auf die gesellschaftliche Erziehungspraxis und deren Verständnis als Pendant zur Normativität der Persönlichkeitsentwicklung bietet.25 Sie gerät dabei aber in einen paradoxen Zirkel, denn dem scheinbar sachlichen, analytischen Blick tritt der Mangel einer früher zu beobachtenden „anonymen und diffusen Souveränität einer menschlichen Konvention“26 (unter anderem über die Praxis der Erziehung) unter der Form der Intransparenz einer diffusen Kausalität entgegen, die ihrerseits ein stabiles Muster, das die Formulierung einer verallgemeinerungsfähigen Regel oder Regelmäßigkeit zuließe, eben nicht zu erkennen gibt.27 Vor allem in der amerikanischen Literatur wird in empirischen Untersuchungen insbesondere zum Zusammenhang zwischen gewalthaltigen Medien und tatsächlicher Gewalttätigkeit resümiert, dass ein Kausalitätsmuster nicht nachweisbar sei.28 Die scheinbar rationale wissenschaftliche Fragestellung nach der Kausalität von Medienkonsum für Gewalt als deren „Wirkung“ geht ganz fraglos von der Unterstellung aus, dass die gesellschaftlichen Normen und Konventionen, die früher das „Schickliche“ bestimmt haben, für die Verortung des Jugendschutzes keine Bedeutung habe. Wenn es keine einheitlichen Werte und Standards in der Erziehung gibt, scheint das kollektive Moment der Erziehung in der zentral gestellten Frage nach der Kausalität von Ursache und Wirkung der Medienkommunikation zu verdampfen. Damit ist jedoch nur eine Konsequenz gezogen worden aus der oben konstatierten Einebnung der Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen: Genau diese Frage war nämlich seit jeher – jedenfalls in den USA, mit bestimmten Einschrän25

Vgl. dazu aus der deutschen Literatur nur Köhne, Michael, Allein gegen Schund und Schmutz – Zur Effektivität einzelstaatlicher Jugendschutzregelungen, DRiZ 2007, 121, wo allerdings Überlegungen zur Kausalität und (berechtigte) Zweifel an der Durchsetzbarkeit des Schutzes angesichts des Internet nicht deutlich getrennt werden; zu dieser reduzierten Fragestellung neigt auch Theunert, Helga, Risikopotentiale der Medienwelt und ihre Realisierung durch Kinder und Jugendliche, RdJB 2006, 351. 26 Descombes, Vincent, Le complément de sujet, Paris 2003, S. 454. 27 Vgl. Descombes, Vincent, Le raisonnement de l’ours, Paris 2006, S. 289. 28 Vgl. nur Calvert, Clay/Richards, Robert D., Violence and Video Games 2006: Legislation and Litigation, Texas Review of Entertainment & Sports Law 8 (2007), 49, 56 ff.; Rotunda, Ronald D., Current Proposals for Media Accountability in Light of the First Amendment, Social Philosophy and Policy 21 (2004), S. 269 ff.; Williams, Jessica, Faulting San Andreas: The Call to Arms for Sensible Regulations of Violent Video Games, Hastings Communication & Entertainment Law Journal 29 (2006–2007), 121, 138 ff.; kritisch Lubin, Ilana, Challenging Standard Conceptions of Tradition, Science, and Technology in 2006: Why Laws Prohibiting the Sale of Violent Video Games to Minors Should be Ultimately Upheld, Cardozo Journal of Law & Gender 13 (2006–7), 173 ff.; Murray, John P., Children and Television Violence, Kansas Journal of Law & Public Policy 7 (1994–1995), 7, 10.

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kungen aber auch in Europa – entscheidend für die Bestimmung des Verhältnisses von Meinungsfreiheit und ihren Grenzen: Es wird normativ – wegen der Autonomie des Individuums einerseits und aufgrund des Vertrauens in die aufklärerische Wirkung der Institutionen des Öffentlichen andererseits – unterstellt, dass erwachsene Menschen nicht durch Lektüre „gefährlicher“ Bücher in einem Automatismus der Kausalität zu einer Gefahr für andere werden.29 Dies ist eine höchst voraussetzungsvolle Annahme: Sie ist nämlich eingebettet in Überlegungen zu den gesellschaftlichen Bindungen, die dem Einzelnen in einer Fülle von Lebensformen und durch die Beteiligung an reflexiven Foren der Öffentlichkeit (Presse etc.) auferlegt werden und auf diese paradoxe Weise erst Selbstbestimmung ermöglichen.30 Der analytische Frageansatz zur Bestimmung von Jugendgefährdung ist auf dem Hintergrund dieser klassischen Vorstellungen vom Subjekt dahin zu verstehen, dass gefragt wird, ob der Jugendliche als pathologische Abweichung vom Erwachsenen zu verstehen sei und seine Willensbildung demgegenüber einem einfachen Reiz-Reaktions-Mechanismus folge. Die negative Antwort steht dann schon vorher fest: Einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen bestehen auch nicht zwischen dem Verhalten und Denken von Jugendlichen und bestimmten Medieninhalten. 2. Die Aufhebung der Sonderstellung der Kindheit Vor allem in den USA und den dort seit Jahren mit wenig Erfolg geführten Auseinandersetzungen um den gesetzlichen Jugendmedienschutz wird deutlich, dass der neuen expliziten Frage nach Kausalitäten eine implizite Annahme vorausliegt, die nicht begründet wird, dass nämlich Jugendliche, wenn die Suche nach einfachen Kausalitätsannahmen fehlgeht, wie Erwachsene zu behandeln sind, weil bei diesen der normative Grundsatz gilt: „Im Zweifel für die Freiheit“.31 Diese unausgesprochen bleibende Konsequenz 29 Vgl. zum „clear and present danger“-Test bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Beschränkungen der Meinungsfreiheit Graber, Mark A., Transforming Free Speech. The American Legacy of Civil Libertarianism, Berkeley u. a. 1991, S. 4, 10, 164, 167. 30 Darin schlägt sich die Annahme nieder, dass das Subjekt nur noch „kritisch“ in dem Sinne sein kann, als es ein Subjekt mit vielen konfligierenden Referenzen ist, Dufour, Dany-Robert, L’art de réduire les têtes, Paris 2003, S. 62. 31 Darauf läuft im Grunde die amerikanische Kontroverse hinaus: Viele Gesetze der Staaten wie des Kongresses sind an der kaum hintergehbaren Unbestimmtheit der Formulierung von Schranken der Meinungsfreiheit gescheitert; vgl. dazu die Nachweise oben Fn. 28; insbesondere eine amerikanische Gesellschaft zur Verteidigung der Bürgerrechte (ACLU) verhindert mit ihren Klagen immer wieder die Durchsetzung der auf dem Papier (des Gesetzes) scharfen Sanktion für das Zugänglichmachen von pornografischen Inhalten für Kinder und Jugendliche, vgl. Chan,

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wird nicht als begründungsbedürftig angesehen.32 Sie ist Folge der Ablösung jener symbolischen Instanz des „Anderen“, des „Dritten“ eines transsubjektiven Prozesses.33 An deren Stelle ist – dies ist selbst das Produkt eines kollektiven Veränderungsprozesses – ein schwankendes, sich ständig veränderndes Ich-Ideal ohne symbolisches Über-Ich getreten, das sich seine „Identität“ unvermittelt aneignen und gegen die Auferlegung von Schranken behaupten kann.34 Damit scheint auch die Vorstellung von der Entwicklung eines Jugendlichen als ein nicht nur von diesem selbst zu verantwortenden widersprüchlichen Prozess nicht mehr kompatibel zu sein.35 Die Konsequenz aus dem bisher Gesagten kann sicher nicht darin bestehen, wieder zum früheren Verständnis des Jugendschutzes und einer geteilten Erziehungspraxis zurückzukehren. Vielmehr wären zunächst Voraussetzungen und Folgen der kaum hintergehbaren Veränderung genauer zu analysieren, und es muss dann gefragt werden, wie der Jugendschutz als Institution zu reformulieren sein könnte. Deshalb ist zunächst zu konstatieren, dass der Wandel des Jugendschutzes nicht nur auf den Verlust von relativ stabilen Werten und den Übergang zur Pluralisierung der Wertvorstellungen36 zu reduzieren ist, die mit mehr „Offenheit“ beantwortet werden müsste. Es hat sich ein weitaus tiefer gehender Wandel vollzogen, wenn der Jugendschutz seinen Bezugsrahmen nicht mehr in einer gesellschaftlichen Praxis („der ordentlichen Erziehung“) finden kann, sondern in einem sozialund erziehungswissenschaftlich formulierten normativen Ideal sucht, dessen Formulierung auf die gleichen Probleme der Pluralisierung der Erziehungsstile und der Beschreibung sozialer Komplexität stößt, wie die Formulierung Patty, Safer (Cyber)Sex with .xxx: The Case for First Amendment Zoning of the Internet, Loyola of Los Angeles Law Review 2006, 1299, 1300; Preston, Cheryl B., Zoning the Internet: A New Approach to Protecting Children Online, Brigham Young University Law Review 2007, 1417; allg. Keen, Andrew, The Cult of the Amateur. How Today’s Internet is Killing our Culture and Assaulting our Economy, London/Boston 2007, S. 201; zur heutigen Verbreitung von Pornographie unter Kindern (!) vgl. das vielsagende Interview mit einem 13-jährigen Mädchen, a. a. O., S. 158 f. 32 Doch die „Unbestimmtheit“ des gesetzlichen Jugendschutzes ist die Unbestimmtheit der modernen Welt; vgl. Koyré, Alexandre, Du monde clos à l’univers infini, Paris 1973, die dennoch paradoxerweise nicht ohne bestimmte Voraussetzungen erträglich ist; vgl. zur „ ‚kultivierten‘ Lebensform“ des bürgerlichen Subjekts, Reckwitz, a. a. O., S. 248 ff. 33 Dufour, a. a. O., S. 31, 55; Schneider, a. a. O., S. 121; Rey, a. a. O., S. 42. 34 Dufour, a. a. O., S. 127. 35 Vgl. dazu eindringlich Leammet, Philippe, Pour nos ados, soyons adultes, Paris 2008, wo aus einer reichen Erfahrung als Psychiater und Psychoanalytiker die Folgen der Nicht-Erziehung (nicht primär in Unterschichten) demonstriert werden. 36 Vgl. dazu Pen, Robert, Mass Media and the Plurality of Values, Divyadaan. Journal of Philosophy and Education 16 (2005), 323 ff.

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einer Praxis der Erziehung selbst. Es ist eine Illusion zu glauben, das scheinbar vom Grundgesetz vorgegebene Ideal der „autonomen Persönlichkeit“ könnte jenseits einer geteilten gesellschaftlichen erfahrungsbasierten Praxis durch „Experten“ in einem reflexiven Modus reformuliert und institutionalisiert werden. Ohne Anknüpfung an einen geteilten Bestand von „shared mental models“,37 die die Kultur und das Gedächtnis einer Gesellschaft ausmachen, ist dies nicht möglich. Vor allem aber ist auf dem Hintergrund der Auflösung tradierter Praxisformen der Erziehung der Blick auf die Rolle der Medien zu schärfen: Dem Jugendmedienschutz kann es nicht nur darum gehen, Medieninhalte mit zwangsläufig unsicheren Maßstäben normativ zu bewerten, vielmehr ist eine grundlegende Veränderung der nach wie vor konstitutiven Erziehungspraxis zu beobachten, die vor allem von den Medien selbst geprägt wird.38 Während der Jugendmedienschutz vor dem Aufstieg des Fernsehens auf die Abwehr von „Schmutz- und Schundliteratur“39 als „Störung“ einer Tradition der „ordentlichen Erziehung“ begrenzt bleiben konnte, sind die audiovisuellen Medien heute schon quantitativ in einer Weise zu Sozialisationsagenturen geworden,40 die nicht mehr nur sozusagen von außen Erziehungsprozesse „stören“, sondern die Leerstellen der traditionellen Erziehung ausfüllen. Dies bedeutet für den Jugendschutz eine weitaus größere Herausforderung als die „Pluralisierung“ der Werte. Auf diesem Hintergrund erweist sich das abstrakte normative Modell der Entwicklung der „autonomen Persönlichkeit“ als wishful thinking. Es ist zugleich ein charakteristisches Beispiel für die Verbreitung einer Sichtweise, die James C. Scott auf eine angemessene Formel gebracht hat: „Seeing like a state“.41 Der zunehmende Verfall gesellschaftlicher Erziehungspraxis und deren Ersetzung durch Medienerziehung (im genitivus subjectivus) als Form der endinstitutionalisierten „Selbstsozialisation“ kann die selbstreferenzielle Normativität des staatlich formulierten „Entwicklungsmodells“ nicht erschüttern. Der Konflikt wird dadurch abgespannt, dass „Reformansprüche“ an den Staat adressiert werden: Es bedarf nun der staatlichen Medienerziehung in der Schule und der weiteren Expansion der staatlichen schulischen Bildung. Im Folgenden soll gefragt werden, ob nicht gerade der Aufstieg der Medien zu „Lückenfüllern“ einer sich fragmentierenden Erziehungspraxis eine andere Perspektive nahelegt, als die mit dem traditionellen Verständnis assoziierte Beobachtung von „Gefahren“, die die Normalität eines Verlaufs 37 Vgl. dazu allg. Dequech, David, The New Institutional Economics and the Theory of Behavior under Uncertainty, Journal of Economic Behavior and Organization 2007, S. 109, 119. 38 Dufour, a. a. O., S. 146 Fn. 1. 39 Vgl. dazu Knoll, a. a. O. 40 Ukrow, Jörg, Jugendschutzrecht, München 2004, Rn. 1. 41 So der Titel eines 1998 in New Haven erschienen Buches.

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bedrohen. Die Riskanz der Vielfalt und die damit einhergehende Unsicherheit der Erziehungsvorstellungen selbst sollte in den Blick genommen werden. Es ist zu fragen, ob nicht diese Fragmentierung der Praxis zum Referenzobjekt einer Strategie der Reduzierung von „Jugendgefährdung“ werden sollte. Es soll zunächst ein Versuch unternommen werden, auf dem Hintergrund der unsicher gewordenen Normalität der Erziehung eine neue Lesart der „Menschenwürde“ für den Jugendschutz fruchtbar zu machen.42 Diese soll im Anschluss daran am Beispiel der Diskussion über das Verbot gewalthaltiger Videospiele an einem praktischen Problem getestet werden. Schließlich soll auf dieser Grundlage abschließend versucht werden, das Konzept der „Jugendgefährdung“ durch Akzentuierung des Interesses an der „ökologischen“ Beobachtung einer an Vielfalt orientierten kulturellen Umwelt zu konkretisieren.

III. Menschenwürde im Medienrecht 1. Menschenwürde als neue „Pathosformel“? In den letzten Jahren ist immer wieder versucht worden, teils durch Änderungen der Gesetze,43 teils durch administrative Entscheidungspraxis, teils durch gerichtliche Urteile, die Menschenwürde als Grenze der Thematisierung gegen die Medien in Anschlag zu bringen.44 Einer Bewertung dieser Versuche ist zunächst retrospektiv eine Vorüberlegung zur Veränderung der Begrenzung öffentlicher Kommunikation durch Verbote vorauszuschicken. Die tradierte rechtliche Version der „Schranken“ politischer und künstlerischer Äußerungsfreiheit greift – wie erwähnt – auf eher implizit bleibende „gute Sitten“ und Wertvorstellungen zurück,45 aus denen Krite42 Dazu Ladeur, Karl-Heinz/Augsberg, Ino, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, Tübingen 2008 i. E. 43 Vgl. § 15 Abs. 2 Nr. 3 JSchG, §§ 4 Abs. 1 Nr. 3, 8 JMStV (dieser Staatsvertrag führt den Schutz der Menschenwürde sogar im Titel); dazu auch Schulz, Wolfgang, „Menschenwürde“ im Konzept der Regulierung medialer Gewaltdarstellungen, M&K 2000, 345 ff.; ders., Vom Schutz der Menschenwürde und der Jugend vor medialen Gewaltdarstellungen. Geltende Rechtsnormen, in: Hausmanninger, Thomas/ Bohrmann, Thomas (Hrsg.), Mediale Gewalt, München 2002, S. 51 ff. 44 Vgl. die aus Anlass der ersten Ausstrahlung des „Big Brother“-Reality-TV erstatteten Referate von Di Fabio, Udo, Der Schutz der Menschenwürde durch allgemeine Programmgrundsätze, Berlin 2000; Dörr, Dieter, Big Brother und die Menschenwürde, Frankfurt a. M. 2000; vgl. zu einer ähnlichen Entwicklung in Frankreich Kriegel, Blandine, La violence à la télévision (Bericht für das französische Kultusministerium), Paris 2003, S. 75. 45 Vgl. Ladeur, Karl-Heinz, Das Medienrecht und die Ökonomie der Aufmerksamkeit, Köln 2007; ders., Risikomanagement. Warum der Jugendschutz sich vom Leitbild der Gefahrenabwehr lösen sollte, Funk-Korrespondenz 11/2005, 3 ff.

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rien für die Sanktionierung von – im wahrsten Sinne des Wortes – anstößigen Kommunikationen abgeleitet werden. Bis in die fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Rechtsprechung vor allem literarische Skandale (Verletzung sexueller Tabus etc.) auf diese Weise zu bewältigen versucht. Dabei ist das Kriterium der „Anstoßerregung“ teils normativ (objektivierend), teils faktisch (auf die Beobachtung öffentlicher Reaktionen) gewendet worden.46 Der Rekurs auf die Menschenwürde ist ein Versuch, die Fragmentierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen ernst zu nehmen und einen neuen Grenzbegriff einzuführen, der von schwankenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen unabhängig zu sein scheint und das Problem scheinbar ganz an das Rechtssystem verweist, also den Anschluss an implizite Wertvorstellungen unterbricht. Doch hat sich inzwischen gezeigt, dass die Vervielfältigung und Fragmentierung der Wertvorstellungen sich auch beim Versuch einer Spezifizierung des Begriffs der Menschenwürde durch die Rechtsprechung als Hindernis erweist.47 Die Objektformel erweist sich hier als nur begrenzt hilfreich.48 Sie kann sicher dazu benutzt werden, die Zustimmung von Menschen zu einer problematischen Selbstdarstellung in den Medien zu überprüfen und insbesondere Aufklärungspflichten durchsetzen helfen. Dies gilt ebenso für das Eindringen in die Privatsphäre, die Selbstdarstellung von Prostitution,49 Selbstidentifikation mit anti-sozialem Verhalten in den Medien etc.50 Darüber hinaus stellen sich aber vor allem bei neuen Sendeformaten in elektronischen Medien, die sich mit der Veröffentlichung des Privaten befassen, erhebliche Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Grenzen der öffentlichen Darstellung von menschlichem Verhalten oder von Eigenschaften im Rückgriff auf das Prinzip der Menschenwürde, soweit die Wirksamkeit der Zustimmung des erwachsenen Beteiligten nicht in Frage gestellt werden kann. Ein Beispiel für den Rekurs auf die Menschenwürde als Surrogat für ansonsten diffus gewordene Wertvorstellungen ist im Umgang der Rechtsprechung mit der Frage zu erblicken, wann bestimmte Veranstaltungstypen innerhalb der „Erotik-Industrie“ als „sittlich anstößig“ und damit verbots46 Beisel, Daniel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und ihre strafrechtlichen Grenzen, Karlsruhe 1998, S. 40, 50 ff. 47 Vgl. nur BVerfGE 87, 209 ff. 48 Vgl. jetzt Eifert, Martin, Medien und Menschenwürde, in: Bahr, Petra/Heinig, Hans M. (Hrsg.), Die Menschenwürde im säkularen Verfassungsstaat, Tübingen 2006, S. 317 ff. 49 In einer Sendung von RTL (Magazin „Extra“ v. 26.2.2007) wurde über den (auch vom Freund der Betroffenen gutgeheißenen) Übergang einer 22-jährigen Hartz IV-Empfängerin in die Prostitution in einem Bordell mit „viel Verständnis“ berichtet, FAZ Nr. 50 v. 28.2.2007, S. 40. 50 Vgl. dazu die kaum anwendbare Vorschrift des § 8 Abs. 2 JMStV zur zeitlichen Verschiebung von „Nachmittags“-Talk-Shows, Cole, a. a. O. (2008), S. 270.

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würdig qualifiziert werden können. Das Bundesverwaltungsgericht hatte in einem viel beachteten Urteil51 entschieden, dass die nach § 33a GewO erforderliche Erlaubnis zum Betrieb einer sog. Peep-Show versagt werden müsse, weil die beabsichtigten Veranstaltungen den guten Sitten zuwiderliefen. Gestützt wurde diese Entscheidung auf eine Argumentation mit Art. 1 Abs. 1 GG: Weil in derartigen Shows durch den Veranstalter den in Einzelkabinen befindlichen Zuschauern Frauen wie eine der sexuellen Stimulierung dienende Sache zur entgeltlichen Betrachtung dargeboten würden, handele es sich um eine Entwürdigung der Frauen, und diese die Menschenwürde missachtende objekthafte Rolle der Frauen begründe die Sittenwidrigkeit derartiger Veranstaltungen.52 Insbesondere der vom Gericht selbst vorgenommene Quervergleich zum für noch zulässig erachteten sog. table-dance zeigt, dass dabei jedoch im eigentlichen Zentrum der Kritik weniger die Darstellung der Frau als vielmehr die Reaktion der Zuschauer stand; als anstößig empfunden wurde insofern die Funktionalisierung des Geschehens als sexueller Stimulus zu gegebenenfalls onanistischen Handlungen.53 Statt diese Thematisierung durch den Rekurs auf die Menschenwürde eher zu kaschieren als zu betonen, könnte man insofern offensiver gerade in diesem Rezipientenverhalten einen Anknüpfungspunkt für eine plausible Diskriminierung nicht nur für die Bestimmung der Sittenwidrigkeit, sondern auch bei der entsprechend schwierigen Kategorisierung dessen, was etwa als Pornographie im Sinne des Strafgesetzbuches (und damit erst recht als „sittlich anstößig“) gelten muss, erblicken: Entscheidendes Kriterium wäre demnach die Frage, ob eine Darstellung primär der sexuellen Befriedigung dient.54

51 BVerwGE 64, 274; kritisch dazu Olshausen, Henning v., Menschenwürde im Grundgesetz: Wertabsolutismus oder Selbstbestimmung?, NJW 1982, 2221 ff.; Höfling, Wolfram, Menschenwürde und gute Sitten, NJW 1983, 1582 ff.; die Argumentation des BVerwG unterstützend dagegen Gern, Alfons, Menschenwürde und gute Sitten, NJW 1983, 1585 ff. 52 BVerwGE 64, 274; s. aber auch BVerwGE 84, 314, wo zur Bestimmung der Sittenwidrigkeit ausdrücklich nicht mehr auf Art. 1 Abs. 1 GG rekurriert wird. 53 Ausdrücklich heißt es in der Entscheidung, dem Berufungsgericht hätte sich im „Hinblick auf die der Lebenserfahrung entsprechende Wirkung der beabsichtigten Darstellung“ der Eindruck aufdrängen müssen, „der Auftritt der unbekleideten Frauen sei im besonderen Maße geeignet, die in den nicht einsehbaren Einzelkabinen befindlichen männlichen Personen nachhaltig geschlechtlich zu erregen und zur Selbstbefriedigung zu veranlassen“ (BVerwGE 64, 274, 278). 54 Vgl. Ladeur, Karl-Heinz, Was ist Pornographie heute?, AfP 2001, 471 ff.

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2. „Menschenwürde“ als Formel für den „re-entry“ der „Gemeinschaft“ nach dem Ende der Konventionen? Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ist auf einen zweiten Blick jedoch rationaler, als es angesichts dieser offenbar einfachen Differenzierung zunächst erscheinen mag. Denn eine solche rezeptionsbezogene Definition hat mit dem Problem zu kämpfen, dass sie auf einem zwangsläufig subjektiven Moment aufbaut, das nur unzureichend normativ reobjektiviert werden kann. Der von einem Text oder Film für den einzelnen Leser oder Betrachter ausgehende sexuelle Stimulus ist nicht eindeutig fixierbar. Die Labilität der Konzeption wird noch deutlicher, wenn man einen kontextund zeitbezogenen Faktor in die Betrachtung mit einbezieht: Gesellschaftliche Sexualmoral und der dagegen gerichtete Tabubruch stehen mit der erotisierenden Wirkung in engem Zusammenhang. Erotisch ist das Außergewöhnliche; auch diese Sphäre kann sich nicht gegen gewisse Abnutzungseffekte wehren.55 Im Unterschied zu anderen fiktionalen Texten, die gerade dadurch, dass sie dennoch realistisch sind, dem Leser oder Betrachter in der „explizit fiktiven Realität“ eine Mehrzahl möglicher Handlungsoptionen und deren Konsequenzen vorführen, die ihm auch in der „realen Realität“ das Verhalten erleichtern,56 ist das Problem der Pornografie aber die mangelnde Reflexion des antirealistischen fiktionalen Charakters bzw. dessen kurzschlüssige Koppelung mit der „realen“ Welt. Auch und gerade im juristischen Zusammenhang muss insofern die gesellschaftliche Entwicklung bezüglich des Pornographieverständnisses genau beobachtet werden. Damit ist allerdings die Gefahr bezeichnet, dass das Recht durch eine allzu enge Anbindung an die in einer liberalen Gesellschaft zwangsläufig variablen sozialen (Wert-)Vorstellungen seiner Aufgabe als Stabilisierung gerade kontrafaktischer Erwartungshaltungen nicht mehr angemessen entsprechen könnte. Vor diesem Hintergrund ist der Versuch, mit Hilfe der Menschenwürde ein zeit- und gesellschaftsunabhängigeres, weniger kritikanfälliges Kriterium zu etablieren, durchaus nachvollziehbar.57 Der „re-entry“ der Gemeinschaft in den durch Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme bestimmten Zusammenhang der Freiheitsrechte58 und die damit einhergehende Fragmentierung der Person kann nicht den Verlust der „Identität“ eines „Selbst“ gegen die differentielle Gesellschaft zur Geltung bringen. Er kann allenfalls 55

Vgl. Ladeur, Was ist Pornographie heute?, a. a. O., S. 474. Vgl. Esposito, Elena, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt a. M., S. 56 f. 57 Vgl. aus der Sicht der Praxis Liesching, Marc, Verletzung der Menschenwürde durch Fernsehsendungen, tv diskurs, 31 (2005), 64 ff. 58 Vgl. dazu Ladeur, Karl-Heinz/Augsberg, Ino, Die Funktion der Menschenwürde im Verfassungsstaat, Tübingen 2008. 56

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„Vielfalt“ der Möglichkeiten, die Verteidigung der Offenheit des kulturellen Varietätspools als Prinzip der Mediation im Angesicht beschleunigter Selbsttransformation der Gesellschaft absichern – als eine Art Meta-Prinzip gegen die totalitären Tendenzen einzelner Teilsysteme, als „Leitsysteme“ die Eigenrationalität der anderen zu überwältigen.59 Dazu gehört auch die Gefahr der Übersteigerung der Selbstreferenz, die sich allen „ökologischen“ Zwängen entzieht, nämlich Teil einer produktiven Umwelt für die anderen Systeme zu bilden. Ähnliches gilt auch für die Entwicklung von Personen: Die Schadensgrenze, die als Vermutungsregel für die Bewertung von Eingriffen in die unterstellte Autonomie der Meinungsbildung der (erwachsenen) Individuen in einer liberalen Gesellschaft gilt, würde gegenüber Kindern und Jugendlichen dann durch die normative Vermutungsregel für die Notwendigkeit einer Vielfalt von Lebens- und Denkformen ersetzt. Von dieser auf die Jugend selbst bezogenen Regel muss sich „Jugendgefährdung“ nach wie vor bestimmen lassen, nicht von der Frage nach einer Gefahr für Dritte. Es gilt z. B. bei der Frage der Zulässigkeit „expliziter“ Darstellungen von Sexualität die schwer widerlegliche Vermutung, dass sich in der (sexuellen) „Lust am Schauen“ die „Verselbständigung eines Sinnes“60 manifestiert. Nach einer psychoanalytisch informierten Theorie sucht der (männliche) Zuschauer „im Pornokino die Bestätigung seiner kindlichen Sexualtheorie, der phallischen Mythologie über das weibliche Geschlecht“.61 Dies mag nicht die allein richtige Beschreibung des Problems sein, nach der hier skizzierten Konzeption reicht es aber aus, dass sie die „Fixierung auf das zwanghaft Wiederholende“62 der Pornographie plausibel zum Ausdruck bringt, die zugleich ein Risiko für das Prinzip der Vielfalt der kulturellen Umwelt Jugendlicher belegt. (Dass die Entwicklung Jugendlicher auch in anderer Weise – außer durch die Medien – gefährdet ist, ist kein Grund, den Anspruch des Jugendmedienschutzes zu reduzieren.) Die hier vorgeschlagene enger zu fassende Funktion der Menschenwürde dispensiert zunächst nicht davon, sektorspezifische Lösungen zur Konkretisierung von in ihrem sozialen Bezugspunkt unscharf gewordener Formeln und Begriffe zu finden, indem dieser Frage durch den Rückgriff auf die Menschenwürde ausgewichen wird. Weil aber in einer immer stärker von pluralistischen Wertvorstellungen geprägten Gesellschaft die Schwierigkeiten dieser Aufgabe nicht zu verkennen sind, bietet sich eine stärker institutionell orientierte Perspektive an, die statt Individualschutz primär all59

Teubner, a. a. O. Koch, Gertrud, Schattenreich der Körper. Zum pornographischen Kino, in: Gramann, Karola et al., Lust und Elend: Das erotische Kino, München/Luzern 1981, S. 16, 28. Vgl. auch Kriegel, La violence à la télévision, a. a. O., S. 39. 61 Koch, Schattenreich der Körper, a. a. O., S. 37. 62 Koch, Schattenreich der Körper, a. a. O., S. 37. 60

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gemeine Regularien für spezifische Darstellungsforen in den Blick nimmt.63 Nicht zu verkennen ist allerdings auch, dass diese Lösungsvariante im Internetzeitalter und der damit einhergehenden beinahe ubiquitären Zugänglichkeit des entsprechenden Materials an Überzeugungskraft einbüßt. Verstärkt virulent wird mit dieser Entwicklung zudem das allgemeine Problem der – objektiven – Unterscheidung und – subjektiven – Unterscheidungsfähigkeit bezüglich der „realen Welt“ einer- und dem phantasmatischen Szenario des fiktionalen Pornogeschehens andererseits sowie vor allem möglicher Rückkoppelungen beider Sphären, also die Möglichkeit, die unterschiedlichen Darstellungsforen getrennt zu halten. Das sich hier stellende Problem ist insofern zumindest im Ansatz das gleiche wie die Frage nach dem Einfluss sogenannter „Ego-shooter“-Computerspiele auf das Verhalten Jugendlicher. Die allgemeine Beobachtung eines Verschwimmens der Grenze zwischen Virtualität und Realität64 gewinnt jedoch im Bereich der Pornographie insofern eine besondere Schärfe, als pornographische Darstellungen jedenfalls im Prinzip darauf angelegt zu sein scheinen, die Grenzen zu verschleifen.

IV. Das Exempel: Jugendgefährdung durch Gewaltdarstellungen? 1. Die „Definition“ der gefährlichen Gewalt Im Hinblick auf diese Differenzierung zwischen Gewaltdarstellungen einerseits und pornographischem Material andererseits ist ein Blick auf die entsprechende US-amerikanische Debatte instruktiv: In einer neuen Studie der amerikanischen FCC,65 die sich für eine gesetzliche Beschränkung der Verbreitung von Gewaltdarstellungen im Fernsehen ausspricht,66 wird ein 63

Ladeur, Was ist Pornographie heute?, a. a. O., S. 474 ff. Vgl. Baudrillard, Jean, Das perfekte Verbrechen, München 1996. 65 Federal Communications Commission, Report on Violent TV Programming and its Impact on Children (FCC 07–50), v. 6.4.2007; kritisch vor allem zum Verzicht auf einen Vorschlag zur Definition strafbarer Gewaltdarstellungen Corn-Revere, Robert, FCC Television-Violence Report: A conclusion in search of an analysis, 7.4.2007, www.firstamendmentcenter.org/Commentary; Thierer, Adam, Censoring Violence in the Media, techknowledge v. 10.8.2004, www.cato.org/tech. 66 Vgl. (bejahend) zur Frage der gewaltfördernden Eignung von Mediengewalt Rowell Huesmann L./Taylor, Laramie D., The Role of Media Violence in Violent Behaviour, Annual Review of Public Health 27 (2006), 393; Anderson, Craig A./ Gentile, Douglas A./Buckley, Katherine E., Violent Video Games Effect on Children and Adolescents, Oxford 2007; als der gesellschaftlichen Bewegung gegen Gewalt im Fernsehen interessant (wenn auch etwas alarmistisch im Ton) Grossman, Dave/DeGaetano, Gloria, Stop Teaching Our Kids to Kill, New York 1999; vgl. auch Rosaen, Sarah/Boyson, Aaron R./Smith, Stacy L., Aggression-Related Charac64

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Problem erkennbar, das in Deutschland mit dem Rekurs auf die Menschenwürde – auf eine letztlich unzulängliche Weise – bewältigt werden soll:67 Während es im Bereich der Pornographie immer noch einen Kernbereich gemeinsamer Vorstellungen davon gibt, dass bestimmte sexuelle Darstellungen jedenfalls nicht in einem allgemein zugänglichen Fernsehprogramm gezeigt werden sollen – auch wenn die Abgrenzung im Einzelnen sehr unterschiedlich ausfällt – lässt sich dies von Gewaltdarstellungen nicht ohne weiteres sagen: Hier ließe sich allenfalls von Fall zu Fall möglicherweise ein Konsens darüber erzielen, welche Filme als nicht geeignet für eine allgemein zugängliche Vorführung sind. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses Problem damit zusammenhängt, dass sich in der Familienerziehung das Tabu des Inzests und insbesondere des sexuellen Kontakts zwischen Eltern und Kindern erhalten hat und daran auch die Bewertung von sexuellen Darstellungen in der Öffentlichkeit anknüpfen kann. Es gibt allerdings auch Anzeichen dafür, dass dieses Tabu in Unterschichten und mit den Familienstrukturen selbst erodiert und sich von dort ausgehend auch der „offene Umgang“ mit Pornographie unter Kindern und Jugendlichen insbesondere in Schulen verbreitet. Bei Gewaltdarstellungen ist dem gegenüber eine sich unmerklich vollziehende Veränderung der Einstellungen zu beobachten; damit wird die Anknüpfung rechtlicher Unterscheidungen an gesellschaftliche Konventionen erschwert. In der Vergangenheit ließ sich die Beobachtung von „Jugendgefährdung“ noch auf die Normalität der Erziehungspraxis und ihrer Regeln beziehen.68 Der Aufstieg eines substanzhaften Verständnisses der „Menschenwürde“ als neue Pathosformel für die Beschwörung der Grenzen einer Öffentlichkeit der Medien, die die Selbstsozialisation der Jugend beherrscht, kann das Problem der mangelnden Bestimmbarkeit des Begriffs der Erziehung69 jedoch nur überteristics and the Selection of Media Violence, Zeitschrift für Medienpsychologie 18 (2006), 119; Schaefer, Mechthild, Stopping the Bullies, Scientific American – Reports 17 Nr. 2 (2007), 48; auch ein kanadischer Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass ein Zusammenhang zwischen dem Konsum von Gewaltdarstellungen im Fernsehen und Gewalttätigkeit bei Jugendlichen kaum auszuschließen ist, Josephson, Wendy L., Television Violence: A Review of the Effects on Children of Different Ages, Department of Canadian Heritage, 1995. 67 Vgl. nur BVerfGE 87, 209 (Zombie); OVG Koblenz, DÖV 1994, 965 (Quasar); BVerwGE 115, 189 (Laserdrome); dazu auch EuGH, DVBl 2004, 1476. 68 Vgl. etwa zum Begriff der „Verwahrlosung“ KG Berlin, ZBlJugR 1929, 336, wo noch eine „ordentliche Erziehung“ Normalitätsstandard unterstellt wird, an dem „Verwahrlosung“ als Abweichung bestimmt werden kann; vgl. auch Hill, Fritz, Jugendwohlfahrtsgesetz, Opladen 1975, Anmerkungen zu § 64, S. 142 f. 69 Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, a. a. O., S. 53; vgl. zur Rolle der Erziehung in der Postmoderne Atkinson, Elizabeth, The Promise of Uncertainty: Education, Postmodernism and the Politics of Possibility, International Studies in the Sociology of Education 10 (2000), 81; Aviram, Roni/Yonah, Yossi, ‚Flexible

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spielen. Die neue Frage des Jugendschutzes zielt unmittelbar – ohne die Orientierung an einer Erziehungspraxis und den darin eingetragenen Werten, Verhaltensmustern, Konventionen – auf die Ermittlung der Evidenz einer Kausalitätsbeziehung, an deren Ende ein Schaden für die Menschenwürde steht.70 Jedenfalls lässt sich im Hinblick auf die Pornographie nicht ohne Grund mit Richard A. Posner die These aufrechterhalten: „The offensiveness is the offense“.71 Damit soll gesagt werden, dass die Verletzung gesellschaftlich verankerter Werte den Grund für die rechtliche negative Sanktion von Pornographie bildet, nicht die Gefahr für ein jenseits dieser impliziten Regelbestände existierendes Rechtsgut. Bei Gewaltdarstellungen ist dieser Anschluss nicht (mehr) leicht herzustellen oder zu erhalten.72 „Menschenwürde“ ist dann eine Beschwörungsformel, die dem wenig verstandenen Phänomen der Faszination der Gewalt den utopischen Vorgriff auf die umfassende „wechselseitige Anerkennung“73 entgegen setzt, die sich die Rückbindung an eine Infrastruktur von Regeln und Handlungsmustern der Gesellschaft und ihrer Kultur abschneidet. Diese „wechselseitige Anerkennung“ – eine Art Schwundstufe des Kantianismus, die den Universalismus der Vernunft auf die Unmittelbarkeit des interindividuellen Austauschs reduziert –, hat die Zwänge der Sozialität hinter sich gelassen und negiert damit auch die Unerreichbarkeit der Person, die Nichthintergehbarkeit ihrer Intransparenz, insbesondere die der sich entwickelnden jugendlichen Person. Control‘: Towards a Conception of Personal Autonomy for Postmodern Education, Educational Philosophy and Theory 36 (2004), 3. 70 Vgl. zum Hintergrund der „evidenzbasierten Pädagogik“, die danach fragt, wie „effizient“ – ohne Rekurs auf die symbolische Vermittlung von Erziehung mit einer eigenständigen pädagogischen Erfahrung – ein bestimmtes Ergebnis erreicht werden kann: Es stellt sich nur noch die Frage „What works?“. Vgl. dazu Biesta, Gert, Why ‚what works‘ Won’t Work: Evidence-Based Practice and the Democratic Deficit in Educational Research, Educational Theory 57 (2007), 1; ders., Bildung and Modernity: The Future of Bildung in a World of Difference, Philosophy of Education 21 (2002), 346; Schwandt, Thomas A., A Diagnostic Reading of Scientifically Based Research for Education 31 (2005), 285; vgl. allg. auch Luhmann, Niklas, Schriften zur Pädagogik, Frankfurt a. M. 2004, S. 210 f. 71 So Richter Posner im Fall American Amusement Machine Ass. et al. v. Teri Kendrick et al., United States Court of Appeal for the Seventh District Urteil v. 23.3.2001, No. 00–3643; zu einem problematischen Versuch, diese Gleichung auf Gewalt zu übertragen, vgl. Saunders, Kevin, Violence as Obscenity: Limiting the Media’s First Amendment Protection, Durham/London 1996. 72 Vgl. dazu für das deutsche Recht Köhne, Michael, Zombies und Kannibalen. Zum Tatbestand der Gewaltdarstellung (§ 131 StGB), GA 2004, 180; ders., Die Verhältnismäßigkeit des Gewaltdarstellungsverbots, KritV 2005, 244 (Auseinandersetzung mit BVerfGE 87, 209 – „Tanz der Teufel“). 73 Vgl. nur Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1994.

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2. Gewalt als „Kult“ Mit einer gewissen Vereinfachung lässt sich die von gesellschaftlichen Normen und Konventionen nur noch schwach begrenzte Faszination der Gewalt für Jugendliche74 ihrerseits als eine expressiv gesteigerte Erscheinungsform der Fragmentierung der Gesellschaft verstehen, die die Individuen an sich selbst und ihrer eigenen und fremder Körperlichkeit beobachten.75 Die entgrenzende Darstellung der Gewalt ist das unmerkliche Ausagieren von Imaginationen in einer fragmentierten Gesellschaft, die die Individuen selbst nicht begreifen: Ähnlich wie bei der Pornographie werden nicht mehr wie etwa im Roman die unterschiedlichen Rollen und Lebensformen oder -stile anderer und ihre Kollision beobachtet.76 Den Hintergrund für die Lust am Ausagieren von Emotionen liefert die Infantilisierung der Jugendlichen, die – begünstigt durch den Rückzug des Erziehungssystems und die Dominanz des Mediensystems – die „autonome“ Selbstsozialisation in unterschiedlichen, von der Erwachsenenwelt getrennten „Szenen“ unterschiedlicher Peer-Groups durchsetzt.77 Erziehung bedeutet die Ablösung der fantasmatischen Objekte des „privaten Wissens“78 des familialen Milieus durch die Aneignung der Gegenstände des „gemeinsamen Wissens“, die einen Wert dadurch erhalten, dass sie von der gesellschaftlichen Praxis institutionalisiert werden.79 Hannah Arendt hat – wie erwähnt – diese Problematik der Ideologie der „Selbsterzeugung“ des von der Last des Wissens vorangegangener Generationen entlasteten Kindes und Jugendlichen schon in den 50er Jahren beobachtet.80 Die Veränderung des Sozialisationsprozesses, 74

Zu den Grenzen der erzieherischen Einwirkung vgl. Duncum, Paul, Attractions to Violence and the Limits of Education, The Journal of Aesthetic Education 40/4 (2006), 21. 75 Pally, Marcia, Die Invasion der Körperfresser. Warum wir die Medien zum Monster machen müssen, Merkur Nr. 628 (2001), 653. 76 Vgl. allgemein zu postmodernen medialen Formen der unmittelbaren Zuwendung zu menschlichen Krisen Illouz, Eva, Oprah Winfrey and the Glamour of Misery. An Essay on Popular Culture, New York 2003, insbes. S. 226; zum Lernen durch Orientierung an fiktionalen Texten vgl. Esposito, Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, a. a. O., S. 56 f. 77 Sabbagh, Leslie, The Teen Brain, Hard at Work, Scientific American – Reports 17 Nr. 2 (2007), 55, 58 f.; Epstein, Robert, The Myth of the Teen Brain, Scientific American – Reports 17 Nr. 2 (2007), 69, 71; Rey, Une folle solitude, a. a. O., S. 242; vgl. zur Auswirkung auf die Schule Flahault, François, Sisyphe professeur, Communications Nr. 72 (2002), 17, 33. 78 Vgl. dazu näher Castoriadis, Cornelius, L’institution imaginaire de la société, Paris 1975. 79 Hatchuel, Françoise, Savoir, apprendre, transmettre, Paris 2005, S. 51. 80 Arendt, Hannah, Die Krise in der Erziehung (1958), in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken, München 1994, S. 255; Rey, O.,

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die sich mit dem Übergang von der Aneignung der symbolischen Ordnung über den Text und die kumulative, strukturierte Entwicklung des Selbst zur unstrukurierten Erregung durch Bilder und ihre Imitation vollzieht – wie sie sich vielfach auch in der leeren Selbstreferenz des sich selbst wiederholenden Fernsehens zeigt – wird in der Diskussion über „Gewalt im Fernsehen“ vernachlässigt.81 Dies ist eine Konstellation, in der das Recht nicht im Rekurs auf die Menschenwürde eine ideale Norm zur Konservierung der tradierten kulturellen Formen anrufen kann. Andererseits ist es auch wenig glaubhaft, Gewalt als „Jugendkultur“ zu akkreditieren82 und damit die Rechtsordnung unter normativen Anschlussdruck zu setzen. Dies erscheint kurzschlüssig: Es handelt sich eher um eine „Kultbildung“.83 Deren Einseitigkeit und Expressivität bricht mit der traditionellen Vorstellung des Selbst, das sich durch die Varietät seiner Bindungen von der Unmittelbarkeit der Bindung an eine Tradition distanziert.84 Der Staat darf sich nicht für bestimmte kulturelle Modelle entscheiden, doch kann die Menschenwürde auch hier als Prinzip der Wiedereinführung von Diversität und Varietät der Möglichkeiten unter den Bedingungen der Fragmentierung der Individualität durch „Kult“ für Kinder und Jugendliche zur Geltung gebracht werden. In Zeiten der zunehmenden Selbstsozialisation von Kindern und Jugendlichen durch „Kult“ muss der Vielfaltgrundsatz Une folle solitude, a. a. O., S. 242; auch in Kants Schriften zur Pädagogik wird diese Notwendigkeit der Anerkennung der Erfahrung der früheren Generationen als Grundlage der Erziehung schon betont, Kant, Immanuel, Über Pädagogik, Bad Heilbrunn 1960, S. 10 f. 81 Dufour, Dany-Robert, L’art de réduire les têtes, a. a. O., S. 146 f. 82 So das Posner-Urteil American Amusement Machine Ass. et al. v. Teri Kendrick et al., United States Court of Appeal for the Seventh District Urteil v. 23.3.2001, No. 00–3643. 83 Dazu gehören auch neue Formen der „wechselseitigen“ Jugendgefährdung durch Gleichaltrige, die durch die Verbreitung der Foto- und Video-Funktionen des Mobiltelefons stark zugenommen hat, aber auch die massenhafte Nutzung von „social networking“ im Internet, Groppe, Jessica S., A Child’s Playground or a Predator’s Hunting Ground? How to Protect Children on Social Networking Sites, Journal of Communications Law and Policy 2007, 215; vgl. dazu aus rechtlicher Sicht jetzt auch Hopf, Kristina, Rechtliche Grundlagen des Jugendmedien-Staatsvertrags und die Verantwortlichkeit von Chatbetreibern, ZUM 2008, 207; für die „Szenen“ der Jugendlichen wäre es auch problematisch, die sonst in fragmentierten Öffentlichkeiten zu berücksichtigende Ausdifferenzierung von Standards ohne weiteres (oder als Varianten von „Satire“) zu akzeptieren, vgl. dazu VG Köln, ZUM 2006, 501 (Texte von „Rappern“). 84 Vgl. Lifton, Robert J., The Protean Self. Human Resilience in an Age of Fragmentation, Chicago 1999, S. 211, 230; Arnaud, Claude, Qui dit je en nous?, Paris 2006, S. 37 f.

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im Verhältnis zu Jugendlichen und Kindern neu interpretiert werden. Es kann nicht mehr primär um Jugendgefährdung im Sinne der Abwehr einer „Gefahr“ für die Durchsetzung der Praxisregeln der Erziehung von Jugendlichen gehen. Vielmehr kommt es darauf an, dass die Medien ihrerseits ausreichend vielfältige und entwicklungsfördernde „Skripte“ für die Identitätsfindung produzieren und verbreiten.85 Darüber ließe sich die auch im Medienrecht die mit Recht beklagte Schwierigkeit der Definition „jugendgefährdender“ Gewalt kompensieren. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich behaupten, dass angesichts der Fragmentierung der Öffentlichkeit die Möglichkeit der unmittelbaren Aneignung von Identität im jedenfalls potenziell schädlichen „Kult“ die „offensiveness“ im oben erwähnten Sinne ausmache.86 Ohne dass hier auf Details eingegangen werden kann, sei doch angemerkt, dass die Implementation einer solchen Überlegung auf prozedurale Formen der regulierten Selbstregulierung zurückgreifen kann,87 die dann im Rundfunk – hier im Hinblick auf Kinder und Jugendliche – die Einseitigkeit der „Mediengewalt“ als „Verbrauch“ von Vielfalt sanktionieren könnten. Die Rundfunkfreiheit und das mit ihr verknüpfte Gebot der Gewährleistung einer „positiven Ordnung“,88 die die Vielfalt der Möglichkeiten rechtlich vorgibt und nicht nur der Medienfreiheit von außen Schranken zieht, ist dafür eine geeignete Rechtsgrundlage – jedenfalls für den Rundfunk. Auch auf der Seite der Individuen gilt es, die Offenheit des Varietätspools der Gesellschaft zu erhalten.

V. Konsequenz: „Risikomanagement“ für die kulturelle Umwelt? 1. Medien als Institutionen der „Selbstsozialisation“ Jugendlicher Heute ist zu berücksichtigen, dass die Medien im Zuge der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme keineswegs darauf beschränkt sind, auf der Grundlage von relativ stabilen Unterscheidungen von Öffentlichem und Privatem „Themen“ auszuwählen und für die öffentliche Meinungsbil85 Vgl. zur Bedeutung von Rollenvorbildern für die Reproduktion der Gesellschaft und ihrer Werte Audi, Robert, Moral Value and Human Diversity, Oxford 2007, S. 31, 40. 86 Vgl. allg. Audi, Moral Value and Human Diversity, a. a. O., S. 31, 40. 87 Vgl. Bosch, Dorit, Die „regulierte Selbstregulierung“ im JMStV, Frankfurt a. M. 2006; Langenfeld, Christine, Die Neuordnung des Jugendschutzes im Internet, MMR 2003, S. 303 ff. 88 BVerfGE 12, 205, 262 f.; 57, 295, 325; 90, 60, 88.

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dung zu kommunizieren. Die elektronischen Medien sind heute – wie mehrfach betont – weitgehend zu Trägern der „Selbstsozialisation“ von Kindern und Jugendlichen geworden.89 Diese Rolle lässt sich nicht mehr mit den tradierten Grenzbegriffen beschreiben und bewerten, wie sie das Konzept der Jugendgefährdung unterstellt.90 Angesichts dieser Konstellation erscheint es eher angezeigt, an die Bedeutung der Funktion der Medien selbst anzuknüpfen und zu fragen, ob sich nicht neue Selbstbegrenzungen jedenfalls bei den Medien mit Dauerpräsenz im Sozialisationsprozess von Jugendlichen (Fernsehen, Videospiele etc.) nahe legen. Es wäre dann nach der Selbstgefährdung der Diversität der Reproduktion von Wissen und der Zufuhr des Neuen als den für die Erhaltung und Entwicklung der Selbstorganisation der Gesellschaft erforderlichen Ressourcen zu fragen und eine Strategie der Risikobegrenzung gegenüber der Dauerpräsenz von asozialem Verhalten, Angeboten von Gewalt und sexuellen Darstellungen zu formulieren.91 Hier ließe sich eine Anleihe beim Risikoverwaltungsrecht vornehmen, das für die „Risikovorsorge“ (im Gegensatz zur Gefahrenabwehr) ein staatliches „Konzept“ verlangt,92 das die horizontale Verbindung zwischen verschiedenen planerischen Komponenten des Umweltschutzes unterhalb der Gefahrengrenze herstellt und dadurch das Fehlen der Ausgleichmöglichkeit im Rahmen der hierarchischen Relationierung von Ursache und Wirkung kompensiert. Dies ließe sich für die „Risikovorsorge“ im Jugendmedienschutz reformulieren in dem Erfordernis der Beobachtung und Verhinderung der Darstellung verrohender, die Reproduktion von Kultur als soziales Gedächtnis gefährdender Handlungsfor89

Vgl. Ladeur, Risikomanagement, a. a. O. Vgl. Mongin, Olivier, Interview, in: Communications Nr. 72 (2202), 219, 224 f.: die „Gesellschaft der Bildschirme“ durchbricht durch ihren Exzess an Bildern eine „Logik, in der es ein Gesetz zu überschreiten gäbe“, vielmehr führt sie zu einer „Überprivatisierung des öffentlichen Raumes“; die Bilderflut untergräbt die Trennung zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen Intimität und Öffentlichkeit; Haroche, Claudine, Façons de voire, manières de regarder dans les sociétés démocratiques contemporaines, Communications Nr. 75 (2004), 147, 161; an deren Stelle tritt eine Nicht-Unterscheidung im kontinuierlichen Bilderstrom. 91 Zwar darf der Staat grundsätzlich nicht über den Wert von Kommunikationen entscheiden, BVerfGE 34, 269, 283; 95, 28, 34, aber im Angesicht der Vielfalt der medialen Darstellungen von Gewalt, Sexualität und asozialem Verhalten in den Medien geht es eher um die Vermeidung der Einseitigkeit der Medien; dies wäre durchaus mit dem aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG abzuleitenden Grundsatz der kulturellen Vielfalt zu vereinbaren; das BVerfG hat auch zu Recht die Mehrdeutigkeit von Inhalten oder die Begrenzung der Gefährdungswirkungen auf einen Teil der Jugendlichen (hier: NS-Ideologien) als für die Begründung der Jugendgefährdung ausreichend angesehen, BVerfG, NVwZ 2008 29 – die Vermutung zugunsten der Meinungsfreiheit gilt hier nicht; vgl. dazu BVerfGE 93, 266, 293 f. 92 Ladeur, Risikomanagement, a. a. O., S. 3. 90

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men.93 Eine solche Überlegung zielt ausdrücklich auf eine Risikostrategie – im Gegensatz zu einer normativen Konzeption, die mit Grenzbegriffen operiert („Gefahr/Schaden“) –, die der nur schwer beobachtbaren Komplexität der Regeln und Regelmäßigkeiten der gesellschaftlichen Selbstorganisation und Selbsttransformation entspräche. Dadurch würde zugleich die Funktion der Kommunikationsfreiheiten als Garantie der Offenhaltung des „Varietäts-Pools“ der Gesellschaft, der Zufuhr neuer Ideen und der Erhaltung der Kultur als einer Form der Verlangsamung des gesellschaftlichen Wandels beachtet.94 Die systematisch einseitige mediale Spiegelung und Verstärkung von Varietät „verbrauchenden“ Verhaltensweisen wäre mit dem Prinzip der Erhaltung von Diversität als Offenheit für die Erprobung des Neuen und der Vermittlung historisch gespeicherter Wissens- und Regelbestände, und damit mit dem Grundsatz der Menschenwürde in dem hier verstandenen Sinne, nicht vereinbar. 2. Für ein „ökologisches Modell“ des Jugendschutzes Susan Hurley95 hat ein „ökologisches“ Konzept des Jugendschutzes verlangt, dessen Analogie zur naturbezogenen „Ökologie“ nicht überstrapaziert werden darf. Es geht vielmehr darum, in einer zwangsläufig reflexiven Form ein funktionales Äquivalent zum früheren gesellschaftlichen Charakter der Erziehung zu finden. Der Jugendmedienschutz muss deshalb seine Selbstorientierung an einem abstrakten normativen Modell der „Persönlichkeitsentwicklung“ aufgeben und stattdessen eine experimentelle prozesshafte strategische Modellierung von Risikofaktoren entwickeln, die in erster Linie an die Gesellschaft selbst zu adressieren ist. Eine solche Strategie kann nicht einem Denken in Grenzbegriffen („Beeinträchtigung“, „Gefährdung“ etc.) folgen, das bei Erwachsenen angemessen sein mag, sondern muss fragen, ob die „Medienumwelt“ von Kindern und Jugendlichen in Anbetracht der ohnehin gesteigerten Komplexität des gesellschaftlichen Wandels ausreichende kulturelle Vielfalt ermöglicht, die erst die Grundlage für einen Pluralismus gesellschaftlicher Erziehungsvorstellungen bilden müsste. 93

Der Streit über die unmittelbare Kausalität von Gewaltdarstellungen für Gewalthandlungen ist kaum lösbar; vgl. Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid, Wirkungen von Gewaltdarstellungen, in: Klingler, Walter (Hrsg.), Fernsehforschung in Deutschland. Themen – Akteure – Methoden, 2. Teilband, Baden-Baden 1998, S. 561 ff. 94 Morand-Deviller, Jacqueline, L’individu et le corps social: Corps biologique et corps social, in: Carosella, Edgardo D. et. al. (Hrsg.), L’identité? Soi et non-soi, identité et personne, Paris 2006, S. 69, 74 zum Mangel eines gesellschaftlichen Warnsystems, das wie ein Autoimmunsystem das Verhältnis des „Selbst“ und des „Nicht-Selbst“ ausbalancieren kann. 95 A. a. O.

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Damit würde eine praktisch fungierende Meta-Regel institutionalisiert, die auch jenseits der unterschiedlichen Werte und Praxisformen die Formulierung von „best practices“96 sowohl der Erziehung als auch der Vermeidung von Risiken für deren Gelingen erlaubt. Zugleich würde jedenfalls das Entsprechungsverhältnis von gesellschaftlicher Erziehungspraxis in einem stark von der „Selbstsozialisation Minderjähriger in informellen Netzwerken“ geprägten Umfeld97 dem Anspruch nach wieder hergestellt – auch wenn damit die Einheit der gemeinsamen Erziehung nicht wieder gewonnen ist. Aber eine Konzeption des Jugendschutzes jenseits einer gesellschaftlichen, wenn auch nicht mehr einheitlichen Vorstellung von Erziehung muss zwangsläufig scheitern. Die Vermeidung von „Jugendgefährdung“98 kann nicht zu einer primär staatlichen Aufgabe werden.99 Wir haben uns auch in anderen Zusammenhängen daran gewöhnt, dass unter Ungewissheitsbedingungen gehandelt werden kann und muss. Das Beispiel dafür bietet nicht zuletzt das Umweltrecht, wo auch die Vorsorge gegen „Risiken“ unterhalb der Schadensgrenze und außerhalb einfacher UrsacheWirkungs-Beziehungen mit Recht akzeptiert ist.100 Die Vorsorge verlangt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein „Konzept“,101 das insbesondere durch die Setzung von Umweltstandards konturiert wird, damit nicht unverhältnismäßig gegen alles und jedes Vorsorge getroffen wird, weil diese prinzipiell unendlich ist. 96 Vgl. dazu allg. Zaring, David T., „Best Practices“, New York University Law Review 81 (2006), 294: Ladeur, Karl-Heinz, The Role of Contracts and Networks in Public Governance. The Importance of the „Social Epistemology“ in Public Governance, erscheint in: Indiana Journal of Global Legal Studies, 10 (2008). 97 Ukrow, a. a. O., Rn. 1. 98 Vgl. zu den Grenzen des „Schadensbegriffs“ auch Erdemir, Murad, § 1 JMStV, Rn. 26, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, München 2008. 99 Eine internetgerechte Variante könnte in einem Konzept des „Internet-Zoning“ bestehen: So ließe sich – nicht ganz unrealistisch – unterstellen, dass nicht-verschlüsselte Angebote im Internet Kindern zugänglich gemacht werden – mit den entsprechenden strafrechtlichen Konsequenzen, es sei denn eine besondere InternetDomain-Adresse für solche Angebote (z. B. „.xxx“) wäre zur Kennzeichnung benutzt worden (diese Seiten ließen sich dann ausfiltern). Im Zweifel müsste ein Angebot dann stets mit dieser Domain gekennzeichnet werden. Eine solche Möglichkeit ist längere Zeit von der ICANN-Gesellschaft erwogen und diskutiert worden, insbesondere die amerikanische Regierung hat dagegen Bedenken erhoben; vgl. Chan, a. a. O.; vgl. zum Einsatz von Internetfiltern in Australien jetzt den Hinweis in MMR 2/2008, S. XX. 100 Vgl. aus der kaum mehr überschaubaren Literatur nur Stoll, Peter Tobias, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, Tübingen 2003; Ladeur, KarlHeinz, The Introduction of the Precautionary Principle into EU Law – A Pyrrhic Victory?, CMLR 2003, 1455. 101 BVerwGE 69, 37, 45 (Heidelberg); aus der Literatur nur Hoppe, Werner/Beckmann, Martin/Kauch, Petra, Umweltrecht, 2. Aufl., München 2000, § 1 Rn. 123 ff.

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Warum sollte eine solche Umstellung von Gefahrenabwehr auf das komplexere „Risikomanagement“ nicht auch im Jugendmedienschutz möglich sein?102 Dann wäre genauer zu fragen, ob nicht die schiere Zahl von für sich genommen möglicherweise unproblematischen Darstellungen von Gewalt, moralisch fragwürdigem Verhalten, Obszönitäten (unterhalb der Pornografieschwelle) z. B. in nachmittäglichen Talkshows Grund genug sein könnte, an ein „Konzept“ für die Beschränkung der Quantität solcher Sendungen zu denken. In Anlehnung an die Weiterentwicklung der Dogmatik des Umweltrechts wäre daran zu denken, auch für den Jugendmedienschutz entweder in Form der Regulierung durch Aufsichtsgremien wie die Kommission für Jugend und Medienschutz (KJM) oder durch Selbstregulierung103 der Anbieter die Entwicklung eines „Konzepts“ für das Risikomanagement im Jugendschutz zu verlangen, das auf die Unsicherheit des Schutzguts, das Problem der „diffusen“ Kausalität und der Bedeutung der „Selbstsozialisation“ der Jugendlichen eingestellt ist.104 Die Kriterien könnten trotz der Komplexität der Materie relativ einfach sein, weil es nicht um die Bewertung einzelner Inhalte, sondern um die Quantität von z. B. Gewaltdarstellungen und anderer problematischer Inhalte geht. Damit bestünde breiter Raum auch für die Setzung von Prioritäten, die sich im Angesicht von Ungewissheit keinem vergleichbar starken Begründungsdruck ausgesetzt sähen wie die oben beschriebene Konstruktion einfacher Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die schon aus wissenschaftstheoretischen Gründen an Grenzen stößt. Das Modell ließe sich flexibel und für Variationen offen halten; so wäre daran zu denken, es – gerade wegen der „Selbstsozialisation“ von Minderjährigen im Fernsehen – z. B. vor allem auf Nachmittagssendungen zu konzentrieren. Die Programmpraxis ließe sich im Vorhinein oder im Nachhinein durch Festlegung von Quoten oder die Bestimmung von riskanten Formaten steuern. § 8 Abs. 2 des JMStV, der vor allem in Hinblick auf Auswüchse bei den nachmittäglichen Talkshows die Möglichkeit der Festlegung zeitlicher Beschränkungen durch die KJM vorsieht, könnte durch das hier skizzierte Modell erst angemessene Konturen erhalten und vom Odium der Zensur befreit werden. Dies gilt umso mehr, als dieses Instrument vielleicht gerade wegen der Probleme der rechtlichen Einordnung bisher kaum praktische Bedeutung erhalten hat. Einen disku102

Ladeur, Risikomanagement. a. a. O., S. 3. Vgl. dazu allg. Rossen-Stadtfeld, Helge, Die Konzeption regulierter Selbstregulierung und ihre Ausprägung im Jugendmedienschutz, AfP 2004, 1 ff.; Holznagel, Bernd, Regulierte Selbstregulierung im Medienrecht, in: Die Verwaltung Beiheft 4 (2001), 81 ff. 104 Ansätze dazu jetzt auch bei Erdemir, § 1 JMStV, Rn. 26, a. a. O. 103

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tablen Ansatz enthält auch der Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzes der Bundesregierung,105 der differenziertere Kriterien zur Bestimmung der Jugendgefährdung durch Gewaltdarstellungen vorsieht (§ 18 Abs. 2 Nr. 1, 2: „selbstzweckhafte“ Darstellung, „Selbstjustiz“). Auf Einzelheiten brauchte hier nicht eingegangen zu werden, jedenfalls ist das Modell sicher im Hinblick auf die Praktikabilität überprüfungsbedürftig, angesichts der Krise des Jugendschutzes sind aber jedenfalls grundsätzliche Überlegungen über Alternativen erforderlich.106 Wichtig erscheint es vor allem, den Gedanken der Risikovorsorge auch in den Jugendmedienschutz einzuführen, da das auch schon früher schwer handhabbare, an einzelnen Kommunikationsinhalten orientierte Verständnis des Konzepts der Jugendgefährdung im Angesicht der Ausweitung des Prozesses der „Selbstsozialisation“ von Kindern und Jugendlichen nicht mehr angemessen erscheint. Gerade die Ungewissheit des „Ordnungsgeschehens“, innerhalb dessen sich das Selbst des Menschen entwickelt, erlaubt den Rekurs auf die „default rule“ der Erhaltung der strukturellen Varietät der Kultur: „We do not know the limitations of our own outlook“.107

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BT-Drs. 16/8546 v. 12.3.2008. Vgl. jetzt den Evaluationsbericht Brunn u. a., Das deutsche Jugendschutzprogramm im Bereich der Video- und Computerspiele, a. a. O. 107 Glover, Jonathan, Questions about Some Uses of Genetic Engineering, in: Beauchamp, Tom/Walters, Leroy (Hrsg.), Contemporary Issues in Bioethics, Belmont/CA 1978, S. 525 ff. 106

Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit aus ökonomischer Sicht Von Thomas Eger *

I. Einleitung Mit der zunehmenden Globalisierung der wirtschaftlichen Transaktionen seit den 1980er Jahren hat das Problem der Kinderarbeit (wieder) weltweit an Aufmerksamkeit gewonnen. Nach Schätzungen des International Labor Office mussten 2004 über 317 Millionen Kinder zwischen fünf und siebzehn Jahren arbeiten, das sind über 20% der Kinder dieser Altersklasse. Etwa 218 Millionen Kinder arbeiten unter Missachtung der in der ILO Konvention Nr. 138 von 1973 vereinbarten Altersgrenzen, und mehr als die Hälfte davon arbeiten unter besonders gefährlichen oder unwürdigen Arbeitsbedingungen.1 Wohltätige Vereinigungen, Internationale Organisationen, Konsumenten von Importwaren aus Entwicklungsländern, Medien und Wissenschaftler haben sich in den letzen zwanzig Jahren zunehmend diesem Problem gewidmet, und seit Mitte der 1990er Jahre organisieren sich die arbeitenden Kinder selbst auf verschiedenen Welttreffen und Mini-Weltgipfeln, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen und ihre Interessen zu artikulieren.2 Nicht zuletzt wird der hohe internationale Aufmerksamkeitswert, den das Problem der Kinderarbeit heute genießt, daran deutlich, dass „Google“ Anfang 2008 unter dem Stichwort „child labor“ 5.580.000 Einträge anzeigte. Kinderarbeit hat zahlreiche Facetten und Erscheinungsformen, die zu einem beträchtlichen Teil durch die regionalen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten bestimmt werden. Ich werde mich im Folgenden auf einen Aspekt der Kinderarbeit konzentrieren, der bei al*

Für wertvolle Hinweise danke ich Sönke Häseler und Katherine Walker vom Institut für Recht und Ökonomik, Hamburg. Alle verbleibenden Fehler gehen zu meinen Lasten. 1 Hagemann, Frank/Diallo, Yacouba/Etienne, Alex/Mehran, Farhad, Global Child Labour Trends 2000 to 2004. International Labour Office, Geneva, April 2006. 2 Fyfe, Alec, The Worldwide Movement Against Child Labour. Progress and Future Directions, International Labour Office, Geneva 2007.

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len gegenwärtigen, aber auch bei den vergangenen Formen der Kinderarbeit während der industriellen Revolution eine wesentliche Rolle zu spielen scheint. Dass Kinderarbeit etwas mit bitterer Armut zu tun hat, leuchtet intuitiv ein. Weniger klar ist demgegenüber auf den ersten Blick der konkrete Zusammenhang zwischen Armut und Kinderarbeit. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen spezifische Anpassungsprozesse auf Arbeitsmärkten in armen Ländern, die erklären helfen, unter welchen Bedingungen und über welche Mechanismen Kinderarbeit entsteht und sich stabilisiert, die außerdem zeigen, dass nicht alle Formen der Kinderarbeit per se unerwünscht sind, und die deutlich machen, welche Strategien zur Bekämpfung der unerwünschten Kinderarbeit mehr oder weniger erfolgreich sein werden. Der folgende Abschnitt stellt einige empirische Befunde zur Kinderarbeit vor. Daran anschließend wird hergeleitet, dass die Existenz von Kinderarbeit als Massenphänomen häufig etwas damit zu tun hat, dass der Arbeitsmarkt in armen Ländern durch zwei Gleichgewichte gekennzeichnet ist – ein Hochlohngleichgewicht ohne Kinderarbeit und ein Niedriglohngleichgewicht mit Kinderarbeit. Abschließend wird diskutiert, unter welchen Bedingungen ein gesetzliches Verbot der Kinderarbeit zu den erwünschten Ergebnissen führt und welche alternativen Strategien zur Verfügung stehen.

II. Einige empirische Befunde Eine exakte Erfassung der Kinderarbeit in den verschiedenen Teilen der Welt stößt allein deshalb auf Schwierigkeiten, weil der Begriff der Kinderarbeit schwer abgrenzbar ist und weil es ebenso schwierig ist, sich auf eine international akzeptierte Definition der Kinderarbeit zu einigen.3 Lässt sich ein Kind nach rein biologischen Kriterien eindeutig vom Erwachsenen abgrenzen, oder gibt es hier kulturelle Unterschiede? Zählt zur Kinderarbeit auch jegliche Mithilfe im elterlichen Haushalt oder Betrieb, oder beschränkt man sich auf bezahlte Vollzeitbeschäftigung? Selbst wenn man sich darüber einig ist, wie man Kinderarbeit definiert, ist im internationalen Maßstab noch lange nicht klar, welche Formen der Kinderarbeit akzeptabel oder sogar wünschenswert sind, und welche Formen politisch bekämpft werden sollten. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Kinderarbeit unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Teilen der Welt, hat sich aber auch innerhalb der entsprechenden Regionen im Laufe der Zeit verändert. Eine große Rolle scheint dabei nach allen verfügbaren Informationen die Armut bzw. die Überwindung der Armut durch wirtschaftliche Entwicklung zu spielen. 3

Vgl. etwa Großmann, Harald/Knorr, Andreas, Ökonomische Aspekte der Kinderarbeit, in: ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 54, Stuttgart 2003, S. 196 ff., und die dort angegebene Literatur.

Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit aus ökonomischer Sicht

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Kinderarbeit ist aber nicht nur schwierig zu definieren, sondern die verschiedenen Formen der Kinderarbeit sind auch schwierig zu messen, weil sich Kinderarbeit zu einem großen Teil im informellen Sektor der Volkswirtschaft abspielt und weil es gerade in Ländern mit besonders großer Bedeutung der Kinderarbeit auch besonders schwierig ist, eine zuverlässige Gesamterhebung durchzuführen. Die gegenwärtig wohl zuverlässigsten Schätzungen zur Kinderarbeit werden von der International Labour Organization (ILO) seit Mitte der 1990er Jahre geliefert. Sie beruhen auf der Extrapolation von Daten, die aus nationalen Haushaltserhebungen in ausgewählten Ländern gewonnen wurden. Wie bereits erwähnt, waren nach neuesten Schätzungen 2004 weltweit insgesamt mehr als 317 Millionen Kinder im Alter von 5–17 Jahren wirtschaftlich tätig, das sind mehr als 20% aller Kinder dieser Altersklasse.4 Diese sehr breite Abgrenzung der Kinderarbeiter („working children“) umfasst bezahlte und unbezahlte, Teilzeit- und Vollzeit-, gelegentliche und regelmäßige, legale und illegale wirtschaftliche Aktivitäten im formellen und im informellen Sektor der Volkswirtschaft. Eingeschränkt auf die Altersgruppe von 5–14 Jahren verringert sich die Zahl der „working children“ auf fast 191 Millionen, das sind knapp 16% der entsprechenden Alterskohorte. Von diesen knapp 191 Millionen Kindern arbeiten die meisten in Asien und der Pazifikregion, nämlich gut 122 Millionen oder 18,8% dieser Alterskohorte. Es folgt Afrika südlich der Sahara mit über 49 Millionen Kindern oder 26,4% dieser Alterskohorte, d.h. mehr als ein Viertel der Kinder zwischen 5 und 14 Jahren sind hier wirtschaftlich aktiv. Der überwiegende Teil dieser Kinder arbeitet in der Landwirtschaft (69%), gefolgt vom Dienstleistungssektor (22%) und der Industrie (9%). Ein engeres Konzept der Kinderarbeit („child labour“) orientiert sich an den Mindestaltersgrenzen der ILO-Konvention Nr. 138 von 1973 und konzentriert sich damit auf die von den Unterzeichnern dieser Konvention als unerwünscht angesehenen Formen der Kinderarbeit.5 Danach sollten Kinder im Alter zwischen 5 und 15 Jahren im Allgemeinen nicht arbeiten. Entwicklungsländer mit geringem wirtschaftlichen Entwicklungsstand und unzureichend entwickelten schulischen Einrichtungen dürfen diese Mindestaltersgrenze auf 14 Jahre herabsetzen. Für Kinder im Alter zwischen 12 und 14 Jahren ist „leichte Arbeit“, d.h. Arbeit, die nicht gefährlich ist und die vierzehn Stunden pro Woche nicht übersteigt, zulässig. „Gefährliche Formen“ der Arbeit, welche die Sicherheit, Gesundheit oder moralische Entwicklung der Kinder beeinträchtigen können, sind erst ab achtzehn Jahren zulässig. Dabei fallen unter die Kategorie der „gefährlichen Arbeit“ nicht 4 5

Vgl. zum Folgenden Hagemann et al. (Fn. 1), passim. Diese Konvention wurde inzwischen von 150 Staaten ratifiziert.

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nur Tätigkeiten in als gefährlich eingestuften Industriezweigen (z. B. Arbeit in Minen, Umgang mit schweren Maschinen, Pestiziden etc.), sondern auch sonstige Tätigkeiten, die 43 Stunden pro Woche überschreiten. Das gilt auch für die „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“ wie Sklaverei, Schuldknechtschaft, Prostitution und Pornographie, Kindersoldaten etc., die durch eine eigene ILO-Konvention (Nr. 182 von 1999) besonders geächtet werden.6 Nach den weiter oben zitierten ILO Erhebungen lag die Anzahl der die Vorgaben der ILO Konvention Nr. 138 verletzenden Kinderarbeiter in 2004 bei knapp 218 Millionen in der Altersgruppe 5–17 Jahre und bei knapp 166 Millionen in der Altersgruppe 5–14 Jahre. Im gleichen Jahr betrug die Anzahl der Kinder, die gefährliche Arbeiten verrichten, 126 Millionen in der Altersgruppe von 5–17 Jahren und 74 Millionen in der Altersgruppe 5–14 Jahre. Gegenüber dem Jahr 2000 ist weltweit ein Rückgang der Kinderarbeit in allen Kategorien und Regionen zu beobachten. Dabei ist der Rückgang insbesondere in den Staaten relativ stark, die durch ein hohes wirtschaftliches Wachstum gekennzeichnet sind.7 Diese Entwicklung entspricht auch dem historischen Trend in anderen Teilen der Welt. So konzentriert sich die Kinderarbeit heute zwar zum ganz überwiegenden Teil auf Asien, die Pazifikregion und Afrika südlich der Sahara. Während der industriellen Revolution spielte Kinderarbeit aber auch in Europa und Mitte des 19. Jahrhunderts auch in den USA eine bedeutende Rolle, führte auch zu einer Reihe nationaler Schutzgesetze, ging dann aber mit zunehmendem Wohlstand systematisch zurück.8 Im folgenden Abschnitt wird anhand eines einfachen Modells verdeutlicht, wie Armut und Kinderarbeit konkret miteinander zusammenhängen und welche Schlussfolgerungen zur Bekämpfung der Kinderarbeit daraus zu ziehen sind.

6

Hierdurch verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit unverzüglich zu verbieten und zu beseitigen. Diese Konvention wurde von 165 Staaten ratifiziert. 7 Vgl. hierzu etwa Basu, Kaushik, Child Labor: Cause, Consequence, and Cure, with Remarks on International Labor Standards, in: Journal of Economic Literature, vol. 37 (1999), S. 1084 ff., sowie Basu, Kaushik, Die Ökonomie der Kinderarbeit, in: Spektrum der Wissenschaft, Januar 2004, S. 72. 8 Vgl. Basu, Child Labor (Fn. 7), S. 1084 ff., sowie für Deutschland neuerdings ausführlich Boentert, Annika, Kinderarbeit im Kaiserreich 1817–1914, Paderborn 2007.

Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit aus ökonomischer Sicht

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III. Arbeitsmarktgleichgewichte und Kinderarbeit Stellen wir uns eine arme Gesellschaft vor, eine Gesellschaft mit geringem ökonomischen Entwicklungsstand, schlechter Ausbildung und geringer Produktivität der Bevölkerung, eine Gesellschaft, die über kein soziales Sicherungssystem verfügt und in der jeder Haushalt Mühe hat, den erforderlichen Lebensstandard für die Familie zu sichern. Sinken unter diesen Bedingungen die Löhne unter den Satz, der bei der gegebenen, durch den Haushalt geleisteten Arbeitsmenge gerade das Subsistenzminimum der Familie sichert, so ist der Haushalt gezwungen, die geleistete Arbeitsmenge zu erhöhen, d.h. länger zu arbeiten oder weitere Familienangehörige arbeiten zu lassen. Reagieren aber alle Haushalte in dieser Weise, so erhöht sich das volkswirtschaftliche Arbeitsangebot als Folge der Lohnsenkung, und es wird ein weiterer Druck auf die Löhne ausgeübt, bis ein Niedriglohngleichgewicht bei hoher geleisteter Arbeitsmenge erreicht ist. Dieses Phänomen einer „menschenunwürdigen Unterbietungskonkurrenz“ wurde bereits von Karl Marx im 19. Jahrhundert beobachtet und Anfang der 1950er Jahre durch den deutschen Ökonomen Wolfgang Stützel als „Konkurrenzparadoxon“ eingehender analysiert.9 Stützel selbst beschreibt das Problem einige Jahre später wie folgt: „Irgendwo wird es z. B. aus reinem Zufall, den keine noch so gute Wirtschaftsordnung auszuschalten vermag, dazu kommen, daß etliche Familien im bisherigen Realeinkommensstatus, Gesamtjahresarbeitsstunden pro Familie mal realem Stundenverdienst zusammengerechnet, nicht mehr imstande sind, das ihnen für nötig erscheinende an materiellem Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu erlangen. Prompt wird die Eigengesetzlichkeit des Sich-Hineinmanövrierens in eine sog. ‚Rationalitätenfalle‘ [. . .] in Gang gesetzt; denn: Jeder Arbeitnehmer steht unter dem Zwang, seiner Familie Gesamteinkommen wieder auf ausreichende Höhe zu bringen. Rationales Mittel hierfür ist für jeden, insgesamt mehr Familienarbeitsstunden pro Jahr anzubieten. Aber gerade dann, wenn jeder dieses rationale Mittel einsetzt, wird etwas pervers Erscheinendes passieren. Mit ihrem Mehrangebot an Jahresarbeitsstunden drücken die Akteure auf den Stundenlohnsatz. Leicht kann es dann dazu kommen, daß dieser Druck auf den Stundenlohnsatz den einkommenspositiven Effekt ihres Mehrangebots an Arbeitsstunden völlig kompensiert, ja sogar überkompensiert. Zum guten Ende sehen sich alle in völlig frustrierter Lage. Sie haben sich alle der Mühsal unterzogen, mehr und mehr zu arbeiten. Ihren damit angestrebten Zweck aber, sich ihr Einkommen zu sichern, haben sie nicht erreicht. Resultieren wird etwas ganz anderes: die gesamte Familien-JahresArbeitszeit ist immens verlängert worden.“10 9 Stützel, Wolfgang, Paradoxa der Geld- und Konkurrenzwirtschaft, unveränderter Nachdruck der in Tübingen eingereichten Habilitationsschrift von 1953, Aalen 1979. 10 Stützel, Wolfgang, Marktpreis und Menschenwürde. Thesen zur Wirtschaftsund Bildungspolitik, Bonn 1981, S. 77 f.

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Dieser von Stützel beschriebene Effekt wird insbesondere dann auftreten, wenn die Gesellschaft geteilt ist in Arbeitnehmerhaushalte, deren Einkünfte ausschließlich oder zumindest zum ganz überwiegenden Teil aus Arbeitseinkommen bestehen, und in Unternehmerhaushalte, die sich den überwiegenden Teil der Unternehmensgewinne aneignen, und wenn es keine staatlichen Transferleistungen an verarmte Haushalte gibt. Denn eine Beteiligung an den Unternehmensgewinnen, die mit sinkenden Gleichgewichtslöhnen steigen, und das Vorhandensein von Sozialtransfers, die unter ein gewisses Niveau sinkende Löhne ausgleichen, würde diese Unterbietungskonkurrenz vermeiden. Eine spezifische Erscheinungsform dieses allgemeinen, in armen Volkswirtschaften beobachtbaren Prozesses ist die Kinderarbeit. Sinken die Löhne für Erwachsenenarbeit unter das Niveau, das bei dem maximal möglichen Arbeitseinsatz der Erwachsenen das Subsistenzminimum der Familie sichert, so bleibt den Familien gar nichts anderes übrig, als ihre Kinder zur Arbeit zu schicken. Tun dies alle Familien, so wird durch die Erhöhung des Arbeitsangebots ein weiterer Druck auf die Löhne ausgeübt, bis sich ein Niedriglohngleichgewicht mit einem großen Umfang an Kinderarbeit ergibt. Der in den Vereinigten Staaten tätige indische Ökonom Kaushik Basu hat diesen Mechanismus mit modernen ökonomischen Methoden theoretisch analysiert und hat dabei auch auf einige beachtenswerte politische Implikationen aufmerksam gemacht.11 Im Folgenden werde ich mich auf die wichtigsten Ergebnisse seiner Untersuchungen stützen. Nehmen wir als Referenzmodell einen idealtypischen Arbeitsmarkt in einer Volkswirtschaft, in der die beschriebenen Armutsprobleme nicht bestehen. Auf der vertikalen Achse ist der Reallohn (l) abgetragen, auf der horizontalen Achse die Arbeitsmenge (A). Die negative Steigung der Arbeitsnachfragefunktion beruht auf der Annahme, dass die Grenzproduktivität der Arbeit bei gegebenem Kapitalbestand und gegebenem technischen und organisatorischen Wissen mit zunehmendem Arbeitseinsatz abnimmt. Bei einem jeweils durch den Markt vorgegebenen Reallohn werden die Arbeitgeber die Beschäftigung nur solange ausdehnen, solange jede zusätzliche Arbeitsstunde zumindest so viel einbringt wie sie kostet. Die positive Stei11

Vgl. die in Fn. 7 zitierten Arbeiten sowie Basu/Pham Hoang Van, The Economics of Child Labor, in: American Economic Review, vol. 88 (1998), S. 421–427; Basu, Kaushik, The Intriguing Relation between Adult Minimum Wage and Child Labor, in: Economic Journal, vol. 110 (2000), S. C50–C61; Basu, Kaushik, A Note on Multiple General Equilibria with Child Labor, in: Economics Letters, vol. 74 (2002), S. 301–308; Basu, Kaushik, Child Labor and the Law: Notes on Possible Pathologies, in: Economics Letters, vol. 87 (2005), S. 169–174.

Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit aus ökonomischer Sicht l

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Arbeitsangebot

l*

Arbeitsnachfrage

A*

A

Abbildung 1: Arbeitsmarkt mit eindeutigem Gleichgewicht

gung der Arbeitsangebotsfunktion beruht auf der Annahme, dass der Anreiz zu arbeiten umso stärker ist, je mehr man pro Stunde verdient.12 Auf diesem Arbeitsmarkt gibt es ein eindeutiges Gleichgewicht mit dem Reallohn l* und dem Arbeitseinsatz A*. Bei einem höheren Lohn gibt es ein Überangebot an Arbeit mit der Folge, dass sich die Arbeitnehmer wechselseitig unterbieten, um an die begehrten Arbeitsplätze zu kommen. Bei einem niedrigeren Lohn werden die Haushalte ihr Arbeitsangebot einschränken und die Unternehmen werden sich wechselseitig überbieten, um mehr Arbeitskräfte zu beschäftigen. Jede Abweichung vom Gleichgewichtslohn löst somit Anpassungsprozesse aus, die das Gleichgewicht wieder herstellen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieses kleine Modell bildet natürlich nicht die Situation auf modernen, stark regulierten und durch kollektive Verhandlungsprozesse gekennzeichneten Arbeitsmärkten in modernen Industriegesellschaften ab. Es handelt sich um ein idealtypisches Referenzmodell, das es uns erleichtern soll, die Arbeitsmarktprozesse in den durch eine hohe Kinderarbeit gekennzeichneten Entwicklungsländern besser zu verstehen. 12 Hierbei ist zu beachten, dass steigende Löhne zwei Effekte haben: Zum einen wird Arbeit im Vergleich zu Freizeit wertvoller, so dass das Arbeitsangebot ausgedehnt werden wird (Substitutionseffekt). Zum anderen führen steigende Löhne aber auch zu steigendem Einkommen. Handelt es sich bei Freizeit um ein „normales“ Gut, das bei steigendem Einkommen vermehrt konsumiert wird, verursacht dieser Einkommenseffekt somit tendenziell einen Rückgang des Arbeitsangebots. Sofern der Einkommenseffekt aber nicht stärker als der Substitutionseffekt ist, bleibt der positive Zusammenhang zwischen Reallohn und Arbeitsangebot bestehen.

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Worin besteht nun der Unterschied zwischen unserem idealtypischen Modell und der Situation in armen Entwicklungsländern? Der entscheidende Punkt ist, dass ein Rückgang der Reallöhne in armen Ländern völlig andere Anpassungsprozesse auslöst als in obigem Modell. Während in einem wohlhabenden Land eine Reduzierung der Reallöhne eine Verringerung des Arbeitsangebots auslöst, Arbeit somit verknappt, und damit eine Gegenbewegung der Reallöhne verursacht, führt die große Armut in Entwicklungsländern dazu, dass eine Reduzierung der Reallöhne zu einer Erhöhung des Arbeitsangebots führt, weil nur so der erforderliche Lebensunterhalt gesichert werden kann, so dass durch diese Form der Anpassung die ursprüngliche Reduzierung der Reallöhne noch weiter verstärkt wird. Machen wir uns diesen Zusammenhang an einer weiteren Abbildung deutlich (Abbildung 2). Dabei nehmen wir ohne Verlust an Allgemeingültigkeit an, dass bei einem Reallohn für Erwachsenenarbeit, der mindestens ausreicht, gerade das Subsistenzminimum (s) der Familien zu decken, ausschließlich die Erwachsenen ihre volle Arbeitskapazität anbieten, d.h., bei einem Reallohn oberhalb von s ist das Arbeitsangebot vollkommen unelastisch. Sinkt der Reallohn unter s, so werden auch Kinder zur Arbeit geschickt, bis schließlich, bei einem hinreichend niedrigen Reallohn, die volkswirtschaftlich maximal verfügbare Arbeitskapazität (Amax ) auch tatsächlich angeboten wird. Wenn wir weiterhin annehmen, dass eine Stunde Kinderarbeit sich anteilig in Erwachsenenarbeit umrechnen lässt (z. B. zwei Stunden Kinderarbeit entsprechen einer Stunde Erwachsenenarbeit) und dass Kinder einen ihrer Grenzproduktivität entsprechenden Anteil vom Erwachsenenlohn erhalten (z. B. die Hälfte des Erwachsenenlohns), ergibt sich ein verändertes Modell des Arbeitsmarktes. Unter diesen Bedingungen können multiple Gleichgewichte existieren,13 und ein Verbot der Kinderarbeit kann es der Gesellschaft ermöglichen, das Hochlohngleichgewicht ohne Kinderarbeit zu stabilisieren und ein Niedriglohngleichgewicht mit Kinderarbeit zu vermeiden. Ist das Hochlohngleichgewicht einmal erreicht, so macht sich das Verbot der Kinderarbeit selbst überflüssig, da die Erwachsenen genug verdienen, um ihre Familien zu ernähren, und keinen Anreiz mehr haben, 13 Neben dem Hochlohngleichgewicht ohne Kinderarbeit und dem Niedriglohngleichgewicht mit Kinderarbeit existiert noch ein instabiles Gleichgewicht. Liegt hier der Lohnsatz etwas oberhalb des (instabilen) Gleichgewichtspunkts, so ist die Nachfrage größer als das Angebot, und durch Überbietungskonkurrenz der Arbeitgeber wird der Lohnsatz solange nach oben getrieben, bis das (stabile) Hochlohngleichgewicht erreicht ist. Liegt der Lohnsatz etwas unterhalb des (instabilen) Gleichgewichtspunkts, so ist das Angebot größer als die Nachfrage, und durch Unterbietungskonkurrenz der Arbeitnehmer wird der Lohnsatz sich weiter verringern, bis das (stabile) Niedriglohngleichgewicht erreicht ist. Dabei wird unterstellt, dass der Lohn im Niedriglohngleichgewicht immer noch ausreicht, die davon abhängigen Familien zu ernähren.

Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit aus ökonomischer Sicht l l+

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Arbeitsangebot Hochlohngleichgewicht

s Instabiles Gleichgewicht Niedriglohngleichgewicht

l– Arbeitsnachfrage Amax

A

Abbildung 2: Arbeitsmarkt mit multiplen Gleichgewichten

ihre Kinder zur Arbeit zu schicken. Ein gesetzliches Verbot der Kinderarbeit stellt hier somit keine paternalistische Bevormundung der Arbeitnehmerhaushalte dar, sondern ist vielmehr als kollektives Handeln im wohlverstandenen Interesse der Arbeitnehmer und ihrer Familien zu interpretieren. Die Möglichkeit eines multiplen Arbeitsmarktgleichgewichts basiert auf zwei Annahmen, über die man natürlich trefflich streiten kann, die aber ein hohes Maß an Plausibilität und empirischer Unterstützung haben.14 Zum einen wird angenommen, dass überall in der Welt Eltern ihre Kinder lieben und nur dann arbeiten lassen, wenn sich der Lebensunterhalt der Familie auf andere Weise nicht sichern lässt. Es wird somit ausgeschlossen, dass Eltern systematisch die Bedürfnisse ihrer Kinder vernachlässigen und über den Arbeitseinsatz ihrer Kinder rein instrumentell, zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens, entscheiden. Es kommt zwar in allen Ländern immer wieder vor, dass Kinder von ihren Eltern instrumentalisiert und missbraucht werden. Aber dies sind Einzelfälle, die nicht zur Erklärung von Kinderarbeit als Massenphänomen dienen können. Zumindest gibt es eine Reihe von empirischen Belegen dafür, dass Kinderarbeit in Gesellschaften mit steigendem Wohlstand auch ohne gesetzliche Maßnahmen tendenziell zurückgeht und dass auch in armen Gesellschaften Familien mit überdurchschnittlich steigendem Einkommen dazu neigen, vergleichsweise schnell die Kinderarbeit zu reduzieren.15 14

Vgl. Basu/Pham Hoang Van (Fn. 11), S. 416. Vgl. etwa Basu, Child Labor, 1999 (Fn. 7), S. 1102 f., und die dort angegebene Literatur, sowie die Länderstudien bei Grootaert, Christiaan/Patrinos, Harry Anthony (eds.), The Policy Analysis of Child Labor: A Comparative Study, New 15

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Arbeitsangebot G3

s

G1

AN+ G2 G4

AN0 – AN

Amax

A

Abbildung 3: Arbeitsmarkt mit eindeutigem oder multiplem Gleichgewicht

Zweitens wird unterstellt, dass Kinderarbeit und Erwachsenenarbeit aus der Sicht der Unternehmen Substitute sind, d.h. dass die hier betrachteten Tätigkeiten sowohl durch Erwachsene als auch durch Kinder ausgeübt werden können. Ob tatsächlich ein multiples Gleichgewicht existiert, hängt aber nicht nur vom Verlauf der Arbeitsangebotsfunktion, sondern auch von der Lage der Arbeitsnachfragefunktion ab, die wiederum durch die durchschnittliche Produktivität der Arbeitskräfte in der untersuchten Volkswirtschaft bestimmt wird. Hier lassen sich drei typische Konstellationen unterscheiden (Abbildung 3). Nur die mittlere Arbeitsnachfragefunktion (AN0 ) erzeugt ein Hochlohngleichgewicht (G1) und ein Niedriglohngleichgewicht (G2). Bei dieser Konstellation kann ein Verbot der Kinderarbeit helfen, das erwünschte Hochlohngleichgewicht zu erreichen. Steigt die durchschnittliche Arbeitsproduktivität und verschiebt sich die Arbeitsnachfragefunktion nach Nordosten (ANþ ), so verschwindet das Niedriglohngleichgewicht und es resultiert ein neues Hochlohngleichgewicht ohne Kinderarbeit (G3). Bei dieser Konstellation verdienen die Erwachsenen hinreichend viel, so dass kein Anreiz besteht, die Kinder zur Arbeit zu schicken. Ein Verbot der Kinderarbeit ist nicht erforderlich, wäre aber auch nicht schädlich. Ist die durchschnittliche Arbeitsproduktivität demgegenüber deutlich geringer und verYork 1999. Für die USA siehe auch Epstein, Richard A., How Progressives Rewrote the Constitution, Washington D. C. 2006, S. 4 ff.

Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit aus ökonomischer Sicht

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schiebt sich die Arbeitsnachfragefunktion hinreichend weit in südwestliche Richtung (AN ), so existiert nur noch ein Niedriglohngleichgewicht mit Kinderarbeit (G4). Bei dieser Konstellation hätte ein Verbot der Kinderarbeit außerordentlich schädliche Wirkungen, stellt es doch die Familien vor die Wahl, entweder einen Teil der Kinder verhungern zu lassen oder ihre Kinder in sehr viel unangenehmeren und gefährlicheren Tätigkeiten, wie beispielsweise der Prostitution, einzusetzen, die sich schwieriger durch die Regierung kontrollieren lassen.

IV. Ausblick: Zum gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit und seinen Alternativen Bevor man sich für ein gesetzliches Verbot der Kinderarbeit stark macht, sollte man sich überlegen, welche Ziele man durch ein solches Verbot erreichen will und ob ein gesetzliches Verbot tatsächlich das geeignete Mittel zur Ereichung dieses Ziels darstellt. Wenn in den westlichen Ländern über Kinderarbeit und deren Verbot diskutiert wird, stehen zunächst einmal humanitäre Motive im Vordergrund. Man vergleicht die über die verschiedenen Medien wahrgenommene Situation von Kindern in Entwicklungsländern mit derjenigen der eigenen Kinder und hält den wahrgenommenen Unterschied für moralisch verwerflich. Hier steht also das Glück der Kinder im Vordergrund. Darüber hinaus wird die Ächtung der Kinderarbeit auch mit entwicklungspolitischen Zielen begründet. Wenn Kinder arbeiten anstatt zur Schule zu gehen, werden sie auch als Erwachsene nur relativ einfache Tätigkeiten mit geringer Produktivität und geringen Löhnen verrichten können, und das Land wird Schwierigkeiten haben, sich aus dem Zustand der ökonomischen Rückständigkeit zu befreien. Wie wir weiter oben gesehen haben, sind Maßnahmen zur Verhinderung der Kinderarbeit insbesondere dann zu rechtfertigen, wenn der Arbeitsmarkt durch multiple Gleichgewichte gekennzeichnet ist. Auch bei dieser Konstellation fragt sich, ob ein gesetzliches Verbot der Kinderarbeit das beste verfügbare Instrument darstellt. Eine alternative Maßnahme, die sich auch wesentlich leichter kontrollieren lässt, ist die allgemeine Schulpflicht. Diese setzt allerdings voraus, dass für alle schulpflichtigen Kinder in hinreichender Nähe auch Schulen einer hinreichenden Qualität existieren. Außerdem verhindert eine effektiv durchgesetzte Schulpflicht nicht jede Kinderarbeit, sondern lediglich die Vollzeitbeschäftigung von Kindern. Eine Teilzeitbeschäftigung von Kindern kann durchaus komplementär zur Schulpflicht sein, erhöht sie doch das Haushaltseinkommen und schafft damit unter Umständen erst die materiellen Voraussetzungen für einen Schulbesuch der Kinder.

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Eine weitere Möglichkeit, das Niedriglohngleichgewicht mit Kinderarbeit zu vermeiden, besteht darin, an den Einkommen der Erwachsenen anzusetzen. Allgemein trägt jede Wirtschaftspolitik, welche die Produktivität der erwachsenen Arbeitnehmer erhöht, tendenziell zu einer Reduzierung der Kinderarbeit bei. In die gleiche Richtung wirkt eine Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer, durch welche dem verhängnisvollen Effekt, dass Lohnreduzierungen zu einer Erhöhung des Arbeitsangebots führen, entgegengewirkt wird. Weniger klar sind die Auswirkungen von Mindestlöhnen für Erwachsenenarbeit. Die Beziehung zwischen Mindestlöhnen und Kinderarbeit ist komplex und hängt letztlich von der Höhe der Mindestlöhne und der relativen Produktivität der Kinder im Verhältnis zur Erwachsenenproduktivität ab.16 Hier ist es durchaus möglich, dass Mindestlöhne zu erhöhter Arbeitslosigkeit bei den Erwachsenen und zu einer Zunahme der Kinderarbeit führen. Ebenso können Geldstrafen für die Beschäftigung von Kindern entgegen den gut gemeinten Absichten statt zu einer Reduzierung zu einer Ausweitung der Kinderarbeit führen. Kalkuliert der Arbeitgeber bei jedem beschäftigten Kind eine gewisse Wahrscheinlichkeit, bestraft zu werden, so wird der Gleichgewichtslohn für Kinder, den die Unternehmen zu zahlen bereit sind, geringer sein als ohne die Erwartung einer Geldstrafe. In diesem Fall sind die Haushalte aber unter Umständen gezwungen, die Kinderarbeit weiter auszudehnen, um ihr Subsistenzminimum zu sichern.17 Zu einem wirklichen Problem führt ein Verbot der Kinderarbeit aber dann, wenn eine Gesellschaft durch eine so geringe Arbeitsproduktivität gekennzeichnet ist, dass nur ein Arbeitsgleichgewicht mit Kinderarbeit existiert (Abbildung 3, Gleichgewicht G4). Hier sind die Erwachsenen allein einfach nicht produktiv genug, um ihre Familien ernähren zu können. Ein Verbot der Kinderarbeit würde in diesem Fall keine Probleme lösen, dafür aber viel schwerwiegendere Probleme schaffen. Nach einer Unicef-Studie aus dem Jahr 1995 führte ein von Gegnern der Kinderarbeit initiierter weltweiter Handelsboykott gegen handgeknüpfte Teppiche aus Nepal letztlich dazu, dass zwischen 5.000 und 7.000 Mädchen von nepalesischen Teppichfabrikanten entlassen wurden und stattdessen als Prostituierte arbeiteten.18 Gut gemeinte Maßnahmen führen nicht notwendigerweise zum gewünschten Erfolg.19 16 Vgl. Basu, The Intriguing Relation between Adult Minimum Wage and Child Labor (Fn. 11). 17 Vgl. Basu, Child Labor and the Law (Fn. 11). 18 Zitiert nach Basu, Die Ökonomie der Kinderarbeit (Fn. 7), S. 71. 19 Darüber hinaus ist auch zu beachten, dass nicht jede Stellungnahme gegen Kinderarbeit ausschließlich aus humanitären Motiven erfolgt. Teilweise resultiert die Forderung nach Abschaffung der Kinderarbeit in Entwicklungsländern auch aus dem protektionistischen Eigeninteresse inländischer Produzenten, die sich gegen den Import billiger Konkurrenzprodukte schützen wollen.

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Häufig kann man unerwünschte Phänomene nicht einfach dadurch aus der Welt schaffen, dass man ein Verbot ausspricht, ebenso wenig wie Peter Sellers als weltfremder, fernsehsüchtiger Gärtner in dem Film „Willkommen, Mr. Chance“ in der Lage war, für ihn bedrohliche Situationen durch Betätigung der TV-Fernbedienung auszulöschen. Ob allgemeine Verbote der Kinderarbeit, gegebenenfalls initiiert oder unterstützt durch internationale Handelsboykotte, tatsächlich die postulierte Wirkung haben, nämlich Kindern eine glückliche Kindheit zu bescheren und eine angemessene Schulausbildung zukommen zu lassen, hängt letztlich von den Konstellationen auf dem Arbeitsmarkt sowie von weiteren unterstützenden Maßnahmen ab. Da sich nicht immer ohne weiteres feststellen lässt, ob multiple Arbeitsmarktgleichgewichte existieren, sind im Zweifelsfall Maßnahmen, die an den Arbeitsbedingungen und Einkommen der Erwachsenen ansetzen, einem gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit überlegen. Eine Kenntnis der relevanten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ist jedenfalls eine Grundvoraussetzung dafür, die Ursachen der Kinderarbeit zu erklären und angemessene Strategien zu ihrer Bekämpfung zu erarbeiten.

Warum ist das Recht der Kindschaft so schwierig? Von Gerhard Struck

I. Zur Einführung die These, der Gedankengang und ein Exempel 1. Der vorliegende Sammelband hat eine riesige Masse an Informationen zusammengeführt und die Autorinnen und Autoren haben enorme rechtliche und reale Probleme dargestellt. Jetzt ist die Frage aufzuwerfen, die als Titel angekündigt ist. Die These der Darlegung ist die folgende: Das Kindschaftsrecht ist tatsächlich schwieriger als andere Bereiche, an die arbeitende Juristen zuerst einmal denken, wenn von Recht die Rede ist. Es ist zum Beispiel schwieriger als das Recht der Verträge und der zum Schadenersatz verpflichtenden Handlungen, schwieriger als das Recht des Diebstahls oder das Wahlrecht im demokratischen Staat. Der Grund liegt in der Verschiedenheit dessen, was Recht in unserer Gesellschaft in verschiedenen Sphären leisten muss und leisten soll, wenn es seinen Beitrag zum Wohlergehen der Gesellschaft erbringt. Das bürgerliche Recht beschäftigt sich einerseits mit Rechtsproblemen in der Sphäre von Warenproduktion und Warenzirkulation und andererseits mit Rechtsproblemen in der Sphäre der Reproduktion dieser Gesellschaft durch demografische Reproduktion, durch Erziehung der nachfolgenden Generation, durch Aufrechterhaltung eines Bildungsstandes usw. Diese beiden Sphären sind nach entgegengesetzten Prinzipien organisiert.1 Ob und wie und wieweit Recht in der Sphäre der Reproduktion sinnvoll sein kann, ist im gesellschaftlichen Selbstverständnis und in der Gesellschaftstheorie nicht wirklich entschieden. Es handelt sich um ein offenes Problem. 2. Dieser These muss man sich in mehreren Schritten annähern. Am Anfang steht ein alltäglicher Fall. Danach muss man in einem ersten groben Zugriff einige Unterschiede auflisten, die auf einer Beschreibungsebene die großen Unterschiede kennzeichnen zwischen einer auf Vertragsrecht fixier1 Als früheres anderes Anwendungsfeld dieser Analyse s. Struck, Gerhard, Die paradoxe Funktionalität gesellschaftlicher Reproduktion und das Recht der Stiftung, in: Kohl/Kübler/Ott/Schmidt (Hrsg.), Zwischen Markt und Staat, Gedächtnisschrift für Rainer Walz, Köln 2008, S. 741 ff.

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ten Rechtswissenschaft und Rechtspraxis und einer auf Familien- und Kindschaftsrecht fixierten Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Die Deutung verlangt danach in einem weiteren Schritt eine gewisse Entfaltung der Begrifflichkeit, einerseits Produktion/Zirkulation und andererseits soziale Reproduktion. Die Schwierigkeit des Kindschaftsrechtes lässt sich danach kennzeichnen: Kindschaftsrecht ist zentraler Bestandteil des Rechtes, das auf Reproduktion bezogen ist und dieses verhält sich zu dem bürgerlichen Recht der bürgerlichen Rechtswissenschaft der Verträge und Eigentumsverhältnisse paradox-funktional. Diese Paradoxie, die noch wenig begriffen ist, verursacht die spezielle Schwierigkeit des Kindschaftsrechtes, weil in Wissenschaft und Praxis das Recht zuförderst und häufig allein als Recht der Produktion und Zirkulation betrachtet wird. Ans Ende gehören dann tastende Anfragen an moderne gesellschaftswissenschaftliche Theorieentwürfe, ob von ihnen aus ein Recht der Reproduktion entworfen werden kann. Das scheint bisher nicht der Fall zu sein. 3. Exemplarisch ist der Air-Gun-Fall;2 er hat sich so ereignet und kann sich immer wieder ereignen. Entschieden hat ihn ein normaler Jurist, also nicht der Bundesgerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht, sondern einer von den vielen Richtern an Amtsgerichten, die sich über die Jahre mit tausenden Fällen herumschlagen, die gerecht entschieden werden sollen. Die Eltern eines 13-jährigen Sohnes verlangten von einem Spielwarenhändler die Erstattung des Kaufpreises, den ihr Sohn für eine Air-Gun bezahlt hatte. Diese Spielzeugwaffen waren im Jahr 2004 im Handel frei verkäuflich. Sie ähneln mehr oder minder echten Waffen und mit ihnen werden kleine Plastikkügelchen verschossen. Von diesen Air-Guns gibt es alle möglichen Ausführungen und für den Fall spielt die genaue Größe, Qualität und Munition dieser Air-Gun keine wichtige Rolle.3 Die Eltern hatten dem 13-jährigen Sohn Monat für Monat Taschengeld bezahlt ohne genau hinzuzufügen, für welche Zwecke er dieses Taschengeld verwenden durfte. Anders gesagt: Das Taschengeld sollte eben Taschengeld sein. Ihr Kind hatte nun die Air-Gun gekauft und im Kinderzimmer versteckt. Es wusste offenbar, dass die Eltern über diesen Kauf nicht begeistert sein würden. Die Mutter entdeckte die Air-Gun und wollte vom Händler das Geld zurück. Der verweigerte die Zahlung und es kam zum Prozess. Der Richter entschied auf der Basis von Paragraphen aus dem harten Kern der dogmatischen Rechtswissenschaft, nämlich § 107 und § 110 im Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches. 2

AG Freiburg NJW-RR 1999, 637. Die Einzelheiten zu Waffen und Munition sind in der Anlage 1 zu § 1 Abs. 4 WaffG näher geregelt; zu Soft-Air-Waffen vgl. BVerwG Buchholz 402.5 WaffG Nr. 89. 3

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Danach musste der Händler das Geld wieder herausgeben, wenn die Eltern in keiner Weise Zustimmung signalisiert hatten. Dies folgt aus § 107 BGB. Endgültig behält der Händler den Kaufpreis, wenn ein Fall des § 110 vorliegt, wenn nämlich das Kind den Kaufpreis bezahlt hat mit Geld, das ihm zur freien Verfügung überlassen worden ist. Also meint der Händler: Das Kind hatte das Geld zur freien Verfügung. Die Eltern argumentieren: Das war doch ganz klar, dass das Kind zwar alles mögliche andere, aber keine Air-Gun kaufen durfte. Wie entscheidet der Richter diesen Fall? Er entscheidet mit standesgemäßer juristischer Methodenlehre und stellt fest, dass die sprachliche Abfolge der Worte in der Norm und die Rede von der „freien Verfügung“ das Ergebnis nicht auf Anhieb sicher determinieren.4 Danach greift er auf den Grundgedanken der Norm zurück. Das entspricht juristischer Dogmatik. Diesen Gedanken sah der Amtsrichter nun im Folgenden: Die Förderung des sich entwickelnden frei verantwortlichen Willens des Heranwachsenden ist eine Aufgabe der Erziehung. Die Norm § 110 muss als Beschreibung eines speziellen Aspektes der elterlichen Erziehung gesehen werden. Dann folgt aus dem Grundgedanken – wohlgemerkt nicht aus der Wortfolge des Gesetzes – die Konsequenz als richterliches Urteil. Der Händler muss das Geld zurückzahlen. Es ist anzunehmen, dass die Entscheidung des Richters eine große Zustimmung der Bürger findet, weil es um sehr kriegswaffenähnliches Spielzeug geht, mit dem im Kinderzimmer Krieg gespielt wird. Diese Meinung hat allerdings noch eine weitere Voraussetzung, über die man sich Rechenschaft ablegen muss: Wer meint, die Eltern sollten im Effekt ihren Kindern das Spielen mit Waffen oder Waffenähnlichem effektvoll verbieten dürfen, meint auch, dass dieses eben gute und richtige Erziehung ist, die letztlich auch den Spruch des Richters am Amtsgericht inhaltlich trägt. Damit ist aber ein Problem deutlich. Der Richter hat auf einen gesellschaftlichen Konsens zurückgegriffen, den er in diesem Falle als eine der großen Fragen der Gesellschaft ausgemacht hat. Die Akzeptanz seiner Entscheidung beruht nicht auf dem Gesetzestext, sondern darauf, dass die Bürger sich guten Gewissens einig sind: Waffen gehören nicht ins Kinderzimmer! Wir müssen sehen, dass hier typischerweise im Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Rechtes, in dem Exerzierfeld der juristischen Dogmatik der Willensfreiheit und der Vertragsverbindlichkeit, die Entscheidung determiniert wird durch den Rückgriff auf die richtige Erziehung, also auf ein gesellschaftliches Streitfeld, das für die Fortexistenz dieser Gesellschaft elementar wichtig ist. Man muss sich hier aber auch Rechenschaft darüber ablegen, dass man hierbei auf höchst unsicherem Boden steht. 4

Das wird deutlich in der Wortwahl; „an sich“ war das Taschengeld zur freien Verfügung überlassen worden, aber der Minderjährige „musste annehmen“, es sei nicht zur freien Verfügung überlassen worden.

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Solche gesellschaftlichen Konsense sind unscharf in ihrer Erstreckung. Streng pazifistische Eltern werden es nicht gut finden, wenn ihr 13-jähriges Kind eine Wasserpistole kauft. Die Konsense sind aber auch regional und kulturell sehr unterschiedlich. Dafür mag die Erziehung von heranwachsenden Jungs in Oklahoma stehen, in deren Lebenswelt mit dem Einverständnis ihrer Eltern sehr viel mehr scharfe Schusswaffen vorkommen, sehr viel häufiger die Gelegenheit zur Benutzung von diesen Waffen gegeben wird usw.5 Der Konsens ist auch im historischen Ablauf wandelbar. In der deutschen Großbürgerschicht, für die das BGB geschaffen worden ist, war im Wilhelminischen Kaiserreich bei Beginn des 20. Jahrhunderts noch klar: Die Söhne spielten im Kinderzimmer mit Zinnsoldaten,6 die sie in Schlachtordnungen aufstellten, und für die es Kanonen gab. Damit ist die hier unterstellte gemeinsame Akzeptanz in diesem Amtsgerichtsprozess ins Zwielicht geraten.7 Man fragt sich als Bürger, der bei Gericht Recht bekommen will, woher denn der Richter seine Kenntnis über ein so grundlegendes und dementsprechend so komplexes in so viel Teilfragen diversifiziertes Phänomen nimmt, wie Konsens über „Erziehung“.8 Damit ist klar: Bei der Behandlung des Air-Gun-Falles nähert sich der arbeitende Jurist nicht trichterförmig immer weiter der einen richtigen Entscheidung an, sondern das Bild müsste umgekehrt gewählt werden. Immer weiter breitet sich das Feld der möglichen und denkbaren Argumentationen und Hinweise auf relevante Phänomene aus. Es gibt ersichtlich kein Patentrezept, nach dem man bei solch einem Problem wie dem Problem der richtigen Erziehung die Diskussion abbrechen kann und sagen kann: Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Zu warnen ist allerdings davor, sich selbst in die Tasche zu lügen, in dem man meint: Die Qualität der richterlichen Entscheidung, also das gute Urteil, ist zu messen an Ausführlichkeit und Sorgfalt der Argumentation. Bei der gegenwärtigen Arbeitsbelastung von Richtern und namentlich Richtern am Amtsgericht ist eine ausführliche und wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Diskussion solcher Probleme nicht zu leisten.9 5 Vgl. Cassidy, Kyle, Bewaffnetes Amerika. Waffenbesitzer und ihr Zuhause im Porträt, Berlin 2008. 6 Heute werden Zinnsoldaten nicht mehr als Spielzeug, sondern als Antiquitäten gehandelt; vgl. ebay: „Sammeln und Seltenes“. 7 Auch soweit es um erwachsene Spieler geht, sind die Konsense nicht sicher, vgl. dazu VG Dresden NVwZ-RR 2003, 848 und VGH Mannheim NVwZ-RR 2005, 472. 8 Der Bundestag hat die Rechtslage jetzt geändert, siehe § 2 Abs. 5 WaffG; auch dies zeigt, dass die Varianzbreite der vertretenen Meinungen beträchtlich ist. Die parlamentarische Diskussion geht weiter, vgl. www.beck-aktuell.de, beck aktuellRedaktion, 21.01.2008. Vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 16.6.2005, NVwZ-RR 2006 S. 545, Rn. 31.

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Man könnte nun beim Air-Gun-Fall einwenden, die Entscheidung sei immer noch nicht schwierig, weil der Richter nur in Übereinstimmung mit dem Elternrecht judizieren möge. Dieser Einwand wird der Schwierigkeit der Sache nicht gerecht. Man hat es mit mindestens zwei Erziehungsprinzipien zu tun. In burschikoser Kürze lautet das eine: „Keine Waffen im Kinderzimmer!“ Das zweite ist dasjenige, mit dem sich der Text des § 110 BGB in Übereinstimmung befindet: „Elterliche Entscheidungen müssen verlässlich sein!“ Verlässlichkeit ist gut für die Kinder und ihre Einübung im Verhältnis zur Umwelt ist positiv vorbildlich. Wenn die Eltern dem Kind die Verwendung des Geldes frei gestellt haben, dann sind sie daran um der guten Erziehung willen gebunden. Wenn, um ein anderes Beispiel zu nutzen, die 13-jährige Tochter ihr Geld anspart und ein luxuriöses, teures Parfüm kauft, dann sollen die Eltern dies nicht vor dem Amtsgericht rückgängig machen können. Der Richter hat also im Air-Gun-Fall die Auswahl getroffen zwischen zwei Erziehungsprinzipien, die beide nicht einfach von der Hand zu weisen sind. Man muss jetzt nur fragen: Welche Juristenausbildung hat diesen Richter dazu befähigt, die Entscheidung zwischen konkurrierenden Erziehungsprinzipien richtig(!) zu treffen? Die Antwort ist: Keine! Und so macht der Fall die Aussage plausibel, dass das Kindschaftsrecht schwierig ist.

II. Die Gesellschaftsbasis in Ökonomie und sozialer Reproduktion 1. Nun zu der allgemeinen wissenschaftlichen Fragestellung nach den Ursachen der Schwierigkeit. Ausgangspunkt des Folgenden ist, dass Gesellschaft dahin tendiert, sich selbst auf Dauer zu stellen. Der Zeithorizont der Gesellschaft ist weiter als die Lebenserwartung der Individuen, die real die Gesellschaft bilden. Was ist notwendig, damit Gesellschaft dauerhaft bleibt? 2. Als erste Antwort drängt sich auf: Die Bevölkerung lebt über die Generationenabfolgen hin davon, dass Waren produziert werden und in dienstleistungsgestützten Verteilungsprozessen dem Konsum oder der ReInvestition zugeführt werden. Dem entspricht: Für den Juristen des Bürgerlichen Rechts ist das Recht als funktionales Element in Warenproduktion und -zirkulation zentral. Recht steht hier in einem genauen Abbildverhältnis zu diesen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen. Das Bürger9 Einfach und schnell findet man die Entscheidung nur „aus dem Bauch heraus“; diese Möglichkeit wird hier nicht weiter thematisiert.

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liche Recht reflektiert in der Kategorie Vertragsfreiheit die Bewegungen von Waren und Dienstleistungen auf Märkten. Und in der Kategorie Eigentum wird die Verteilung von Produktionsergebnissen nachgezeichnet. Die Rechtssubjekte sind Individuen und stehen unverbunden nebeneinander. Was dem einen zugeordnet ist, das ist nicht gleichzeitig einem anderen zugeordnet. Die wichtigsten Institutionen des Bürgerlichen Rechts lassen sich auf dieser Basis ausdifferenzieren. Wer ein Fahrrad haben will, der muss es per Kaufvertrag erwerben, und ein Fahrraddiebstahl muss ihm deshalb durch Schadensersatzforderung vergällt werden. Dafür braucht man das Deliktsrecht. Der Unternehmer, der den Markt mit Leben erfüllt, muss Eigentümer der Produkte seines Unternehmens werden, ganz gleich, welche Ausgangsstoffe zusammengeführt werden und welche Arbeiter nach welchem Arbeitsrecht Hand anlegen. Wo diese Eigentumsordnung aus dem Lot gerät, da braucht man ein Recht der Eingriffskondiktion. Dort, wo „Menschenhilfe“ (eine im Kern moralische Kategorie) das Vertragsrecht ergänzt, setzt § 681 BGB soweit wie möglich die Freiheit des entscheidungsfähigen Rechtsinhabers durch. Die Handlungsfreiheit des Marktbürgers setzt voraus, dass er nicht durch Körperverletzung physisch aus dem Verkehr gezogen wird. Das Recht des Schadensersatzes zielt auf Naturalrestitution und funktioniert faktisch auf der Basis von Marktpreisen. Der § 242 StGB schützt das Eigentum, der § 263 StGB die wahre Vertragsfreiheit Es ist klar, dass dieses von Grund auf schlüssig gestaltete Recht zu kalkulierbaren Rechtsakten führt und damit nicht nur im Detail, sondern auch im Ganzen die ökonomische Seite des Kapitalismus abbildet und affirmiert. 3. Dauerhaft wird eine Gesellschaft nur, wenn gesellschaftliche Reproduktion hinzutritt zur Produktion und Zirkulation von Waren. Wer Waren produzieren und durch Dienstleistung Warenzirkulation aufrechterhalten soll, der muss seine Arbeitskraft von Tag zu Tag durch den Wechsel von Arbeit und Konsum und Schlaf und Ruhe reproduzieren. Über die Abfolge der Tage gesehen ist der Wechsel von Arbeitstag zu Feiertag oder in der Moderne von der Arbeitswoche zum Wochenende historisch eingeübt worden. Übers Jahr gesehen ist das Konzept produktiver Arbeit inzwischen fest verbunden mit dem Konzept des Urlaubs. „Hast Du Dich gut erholt?“ ist die geläufigste Frage, wenn sich ein Mensch nach einem Urlaub wieder an seinem Arbeitsplatz einfindet. Das betrifft nur Wochen und Monate. Für die meisten Bürger unserer aktuellen Gesellschaft ist die Qualität der Erholung, die ihnen lebenslang die Kraft zu weiterer Produktionsarbeit und Zirkulationsarbeit gibt, zentral in der Familie bestimmt. Arbeitskraft wird hier in sehr intransparenten psychischen Mechanismen reproduziert.

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Die Familie ist auch der Ort, wo die gesamtgesellschaftliche Reproduktion auch in einem zweiten Sinne stattfindet: Noch immer wird in der Bundesrepublik Deutschland die Mehrheit der Kinder in einem festen familiären Umfeld geboren und aufgezogen. Wie wichtig diese demografische Reproduktion ist, wird immer von neuem diskutiert, wenn in der Öffentlichkeit der Warnruf zu hören ist: „Die Deutschen sterben aus!“ Damit ist auf den Punkt gebracht, dass alle Produktion und Zirkulation von Waren die gesamtgesellschaftliche Dauerhaftigkeit nicht garantiert. Zusätzlich ist von erstrangiger Relevanz, dass in der Familie bereits der Transfer von Werten stattfindet, ohne die unsere Gesellschaft längerfristig nicht denkbar wäre. Gerade in der Diskussion um die PISA-Studie ist wieder deutlich geworden, wie stark die familiäre Herkunft das Leben jedes Individuum bis zum Abschluss einer Berufsausbildung bestimmt und damit auch darüber hinaus.10 Das betrifft Kognitives und Werte. Die Werte werden nicht gewusst und gewollt, sondern sie werden gelebt. Kindschaft hat in der gesellschaftlichen Reproduktion eine zentrale Stellung. Wie sieht das Recht der gesellschaftlichen Reproduktion aus? Die zentrale Institution der gesellschaftlichen Reproduktion ist die Familie, und bei ihr kann die Darstellung exemplarisch ansetzen, um die Grundlinien für alles Recht der Reproduktion aufzuzeigen.

III. Die juristische Ausformung der Paradoxie von Ökonomie und Reproduktion 1. Exemplarisches Recht der Reproduktion ist das Unterhaltsrecht der Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern. Das Kindesunterhaltsrecht hat vier Haupttatbestandsmerkmale: Ein begründendes Verhältnis,11 die Bedürftigkeit des Berechtigten,12 die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten13 und das angemessene Maß.14 a) Die Blutsverwandtschaft ist das wichtigste Verhältnis, das Unterhalt begründet. Blutsverwandtschaft ist funktionales Element einer feudalen Gesellschaft, in Leistung und Konkurrenz hat sie keine Funktion. Bemerkens10 Vgl. z. B. Bundesministerium für Bildung und Forschung, PISA 2006, www. bmbf.de/de/6624.php, abgerufen 12.2.08, S. 4. 11 MüKo/Luthin, § 1601, Rn. 4, 5. 12 MüKo/Born,§ 1610, Rn. 8. 13 MüKo/Luthin, § 1603, Rn. 1 ff. 14 MüKo/Born, § 1610, Rn. 59.

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wert ist nun, dass seit 1900 in Deutschland die Blutsverwandtschaft an Bedeutung noch sehr stark zugenommen hat. Die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder mit den ehelichen ist im Verhältnis des Elternteils zu seinem Kind im Lauf des 20. Jahrhunderts immer weiter befördert worden.15 Gleichzeitig hat die Rechtsprechung auf den Punkt gebracht, dass Unterhalt durch Blutsverwandtschaft von dem Willen, also von der Basis der Privatautonomie, vollständig entkoppelt ist. Der BGH16 hat zu Absprachen über Empfängnisverhütung die klassische Norm geprägt: Die Zeugung eines blutsverwandten Erdenbürgers ist dem Vertrags- wie dem Deliktsrecht entzogen. Recht heißt in diesem Zusammenhang das Recht, das auf Willen und Abschluss- und Inhaltsfreiheit von Verträgen basiert. Der BGH hat die Willensäußerungen nicht einmal in das Schema von sittengemäß/sittenwidrig eingeordnet. Sittenwidrigkeit wird als Randfrage in der Produktionsund Zirkulationssphäre mit der Formel vom Recht- und Billigkeitsgefühl aller billig und gerecht Denkender beschrieben. Wenn man diese Fragen für die Abrede über den Gebrauch empfängnisverhütender Mittel gestellt hätte, dann hätte man auch weitere Gedankenschritte in ein Rechtssystem der Privatautonomie gemacht. Dem ist der BGH konsequent ausgewichen, indem er die diametrale Entgegenstellung der Sphäre der Privatautonomie und der Sphäre des reproduktiven Aktes ausgesprochen hat. Man muss aber mit einem Paradoxon arbeiten: Das Recht (konkret der BGH) normiert, dass etwas Nicht-Recht ist. b) Bedürftigkeit als Basis der Unterhaltsberechtigung ist dem Recht der Produktion und Zirkulation ebenso entgegengesetzt. Im Unterhaltsrecht bekommt der Berechtigte, weil er braucht. Dazu ist konträr die Struktur der Marktwirtschaft, in der systematisch nicht gefragt werden darf, was ein Mensch braucht. In der Konkurrenzwirtschaft werben die Anbieter für ihre Produkte und vermitteln dem Konsumenten eine innere Notwendigkeit, von seiner Vertragsabschlussfreiheit in bestimmter Weise Gebrauch zu machen. Erfolgreich ist der Warenlieferant, der durch Werbung gezielt „Bedürfnisse“ erzeugt und steuert. Bei Zwangsvollstreckung und Insolvenz spielt die Herkunft von Schulden bei deren Behandlung keine Rolle. Auch die Pfändungsgrenzen nehmen keine Rücksicht darauf, ob die Verschuldung aus Rechtsgeschäften herrührt, die nach „dem gesunden Menschenverstand“ einem „gesunden“ Bedürfnis entsprachen. So bleibt eine Rechtsinstitution, für 15 Die unterste Stufe war § 1708 I BGB i. d. F. vom 1.1.1900: Unterhalt nach Lebensstellung der Mutter bis zum 16. Lebensjahr. Zu Ende ist der Entwicklungsgang nicht, auch nicht durch BVerfG 1 BvL 9/04 – NJW 2007, 1735; s. zur Diskriminierung der vor 1949 geborenen nichtehelichen Kindern Palandt/Edenhofer, BGB, 67. A., 2008, § 1924 Rn. 8. 16 BGH Az: IX ZR 200/85 – NJW 1986, 2043, 2045.

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die Bedürftigkeit wichtiges Tatbestandsmerkmal ist, der Sphäre der Produktion und Zirkulation entgegengesetzt. c) Die Leistungsfähigkeit des Verpflichteten ist das Spiegelbild von Bedürftigkeit. Der Verpflichtete muss zahlen, weil er zahlen kann. Das wäre in den ersten drei Büchern des BGB als Tatbestand abstrus. Auch hier gilt wieder, dass die Unterhaltsnorm paradox zu Strukturen der Marktwirtschaft steht. d) Die Angemessenheit ist das normative Maß von Unterhaltsleistungen. Sieht man die Düsseldorfer Tabelle17 als eine wichtige Norm, in der die Grundstrukturen des Unterhaltsrechtes durchdiskutiert und ausgearbeitet wurden, dann ist das Wesentliche der Tabelle die Nennung von unterschiedlichen Beträgen bei Menschen in gleichen Lebenssituationen. Angemessenheit ist ein Ausdruck der Stellung des Individuums in der Gesellschaft und der Verneinung des Grundprinzips jener Gleichheit, die die Produktionsund Zirkulationssphäre strukturiert. In dieser setzt die Norm die Individuen gleich. Dass sie als Arme und Reiche gleichermaßen unter den Brücken schlafen dürfen, wird dort als eine Frage der Faktizität eingeordnet, die das Recht nichts angeht. Entwickelt hat sich das Verständnis der Angemessenheit als Rückbezug auf soziale Positionierung in der Nachfolge des Feudalismus. Bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war „standesmäßig“ ausdrücklicher Gesetzestext von § 1610 Abs. 1 BGB vom 01.01. 1900. Die heutige, diffusere Formulierung hat nichts Neues gebracht. Für den Säugling, der einen reichen Vater hat, ist mehr Geld angemessen, als für den Säugling, der einen armen Vater hat.18 Eine solche Rechtsnorm lässt sich in keiner Weise auf die Sphäre der Produktion und Zirkulation beziehen und ist ihr diametral entgegengesetzt, weil auf dem Markt die Menschen und auch die juristischen Personen gleich sind, nämlich in ihren rechtserheblichen Eigenschaften gleichen Rechtes sind. 2. Die Paradoxien gehen weiter. Jenseits der vier Hauptstücke des Unterhaltsrechtes sind weitere wichtige Eigenschaften anders als bei Warenproduktion/Zirkulation. a) Ein Beispiel ist das Subjekt des Rechtes. Der funktionierende Normalfall des Unterhaltsrechts ist die funktionierende Kleinfamilie. Hier stellt sich die Frage, welches denn eigentlich die Subjekte, also die Rechtssubjekte, in den Rechtsbeziehungen sind. 17

Z. B. abrufbar beim Bundesministerium www.bmfsfj.de. Die Tabelle ordnet Einkommensklassen die fälligen Unterhaltsbeträge nach Altersklassen, z. B. für Säuglinge, zu. So führen im Jahre 2008 1600,– e pro Monat zu 293,– e Unterhalt, 3000,– e Einkommen zu 358,– e Unterhalt, 5000,– e Einkommen führen zu 447,– e Unterhalt. 18

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Zum Vergleich Produktion und Zirkulation: Das Vertragsrecht mit ökonomischer Relevanz geht davon aus, dass Verträge durch Angebot und Annahme zustande kommen, die ganz klar von zwei Subjekten ausgesprochen werden. Diese Klarheit der Zuordnung von Willenserklärung und Subjekt setzt sich dadurch fort, dass die Leistungen in eine do-ut-des-Beziehung gebracht werden. Jederzeit ist klar, welches Subjekt in welche Rechtsbeziehung tritt und welches Rechtsobjekt wie zugeordnet ist. Im Recht der Kindschaft ist es ganz anders. Für den gesetzlich vorgesehenen Normalfall der problemlosen Kleinfamilie wird das einzelne Familienmitglied von vornherein nur als Teil eines Systems gedacht, das eben kein Subjekt neben den Einzelsubjekten ist, aber auch kein Nullum. Die Familie ist keine juristische Person, keine Gesellschaft usw. Trotzdem hat der Gesetzgeber mit dem Wort „Unterhalt der Familie“ in § 1360 BGB versucht, das innerfamiliäre Geschehen sprachlich für die konfliktfreie Normalität nachzuvollziehen. Als Gesamtgläubigerschaft kann das nicht gedeutet werden, weil dann ein Schuldner zugleich Gläubiger desselben wäre. Erst wenn die Familie zerbricht, findet der Übergang zu Individualberechtigungen nach § 1361 BGB statt. Bis dahin leben die Mitglieder der Familie damit, dass ihr Beitrag zum Unterhalt der Familie für sie typischerweise ununterscheidbar in einigem Umfang Leistung an andere, in einigem Umfang Leistung an sich selbst ist. Ist das Abendessen auf dem Tisch der Familie eine Unterhaltsleistung des lohnarbeitenden Mannes, der das Wirtschaftsgeld gestellt hat, oder Naturalunterhalt der Hausfrau, die gekocht hat? Analytisch kann man dabei zwei Aspekte unterscheiden: Einerseits ist die Leistung Familienunterhalt nicht zwischen den Mitgliedern aufzuteilen, andererseits ist diese Leistung so sehr selbstverständlich auch eigene Angelegenheit des Leistenden und eigener Konsum, dass er sie nicht als Verausgabung seines Arbeitsvermögens für andere Rechtssubjekte verstehen wird. Auch die kürzlich ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 1615 S. l BGB19 zeigt die Notwendigkeit, die Rückwirkung der Rechtsstellung des einen Familienmitglieds auf die Rechtsstellung des anderen zu beachten. Konkret hat das Bundesverfassungsgericht durchgesetzt, dass bei der Bemessung des Unterhalts für eine unverheiratete Mutter die reale Stellung des Kindes normativ Beachtung findet. Die Rechtsstellung der Mutter gegenüber dem Vater wird durch die Rechtsstellung des Kindes in Art. 6 Abs. 5 Grundgesetz bestimmt. Das ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass hier alles mit allem zusammenhängt und bilaterale Ansprüche, definiert in § 194 BGB, familiären Problemlagen unangemessen sind. 19

BVerfG 1 BvL 9/04 – NJW 2007, 1735.

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b) Die Formbarkeit von Beteiligteninteressen ist eine weitere bemerkenswerte Eigentümlichkeit des Kindschaftsrechts. Anders als im üblichen Zivilprozess können sie nicht als konstant angenommen werden, sondern in wichtigen Fällen werden sie durch das Verfahren selbst mitgestaltet. Hier eignet sich das „Kindeswohl“ als Exempel. Bei einer streitigen Entscheidung über die Zuordnung von Kindern zu Elternteilen nach einer Scheidung kommt sehr viel darauf an, ob der ausgeschlossene Teil von seiner Umgangsbefugnis einen sinnvollen, erziehungsförderlichen Gebrauch macht. Dafür aber bedarf es einer gewissen Einsicht, oder sogar eines Konsenses. Diese Einsicht wiederum kann nach den Berichten von Praktikern durch ein abschließendes Gespräch gefördert werden.20 Man muss sich klarmachen, dass hierin eine paradigmatische Verkehrung liegt. Im normalen Verfahren liegt das Entscheidungskriterium typischerweise in der Frage nach den überwiegenden Interessen und diese werden durch die Entscheidung befriedigt. Damit ist die Art gekennzeichnet, in der fachgerecht mit Tatbestandsmerkmalen umgegangen wird. Im Gegensatz dazu steht die Möglichkeit, die Beteiligten auf die einmal gefallene Entscheidung einzuschwören und so nachträglich Willen und Interessen der Beteiligten der Entscheidung anzupassen. Der Richter, der das Recht des Kindes auf Umgang mit seinen Eltern verwirklichen möchte, muss in vielen Fällen den Prozess als Lernprozess gestalten. Normen, in denen „Kindeswohl“ zentrales Tatbestandsmerkmal ist, entsprechen nicht dem herkömmlichen Verständnis von Normen, wonach diese in einer Subsumtion angewendet werden. c) Multifunktionalität ist ein weiteres wichtiges Phänomen im Recht der Reproduktion. Multifunktionalität ist das genaue Gegenteil zum do-ut-desGeschehen. Ein Exempel: Wenn Eltern ihrem Kind Taschengeld zahlen, dann kann man das als Geld-Unterhalt qualifizieren. Aus der Sicht der Eltern sind häufig ganz andere Fragen vorrangig. Leisten sie mit diesem Taschengeld vernünftige Erziehung? Verwöhnen sie das Kind, oder fördern sie, dass das Kind einmal auch in fernerer Zukunft richtig mit Geld wird umgehen könnte? Auch hier hat das positive Recht, nämlich Richterrecht, die Sache auf den – paradoxen – Punkt gebracht: Der BGH hat das Taschengeld des Jugendlichen als elterlichen Naturalunterhalt qualifiziert.21 Das Beispiel verdeutlicht, dass hier die Unterhaltsbemessung eine Erziehungsfrage ist und die Erziehungsfrage eine Frage der Einpassung des Individuums in eine dauerhafte, also auch zukünftige Gesellschaft ist. Hier ist Geld nicht nur Messgröße für Marktpreise, sondern gleichzeitig verkörperte Ethik. 20 Simitis u. a., Kindeswohl – Eine interdisziplinäre Untersuchung über seine Verwirklichung in der vormundschaftsgerichtlichen Praxis, Frankfurt/Main 1979, S. 334. 21 BGH, IVb ZR 537/80 – NJW 1981, 574, 576.

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Dem entscheidenden Richter ist diese Problematik in seiner Juristenausbildung allerdings ebenso wenig deutlich gemacht worden wie die Frage der richtigen Erziehung mit oder ohne Kriegswaffen im Kinderzimmer. d) Zeit hat ganz unterschiedliche Bedeutung im Recht der Produktion/ Zirkulation und im Recht der sozialen Reproduktion. Das bürgerliche Recht der Verträge und des Eigentums ist in einem gewissen Sinne zeitunabhängig gestaltet. Der bloße Ablauf der Zeit darf im Konfliktfall keinerlei Einfluss auf das Ergebnis der richterlichen Entscheidung für die beteiligten Parteien haben. Das ist im materiellen bürgerlichen Recht sehr deutlich beim Schadensersatz für Schuldnerverzug, gem. §§ 280, 286, 288 BGB. Derjenige, der einen vertraglichen Anspruch hat, wird nach dem Verzug des Schuldners so gestellt, als wäre sein bestehender Anspruch genau rechtzeitig, also schon lange vorher, befriedigt worden. Wichtig ist dies für den Ablauf des Prozesses. Durch den Schadensersatz wird gewissermaßen am Ende der konfliktbesetzten Zeit die Uhr zurückgestellt, wie lange vorprozessuale und prozessuale Streite auch dauern mögen. Entgegen einer verbreiteten Meinung soll es prinzipiell im Vertragsrecht keinen Sinn machen, „Zeit gewinnen zu wollen“. Das ist im familiären Dreieck ganz anders. Nehmen wir nur ein dramatisches, aber keineswegs erfundenes Beispiel: Nach einer Scheidung bleibt der einzige, inzwischen 4-jährige Sohn bei der Mutter. Der Vater geht in seine Heimat nach Ober-Ägypten. Als sein Sohn 5-jährig ihn das erste Mal besucht, bleibt er am Ende dort. Für diejenigen, die jetzt als Anwälte und Richter den Prozess um die Rückführung des Sohnes betreiben, ist klar: Die Zeit läuft. Wenn die schwierigen Instanzenwege, die immer nötigen offiziösen Übersetzungen, und die Unklarheit von Gutachten dazu führen, dass das Kind lange Jahre in Ober-Ägypten bleibt, dann hat früher oder später die Zeit ihre Wirkung getan. Dann ist es nicht mehr zu verantworten, das Kind aus seiner Umgebung und seinem Kulturkreis herauszureißen. Im Recht der Reproduktion geht es um die Endlichkeit der Lebenszeit des Menschen oder um die Endlichkeit einer Sozialisation. Was zum einen Zeitpunkt Recht ist, das wird im Zeitablauf zu Unrecht.

IV. Die gesellschaftliche Basis und die Suche nach der Lösung der Rechtsprobleme 1. Nun zum gesellschaftliche Hintergrund, zur paradoxen Funktionalität der Familie. Die Realwissenschaftler haben mit dem Terminus „paradoxfunktional“22 eine Beschreibung gefunden, die den soziologischen Hintergrund recht gut verdeutlicht. Es leuchtet ein, dass die Gesellschaft des Kapitalismus dem Individuum in seiner Vereinzelung einen Platz zuweist, der

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durch Rechtspositionen, Tauschgerechtigkeit, Konkurrenzhandeln, Akkumulation usw. gekennzeichnet ist. Sein Leben hat einen Wert als Arbeitskraft in gezählten Arbeitsstunden, die auf Heller und Pfennig nach Tarif bezahlt werden. Dem jeweils diametral entgegengesetzt ist die menschliche Wärme, die Beteiligung am gemeinsamen Leben, die Wichtigkeit von Ansehen und Vertrauen usw., die die Familie beherrscht. Soweit das Recht vorsieht, dass der, der hat, an den gibt, der nicht hat, soweit funktioniert solch unwahrscheinliches Recht nur durch eine reale Verschränkung mit Tradition und Moral. Für didaktische Zwecke könnte man eine lange Tabelle mit Gegenüberstellungen anlegen wie Geld/Liebe, Wille/Gefühl, Kalkulation/Zuwendung, soziale Integration/Rollenhandeln, Tausch/Intimität, Interessen/Altruismus, usw. Nun sind sich alle einig darüber, dass die Gesellschaft beide Handlungsformen in dominanten Institutionen braucht. Damit Kapitalismus funktioniert, muss es die Familie als Gegenwelt geben.23 Sie ist soziologisch paradox-funktional. In einem modernen Rechtssystem, das dem Namen nach das gesamte Leben „rechtlich verfasst“, wird zwar auch reproduktives Geschehen im Rechtssystem benannt. Wie weit und in welcher Weise das Recht auf die Reproduktionssphäre reagieren kann, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Man nehme nur eine aktuelle Frage wie: Dürfen Eltern ihre Kinder bei Studiengebühren auf Kreditaufnahmen statt Unterhalt verweisen?24 Hier geht es z. B. um die Wertungen von § 1629a und § 1610 Abs. 2 BGB, um unterschiedliche Erziehungsvorstellungen (Auch der 20-Jährige ist noch zu erziehen und das richtig durch Studiengebühren?), um das Generationenverhältnis (Ist Unterhalt nur quasi eine Grundausstattung, und das Studium ist als erster Teil der Karriere eigene Sache des jungen Individuums?) und unterschiedliche Prognosen oder Risikoverteilungen zu zukünftigen Arbeitsmärkten und Bemessungen von Studiengebühren. Kein Zufall, dass in dieser gesellschaftspolitisch erstrangigen Frage keine Einigkeit herrscht! 2. Wie kann man denn normativ auf den oben gezeigten Gegensatz reagieren? 1974 noch konnte Friedrich Kübler in seiner kleinen, aber sehr präzisen Schrift „Über die praktischen Aufgaben zeitgemässer Privatrechtstheorie“25 den Anschluss an die Gesellschaftstheorie des Liberalismus und 22 Claessens, Dieter; Familie und Wertsystem – Eine Studie zur „zweiten, soziokulturellen Geburt“ des Menschen und der Belastbarkeit der „Kernfamilie“, 4. Aufl. Berlin 1979, z. B. S. 175. 23 Ganz in diesem Sinne: Beck, Ulrich, Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/Main 1986, z. B. S. 180 zur Kleinfamilie. 24 Als Einstieg s. Waldeyer, Hans-Wolfgang / Waldeyer-Gellmann, Karin, Kindesunterhalt und Studienbeiträge, NJW 2007, 2957 25 Kübler, Friedrich, Über die praktischen Aufgaben zeitgemässer Privatrechtstheorie, Karlsruhe 1975.

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die repräsentative, pluralistische Demokratie suchen. Für unser Thema aber ist damit nicht viel an Orientierung zu gewinnen. In Küblers eigenen Worten: „Die Systemprämisse gleicher Chancen ist als normatives Fundament unverzichtbar, aber zugleich in bestimmtem, nur teilweise variablen Umfange fiktiv. Das liegt einmal an den biologischen Gegebenheiten: temporär . . . auf soziale Leistungen in besonderem Maße angewiesene Gruppen wie Kinder . . . sind nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse selber zu formulieren und in das globale Verfahren gesellschaftlicher Redistribution der verfügbaren Mittel einzubringen.“26 Zu suchen ist nach neueren gesellschaftstheoretischen Ansätzen, die Auskunft geben können. Was lässt sich für das Innere der Familie und das bürgerliche Familienrecht konstatieren? Dafür gibt der Bildungsbereich ein (problematisches) Beispiel ab. Konkurrenz um Kunden wird programmatisch als das Allgemeine genommen und Expertenwissen und Teamwork bestimmen das Verhalten. Wo in diesem Sinne der traditionelle Geist der Arbeitswelt (Regelorientierung, Zielerreichungskontrolle, Handlungsoptimierung etc.) in sozialen Normen in die Familie Einzug hält, ist das Ergebnis ein „Gehäuse der Hörigkeit“27, das man keinesfalls durchgängig wollen kann. Die Arbeitswelt hat zwar den ersten Zugriff auf das Leben der Eltern, aber für das moderne Paar gilt nach Richard Sennett die Frage: „Wie können sie die familiären Beziehungen vor dem auf Kurzfristigkeit basierenden Verhalten . . . und vor allem dem Mangel an Loyalität und Verbindlichkeit schützen, welche die moderne Arbeitswelt kennzeichnen?“28 Schaut man sich in Texten zur Systemtheorie, die ja beansprucht, der Nachfolger der funktionalistischen Vorstellungen zu sein, um, dann ist auch hier das Ergebnis mehr irritierend als zielführend. In Dirk Baeckers „Studien zur nächsten Gesellschaft“ liest man: „Trotzdem ist die Familie nach wie vor unverzichtbar . . . Die gesellschaftliche Aufzucht einer Person im gesellschaftlich anspruchsvollen Sinne steht und fällt mit der Ausdifferenzierung einer Schutzzone, in der sich eine Per26

Kübler (Fn. 25), S. 44 f. Vgl. Beck-Gernsheim, Elisabeth, in: Beck/Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt/Main 1990, S. 142 ff., 154, mit Anspielung auf Max Weber. Es geht in der gesellschaftswissenschaftlichen Theorie immer nur um das Deuten von Phänomenen als mehr oder minder typisch und determinierend. So kann man die derzeitige Abhängigkeit der Familie von der Gesellschaftsstruktur als das Allgemeine, als die Gesellschaft deuten; dafür typisch Rosenbaum, Heidi, Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft – Kritik grundlegender theoretischer Ansätze der westdeutschen Familiensoziologie, Stuttgart 1973, S. 115 ff. 28 Sennett, Richard, Der flexible Mensch – Die Kultur des neuen Kapitalismus, zitiert nach 6. A., Neudruck Berlin 2000, S. 31. Die Analyse US-amerikanischer Erscheinungen betrifft Deutschland leicht abgeschwächt, aber im Wesentlichen genauso. 27

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son darauf vorbereiten kann, diese Zone zu verlassen, und sich dafür oder dagegen entscheiden kann, ihrerseits, und dann nicht allein, eine weitere dieser Schutzzonen zu gründen, sei es mit und ohne die Folge der Zeugung und der Aufzucht weiteren Nachwuchses. Glück und Unglück, Affirmation und Kritik müssen in der Familie unmittelbar beieinander liegen, weil sich anders die Ambivalenz der Einschätzung der Familie, die Simultaneität des Fluchtreflexes und der Heimkehr nicht entwickeln kann. Die Familie funktioniert wie ein genetischer Algorithmus, der Individuen erzeugt, die sich ein Leben innerhalb der Familie genauso gut vorstellen können, wie ein Leben außerhalb der Familie. Das ist in dieser symmetrischen Einheit selten zu beobachten, weil die Individuen ja doch irgendwann eine Entscheidung für oder gegen die Familie treffen, die dazu passenden Präferenzen zur Begründung, wie richtig oder auch wie falsch die Entscheidung war, gleichsam nachwachsen lassen und so die Situation asymmetrisieren.“29 Dieser ein wenig hochtrabende Ansatz führt dann aber zurück zu dem, was die gute Systemtheorie (und übrigens besonders Luhmann selbst) immer auszeichnete: Wahrnehmung von Realität. Also: „Schaut man sich jedoch das Familienleben an, so stößt man auf Phänomene der Resymmetrisierung der Entscheidungslage, etwa wenn der Weihnachtsabend typisch im Familienkrach endet, wenn der sonntägliche Ruhetag dadurch ruiniert wird, dass man sich um die körperliche Bewegung der Kinder kümmern muss, wenn die Liebe zu den Eltern durch deren Alkoholgenuss und die Liebe zu den Kindern durch deren unsichere Zukunft verdorben wird und wenn die Bereitschaft, die Alten zu pflegen, durch deren Starrsinn auf harte Proben gestellt wird.“30 Was folgt aus solchen Beobachtungen in der Tradition der Systemtheorie? „In der Familie zu leben, heißt nicht nur, diese Ambivalenz auszuhalten, sondern auch, sie zu schätzen und zu pflegen, denn nur so kann die Zellteilung vorbereitet werden, in der die Familie durch die Schaffung der Voraussetzungen für die Gründung einer weiteren Familie ihre im strikten Sinne des Wortes gesellschaftliche Funktion erfüllt. Wenn die Kinder nicht aus ihr herauswollten, um dann unter Umständen ihre eigene zu gründen, wäre die Familie sozial gescheitert.“31 Gesellschaftstheoretisch hängt in diesem letzten Satz alles an den diffusen Worten „unter Umständen“. Solche Umstände sind es, die man als die Probleme der Risikogesellschaft kennt. Man lese z. B. zu Diffusion und Patchwork in den Väterrollen bei Ulrich Beck: „Die Einheitlichkeit und Konstanz der Begriffe – Familie, Ehe, Elternschaft, Mutter, Vater, usw. – 29

Baecker, Dirk, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007, S. 198 ff, 200. 30 Baecker (Fn. 29), S. 199. 31 Baecker (Fn. 29), S. 200.

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verschweigt und verdeckt die wachsende Vielfalt von Lagen und Situationen, die sich dahinter verbergen (z. B.: geschiedene Väter, Väter von Einzelkindern, alleinerziehende Väter, ausländische Väter, Stiefväter, arbeitslose Väter, Hausmänner, Väter in Wohngemeinschaften, Wochenendväter, Väter mit einer berufstätigen Frau, usw. . . .).“32 Rechtlich ist überhaupt nicht zu sehen, wie die Realstrukturen einer so konzeptionierten und erlebten Familie handlungsleitend sein könnten für Konstruktion und Anwendung von juristischen Normen, die aus Tatbeständen und Rechtsfolgen bestehen. Rollendiffusion in den Institutionen (der Richter wird – auch – Psychologe und Sozialarbeiter,33 der Psychologie agiert – auch – richterlich nach § 278 I ZPO,34 das Jugendamt wird – auch – Polizei) löst kein Problem. Solche Pläne zeigen eigentlich nur ein unbestimmtes Ungenügen, das die Bürger empfinden und die Politiker eher aktionistisch umsetzen. So wird Kindschaftsrecht noch schwieriger als bisher! Es lohnt auch nicht darüber nachzudenken, ob die systemtheoretische Deutung der Realität zu der normativen Maxime führen könnte, Staat und Recht müssten sich möglichst aus der Familie zurückziehen.35 Eine solche Vorstellung ist jedenfalls in diesen Jahrzehnten, in denen das „Kindeswohl“ als Tatbestandsmerkmal vielerlei Normen mühsam z. B. gegen das Recht der Eltern, ihre Kinder zu prügeln, durchgesetzt worden ist, ohne Aussicht auf politischen Erfolg. Schlimmer noch. Der Nachrichtenfluss in den Medien zeigt nach allgemeinem Verständnis, dass sich das Programm der Durchsetzung von Kindeswohl gegen Prügel, Hunger und Vernachlässigung nicht erledigt hat. Dieselben Medien zeigen aber auch, dass die Durchsetzung von Kindeswohl in den Bürokratien bei Jugendämtern und Familiengerichten und bei psychologischen Sachverständigen nicht zufriedenstellend verläuft. Das Ende ist Ratlosigkeit, in der man aus der Rechtstheorie weiß, dass Kindschaftsrecht anders sein müsste, aber aus der Rechtspraxis nicht weiß, wie. 32

Beck (Fn. 23), S. 164. Instruktiv Flügge, Sybilla, FPR 2008, 1 ff. 34 Richtig in den Zusammenhang gestellt bei Flügge (Fn. 33), S. 4; Testfall ist der Sachverständige, der einen Vergleich mit folgendem Inhalt bei einer Lohnarbeiter/Hausfrau/Kleinkind-Scheidung fördert: Kein Frauenunterhalt im Austausch gegen Nichtwahrnehmung des Umgangs Vater-Kind. 35 In diese Richtung deutet eine Analyse des derzeit in der Rechtswissenschaft wichtigsten Systemtheoretikers. Teubner, Gunther, Ein Fall von struktureller Korruption? Die Familienbürgschaft in der Kollision unverträglicher Handlungslogiken (BVerfGE 89, 214), KritV 2000, 388. 33

Autorenverzeichnis Sämtliche Autoren sind Mitglieder der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg

Prof. Dr. Bork, Reinhard: Seminar für Zivilprozess- und Allgemeines Prozessrecht Prof. Dr. Eger, Thomas: Institut für Recht und Ökonomik Prof. Dr. Felix, Dagmar: Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht Prof. Dr. Heiderhoff, Bettina: Lehrstuhl für Bürgerliches Recht mit Schwerpunkt Familien- und Erbrecht sowie Europäisches Privatrecht Prof. Dr. Ladeur, Karl-Heinz: Seminar für Öffentliches Recht Prof. Dr. Mankowski, Peter: Seminar für ausländisches und internationales Privat- und Prozessrecht Prof. Dr. Repgen, Tilman: Seminar für Deutsche und Nordische Rechtsgeschichte Prof. Dr. Schmehl, Arndt: Seminar für Finanz- und Steuerrecht Prof. Dr. Struck, Gerhard: Seminar für Bürgerliches Recht und zivilrechtliche Grundlagenforschung