Das Junge Wien im Alter: Spätwerke (neben) der Moderne (1905–1938) [1 ed.] 9783205212416, 9783205212393

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Das Junge Wien im Alter: Spätwerke (neben) der Moderne (1905–1938) [1 ed.]
 9783205212416, 9783205212393

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Barbara Beßlich

Das Junge Wien im Alter

Spätwerke (neben) der Moderne (1905 –1938)

Barbara Beßlich

Das Junge Wien im Alter Spätwerke (neben) der Moderne (1905–1938)

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Veröffentlicht mit Unterstützung durch  : MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildungen  : Vorne  : Links  : Arthur Schnitzler, am Auto stehend, 1927. © ÖNB, Bildarchiv und Grafiksammlung, Signatur  : Pf 4719  :C (5). Rechts oben  : Hugo von Hofmannsthal, sitzend, 1928. © Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt am Main. Rechts unten  : Hermann Bahr und Peter Altenberg am Lido, 1913. (Auf dem Originalbild zusätzlich  : Franz Zavrel und Koloman Moser.) © Theatermuseum Wien. Hinten  : Samuel Fischer, Hermann Jadlowker, Alexander Moissi, Mirjam Beer-Hofmann, Paula Beer-Hofmann, Richard Beer-Hofmann, Olga Schnitzler und Arthur Schnitzler (v.l.n.r.) auf der Terrasse des Grand Hotels am Lido, 1913. © DLA Marbach. © 2021 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fallen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat  : Verena M. Schirl, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-205-21241-6

Inhalt

Einleitung. Weiter Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Kontinuitäten und Transformationen. Themen, Textformate und intermediale Experimente.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Alterskunst, Spätwerke, Endzeitbewusstsein. Autordispositionen, Werkkomplexe und Epochenkonstrukte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Jenseits der Décadence. Peter Altenberg als Pròdrŏmŏs (1905) des Expressionismus und W ­ iederholer in Neues Altes (1911) . . . . . . . . . . . . . 45 II. Operetten-Librettisten. Das Junge Wien, Oscar Straus und die leichte Muse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

1. Chaos und Domestikation in Felix Dörmanns Tanzoperette Ein Walzertraum (1907) und Wagner-Parodien in seiner Spiel-Oper Die galante Markgräfin (1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der Burleske zum Singspiel. Der tapfere Cassian (1904/1909) von Arthur Schnitzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Felix Saltens Alt-Wien-Idyll in der Girardi-Operette Mein junger Herr (1910). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Friedrich von Gentz, Moritz von Schwind und Eduard von Bauernfeld als Operettenfiguren in Die himmelblaue Zeit (1914) von Paul Wertheimer und Richard Batka. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kriegsbeginn und Habsburgs Ende. Von der Militarisierung zur Demobilisierung der Literatur (1914–1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Faktuale und fiktionale Mobilmachung in Metropole und Provinz. Felix Saltens Wiener Kriegspublizistik und seine Garnisonsstadtnovelle Abschied im Sturm (1915).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geharnischte Lyrik. Richard Schaukals Eherne Sonette (1914) und die poetische Positionierung des Dichters im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Europa als Ersatz. (Mittel-)Europa-Konzepte als Lösung für Vielvölkerstaatsprobleme (Hermann Bahr) und Kompensation für Altösterreichverluste (Hugo von Hofmannsthal)  ?. . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4. Nach dem Ende  : Zäsur oder Kontinuität  ? Kriegsschluss, Republikerlebnis, Katzenjammer und Galgenhumor in Hermann Bahrs Novellette Heimkehr (1924). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Wiederkehr der alten Götter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Religiöses Suchen in säkularisierten Zeiten. Hermann Bahrs Erlösungshoffnung zwischen Wissenschaft, Kunst und Katholizismus . . . . . 2. Mystik, mal modern und mal katholisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Jüdisches Oberammergau«  ? Traumwirklichkeiten und Künstlerfiguren in Richard Beer-Hofmanns Weihespiel Jaákobs Traum (1918). . . . . . . . . . . V. Vom Umgang mit einem norddeutschen Aufklärer. Lessing als Damenspende im Wiener Fasching 1912 und 1929. . . . . . . . . . . . . . .

1. Lessing als Ballspende im Fasching 1912. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein halber Lessing-Almanach beim Concordiaball 1929 . . . . . . . . . . . 3. Hofmannsthals Lessing-Essay von 1929 im Vergleich mit Auernheimer und Schaukal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Im Reisemantel. Das doppelte Wiener Lessing-Denkmal von Siegfried Charoux (1935/1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. .

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VI. Politik und Poetologie im Lustspiel. Hugo von Hofmannsthals Dramen-Fragment Timon der Redner (1916–1926) . . . . . . . . . . . . . . .

237 1. Kreatives Zerbersten an der Traditionsfülle. Operetten-Pläne, MimusMöglichkeiten, Chandos-Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Die politische Komödie. Das Scheitern der Staatsformen. . . . . . . . . . . . 246 3. »Eine nur leicht verschleierte Gegenwart«. Ephesos und die Erste Republik . 250 VII. Immer dasselbe  ? Wiederaufnahmen und Wiederholungen in Arthur Schnitzlers l­etztem Roman Therese (1928). . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Erbschaften und Verwandlungen des Naturalismus in der Tagebucherzählung Der Sohn (1892).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von der novellistischen Skizze zur Chronik. Schnitzlers Wiederaufnahme und gattungsästhetische Transformation (1898–1928) . . . . . . . . . . . . . 3. Ein österreichischer Zeitroman. Monotonie und Wiederholung als narrative Strategien der Verwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Prekariat der Gegenwart. Defraudanten, Angestellte und die neusachliche Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt 

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VIII. Prinzen im Arrest und Exil. Leopold von Andrians ästhetischer Aristokratismus und politischer Legitimismus gegen den ›Anschluss‹ in Österreich im Prisma der Idee (1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

290

IX. Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. »Meine Siege auf Schnitzler«. Raoul Auernheimer zwischen Huldigung und Travestie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auernheimers Schnitzler-Feuilletons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweifelhaftes Lob und generöse Distanzierungen.. . . . . . . . . . . . . . c) Auernheimers Schmähnovelle Der Dichter (1905)  : Eine Personalsatire auf Schnitzler und Travestie auf Frau Bertha Garlan (1901) . . . . . . . . . . . 2. Filiationen unzuverlässigen Erzählens. Leo Perutz und Arthur Schnitzlers Novellensammlung Dämmerseelen (1907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Okkultismus am Pranger in Schnitzlers Erzählung Die Weissagung (1904) und Perutz’ Nur ein Druck auf den Knopf (1930).. . . . . . . . . . . . . . b) Eifersüchtiges Erzählen und Minderwertigkeitskomplexe in Nur ein Druck auf den Knopf und Schnitzlers Andreas Thameyers letzter Brief (1902). . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Weiter Schreiben

Das ›Junge Wien‹ gilt als eine poetisch innovative Gruppe österreichischer Schriftsteller der Moderne, die Die Überwindung des Naturalismus in der deutschsprachigen Literatur im Fin de Siècle etabliert. Hugo von Hofmannsthals symbolistische Lyrik, die verinnernden Erzählexperimente von Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann, Leopold von Andrian und Felix Salten sowie insgesamt eine allmähliche Umorientierung von den naturalistischen états de choses zu den innerpsychischen états d’âme (Paul Bourget), die Hermann Bahr neologistisch als »Seelenstände« eindeutscht, werden als die zen­ tralen ästhetischen Leistungen dieses nur lose verbundenen Dichterzirkels festgehalten. Mit dem Jungen Wien assoziiert man Schlagworte wie Nervenkunst, Sprachskepsis, IchZerfall, Impressionismus, Ästhetizismus und Décadence. Diese hochgebildeten Dichter aus zumeist großbürgerlichem Haus empfinden sich um 1900 als eminent modern, gelten als politisch eher desinteressiert, distanzieren sich vom Liberalismus ihrer Väter, interessieren sich für Traumwelten und psychologische Introspektion, rezipieren postnaturalistische französische Literatur und beschäftigen sich, »frühgereift und zart und traurig«,1 gern ausführlich und ein wenig müd-narzisstisch mit sich selbst. In Literaturgeschichten und Anthologien wird die dichtungshistorische Bedeutsamkeit des Jungen Wien meistens zwischen 1890 und 1910 datiert.2 Einige Einschätzungen lassen das Junge Wien noch früher enden, etwa mit dem Abriss des als Treffpunkt dienenden Café Griensteidl 1897 oder mit Hofmannsthals Chandos-Brief (1902), den die

1 Hugo von Hofmannsthal  : Prolog zu dem Buch »Anatol«, in  : Ders.: Gedichte, Dramen I (1891–1898). Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 59 ff., hier S. 60. 2 Vgl. etwa David Österle  : »Freunde sind wir ja eigentlich nicht«. Hofmannsthal, Schnitzler und das Junge Wien. Wien 2019. Ingo Irsigler, Dominik Orth  : Einführung in die Literatur der Wiener Moderne. Darmstadt 2015. Edward Timms  : Dynamik der Kreise, Resonanz der Räume. Die schöpferischen Impulse der Wiener Moderne. Weitra 2013. Dagmar Lorenz  : Wiener Moderne. Stuttgart 22007. Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik 1890 bis 1910. Hg. von Gotthart Wunberg. Stuttgart 2006. Peter Sprengel, Gregor Streim  : Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Wien, Köln, Weimar 1998. Jacques Le Rider  : Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990.

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Einleitung

ältere Forschung gern als Zäsur konstruierte.3 Aber auch nach der Jahrhundertwende publizieren diese Autoren weiter, einerseits immer noch in mancher Hinsicht geprägt von den poetologischen Positionierungen und Programmen der 1890er Jahre und andererseits parallel zu und teilweise auch in Auseinandersetzung mit dem Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Dieses ›Weiter Schreiben‹ in der Konkurrenz zu zeitgleichen und nachfolgenden ästhetischen Strömungen lag bisher eher im Schatten der literaturhistorischen Aufmerksamkeit und interessiert die vorliegende Abhandlung.4 Im Mittelpunkt steht das fiktionale und weltanschauungsliterarische Spätwerk der älter gewordenen Jungwiener in Zeiten der objektiv gegebenen und subjektiv überformten Unordnung von Krieg, dem Ende des habsburgischen Imperiums, Revolution und den politischen Umbrüchen der 1920er und 1930er Jahre. Damit kommen mehrere Bedeutungskomponenten von ›Spätwerk‹ zusammen  : Es geht sowohl um die individuelle Alterskunst von bestimmten Autoren als auch um das epochale Auslaufen einer literarischen Phase. Dabei ist es nicht die Absicht, einem aufregenden ›Avantgardismus der Greise‹ nachzustöbern, wie es Adorno einst für den Spätstil Beethovens reklamiert hat.5 Im Gegenteil soll gefragt werden, wie sich die ehemalige Dichtergruppe des Jungen Wien ästhetisch verhält, nachdem sie von nachfolgenden Strömungen, wie dem Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, in Acht und Bann der literaturgeschichtlichen Irrelevanz getan worden ist. Wie schreiben die Autoren in Zeiten der Wirren, nachdem man ihnen die Modernität abgesprochen hat  ? Als Hermann Bahr in den 1890er Jahren das Etikett Das junge Oesterreich als Selbstbezeichnung einer Literatengruppe lanciert und Franz Servaes Jung Wien aus Berliner 3 Das Junge Wien. Österreichische Literatur- und Kunstkritik 1887–1902. Ausgewählt, eingeleitet und hg. von Gotthart Wunberg. Zwei Bde. Tübingen 1976. 4 Natürlich berücksichtigen die etablierten Autorenphilologien die Spätwerke der kanonisierten Jungwiener Dichter Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler (vgl. etwa zu Hofmannsthal Cristina Fossaluzza  : Poesia e nuovo ordine. Romanticismo politico nel tardo Hofmannsthal. Venezia 2010  ; und zu Schnitzler Michael Scheffel  : Arthur Schnitzler. Erzählungen und Romane. Berlin 2015, S. 49–139). Auch die neueren von Primus-Heinz Kucher maßgeblich initiierten Forschungen zur österreichischen Literatur der 1920er und 1930er Jahre zwischen Moderne und Antimoderne streifen immer wieder auch die späteren Stellungnahmen der Jungwiener (Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre. Vorschläge zu einem transdisziplinären Epochenprofil. Hg. von Primus-Heinz Kucher. Bielefeld 2007. »baustelle kultur«. Diskurslagen der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Hg. von Primus-Heinz Kucher und Julia Bertschik. Bielefeld 2011. Verdrängte Moderne – Vergessene Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938. Hg. von Primus-Heinz Kucher. Göttingen 2016). Aber jenseits eines französischen Sammelbandes (Les »Jeunes Viennois« ont pris de l’âge. Les œuvres tardives des auteurs du groupe »Jung-Wien« et de leurs contemporains autrichiens. Hg. von Rolf Wintermeyer und Karl Zieger. Valenciennes 2004) gibt es keine systematische Untersuchung zum Spätwerk dieser Dichtergruppe als Spätwerk in Umbruchszeiten. 5 Vgl. Theodor W. Adorno  : Spätstil Beethovens, in  : Ders.: Musikalische Schriften IV. Moments musicaux. Impromptus. Frankfurt a. M. 2003, S. 13–17.

Einleitung 

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Perspektive porträtiert,6 sind die zwischen 1859 (Peter Altenberg) und 1876 (Raoul Auernheimer) geborenen österreichischen Autoren mehrheitlich in ihren 20er und frühen 30er Lebensjahren.7 Die Begriffe Junges Oesterreich und Jung Wien nutzt Bahr, um die neue Wiener Literatur von einem naturalistischen ›jüngsten Deutschland‹ abzugrenzen und um über das jugendliche Lebensalter und einen Generationszusammenhang auch einen avantgardistischen Innovationsanspruch zu formulieren.8 Zum Zentrum des Jungen Wien werden sowohl zeitgenössisch von seinem Literaturtheoretiker, Netzwerker und agent provocateur Hermann Bahr (1863–1934) als auch von der heutigen Literaturwissenschaft Arthur Schnitzler (1862–1931), Hugo von Hofmannsthal (1874– 1929), Richard Beer-Hofmann (1866–1945), Felix Dörmann (1870–1928) und Felix Salten (1869–1945) gezählt.9 Vorliegende Darstellung berücksichtigt darüber hinaus aber auch Randgestalten des Jungen Wien wie Peter Altenberg (1859–1919), Leopold von Andrian (1875–1951), Raoul Auernheimer (1876–1948), Richard Schaukal (1874–1942) oder Paul Wertheimer (1874–1937). Robert Musil macht sich nach dem Ersten Weltkrieg Gedanken über die Phänomene der Stilgeneration oder Generationsstil (1921) und argumentiert, dass sich etwa alle zehn Jahre ein kollektiver ästhetischer Geschmackswandel beobachten lasse, den scheinbar eine bestimmte Generation produziere. Rückblickend hält Musil fest  : Um 1900 konnte man noch glauben, daß Naturalismus, Impressionalismus, Dekadence, und heroischer Immoralismus alleines seien, verschiedene Auswirkungen einer neuen Generation  ; um 1910 wußt man bereits – was Alfred Kerr, soweit es den Naturalismus betrifft, viel früher gewußt und vorausgesagt hat – daß die ganze Gemeinsamkeit nur darin bestand, daß viele 6 Hermann Bahr  : Das junge Oesterreich, in  : Deutsche Zeitung vom 20. September 1893, S. 1 ff. Franz Servaes  : Jung Wien. Berliner Eindrücke, in  : Die Zeit vom 2. Januar 1897, S. 6 ff. Dass sich Servaes in seinen Berliner Eindrücken wiederum von Bahr beeinflussen lässt, hat die Forschung nachgewiesen (vgl. Sprengel, Streim  : Berliner und Wiener Moderne [Anm. 2]). 7 Die einigermaßen große Spanne von 17 Jahren Altersunterschied zwischen dem jüngsten (Auernheimer) und dem ältesten (Altenberg) dieser Schriftsteller zeigt aber auch, dass der von Bahr insinuierte Generationszusammenhang der Gruppe lockerer ist als vielleicht vermutet. So produziert die altersmäßige Staffelung auch Konkurrenzen zwischen den einzelnen Schriftstellern und Untergruppierungen. Vgl. dazu auch den Abschnitt zu Raoul Auernheimer im letzten Kapitel Nachschriften. 8 Hermann Bahr  : Das jüngste Deutschland, in  : Deutsche Zeitung vom 30. August 1893, S. 1 ff. Zur ambivalenten Rolle Bahrs und seiner missverständlichen Selbststilisierung als Gründer des Jungen Wien vgl. Sprengel, Streim  : Berliner und Wiener Moderne (Anm. 2). Zur Jugendsemantik bei Bahr vgl. Claus Pias  : Do You Really Want to Live Forever – Forever Young  ? Hermann Bahr, die Jugend und die Speicher, in  : Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Hg. von Andreas Beyer und Dieter Burdorf. Heidelberg 1999, S. 73–88. 9 Dass sich diese Konstellation allerdings erst allmählich herausschält, ist oft betont worden. Das belegt etwa ein früher Tagebucheintrag von Schnitzler vom 2. April 1890 oder auch Hermann Bahrs Liste in seinem Aufsatz Das junge Oesterreich (Anm. 6).

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Einleitung

Leute um das gleiche – Loch, um das gleiche Nichts herumgestanden waren  ; und heute sind von der ganzen Generationsseele nichts als ein paar Einzelseelen übrig geblieben, welche die alphabetische Ordnung im Kürschner ganz gut vertragen oder mit Erfolg die Unterschiede zwischen Künstlerhaus und Sezession verwischen. Ich könnte Gründe dafür anführen, daß es mit dem Expressionismus kaum anders gehen wird.10

Musil beschreibt den Stilpluralismus der zahleichen ›Ismen‹ der Jahrhundertwende retrospektiv als eine jugendliche Modeerscheinung, die um 1900 anscheinend eine ganze österreichische Generation erfasst habe und dann zusehends ausgedünnt und um 1910 abgelöst worden sei von der Diagnose eines Wertvakuums und der empiriokritizistischen Erkenntnis, dass das Ich unrettbar sei.11 Begönne die Jugend immer mit dem »Urwiderstand gegen die Tradition«,12 so verlören sich mit dem Älterwerden die rebellischen Attitüden  : Die Verbürgerlichung und Aussöhnung mit der Tradition veranschaulicht Musil bildkünstlerisch mit der konzilianten Annäherung der vormals aufmüpfigen Secessionisten an das historistische Künstlerhaus, von dem sie sich einst abgespalten hatten, und lexikographisch mit Kürschners biographischen Nachschlagewerken, die um 1920 den mittlerweile gesellschaftlich anerkannten Erfolg derjenigen Künstler dokumentieren, die der Kunst um 1900 einst als avantgardistisches Vorbild getaugt hätten. Das sind retrospektiv nur noch »ein paar Einzelseelen«, während der vermeintliche ›Generationsstil‹ aber gemacht worden wäre von einer größeren Gruppe, die diesen Einzelnen einst mehr oder weniger unbewusst nachgeeifert habe  : »Stil wird immer von den Nachläufern gemacht«,13 resümiert Musil. Für das Junge Wien ließe sich dies etwa illustrieren am Stilvorbild Schnitzler, der von Felix Salten und Raoul Auernheimer beobachtet, imitiert und variiert wird.14 Die »paar Einzelseelen« hingegen, die 10 Robert Musil  : Stilgeneration oder Generationsstil [14.  Mai 1921], in  : Ders.: Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches. Reinbek 1978 (Gesammelte Werke, Bd. 7), S. 661 ff., hier S. 662. In der zweiten Fassung dieser Glosse (Stilgeneration und Generationsstil [4. Juni 1922], ebd. S. 664–667) betont Musil noch eindrücklicher, dass es sich bei diesem Generationsstil nicht um eine ontologische Größe, sondern um ein Konstrukt handelt. Zu diesem Konstruktcharakter vgl. Alexander Honold  : Die Wiener Décadence und das Problem der Generation, in  : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), S. 644–669. 11 Dass mit dem »gleichen – Loch«, dem »Nichts«, um das die Generationsgenossen staunend herumgestanden sind, auch der poröse empiriokritizistische Subjektentwurf Ernst Machs aufgerufen wird, vereindeutigt die zweite Fassung von Musils Text, indem diese Passage folgendermaßen variiert wird  : »um 1910 glaubte man bereits (was nur einige Beteiligte, so Alfred Kerr, schon vorher gewußt hatten), daß diese Seele ein Loch war, von dem eben nichts als die Seiten wirklich sind« (Musil  : Stilgeneration und Generationsstil [Anm. 10], S. 666). 12 Musil  : Stilgeneration oder Generationsstil (Anm. 10), S. 661. 13 Ebd., S. 663. 14 Zu Saltens Erzählen in der Tradition Schnitzlers vgl. in der vorliegenden Studie die Analyse seiner

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1920 lexikalisch als geschmackstypisch für die Wiener Jahrhundertwende erfasst sind, und deren literaturwissenschaftliche Kanonisierung sich im 21.  Jahrhundert in ihrer Editions- und Handbuchwürdigkeit niederschlägt, sind Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler.15 Vorliegende Studie interessiert sich allerdings ausdrücklich nicht nur für diese kanonisierten übrig gebliebenen »paar Einzelseelen«, sondern vielmehr dafür, was die gesamte ehemalige Gruppe des Jungen Wien literarisch unternimmt, nachdem ihre »Epoche« von den nachfolgenden Strömungen für abgelaufen erklärt worden ist. Denn kaum einer verstummt,16 fast alle schreiben weiter. Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal werden  – ermutigt von ihren Anfangserfolgen – zu Berufsschriftstellern,17 die mit der Literatur ihren Lebensunterhalt verdienen müssen und sich nach Heirat und Familiengründung mit repräsentativen Villenkäufen und Schlossanmietungen auch einen eleganten Lebensstil und das Air eines weltmännischen Großschriftstellers zu geben bemühen.18 Das ist nicht immer ohne Anstrengung möglich, und die finanzielle Einträglichkeit von Opernproduktionen (Hofmannsthal) oder Romanen für den S. Fischer Verlag (Schnitzler) spielt durchaus eine nicht unerhebliche Rolle bei den Werkplänen dieser Dichter. Beim Tausendsassa Hermann Bahr genügt die nicht nachlassende literarische Produktion allein lange Zeit nicht für den Lebensunterhalt, und er verdingt sich daher wechselnd als Theaterkritiker, Journalist und Regisseur, bevor er auch als Agent seiner zweiten Frau, der erfolgLeutnantsnovelle Abschied im Sturm (1915) im Weltkriegskapitel und zu Auernheimers ambivalenter Schnitzlerverehrung den ersten Teil im Abschlusskapitel Nachschriften. 15 Vgl. Hofmannsthal-Handbuch. Leben  – Werk  – Wirkung. Hg. von Mathias Mayer und Julian Werlitz. Stuttgart 2016. Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel. Stuttgart 2014. 16 Einzig Leopold von Andrian veröffentlicht während seiner erfolgreichen Diplomatenlaufbahn weniger, versucht aber auch, nach dem Ersten Weltkrieg an seinen fiktionalen Erstlingserfolg Der Garten der Erkenntnis (1895) anzuknüpfen und wird dann in den 1930er Jahren zum legitimistischen Weltanschauungsliteraten, worauf im achten Kapitel dieser Abhandlung eingegangen wird. 17 Schnitzler und Hofmannsthal machen sich diese Entscheidung nicht leicht  : Schnitzler gibt den Arztberuf erst 1893 auf nach dem Tod des Medizinervaters, der der Dichtung des Sohnes immer skeptisch gegenübergestanden ist. Hofmannsthal erwägt noch lange die universitäre Laufbahn als Alternativmodell  : Er wird 1898 an der Universität Wien promoviert mit einer romanistischen Dissertation Über den Sprachgebrauch der Dichter der Plejade und zieht schließlich erst 1901 sein Habilitationsgesuch mit einer Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo zurück. Vgl. hierzu Christoph König  : Hugo von Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen. Göttingen 2001. 18 Während Hofmannsthal das kleine spätbarocke Fuchsschlössl in Rodaun bei Wien zur Miete bezieht, bauen Bahr und Beer-Hofmann für sich repräsentative Villen in den Wiener Vororten Ober St. Veit (für Bahr von Joseph Maria Olbrich im Stil eines recht opulenten süddeutschen Bauernhauses geplant) und Währing (für Beer-Hofmann von Josef Hoffmann als Jugendstilvilla gebaut), wohin schließlich auch Schnitzler übersiedelt und eine Villa in der Sternwartestraße erwirbt. Später bezieht Bahr mit seiner zweiten Frau Anna Bahr-Mildenburg in Salzburg eine Etage in Schloss Arenberg.

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reichen Opernsängerin Anna Bahr-Mildenburg, tätig ist. Der wohlhabende Richard Beer-Hofmann muss sich um sein Auskommen keine Sorgen machen und ist weder auf einen bürgerlichen Beruf noch auf eine regelmäßige und gut bezahlte literarische Werkproduktion angewiesen, während Felix Dörmanns Bemühen, sich mit der Literatur zu finanzieren, nicht so erfolgreich ist und ihn (auch aus pekuniären Gründen) zum Filmproduzenten und Operettenlibrettisten werden lässt. Raoul Auernheimer, Paul Goldmann, Felix Salten und Paul Wertheimer ergreifen literaturnahe Berufe  : Sie werden Journalisten und nutzen ihre Stellung auch immer wieder, um literaturkritisch den Nachruhm des Jungen Wien zu prolongieren und ihrer eigenen Belletristik ein wohlgesonnenes publizistisches Umfeld zu gestalten. Für Leopold von Andrian und Richard Schaukal hingegen wird die Literatur zur Nebenstundentätigkeit  : Die beiden Juristen arbeiten erfolgreich als Diplomat und Ministerialbeamter im österreichischen Staatsdienst und entfalten als Pensionäre aber noch einmal eine mehr (Schaukal) oder weniger (Andrian) rege schriftstellerische Tätigkeit. Wenn im Folgenden vom »Jungen Wien im Alter« die Rede ist, so soll damit keinesfalls suggeriert werden, dass nach 1900 noch ein homogener Dichterkreis mit einem einheitlichen poetologischen Programm bestanden hätte,19 aber der Blick auf das Spätwerk dieser Autoren zeigt, dass sich deren Lebenswege und Kunstkonzeptionen mal gewollt und forciert, mal gefürchtet und perhorresziert immer wieder in Wien und anderswo kreuzen. Es geht also (am Rand auch um die Netzwerke, aber vor allem) um das Nachleben einer Gruppe, die ihren Mitgliedern zu Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere einige Berühmtheit und literaturkritische Aufmerksamkeit verschafft hatte.20 Mit dem Schlagwort »Junges Wien« werden diese Literaten bekannt und auch späterhin immer wieder mit diesem ›Label‹ assoziiert. Man kann natürlich argumentieren (und die literaturgeschichtlichen Abhandlungen zur Wiener Moderne tun dies zumeist), dass die Naturalismuskritik als kleinster gemeinsamer Nenner dieser heterogenen Gruppe eine zu schmale Basis für eine fortdauernde stabile Gruppenidentität bildet und es daher nicht verwunderlich ist, dass sich so verschiedene ästhetische Gestalten wie Peter Altenberg und Hugo von Hofmannsthal irgendwann nur noch wenig zu sagen haben. Aber hier wird einmal der umgekehrte Weg gewählt und gefragt, wie sich die frühe Jung

19 Zum losen Zusammenhalt dieser (von Bahr als homogener als gewesen gepriesenen) Gruppe vgl. Österle  : »Freunde sind wir ja eigentlich nicht« (Anm. 2). 20 Zu solchen Netzwerk- und Nachlebenanalysen vgl. Cornelius Mitterer  : Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne. Berlin, Boston 2020. Helga Mitterbauer  : Dynamik – Netzwerk – Macht. Kulturelle Transfers ›am besonderen Beispiel‹ der Wiener Moderne, in  : Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Hg. von Helga Mitterbauer und Katharina Scherke. Wien 2005, S. 109–130. Ulrich Raulff  : Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009.

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Wiener Prominenz dieser Dichter auf ihr Schaffen nach 1905 auswirkt und was denn das Wenige ist, das sie sich noch zu sagen haben. Ohne dass noch eine ausformulierte oder gar bindende Gruppenidentität besteht, ergeben sich neue Wiener Vorortnachbarschaften,21 und es existieren weiterhin einzelne Freundschaften (engere oder distanziertere), abgekühlte Bekanntschaften, wohl gepflegte und bewusst inszenierte Feindschaften und mehr oder weniger ausgeprägtes Interesse am Œuvre der Kollegen, das sich an manchen Orten neu belebt und besonders verdichtet  : Aussee zieht etwa immer wieder die Dichter in ihren Ferien an und wird zu einem Treffpunkt.22 1913 verbringen viele der Jungwiener gleichzeitig ihre Sommerfrische auf dem Lido in Venedig und unterhalten sich in unterschiedlichen Konstellationen.23 Als Leopold von Andrian gegen Ende des Ersten Weltkriegs (nicht zuletzt durch intensive Netzwerktätigkeit seines Freundes Hugo von Hofmannsthal) für kurze Zeit zum Generalintendanten der k. u. k. Hoftheater berufen wird und Hermann Bahr zum Dramaturgen des Burgtheaters ernennt, führt das rasch zu einem Konflikt mit Arthur Schnitzler, dessen Casanova-Drama (Die Schwestern oder Casanova in Spa) der mittlerweile episkopale Bahr aus Rücksicht auf die katholische Moral nicht aufführen lassen möchte. Die Gründung der Salzburger Festspiele wiederum führt Leopold von Andrian und Hugo von Hofmannsthal in neuer Weise nach dem Ersten Weltkrieg an einem Ort mit Hermann Bahr zusammen.24

1. Kontinuitäten und Transformationen Themen, Textformate und intermediale Experimente

Viele der Jungwiener, die in den 1890er Jahren für ihre ästhetische Selbstbezüglichkeit und ihr eminentes poetisches Formbewusstsein berühmt geworden waren,25 publizie21 Richard Beer-Hofmann und Hugo von Hofmannsthal sind etwa fünf Jahre lang Nachbarn in Rodaun, und nach seinem Umzug nach Währing ins Wiener Cottageviertel lebt Beer-Hofmann dort nah benachbart mit Felix Salten und Arthur Schnitzler. Vgl. Anne-Catherine Simon  : Schnitzlers Wien. Wien 2002, S. 99–109. 22 Vgl. auch Das Junge Wien. Orte und Spielräume der Wiener Moderne. Hg. von Wilhelm Hemecker, Cornelius Mitterer und David Österle. Berlin, Boston 2020. 23 Vgl. hierzu Barbara Beßlich, Cristina Fossaluzza  : Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938), in  : Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938). Hg. von Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher. Heidelberg 2019, S. 1–21, hier S. 12–19. 24 Dass das ziemliche Probleme und steile Verwerfungen zeitigte, analysiert Norbert Christian Wolf  : Eine Triumphpforte österreichischer Kunst. Hugo von Hofmannsthals Gründung der Salzburger Festspiele. Salzburg, Wien 2014. 25 Vgl. hierzu Stefanie Arend  : Innere Form. Wiener Moderne im Dialog mit Frankreich. Heidelberg 2010.

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ren nach der Jahrhundertwende Weltanschauungsliteratur,26 die politisch und kulturkritisch Stellung bezieht. Die gesellschaftlich degagierte Dichtung der Jungwiener in den 1890er Jahren, der Karl Kraus vorwirft, dass sie »geradezu in der Abkehr von den geistigen Kämpfen der Zeit ihr Heil sucht«,27 kontrastiert auffällig mit den Kulturdiagnosen derselben Autoren im frühen 20.  Jahrhundert  – besonders nach dem Ersten Weltkrieg.28 Die ältere Hofmannsthal-Forschung hat diese Entwicklung lange gern etwas nebulös mit einem Wort ihres Autors umschrieben, wenn davon die Rede war, dass Hofmannsthals Spätwerk »das Soziale« umkreise,29 und damit konnten dann gleichermaßen Komödien und Opernlibretti gemeint sein, aber eben auch die essayistische und weltanschauungsliterarische Beschäftigung mit kulturkritischen und politischen Themen. ›Das Soziale‹ ist darüber hinaus aber auch ein wolkig missverständlicher Begriff, weil man unabhängig von Hofmannsthal mit der Formulierung ›sozial engagierte Literatur‹ unmittelbar politisch eher links positionierte Texte im Kampf gegen gesellschaftliche Ungleichheit assoziiert. Aber das Junge Wien im Alter zeichnet sich grosso modo nun gerade in seiner Politisierung durch ein Konservativwerden aus.30 Hugo von Hofmanns­thals konservative Kulturkritik der 1920er Jahre stellt keineswegs eine AusPhilip Ajouri  : Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Berlin 2009. Alice Bolterauer  : Selbstvorstellung. Die literarische Selbstreflexion der Wiener Moderne. Freiburg 2003. 26 Unter Weltanschauungsliteratur werden hier mit Horst Thomé Texte verstanden, die explizit die Weltanschauung ihres Verfassers faktual und argumentativ präsentieren. Diese seit dem späten 19. Jahrhundert florierenden Schriften verbinden die »breite Darlegung wissenschaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen« (so Horst Thomé  : Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in  : Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 338). Die Weltanschauungsliteratur nutzt wissenschaftliche Befunde zur allgemeinen Lebenshilfe und beansprucht umfassende Sinnstiftungskompetenz. Argumentative Schwächen werden oft mit literarischen Schreibweisen kaschiert, bei denen die vage Metapher den präzisen Begriff ersetzt. Die eigene Gegenwart erscheint in diesen Texten oft als entscheidende Krisen- und Schwellenzeit  ; und aus diesem Krisenbewusstsein heraus entwickeln sich über eine zivilisationskritische Diagnose manchmal eine utopische Kraft und spekulative Energie. Vgl. auch Weltanschauung und Textproduktion. Beiträge zu einem Verhältnis in der Moderne. Hg. von Anna S. Brasch und Christian Meierhofer. Berlin 2020. 27 Karl Kraus  : Die demolirte Literatur, in  : Wiener Rundschau vom 1. Dezember 1896, S. 68–72, hier S. 69 f. 28 Vgl. hierzu Kulturkritik der Wiener Moderne (Anm. 23). 29 Hofmannsthal selbst hat den Begriff des »erreichten Sozialen« seinen Komödien reserviert  ; vgl. Hugo von Hofmannsthal  : Ad me ipsum, in  : Ders.: Reden und Aufsätze III 1925–1929, Buch der Freunde, Aufzeichnungen. Hg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1980 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 597–627, hier S. 611. Zum Umgang der Hofmannsthal-Philologie mit dem Begriff vgl. Michael Woll  : Wissenschaft, in  : Hofmannsthal-Handbuch (Anm. 15), S. 396–400. 30 Arthur Schnitzler und Felix Dörmann sind nach 1918 da die Ausnahmen.

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nahmeerscheinung dar, sondern weist mit den Zeitdiagnosen Leopold von Andrians, Hermann Bahrs und Richard Schaukals argumentative Schnittmengen auf. Ein zentraler Politisierungsschub geht vom Ersten Weltkrieg aus, der fast alle Jungwiener als Kulturkrieger auf den Plan ruft, die zwar nicht im Schützengraben, aber publizistisch im Kriegspressequartier und im Kriegsfürsorgeamt einen Krieg der Federn für Österreich führen,31 mal mehr und mal weniger nibelungentreu gegenüber dem Deutschen Kaiserreich. Arthur Schnitzler ist hier die Ausnahme und enthält sich der affirmativen Kriegspublizistik  ; aber Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten und Richard Schaukal stellen nicht nur ihre faktualen, sondern auch ihre fiktionalen Texte in den Kriegsdienst  : Leutnantsnovellen, dramatische Schwänke aus der deutschen Mobilmachung und eherne Sonette dokumentieren das bellizistische Engagement gattungsübergreifend.32 Leopold von Andrian ist als Diplomat im Krieg unter anderem in Krakau beim k. u. k. Etappenoberkommando angesiedelt und eher mit politischen Gebrauchstexten wie Memoranden und den Vorverhandlungen zum Frieden von BrestLitowsk beschäftigt. Im Verlauf des Kriegs und je mehr die Nationalitätenkonflikte innerhalb ÖsterreichUngarns an Sprengkraft zunehmen,33 mehren sich die essayistischen Auseinandersetzungen mit Europa. Während zu Kriegsbeginn diese Europa-Texte noch maßgeblich durch die (teils kritische) Auseinandersetzung mit Friedrich Naumanns wilhelminisch kulturimperialistischen Mitteleuropa-Vorstellungen geprägt sind,34 wird ab etwa 1917 Die Idee Europa immer mehr zu einem Kompensationsmodell für ein zusehends zerbröselndes habsburgisches Imperium.35 Die Europa-Essays von Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal sind Teil und Folge ihrer affirmativen Kriegspublizistik, in der die 31 Zum österreichischen Kriegspressequartier vgl. Kulturmanöver. Das k. u. k. Kriegspressequartier und die Mobilisierung von Wort und Bild. Hg. von Sema Colpan, Amália Kerekes, Siegfried Mattl, Magdolna Orosz und Katalin Teller. Frankfurt a. M. 2015. Vgl. auch Kriegstaumel und Pazifismus. Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Hg. von Hans Richard Brittnacher und Irmela von der Lühe. Frankfurt a. M. 2016. 32 Vgl. Felix Salten  : Abschied im Sturm. München 1915. Hermann Bahr  : Der muntere Seifensieder. Ein Schwank aus der deutschen Mobilmachung. München 1915. Richard Schaukal  : 1914. Eherne Sonette. München 1914. 33 Zu Sprach- und Nationalitätenkonflikten innerhalb Österreich-Ungarns vgl. Magdolna Orosz  : Erzählen – Identität – Erinnerung. Studien zur deutschsprachigen und ungarischen Literatur 1890–1935. Frankfurt a. M. 2016, S. 85–90. 34 Friedrich Naumann  : Mitteleuropa. Berlin 1915. Vgl. auch Moritz Csáky  : Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region. Wien, Köln, Weimar 2019. 35 Hugo von Hofmannsthal  : Die Idee Europa. Notizen zu einer Rede (1917), in  : Ders.: Reden und Aufzeichnungen II 1914–1924. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.  M. 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 42–54. Vgl. hierzu Barbara Beßlich  : Europa als Ersatz. Vielvölkerstaatsprobleme und kontinentale Kompensations-Ideen bei Hugo von Hofmannsthal, in  : Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2017, S. 29–44.

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Beschäftigung mit Europa zunehmend zum Remedium für Gefährdetes, Ersatz für Verlorenes und Projektion für Zukünftiges avanciert. Während vor dem Ersten Weltkrieg die Jungwiener Essayistik häufig eine europäische Selbstanklage artikuliert (die etwa im fernen Asien findet, was sie auf dem eigenen Kontinent vermisst),36 soll der EuropaGedanke in der Zwischenkriegszeit oft das untergegangene habsburgische Imperium substituieren, was auch verständlich macht, weshalb nach dem Adelsaufhebungsgesetz von 1919 so viele österreichische (ehemalige) Aristokraten antidemokratische und liberalismuskritische Europa-Initiativen starten wie Richard (Graf ) Coudenhove-Kalergi und Karl Anton (Prinz) Rohan, die wiederum von vielen Jungwiener Autoren aufmerksam beobachtet und unterstützt werden.37 Die revolutionären Unruhen von 1918 in Wien werden als verunsichernder Schock und Bedrohung der bürgerlichen Existenz erlebt  ; zudem fürchten Felix Salten und Arthur Schnitzler mit einigem Grund, dass es zu antisemitischen Ausschreitungen und Plünderungen kommen könnte.38 Der Ersten Republik und der Demokratie stehen die meisten Jungwiener ziemlich skeptisch gegenüber.39 Richard Schaukal war noch 1918 von Kaiser Karl I. geadelt worden und kann das »von« im Namen nur wenige Monate bis zum Adelsaufhebungsgesetz tragen  ; er und Leopold von Andrian demissionieren noch im Winter 1918/19 aus dem Staatsdienst aus Protest gegen den revolutionären Umsturz. Dass in dieser Situation die im November 1918 in Wien ausgerufene Republik »Deutsch-Österreich« ein demokratisches Begehren nach einem Anschluss an Deutschland formuliert, und Friedrich Ebert wiederum diesen österreichischen republikanisch-demokratischen Anschlusswünschen begeistert, Friedrich Schiller zitierend, entgegenruft  : »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern«,40 und damit ausgerechnet Wilhelm Tells Appell gegen Habsburg beleiht, trägt nicht eben dazu bei, den älteren 36 So Hugo von Hofmannsthal in seinem Fragment gebliebenen Gespräch zwischen einem jungen Europäer und einem japanischen Edelmann, in  : Ders.: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1992 (Sämtliche Werke, Bd. 31), S. 40–44. 37 Vgl. Tillmann Heise  : »Schöpferische Restauration« und Habsburg »reloaded«. Hugo von Hofmannsthals Europaideen der 1920er Jahre, Rohans Kulturbund und die »Europäische Revue«, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne (Anm. 23), S. 87–104. Zu diesen konservativen neoaristokratischen Europa-Entwürfen nach 1918 vgl. international komparativ Dina Gusejnova  : European Elites and Ideas of Empire 1917–1957. Cambridge 2018. 38 Vgl. Norbert Christian Wolf  : Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19. Wien 2018. Arne Karsten  : Der Untergang der Welt von gestern. Wien und die k. u. k. Monarchie 1911–1919. München 2019. 39 Norbert Bachleitner  : Krone, Krieg und kommunistische Krawalle. Vom schwierigen Übergang Jung-Wiener Autoren zur Demokratie, in  : Traditionsbrüche. Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr. Hg. von Tomislav Zelić. Frankfurt a. M. 2016, S. 77–85. 40 Vgl. Gerald Stieg  : Sein oder Schein. Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss. Wien, Köln, Weimar 2016, S. 41 f.

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Jungwienern die neuen Republiken in Deutschland und Österreich sympathischer zu machen. Nach dem Ersten Weltkrieg bleibt das Politische als Sujet durchaus virulent. Die Affinität zu Stabilität verheißenden »Ordnungen der Ungleichheit« prägt viele Texte,41 bestimmt die späten Turm-Trauerspiele von Hofmannsthal, der nach der Lektüre von Carl Schmitts verfassungsrechtlichen Abhandlungen Legalität und Legitimität von Staatsformen und Staatsformwechseln zwischen traditionalen und charismatischen Herrschaftsmodellen im Gewand der Calderón-Rezeption durchspielt.42 Dass Hofmannsthal dem Politischen auch eine Komödie abzutrotzen versucht, ist in der Forschung eher vernachlässigt worden. Daher soll hier die Fragment gebliebene Komödie Timon der Redner, die Hofmannsthal von 1916 bis 1926 beschäftigt, genauer in den Blick genommen werden. Während sich Hugo von Hofmannsthal in seiner berühmten Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927) so vage wie bedeutungsschwer und Rätsel aufgebend mit dem Begriff und Phänomen der ›Konservativen Revolution‹ affirmativ auseinandersetzt,43 entwickelt sich Andrian zum restaurativen Legitimisten, der freundlich gegenüber dem italienischen Faschismus gestimmt gegen den ›Anschluss‹ Österreichs an Hitler-Deutschland den habsburgischen Kaiser zurückwünscht,44 und der alte Bahr schließlich zeigt sich nach seinem Umzug nach München in seinen späten Texten Ende der 1920er Jahre durchaus auch gegenüber dem deutschen Nationalsozialismus aufgeschlossen.45 Das ist die eine, die konservative und politisch rechte Seite, die deutlich macht, wie sehr bildungsbürgerlich rechter Kulturpessimismus als politische Gefahr (Fritz Stern) wirken kann.46 Auf der anderen Seite stehen aber auch Felix Dörmanns auf die Inflation reagierender, politisch linker kapitalismuskritischer Großstadtroman Jazz (1926) oder Richard Beer-Hofmanns literarisches Engagement für eine zionisti41 Zu »Ordnungen der Ungleichheit« als Signum politisch rechter Gesellschaftsmodelle vgl. Stefan Breuer  : Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945. Darmstadt 2001. 42 Vgl. Alexander Mionskowski  : Souveränität als Mythos. Hugo von Hofmannsthals Poetologie des Politischen und die Inszenierung moderner Herrschaftsformen in seinem Trauerspiel »Der Turm« (1924/25/26). Wien, Köln, Weimar 2015. 43 Zum werkbiographischen Kontext vgl. Mathias Mayer  : Zeitgenossenschaft als Auftrag. Ein Denkbild des späten Hofmannsthal, in  : »Schöpferische Restauration«. Traditionsverhalten in der Literatur der Klassischen Moderne. Hg. von Barbara Beßlich und Dieter Martin. Würzburg 2014, S. 105–114. Katharina Meiser  : Fliehendes Begreifen. Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit der Moderne. Heidelberg 2014, S. 375–400. 44 Vgl. Hermann Dorowin  : Retter des Abendlandes. Kulturkritik im Vorfeld des europäischen Faschismus. Stuttgart 1991. 45 Hermann Bahr  : Tagebuch aus dem »Neuen Wiener Journal« 1927 bis 1931. Hg. von Kurt Ifkovits. Weimar 2015. 46 Fritz Stern  : Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Bern, Stuttgart 1963.

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sche Staatsgründung in seinen späten Bibeldramen, die sowohl eine politische als auch eine religiöse Dimension haben.47 Und damit ist ein weiteres wichtiges Thema im Spätwerk der Jungwiener angesprochen  : Religion – und vor allem die Wiederkehr traditioneller, konfessionell gebundener Formen von Religion – beschäftigt etliche der älter gewordenen Jungwiener. Während viele weltanschauungsliterarische Basisschriften aus dem wilhelminischen Kaiserreich und der Weimarer Republik aus einem kulturprotestantischen Sozialmilieu heraus entstehen (bis hin zum Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche),48 spielen der Katholizismus und das Judentum als Herkunftsmilieu und religiöser Fluchtpunkt eine bedeutende Rolle für das Spätwerk der Jungwiener.49 Leopold von Andrian, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und Richard Schaukal grundieren ihre Zeitdiagnosen in unterschiedlicher Intensität und Ausrichtung katholisch, wie es in Deutschland vielleicht noch vergleichbar bei Stefan Georges »ästhetischem Katholizismus« der Fall ist.50 Richard Beer-Hofmann und Felix Salten wiederum verbinden ihre Zeitdiagnosen mit einem vermehrten Interesse am Zionismus und Beer-Hofmanns Bibeldramen lassen sich überhaupt nur aus der Hinwendung zur jüdischen Religion heraus und als weltreligiöse Parallelaktion zu Hofmannsthals katholisierenden Mysterienspielen verstehen. Beer-Hofmanns Bibeldramen, die hier untersucht werden sollen, werden in der zeitgenössischen Presse als »Jüdisches Oberammergau« verspottet und befremden Beer-Hofmanns Freund Hofmannsthal nachhaltig.51 Während um die Jahrhundertwende herum auch noch die »frei vagierende Religiosität« (Thomas Nipperdey) im Kontext der Lebensreform und neumystischer Experimente von Interesse für die Wiener Moderne war, werden nach 1918 die konfessionell gebundenen, institutionalisierten Weltreligionen immer 47 Während Stefan Scherer (Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne. Tübingen 1993, S. 437) eher die konservative Ausrichtung des späten Beer-Hofmann betont, arbeitet Dirk Niefanger die zionistische Stoßrichtung heraus (»Jísro-El«. Politische Kulturkritik in Richard Beer-Hofmanns »Die Historie von König David«, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne [Anm. 23], S. 281–296). 48 Vgl. Gangolf Hübinger  : Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Kaiserreich. Tübingen 1994. Christoph Ribbat  : Religiöse Erregung. Protestantische Schwärmer im Kaiserreich. Frankfurt a. M. 1996. 49 Von den Jungwienern gehören Raoul Auernheimer, Richard Beer-Hofmann, Felix Dörmann, Felix Salten, Arthur Schnitzler und Paul Wertheimer dem jüdischen Glauben an  ; katholisch getauft sind Peter Altenberg, Leopold von Andrian, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und Richard Schaukal. 50 Vgl. Wolfgang Braungart  : Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen 1997. Stefan George und die Religion. Hg. von Wolfgang Braungart und Christoph Auffarth. Berlin, Boston 2015. 51 [Ck  :] Beer-Hofmann  : »Jaákobs Traum«, in  : Hamburger Fremdenblatt vom 14. November 1919, S. 2. Vgl. Carina Heer  : Gattungsdesign in der Wiener Moderne. Traditionsverhalten in Dramen Arthur Schnitzlers und Hugo von Hofmannsthals, mit Vergleichsanalysen zu Hermann Bahr, Felix Salten und Richard Beer-Hofmann. München 2014.

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wichtiger.52 Dem Wert-Vakuum des Fin de Siècle folgt ein Wiedererstarken religiöser Selbstbesinnungen. Man kann diese Entwicklung beschreiben als einen »Weg von der Bindungslosigkeit in die Bindung« und einen Übergang von dekadenter Religiosität zur Religion als Ausweg aus der Décadence,53 getragen durch die Sehnsucht nach Halt, Form und Sicherheit. Ästhetische und selbstreflexive Umorientierungen weg von der Décadence des Fin de Siècle lassen sich vielfach bei den Autoren beobachten. Peter Altenberg stilisiert sein Werk zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Avantgarde, nennt 1905 sein Buch Pròdrŏmŏs, was sich aus dem Griechischen mit »Vorbote«, »Wegweiser« oder »Vorläufer« übersetzen lässt. Während sich die Jungwiener Literatur der 1890er Jahre noch in dekadenter Stimmung der Krankheit und dem Sterben als literarischen Themen verschrieb,54 feiert Altenberg nun in der Nachfolge von Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft das Leben und die Gesundheit und nähert sich mit diätetischen und ökologischen Fragen der Lebensreform, die man literaturgeschichtlich bisher eigentlich kaum in Zusammenhang mit der Wiener Moderne gebracht hat.55 Auch die Sprache verändert und veralltäglicht sich, wenn Altenberg Reklameslogans in seine Texte montiert und die Tendenz zur Verknappung soweit radikalisiert, dass er einerseits intermedial Alban Berg inspiriert zu seiner neuen Musik, wie den kurzen Fünf Orchesterliedern nach Ansichtskarten von Peter Altenberg op. 4, und andererseits von den literarischen Expressionisten in Wien und Berlin zur Ikone erhoben wird. Während Altenberg 1896 noch impressionistisch aufzeichnet Wie ich es sehe, verlagert sich 1905 die Schreibhaltung von der Beobachtung zum lebensreformerischen Ratgebertext, der die Expressionisten fasziniert. Altenbergs Integration von Werbesprache in seine Postjahrhundertwendeliteratur dokumentiert auch, dass das Junge Wien sich durchaus dem Populären öffnet. Stehen viele Texte der 1890er Jahre unter dem literaturkritischen Verdikt der hermetisch elitären Unverständlichkeit,56 so lässt sich nach 1900 eine Tendenz zum Eingängigen verzeichnen, 52 Diese Entwicklung von einem dekadenten Interesse an einer gottlosen Mystik des Verruchten und Außerbürgerlichen hin zu einer katholisch eingehegten Mystik untersucht hier im Kapitel Wiederkehr der alten Götter ein eigener Abschnitt zur Mystik, mal modern und mal katholisch. 53 So bereits Jens Malte Fischer  : Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978, S. 91. 54 Beispielhaft stehen dafür etwa Arthur Schnitzlers lange Novelle Sterben (1894), Richard Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs (1900), Felix Dörmanns Gedicht Was ich liebe (1892) oder Hugo von Hofmannsthals lyrische Dramen Der Tor und der Tod (1894) und Der Tod des Tizian (1892). 55 Zum Zusammenhang von Literatur und Lebensreform allgemein vgl.: Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchsstimmung um 1900. Hg. von Thorsten Carstensen und Marcel Schmid. Bielefeld 2016. 56 Das gilt vor allem für Hofmannsthals symbolistische Lyrik und hier insbesondere für das Lebenslied (1896), aber auch für Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs (1900). Vgl. hierzu Annette Simonis  : Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne. Tübingen 2000.

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nicht immer und überall, aber gattungsübergreifend und intermedial aufgeschlossen. Es ist daher angebracht, Hofmannsthals oft untersuchten gattungsästhetischen Registerwechsel von der enigmatischen Lyrik der 1890er Jahre zu s­ einen Gesellschaftskomödien und Opernlibretti für Richard Strauss jungwienerisch zu kontextualisieren,57 und das wird hier unternommen, indem sich ein Kapitel den bisher von der Forschung kaum wahrgenommenen Operettenlibretti von Felix Dörmann, Felix Salten, Arthur Schnitzler und Paul Wertheimer für den seinerzeit enorm erfolgreichen Komponisten Oscar Straus widmet. Selbst Hofmannsthal projektiert in den 1920er Jahren angeregt von Max Reinhardt eine Sprechoperette, für die er sich Musik von dem Revuekomponisten Mischa Spoliansky wünscht. Während die Auseinandersetzung der Jungwiener mit den neuen Medien Kino und Radio bereits in der Forschung behandelt wurde,58 wurde die Beschäftigung der Jungwiener mit dem populären Musiktheater ihrer Zeit kaum beachtet,59 was möglicherweise auch damit zusammenhängt, dass Kino und Radio, als im frühen 20. Jahrhundert neue Medien, eher den Ausweis der ›Modernetauglichkeit‹ verheißen, während die Operette als angestaubt-spießige Berieselungsmaßnahme unter Kitschverdacht gelten mag. Das wird aber der vergessenen Vielfalt der Operette des frühen 20.  Jahrhunderts nicht unbedingt gerecht  : Gerade die von Karl Kraus angefeindeten Übergangsformen von Operette und Revue, die Integration von Jazz-Elementen nach 1918 sowie Schnitzlers (an Strindberg und Maeterlinck orientierten) metatheatralen Einakter-Experimente für Oscar Straus sind bisher in der Forschung kaum beachtet worden.60

57 Vgl. etwa Gotthart Wunberg  : Öffentlichkeit und Esoterik. Zur Wirkungsgeschichte Hugo von Hofmannsthals, in  : Ders.: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Tübingen 2001, S. 258–289. Zu Hofmannsthals sich verändernden Autorschaftskonzepten vgl. Alexander Honold  : Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Berlin 2015, S. 323–394. 58 Vgl. Heinz Hiebler  : Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. Würzburg 2003. Arthur Schnitzler und der Film. Hg. von Achim Aurnhammer, Barbara Beßlich und Rudolf Denk. Würzburg 2010. 59 Moritz Csáky (Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität. Wien, Köln, Weimar 1996) interessiert die kulturgeschichtliche Bedeutung der Operette für das österreichische Selbstverständnis insgesamt (weit über die Dichtergruppe des Jungen Wien hinaus). Aus musikwissenschaftlicher Perspektive erhellend sind Marion Linhardt  : Residenzstadt und Metro­ pole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858–1918). Tübingen 2006. Stefan Schmidl  : Die vielen Identitäten. Untersuchungen zur Funktion der Wiener Operette, in  : Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich 55 (2009), S.  319–366. Wie die Operette Friktionen der k. u. k. Gesellschaft reflektiert, untersuchen Magdolna Orosz, Gabriella Rácz  : »Alles gelungen«. Exotismus, Fremdheit und Identität in der Operette der k. u. k. Monarchie, in  : Habsburg bewegt. Topographien der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hg. von Miklós Fenyves, Amália Kerekes und Magdolna Orosz. Frankfurt a. M. 2013, S. 167–184. 60 Nikola Roßbach  : Theater über Theater. Parodie und Moderne 1870–1914. Bielefeld 2006, S. 153 ff. analy-

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Weltanschaulich-Kulturkritisches verhandeln die Jungwiener im 20.  Jahrhundert nicht nur in der sogenannten Weltanschauungsliteratur, die faktual mit behauptender Kraft die Meinungen ihrer Autoren explizit zum Ausdruck bringt, sondern auch in Textformaten, die um 1900 noch vornehmlich ästhetischen Fragen reserviert waren und nun verweltanschaulicht werden. Vorliegende Studie möchte das deutlich machen an den Dialogessays oder Erfundenen Gesprächen, die nicht nur Hofmannsthal verfasst. Das Junge Wien ist dafür bekannt, dass es um 1900 den Essay poetisch erneuert,61 vor allem durch die Erfundenen Gespräche und Briefe Hugo von Hofmannsthals, die fiktionales Arrangement und kritisch-theoretische Reflexion in eigentümlicher Weise verbinden.62 Hofmannsthals Gespräch über Gedichte (1903) ist nur ein besonders prominentes Exemplar einer ganzen Reihe von Werken der Wiener Moderne, die weder rein faktual noch vollständig fiktional lesbar sind. Die Themen dieser »imaginäre[n] Gespräch[e]« sind im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts größtenteils der Ästhetik reserviert.63 Es sind fingierte Unterhaltungen über Kunst, wie etwa auch Hermann Bahrs Dialog vom Tragischen (1904) und sein Dialog vom Marsyas (1905) oder Richard Schaukals Giorgione. Gespräche über die Kunst (1906/07).64 Eine Ausnahme bildet vielleicht Hofmannsthals Fragment gebliebenes Gespräch zwischen einem jungen Europäer und einem japanischen Edelmann, das im Wechselspiel von abendländischer Selbstdeutung und außereuropäischem Fremdbild nicht nur ästhetische, sondern auch kulturkritisch-weltanschauliche Deutungsmuster durchspielt. Vorliegende Studie möchte in einem Kapitel zeigen, wie diese eigentümlich zwischen Fiktionalität und Faktualität schimmernde Textsorte des Dialog-Essays oder erfundenen Gesprächs im Spätwerk der Jungwiener noch einmal aufgegriffen, weltanschaulich imprägniert und massiv politisiert wird und zwar in Leopold siert eindrücklich Schnitzlers metatheatrale Experimente, interessiert sich aber nicht so sehr für Schnitzlers Librettisierung seiner eigenen Burleske Der tapfere Cassian (1904). 61 Vgl. Simon Jander  : Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner  – Hugo von Hofmannsthal  – Gottfried Benn. Heidelberg 2008. 62 Vgl. hierzu Marco Rispoli  : »Ich mißtraue dem zweckvollen Gespräch«. Anmerkungen zu Hofmannsthals »Erfundenen Gesprächen«, in  : Literarische Denkformen. Hg. von Marcus Andreas Born und Claus Zittel. Paderborn 2018, S. 251–272. Magdolna Orosz  : Ästhetische Überlegungen zu Hofmannsthals »Erfundenen Gesprächen und Briefen«, in  : Sehnsucht nach dem Leben. Zum Werk Hugo von Hofmannsthals. Hg. von Roland Innerhofer und Szilvia Ritz. Wien (im Druck). 63 Diesen Begriff, »das imaginäre Gespräch«, wählte Hofmannsthal in einem undatierten Brief an Paul Zifferer. Vgl. Hugo von Hofmannsthal – Paul Zifferer  : Briefwechsel. Hg. von Hilde Burger. Wien 1983, S. 35. 64 Vgl. Maurizio Pirro  : Forma come contegno nei dialoghi sull’arte di Richard Schaukal, in  : Ders.: Piani del Moderno. Vita e forme nella letteratura tedesca del ›fine secolo‹. Mailand 2016, S. 55–74. Dieter Burdorf  : Gespräche über Kunst. Zur Konjunktur einer literarischen Form um 1900, in  : Jugendstil und Kulturkritik (Anm. 8), S. 29–50. Heide Eilert  : »… daß man über die Künste überhaupt fast gar nicht reden soll«. Zum Kunst-Essay um 1900 und zur Pater-Rezeption bei Hofmannsthal, Rilke und Borchardt, in  : Jugendstil und Kulturkritik (s.o.), S. 51–72.

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Einleitung

von Andrians Buch Österreich im Prisma der Idee (1937), das sich der Form des Erfundenen Gesprächs bedient, um religiöse und politisch-weltanschauliche Themen diskursiv zu präsentieren und ein legitimistisches Manifest gegen den ›Anschluss‹ Öster­reichs an Nazi-Deutschland zu formulieren. Auffällig ist auch das literarische und kulturelle Traditionsverhalten der gealterten Jungwiener, die ihre Vergangenheitsbezüge semantisch neu sortieren. Dass die affirmative literarische Traditionsbezogenheit des Jungen Wien bereits in den 1890er Jahren sein poetologisches Programm strukturiert, hat die neuere Forschung eigens betont  ;65 dass sich das Traditionsverhalten aber spätestens nach 1914 verändert und über inner­ literarische Belange hinaus kulturell und gesellschaftsdiagnostisch ausdehnt, ist ebenfalls wichtig zu verzeichnen. Hermann Bahrs Barockaneignung ist Teil dieses Phänomens,66 aber auch eine eigenwillige Epochen-Konstruktion der Aufklärung als spezifisch westeuropäische Angelegenheit, die nur noch wenig mit deutschen und österreichischen Belangen zu tun hat. Eine solche Uminterpretation der Aufklärung unter kulturkritischen Vorzeichen illustriert, wie die klassische Moderne um ihre Herkunftsgeschichte streitet.67 Im vorliegenden Band soll dies exemplarisch sichtbar gemacht werden an der Auseinandersetzung der Jungwiener (Auernheimer, Bahr, Hofmannsthal, Schaukal und Schnitzler) mit dem deutschen Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing in den 1910er und 1920er Jahren. Kontrastiert man das weltanschauungsliterarische Spätwerk der Jungwiener mit ihren ästhetizistischen Anfängen, so fallen die Unterschiede plakativ in den Blick und man ist zunächst vielleicht versucht, von einem klaren Bruch zu sprechen. Zu deutlich drängt sich erst einmal die Diskrepanz zwischen früher Politikabstinenz und später Politisierung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Gleichwohl muss man aber auch betonen, dass viele Elemente dieser österreichischen Schriften der Zwischenkriegszeit auf Deutungsmustern des literarischen Frühwerks aufbauen und sie transformieren. Hier lassen sich durchaus Nachwirkungen des Jungen Wien im Spätwerk der Autoren aufzeigen. Die früh proklamierte Trennung von Poesie und Leben rekurrierte auch schon auf eine 65 Vgl. Tradition in der Literatur der Wiener Moderne. Hg. von Wilhelm Hemecker, Cornelius Mitterer und David Österle unter Mitarbeit von Cornelia Nalepka und Gregor Schima. Berlin, Boston 2017. 66 Vgl. hierzu Gregor Streim  : Abkehr von der Moderne  ? Hermann Bahrs Rede vom ›zweiten Barock‹, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne (Anm. 23), S. 25–47. Zur Barock-Rezeption der Jahrhundertwende vgl. auch Dieter Martin  : »Ecce Poeta«. Johann Christian Günther in Dichterdramen um 1900, in  : Geistesheld und Heldengeist. Studien zum Verhältnis von Intellekt und Heroismus. Hg. von Barbara Beßlich, Nicolas Detering, Hanna Klessinger, Dieter Martin und Mario Zanucchi. Berlin, Boston 2020, S. 243–264. 67 Vgl. ›Aufklärung‹ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte. Hg. von Georg Neugebauer, Paolo Panizzo und Christoph Schmitt-Maaß. Paderborn 2014. Lessing und das Judentum. Lektüren, Dialoge, Kontroversen im 20. und 21.  Jahrhundert. Hg. von Cord-Friedrich Berghahn, Dirk Niefanger und Gunnar Och. Hildesheim (im Druck).

Kontinuitäten und Transformationen 

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Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Leben, die um 1890 den Rückzug in die ästhetizistische Kunst initiierte. Die Abkehr vom Liberalismus der Vätergeneration und die Verachtung gegenüber einer kapitalistisch-bürgerlichen Selbstzufriedenheit durchziehen sowohl die poetischen Anfänge in der Nachfolge Nietzsches als auch die späten Schriften. Das epochale Endzeitbewusstsein, Letztling in einer langen Kette der Geschlechter zu sein, ist nicht erst Ausdruck einer Trauer um die untergegangene Monarchie nach 1918, sondern prägt bereits die dekadenten Stimmungsbilder des Fin de Siècle.68 Neben den avantgardistischen Überwindungskapriolen findet sich bei Hermann Bahr schon früh die Beobachtung, dass die jungen österreichischen Autoren ein ganz besonders affirmatives Verhältnis zur Tradition haben.69 Hugo von Hofmannsthal hat die im Brief (1902) des Lord Chandos so prominent poetisierte Sprachkritik später als Teil und Symptom einer umfassenden Kulturkrise der Jahrhundertwende interpretiert.70 Die katholisierende Barockbegeisterung der 1920er Jahre ist keineswegs voraussetzungslos, sondern schmückt auch schon die Wiener Topographien in Leopold von Andrians »Narcissusbuch« (Hofmannsthal) Der Garten der Erkenntnis (1895). Es scheint daher angemessen, auch auf Kontinuitäten zwischen dem ästhetisch ambitionierten Frühwerk und dem weltanschauungsliterarischen Spätwerk hinzuweisen. Diesen Weg vom egotistischen culte du moi (Maurice Barrès) zu religiösen und politischen Ordnungs- und Gemeinschaftsmodellen beschreitet mit den Jungwienern eine ganze Generation von europäischen Schriftstellern.71 Intratextuell und narratologisch soll das erzählerische Spätwerk Schnitzlers, und hier genauer sein letzter Roman Therese (1928) untersucht werden, der das Sujet einer frühen Novelle (Der Sohn [1892]) wiederaufgreift, aber das Thema formal neugestaltet und gattungsästhetisch weitet. Während die zeitgenössische Rezeption im Roman natu­ralistische Erbschaften wirken sieht und Schnitzler teils Vorgestrigkeit attestiert, soll hier vielmehr die indirekte Auseinandersetzung Schnitzlers (ästhetisch) mit der Neuen Sachlichkeit und (soziologisch) mit der veränderten Angestelltengesellschaft 68 Servaes  : Jung Wien (Anm. 6), hier S. 8. 69 »Das ›junge Oesterreich‹ ist nicht revolutionär. […] Sie verehren die Tradition. Sie wollen nicht gegen sie treten. Sie wollen nur auf ihr stehen. Sie möchten das alte Werk der Vorfahren für ihre neuen Zeiten einrichten« (Bahr  : Das junge Oesterreich [Anm. 6], S. 1). 70 »Sprachkritik als Welle der Verzweiflung über die Welt laufend  : als jene Seelenverfassung, die sich ergeben hatte, weil nicht Wahrheit sondern Technik das Ergebnis wissenschaftlichen Geistes war« (Hofmannsthal  : Die Idee Europa [Anm. 35], hier S. 49). 71 Für den religiösen Bereich lassen sich die späten Schriften von Andrian, Bahr, Hofmannsthal und Schaukal durchaus auch als österreichischer Beitrag zum gesamteuropäischen Renouveau catholique begreifen  ; vgl. hierzu Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Beiträge des Heidelberger Colloquiums vom 12. bis 16. September 2006. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter. Freiburg 2008.

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und dem erodierenden Bürgertum in der österreichischen Republik verdeutlicht werden. Ein besonderes narratologisches Augenmerk soll dabei auf Schnitzlers Umgang mit Wiederholungsstrukturen gelegt werden. Gattungsästhetisch modernisiert und säkularisiert Schnitzler die Chronik zur nüchternen Ausdrucksform einer kleinbürgerlichen Durchschnittsexistenz. Schnitzlers Chronik eines Frauenlebens spielt zwar in der monar­ chischen Welt von Gestern, reflektiert aber indirekt sehr wohl die gesellschaftlichen Umbrüche der Ersten Republik der 1920er Jahre. Ein abschließendes narratologisches Kapitel widmet sich den Nachwirkungen des Jungen Wien in erzählhistorischer Hinsicht, untersucht die literarische Auseinandersetzung von Raoul Auernheimer und Leo Perutz mit Arthur Schnitzler und bemüht sich, Filiationen unzuverlässigen Erzählens vom Jungen Wien zu Leo Perutz nachzuzeichnen. Zeitlich konzentriert sich die vorliegende Darstellung vor allem auf die 1910er und 1920er Jahre, da in diesen Dekaden die schriftstellerische Produktion der Autoren noch reich zu verzeichnen ist. Peter Altenberg stirbt als erster der Jungwiener 1919 in Wien mit 60 Jahren, in den zwanziger Jahren versterben Felix Dörmann (†1928 in Wien 58-jährig) und Hugo von Hofmannsthal (†1929 in Rodaun bei Wien 55-jährig). Arthur Schnitzler (†1931 in Wien 69-jährig) und Hermann Bahr (†1934 in München 71-jährig) segnen das Zeitliche zu Beginn der 1930er Jahre. Nachdem die Gestapo nach dem ›Anschluss‹ Andrians Buch Österreich im Prisma der Idee (1937) verboten hat, flieht Andrian aus Österreich über Nizza nach Brasilien und kehrt nach Kriegsende nach Europa zurück. Ihrer jüdischen Herkunft wegen bedroht sind nach 1938 vom Nationalsozialismus in Österreich neben Andrian (dessen Mutter Tochter des jüdischen Komponisten Giacomo Meyerbeer war) Raoul Auernheimer, Richard Beer-Hofmann und Felix Salten, denen die Emigration mit unterschiedlich großen Schwierigkeiten gelingt. Während sich Saltens Übersiedlung in die Schweiz noch einigermaßen glimpflich gestaltet, versucht Beer-Hofmann vergeblich, eine Aufenthaltsgenehmigung dort zu erlangen, und seine Frau stirbt in Zürich, bevor Beer-Hofmann 1939 von Genua in die USA ausreist. Raoul Auernheimer schließlich wird 1938 ins Konzentrationslager Dachau deportiert, von wo er erst nach mehreren Monaten durch die Hilfe des amerikanischen Generalkonsuls und dem Eingreifen Emil Ludwigs 1939 in die USA entkommen kann.72 Den Zweiten Weltkrieg überleben im Exil Richard Beer-Hofmann (†1945 in New York 79-jährig), Felix Salten (†1945 in Zürich 76-jährig), Raoul Auernheimer (†1948 in Oak­land 72-jährig) und Leopold von Andrian (†1951 in Fribourg 76-jährig). 72 Von dieser Zeit berichtet Auernheimer in einer erst im 21. Jahrhundert postum herausgegebenen Schrift  : Raoul Auernheimer  : »Erzählen heißt, der Wahrheit verschworen sein«. Kommentierte Edition der deutschund englischsprachigen Fassung des bisher unveröffentlichten KZ-Berichts »Die Zeit im Lager – Through Work to Freedom«. Hg. von Patricia Ann Andres. Frankfurt a. M. 2010.

Alterskunst, Spätwerke, Endzeitbewusstsein 

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2. Alterskunst, Spätwerke, Endzeitbewusstsein Autordispositionen, Werkkomplexe und Epochenkonstrukte

Spätwerke sind in den letzten Jahren von der Literaturwissenschaft vermehrt analysiert worden und man hat dabei betont, dass der Begriff des Spätwerks im Deutschen erst gegen Ende des 19.  Jahrhunderts nachzuweisen ist,73 dann als spezifische Interpretationskategorie der Moderne in Feuilleton und Geisteswissenschaften im frühen 20. Jahrhundert Konjunktur hat und zwar zu einer Zeit, in der dekadente Verfallsemphase und lebensreformerische Jugendbewegung zwei synchrone Phänomene sind, die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit verschieden auratisieren.74 Spätwerke gelten als intellektuell schick in dem Augenblick, da ausgerechnet der Jugendstil seine größten Erfolge feiert, und die literaturkritisch-philologische Konzeption von Spätwerken antwortet in gewisser Hinsicht auch auf den ästhetischen Décadence-Diskurs der Jahrhundertwende, die beide Phänomene des Späten umkreisen. Wenn von Spätwerken die Rede ist, kommen oft unterschiedliche Bedeutungskomponenten zusammen  : Mal geht es eher biologisch um das hohe Lebensalter von Autoren, die angesichts des nahe vermuteten Todes schreiben,75 mal eher um den letzten Werkkomplex eines Künstlers (der ja auch in jungen Jahren verstummen oder unerwartet sterben kann)76 und mal, wiederum eher geschichtsphilosophisch konzipiert, um ein kulturhistorisches Spät- oder Endzeitbewusstsein und den Abschluss einer Epoche.77 Um diese unterschiedlichen Denkfiguren idealtypisch voneinander abgrenzen zu können, wird hier pragmatisch begrifflich entsprechend unterschieden zwischen Alterskunst, Spätwerken und Endzeitbewusstsein. Die Analyse von Alterskunst orientiert sich geron73 Vgl. Kai Sina  : Spätwerke in Literatur und Literaturwissenschaften. Phänomen und Begriff, in  : Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Hg. von Lutz Danneberg, Annette Gilbert und Carlos Spoerhase. Berlin, Boston 2019, S. 477–492. Late Style and its Discontents. Essays in Art, Literature, and Music. Hg. von Gordon McMullan und Sam Smiles. Oxford 2016. Sandro Zanetti  : Avantgardismus der Greise  ? Spätwerke und ihre Poetik. München 2012. 74 Vgl. Anja Schonlau  : Werk und Stil des alten Künstlers. Altersbegrifflichkeit um 1900, in  : Alterskulturen und Potentiale des Alter(n)s. Hg. von Heiner Fangerau, Monika Gomille und Henriette Herwig. Berlin 2007, S. 227–236. 75 In diesem Sinn vgl. etwa Alexander Schwieren  : Gerontographien. Eine Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs. Berlin 2014. Altersstile im 19. Jahrhundert. Hg. von Gerhard Neumann und Günter Oesterle. Würzburg 2014. Edward Said  : On Late Style. Music and Literature Against the Grain. New York 2006. Walter Müller-Seidel  : Spätwerk und Alterskunst. Zum Ort Fontanes an der Schwelle der Moderne, in  : »Was hat nicht alles Platz in eines Menschen Herzen…«. Theodor Fontane und seine Zeit. Hg. von Michael Nüchtern. Karlsruhe 1993, S. 120–151. 76 Vgl. in diesem Sinn eher Kai Sina  : Schlusspoetik. Wilhelm Raabe und das Konzept ›Spätwerk‹, in  : Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 58 (2017), S. 56–68. Zanetti  : Avantgardismus der Greise  ? (Anm. 73). 77 Vgl. hierzu Ben Hutchinson  : Lateness and Modern European Literature. Oxford 2016. Ders.: Spätstil, in  : Zeitschrift für Ideengeschichte 11, 2 (2017), S. 5–14.

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tographisch am hohen Lebensalter der Autoren  ;78 die Forschung zu Spätwerken fragt nach einer spezifisch ästhetischen Eigenart eines bestimmten Bündels von Artefakten  ; und die Untersuchung von Spätzeitlichkeit und Endzeitbewusstsein geht kulturhistoriographisch vor und kontextualisiert Kunst epochal  : Das kann in einem engeren Sinn bedeuten, bestimmte Werke in der letzten Phase einer konkreten Epoche zu verorten (beispielsweise kunsthistorisch Rokoko als Endphase des Barock zu begreifen oder in vorliegendem Fall literaturgeschichtlich das Nachleben des Jungen Wien innerhalb der klassischen Moderne zu kartieren), oder aber es kann in einem weiteren Sinn meinen, ein geschichtsphilosophisches Spätzeitbewusstsein mentalitäts- und intellektuellengeschichtlich zu erfassen, vom ästhetischen Epigonendiskurs des 19.  Jahrhunderts über kulturpessimistisches Untergangsgerede der Jahrhundertwende bis hin zu einer apokalyptischen Gefühligkeit. Für das hier gewählte Thema sind alle drei Konzepte relevant  : Es geht um Alter(n)s­kunst von Autoren in ihren fortgeschrittenen Lebensjahren jenseits des 40. Geburtstags und nach der statistisch wahrscheinlichen Hälfte des Lebens  ; es geht um die ästhetische Beschaffenheit von Spätwerken, die das Schriftenensemble einzelner Literaten (und ­eines ehemaligen Dichterzirkels) zeitlich beschließen  ; es geht literaturgeschichtlich um das Auslaufen einer ästhetischen Strömung, die in den 1890er Jahren hohe literaturkritische Aufmerksamkeit erhält und diese nach 1905 mehr und mehr verliert. Außerdem geht es auch immer wieder um ein kulturpessimistisch artikuliertes Spätzeitbewusstsein, das seinen historischen Ort in der Agonie des österreichischen k. u. k. Imperiums hat und nach 1918 in der retrospektiven Konstruktion Kakaniens sich als Arbeit am habsburgischen Mythos formieren kann.79 78 In diesem Zusammenhang kann die Lebensalterforschung Aufschlüsse vermitteln  : Lebensläufe im Wandel. Entwicklung über die Lebensspanne aus Sicht verschiedener Disziplinen. Hg. von Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl. Stuttgart 2014. 79 Zur geschichtswissenschaftlichen Neubewertung der Spätzeit des Habsburger Imperiums vgl. Pieter M. Judson  : Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918. München 2017. Hannes Leidinger  : Der Untergang der Habsburgermonarchie. Innsbruck 2017. John Deak  : Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War. Stanford 2015. Judson, Deak und Leidinger betonen entgegen geläufiger Narrative vom habsburgischen ›Völkerkerker‹, der irgendwann an seinen Nationalitätenkonflikten untergehen musste, eine relative innenpolitische Stabilität des Vielvölkerstaates bis 1914, wohingegen Canis in außenpolitischer Perspektive darauf hinweist, wie sehr die anderen europäischen Staaten vor 1914 allerdings das habsburgische Imperium als überlebt, verkrustet und gefährdet betrachteten  ; vgl. Konrad Canis  : Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67–1914. Paderborn 2016. Zur retrospektiven Konstruktion Kakaniens und des habsburgischen Mythos (in der Nachfolge von und Kritik an Claudio Magris) vgl. Roland Innerhofer  : Kakanien, in  : Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Studien. Hg. von Johannes Feichtinger und Heidemarie Uhl. Wien, Köln, Weimar 2016, S. 112–118. Lawrence Cole  : Der Habsburger-Mythos, in  : Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten. Hg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl. Wien 2004, S. 473–504.

Alterskunst, Spätwerke, Endzeitbewusstsein 

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Alterskunst provoziert häufig intensive Wertungen, die entweder enthusiastisch emphatisch von Meisterschaft und Vollendung sprechen oder resignativ sterile Wiederholung und mangelnden Einfallsreichtum beklagen und argumentativ mit dem hohen Lebensalter des Künstlers verknüpfen. Alterskunst kann als dynamische Transformation gefeiert werden, so wenn Thomas Mann 1910 »das Schauspiel, das der alte Fontane bietet«, preist, »dies Schauspiel einer Vergreisung, die künstlerisch, geistig, menschlich eine Verjüngung ist, einer zweiten und eigentlichen Jugend und Reife im hohen Alter«.80 Alterskunst kann aber auch als unversöhnliches Ringen und problematisches Scheitern am eigenen Anspruch vorgeführt werden, wenn Edward Said, inspiriert von Adornos Rede von den Alterswerken als »Katastrophen«,81 sich jener Alterskunst zuwendet, die bestimmt sei durch eine »eigenartige, bewußt unproduktive Produktivität, ein Aufbegehren gegen alle Konventionen«.82 In dieser Perspektive wird dann gern das befremdlich Unzugängliche, schroff Rätselhafte der Alterskunst und ihre chronologische Ortlosigkeit betont, die antizipatorisch, aber nicht traditionsbegründend wirke, eben ein Greisenavantgardismus. Ob nun Krönung oder Katastrophe – Alterskunst scheint für die Geisteswissenschaften bisher vor allem relevant zu sein, wenn es um die Größten der Großen geht  : Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem alten Goethe, Rembrandts Spätstil, Beethovens letzten Streichquartetten oder der Philosophie des späten Nietzsche scheint ihre Relevanz nicht eigens nachweisen zu müssen und transportiert dann oft auch eine prätendierte Besonderheit mit sich, die die Alterskunst der eh schon exzeptionellen Künstler raunend zum potenzierten Ausnahmewerk erhebt.83 Hier soll nun bewusst nicht nur die Alterskunst der kanonisierten Jungwiener (Hofmannsthal und Schnitzler) in Augenschein genommen, sondern deren Alterstexte verglichen werden mit denen ihrer nicht so berühmt gewordenen Dichterkollegen und somit auch eine Typologie verschiedener Altersstile innerhalb einer generationell locker verbundenen Gruppe ermöglicht wer80 Thomas Mann  : Der alte Fontane (1910), in  : Ders.: Essays I 1893–1914. Hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering unter Mitarbeit von Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 14, 1), S. 245–274, hier S. 273. 81 »In der Geschichte von Kunst sind Spätwerke die Katastrophen« (Adorno  : Spätstil Beethovens [Anm. 5], S. 17). 82 Edward Said  : Der Stil des Spätwerks. Poesie und Radikalität bei Beethoven, Lampedusa und Kavafis, in  : Le Monde diplomatique vom 8. Oktober 2004, S. 12. 83 Umgekehrt scheint das Spätwerk von Autoren der zweiten oder dritten Reihe bisher kaum von Interesse zu sein. Daran zeigt sich auch  : Einem Autor ein Spätwerk zuzuschreiben, ist oft auch Folge einer literaturkritischen Aufsockelung und wissenschaftlichen Kanonisierungsstrategie, die das Werk eines Autors für so bedeutend hält, dass es in unterschiedliche Bereiche segmentiert wird. Erst ein großer Autor scheint spätwerktauglich zu werden, und umgekehrt löst die Beschäftigung mit dem Spätwerk etwa eines Cäsar Flaischlen bisher eher intellektuelle Belustigung aus, als ob hier der Rang eines Schriftstellers maßlos überschätzt werde. Aber auch Mittelmaß wird alt und schreibt weiter.

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den.84 Auch ästhetisch mittelmäßige Alterskunst interessiert vorliegende Abhandlung in literaturhistorisch kontextualisierender Absicht. Spätwerke als zeitlich letzte Werkkomplexe eines Dichters sind in hohem Maße intra­ textuell geprägt.85 Schriftsteller positionieren sich in ihrem Spätwerk zu ihrem eigenen früheren Œuvre in unterschiedlicher Weise  : Es kann sich um Revisionen, Résumés, Abschiedserklärungen oder Wiederaufnahmen handeln.86 Eine Revision nimmt etwa Peter Altenberg vor, wenn er sich in Pròdrŏmŏs (1905) von der Décadence abwendet  ; aber es gibt bei Altenberg auch provokant Repetitives, was er auch schon paratextuell signalisiert mit dem Werktitel Neues Altes (1911). Eine intratextuelle Wiederaufnahme soll in vorliegender Untersuchung an Arthur Schnitzlers letztem Roman Therese (1928) genauer analysiert werden, der seine frühe Novelle von 1892 neu bearbeitet. Solche intra­ textuellen Wiederaufnahmen sind Teil einer schriftstellerischen Inszenierungspraktik und autorschaftlichen Selbsthistorisierung,87 die etwa auch bei Hofmannsthal und Schnitzler zu einem ausgeprägten Nachlassbewusstsein führt.88 In Spätwerken finden sich in verdichteter Weise (mehr oder weniger erfolgreiche) Rezeptionsvorschläge für die Nachwelt, autobiographische Bekenntnisse, »Selbstkommentierungen, Editions­ anweisungen, Rahmungen, Betitelungen, Vor- und Nachworte«,89 die ein solches Nachlassbewusstsein dokumentieren. Hofmannsthal legt etwa mit Ad me ipsum (1916–28) eine umfangreiche Selbstdeutung zur Rezeptionslenkung vor, die er dem Germanisten Walther Brecht überantwortet und deren zentrale Begriffe (»Präexistenz« und »das Soziale«) von der Forschung über Jahrzehnte hinweg als Leitvokabeln der Werkdeutung akzeptiert und benutzt wurden.90 Während Schnitzlers mit 53 Jahren begonnene Autobiographie Jugend in 84 Dass es nicht eine einzige bestimmte Form von Alterskunst gibt, betont bereits Karen van den Berg  : Verschiedene Alte. Künstlerische Spätwerke und Ansätze zu einer Philosophie des Alterns, in  : Demographie. Bewegungen einer Gesellschaft im Ruhestand. Multidisziplinäre Perspektiven zur Demographieforschung. Hg. von Stephan A. Jansen, Birger P. Priddat und Nico Stehr. Wiesbaden 2005, S. 245–274. 85 Zur Intratextualität als »innerwerksspezifischer Intertextualität« eines zentralen Autors des Jungen Wien vgl. Achim Aurnhammer  : Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin, Boston 2013, S. 272 f. 86 Vgl. Zanetti  : Avantgardismus der Greise  ? (Anm. 73), S. 15. 87 Vgl. hierzu Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser  : Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese, in  : Schriftstellerische Inszenierungspraktiken  – Typologie und Geschichte. Hg. von Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser. Heidelberg 2011, S. 9–30. Alexander M. Fischer  : Posierende Poeten. Autorinszenierungen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg 2015. Poetologien des Posturalen. Autorschaftsinszenierungen in der Literatur der Zwischenkriegszeit. Hg. von Clemens Peck und Norbert Christian Wolf. Paderborn 2017. 88 Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000. Hg. von Kai Sina und Carlos Spoerhase. Göttingen 2017. 89 Zanetti  : Avantgardismus der Greise  ? (Anm. 73), S. 16. 90 Vgl. etwa Juliane Vogel  : Komische Schwärme. Zur Poiesis des Sozialen bei Hugo von Hofmannsthal, in  : Hofmannsthal-Jahrbuch 26 (2018), S. 125–141.

Alterskunst, Spätwerke, Endzeitbewusstsein 

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Wien Fragment bleibt und erst postum 1968 veröffentlicht wird, legt Bahr 1923 sein Selbstbildnis vor, mit dem er noch einmal versucht, den selbstgeschaffenen Mythos von seiner Person als »Gründer« des Jungen Wien zu stabilisieren.91 Schnitzlers Skepsis gegenüber der Authentizität und Zuverlässigkeit der Erinnerung an das eigene Leben kontrastiert auffällig mit Bahrs offensiver Selbststilisierung. Felix Salten schöpft 1932 seine Erinnerungen Aus den Anfängen des Jungen Wien skizzenhaft ab und schildert die aus dieser Zeit herrührenden Freundschaften wohl etwas stabiler als gewesen, und er macht dies sicherheitshalber erst nach dem Tod Schnitzlers, der sich so nicht mehr beschweren kann.92 Richard Schaukal lässt 1934 zu seinem 60. Geburtstag seine eitlen und verbitterten Beiträge zu einer Selbstdarstellung publizieren.93 Raoul Auernheimers und Felix Saltens autobiographische Aufzeichnungen aus dem Exil bleiben zu Lebzeiten ungedruckt.94 Sandro Zanetti hat in seiner Habilitationsschrift verschiedene Typen von ­Spätwerken differenziert, die auch helfen können, das Spätwerk der Jungwiener genauer zu bestimmen  : So finden sich sowohl selbsthistorisierende Folgewerke, lamentöse Schwanengesänge und nostalgische Arbeiten am habsburgischen Mythos, aber auch innovative Neuansätze und selbstbewusste Werkinszenierungen, und man kann verschiedene Schreibweisen der Spätwerke beobachten wie Kumulation, Reduktion, Variation, Reanimation und Substitution.95 Richard Beer-Hofmanns Bibeldrama Jaákobs Traum (1918) reanimiert etwa intratextuell das Traum-Motiv, das auch schon für seine Jahrhundertwende-Erzählung Der Tod Georgs (1900) strukturbildend war, bettet es aber in einen religiös-biblischen Kontext und versucht, gattungsästhetisch in alter Jungwiener Verbundenheit anzuknüpfen an die barockisierenden Mysterienspiele, mit denen sein Freund Hofmannsthal in Salzburg Erfolge feiert. Transgenerisch substituiert dabei das traditionsgesättigte versifizierte Mysteriendrama die experimentelle intern fokalisierte Erzählprosa. 91 Arthur Schnitzler  : Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Mit einem Nachwort von Friedrich Torberg. Wien 1968. Hermann Bahr  : Selbstbildnis. Berlin 1923. 92 Felix Salten  : Aus den Anfängen. Erinnerungsskizzen, in  : Jahrbuch deutscher Bibliophilen-Gesellschaft 18/19 (1932/33), S. 31–46. 93 Richard Schaukal  : Beiträge zu einer Selbstdarstellung, eine Auswahl von Versuchen. Mit einem Bild nach einem Ölgemälde von Johann Wolfgang von Schaukal zum 27. Mai 1934, dem 60. Geburtstage des Dichters. Wien 1934. 94 Raoul Auernheimer  : Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit. Erlebnisse und Bekenntnisse. Wien 1948. Zu den bisher ungedruckten Memoiren Felix Saltens vgl. Siegfried Mattl und Werner Michael Schwarz  : Felix Salten. Annäherung an eine Biografie, in  : Felix Salten. Schriftsteller – Journalist – Exilant. Hg. von Siegfried Mattl und Werner Michael Schwarz. Wien 2006, S. 14–73. 95 Diese Begriffe erläutert Sandro Zanetti in seinem Kapitel »Zeitverhältnisse« (Zanetti  : Avantgardismus der Greise  ? [Anm. 73], S. 299–317).

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Der Selbsthistorisierung der Autoren in ihrem Spätwerk korrespondiert ein feuilletonistisches, literaturwissenschaftliches und verlagspolitisches Vorgehen, das die Dichter in Erfolg versprechender Weise literaturgeschichtlich festzulegen und zu kanonisieren versucht.96 Das zeigt sich etwa an den erweiterten Werkausgaben und Veröffentlichungs­ initiativen zu den diversen runden Geburtstagen, die publikumswirksam von allerhand Festschriften und Jubiläumsartikeln begleitet werden  : Karl Kraus bespöttelt 1912 die Schnitzler-Feier zu dessen 50. Geburtstag.97 Der S. Fischer Verlag bringt 1913 Das Hermann-Bahr-Buch zum 50.  Geburtstag des Literaturtheoretikers auf den Markt,98 eine Art Reader’s Digest von Bahrs Essays aus den letzten 23 Jahren, aber mit deutlichem Schwerpunkt auf den frühen Texten. 1922 gratuliert die Neue Rundschau zu Schnitzlers 60. Geburtstag mit gesammelten schriftstellerischen Grußworten und die Moderne Welt publiziert ein eigenes Arthur-Schnitzler-Heft.99 All diese Jubiläumstexte versuchen, die Literatur der 1890er Jahre als den eigentlichen Werkkomplex der Autoren literaturgeschichtlich zu fixieren. Die Spätwerke der Jungwiener geraten gegen den Ruhm des eigenen Frühwerks (und oft gegen den Willen ihrer Autoren) in heikle Konkurrenz.100 Schnitzler stöhnt enerviert im Tagebuch auf  : »Ich geb’s auf, von der Gegenwartskritik (im allgemeinen) ein Verstehn [sic] zu erwarten«,101 und Hofmannsthal ist entsetzt über die 1924 zu seinem 50. Geburtstag erscheinende Festschrift Eranos, in der vor allem der Beitrag Rudolf Borchardts ihn auf seine Jugendlyrik reduziert, was Hofmannsthal zermürbt und zum veritablen Krach mit Borchardt führt.102 Die Selbsthistorisierung der Autoren, die sehr wohl ihren Spätschriften im Gesamtwerk einen angemessenen und hervorgehobenen Platz zukommen lassen möchte, reibt sich zusehends mit den Kanonisierungsinitiativen von außen. Auch schriftstellerische Spätwerk-Revisionen passen dann etwa nicht mehr recht in das publizistisch-philologisch formierte Autorenbild und bleiben häufig in wissenschaftlichen und literaturkriti 96 Zu solchen (Selbst-)Kanonisierungen vgl. Thomas Wegmann  : Klassiker werden  ? Kanonisierung als Teil von Werk- und Autorschaftspolitik in der literarischen Moderne  : Benjamin, George, Hofmannsthal, in  : Die Präsentation kanonischer Werke um 1900. Semantiken, Praktiken, Materialität. Hg. von Philip Ajouri. Berlin, Boston 2017, S. 19–30.  97 Karl Kraus  : Schnitzler-Feier, in  : Die Fackel vom 21. Juni 1912, S. 77–88.  98 Das Hermann-Bahr-Buch. Zum 19. Juli 1912. Hg. von S. Fischer Verlag. Berlin 1913.  99 Arthur Schnitzler zu seinem 60. Geburtstag (15. Mai 1922), in  : Neue Rundschau 33 (1922), S. 498–513. Arthur Schnitzler Heft, in  : Moderne Welt III, 12 (1922). 100 Zum Ruhmkonzept vgl. Dirk Werle  : Ruhm und Moderne. Eine Ideengeschichte (1750–1930). Frankfurt a. M. 2014. 101 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1913–1916. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1983, Tagebucheintrag vom 15. Dezember 1913, S. 83. 102 Eranos. Festschrift für Hugo von Hofmannsthal zum 1. Februar 1924. München 1924.

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schen Gesamtwürdigungen eher unberücksichtigt. Dass Schnitzler sich mit seinem letzten Roman Therese (1928) in die Debatte um die Neue Sachlichkeit einschaltet, wollen viele Rezensenten oft gar nicht erst wahrnehmen, weil es nicht in das vorgefertigte Bild des Dichters einer untergegangenen Welt passt,103 der gefälligst bei seinen epochalen Leisten bleiben soll. Die beiden prominentesten Autoren des Jungen Wien gelten den Mitlebenden nach 1918 vor allem als übrig gebliebene »paar Einzelseelen« der habsburgischen Vergangenheit, als kulturelle Verkörperung eines kakanischen Lebensgefühls. Das unwiderrufliche Ende des habsburgischen Großreichs scheint das Werk Jungwiens gefühlt noch weiter in die Vergangenheit zu entrücken als chronometrisch nach Jahren beziffert. Ihr Œuvre gilt auf einmal (ähnlich der Vorkriegsgeschichte des Zauberbergs) als »viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen«.104 Die epochale Zäsur des verlorenen Weltkriegs und das Verschwinden der österreich-ungarischen Donaumonarchie von der geopolitischen Landkarte entrückt die Gegenwartsliteratur der 1890er Jahre in eine unerreichbar scheinende Vorvergangenheit. Mit dem Ende des habsburgischen Imperiums seien den Jungwienern ihre Lebenswelten, Schauplätze, Personnage und Inspirationsräume entschwunden und es bleibe ihnen nichts Relevantes mehr zu sagen, lautet der implizite Vorwurf, der auch den Zorn Hofmannsthals verständlich macht, als er auf Rudolf Borchardts hochgradig seltsame Gesamtwürdigung seines Schaffens als »endliche Tuba der Geschichts- und Geisterwelt Habsburgs« empfindlich reagiert  : »Ich bin keine Tuba, will auch keine sein, war nie eine, und werde nie eine werden  ! Und schon gar keine endliche Tuba«.105 Die späten Schriften und poetologischen Positionen vereinzelter Jungwiener können aber auch in Ausnahmefällen zur Avantgarde der nächstfolgenden Generation erhoben werden.106 Dieses epochale Vexierbild von Nachläufern und Avantgarde hat Robert Musil ironisiert, »wenn sie [die Nachläufer] ganz weit hinterdrein laufen, so daß sie 103 Edmund Wengraf  : Der Dichter einer untergegangenen Welt. Zu Arthur Schnitzlers sechzigstem Geburtstag, in  : Neue Freie Presse vom 15. Mai 1922, Nachmittagblatt, S. 6. 104 So beschreibt der Erzähler des Zauberbergs die Vorvergangenheit seiner Geschichte (Thomas Mann  : Der Zauberberg. Roman. Hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Frankfurt a.  M. 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5, 1], S. 9). 105 Brief Hugo von Hofmannsthals an Rudolf Borchardt vom 4.  Februar 1924, mit dem Hofmannsthal auf Borchardts Eröffnungsaufsatz in der Festschrift Eranos reagiert (in  : Rudolf Borchardt – Hugo von Hofmannsthal  : Briefwechsel. Text. Bearbeitet von Gerhard Schuster. München 1994, S. 330–334, hier S. 333). 106 Zu diesem Phänomen in einer anderen epochalen Konstellation vgl. Ralf Simon  : Gespenster des Realismus. Moderne-Konstellationen in den Spätwerken von Raabe, Stifter und C.  F. Meyer, in  : Konzepte der Moderne. Germanistische Symposien. Berichtsbände XX. Hg. von Gerhart von Graevenitz. Stuttgart, Weimar 1999, S. 202–233.

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die Spitze nicht mehr sehen, werden sie Vorläufer«.107 Ein ähnliches Phänomen lässt sich beobachten bei Peter Altenberg, der mit seiner Schrift Pròdrŏmŏs (1905) zum Vor­ reiter des Expressionismus erklärt wird. Während die literaturgeschichtliche Fixierung Schnitzlers auf seine 1890er-Jahre-Texte auch eine Angelegenheit der Feuilletons der überregionalen großen Tageszeitungen der 1910er und 1920er Jahre ist, erfolgt die Erhebung Altenbergs zum expressionistischen Vorbild unmittelbar aus der innerlitera­ rischen Diskussion heraus  : Sowohl in der Keimzelle des Berliner Frühexpressionismus, im Neuen Club, als auch im Neopathetischen Cabaret und in Herwarth Waldens Verein für Kunst bemüht man sich um Altenberg-Lesungen. Die expressionistischen Zeitschriften Das Theater und Sturm bringen Texte von Altenberg, und in der Aktion werden 1915 im Ersten Weltkrieg expressionistische Wege zu Peter Altenberg beschrieben.108 Während sich das Verhältnis der Berliner Frühexpressionisten zu Hofmannsthal noch vor dem Ersten Weltkrieg allmählich bei zunehmender »Einflussangst« (Harold Bloom) von Verehrung über Parodie zur polemischen Distanzierung abkühlt,109 bleibt Altenberg auch noch, nachdem sich der Expressionismus literarisch etabliert hat, eine Vorbildfigur und literarische Stilikone der jüngeren Generation. So wird Altenbergs intratextuelle Revision der Décadence literaturgeschichtlich und gruppensoziologisch zu einem zeitlichen und personellen Überlagerungsphänomen unterschiedlicher ästhetischer Positionen. Um solche Überlappungen und Übergänge, Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen innerhalb der ästhetischen Moderne literaturhistorisch adäquat beschreiben zu können, ist es sinnvoll, an Reinhart Kosellecks Denkfigur der »Zeitschichten« anzuknüpfen, die sich gegenseitig überlagern und ineinander sedimentieren und es erlauben, »verschiedene Wandlungsgeschwindigkeiten zu thematisieren, ohne in die Scheinalternative linearer oder kreisläufiger Zeitverläufe zu verfallen«.110 Koselleck lenkt den Blick auf die Relativität von Zeitordnungen in einer polychronen kulturellen Moderne und seine Überlegungen helfen dabei, etwa das Verhältnis des Expressionismus zum Jungen Wien nicht als ein klar geordnetes Nacheinander zu begreifen, sondern als Resultat 107 Musil  : Stilgeneration oder Generationsstil (Anm. 10), S. 663. 108 Hans Leybold  : Wege zu Peter Altenberg, in  : Die Aktion 5 (1915), Sp. 73–80. 109 Das haben Achim Aurnhammer (Verehrung, Parodie, Ablehnung. Das Verhältnis der Berliner Frühexpressionisten zu Hofmannsthal und der Wiener Moderne, in  : Cahiers d’Études Germaniques 24 [1993], S. 29–50) und Gregor Streim (Das neue Pathos und seine Vorläufer. Beobachtungen zum Verhältnis von Frühexpressionismus und Symbolismus, in  : Zeitschrift für deutsche Philologie 117, 2 [1998], S. 239–254) gezeigt. 110 Reinhart Koselleck  : Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.  M. 2003, S.  26. Vgl. dazu auch Achim Landwehr  : Von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹, in  : Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1–34. Walter Erhart  : Literaturgeschichte denken, in  : Geschichte intellektuell. Theoriegeschichtliche Perspektiven. Hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Edith Hanke und Barbara Picht. Tübingen 2015, S. 66–77.

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einer vielgestaltigen Konstellation von Dauer und Veränderung, wenn die Expressionisten gleichzeitig Hofmannsthal verabschieden und Altenberg aus Jungwiener Diskussionszusammenhängen lösen und zu einem der ihren erklären. Nur weil von außen diese Umsortierung vorgenommen wird, muss das noch nicht notwendig etwas über das dichterische Selbstverständnis Altenbergs als Wiener Impressionist oder Berliner Proto-Expressionist aussagen. Auch die Gleichzeitigkeit von expressionistisch-avantgardistischem Aufbegehren gegen dekadente Untergangsposen auf der einen Seite und von variierendem Weiter Schreiben nach Jungwiener Prämissen auf der anderen bedingt ja nicht zwangsläufig eine sofortige lineare Abfolge, sondern erst einmal ein Nebeneinander, das (im Fall Altenbergs zu einem In-, Mit- und Durcheinander mit dem Expressionismus und sonst) zu einem Gegeneinander werden kann, das ein Nacheinander anzielt. Dass nicht jede avantgardistische Neuerungsparole sofort erfolgreich ist, illustriert am besten der frühe Hermann Bahr, der die Überwindung des Naturalismus 1891 mit performativem Furor als bereits stattgehabtes Ereignis in einem Manifest bekanntgibt, noch bevor Gerhart Hauptmanns naturalistisches Paradestück Die Weber (1892/93) überhaupt erschienen ist. Epochenenden sind selten selbstgemacht, sondern werden indirekt von Dritten behauptet, indem sie etwas Neues verkünden.111 Dabei geraten die Position und Reaktion des angegriffenen Parts leicht aus dem Blick, und das gilt sowohl für das retrospektive literaturgeschichtliche Interesse, das sich zumeist den Epochenanfängen und nicht ihren Enden widmet (und damit der avantgardistischen Perspektive in nicht unproblematischer Weise folgt),112 als auch für viele Zeitgenossen, die ihre Aufmerksamkeit eher den querulatorischen Positionsanwärtern als den defensiven Posi­ tionsinhabern zuwenden. Das muss der alte Hermann Bahr am eigenen Leib erfahren, wenn der von Maximilian Harden einst zum Mann von übermorgen gekürte poetische Spürhund schließlich von den Expressionisten als vorgestrig abgestempelt wird. Der Vergleich von Peter Altenberg mit Hermann Bahr zeigt  : Avantgarden altern unterschiedlich schnell, und die ästhetische Halbwertszeit differiert für die Zeitgenossen durchaus erheblich.113 Während die Expressionisten Altenberg initiativ zu ihrem Penaten erhe111 Vgl. Tom Kindt  : Epoche machen  ! Zur Verteidigung eines umstrittenen Begriffs der Literaturgeschichte, in  : Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen. Hg. von Daniel Fulda, Sandra Kerschbaumer und Stefan Matuschek. Paderborn 2015, S.  11–22. Matthias Buschmeier  : Wie beendet man eine Epoche  ? Überlegungen zum späten Tieck, in  : Altersstile im 19. Jahrhundert (Anm. 75), S. 169–192. 112 Es gibt zwar eine Geschichte der Anfänge des Jungen Wien ( Jens Rieckmann  : Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Österreichische Literatur und Kritik im Fin de Siècle. Königstein 1985), aber keine ihres Endens. Ähnliches ließe sich für viele weitere literarische Jugendbewegungen konstatieren. 113 Vgl. Andrea Albrecht  : Von Avantgardisten, Vorreitern, Vorläufern und Pionieren. Ästhetische und wissenschaftliche Innovationsprozesse, in  : Avantgarden und Avantgardismus. Programm und Praktiken emphatischer kultureller Innovation. Hg. von Andreas Mauz, Ulrich Weber und Magnus Wieland. Göttingen

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ben, geht Hermann Bahrs zeitgleiches Selbsteingemeindungsbemühen gründlich schief  : Seine Expressionismus-Monographie (1916) wird von den jüngeren Expressionisten als peinlicher ästhetischer Annäherungsversuch und unangebrachtes feindliches Übernahmeangebot zurückgewiesen.114 Für die Expressionisten hat sich Bahr poetisch überlebt. Aber Totgesagte leben manchmal länger, als man denkt und schreiben weiter, mal mehr und mal weniger beeindruckt von den ikonoklastischen Rebellionen um sie herum. Das Eigentümliche vorliegenden Themas (Das Junge Wien im Alter) ist es ­darüber hinaus, dass es nicht nur um die individuelle Alterskunst einzelner Autoren, das selbsthistorisierende Spätwerk einer ehemaligen Gruppe und das feuilletonistisch ausge­rufene epochale Ende einer bestimmten literarischen Strömung und damit um einen Übergang zwischen unterschiedlichen literaturgeschichtlichen Phasen geht, sondern auch um das Spätwerk einer literarischen Clique, deren Poetik man allerdings bereits in ihren schriftstellerischen Anfängen Spätzeitlichkeit zugesprochen hat. Dem Frühwerk der Jungwiener wird in den 1890er Jahren immer wieder ein ausgeprägtes und selbstreflexives Endzeitbewusstsein attestiert. Die Jungwiener begreifen sich als spätgeborene Abkömmlinge und Nachzügler und kultivieren das Empfinden einer »angeborenen Grauhaarigkeit« (Friedrich Nietzsche), entkoppeln also ihre biologische Jugendlichkeit in den 1890er Jahren von einer geschichtsphilosophisch späten Standortbestimmung. Sie literarisieren Abstiegs- und Niedergangsszenarien aus der Perspektive des Endens. Spätzeitlichkeit kann dabei Unterschiedliches konnotieren  : So wird den Gedichten des jungen Hofmannsthal eine formvollendete und kulturgesättigte Reife zugesprochen, die Hermann Bahr dazu verleitet, bevor er den hinter seinem Pseudonym Loris verborgenen 17-jährigen Gymnasiasten persönlich kennenlernt, einen weisen Mann von 50 Jahren als Autor zu vermuten.115 Immer wieder wurde auch als Vorwurf formuliert, dass die frühen Novellen Arthur Schnitzlers und Felix Saltens sich nicht um soziale Missstände oder die elaborierten poetologischen Essays Hofmannsthals nicht um den maroden Zustand eines politischen Systems scheren und stattdessen selbstverliebt und hedonistisch (nach dem Motto Après nous le déluge  !) den sich abzeichnenden Untergang des habsburgischen Imperiums mehr elegant aufgehübscht als intellektuell kommentiert hätten, 2018, S. 109–128. Aage A. Hansen-Löve  : Das Ende vom Anfang. Späte Avantgarde, in  : Avantgarde und Modernismus. Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld. Hg. von Wolfgang Asholt. Berlin, Boston 2014, S. 221–240. Alternde Avantgarden. Hg. von Alexandra Pontzen und Heinz-Peter Preußer. Heidelberg 2011. Peter Bürger  : Das Altern der Moderne. Schriften zur bildenden Kunst. Frankfurt a. M. 2001. 114 Hermann Bahr  : Expressionismus. München 1916. Vgl. die bissigen Reaktionen von Adolf Behne  : [Rezension zu] Hermann Bahr  : Expressionismus, in  : Die Aktion 6 (1916), Sp. 473–476. Friedrich Koffka  : Expressionismus und einiges Andre, in  : Die Schaubühne 13, 1 (1917), S.  104–107. Adolf Knoblauch  : Absage an einen naturalistischen Kritiker, in  : Der Sturm 6, 19/20 (1915), S. 119. 115 Hermann Bahr  : Loris, in  : Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit 3, 1 (1892), S. 94–98.

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vergleichbar dem Phänomen, das dann Hermann Broch dazu veranlasst, von der »fröhlichen Apokalypse« in Wien zu sprechen.116 Als Spätzeitbewusstsein kann man aber etwa auch Felix Dörmanns lyrisches Turteln mit Untergangsvisionen betrachten oder die Affinität zu Sujets aus dem Rokoko oder der Spätrenaissance, die als Parallelepochen inszeniert werden  ;117 Richard Schaukal bedichtet das vorrevolutionäre und nochfeudale Rococo als wahlverwandte Endzeit und Paul Wertheimer formuliert 1897  : Betrachtet man alle Züge dieser Wiener Kultur, ihren mystisch schwärmerischen Charakter, die Freude an dem Pomp glänzender Worte und Bilder, die Pflege des »kultivierten Stils«, die Nachahmung großer vergangener Muster, endlich die Gebrochenheit des Gefühls, das nur mehr die Geberden der Größe hat  : dann bietet sich einem für diese ganze »österreichische Renaissance«, und für die ganze gegenwärtige, »Neu-Renaissance« überhaupt, als historisches Analogon nicht die Zeit der hohen, sondern der nieder gehenden, der sinkenden Renaissance dar […]. Es ist nicht die Zeit der »großen Maler«, sondern der eifrigen Schüler  : die Zeit der Carracci, welche die bereits verlorene Stileinheit wiederherzustellen suchten, dabei jedoch bereits in das Gezierte verfielen, die Blüte der fruchtbaren Eklektiker, der Albani und Guido Reni.118

So wie Wertheimer beschreibt auch Hofmannsthal seit den 1890er Jahren Glanz und Elend dieser Spätzeitlichkeit als Eklektizismus. Es gibt beim frühen Hofmannsthal auch ein Leiden an der Übermacht der Tradition, die den Künstler der Gegenwart und dem Leben entfremdet. »Unser Dasein starrt von Büchern«,119 klagt er und formuliert sein Ungenügen in einem Brief  : »Fremde Gedanken denken in einem, alte, tote, künstliche Stimmungen leben in einem, man sieht die Dinge wie durch einen Schleier, wie fremd und ausgeschlossen geht man im Leben herum«.120 Im Rückblick auf Hofmannsthal 116 Hermann Broch  : Hofmannsthal und seine Zeit, in  : Ders.: Schriften zur Literatur 1  : Kritik. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1975, S. 111–284, hier S. 148. 117 Zur Rokoko-Mode bei Schaukal und im Jungen Wien vgl. Ariane Martin  : Wiener Barock. Rückwärts gewandte Sehnsucht und die Technik des Pastiche als Individualstil in Richard Schaukals Gedicht »Rococo«, in  : Eros Thanatos. Jahrbuch der Richard von Schaukal Gesellschaft 5/6 (2001/2002), S. 5–17  ; auch Hofmannsthals berühmter Prolog zu Schnitzlers Anatol verortet sich im Rokoko-Wien Canalettos. 118 Paul Wertheimer  : Hermann Bahrs Renaissance, in  : Die Gesellschaft 13 (1897), S. 91–103, hier S. 103  ; zum Renaissancismus vgl. Julia Ilgner  : Renaissance und Renaissancismus bei Arthur Schnitzler, in  : Tradition in der Literatur der Wiener Moderne (Anm. 65), S. 183–219. 119 Hugo von Hofmannsthal  : Der Tisch mit den Büchern (1905), in  : Ders.: Reden und Aufsätze I (1891– 1913). Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.  M. 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 337–340, hier S. 337. 120 Brief Hugo von Hofmannsthals an Edgar Karg von Bebenburg vom 30. Mai 1893, in  : Hugo von Hofmannsthal – Edgar Karg von Bebenburg  : Briefwechsel. Hg. von Mary E. Gilbert. Frankfurt a. M. 1966, S. 32.

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und seine Zeit hat Hermann Broch davon gesprochen, dass in »Erfüllung einer Tradi­ tionspflicht« man in Wien »Museumshaftigkeit mit Kultur« verwechselt habe.121 Dass dieses Leiden an einer musealisierten petrifizierten Tradition ausgerechnet in Wien so starke Ausmaße annehmen konnte, wird auch verständlich, wenn man sich den städtischen Lebensraum der Autoren vergegenwärtigt. Die damals noch einigermaßen neue Ringstraßenarchitektur versammelt jede Menge Gebäude in historisierendem Stil, die unterschiedliche Epochen örtlich nebeneinander und für den Betrachter gleichzeitig sichtbar machen. Das Parlament gibt sich gräzisierend, das Rathaus neugotisch, Justizpalast, Hofoper, das neue Burgtheater und die Universität präsentieren sich in verschiedenen Spielarten der Neorenaissance. Das ist die alltägliche historistische Kulisse, der Schreibort der Autoren, der ihnen dann auch schon mal wie eine »Rumpelkammer voller totem Tand« erscheinen kann.122 Das Hadern mit der Tradition bezieht sich dabei nicht nur auf den städtisch öffentlichen Raum, sondern auch innenarchitektonisch auf die privaten bürgerlichen Rückzugsorte. Richard Schaukal wettert, die Wiener Wohnung sei ein »Mixtum Kompositum aus den Exkrementen einer mit unverdauter ›Historie‹ überfütterten ›Dessin‹speicherphantasie«.123 Hofmannsthal wiederum beschreibt das Lebensgefühl seiner Zeitgenossen 1893 folgendermaßen  : Man hat manchmal die Empfindung, als hätten uns unsere Väter, die Zeitgenossen des jüngeren Offenbach, und unsere Großväter, die Zeitgenossen Leopardis, und alle die unzähligen Generationen vor ihnen, als hätten sie uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen  : hübsche Möbel und überfeine Nerven. Die Poesie dieser Möbel erscheint uns als das Vergangene, das Spiel der Nerven als das Gegenwärtige. […] Es ist, als hätte die ganze Arbeit dieses feinfühligen, eklektischen Jahrhunderts darin bestanden, den vergangenen Dingen ein unheimliches Eigenleben einzuflößen. Jetzt umflattern sie uns, Vampire, lebendige Leichen, beseelte Besen des unglücklichen Zauberlehrlings  ! Wir haben aus den Toten unsere Abgötter gemacht  ; alles was sie haben, haben sie von uns  ; wir haben ihnen unser bestes Blut in die Adern geleitet  ; wir haben diese Schatten umgürtet mit höherer Schönheit und wundervollerer Kraft als das Leben erträgt  ; mit der Schönheit unserer Sehnsucht und der Kraft unserer Träume. […] Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe zur Selbstverdoppelung.124 121 Broch  : Hofmannsthal und seine Zeit (Anm. 116), S. 148. 122 Hofmannsthal  : Der Tor und der Tod, in  : Ders.: Gedichte, Dramen I (1891–1898) (Anm. 1), S. 279–298, hier S. 283. 123 Richard Schaukal  : Vom Geschmack. Zeitgemässe Laienpredigten über das Thema Kultur. München o. J. (1909), S. 21. Vgl. hierzu auch Dirk Niefanger  : Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne. Tübingen 1993. 124 Hugo von Hofmannsthal  : Gabriele d’Annunzio I (1893), in  : Ders.: Reden und Aufsätze 1. Hg. von Hans-

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Hier wird offiziell die Verlustrechnung eines »Spätgeborenen« aufgemacht, eine sich verselbständigende Tradition als lähmend und unheimlich beschrieben, verbildlicht als gefährliche Untote (»Vampire, lebendige Leichen«). Dass sich hier das Tradierte im Akt des Tradierens verändert und zwar nicht durch den Spender, sondern durch den Empfangenden, macht der Satz deutlich, »alles was sie [nämlich ›die Toten‹] haben, haben sie von uns«. Die essentielle Instabilität des Tradierten wird hier sichtbar.125 Hofmannsthals Überlegungen stehen in der Schuld von Nietzsches zweiter unzeitgemäßer Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874). Bemerkenswert ist, dass am Ende dieses Essays über Gabriele d’Annunzio (1893) Hofmannsthal eben diese Traditionsgebanntheit selbst zum Signum der Moderne macht. Tradition und Moderne sind hier nicht Oppositionsbegriffe, sondern der Traditionsbezug wird zum wesentlichen Kennzeichen der Moderne erklärt.126 Die »hübschen Möbel« der Väter und Großväter tauchen bei der Bestimmung dessen, was modern ist, wieder auf  : »Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten. Modern ist psychologisches Graswachsenhören und das Plätschern in der reinphantastischen Wunderwelt. Modern ist Paul Bourget und Buddha  ; das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All«.127 Der der Vätergeneration vorgeworfene Eklektizismus prägt auch Hofmannsthals eigenes Kreisen um den Moderne-Begriff, der sich hier aus scheinbar weit auseinanderliegenden Dingen zusammensetzt. Das Alte, Überlieferte gehört dabei von Beginn an zum Kernbestand des Jungwiener Selbstverständnisses. Der Traditionsbedarf ist hoch, markiert ein elitäres Anspruchsniveau in einer vornehmen Welt der Bevorzugten, sichert einen Distinktionsgewinn und wird zugleich als problematisch empfunden.128 Das zeigt sich auch in einem Gedicht Hofmannsthals aus den frühen 1890er Jahren  : Georg Dewitz, Olivia Varwig, Mathias Mayer, Ursula Renner und Johannes Barth. Frankfurt a. M. 2015 (Sämtliche Werke, Bd. 32), S. 99–107, hier S. 99. Vgl. hierzu Dirk Niefanger  : Nietzsche-Lektüren in der Wiener Moderne, in  : Friedrich Nietzsche und die Literatur der Klassischen Moderne. Hg. von Thorsten Valk. Berlin, New York 2009, S. 41–54. Ders.: Historische und historistische Textverfahren. Skizzenhaftes zu Paul Ernst und Hugo von Hofmannsthal im Kontext einer ›historistischen‹ Moderne, in  : Historismus und Moderne. Hg. von Harald Tausch. Würzburg 1996, S. 181–190. 125 Damit wird angeknüpft an eine Überlegung, die Bernhard Teuber in einem Vortrag (über Paradosis, traditio, ›Verrat‹  ? Heidnischer Liebesgott und Amortheologie in der mittelalterlichen Romania) 2016 in der Ringvorlesung des Heidelberger Promotionskollegs »Was ist Tradition  ?« vorstellte. 126 Zu diesem Wechselspiel von Tradition und Moderne vgl. auch Tradition in der Literatur der Wiener Moderne (Anm.  65). Sabina Becker  : Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Moderne und ästhetischer Modernität 1900–1933, in  : Literaturstraße 9 (2008), S. 151–161. Zu den unterschiedlichen ModerneKonstruktionen der Germanistik vgl. Manfred Engel  : Wir basteln uns eine Großepoche. Die literarische Moderne, in  : Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Hg. von Matthias Buschmeier, Walter Erhart und Kai Kauffmann. Berlin, Boston 2014, S. 246–265. 127 Hofmannsthal  : Gabriele d’Annunzio I (Anm. 124), S. 100. 128 Vgl. hierzu Werner Frick  : Avantgarde und »longue durée«. Überlegungen zum Traditionsverbrauch der

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»Epigonen« Und richtend wird es euch entgegendröhnen  : »Verfluchte Schar von Gegenwartsverächtern  ! Gewandelt seid ihr zwischen den Geschlechtern, Den Vätern fremd und fremd den eignen Söhnen  ; 5

Ihr schwanktet kläglich zwischen den Verfechtern Von neuen Farben, neuen eignen Tönen. Von neuen Zweifeln, Suchen, Lachen, Stöhnen, Und zwischen des Ererbten starren Wächtern.

In Unverstehen seid ihr hingegangen 10 Durch aller Stürme heilig großes Grauen, durch aller Farben glühend starkes Prangen In taubem Hören und in blindem Schauen  : All Eines ist der Anfang und das Ende, Und wo du stehst, dort ist die Zeitenwende  !«129

Dieses Sonett formuliert einerseits den Vorwurf an die Epigonen, den Neuanfang nicht zu wollen und entschlusslos »zwischen den Geschlechtern« (V. 3), zwischen Tradition und Avantgarde zu schwanken, statt eine Epochenschwelle zu inszenieren und die »Zeitenwende« (V. 14) zu wagen.130 Als »Gegenwartsverächter« (V. 2) geziehen wird die apostrophierte Gruppe implizit als borniert und feige dargestellt  ; Innovationsverweigerung aus Ignoranz (»Unverstehen« [V. 9]) wird ihnen vorgehalten.131 Andererseits klassischen Moderne, in  : Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hg. von Sabina Becker und Helmuth Kiesel unter Mitarbeit von Robert Krause. Berlin, New York 2007, S. 97–112. 129 Hofmannsthal  : »Epigonen« (1891), in  : Ders.: Gedichte, Dramen I (Anm. 1), S. 119. 130 Auch formal bildet das Gedicht das eklektische Schwanken zwischen Tradition und Innovation ab  : Das Sonett beleiht metrisch die romantische Sonettform, wie sie Schlegel forderte, wenn hier in Rückbezug auf das petrarkistische Sonett mit seinem Endecasillabo der jambische Fünfheber mit ausschließlich weiblichen Kadenzen gewählt wird. Andererseits schwanken die Endreime im Sextett zwischen der petrarkistischen Form und der Ronsard-Tradition. Das erste Terzett wählt die italienische Form (cdc), das zweite die französische (dee). 131 Ihr Desinteresse wird rhetorisch mit dem doppelten Oxymoron (»taubem Hören« und »blindem Schauen« [V. 12]) bebildert. Der Schlussvers adressiert nicht mehr eine Gruppe, sondern konkretisiert die Ansprache auf das einzelne »Du« und erklärt den Neuanfang zu einer Sache der individuellen Entschlusskraft und des subjektiven Willens.

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distanziert sich das Gedicht auch von dieser Anklage, denn der Titel »Epigonen« ist in relativierende Anführungszeichen gesetzt, und der herbe Urteilsspruch ist nicht der unmittelbaren Sprechinstanz des Gedichts zuzuordnen, sondern es handelt sich um ein anonym bleibendes, in die Zukunft ausgelagertes, prophezeites Verdikt, das ebenfalls in Anführungszeichen gesetzt ist und 13 Verse dieses 14-versigen Gedichts einnimmt  : ein zitierter Fluch. Es bleibt unklar, wer dies Urteil über die sogenannten Epigonen spricht. Man kann die 13 Verse dieses poetischen Pasquills auch als ein vorweggenommenes literaturgeschichtliches Urteil über die traditionsbewusste Literatur des Jungen Wien selbst verstehen. Das Sonett antizipiert das Unverständnis einer künftigen »dröhnen[den]« (V. 1) und innovationssüchtigen Zeit gegenüber traditionsaffiner und spätzeitverliebter Wiener Literatur der Jahrhundertwende. Eine solche Vorweg(an)nahme eines zukünftigen Urteils über die zur Vergangenheit gewordene ehemalige Gegenwartsliteratur kann man mit Hermann Lübbe als Akt der ›Präzeption‹ konzeptualisieren, worunter er Folgendes versteht  : »die gegenwärtige Vorausschätzung der Interessen späterer an derjenigen Vergangenheit, die unsere Gegenwart zukünftig geworden sein wird«.132 Lübbes modernisierungstheoretische Denkfigur macht Kai Sina für die Erforschung des schriftstellerischen Nachlassbewusstseins produktiv und bestimmt ein solches Präzipieren der zukünftigen Vergangenheit der Literatur als typisch für Spätwerke der Moderne.133 Es ist vielleicht das Besondere des Jungen Wien, dass sich solche spätwerkaffinen und nachlassbewussten Reflexionen nicht erst in ihrer Alterskunst, sondern bereits in der Lyrik eines noch nicht volljährigen Gymnasiasten finden. Was aus solchen Deutungsmustern wird, wenn ihre Autoren die Lebensmitte überschritten haben und der Zeitpunkt der 1891 präzipierten literarischen Schelte erreicht ist, interessiert die vorliegende Studie. Hermann Bahr etwa macht sich 1922 – adressiert an Arthur Schnitzler – Gedanken darüber, »warum soll in hundert Jahren jemand uns lesen  ?« und präzipiert das österreichische Traditionsbedürfnis und literaturgeschichtliche Erkenntnisinteresse der 2020er Jahre wie folgt  : Und wenn man dann die Sitten, Denkweisen, Lebensarten des sanften Abendrots, in dem das Österreich der Vorwelt verglomm, durchforscht haben wird, wird man sich an den Künstler halten, der jenes Abendrot von 1890 bis 1920 am reinsten zu spiegeln scheint. Und der, lieber Arthur, bist Du  ! (Denn ich selber komme ja da schon deswegen nicht in Betracht, weil ich das Abendrot für einen Sonnenaufgang hielt  ; ich muß mich im besten Fall mit der Unsterblichkeit eines Spaßvogels begnügen, zum Gaudium der Enkel.) Du hast, wie kein anderer unter 132 Hermann Lübbe  : Modernisierung und Folgelasten. Trends kultureller und politischer Evolution. Heidelberg 1997, S. 28. 133 Kai Sina  : Die vergangene Zukunft der Literatur. Zeitstrukturen und Nachlassbewusstsein in der Moderne, in  : Nachlassbewusstsein (Anm. 88), S. 49–74.

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uns, den letzten Reiz des verschimmernden Wien mit zarter Hand gefaßt, Du warst der Arzt an seinem Sterbebett, Du hast es tiefer geliebt als irgend einer von uns, weil Du schon wußtest, daß keine Hoffnung mehr war  : gerade die namenlose Melancholie, die mich zuweilen ungeduldig gegen Deine Werke, ja fast mit Dir selbst werden ließ, sichert Dir die Zukunft  : als ein rührender Abschied von Österreich leben sie, so lang ein dankbares Erinnern an die Kaiserstadt nicht ganz erloschen sein wird. Du bist der letzte Dichter ihrer Agonie gewesen.134

Dass Hermann Bahr damit dem Jubilar keineswegs nur schmeichelt, sondern ihn beson­ ders verärgert, weil nun die historisierende Festschreibung seiner literaturgeschichtlichen Bedeutung als Dichter einer versunkenen Welt aus der eigenen Generation und ehemaligen Gruppe des Jungen Wien selbst erfolgt, sei hier zumindest erwähnt.135 Gleichwohl präzipiert Bahr die literaturgeschichtliche Wahrnehmung Arthur Schnitzlers im 21. Jahrhundert ziemlich hellsichtig und prophezeit damit unbeabsichtigt indirekt aber auch, dass dem gar nicht unbedingt so melancholischen Spätwerk Schnitzlers nicht die gleiche Aufmerksamkeit zuteil (geworden sein werden) wird wie seinen schriftstellerischen Anfängen. Dass aber die Alterskunst des Jungen Wien oft sehr viel weniger nostalgisch spätzeitlich und endzeitbewusst ausfällt als ihre dekadenten Frühwerke, möchte vorliegende Abhandlung zeigen, die selbstverständlich nicht vermag, allumfassend das Spätwerk aller Autoren des Jungen Wien erschöpfend darzustellen  ; vielmehr nimmt sich die Darstellung die Freiheit heraus, exemplarisch einzelne Werke, Themenkomplexe und Textgruppen zu analysieren.136 Bei der Textauswahl wurde darauf geach134 Hermann Bahr  : Brief an Arthur Schnitzler, in  : Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag (15. Mai 1922) (Anm. 99), S. 499–501, hier S. 500. 135 In einem Gespräch mit Stefan Zweig bemüht sich Arthur Schnitzler im Juni 1922, die Wahrnehmung seiner selbst als Dichter einer versunkenen Welt, wie sie Bahr und Zweig in den Geburtstagsgrußworten in der Neuen Rundschau vornahmen, vergeblich zu korrigieren. Schnitzler hält im Tagebuch Zweigs Besuch fest  : »Stefan Zweig (der hübsch in der N[euen] R[undschau] über mich geschrieben)  – ich versuche ihm den Irrtum von der ›versunknen Welt‹, dem auch er – feuilletonistisch unterliegt aufzuklären.– Über Bahr (der von Salzburg nach München übersiedelt), Hugo und seine unleidlichen Machenschaften in Salzburg (nun widmet er die Tantiemen des ›Großen Welttheaters‹ – der Restauration der Kirche – damit er sie kriegt u. s. w.)« (Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1920–1922. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1993, Tagebucheintrag vom 2. Juni 1922, S. 314). Dieser Tagebucheintrag dokumentiert (bei aller kritischen Distanz) eindrücklich, wie sehr auch noch 1922 die Autoren des Jungen Wien sich gegenseitig genau beobachten und zum Gesprächsthema machen. 136 Eigene Vorarbeiten greift diese Abhandlung auf, überarbeitet und erweitert sie. Dabei handelt es sich um folgende Studien, die schon zur Zeit der Entstehung als Bausteine für die vorliegende Abhandlung gedacht waren. Den beteiligten Kollegen sei ausdrücklich gedankt für die Freiheit, die Themen entsprechend zu wählen  : Von der »Alchemie der Zukunft« zum Glauben der Väter. Hermann Bahrs Erlösungshoffnung und Geschichtsdenken zwischen Nationalökonomie und Katholizismus, in  : Geschichte

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tet, eher bisher von der Forschung nicht so stark beachtete Schriften zu berücksichtigen, also etwa nicht noch einmal Schnitzlers Fräulein Else (1924) oder die Traumnovelle (1926) oder Hofmannsthals berühmte Gesellschaftskomödie Der Schwierige (1921) als Spätwerkbeispiele zu traktieren, sondern den Blick zu lenken auf bisher von der Forschung eher vernachlässigte Texte wie Schnitzlers letzten Roman (Therese. Chronik eines Frauenlebens [1928]), Beer-Hofmanns Bibeldramen, Andrians erfundenes Gespräch Österreich im Prisma der Idee (1937), Hofmannsthals politisches Komödienfragment Timon der Redner (1916–1926) oder die Jungwiener Operetten-Libretti (von Dörmann, Salten, Schnitzler und Wertheimer) für Oscar Straus. Auch wenn mit Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal den Granden des Jungen Wien einzelne, unterschiedlich umfangreiche Kapitel gewidmet sind, so ist es doch das erklärte Ziel dieser Abhandlung, gerade keine Höhenkamm-Germanistik vorzulegen, sondern vielmehr durch die Kontextualisierung der kanonisierten Autoren zu ermitteln, inwiefern das Nachleben einer literarischen Gruppe Aufschluss geben kann über Dynamik und Gleichzeitigkeiten in der Klassischen Moderne. Vieles, was die Literaturgeschichte im Nachhinein als klare Ablösungsprozesse und geordnetes Nacheinander (Naturalismus, Ästhetizismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit) konstruiert, erweist sich bei genauerem Hinsehen als diskursives Neben- und Miteinander und persistentes Überlagerungsphänomen unterschiedlicher Zeitschichten. Denn auch wenn Lieblingsfeinde des Jungen Wien, wie Karl Kraus, sich bemühen, die gealterten Jungwiener im 20.  Jahrhundert vehement aus dem Diskussionszusammenhang der Moderne zu eskamotieren, beweisen deren bisher zu wenig beachtete späte Schriften, dass sie weiterhin ihren Platz im literarischen Feld in unterschiedlicher Weise (zu) behaupten (suchen)  : Es sind nicht nur Werke neben der Moderne, sondern integrale Werke einer literarischen Moderne, zu der es gehört, dass sie sich permanent selbst beobachtend in Zweifel zieht. Während Peter Altenberg dem Expressionismus intellektuell (Anm.  110), S.  373–385. Zwischen Frieden und Krieg. Der Sommer 1914 in Felix Saltens Kriegspublizistik und in seiner Leutnantsnovelle »Abschied im Sturm« (1915), in  : Kriegstaumel und Pazifismus (Anm. 31), S. 17–32. Drogistische Dichtung. Peter Altenberg als »Pròdrŏmŏs« (1905) des Expressionismus und Wiederholer in »Neues Altes« (1911), in  : Scientia Poetica 20 (2016), S. 98–120. Europa als Ersatz (Anm.  35). Weltanschauungsliteratur in der Wiener Moderne. Die Politisierung des DialogEssays bei Leopold von Andrian, in  : Weltanschauung und Textproduktion (Anm. 26), S. 185–204. Hermann Bahrs Gedanken über (Mittel-)Europa im Ersten Weltkrieg, in  : Wörter – Zeichen der Veränderung. Hg. von Dominika Bopp, Stefaniya Ptashnyk, Kerstin Roth und Tina Theobald. Berlin, Boston 2020, S.  31–46. »Meine Siege auf Schnitzler«. Auernheimers ambivalente Dichter-Heroisierung in der Wiener Moderne, in  : Geistesheld und Heldengeist (Anm. 66), S. 227–243. Lessing in der Wiener Moderne, in  : Lessing und das Judentum (Anm. 67), (im Druck). »Eine nur leicht verschleierte Gegenwart«. Hugo von Hofmannsthals spätes politisches Dramen-Fragment »Timon der Redner« (1916–1926), in  : Sehnsucht nach dem Leben (Anm. 62), (im Druck).

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zentrale Impulse vermittelt, reflektiert Arthur Schnitzlers Spätwerk die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. Die Politisierung und Verweltanschaulichung des Œuvres von Leo­pold von Andrian, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und Richard Schaukal beleuchtet auf eindrückliche Weise, wie sehr (gerade auch gesellschaftlich antimoderne) Weltanschauungsliteratur eine zentrale Textsorte und Ausdrucksform der ästhetischen Moderne darstellt, die bisher von der Literaturgeschichte zu wenig berücksichtigt worden ist.137

137 Schon Thomas Mann beobachtete nach dem Ersten Weltkrieg eine Hochjunktur dieser Textsorte, die er als »intellektualen Roman« bezeichnete. Thomas Mann kontextualisierte dieses neue Textformat in einem »Prozeß, der die Grenzen von Wissenschaft und Kunst verwischt, den Gedanken erlebnishaft durchblutet, die Gestalt vergeistigt und einen Buchtypus zeitigt, der heute bei uns, wenn ich nicht irre, der herrschende ist« (Thomas Mann  : Über die Lehre Spenglers [1924], in  : Ders.: Essays II 1914–1926. Hg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von Jöelle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 2002 [Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15, 1], S. 735–744, hier S. 736).

I. Jenseits der Décadence Peter Altenberg als Pròdrŏmŏs (1905) des Expressionismus und ­Wiederholer in Neues Altes (1911) Peter Altenberg ist der ›bunte Hund‹ der Wiener Moderne. Manche Zeitgenossen sahen in ihm ein One hit wonder, der mit seinen Prosaskizzen Wie ich es sehe (1896) zwar ein Kultbuch der Epoche geschaffen, danach aber kaum noch etwas Nennenswertes hervorgebracht hatte. Viele literaturgeschichtliche Abhandlungen folgen dieser Einschätzung und kennzeichnen Altenberg als Autor, der wegen seines impressionistischen Erstlingswerks und seines exzentrischen Lebenswandels beachtenswert erscheint.1 Gattungsästhetisch würdigt man ihn als eine wichtige Wegmarke für das deutschsprachige Prosagedicht, und kulturhistorisch fasziniert der Bürgerschreck und Bohemien als die kuriose »Sehenswürdigkeit« im Wien der Jahrhundertwende. Erich Mühsam beschrieb den touristischen Schauwert Altenbergs folgendermaßen  : Fremdlingen, die sich unter Führung eines Eingeborenen die Wiener Sehenswürdigkeiten zu Gemüte führen, wird – sofern man bei ihnen Neugier auf interne Erlesenheit voraussetzt – im Café Central der Dichter Peter Altenberg gezeigt. Besichtigung  : von elf Uhr abends bis fünf Uhr morgens.2

Bei einer solchen Blickweise geriet das Spätwerk von Altenberg rasch ins Hintertreffen. Typisch für eine solche Wahrnehmung ist Franz Bleis Konzeption von Altenbergs Werk­ entwicklung als Verfallsgeschichte in seinem Großen Bestiarium der Literatur 1924  :

1 Bei Walter Fähnders (Avantgarde und Moderne 1890–1933. Stuttgart, Weimar 1998) etwa findet nur Wie ich es sehe Erwähnung. Wolfgang Bunzel (Kaffeehaus und Literatur im Wien der Jahrhundertwende, in  : Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890–1918. Hg. von York-Gothart Mix. München, Wien 2000, S.  287–299, hier S.  294 ff.) konzentriert sich auf das Wiener Künstler-Idol und seine Marotten. Zur frühen Werkpolitik Altenbergs vgl. Peter Altenberg  : Die Selbsterfindung eines Dichters. Briefe und Dokumente 1892–1896. Hg. und mit einem Nachwort von Leo A. Lensing. Göttingen 2009. 2 Erich Mühsam  : Bücher [Rezension von] Peter Altenberg  : Die Auswahl aus meinen Büchern. Berlin 1908, in  : Der Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur vom 4. September 1908, S. 1182 f., hier S. 1182. Die legendäre Kauzigkeit Altenbergs bescherte ihm ein veritables literarisches Nachleben, auch jenseits der vor allem von Alfred Polgar und Egon Friedell kolportierten Altenberg-Anekdoten. Zu Altenberg als literarischer Figur vgl. Christian Rößner  : Der Autor als Literatur. Peter Altenberg in Texten der ›klassischen Moderne‹. Frankfurt a. M. 2006.

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ALTENBERG oder auch den Peter nannte man aus unbekannten Gründen die seltsame Laune Gottes, die hier ein Wesen schuf, das nur aus einem einzigen Organe bestand  : aus einem Auge, dem der Fliegen gleich in tausend Facetten zerlegt und die sichtbare Welt in kleinsten ­Bildern von großer Schärfe etwas übersichtig auffangend. Einem solchen seltsamen Wesen war von Natur aus nur eine kurze Lebensdauer bestimmt. Aber gegen die Natur und die Absicht Gottes bildete dieses stolz gewordene Auge so etwas wie einen Leib aus. Der war nun etwas schwächlich geraten, wie nicht anders zu erwarten, und das Auge Peter hatte mit ihm seine argen Molesten, die schließlich auch dem Auge nicht gut bekamen. Das Auge Peter hatte sich mit der Erzeugung seiner Verdauungs- und sonstigen Organe übernommen, und es sah am Ende nichts mehr als den prekären eigenen Mageninhalt  : es spiegelte keine umgebende Welt mehr, sondern nur die Farben seiner Exkremente.3

Blei entwirft Altenberg in seinem Literatenzoo als fliegenähnliches Wesen, das »nur aus einem einzigen Organe […] einem Auge« bestand, um einerseits die optische Detailbeobachtung in Wie ich es sehe zu charakterisieren. Die impressionistische Gestaltung flüchtiger Momente zu nur noch lose zusammenhängenden Prosagedichten erinnert ihn an die Wahrnehmungsweise der Fliege, die das Gesehene »gleich in tausend Facetten zerlegt und die sichtbare Welt in kleinsten Bildern von großer Schärfe etwas übersichtig« auffängt. Andererseits nutzt Blei die Assoziation von der »Eintagsfliege«, der nur eine kurze Lebensdauer bestimmt ist. Die Vorstellung von einem Autor, der nur mit einem einzelnen Werk in der Literaturgeschichte einen legitimen Platz findet, wird so metaphorisch zu einer biologischen Determination, gegen die sich allerdings der animalisierte Altenberg zur Wehr setzt. »Gegen die Natur und die Absicht Gottes«, schreibt er weiter, und dieses Spätwerk ist in Bleis Blick durch die Entdeckung der Leiblichkeit bestimmt. Damit nimmt Blei Altenbergs eigentümliche ästhetische Diätetik in den Blick, die den Körper mit lebensreformerischer Verve ins Zentrum des Interesses rückt. Die literaturhistorische Wahrnehmung von Altenberg als poetischer »Eintagsfliege« ähnelt durchaus der von Leopold von Andrian, dessen Garten der Erkenntnis (1895) ihn vergleichbar abrupt berühmt gemacht hatte. Aber während Andrian nach dem Erscheinen seines »Narcissusbuchs« (Hofmannsthal) wirklich nur noch wenig veröffentlichte, bis er in den 1930er Jahren seine kulturkritischen Texte vorlegte, schrieb Altenberg kontinuierlich weiter und versuchte, mit einem Dutzend Büchern an seinen Erstlings­ erfolg anzuknüpfen.4 In den letzten Jahren hat sich eine postkolonialistisch inspirierte 3 Franz Blei  : Das große Bestiarium der Literatur. Berlin 1924, S. 17. 4 Nach Wie ich es sehe (Berlin 1896) und Ashantee (Berlin 1897) erschien vor Pròdrŏmŏs (Berlin 1906) noch Was der Tag mir zuträgt (Berlin 1901). Danach folgten Märchen des Lebens (Berlin 1908), Bilderbögen des kleinen Lebens (Berlin 1909), Neues Altes (Berlin 1911), »Semmering 1912« (Berlin 1913), Fechsung (Berlin 1915), Nachfechsung (Berlin 1916), Vita ipsa (Berlin 1918), Mein Lebensabend (Berlin

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Kulturwissenschaft vermehrt Altenbergs Ashantee-Prosaminiaturen (1897) zugewandt.5 Das übrige Werk von Altenberg wird aber von der Forschung immer noch recht stiefmütterlich behandelt.6 Hier sollen im Folgenden zwei späte Texte von Altenberg im Mittelpunkt stehen (Pròdrŏmŏs [1905] und Neus Altes [1911]), die illustrieren, wie sich Altenberg einerseits im frühen 20.  Jahrhundert weltanschaulich neu verortet jenseits der Décadence und wie er andererseits Sujets und Formen der eigenen Frühzeit wiederholt oder variiert. Mit dieser Umorientierung wird Altenberg innerhalb der Wiener Moderne eher noch freundlich bis skeptisch beäugt  : Richard Schaukal und Hermann Bahr rezensieren Pròdrŏmŏs wohlwollend, aber auch ein bisschen von oben herab, und selbst der Altenberg-Förderer Karl Kraus äußert sich in der Fackel skeptisch über Altenbergs »neuestes Gebräu einer seelisch-ökonomischen Weltanschauung und […] seine Heilslehre, die den Ankauf von Zahnpasta unter Leugnung von Sexualempfindungen predigt«.7 Allerdings lassen diese neuen Positionen ihn für viele Autoren des Frühexpressionismus zu einer wichtigen Vorbildfigur werden. Auch dies soll folgend erläutert werden. Bereits 1901 hatte die Münchner Zeitschrift Jugend Altenbergs literarische Beschäftigung mit medizinisch-pharmazeutischen Angelegenheiten aufs Korn genommen und augenzwinkernd als Die sezessionistisch-drogistische Dichtung aus Wien kategorisiert.8 In seinem 1905 erschienenen Werk Pròdrŏmŏs nehmen Reflexionen über Gesundheit und Ernährung einen großen Raum ein.9 Der griechische Titel weist das Werk als »Vorläufer« und »Wegweiser« aus,10 und das allein ist schon literaturgeschichtlich 1919)  ; und postum Das Altenbergbuch (hg. von Egon Friedell. Leipzig, Wien, Zürich 1921), Der Nachlaß (hg. von Alfred Polgar. Berlin 1925) und Nachlese (hg. von Marie M[authner]. Wien 1930).   5 Auf Ashantee wird in vorliegender Abhandlung noch einmal genauer im Kapitel Nachschriften in der intertexutell-narratologischen Analyse von Schnitzlers Erzählung Andreas Thameyers letzter Brief eingegangen. Zu Ashantee vgl. exemplarisch Szilvia Ritz  : »Sir, wenn Ihr zu Uns nach Akkra kämet als Ausstellungsobjekte …«. Aschanti-Schau im Prater, in  : Wechselwirkungen. Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext. Hg. von Zoltán Szendi. Wien 2012, Bd. 1, S. 291–301.   6 Daran ändert bisher auch nichts die verdienstvolle dreibändige Neuedition von  : Das Buch der Bücher von Peter Altenberg. Zusammengestellt von Karl Kraus. Hg. von Rainer Gerlach. Mit einem Essay von Wilhelm Genazino. Göttingen 2009.   7 Vgl. Richard Schaukal  : Der Vorläufer, in  : Die Gegenwart 36, Heft 1, 5, 1 (1907), S. 7 ff. Hermann Bahr  : Tagebuch. Berlin 1909, S. 66 ff. (Eintrag vom 17. November 1905). Karl Kraus  : Satiriker, in  : Die Fackel vom 11. Dezember 1906, S. 23 f., hier S. 24. Zu Kraus und Altenberg vgl. Simon Ganahl  : Karl Kraus und Peter Altenberg. Eine Typologie moderner Haltungen. Konstanz 2015.   8 Servus  : Die sezessionistisch-drogistische Dichtung, in  : Jugend 6, 14 (1901), S. 216.  9 Pròdrŏmŏs erschien erstmals 1905, wird aber zumeist, so auch hier, in der verbreiteteren, zweiten Auflage von 1906 zitiert. 1919 lag Pròdrŏmŏs bereits in fünfter Auflage vor, auch dies ein Indiz dafür, dass Altenbergs Spätwerk im frühen 20. Jahrhundert gelesen wurde. 10 »Pròdrŏmŏs« ist die lateinische Umschrift des altgriechischen »πρόδρομος« und lässt sich mit »Vorbote«, »Wegweiser« oder »Vorläufer« ins Deutsche übersetzen.

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bemerkenswert in einer Zeit, die bis kurz zuvor noch einem selbstbezüglichen l’art pour l’art-Programm das Wort geredet hatte. Davon findet sich nichts mehr in Altenbergs Pròdrŏmŏs, das der Kunst wieder die Aufgabe zuspricht, Sinn im Leben zu stiften. Gleich zu Beginn reflektiert Altenberg über diesen unbescheidene[n] Titel. Im Titel liegt das, was man g e w o l l t hat. Und im Inhalt das, was man n i c h t g e k o n n t hat. Die Gegenwart wird ihn verdammen, pardon, b e l ä c h e l n . Aber die Zukunft wird ernst und nachdenklich bleiben. Ein Wegweiser ist kein Ziel. Aber ein WegWeiser  !11

Pròdrŏmŏs versammelt rund 450 kurze Textsequenzen, die der Ernährung, der Liebe und der Kunst gelten. Das Wein, Weib und Gesang umkreisende Buch hat kein Inhaltsverzeichnis (im Unterschied etwa zu Wie ich es sehe) und lässt den Leser allein seinen Weg suchen zwischen Prosagedichten, Lehrgesprächen, Dialogszenen, Mini-Essays, Anekdoten, medizinischen Tipps, pharmazeutischer Reklame, Kochrezepten, poetologischen Reflexionen und Apophthegmata. Nur noch wenige der einzelnen Texte weisen Titel auf. Während der Beginn von Pròdrŏmŏs von ganz knappen Aphorismen und Bonmots geprägt ist, weitet sich das Ende dann gelegentlich auch wieder zu ein- bis zweiseitigen Prosaskizzen. Altenbergs Pròdrŏmŏs weist den Weg aus der Décadence,12 die immer wieder problematisiert wird, hin zu einem Kultus der Gesundheit, der in Verve und Gestus sich als Teil der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende zu erkennen gibt. Dabei verknüpft Altenberg seine Vorstellungen von einer Reformkultur bis hin zum empfohlenen Schuhwerk der Sandalen mit poetologischen Vorstellungen, gibt jungen Eltern Tipps zur Erziehung ihrer Kinder und darüber hinaus immer wieder diätetische Ratschläge in einer solch hieratischen Weise, dass dem Leser manchmal schwindelig wird.13 Altenberg hat eine mögliche Verwunderung des Lesers in Pròdrŏmŏs vorweggenommen (wie er sich überhaupt sehr viel Gedanken über mögliche Kritik macht) und prognostiziert  :

11 Peter Altenberg  : Pròdrŏmŏs. Berlin 21906, S. 7. Im Folgenden wird Pròdrŏmŏs im fortlaufenden Text nach dieser Ausgabe mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert. 12 Zu Altenbergs Verhältnis zur Décadence vgl. Norbert Bachleitner  : Peter Altenberg, la décadence et l’ésthétique du poème en prose, in  : Revue de littérature comparée 300 (2001), S. 527–542. 13 »Vino Condurango, ein Likörglas nach der Mahlzeit, in kurzen Schlucken getrunken. Tamar Indien Grillon, morgens vor dem Frühstück eine Pastille, gut zerkaut. Vibrations-Massage, ausgiebig bis zum ersten Ermüdungsgefühle. Schlafen bei geöffneten Fenstern, das Bett hart an das Fensterbrett gerückt. Essen von Rekonvaleszenten-Kost, Wöchnerinnenkost, leichtverdaulich und nahrhaft. Warten können auf Hunger, auf Bergpartie-Hunger  ! So wirst du zu einem John Rockefeller deines Lebens-Kapitales« (59 f.).

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Das jüngste Buch von Peter Altenberg bereitete seinen zahlreichen Verehrern und Verehrerinnen eine arge Enttäuschung. Man erwartete sich von seinem engumgrenzten Talente nicht viel. Aber mehr oder weniger richtige Aphorismen zur Lebensführung  ?  !  ? Wozu haben wir unsere Ärzte und Hygieniker  ?  !  ? Ein Dichter sollte uns überraschen. Nun überrascht hat er uns  ! (14)

Neu war an Altenbergs Pròdrŏmŏs nicht nur das hygienische Sujet, sondern auch seine aphoristische Form. War Wie ich es sehe vor allem durch zwei- bis dreiseitige Prosa­ gedichte geprägt, verkürzte Altenberg seine Miniaturen in Pròdrŏmŏs auf oft nur noch wenige Zeilen umfassende Bonmots und Aperçus.14 Altenberg radikalisierte so sein Prinzip der Verknappung. Er hat später selbst retrospektiv diese akzelerierende Verminderung thematisiert und suggestiv gefragt  : »Was sind denn meine Skizzen  ?  ! Extrakte von Novellen. Was sind denn meine Aphorismen  ?  ! Extrakte meiner Skizzen«.15 Diese Reduktionsästhetik der kleinsten Form machte schließlich auch Altenberg für Alban Bergs neue Musik attraktiv. Es war ja die Uraufführung des zweiten und dritten von Alban Bergs kurzen Fünf Orchesterliedern nach Ansichtskarten von Peter Altenberg op. 4, die das Skandalkonzert von Arnold Schönberg vom 31. März 1913 im Musikvereinssaal in Wien zum sogenannten Watschenkonzert mit seinem gigantischen Tumult machte.16 Altenbergs  – aus seinen Skizzen extrahierte  – »Aphorismen zur Lebensführung« hatten einen eigentümlichen Ton der Unterweisung, der den Dichter nicht mehr nur als wohlmeinenden Ratgeber, sondern gelegentlich auch als besserwissenden Mahner und Moralisten präsentierte. Altenberg registrierte hier nicht mehr nur, wie ich es sehe, sondern er schlug dringlich vor, wie es sein sollte. Neben die impressionistische Beobachtung rückte gleichgewichtig die weltanschauliche Anweisung. Altenberg gab ganz konkrete Ernährungstipps (»Ambrosia – – – rohe Eidotter, in Hühner-Bouillon gesprudelt« [50]) und schwärmte für »Sauce Crevette oder Sauce Parmesan« (14). Das war neu und sorgte sogleich auch für Spott. Die Jugend druckte 1906 die Prosaminiatur »Prodromos« [sic]. Peter Altenberg nachempfindsamt  :

14 Gerade die gattungsästhetischen Spielereien der Parabel (120 f.) oder des Märchens (121 f.), deren generische Titel etwas versprechen, das die nachfolgenden Texte dann nicht einhalten, beanspruchen wieder mehr Zeilen. 15 Peter Altenberg  : Nachfechsung. Berlin 1916, S. 113. 16 Zu den beschrifteten Ansichtskarten von Altenberg als neuer Kunstform und intermedialer Herausforderung vgl. Ricarda Dick  : Peter Altenbergs Bildwelt. Zwei Ansichtskartenalben aus seiner Sammlung. Göttingen 2009. Leo Lensing  : Der Allegoriensammler. Peter Altenbergs Ansichtskarten zwischen Jahrhundertwende und Weltkrieg, in  : Sprachkunst 48 (2017), S. 9–34.

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Ich sah einmal eine Dame. Wie alle Damen mit Ausnahme der Übrigen war sie häßlich. Von jener Häßlichkeit, die noch häßlicher ist, wie die bestrickendste Schönheit. Ich sprach zu der Dame  : »Wollen Sie wissen, warum Sie häßlich sind  ? Weil Sie noch nie rohe Eidotter mit Parmesankäse gegessen haben  ! Parmesankäse ist der Urquell aller Schönheit. Ich vermuthe in ihm den Nektar des Olymps  !« Die Dame lächelte. Sie glaubte mir nicht. Sie blieb so häßlich, wie sie bisher gewesen war. Und ihr geschah recht  ! Mensch, ehe Du Dich vermählst, gib Deiner Erwählten Parmesankäse zu essen. Weigert sie sich, so bleibe lieber ledig.17

Diese Parodie, die große Fragen (»de[n] Urquell aller Schönheit«) auf banale Dinge (»rohe Eidotter mit Parmesan«) zurückführt, imitiert sowohl die Form des Prosa­ gedichts mit dramatisierender Tendenz, wie es vor allem für Wie ich es sehe prägend war,18 als auch am Ende die Ecce homo-Geste aus Pròdrŏmŏs, mit der sentenzartig Lebensratschläge erteilt werden. Altenberg gab aber nicht nur Ernährungstipps, er beschäftigte sich auch intensiv mit der Verarbeitung der Nahrung im Körper und empfahl vor allem bestimmte Abführmittel (»Tamar Indien Grillon« [16, 19, 33, 59]) mit einer sich wiederholenden Eindringlichkeit, die durchaus verblüffend war. Diese Empfehlungen scheuten nicht vor konkreten Warennamen zurück, gaben direkte Kaufbefehle und brachten die Reklamesprache in die Literatur, wenn Altenberg warb für »Tamar Indien Grillon, Pastille aus Frankreich, Bohnen-Schote des exotischen Baumes, ein Teil bist du der Menschen-Lebenskräfte selbst  !« (19) Die Integration von alltäglichen Werbeslogans in die Literatur unterschied Pròdrŏmŏs deutlich von den ästhetizistischen Schwebezuständen in der Wiener Literatur der 1890er Jahre.19

17 [Anonymus]  : »Prodromos«. Peter Altenberg nachempfindsamt, in  : Jugend 11, 11 (1906), S. 220. Diese Parodie borgt sich »Eidotter« und »Parmesan« aus den (zuvor zitierten) Aperçus und imitiert strukturell folgende Dialogszene, die sie inhaltlich invertiert  : »Ich sagte zu einer jungen Dame  : ›Sie sind sehr schön. Aber Sie könnten noch tausendmal schöner werden  ! Durch V i n o C o n d u r a n g o und Ta m a r I n d i e n G r i l l o n   !‹ Sie hielt mich für einen ausgewachsenen Narren. Aber sie kaufte sich diese beiden Mittel. Als ich sie wiedersah, sagte sie  : ›Sie sind gar nicht so verrückt, wie ich es gedacht habe – – –.‹ Ich verneigte mich schweigend« (60). 18 Vgl. etwa das durch Wechselrede geprägte Prosagedicht Im Volksgarten (Altenberg  : Im Volksgarten, in  : Ders.: Wie ich es sehe. Hg. von Burkhard Spinnen. Zürich 2007, S. 335 f.). 19 Vgl. hierzu Burkhard Spinnen  : Idyllen der Warenwelt. Peter Altenbergs »Pròdrŏmŏs« und die Sprache der Werbung, in  : Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 22 (1992), S.  133–150. Thomas Wegmann  : Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000. Göttingen 2011, S. 310–325. Simon Ganahl  : »Markt der Lebensweisen« oder Diätetik und Reklame in Peter Altenbergs »Pròdrŏmŏs«, in  : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 90 (2016), S. 377–401.

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Die Verdauung zum literaturtauglichen Thema gemacht zu haben, mochte man als innovativ oder seltsam werten. Thomas Mann, der solche Fragen lieber seinem Tagebuch und damit seinem postumen Publikum reservierte, hielt es für einen »fürchterliche[n] Unsinn«.20 Es war auf jeden Fall in hohem Maße parodierbar. So veröffentlichte die Jugend 1906 in demselben Jahrgang, in dem auch schon »Prodromos«. Peter Altenberg nachempfindsamt zu finden war, auch noch eine fingierte versifizierte Liebeserklärung von Peter Altenberg an eine junge Dame in vier Strophen  : 5

Ich muß es Ihnen sagen, Mein Fräulein, was mich quält  ! Kein Kummer läßt sich tragen, Wenn man ihn bang verhehlt. Zu Ihnen könnt’ ich beten Als schönster aller Frau’n – Wenn Sie nur etwas thäten, Um besser zu verdau’n  !

Solang noch Lasten liegen 10 In Ihrem Inner’n fest, Ist auch in Ihren Zügen Ein letzter Erdenrest  : Erst wenn dahin gegangen Die Stoffe, die verbraucht, 15 Sind Ihre zarten Wangen Von Anmuth überhaucht  ! Der Weg ist schnell zu finden, Das Ziel ist schnell erreicht  : Mit Grillon-Tamarinden 20 Ergibt sich alles leicht  ! Auch Vino Condurango Empfiehlt sich diesem Zweck – Da tanzt man gleich Fandango, Befreit von allem † † †

20 Thomas Mann  : Peter Altenberg (1921), in  : Ders.: Reden und Aufsätze II. Frankfurt a. M. 1974 (Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 10), S. 422–426, hier S. 425.

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25 Und wenn zur Wirkung kamen Die Mittel, die bewährt  : Dann, schönste aller Damen, Dann werden Sie begehrt  ! Denn nur den a b g e f ü h r t e n 30 Huldgöttinnen geschah’s, Daß würdig sie der Myrthen Venus Urania’s  !21

Dass es sich bei der Aufwertung von Ernährungs- und Verdauungsfragen zu literaturtauglichen Sujets nicht um ein zufälliges Kuriosum handelte, sondern um Dinge, die für Altenberg Teil einer groß angelegten poetologischen Neuausrichtung waren, wird deutlich, wenn es schließlich apodiktisch heißt  : »Ä s t h e t i k ist D i ä t e t i k   ! S c h ö n ist, was gesund ist. Alles andere ist teuflische Irrlehre  !« (128) Damit stellten sich diese ganzen, in Aperçus gefassten Rezepte in den Dienst einer übergreifenden weltanschauungsliterarischen Umorientierung. Altenberg liebt nicht mehr, wie einst sein Jungwiener Kombattant Felix Dörmann, »alles, was seltsam und krank« ist,22 sondern er stellt seine Dichtung in den Dienst der Gesundheit.23 Das erschien bezeichnenderweise Hermann Bahr einerseits als eine Alterserscheinung Altenbergs, der »den Leib [spürt], der alt wird. Und ihn schaudert. Und er trotzt auf. […] Und so ist Peter Altenberg zur Hygiene gekommen«.24 Dass allerdings der Gesundheitskult sich gruppensoziologisch ja gerade innerhalb der Jugendbewegung der Jahrhundertwende formierte, gerät bei Bahrs biographischem Zugriff nicht aus dem Blick, wenn er andererseits konstatiert, dass Altenbergs Gesundheitsfanatismus der Sehnsucht einer ganzen Generation entspreche.25 Die Zeitgenossen Altenbergs haben immer wieder auf die Diskrepanz zwischen Altenbergs selbstzerstörerischem Lebenswandel und seiner literarischen Gesundheitsfeier hingewiesen. Er lebte nicht das, was er predigte. Richard Schaukal etwa mokierte sich, Altenberg »›singt‹ vom neuen Tag des Edelmenschen und sitzt ›in Civil‹ Nacht für Nacht in den Cabarets und Caféhäusern«.26 Das mochte man als Selbstwiderspruch auffassen  ; es lässt die Bücher Altenbergs aber auch als autosuggestive Beschwörungen begreifbar machen, die de profundis eine Utopie formulieren  : »So schmettert dieser 21 Borromäus  : Peter Altenbergs Liebeserklärung, in  : Jugend 11, 2 (1906), S. 44. 22 Vgl. Felix Dörmann  : Was ich liebe, in  : Ders.: Sensationen. Wien 1892, S. 22 f., hier S. 23. 23 Zur Diätetik und Hygiene bei Altenberg vgl. Roland Innerhofer, Evelyne Polt-Heinzl  : Peter Altenberg – prophetischer Asket mit bedenklichen Neigungen. Wien 2011, besonders S. 15–31. 24 Vgl. Bahr  : Tagebuch (Anm. 7), hier S. 66. 25 Ebd. 26 Schaukal  : Der Vorläufer (Anm. 7), S. 7.

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schmächtig-grämliche, hinfällig-zögernde Bummler seinen Sang von der Schönheit und dem Adel der Kraft und Größe der Seele in eine nüchterne und mokante Welt«.27 Die Feier des gesunden Körpers und die Reklame für die Nahrung und Medizin, die ihn ermöglichen sollten, waren integrativer Bestandteil einer ästhetischen Diätetik, so wie wiederum die Verknappung der Form vom Prosagedicht zum Aphorismus den Ausdruck einer diätetischen Ästhetik bedeuteten. Die Entwicklung »vom künstlerischen Prosagedicht zum reinen Ratgebertext« ließ sich als Verlust- und »Verfallsgeschichte« interpretieren.28 Sie ließ sich aber auch als konsequente Umsetzung eines allumfassenden Entschlackungsprogramms deuten. Diese Entschlackung galt dem Körper und dem Geist, und sie war quantitativ und qualitativ ausgerichtet. So wie der Körper gereinigt werden sollte, war auch die Kunst von Überflüssigem zu befreien. Selbst der etwas herablassende Richard Schaukal betont den Zusammenhang von Diätetischem und Ästhetischem in Pròdrŏmŏs  : Altenberg, der Selige, schwärmt nicht nur für Gervais-Käse und Grillon-Pastillen (ein Capitel der »Einseitigkeit«, wenn man will, diese unendliche Melodie des Verdauungs- und Pulgierpostulats, eine Marotte, wenn man will, aber immerhin ein beseelter Gedanke der Entmaterialisierung, aus Schönheitsträumen geboren, weltseelenleichtigkeitstrunken), er schwärmt ebenso für das Natürlichste der Natur, ihre zartesten Aeußerungen, ihre discretesten Geschenke, schwärmt ebenso für das Innerste der Kunst, das Schöpfergeheimniß der NeuErschaffung der Welt.29

Überflüssig war für Altenberg, als Freund von Adolf Loos, eine Kultur des Ornaments und der überfeinerten Décadence. Deutlich wird das in einer mit Dekadenz übertitelten Sequenz, die die Décadence mit ironischem Unterton als Lebensschwäche kennzeichnet  : D e k a d e n z . Eine junge Dame war bereits so d e k a d e n t , dass, als sie auf dem Nach-HauseWege ein Fiakerpferd malträtieren gesehen hatte von einem rohen Kutscher, sie zu Hause das Essen erbrechen musste. Infolgedessen macht ihr verzweifelter junger Gatte die Anzeige beim

27 Ebd. 28 So zeitgenössisch etwa die Rezension von Karl Ettlinger  : Prodromos. Von Peter Altenberg, in  : Das literarische Echo 8 (1905/1906), Sp. 1045 f. Ähnlich in der Einschätzung Stefan Nienhaus  : Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende. Altenberg – Hofmannsthal – Polgar. Berlin 1986, S. 205. Vgl. auch Wolfgang Bunzel  : »Extracte des Lebens«. Peter Altenbergs poetische Diätetik, in  : Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Moderne (1770–2006). Hg. von Jutta Schlich. Heidelberg 2006, S. 131–147. 29 Schaukal  : Der Vorläufer (Anm. 7), S. 8.

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Tierschutzverein. Infolgedessen werden wegen Dekadenz der Nerven die Tiere nicht mehr misshandelt werden  ! (104)

Die Gefahr, diesen Text anachronistisch als reines Plädoyer für den Tierschutz zu lesen,30 lässt sich umgehen, wenn man die Ironiesignale (wie das geminierende »infolge­ dessen«) beachtet und registriert, dass die Décadence für die betroffene Person lediglich noch eine Schwäche, aber nicht mehr eine erhöhte künstlerische Potenz bedeutet. Die »junge Dame« ist Opfer der Décadence, sie profitiert nicht mehr von ihr in ästhetischer Hinsicht. Eine solche Décadence-Kritik setzt sich fort in einigen Sequenzen, die Altenberg als gattungsästhetische Fingerübungen mit generischen Titeln versieht, so in der Parabel  : Im Affenreiche von einst erhob sich ein etwas heller gefärbter Affe an einem Krück-Ast aufrecht und sagte mit exaltierter Stimme  : »Und es wird, es muss eine Zeit kommen, sie ist organisch unentrinnbar in der notwendigen Entwicklung von Ursache zu Wirkung, da werden die Affen auf Zweien gehen, aufrecht, und die Kletter-Hände werden verkümmern zu Geh-Füssen und ihr werdet nicht mehr euch von Ast zu Ast behende schwingen können  !« »Elender Dekadent  !« brüllte ihn nur die Herde an. »Willst du unsere wertvollsten Kräfte verkümmern machen  ?  !  ?« »Jawohl.« Erwiderte der heller gefärbte, an einem Baumaste aufrecht gelehnte Affe, »z u G u n s t e n w e r t v o l l e r e r K r ä f t e , d i e d a k o m m e n w e r d e n  ! « Daraufhin schrieb der damalige Nerven-Pathologe Professor Schimpanse eine Broschüre  : D i e D é c a d e n c e u n d i h r e G e f a h r e n . (120 f.)

Die Prognose der Evolution erscheint der Mehrheit der Affen dieser Parabel als Drohgebärde und Ankündigung des eigenen Untergangs, und sie wird somit aus ihrem Blickwinkel als Décadence geschmäht. Aus der Perspektive der Affenherde klingt dies 30 Ein wenig zu anachronistisch erscheint mir diese Sequenz in der Darstellung bei Viktor Žmegač  : Die Geburt der Gesundheit aus dem Geist der Dekadenz. Somatische Utopien bei Peter Altenberg, in  : Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Hg. von Bernhard Spies. Würzburg 1995, S. 88–99, hier S. 94. Diese Sequenz (über den Zusammenhang von Décadence und dem Nichtertragenkönnen von Tierquälerei) und eine weitere (86) aus Pròdrŏmŏs haben ein erstaunliches philosophisches Nachleben und eine gewisse Prominenz erlangt, weil sie nicht nur von Theodor W. Adorno zitiert (Physiologische Romantik, in  : Theodor W. Adorno  : Gesammelte Schriften 11. Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1974, S.  634–636), sondern auch von Jürgen Habermas in einer Würdigung Adornos erwähnt werden ( Jürgen Habermas  : Ein philosophierender Intellektueller, in  : Über Theodor W. Adorno. Hg. von J. W. Adorno. Frankfurt a. M. 1968, S. 35–43, hier S. 35 f.). Während Altenbergs Intention und seine Ironie bei Adorno klar erfasst sind, verwischt bei Habermas etwas die Altenberg’sche Argumentation vor seinem eigentlichen Sujet Adorno.

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nach Selbstabschaffung und dementsprechend wird es auch offiziell und wissenschaftlich (vom »Nerven-Pathologen Professor Schimpanse«) sanktioniert und als Gefahr gewertet. Dass es aber nur einer neuen Perspektive bedarf, um die prognostizierte Entwicklung als einen Wandel »zu Gunsten wertvollerer Kräfte, die da kommen werden« zu begreifen, demonstriert der als Mängelwesen ausgewiesene »heller gefärbte Affe an einem Krück-Aste«. Er ersehnt, begrüßt und verkörpert bereits die vorausgesagte Entwicklung und exerziert damit den Lesern vor, dass es nur eine minimale Verschiebung des Blickwinkels braucht, um eine epochale Zäsur nicht mehr als Untergang, sondern als Neubeginn zu werten. Die Décadence erscheint so im Zwielicht von Fin de siècleStimmung und Aussicht auf einen Zeitenwechsel. Adorno hat darauf hingewiesen, dass mit einer solchen Nuancierung »bei Altenberg Ästhetentum, Impressionismus und Dekadenz in eine subjektive Technik zur Vorwegnahme besserer gesellschaftlicher Zustände« umschlagen.31 Düsterstimmung wechselt so zu utopischer Hoffnung. Altenberg stellt sich mit Pròdrŏmŏs auf die Seite derer, die einen weltanschaulichen Neubeginn proklamieren und für eine Öffnung der Kunst zum Leben einstehen. Deutlich wird das etwa auch in einer zweiten gattungsästhetischen Fingerübung mit generischem Titel, dem Märchen, das von einem Königssohn erzählt, dem eine Fee die Gabe verleiht, sich »nur in Liebe mit einem Weibe verbinden zu können, sonst aber dazu unfähig zu sein« (121). Das Personal der Königsfamilie und der Feen und die Situation der Feengeschenke bei der Prinzengeburt zitieren die Märchentradition (etwa von Dornröschen). Altenberg macht sich aber einen Spaß daraus, den Märchenton immer wieder zu torpedieren, wenn etwa die Fee als »Moderne« verhöhnt wird, »obzwar dieser Ausdruck damals noch gar nicht existierte« (121), die übrigen Feen »das Königshaus als pervers« (122) kennzeichnen und der König seine Frau, die die Gabe der Fee großartig findet, für »übergeschnappt« (121) hält. Aber nicht nur die Lexik stört den Märchenklang. Am Ende lässt Altenberg in einer aufgesparten Pointe das Märchen in einem Gattungswechsel in einen Herrenwitz kippen. Denn schließlich begehrt der namenlose Königssohn, der »Wunder an Weisheit und Güte, an Kraft und Heldentum und allen adeligen Menschlichkeiten« (122) geworden war, einmal von dieser Gabe der Fee befreit zu werden. Und die Fee gewährte es ihm für dieses eine Mal. Später erschien ihm die Fee, die eine ausgemachte Idealistin war, und fragte gespannt  : »Nun, o Königssohn  ?« »Gar net schlecht, gar net schlecht  !« erwiderte dieser hoheitsvoll. (122)

31 Adorno  : Physiologische Romantik (Anm. 30), S. 635.

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Jenseits des dialektal gefärbten Kalauers ist auch dieses Märchen bezeichnend für Alten­ bergs Abkehr von einem lebensfernen Idealismus, wie ihn seine neunmalkluge Fee postuliert. Die Lebensnähe lässt die von Hermann Bahr einst gewünschte Überwindung des Naturalismus durchaus ambivalent erscheinen und macht sichtbar, dass in Gestalten wie der von Altenberg der Naturalismus durchaus dauerhaft Erbschaften hinterlassen hatte. Altenberg reflektiert dies in einer Sequenz, die mit Naturalismus und Romantik (123) betitelt ist und für ein Fortwirken des Naturalismus in neuromantischen Zeiten plädiert. Während Hermann Bahr 1888 in Abkehr vom Naturalismus sich für eine »Romantik der Nerven« ausgesprochen hatte,32 führt Altenberg in botanischer Metaphorik die beiden Begriffe Romantik und Naturalismus wieder zusammen  : Man kommt eben allmählich darauf, dass die »blaue Blume« der Romantiker ganz einfach wirklich auf dem w i r k l i c h e n F e l d e wachse […], und zwar s c h ö n e r , l i e b l i c h e r , w e l t e n t r ü c k t e r und s a n f t - m y s t e r i ö s e r als die Blumen auf dem lächerlichen Humus von Wolkenkuckucksheim – – –  ! (123)

Diese naturalistische Rückbindung an die Lebenswirklichkeit ist bestimmend in den poetologischen Selbstreflexionen von Pròdrŏmŏs, das Altenberg dementsprechend verstanden wissen will als »erste[n] Versuch einer p h y s i o l o g i s c h e n R o m a n t i k   !« (110), als eine Rückbindung der Romantik an die Erdenschwere biologischer Tatsachen.33 An naturalistische Themen gemahnen auch einige Abschnitte in Pròdrŏmŏs, die Gerichtsreportagen gleichen und in denen Altenberg von Straffällen bei sozial Deklassierten berichtet.34 Bemerkenswert war im Spätwerk Altenbergs auch eine Orientierung an Amerika, die bis in die Metaphorik und Vergleiche vordrang, wenn er sich etwa wünschte, »mit seinem Kräfte-Kapitale wirtschaften [zu] können wie John Rockefeller mit seinem GeldKapitale« (37). Die von Adolf Loos übernommene Ornament-Kritik verband sich bei Altenberg mit einem Sinn für das Nützliche und Zweckmäßige und einer Vorliebe für technische Innovationen. Altenberg prophezeit, »man wird sehr bald Theater bauen für Kinematograph-Vorstellungen« (50) und interessiert sich für die Photographie (42). 32 Hermann Bahr  : Die Décadence (1888), in  : Ders.: Studien zur Kritik der Moderne. Frankfurt a. M. 1894, S. 19–26, hier S. 20. 33 Diesen Schnipsel aus Pròdrŏmŏs wählt Adorno zum Titel seines Altenberg-Essays Physiologische Romantik  ; vgl. Anm. 30. 34 Vgl. etwa den Text Obmann (138–139), der von einem Kindsmordsprozess im bäuerlichen Milieu aus der Perspektive eines Obmanns der Geschworenen berichtet. Zu Altenbergs Verhältnis zum Naturalismus vgl. eindrücklich Roland Innerhofer  : Regisseur seiner selbst. Wie sich Peter Altenberg literarhistorischer Kategorisierung entzieht, in  : Sonderweg in Schwarzgelb  ? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus in der Literatur. Hg. von Roland Innerhofer und Daniela Strigl. Innsbruck 2016, S. 225–236.

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Moeller-Bruck sprach daher vom »Pionierhaft-Amerikanische[n]« bei Altenberg und befand, er habe »etwas vom Walt Whitmanhaften«.35 Zu Altenbergs poetischer Positionierung und autorschaftlichen Selbstinszenierung in Pròdrŏmŏs gehört auch eine retrospektive Neuinterpretation des eigenen Werks. Gegen Ende des Buchs findet sich die längere Sequenz Individualität, die einsetzt mit der Frage, wie denn bei seinem Erstlingswerk der Titel zu akzentuieren sei »›Wie ich es sehe‹ oder ›Wie ich es sehe‹«, und Altenberg befindet streng  : »Die letztere Betonung nun ist die einzig richtige« (155). Diese Abwehr der subjektivistischen Lesart zugunsten einer Hervorhebung der Wahrnehmung verabschiedet in einer direktiven Werkpolitik auch die egotistischen Kapriolen der 1890er Jahre, als Hermann Bahr den culte du moi eines Maurice Barrès in Wien bewarb. Ästhetizistischer Solipsismus gilt hier 1905 bei Altenberg nichts mehr. Der Dichter setzt sich dezidiert in Beziehung zur Gesellschaft, allerdings in eine hierarchisch exponierte Position. Und hier gewinnt die retrospektive Regelung der Titelaussprache des Erstlingswerks noch eine weitere Bedeutungskomponente. Die Betonung auf dem Verb »sehen« meint hier nicht mehr nur die optische Wahrnehmung, sondern umschließt auch die Konnotation von »voraussehen« und »wahrsagen«, die Vorstellung vom Dichter als Seher und Prophet  : Der »E i n z i g e « sein ist wertlos, eine armselige Spielerei des Schicksals mit einem Individuum. Der »E r s t e « sein ist alles  ! Denn er hat eine Mission, er ist ein Führer, er weiss, die ganze Menschheit kommt hinter ihm  ! Er ist nur von Gott vorausgeschickt  ! […] Der Dichter ist nie der »E i n z i g e «. Dann wäre er wertlos, ein Seelen-Freak  ! Er ist der »E r s t e «. Er fühlt es, er weiss es, dass die anderen nachkommen, weil sie bereits in sich verborgen die Keime seiner eigenen Seele tragen  ! Es darf nicht heissen »Wie i c h es sehe«. Es muss heissen »Wie ich es s e h e «  ! (156)

Es ist bisher unbeachtet geblieben, dass Altenbergs Proklamation des Dichters als vates und »Führer« hier durchaus ein wenig Stefan Georges Vorstellung vom Dichter in Zeiten der Wirren ähnelt. Auch die Doppelbedeutung von »der Erste« als zeitliche Vorhut und qualitativ prämierter »Bester« teilen Altenbergs und Georges Dichtergestalten. Aber während Georges Dichter geistesaristokratisch lediglich einer kleinen Gruppe voransteht, greift Altenberg hier präexpressionistisch gleich auf die »ganze Menschheit« zu. Das ermöglicht es ihm auch, die naturalistische Anwaltschaft für die »kleinen Menschen«, für die Kellner, Kutscher und Dienstmädchen, die seine Texte bevölkern, 35 Arthur Moeller-Bruck  : Die moderne Literatur. Berlin, Leipzig 1902, S. 699.

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beizubehalten. Die naturalistischen Sujets werden weitergeführt, aber die Haltung des Dichters zu seinen Themen verschiebt sich vom impressionistischen Beobachter zum prophetischen Lebensratgeber. Diese Ratgeberhaltung verträgt sich bei Altenberg durchaus auch mit seiner weiterhin gepflegten Begeisterung für das épater le bourgeois, die bereits sein Frühwerk auszeichnete. Die Antibürgerlichkeit nähert ihn dabei nicht nur dem vierten Stand und den gesellschaftlichen Außenseitern an, sondern kann auch eine Affinität zum Adel miteinschließen, wie dies seine kleine Milieustudie über Verhaltensweisen gesellschaftlicher Gruppen »in einem Vergnügungsetablissement wie zum Beispiel ›Maxim‹« (128) illustriert. Sich dort »ganz frei und zugleich ruhig-anmutig« zu benehmen, »versteht nur die edelrassige Aristokratin und die grosse Hetäre. Die ›Bürgerlichen‹ haben alle dort einen Zug von armseligem Dilettantismus« (128). Das Themenspektrum von Pròdrŏmŏs beschäftigt Altenberg nachhaltig. In seinem 1911 erschienenen Skizzen Neues Altes knüpft er, dem Titelversprechen gemäß, an Pròdrŏmŏs an. Er träumt dort von einem »Restaurant Prodromos«, das »unerhört einfach-primitiv, aber zugleich aristokratisch apart eingerichtet« ist.36 Es soll ein Ort sein, der Poetik und Lebensreform zusammenführt, denn dort wirken »in idealer Gemeinschaft ein französischer Koch und ein junger Arzt, Diätetiker, Hygieniker, und der Dichter«.37 Wieder spinnt Altenberg die Vorstellung von einer Synthese poetischer Gegensätze weiter zu einer Utopie, in der die »Diätetik eine reale Romantik geworden« ist.38 Der Wunsch nach einem »Gasthaussanatorium«, einer medizinisch-poetischen »Regenerationsanstalt«,39 in der es hauptsächlich Purées zu essen geben sollte und das zu einem Schlaraffenland der Lebensreform ausgemalt wurde, sorgte natürlich wieder für Sticheleien in der Jugend, die nicht nur Altenbergs Vorliebe für Haschiertes bewitzelte, sondern auch sehr genau seine expressive Interpunktion imitierte  : Prodromos Peter Altenberg empfiehlt […] die Einrichtung eines »Prodromos« -Restaurants, in dem die »internationale Püreemaschine« dem Magen das Verdauen erleichtern und den Zähnen die »miserable dilettantische Zerkleinerungstätigkeit« ersparen soll.

»Reicht mir die Pürreemaschine  ?  !  ? Denn ich sehne mich nach Brei, Welcher der Verdauung diene, Und den Zähnen nützlich sei  !  ?«

36 Altenberg  : Restaurant Prodromos, in  : Ders.: Neues Altes. Berlin 21911, S. 115 f., hier S. 115. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 116.

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5 Also ruft P.A., der Dichter Durch das Prodromos-Lokal. Und aus Neuromantik flicht er Weisheit in das Mittagsmahl  : »Willst ein Leben du beschaulich, 10 Ideal und freudenreich, Laß die Speisen leichtverdaulich, Schmackhaft sein und butterweich  !  ?  ! Nähr die Seele diätetisch  !  ? So nur bannst du Qual und Weh. 15 Füll die Därme dir ästhetisch  ?  !  ? Und dein Wahlspruch sei  : Püree  ?  !  ? Spar den Zähnen des Verkleinerns Dilettantischen Verdruß  ! Was da Kälberns ist und Schweinerns, 20 Iß es nur in Form von Mus  !  ? Laß das Kauen  ?  ! Laß das Kauen  ?  !  ? So du ein Kulturmensch seist. Nur Verdauen  !  ? – Nur Verdauen Reinigt Nerven, Leib und Geist  ?  !  ? 25 Laura  ! Alma  ! Josefine  !  ?  ! Prodromos ruft euch herbei. Reicht mir die Püreemaschine  ?  !  ? Denn ich sehne mich nach Brei  ?  !  ?«40

Diese Parodie beobachtet das etwas sperrige Nebeneinander von medizinischer P ­ oetik und ästhetischer Diätetik, wenn sie Altenberg »aus Neuromantik […] Weisheit in das Mittagsmahl« einflechten lässt. Unmittelbar vor der Prosaminiatur »Restaurant Prodromos« in Neues Altes hatte Altenberg eine zweieinhalbseitige Sequenz Prodromos [sic] eingestellt und bekräftigt dort die Lehren des Buchvorgängers. Wieder werden in imperativen Trompetenstößen Richtlinien der Lebensführung gegeben, und wieder

40 B. A. Nause  : Prodromos, in  : Jugend 14, 24 (1909), S. 561. Die Parodie bezieht sich auf einen Vorabdruck von Altenbergs Sequenz Restaurant Prodromos in der Wiener Allgemeinen Zeitung. Altenbergs Interpunktion ist nicht nur in der Ballung von Frage- und Ausrufungszeichen eigenwillig. Auch der massive Einsatz von Gedankenstrichen, die Polgar für Altenberg als »Gefühlsstriche« definierte, ist auffällig. Thomas Mann sprach von der »infantilen Interpunktion« Altenbergs (Mann  : Peter Altenberg [Anm. 20], S. 424).

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kreist alles um die Verdauung. Das ist an vielen Stellen unfreiwillig komisch und zwingt wieder größte Menschheitsfragen mit banalsten Dingen zusammen  : Sorge Tag und Nacht für die Edelfunktion deines Darmes  ! Das »Bauchherz« ist wichtiger wie das, was wir verhältnismäßig unnötigerweise unter der linken Brustwarze tragen. Von der Funktion des Darmes hängt u n s e r g a n z e s D e n k e n , F ü h l e n u n d S e i n ab, unsere G r ö ß e , unsere G ü t e , unsere M e n s c h l i c h k e i t und unsere We i s h e i t   ! Wehe dem, der 24 Stunden lang, also als Sünder und Verbrecher, unpurgiert dahinwandelt  ! Er wird millionenmal mehr Schaden anrichten als ein Raubmörder und Kinderschänder  !41

Wieder fallen die dichtgesetzten Ausrufungszeichen, die inflationären Textsperrungen, die um Aufmerksamkeit heischen, der prophetische Ton und die biblische Sprache auf, die den »Sünder« »dahinwandeln« lässt. Gleichzeitig aber kippt der Text immer wieder ins Groteske, wenn er im umfassend kosmischen Anspruch größte Welträtsel auf die menschliche Verstopfung rückführt. Die moralischen Schlussfolgerungen sind schließlich in einer Weise absurd und provokant, dass sie den Text im expressionistischen Umfeld verstehbarer machen. Während der Darm neologistisch zum »Bauchherz« erhoben wird, degradiert (dieser Textschnipsel) Prodromos (in Neues Altes) das in traditioneller Metaphorik ins Zentrum gerückte Organ des Herzens zu etwas, »was wir verhältnismäßig unnötigerweise unter der linken Brustwarze tragen«. Altenbergs Neues Altes ließ sich faktual als Dokument einer pathologischen Entwicklung seines Autors lesen, es war aber zugleich ein wichtiger Prätext für eine expressionistische Ästhetik des grotesken Affronts. Seine Verkehrung konventioneller anthropologischer Gewichtung erinnert wohl nicht von ungefähr an Gottfried Benns medizinisch-poetische Provokationen, wenn er höhnte über »die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch« und den Blinddarm lyriktauglich machte.42 Die, von heute aus betrachtet, erstaunlich anmutende Begeisterung für Pròdrŏmŏs und seine thematischen Fortspinnereien in Neues Altes reichte bei den Zeitgenossen Altenbergs vom politisch linken bis zum rechten Spektrum. Der linke Anarchist Erich Mühsam schwärmt von Altenbergs Büchern, und besonders von »›Prodromos‹ [sic], das mir das liebste von ihnen ist«43. Und der rechte Hans Franck beobachtet interessiert, wie sich in Pròdrŏmŏs »der Dichter wandelt […] in einen Propheten. Der Mann der

41 Peter Altenberg  : »Prodromos«, in  : Ders.: Neues Altes. Berlin 1911, S. 112 ff., hier S. 112. 42 Vgl. Gottfried Benn  : Der Arzt (II) und Blinddarm, in  : Ders.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 2006, S. 26 und 88. 43 Mühsam  : Bücher (Anm. 2), S. 1183.

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zarten Worte in einen glaubensstarken Prediger, der lauthallende Straf- und Mahnreden auf die sündige Menschheit herabschleudert«.44 Auch für die Expressionisten ist Pròdrŏmŏs keineswegs bloß eine »Kuriosität«.45 Andrew Barker hat wohl erstmals darauf hingewiesen, dass Pròdrŏmŏs Lehrsätze des Expressionismus vorweggenommen habe, und er meint hierbei vor allem die utopische Vorstellung vom »neuen Menschen«.46 An diese Beobachtung Barkers soll im Folgenden angeknüpft und gezeigt werden, wie der Expressionismus Altenbergs Themen und seinen Stil rezipiert. Damit sollen Forschungstendenzen fortgesetzt und erweitert werden, die jenseits der apotropäischen und manchmal plakativen antiästhetizistischen Rhetorik des Expressionismus Kontinuitäten, Filiationen und produktive Variationen freigelegt haben  : Achim Aurnhammer hat gezeigt, dass der Berliner Frühexpressionismus sich in lyrischer Auseinandersetzung mit Hugo von Hofmannsthal sein eigenes poetisches Profil erarbeitet.47 Gregor Streim wiederum konnte nachweisen, wie viele frühe Manifeste der Dichtervereinigung des Neuen Clubs die kunsttheoretischen Vorstellungen Stefan Georges und Hofmannsthals teilten.48 Während die Beziehung der Expressionisten zu Hofmannsthal und George zumeist von Verehrung über Parodie zu Ablehnung führte, ist es für das Verhältnis der Berliner Expressionisten zum Wiener »Impressionisten« Altenberg allerdings bezeichnend, dass es weit über das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinaus ein positives und ungebrochen verehrendes bleibt. Dies ist bisher vernachlässigt worden und soll nun noch skizziert werden.49 Im Neuen Club, der Keimzelle des Berliner Frühexpressionismus, ist Altenberg als Vorbild präsent. Erwin Loewenson bemüht sich um eine Lesung aus den Dichtungen Altenbergs, deren Erlös dem kranken Dichter in Wien zugutekommen soll  ; Loewenson will Hofmannsthal hierfür gewinnen, der allerdings dankend ablehnt.50 Aber eine Berliner Altenberg-Lesung kommt dennoch im Rahmen der Autoren-Abende von Herwarth 44 Hans Franck  : Peter Altenberg, in  : Altenberg  : Neues Altes (Anm. 41), S. 211–214, hier S. 213. 45 Als »Kuriosität« sortiert Stefan Nienhaus Pròdrŏmŏs ein (Nienhaus  : Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende [Anm. 28], S. 205). 46 Andrew Barker  : Telegrammstil der Seele. Peter Altenberg – eine Biographie. Wien, Köln, Weimar 1998, S. 174. 47 Achim Aurnhammer  : Verehrung, Parodie, Ablehnung. Das Verhältnis der Berliner Frühexpressionisten zu Hofmannsthal und der Wiener Moderne, in  : Cahiers d’Études Germaniques 24 (1993), S. 29–50. 48 Gregor Streim  : Das neue Pathos und seine Vorläufer. Beobachtungen zum Verhältnis von Frühexpressionismus und Symbolismus, in  : Zeitschrift für deutsche Philologie 117, 2 (1998), S. 239–254. 49 In den rezenten Lehrbüchern zum Expressionismus von Thomas Anz (Literatur des Expressionismus. Stuttgart, Weimar 22010), Ralf Georg Bogner (Einführung in die Literatur des Expressionismus. Darmstadt 2005) und Frank Krause (Literarischer Expressionismus. Paderborn 2008) kommt Altenberg (als wichtige Vorbildfigur) nicht vor. 50 Vgl. Karte von Ernst Loewenson an Erich Unger vom 10. Februar 1910, in  : Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914. Hg. von Richard Sheppard. Hildesheim 1980, Bd. 1, S. 232 f.

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Waldens Verein für Kunst zustande. Alfred Döblin berichtet davon im Sturm und ist angetan von der »Masse der Empirie, [dem] Reichtum der Erlebnisse, de[m] Sturz in das ausgebreitete Leben«.51 Loewenson erhebt Altenberg zu einem derjenigen »neuen Menschen«, »die in das Dasein verliebt sind«, die Décadence erfolgreich hinter sich gelassen und die »Instinktgesundheit« avisiert haben.52 Für das Neopathetische Cabaret sind 1910 Lesungen aus Altenbergs Ashantee anberaumt.53 Altenberg ist als Autor in expressionistischen Zeitschriften vertreten. Schon 1909 publiziert Altenberg in Herwarth Waldens Zeitschrift Das Theater.54 Im ersten Jahrgang von Waldens Berliner Sturm ist Altenberg 1910 mit zwei Texten greifbar.55 Auch im zweiten und dritten Jahrgang finden sich Texte von Altenberg.56 Die Aktion bringt 1914 auf ihrem Titelblatt eine Porträtzeichnung von Altenberg und druckt 1915 einen ausführlichen literaturgeschichtlichen Essay des Lyrikers Hans Leybold über mögliche expressionistische Wege zu Peter Altenberg.57 Dieser ästhetikhistorische Abriss stilisiert Altenberg nicht nur zu einem expressionistischen Penaten, sondern korrigiert vor allem ausführlich Albert Soergels Literaturgeschichte, die Altenberg (ähnlich wie später Franz Blei) als »Lebenskuriosum« katalogisierte und abtat. Für Soergel ist Altenberg »zunächst ein Lebenskuriosum, dann erst ein Dichter«  ; sein abschätziges Votum, »es ist natürlich nur ein Zeichen für das in Zeiten richtungslosen Sehnens immer wieder Vergreifen im Urteil, wenn man Peter Altenberg als Lebensvorbild neben die höchsten Kulturbringer stellt«,58 dokumentiert allerdings indirekt die Altenberg-Verehrung in lebensreformerischen und expressionistischen Kreisen. Leybold hatte bereits 1913 mit dem Warnruf Hands off  ! vehement Einspruch gegen Soergels literaturgeschichtliche Urteile erhoben  :

51 Alfred Döblin  : Gertrude Barrison (Oktober 1911), in  : Der Sturm 2, Nr. 81 (1911/1912), S. 646. 52 Brief Erwin Loewensons an Grete Tichauer vom 17.  Februar 1911, in  : Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914 (Anm. 50), Bd.1, S. 495. 53 Vgl. Neopathetisches Cabaret  : Für Abenteurer des Geistes [Entwurf eines Programmes], in  : Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914 (Anm. 50), Bd. 1, S. 281. 54 Peter Altenberg  : Pro Domo, in  : Das Theater 1, Nr. 1 (1909–1910), S. 72. 55 Peter Altenberg  : Djellah, in  : Der Sturm 1, Nr.  32 (1910), S.  254. Ders.: Englische Tänzerin, in  : Der Sturm 1, Nr. 37 (1910), S. 295. Zu Wiener Autoren im Sturm vgl. Peter Sprengel, Gregor Streim  : Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Mit einem Beitrag von Barbara Noth. Wien, Köln, Weimar 1998, S. 576–582. 56 Peter Altenberg  : Replik, in  : Der Sturm 2, Nr. 99 (1911/1912), S. 792. Ders.: Der Besuch, in  : Der Sturm 3, Nr. 105 (1912), S. 2. 57 Max Oppenheimer  : Peter Altenberg, in  : Die Aktion 4 (1914). Hans Leybold  : Wege zu Peter Altenberg, in  : Die Aktion 5 (1915), Sp. 73–80. 58 Albert Soergel  : Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Leipzig 21912, S. 481 ff., hier S. 483.

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Peter Altenberg ist ihm [i. e. Soergel] zuerst  : Kuriosum. »Er ist maniriert (Defekt beim Leser, Herr Oberlehrer  !) … ihm fehlt die Gabe zu vergleichen … (oh – ausgerechnet Peter Altenberg  !) … zu kombinieren, zu rechnen, dem einzelnen seinen Platz anzuweisen.« (Dem einzelnen seinen Platz anzuweisen hat er gesagt. Ja Herr Soergel es sind doch nicht alle Menschen Oberlehrer  ! Siehe oben  : Meyer, setz dich einen runter.)59

Die Aktion veröffentlichte dann postum die detaillierte literaturgeschichtliche Abhandlung Leybolds zu Altenbergs Bedeutung im frühen 20.  Jahrhundert. Leybold betont die naturalistischen Erbschaften bei Altenberg, so wie sie Altenberg in Pròdrŏmŏs selbst herausgearbeitet hatte. Altenberg lässt sich für Leybold keineswegs eindeutig dem Wiener Ästhetizismus zuschlagen, sondern er betont, dass sein Werk als »Produkt des Ausgleichs zwischen diesen beiden sich polar zuwiderlaufenden Richtungen«, nämlich der des Naturalismus und der des l’art pour l’art, begriffen werden müsse.60 Altenberg habe die naturalistische Technik ins Psychische übertragen, aber er beschränke sich keineswegs auf Mimesis, denn, und da hat Leybold wohl auch das Spätwerk von Altenberg im Blick, »seine Kunst will nicht rein reproduktiv […], sie will nicht referierend, schildernd sein«.61 Im »Nuancieren der Sprache« führt Leybold Altenberg auf Maeterlinck und Jacobsen, im »Pointieren« auf Wilde und Maupassant zurück.62 Sukzessive koppelt Leybold Altenberg so von der Zuordnung zum Impressionismus ab  : Man muß sehr vorsichtig sein mit der Anwendung von Schlagworten in bezug auf ihn  : jedes erhält eine andere Bedeutung auf seine Dichtungen angewandt. Er ist so gut Naturalist wie Idealist, bleibt bei aller Subjektivität immer objektiv, er ist sowohl Mystiker wie Phantast, Romantiker und Heimatkünstler – alles in einem. Wenn die Definition zutrifft, daß Impressionismus die »reine zusatzlose Wiedergabe des Sinneneindrucks« ist, dann ist er nicht Impressionist, wie man so gerne sagt.63

Damit läuft für Leybold das Spätwerk von Altenberg auf den Expressionismus zu. Am Ende seiner Abhandlung charakterisiert Leybold Altenberg als Vorbote, als Pròdrŏmŏs des Expressionismus  : »Wie ihm [i. e. Altenberg] die Ausgestalter der realistischen Technik Wegbereiter waren, so ist er es anderen. Er zeigt ihnen die neue Möglichkeit«, nämlich die, das »Äußere zum Motiv reduzierend« bis zur »innerlichsten Simplizität«

59 Hans Leybold  : »Hands off  !«, in  : Die Aktion 3, 38 (1913), Sp. 891 f., hier Sp. 892. 60 Leybold  : Wege zu Altenberg (Anm. 57), Sp. 77. 61 Ebd., Sp. 78. 62 Ebd. 63 Ebd.

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vorzudringen, »indem er eine nahezu wissenschaftliche Darstellungsmethode einem pathetisch-dramatischen Idealismus verbindet«.64 Leybold kann in seinem expressionistischen Bekenntnis zu Altenberg anknüpfen an Kurt Pinthus, der 1913 über die Vorliebe des Expressionismus für poetische Kurzformen reflektiert und bekräftigt, »weil wir das Essentielle lieben, sind wir knapp im Ausdruck und in der Form«  ; und in diesem Zusammenhang erhebt der spätere Herausgeber der Gedichtanthologie Menschheitsdämmerung Altenberg zum eigentlichen Stilvorbild  : »Schon unser aller Onkel, der gute Lebens-Reform-Peter A. schuf das Wort von den geistigen Bouillonkapseln«.65 Pinthus bezieht sich hier auf Altenbergs Beschreibung seiner Prosaminiaturen als Extracte des Lebens. Das Leben der Seele […], in 2–3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel  ! Dem Leser bleibe es überlassen, diese Extracte aus eigenen Kräften wieder aufzulösen, in genießbare Bouillon zu verwandeln, aufkochen zu lassen im eigenen Geiste, mit einem Worte dünnflüssig und verdaulich zu machen.66

Auch wenn die Bezugnahme auf Altenberg in Pinthus’ expressionistischem Plädoyer für essentielle Kürze ein wenig flapsig ausfällt, hat sich Pinthus an anderer Stelle begeistert über Altenbergs Skizzen der »Schönheit, der Gefühle, der Natur, der Witze und aller Menschlichkeit« ausgesprochen.67 So wie Pinthus rezensiert auch Max Herrmann-Neiße das Spätwerk Altenbergs positiv, geradezu hymnisch. Herrmann-Neiße findet über die Antibürgerlichkeit zu Altenberg, preist ihn 1915 als »Prophet, ein Vorwärtsbringer, ein Revolutionär […], der wienerisch schreibt aus Gründen der Abstammung wie Ibsen norwegisch – daß ich’s kurz fasse, ohne Blasphemie, ein kondensierter Strindberg  !«68 Diese Eskamotierung aus Wiener Kontexten ist für Herrmann-Neiße die Grundlage, um Altenberg von seiner Jungwiener Vergangenheit abzukoppeln  : »Wer ihn ›Ästhet‹ schimpft, ist ein Verstockter, der nie begreifen wird, daß in Volkstracht 64 Ebd., Sp. 80. 65 Kurt Pinthus  : Glosse, Aphorismus, Anekdote, in  : März. Eine Wochenschrift 7, 2 (1913), S. 213 f., hier 214. 66 Peter Altenberg  : Was der Tag mir zuträgt. Berlin 21902, S. 6. 67 Kurt Pinthus  : [Rezension zu] Peter Altenberg  : »Semmering 1912«, in  : Zeitschrift für Bücherfreunde. Monatshefte für Bibliophilie und verwandte Interessen N. F. 5 (1913/14), S. 71 f., hier S. 72. 68 Max Herrmann-Neiße  : [Rezension zu] Peter Altenberg  : Fechsung, in  : Der Mistral 1, Nr. 3 vom 26. April 1915, S. 4. Drei Jahre zuvor hatte Herrmann-Neiße bereits Altenbergs Neues Altes in der Breslauer Zeitung (vom 30. Juni 1912) besprochen. Brieflich jubelt er über »köstliche Skizzen des Peter Altenberg, Lieblinge die ich […] hoffentlich bald einmal an einem Rezitierabend werde vorstellen dürfen« (Brief Herrmann-Neißes an Leni Gabek vom 21.  Februar 1912, in  : Max Herrmann-Neiße  : Briefe. Hg. von Klaus Völker und Michael Prinz. Berlin 2012, Bd. 1, S. 11). Vgl. auch den ähnlich enthusiastischen Brief an Leni Gabek vom 1. April 1912 (ebd. S. 18 f.).

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und Diät zielbewußt zu revolutionieren wertvoller ist, als an Vereinstafeln aggressive Formeln […] gewerbsmäßig erregt zu trompeten«.69 Herrmann-Neiße feiert Altenberg als authentischen neuen Menschen, der vom juste milieu unverstanden bleibt  : »Was die Bürger für seine Schrullen halten«, entpuppe sich als Altenbergs »Daseinsparadigmen, seine leibhaftigsten Bergpredigten vor Sonnenaufgang«.70 Ähnlich enthusiastisch erinnert sich Kurt Hiller an Altenberg, der »im Ohrläppchen mehr Philosophie […] als Magister Hegel im Schädel« gehabt hätte.71 Bei dieser Eingemeindungsemphase scheint es nur folgerichtig, dass 1917 Franz Werfel beim Kurt Wolff Verlag vorfühlte, ob Altenberg nicht dort (statt bei S. Fischer) veröffentlichen könne.72 Ein solcher erwogener Verlagswechsel illustriert eindrücklich, wie sehr Altenberg von den Expressionisten als einer der ihren wahrgenommen wurde.73 Dass Altenberg auch für Walter Serner und den Zürcher Dadaismus von wichtiger Bedeutung gewesen ist, haben Andrew Barker und Leo  A. Lensing eindrücklich beschrieben.74 Hier soll am Ende der Revue der expressionistischen Resonanz auf Altenberg Albert Ehrenstein stehen, der als Wiener Expressionist besonders darum bemüht ist, sich eine Altenberg’sche Tradition zu stiften. Ehrenstein zielt hoch, wenn er urteilt  : »Öster­reich hat im neunzehnten Jahrhundert drei originale Schriftsteller, drei autochthone Genies hervorgebracht  : Ferdinand Raimund, Johann Nestroy, Peter Altenberg«.75 Unter Ausschluss von Grillparzer und Degradierung von Stifter auf den vierten Rang wird hier ein danubischer Gegenolymp imaginiert, in dem Altenberg seinen obersten Platz findet, weil er sich »nie der Fabrikation klassizistischer Sonette, Jambentragödien und äffischer Erziehungsromane hingab«.76 Ehrenstein feiert Altenberg als einen eigenständigen Schriftsteller, der unbeeinflusst von der literarischen Tradition seinen eigenen Stil kreiert,77 und den schätzt Ehrenstein auch der Kürze wegen, »die penetrant abrupte

69 Ebd. 70 Ebd. 71 Kurt Hiller  : Leben gegen die Zeit. Bd.1  : Logos. Reinbek 1969, S. 101. 72 Vgl. Brief Werfels an Wolff vom 7. August 1917, in  : Kurt Wolff  : Briefwechsel eines Verlegers 1911–1963. Hg. von Bernhard Eller und Ellen Otten. Frankfurt a. M. 1966, S. 117 f. Werfel betont, dass er Altenberg »für die einzige originale Persönlichkeit unter den deutschen Dichtern heute halte« (ebd. S. 117). 73 Während die Jungwiener Autoren vornehmlich bei S. Fischer veröffentlichten, war der Kurt Wolff Verlag in Leipzig der Hausverlag des deutschen Expressionismus. 74 Andrew Barker und Leo A. Lensing  : P.A. und DADA, in  : Dies.: Peter Altenberg  : Rezept die Welt zu sehen. Kritische Essays, Briefe an Karl Kraus, Dokumente zur Rezeption, Titelregister der Bücher. Wien 1995, S. 122–132. 75 Albert Ehrenstein  : Peter Altenberg, in  : Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller. Hg. von Gustav Krojanker. Berlin 1922, S. 193–197, hier S. 193. 76 Ebd., S. 194. 77 »Der weltlich heilige Peter kam eben nicht von der Literatur her, er ist keine Quadratwurzel oder

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und doch lyrische Ausdrucksform des sich kurz fassenden Genies«.78 Ehrenstein sieht durchaus die skurrilen Züge Altenbergs, wenn er von dessen »krause[m] Los« spricht, das es war, »Prediger zu sein in unhygienischen Daseinswüsten, Verkünder der Heilig­ keit des Verdauungstrakts, Apostel alleinseligmachender Abführmittel«.79 Das mag komische Seiten haben, wird aber von Ehrenstein auch religiös rückgebunden, wenn er erläutert, dass Altenberg »in seinem ›Prodromos‹ [sic] die mosaischen Speisegesetze reformierte, modernisierte«.80 Und dass Altenbergs Blick für Unscheinbares und sein Zug zum Grotesken im Spätwerk Ehrensteins Œuvre beeinflussten, zeigt sich, wenn Ehrenstein von seiner Altenberg-Lektüre berichtet  : »ob er eine verfolgte Fliege ihre Genossinnen zur Revolution gegen die Menschheit haranguieren läßt, unter seiner Dichterhand wird das Kleinste, Gegenständlichste Poesie«.81 In Ehrensteins expressionistischer Erzählung Tubutsch tauchen diese Fliegen Altenbergs wieder auf, wenn der Protagonist in seinem Tintenfass zwei tote Fliegen vorfindet, ihnen einen höchst menschlichen Nachnamen gibt (»die zwei Fliegen Pollack«), sie zu einem Paar erklärt und diesem Paar einen tragischen »Doppelselbstmord aus Liebe« andichtet.82 Ehrenstein radikalisiert hier Altenbergs Alltagspoetisierungen und verstärkt ihren grotesken Zug. Altenbergs Spätwerk wird so zum Steinbruch und Ideenreservoir des Expressionismus. Er ist wegen seiner Schrulligkeit und Antibürgerlichkeit interessant. Seine utopische Geste und sein Weltverbesserungspathos präludieren den »neuen Menschen«. Pròdrŏmŏs verabschiedet die Décadence, sehnt sich nach Vitalität und Erneuerung. Altenbergs Brühwürfel-Reduktionsästhetik wird von Pinthus programmatisch gewendet zu einem Appell für Wesentlichkeit in Kurzform. Die Anwaltschaft für die Ausgestoßenen der Gesellschaft ist ebenso dem Expressionismus affin, wie die Offenheit für technische Neuerungen und intermediale Experimente. So erweist sich Altenbergs »radikaler Impressionismus«83 als wichtiger Stichwortgeber der literarischen 1910er Jahre, und sein Werk Pròdrŏmŏs löst ein, was sein Titel verspricht  : Er kann als ein Vorbote des Expressionismus verstanden werden.

buchgezeugte Kreuzung zusammengelesener, entlegenster Dichtwerke.« (Ehrenstein  : Peter Altenberg [Anm. 75], S. 195). 78 Ebd. 79 Ebd., S. 195 f. Vgl. auch ebd.: Altenberg war für ihn »ein Vorkämpfer gegen die selbstverschuldeten Melancholien der Dyseptiker, überzeugt, ›daß Jago, Franz Moor, Macbeth, Mephisto, Hamlet, Wallenstein an Verstopfung litten‹«. 80 Ebd., S. 194. 81 Ebd., S. 196. 82 Albert Ehrenstein  : Tubutsch, in  : Ders.: Erzählungen. Hg. von Hanni Mittelmann. O. O. 1991 (Werke, Bd. 2), S. 36–58, hier S. 41 und 54. 83 Egon Friedell  : Ecce Poeta. Berlin 1912, S. 163.

II. Operetten-Librettisten Das Junge Wien, Oscar Straus und die leichte Muse

Die musikalisch-literarische Zusammenarbeit von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ist seit jeher ein Lieblingstummelplatz derjenigen Forschung, die sich für die ästhetischen Höhenkammereignisse und intermedialen Sternstunden der Wiener Moderne interessiert.1 Auch auf die Bedeutung der Operetten und Walzer von Johann Strauß (seien es Vater [1804–1850], Sohn [1822–1899] oder Enkel [1866–1939]) für die Literatur des Jungen Wien ist immer wieder hingewiesen worden.2 Aber dass auch ein weiterer Komponist mit Namen Straus (allerdings weder verwandt mit dem deutschen Richard noch verschwägert mit der österreichischen Walzer-Dynastie und nicht mit doppeltem »ss«, sondern mit einfachem runden »s« geschrieben) für das Werk der älter werdenden Jungwiener relevant ist, wurde bisher nur am Rande bemerkt  : Für den seinerzeit unerhört erfolgreichen österreichischen Operettenkomponisten Oscar Straus (1870–1954) haben viele Autoren der Wiener Moderne nach der Jahrhundertwende Libretti geschrieben  : Felix Dörmann verfasste gemeinsam mit Leopold Jacobson das Textbuch für die Tanzoperette Ein Walzertraum (1907) und auch für die Spiel-Oper Die galante Markgräfin (1919). Arthur Schnitzlers Puppenspiel lieferte die Vorlage für das Singspiel Der tapfere Kassian (1909). Felix Salten konzipierte unter Pseudonym den Text für die Operette Mein junger Herr (1910), und Paul Wertheimer und Richard Batka erstellten das Libretto zum Wiener Singspiel Die himmelblaue Zeit (1914). Auf 1 Vgl. etwa Adrian Kech  : Musikalische Verwandlung in den Hofmannsthal-Opern von Richard Strauss. München 2015. Günter Schnitzler  : Intermediale Wechselwirkungen  : Die »Josephslegende«. Hofmannsthal, Veronese, Strauss, in  : Literatur – Geschichte – Österreich. Probleme, Perspektiven und Bausteine einer österreichischen Literaturgeschichte. Hg. von Christoph Fackelmann in Zusammenarbeit mit Wynfrid Kriegleder. Wien 2011, S. 378–400. Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal  : Frauenbilder. Hg. von Ilija Dürhammer und Pia Janke. Wien 2001. Françoise Salvan-Renucci  : Ein Ganzes von Text und Musik. Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Tutzing 2001. Wolfgang Perschmann  : Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss  : Die Frau ohne Schatten. Graz 1992. Karin M. Stöckl-Steinebrunner  : »Wer glücklich ist wie wir, dem ziemt nur eins  : schweigen und tanzen  !« Kunst und Lebensbewältigung um 1900 am Beispiel der »Elektra« von Hofmannsthal und Strauss. Diss. masch. Freiburg 1990. Donald G. Daviau  : The »Ariadne of Naxos« of Hugo von Hofmannsthal and Richard Strauss. Chapel Hill 1975. 2 So etwa bei Marion Linhardt  : Taxierungen. Arthur Schnitzler und die Wiener musikalische Populärkultur, in  : Arthur Schnitzler und die Musik. Hg. von Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Günter Schnitzler. Würzburg 2014, S. 45–67.

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diese musikalisch-literarischen Koproduktionen der älter werdenden Jungwiener mit Oscar Straus im frühen 20. Jahrhundert soll im Folgenden eingegangen werden. Die Jungwiener Autoren als Zuarbeiter der leichten Muse zu beschreiben, hat die germanistische Forschung bislang eher verabsäumt, und das rührt vielleicht auch daher, dass die Ästhetik der Wiener Moderne in den 1890er Jahren oft durch ihren hermetischen Hochmut und ihre elitäre Esoterik von sich reden machte. Der Literaturkritiker Franz Servaes beschrieb in seinen Berliner Eindrücken von Jung Wien 1897 diese Autoren als empfindlich-nervöse Feingeister, die von den Niederungen der Unterhaltungskultur Abstand hielten.3 Der Vorwurf der überheblichen Unverständlichkeit wurde gegen Hofmannsthals frühe Lyrik, seine Reitergeschichte (1899) oder gegen Beer-Hofmanns Der Tod Georgs (1900) erhoben und diese Urteile wurden dann auch auf die übrigen Jungwiener übertragen. Gleichwohl muss man sich vor Augen halten, dass ein Großteil der Literatur des Jungen Wien von Anfang an auch einen Zug zum Populären und Eingängigen hatte. Felix Saltens Erzählungen lesen sich süffig, und auch Arthur Schnitzlers Figuren, die dann innovativ narrativ gestaltet werden, konnte man gelegentlich eine gewisse Typenhaftigkeit nicht absprechen. Der Gang zum Wurstelprater und der Wunsch, sich einmal gehörig zu »encanaillieren« nach all den ästhetizistischen Schwebezuständen hinter schweren dunkelpurpurnen Samtportieren im hochbürgerlichen Salon, gehört schon früh zum Sujet-Repertoire des Jungen Wien.4 Die Jungwiener Abkehr von den naturalistischen Elendszeichnungen und die Hinwendung zu den Liebeleien der großbürgerlichen Besserverdiener und adligen Nichtstuer ebnen in gewisser Weise auch den Weg zur Personnage und zu den Plots der Operette. In einer frühen Erzählung Schnitzlers kichert eine adlige Figur nach der anagnoristischen Aufdeckung einer Verwechslung  : »Ah, das ist aber die reine Operett’  ! Ah, das ist die reine Operett’  ! Und wiederholt das zehnmal.«5 Die Operettentauglichkeit der Literatur des Jungen Wien wird nicht nur innerfiktional von den Figuren behauptet, sondern auch von ihren Autoren reflektiert. Dass die Libretti der älter werdenden Jungwiener für Straus bisher von der Forschung weitgehend unbeachtet blieben, mag von musikwissenschaftlicher Seite auch damit zu tun haben, dass die Operetten von Oscar Straus nicht die gleiche rühmende Würdigung erfahren haben wie die zeitgleich während der missverständlich heute immer noch sogenannten »silbernen Operettenära« (1900–1920) entstandenen Werke von Franz Lehár 3 Franz Servaes  : Jung Wien. Berliner Eindrücke, in  : Die Zeit vom 2. Januar 1897, S. 6 ff. 4 Vgl. etwa in dieser Hinsicht Arthur Schnitzlers Erzählung Die kleine Komödie (1895), in der der adlige Protagonist Alfred von Wilmers gelangweilt die verschiedenen gesellschaftlichen Vergnügungsmöglichkeiten durchspielt. 5 Arthur Schnitzler  : Die kleine Komödie, in  : Ders.: Die Erzählenden Schriften. Erster Band. Frankfurt a. M. 1961 (Gesammelte Werke), S. 176–207, hier S. 205.

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oder Emmerich Kálmán.6 Einzig Straus’ Walzertraum findet sich heute noch vermehrt in der Fachliteratur berücksichtigt,7 in diversen Tonträger-Einspielungen interpretiert und vereinzelt auf den Spielplänen unterschiedlich dimensionierter Theater und Opernhäuser.8 Aber nicht nur die Konkurrenz zu Lehár und Kálmán (oder auch zu Leo Fall, Ralph Benatzky, Edmund Eysler, Robert Stolz, Nico Dostal und Rudolf Kattnigg) mag zum Vergessen von Straus beigetragen haben. Auch die zeitgenössische Abwertung der sogenannten silbernen Operettenära gegenüber einer vergangenen und verklärten sogenannten Wiener goldenen Operettenära (1860–1900) wird das allmähliche Verschwinden von Straus’ Œuvre aus dem kulturellen Gedächtnis der Moderne befördert haben. Natürlich spielt es eine erhebliche Rolle, dass die Auffassung davon, was eine Operette ausmacht, lange Zeit noch von den spießigen Nachkriegsinszenierungen geprägt war, die ihrerseits wiederum an die »gesäuberte« Aufführungspraxis im Nationalsozialismus anknüpfen konnten, die nicht nur die jüdischen Komponisten, wie Oscar Straus, verboten hatte, sondern darüber hinaus auch der Operette generell die Jazz-Affinität in den 1920er Jahren und ihre sexuelle Anzüglichkeit ausgetrieben hatte.9 Wenn Karl Kraus besonders gemein sein wollte gegenüber seinen Lieblingsfeinden, stempelte er sie als »heutige Operettenlibrettisten« ab und betonte damit  – etwa im Fall Felix Saltens –10 ein geistiges Gefälle, ästhetische Leichtgewichtigkeit und kitschige Harmlosigkeit, die für ihn eben nicht mehr auf der ästhetischen Höhe von Jacques Offen­ bach und dessen Librettisten Albert Millaud anzusiedeln war. Während Kraus Offen­ bachs satirisches Feuerwerk als politisch-sozialkritisches Gefunkel und kluge Opern­   6 Zu Lehár vgl. Stefan Frey  : Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik. Tübingen 1995.   7 Vgl. Volker Klotz  : Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, darin  : 106 Werke, ausführlich vorgestellt. München, Zürich 1991, S. 132–134, 135 f., 139 f., 566 f., 570–572, 583 und 585. Marion Linhardt  : »Der Wiener Stoff ist […] nicht unumgänglich nothwendig, wenn nur die Wiener Seele in ihr lebt  !« – Was ist ›wienerisch‹ am Libretto der Wiener Operette  ?, in  : Österreichische Oper oder Oper in Österreich  ? Die Libretto-Problematik. Hg. von Pierre Béhar und Herbert Schneider. Hildesheim, Zürich 2005, S. 213–230.   8 Vielleicht ändert sich aber hier gerade etwas  : Die Komische Oper in Berlin hat 2016, über 80 Jahre nach der Uraufführung mit Fritzi Massary, durch das Engagement von Barrie Kosky Die Perlen der Cleopatra von Oscar Straus auf die Bühne gebracht. Vgl. auch Oscar Straus. Beiträge zur Annäherung an einen zu Unrecht Vergessenen. Hg. von Fedora Wesseler und Stefan Schmidl. Amsterdam 2017.   9 Vgl. hierzu  : Operette unterm Hakenkreuz. Zwischen hoffähiger Kunst und »Entartung«. Hg. von Wolfgang Schaller. Berlin 2007. Und zu den Begriffen »goldene« und »silberne« Operettenära Marion Linhardt  : Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858–1918). Tübingen 2006, S. 124–129. 10 Karl Kraus kanzelt Felix Salten 1915 als »jetzt unbeschäftigten Librettisten« ab (vgl. Karl Kraus  : Ich hatt’ einen Kameraden, in  : Die Fackel vom 10. Dezember 1915, S. 84) und bezieht sich mit der beruflichen Einordnung auf das Libretto, das Salten unter Pseudonym für Oscar Straus’ am Raimundtheater 1910 uraufgeführte Operette Mein junger Herr verfasst hatte (Mein junger Herr. Operette in drei Akten von Ferdinand Stollberg [Pseudonym für Felix Salten]. Musik von Oskar Straus. Leipzig, Wien 1910).

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parodie bewarb (und Kraus einige von Offenbachs Operettenlibretti in den 1920er Jahren ja auch aus dem Französischen übersetzte), kanzelte er die aktuellen Libretti der Wiener Operetten als epigonal, seicht, banal, ordinär, schlüpfrig, sozial harmlos und vernachlässigenswert ab.11 Kraus sprach vom »Fusel der neuzeitlichen Operette«, der »Operettenschande der Gegenwart«, der »Verknödelung Offenbachs durch das musikalische Neuwien, die Herr Salten empfiehlt« und der »dominierenden Schmach des neuen Operettenwesens«.12 Mit hesiodischem Pathos beklagte Kraus einen Abstieg vom »goldenen« zum »silbernen« Operettenzeitalter als vehementen Kulturverfall und verheerende Degeneration  : »Der Drang, das Leben der musikalischen Burleske zu verifizieren, hat die Gräßlichkeit der Salonoperette erschaffen, die von der Höhe der ›Fledermaus‹ – des Übels Urquell – über die Mittelmäßigkeit des ›Opernballs‹ in die geistige Niederung der ›Lustigen Witwe‹ führen«.13 Dass diese harschen Urteile von Kraus zu einseitig formuliert sind, ist seitdem immer wieder angemahnt worden.14 Gleichwohl ist Oscar Straus nie in einem Maße rehabilitiert worden wie etwa Franz Lehár.15 Ob das mehr mit der Musik oder den Libretti zu tun hat, ist schwer zu beurteilen. Auf jeden Fall belegt die intensive Zusammenarbeit von Oscar Straus mit den Jungwiener Autoren, dass die musikalisch-literarischen Parallelaktionen der Wiener Moderne nicht bloß eine elitär hoch anspruchsvolle Seite hatten (mit den Opernproduktionen von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal), sondern auch mit der Populärkultur kokettierten. Die leichte Muse bedienten viele Jungwiener Autoren außerordentlich oft und gerne, einige taten dies zwar unter Pseudonym (wie Salten, der unter dem Namen »Ferdinand Stollberg« seine Libretti erstellte), aber für andere war die Operettenproduktion nicht nur von finanzieller Bedeutung, sondern Teil des eigenen Gesamtwerks, das nach ernst und heiter, leichter und schwerer zu wägender Kunst zu trennen, immer heikler wurde.16 Selbst vom hochgemuten Hofmannsthal wird kolportiert, dass er nach 11 Zu Kraus’ Angriff auf Lehár vgl. auch Ethel Matala de Mazza  : Mit vereinter Schwäche. Musikalische Militäreinsätze in der Wiener Moderne, in  : Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800–1900. Hg. von Thomas Brandstetter. Berlin 2008, S. 249–272. 12 Karl Kraus  : Nachträgliche Republikfeier, in  : Die Fackel von Ende Januar 1926, S. 1–18, hier S. 9. Ders.: Notizen, Vorlesungen, in  : Die Fackel vom Juni 1927, S. 25–29, hier S. 29. Ders.: Die ›Tilaktrifak des UrSpradray‹, in  : Die Fackel vom August 1924, S. 121 ff., hier S. 122. Ders.: Vorlesungen, in  : Die Fackel vom April 1926, S. 97–113, hier S. 99. 13 Karl Kraus  : Grimassen über Kultur und Bühne, in  : Die Fackel vom 19. Januar 1909, S. 1–18, hier S. 12. 14 Vgl. auch Martin Lichtfuss  : Operette im Ausverkauf. Studien zum Libretto des musikalischen Unterhaltungstheaters im Österreich der Zwischenkriegszeit. Wien, Köln 1989. Moritz Csáky  : Funktion und Ideologie der Wiener Operette, in  : L’opérette viennoise. Hg. von Jeanne Benay. Rouen 1998, S. 131–149. 15 Für eine Lehár-Renaissance engagiert sich Stefan Frey  : »Was sagt ihr zu diesem Erfolg«. Franz Lehár und die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1999. 16 Vgl. auch Moritz Csáky  : Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität. Wien, Köln, Weimar 1996, S. 147–150.

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einer Aufführung von Lehárs Libellentanz aufgeseufzt habe  : »Gott, wie schön wäre es, wenn Lehár doch die Musik zum Rosenkavalier gemacht hätte, statt Richard Strauss«.17 In zunehmendem Maße verwischten im frühen 20. Jahrhundert die Grenzen zwischen avancierter und populärer Kultur. In gewisser Weise reflektiert Hofmannsthals Ariadne auf Naxos (historisch in ein anderes Jahrhundert zurückprojiziert) genau dieses Nebenund Ineinander von höchstem Anspruch und schenkelklopfender Unterhaltung. Dass in dem einen oder anderen Fall dabei die Libretti der Jungwiener Autoren ausgerechnet jenes Alt-Wien-Klischee befeuerten,18 von dem der Name Jungwien sie ja einstmals separiert hatte, gehört zu den von der Forschung bisher eher umgangenen Phänomenen. Oscar Straus selbst hat seine Position zur Operette als Kunstgenre 1906 in einem Aufsatz im Neuen Wiener Journal vorgestellt. Nachdem Straus 1904 mit seiner burlesken Operette Die lustigen Nibelungen an das parodistische Prinzip der Offenbachiade angeknüpft und (wie in Orphée aux Enfers oder La belle Hélène) einen großen mythologischen Stoff der ernsten Oper komisch invertiert hatte, verwundert es nicht, dass Straus in Die Operette als Kunstgenre für eine Reform der Operette aus dem Geiste Offen­bachs plädierte. Dieses »Hineinspielen lustigerer, teils equivoker [sic], teils parodistischer Elemente« ist für Straus zentral bei Offenbachs Operetten.19 Dagegen profiliert auch Straus die gegenwärtige österreichische Situation als desaströs. Nachdem er Johann Strauß seine Reverenz erwiesen hat, beklagt er eine negative Entwicklung (»Von da an ging es rapid abwärts«20) und konstatiert eine Vernachlässigung der Handlungstektonik zugunsten von unabhängigen Tanz- und Gesangsnummern  : Die Verpflanzung absoluter Unterhaltungsmusik auf die Bühne hatte ein Auflassen der dramatischgeschlossenen Form zugunsten aneinandergereihter Tanzkompositionen zur Folge. Statt geschlossener, aus der Situation hervorgehender Solo- und Ensemblesätze entstanden »Einlagen«. Der dramatische Zusammenhang mußte billigen Einzelwirkungen weichen. Als man dann von den ewigen Tanzmelodien übersättigt war, kam etwas noch Schlimmeres  : die falsche Sentimentalität, das Kokettieren mit dem »goldenen Wiener Herzen«, der »alte Steffel«, eine Verherrlichung des Wiener Volkssängertums. Zuletzt wurden die »entersten Gründ« mit hineingezogen und heute sind wir bei einer stereotyp gewordenen Verherrlichung der Wiener Nachtlokale angelangt. Das ist die »Wiener Operette« von heute  ! Possen und Volksstücke mit »Heurigen«-Musik.21 17 Dies berichtet Alma Mahler-Werfel  : Mein Leben. Frankfurt a. M. 1960, S. 354. 18 Vgl. hierzu  : Mythos Alt-Wien. Spannungsfelder urbaner Identitäten. Hg. von Monika Sommer und Heidemarie Uhl. Wien 2009. Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Hg. von Wolfgang Kos und Christian Rapp. Wien 2004. 19 Oscar Straus  : Die Operette als Kunstgenre, in  : Neues Wiener Journal vom 25. März 1906, S. 12. 20 Ebd. 21 Ebd.

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Für den Niedergang der Wiener Operette macht Straus darüber hinaus noch das »Ueber­ handnehmen des Starwesens« verantwortlich.22 Wenn Komponisten und Libret­tisten den Publikumslieblingen Rollen auf den Leib schrieben und dabei Plausibilität der Handlung und Zusammenwirken eines Ensembles vernachlässigten und alles um eine »sogenannte ›Bombenrolle‹« gruppierten, beschleunigte dies für ihn den Verfall. Dagegen plädiert Straus für eine Konzentration auf die Handlung und ruft die potentiellen Librettisten dazu auf, »›Theaterstücke‹ an Stelle von ›Rollen‹ zu schreiben  – Theaterstücke, die einen zusammenhängenden Sinn, eine Handlung haben«. Aufgabe der zukünftigen Operettenkomponisten sei es dann, eine Musik zu schaffen, »die sich den Vorgängen des Librettos illustrierend anschmiegt, die auf das Vorherrschen von ›Einlagen‹ verzichtet zugunsten von Situationsnummern und dem Ensemble wieder eine führende Rolle zuweist«. Damit möchte Straus die Operette der Oper wieder annähern und so indirekt nobilitieren. Er plädiert für eine »Verwischung der – unberechtigterweise – zwischen Oper und Operette gezogenen scharfen Grenzlinie, eine Rückkehr zu dem Genre, aus dem die Operette hervorgegangen ist  : zur komischen Oper  !«

1. Chaos und Domestikation in Felix Dörmanns Tanzoperette Ein Walzertraum (1907) und Wagner-Parodien in seiner Spiel-Oper Die galante Markgräfin (1919) Ob ausgerechnet Oscar Straus’ größter Erfolg, der ein Jahr nach Die Operette als Kunstgenre uraufgeführte Walzertraum, seinen eigenen Reform-Forderungen entspricht, kann man allerdings durchaus partiell bezweifeln. Vielleicht erklärt sich aber der AltWien bereitwillig verherrlichende und tanzselige Walzertraum (der neben schmissigen Ensembles auch einige doch von Straus so beschimpfte Einlagen hatte) auch aus der Konkurrenz zu Franz Lehár, der mit Die lustige Witwe einen – auch finanziellen – Sensationserfolg hingelegt hatte, den Straus nun zu übertrumpfen gedachte.23 Der Jungwiener Schriftsteller Felix Salten hatte 1906 Die lustige Witwe zum Vorreiter einer Erneuerung der Operette erklärt. Salten gefiel besonders, dass Lehár die Handlung in einer Gegenwart ansiedelte, die eher kosmopolitisch als speziell wienerisch getönt war, aktuelle politische Debatten (Frauenwahlrecht, Dreibund der Mittelmächte und Balkanunruhen) spielerisch aufgriff und seinen Protagonisten Graf Danilo als überreizten Gegenwartsmenschen in erotischen Nöten porträtierte. Der fiktive Zwergstaat Pontevedro war für 22 Ebd. Die folgenden Straus-Zitate im Haupttext entstammen ebenfalls diesem Text und sind nicht mehr eigens bibliographisch in Anmerkungen nachgewiesen. 23 Zur Konkurrenz zwischen Lehár und Straus vgl. Frey  : »Was sagt ihr zu diesem Erfolg« (Anm.  15), S. 196–198.

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jedermann durchsichtig eine Karikatur von Montenegro.24 Der pontevedrinische Diplomat Graf Danilo ist für Salten (in der Interpretation von Louis Treumann) ein Wahlverwandter von Schnitzlers Anatol-Figur »mit dieser vibrierenden Nervosität, mit der karessanten Sinnlichkeit, mit diesem leichten Anhauch von Laster und Hysterie einfach der junge Mann UP TO DAY«.25 Zeitgenossenschaft war damit von Salten zur Maxime der neuen Operette erhoben worden  : »Alles, was so in unseren Tagen mitschwingt und mitsummt, was wir lesen, schreiben, denken, plaudern, und was für neue, moderne Kleider unsere Empfindungen tragen, das tönt in dieser Operette, klingt in ihr nach.«26 Straus scheint diesen programmatischen Text von Salten und Lehárs Integration von neuen Tanzformen wie dem Cakewalk sehr genau wahrgenommen zu haben, als er daran ging, sein populärstes Werk zu komponieren. Das Libretto zum Walzertraum fußt auf der Novelle Nux, der Prinzgemahl aus Hans Müllers Buch der Abenteuer. Hans Müller hat seine 1905 erschienene Novellensammlung Oscar Straus überreicht, und es ist für den Jungwiener Zusammenhang aufschlussreich, dass einige der Novellen Jungwiener Autoren gewidmet sind. Nux, der Prinzgemahl richtet sich »An Arthur Schnitzler in herzlicher Verehrung«.27 Die Novelle Die Ausstellung der geschlossenen Augen richtet sich »An Richard Schaukal in freundschaftlicher Ergebenheit« (15), Das Bad der Gesundheit gilt »J. J. David, dem stillen Künstler« (49), Die Rosen des heiligen Antonius sind dediziert an »Hermann Hesse – Gruß in die Ferne« (111), und die napoleonische Historische Novelle »ist Karl Hans Strobl freundschaftlich gewidmet« (141). Schnitzler allerdings kanzelte die Novellensammlung harsch als »nicht so sehr talentlos als widerlich affectirt« ab und entzog sich den Näherungsbemühungen von Müller erst einmal durch höfliche Kühle. Im Tagebuch vermerkt Schnitzler distanziert  : Hans Müller hat mir […] jetzt eben ein Novellenbuch gesandt, worin eine Novelle direct mir gewidmet ist. – Nicht so sehr talentlos als widerlich affectirt. Dazu ein verehrungsvoller 24 Zu den Schauplätzen und mitteleuropäischen Identitätskonflikten in der Operette vgl. Magdolna Orosz, Gabriella Rácz  : »Alles gelungen«. Exotismus, Fremdheit und Identität in der Operette der k.u.k. Monarchie, in  : Habsburg bewegt. Topographien der österreichisch-ungarischen Monarchie. Hg. von Miklós Fenyves, Amália Kerekes, Bálint Kovács und Magdolna Orosz. Frankfurt a. M. 2013, S. 167–184. Stefan Schmidl  : Die vielen Identitäten. Untersuchungen zur Funktion der Wiener Operette, in  : Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich 55 (2009), S. 319–366. 25 Felix Salten  : Die neue Operette, in  : Die Zeit vom 8. Dezember 1906, S. 1 ff. wieder abgedruckt in und zitiert nach  : Stimmen zur Unterhaltung. Operette und Revue in der publizistischen Debatte (1906–1933). Hg. von Marion Linhardt. Wien 2009, S. 39–45, hier S. 43. 26 Ebd., S. 41. 27 Hans Müller  : Buch der Abenteuer. Novellen. Berlin 1905, S. 160. Im Folgenden werden Zitate aus Müllers Buch der Abenteuer im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen nachgewiesen.

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und größenwahnsinniger Brief. (»…das die Linie der Kunstform Novelle wieder zu erreichen sucht…«) – Ich konnte natürlich keine Silbe des Lobs sondern nur kühlen Dank für Brief und Widmung an ihn schicken. Wir wollen sehen, wie lang er mich noch »verehren« wird.28

Mit seiner Dedikation versuchte der nachmalig unter dem Namen Hans Müller-­Einigen erfolgreiche Burgtheaterautor (von Karl Kraus in den letzten Tagen der Menschheit scharf attackiert) und UFA-Chefdramaturg 1905 gerade 23-jährig, Anschluss an die Autoren und Konzepte der Wiener Moderne zu erlangen.29 Mit dem Œuvre des bewid­ meten Schnitzler verbindet die Novelle Nux, der Prinzgemahl das Sujet des österreichischen Leutnants in Liebeswirrnissen. Aber während Schnitzlers Lieutenant Gustl die Leutnantsposition sozial von unten erklimmt und die Skandalnovelle immer wieder Gustls Bildungslücken und seine gesellschaftliche Inferiorität vorführt (die sich durch Großmauligkeit zu tarnen versucht), präsentiert Müllers Nux gewissermaßen das andere Ende der gesellschaftlichen Positionsmöglichkeiten im österreichischen Militär. Bei dem unter seinen Kameraden mit Spitznamen Nux gerufenen Wiener »Oberstleutnant im *ten Ulanenregiment« handelt es sich um Nicolaus Baron Rudolin, der, ohne recht zu wissen, wie ihm geschieht, verheiratet wird mit Prinzessin Malvine, Tochter des friesischen Herzogs Eberhard III. von Raus-Claus-Flausenthurn.30 Die reimenden Phantasienamen signalisieren bereits den satirischen Zuschnitt des Textes, der mit dem fiktiven Zwergstaat Flausenthurn mit seinen absonderlichen Hofschranzen, seltsamen Etikette-Vorstellungen und einer »Theaterzensur, wie sie nicht einmal in Berlin und Wien so üppig gedeihen kann« (161), bereits die ideale Vorlage für einen Operettenschauplatz liefert. Zur Handlung der Novelle  : Auf einer Europareise des regierenden Herzogs Eberhard mit seiner bereits 34-jährigen und noch unverheirateten einzigen Tochter kommen die Beiden auch nach Wien, wo Prinzessin Malvine Baron Nicolaus als Ehrenkavalier an die Seite gestellt wird. Die weltfremde und nur mäßig attraktive Malvine verliebt sich in Nicolaus, genannt Nux, und beauftragt ihren Vater, die Ehe zu arrangieren. Herzog 28 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1903–1908. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1991, Eintrag vom 2. April 1905, S. 129. Später gefällt Müller Schnitzler zwar persönlich »ganz wohl«, er bleibt aber bei seinem Urteil über »sein Buch der Abenteuer, das mir mißfällt und von dem er [i. e. Müller] sehr entzückt ist« (ebd., Eintrag vom 8. Juli 1905, S. 145), wenn er auch 1907 im Vergleich von Nabl und Müller konzediert, dass Müller zu den Autoren gehört, »die mehr Talent als Zeit haben, sich hetzen, innerlich und äußerlich« (ebd., Eintrag vom 18. Februar 1907, S. 256). 29 Zu Müller-Einigen vgl. Arthur Maibach  : Hommage an Hans Müller Einigen. Ein Schriftsteller zwischen Wien, Hollywood und Einigen. Neckenmarkt 2008. 30 Müller  : Nux, der Prinzgemahl, in  : Ders.: Buch der Abenteuer (Anm. 27), S. 161–205, hier S. 165.

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Eberhard ist einerseits entsetzt über diese drohende Mesalliance seiner Tochter, einer Erbprinzessin, mit dem kleinen österreichischen Oberstleutnant, andererseits erscheint ihm Malvines Wahl die letzte Möglichkeit, den drohenden Regentschaftsverlust im Hause Flausenthurn zu umgehen. Denn die Erbgesetze im Herzogtum sind perfide für die gegenwärtigen Familienverhältnisse, oder wie es der auktorial spöttische heterodiegetische Erzähler erläutert  : Die Verfassung seines Landes war absonderlich hinterhältig. Sie machte keinen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Thronfolge, und sein einziges Kind, die Prinzessin, war nach ihm zur Herrschaft berufen. Aber die Verfassung – und das war ihre Hinterhältigkeit – verlangte einen unmittelbaren Erben in der geraden Linie. Starb die regierende Fürstlichkeit, ohne einen unmittelbaren Erben zu hinterlassen, dann ging die Herrschaft auf die Linie derer von Raus-Claus-Grausenthurn über und vererbte sich hier von Geschlecht zu Geschlecht. (162)

Es muss also rasch ein Stammhalter her, und diese Notwendigkeit lässt Herzog Eberhard seine Standesdünkel hintanstellen. Mit intellektuell moderat anspruchsvollen Intrigen (von denen Malvine allerdings nichts weiß) arrangiert Herzog Eberhard eine Verlobung mit Zustimmung des Kaisers, ohne dass Nux jemals eingewilligt hätte. Mit der Hochzeit zwischen Nux und Malvine wechselt die Novelle den Schauplatz von Wien nach Flausenthurn, wo Nux in den Ehestreik eintritt. Gekränkt, so ungefragt hintergangen und vom Herzog für den Erhalt der Dynastie funktionalisiert worden zu sein, erklärt Nux seinem Schwiegervater unmittelbar vor der Hochzeitsnacht  : Nun, dann will ich lieber mit aller Deutlichkeit aussprechen, daß ich – es ist in der Tat etwas peinlich, in solchem Augenblick davon zu reden – aber ich kann mir nicht helfen, Hoheit, ich zweifle, ob ich für einen Ehemann eigentlich tauge  ? Mein Interesse für das andere Geschlecht war vordem so groß, daß ich es nun seit einiger Zeit – hm – nicht nach meinem Willen – verloren habe  ! (179 f.)

Der Novellentext lässt pikant in der Schwebe, ob Nux hier den Impotenten oder den Homosexuellen mimt.31 Das Ergebnis ist für die dynastischen Wunschträume Herzog Eberhards in beiden Fällen gleich niederschmetternd. Nux bezieht einen anderen Flügel im Flausenthurn’schen Schloss und sehnt sich von Heimweh geplagt zurück nach Wien. Er beginnt eine Affäre mit Gusti Berger, der Leiterin einer Wiener Damenkapelle auf 31 Zur (camouflierten) Homosexualität in der Operette vgl. Glitter and be gay. Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer. Hg. von Kevin Clarke, Adam Benz und Kurt Gänzl. Hamburg 2007.

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der Durchreise durch Flausenthurn. Hier ist die Novelle explizit, es handelt sich nicht bloß um einen harmlosen Flirt, sondern um eine körperliche Beziehung, die Nux mehr aus Heimweh als aus Verliebtheit eingeht. Gusti weiß nicht, dass es sich bei Nux um den Prinzgemahl von Flausenthurn handelt, und Nux wiederum weiß nicht, dass Gusti ihrerseits von Malvine angeheuert wurde, ihr nicht nur das Wiener Walzerspiel näherzubringen, sondern auch die Wiener Lebensart, um ihren Mann für sich zu gewinnen. In einem anagnoristischen Schlusstrubel klären sich die versteckten Identitäten auf, und Nux verliebt sich in seine nun wienerisch gewandete, Walzer spielende Gemahlin, deren Klavierspiel und neu erlernte Anmut die bescheidene Attraktivität kompensieren. Dem Fortbestand der Dynastie Raus-Claus-Flausenthurn steht fürderhin nichts mehr im Weg. Einzig Gusti Berger geht leer aus, aber das nimmt diese humoristische Novelle keinesfalls schwer. Diese Erzählung hat nun Felix Dörmann gemeinsam mit Leopold Jacobson transgenerisch in ein Operettenlibretto verwandelt, wobei Jacobson wohl vor allen Dingen für die prosaischen gesprochenen Zwischentexte und Dörmann für die lyrischen Gesangstexte zuständig war.32 Dass sich darüber hinaus weitere Jungwiener, »darunter Hofmannsthal«, am Librettobasteln beteiligt haben, wie Hilde Spiel behauptet,33 ist eine schöne Legende, die sich aber im Detail kaum nachweisen lässt, und im Falle Hofmannsthals geradezu unwahrscheinlich ist. Denn Hofmannsthal hegte gleichermaßen Distanzwünsche gegenüber Dörmann und Straus. In einem Brief an Richard Strauss versicherte Hofmannsthal, dass er sich sehr wohl des Niveau-Unterschieds zwischen Richard Strauss’ Kompositionen und denen der »Herrschaften dritten Ranges, die Lehár, Oscar Straus, Wolf-Ferrari« bewusst sei.34 Und bereits 1893 äußerte sich Hofmannsthal äußerst despektierlich über Dörmanns Lyrik, die ihm hauptsächlich durch die Ausdünstungen ihres Autors bemerkenswert erschien. Leopold von Andrian hielt in seinem Tagebuch folgendes Gespräch mit Hofmannsthal über Dörmann fest  : Dann kommt […] die Rede auf die Kunst  – auf Dörmann  – [Hofmannsthal  :] »nein, aufrichtig gestanden, er ist mir ein bisserl grauslich – er wascht sich nie recht – und dann, – ich find seine Gedichte so unsinnlich – so – – – voriges Jahr – das war gemein, da hat er mir seine 32 Vgl. Franz Mailer  : Weltbürger der Musik. Eine Oscar-Straus-Biographie. Wien 1986, S.  41. Helmut Schneider  : Felix Dörmann. Eine Monographie. Wien 1991, S. 300. Zum Problem der Überlieferung der gesprochenen Zwischentexte vgl. Albert Gier  : »Wär’ es auch nichts als ein Augenblick«. Poetik und Dramaturgie der komischen Operette. Bamberg 2014. 33 Hilde Spiel  : Glanz und Untergang  : Wien 1866–1938. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Hanna Neves. Wien 1987, S. 179. 34 Brief Hugo von Hofmannsthals an Richard Strauss vom 10. September 1910, in  : Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal  : Briefwechsel. Gesamtausgabe. Im Auftrag von Franz und Alice Strauss hg. von Willy Schuh. Zürich 31964, S. 103.

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Gedichte vorgelesen« – [Andrian  :] »Wie liest er denn« – [Hofmannsthal  :] »Er sperrt’s Zimmer zu, daß man nicht fortkann, und dann schwitzt er – «.35

Auch wenn Hofmannsthal sich hier mit einem klaren Bewusstsein der ästhetischen Superiorität äußert, so war doch der junge Felix Dörmann mit seinen Gedichtsammlungen Neurotica (1891) und Sensationen (1892) zu Beginn der 1890er Jahre durchaus anerkannter Teil der Jungwiener Autoren gewesen, obgleich Hermann Bahr schon früh die mangelnde poetische Eigenständigkeit und die epigonale Nähe zur Lyrik Baudelaires kritisiert hatte.36 Persönlich war er einigen Jungwienern suspekt, aber das Frühwerk fand durchaus Anerkennung. Repräsentativ für diese ambivalente Haltung ist hier Schnitzlers Bemerkung über Dörmann als »ein recht verlogener u[.] nichtiger Mensch, dem manche merkwürdig schöne Gedichte gelungen sind«.37 Bereits das lyrische Frühwerk ist geprägt von einer erotischen Schwüle, die die Trivialität nicht scheut. Der avantgardistische Fin de siècle-Exklusivanspruch schabt immer scharf am Klischee.38 Diese Kombination von ausgestellter Sinnlichkeit und Schablonenhaftigkeit, das Gefallen am Schlüpfrigen bewahrt sich der Operettenlibrettist Dörmann, nur signalisieren die Vorzeichen nicht mehr dekadent verschattetes Moll, sondern die Figuren und Stimmungen modulieren sich in eine fröhlich ausgelassene Champagnerseligkeit, wie sie dem Genre gemäß ist. Neu ist zudem neben der etwas penetranten Feierlaune der Figuren freilich auch der Humor, mit der Handlung und Reime gehandhabt werden, so auch im Libretto für den Walzertraum. Dörmann und Jacobson straffen die Handlung zeitlich. Während sich Müllers Nux, der Prinzgemahl ein knappes Jahr erzählte Zeit gönnte, um die Europareise, den Wien-Aufenthalt nebst Verlobung, die Hochzeit mit ausgefallener Hochzeitsnacht in Flausen­thurn und die Affaire von Nux und Gusti (beginnend erst einen Monat nach der Hochzeit) bis zur Schlussauflösung auszubreiten, verkürzt das Libretto die Handlung auf einige Stunden (für die ersten beiden Akte) vom Hochzeitstag in Flausenthurn bis zur chaotisch ausgebüxten Hochzeitsnacht, und setzt dann – nach einem unbestimmt bleibenden – Zeitsprung von einigen Wochen im dritten Akt wieder ein, nachdem die Leiterin der österreichischen Damenkapelle der Erbprinzessin erfolgreich die Wiener Lebensart nahegebracht hat. Damit konfrontiert die Operette auch nicht mehr direkt 35 Leopold von Andrian  : Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte. Hg. von Ursula Prutsch und Klaus Zeyringer. Wien, Köln, Weimar 2003, Eintrag vom 12. Dezember 1893, S. 34. 36 »Er redet nicht aus dem Leben  : er redet immer aus fremden Literaturen. Seine Schmerzen sind von Baudelaire und seine Wünsche sind von Swinburne« (Hermann Bahr  : Das junge Oesterreich, in  : Deutsche Zeitung vom 20. September [S. 1 f.], 27. September [S. 1 ff.] und 7. Oktober 1893 [S. 1 ff.], hier 27. September, S. 1). 37 Tagebucheintrag Schnitzlers vom 25. Juni o. J. zitiert nach Arthur Schnitzler  : Briefe 1875–1912. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1981, S. 806. 38 Vgl. auch Jens Malte Fischer  : Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978, S. 114–124.

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die Orte Wien und Flausenthurn  ; die gesamte Handlung spielt nun in Flausenthurn (der erste Akt im Prunksaal des Schlosses, der zweite Akt in einem Restaurationspark mit Musikpavillon und der dritte Akt wieder im Schloss). Wien ist damit nicht mehr Schauplatz, sondern Sehnsuchtsort dieser Tanzoperette. Während die Einheiten von Zeit und Ort von Jacobson und Dörmann so geradezu aristotelisch gemäßigt werden, vervielfältigt sich das Personal  : Die Novelle konzentrierte sich auf zwei Flausenthurner (Malvine und ihren Vater Eberhard) und zwei Wiener (Nux und Gusti Berger). Das Libretto stellt diesen Protagonisten jeweils Dienerfiguren an die Seite und vergrößert so die Parteien. Die Prinzessin (die jetzt nicht mehr Malvine, sondern Helene heißt) erhält Unterstützung durch ihre Oberkammerfrau Friederike von Insterburg. Der Wiener Leutnant, in der Operette als Leutnant Niki tituliert, bespricht seine Probleme mit seinem Regimentskameraden Leutnant Montschi, und der leicht senile regierende Fürst von Flausenthurn (jetzt nicht mehr Eberhard, sondern Joachim XIII.) wird in seinen Bemühungen um den Erhalt der Dynastie trottelig kalauernd unterstützt von Graf Lothar, dem Vetter des Fürsten, und Wendolin, dem Hofminister. Und auch die Antipodin der Prinzessin, die Leiterin der Wiener Damenkapelle, die bei Dörmann und Jacobson Franzi Steingruber genannt wird, erhält Hilfe von der Geigerin Annerl und der Tschinellenfifi. Somit wäre ein stattliches Operettenensemble beisammen. In der spätestens seit der Lustigen Witwe üblichen Operettenkonfiguration ergibt sich so ein ernstes Paar (Helene/Niki), ein komisch-tanzendes Paar (Montschi/Annerl), eine Menge lächerlicher Alter ( Joachim XIII., Graf Lothar, Wendolin) und eine Reihe von assistierenden Dienerfiguren (Friederike, Sigismund).39 Die Wiener Leutnants verkörpern selbstredend Tenöre, die Dirigentin der Damenkappelle wird von einer Soubrette gegeben, und Prinzessin Helene stellt eine elegische Sopranrolle dar. Aus Hans Müller-Einigens Nux, der Prinzgemahl wird nun Ein Walzertraum. Das neologistische Titelkompositum verbindet das musikalische Markenzeichen der Wiener Tanzoperette mit einem der wichtigsten Themen des literarischen Jung-Wien. Schon vor Freud und dann in intensiver Auseinandersetzung mit Freuds Schriften schreiben die Jungwiener Autoren über die verwischten Grenzen zwischen Traum und Wachwelt und leuchten in psychologischer Introspektion die Funktionen und Auswirkungen von Träumen aus.40 Hier in der Operette signalisiert der Titel innerfiktional auch die Kon39 Zu diesem Schema vgl. Lichtfuss  : Operette im Ausverkauf (Anm. 14), S. 63–66. Thorsten Stegemann  : »Wenn man das Leben durchs Champagnerglas betrachtet …«. Textbücher der Wiener Operette zwischen Provokation und Reaktion. Frankfurt a. M. 1995. In gewisser Weise weicht Dörmann von diesen Paarungen aber auch ab, da sich zwischendurch ja auch ein gemischt ernst-komisches Paar in Niki und Franzi zusammenfindet. Auch dass Franzi zum Schluss allein bleibt, stellt eine Besonderheit dar. 40 Vgl. etwa Michaela  L. Perlmann  : Der Traum in der literarischen Moderne. Untersuchungen zum Werk Arthur Schnitzlers. München 1987.

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notation von ›Wunschtraum‹, denn für das süße Mädel Franzi Steingruber bleibt die Beziehung zum Prinzgemahl nur eine kurze Episode  ;41 der gesamte zweite Akt erscheint als eine unwirkliche karnevalistische Traumwelt, in der die höfischen Regeln außer Kraft gesetzt werden und der Hofstaat sich im Dreivierteltakt aus dem steifen Zeremoniell katapultiert. Der fiktive Zwergstaat Flausenthurn als Handlungsort bietet die – seit Offenbachs Grand-Duchesse de Gerolstein (1867) beliebte – Möglichkeit, Chaos, Borniertheit und Inkompetenz eines überalterten anachronistischen Hofzeremoniells in einer Residenz von Spielzeuggröße vorzuführen. Das »geschichtlich überholte Scheinidyll dieser kleinen Welt ist überempfindlich«, und an diesem überschaubaren Ort der Kleinst-Residenz »geht alles drunter und drüber, eben weil sie so winzig ist«.42 Aristokratischer Dünkel und hochnäsiger Anspruch des Hofstaats stehen dabei in denkbar scharfem Gegensatz zur absoluten politischen Bedeutungslosigkeit Flausenthurns, was bereits Müller in seiner Novelle betonte, wenn er beim Einzug des Herzogs in Wien zu Bedenken gibt  : »Kein Mensch, soweit die Stadt reichte, wußte […] zuverlässig anzugeben, wer eigentlich dieser Herzog sei und wo sein Herzogtum liege. Kein Mensch war sich auch darüber klar, warum man aus dem Anlasse seiner Ankunft die Häuser beflaggte« (164).43 Als Nux dann in Flausenthurn eintrifft, »ward er vom Herzog, seiner Braut, dem ganzen Hofstaat, den Spießern der Beamtenschaft und einem Volksgewoge von etwa vierzig Nichtstuern empfangen« (176). Diese Szene, die mit dem »Volksgewoge von etwa vierzig Nichtstuern« deutlich macht, wie winzig, lächerlich und unbedeutend dieses Herzogtum mit seinem auf seine historische Wichtigkeit so viel Wert legenden Hofstaat ist, greift die Operette als Eingangsszene auf. Ein Chor von Flausenthurnern sorgt sich, dass Prinzessin Helene eine nicht-standesgemäße Ehe eingegangen ist  : »Wo kommt der Gatte her  ? / Ist ebenbürtig er  ?«44 Helenes Oberkammerfrau versucht zwar zu beschwichtigen und betont  : »Er ist ein Kavalier / Und überdies auch Offizier« (3), allein die Flausenthurner sind äußerst skeptisch, und das nicht nur wegen des niedrige41 Vgl. Linhardt  : Residenzstadt und Metropole (Anm. 9), S. 273 f. 42 Volker Klotz  : Operette. Portrait und Handbuch einer unerhörten Kunst. Erweiterte und aktualisierte Auflage. Kassel, Basel 2004, S. 135. 43 Weiter heißt es in Nux, der Prinzgemahl  : »aber es war doch immerhin eine beträchtliche, jubelnde Begeisterung in der scharenweise längs des Weges angesammelten Bevölkerung, als der Wagen die Hoheiten durch die festlich geschmückten Straßen trug. ›Wer is dös  ?‹ fragte ein Bürger den andern. ›Weiß ich net, halt die Firschtlichkeiten‹ – erwiderte dieser darauf, worauf beide in laute Hochrufe ausbrachen und mit den Schnupftüchern schwenkten« (164). 44 Felix Dörmann und Leopold Jacobson  : Gesangstexte. Ein Walzertraum. Operette in drei Akten (mit Benützung einer Novelle aus Hans Müllers »Buch der Abenteuer«). Musik von Oscar Straus. Leipzig, Wien 1907, S. 3. Im Folgenden wird aus diesem Textbuch im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

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ren Adels (»ein armer kleiner Graf – / Ihm gab’s der Herr im Schlaf« [3], »Mesalliance macht stets Verdruß« [4]), sondern auch wegen der Landsmannschaft. Österreich-Stereotype und Wien-Vorurteile werden die gesamte Operette hindurch mit Wonne entfaltet, dem Flausenthurn’schen Spießer opponiert und in einem Wirbel von Fremd- und Selbstbildern durchgespielt. Das Gegeneinander von Flausenthurn und Wien ist dabei einerseits eine Möglichkeit, um, kaum kaschiert, Preußen- und ÖsterreichStereotype zu entfalten. Flausenthurn erscheint als eine Miniaturausgabe von Preußen mit einem Ordnungs- und Pünktlichkeitswahn, ein biederer, trocken unmusikalischer und langweiliger Ort, dem alle Leichtlebigkeit und Grazilität abgeht.45 Damit beteiligt sich dieses Operettenlibretto nicht nur allgemein an den beliebten Österreich-PreußenDichotomien, sondern setzt auf spezifische Weise auch die Bemühungen der Jungwiener Autoren um Abgrenzung von der Berliner Moderne fort.46 Gleichzeitig bietet das fiktive Flausenthurn aber auch die Möglichkeit, mit Verkrustetheiten und überständigem Hofgebaren im eigenen Land abzurechnen. Das Wiener Publikum bei der Uraufführung im Carl-Theater konnte sich sowohl über die bornierten Preußen amüsieren als auch, wenn es dazu gewillt war, in einer zweiten Lesart die Vorwürfe gegen die Wiener selbst wahrnehmen. In diesem Zwielicht von Preußenkarikatur und österreichischem Zerrspiegel präsentiert sich Flausenthurn im ersten Akt des Walzertraums.47 Aus Flausenthurn’scher Perspektive erscheint dabei Wien als Lasterpfuhl  : »In Wien, wo’s keine Tugend gibt« (4), hat sich die Erbprinzessin verliebt in einen österreichischen Leutnant, und das kommentiert der Flausenthurn’sche Leiblakai Sigismund folgendermaßen  : »Ein Schwiegersohn aus Österreich, / Das färbt die Haare rascher bleich – – / Ich kenne diesen Menschenschlag – / Man tut dort nichts bei Tag, bei Tag« (5). Der Vorwurf der Leichtlebigkeit scheint vom Auftritt des Leutnants Niki bestätigt zu werden, der sich über das Flausenthurn’sche Zeremoniell lustig macht, dem Hofstaat Doppelmoral vorwirft und sich als »richtiger Schwerenöter« (7) vorstellt. Wien ist in Nikis Auftrittsarie das Ideal »einer andern Welt, / […] einer Welt voll Leben« (6), und dieses Leben zeichnet sich (gegenüber dem verknöcherten Flausenthurn) durch einen von lässiger Schönheit durchwirkten Alltag aus  : »Alles, was keck und fesch, / Alles, was chic und resch« (6) ist, bildet das Vorbild für Niki. Seine Lebensmaximen sind der »Wie45 Vgl. hierzu auch Linhardt  : »Der Wiener Stoff ist […] nicht unumgänglich nothwendig, wenn nur die Wiener Seele in ihr lebt  !« (Anm. 7), S. 220. 46 Vgl. hierzu Peter Sprengel und Gregor Streim  : Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Wien, Köln, Weimar 1998. 47 Zu diesen Mehrdeutigkeiten in der Wiener Operette, die eine eindeutig affirmative oder kritische Einordnung verunmöglichen, vgl. auch allgemein Stefan Schmidl  : Identitätskonstruktion und Urbanität in der Wiener Operette, in  : Musik in Leipzig, Wien und anderen Städten im 19. und 20. Jahrhundert  : Verlage – Konservatorien – Salons – Vereine – Konzerte. Hg. von Stefan Keym und Katrin Stöck. Leipzig 2011, S. 261–271.

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ner Schneid« und die »Wiener Feschigkeit« (7). Den Preußen-Österreich-Gegensatz des Librettos greift die Musik von Oscar Straus auf. Auf Flausenthurn’scher Seite gibt es einen steif-behäbigen Einzugsmarsch, eine prunkvoll-schwerfällige Hymne mit viel »Staatsblech« (Volker Klotz) und sonst eher tiefe Ödnis, während die Leutnants aus Wien nicht nur mit dem titelgebenden Walzer aufwarten, sondern auch unterhalten mit Schnellpolkas, rasanten Geschwindmärschen und einer kollektiv pfeifenden, leicht frivolen Damenkapelle. Während sich Dörmann in seinem Frühwerk um ästhetische Schwebezustände und gesuchte Reime bemühte und seltene Blumen in erlesene Interieurs violett-silberner Färbung platzierte, ist er sich in der Operette nicht zu schade für derbe Kalauer und ausgesprochen schiefe Reime. Dörmann nutzt die Kürze der Verse zum komischen ­Effekt (»Daß er das erleben muß  ! / Mesalliance macht stets Verdruß« [4]), verulkt das höfische Zeremoniell mit pleonastischer Fremdwortdichte (»Ich fühle mich sehr ennuyiert, / Ermüdet und höchst fatiguiert« [12]) und setzt ganz bewusst auf den kalauernden Reim in der Seufzerreprise  : »Und die arme Dynastie – / So was überlebt sie nie  !« (12). Bemerkenswert erscheint, wie Dörmanns Gesangstext die zeitgenössische Diskussion um vermeintlich »goldene« und »silberne« Operettenperioden metagenerisch reflektiert.48 Der 1907 uraufgeführte Walzertraum spielt in der Gegenwart, aber das besungene Wien der Protagonisten ist ihnen nicht gegenwärtig und der Text verunklart dabei, ob es sich um eine räumliche oder zeitliche Distanz handelt. Leutnant Niki und Leutnant Montschi stimmen im norddeutschen Flausenthurn ein »Walzerduett« an, das Wien zugleich als lokal abwesend und zeitlich vergangen beschwört  : Da draußen im duftigen Garten, (Gebannt blieb ich plötzlich zurück) Da hörte ich lockende Klänge, Die echteste Wiener Musik. Es waren berückende Weisen, Bald jubelnd, bald sehnsuchtsbang, Der süßeste Wiener Walzer, Der innigste Liebessang. Ein Schluchzen war es und Klagen, Ein Lachen und Weinen zugleich, Das Lied aus vergangenen Tagen 48 Vgl. zur zeitgenössischen Diskussion die Quellensammlungen von Marion Linhardt (Hg.)  : »Warum es der Operette so schlecht geht«. Ideologische Debatten um das musikalische Unterhaltungstheater (1880– 1916). Wien, Köln, Weimar 2001. Dies. (Hg.)  : Stimmen zur Unterhaltung (Anm. 25).

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Erschloß mir das Himmelreich. […] Komm, laß uns dort lauschen und singen, Befreien das schwere Gemüt Durch schmeichelnde Walzer und Weisen, Von heimischem Feuer durchglüht  ! Wir wollen die Augen verschließen, Die goldene Zeit kehrt zurück Wir dürfen selig genießen Die Liebe, den Lenz, das Glück. (12 f.)

Innerfiktional singen Leutnant Montschi und Leutnant Niki hier von ihren eigenen unmittelbar zurückliegenden Tagen in Wien. Das Publikum allerdings kann diese Beschwörung des Walzers »aus vergangenen Tagen« und die Hoffnung darauf, dass die »goldene Zeit« wiederkehren wird, auch auf zeitgenössische Diskussionen um vermeintlich »goldene« und »silberne« Operettenzeiten beziehen. Augenzwinkernd wird aber auch schon deutlich gemacht, dass eine solche Rückkehr nicht wirklich möglich ist, sondern nur provisorisch gelingt, wenn man sich zur Realitätsflucht rüstet  : »Wir wollen die Augen verschließen« vor der Gegenwart. Das Libretto des Jungwieners Dörmann inszeniert und dekonstruiert so gleichzeitig den Mythos von Alt-Wien. Auch die zeitgenössische Diskussion darüber, ob eine Operette mit ihrer harmonisch leichten Fülle des Wohllauts, der tragikarmen Handlung, dem notorisch glücklichen Ausgang und den adlig begüterten, in Frack gewandeten und Champagner schlürfenden Gestalten mit ihren Luxusproblemchen nun eher sozialkritisch revolutionär oder adelsadorierend quietistisch zu verstehen sei, kann man in der Handlungsfolge des Walzertraums reflektiert sehen. Während die ersten beiden Akte im verklemmten Flausenthurn lustvoll größtes Chaos inszenieren, in einem frechen Geschlechterrollenvexierspiel Leutnant Niki als männliche Lysistrata streiken lassen und zumal die ältere Generation des Hauses Flausenthurn als durch und durch lächerliche Personnage sezierend vorführen, bändigt der dritte Akt all die witzig-anarchische Unordnung des Beginns, zähmt den ausgebüxten Leutnant und setzt ehedidaktisch auf den bürgerlichen »Zauber der stillen Häuslichkeit«. Volker Klotz hat dieses Auseinanderfallen in zwei Teile als ästhetisches Defizit bemängelt  : »Der stilistische Riss geht mitten durch diese Operette […]. Nicht nur dramaturgisch macht sich der Riss bemerkbar im Umschwung von Ausbrecherei zu Domestikation, von Rausch zu Verzicht. Auch musikalisch«.49 Gleichwohl kann man dieses Auseinanderklaffen vielleicht doch auch als ein Vorführen der beiden 49 Klotz  : Operette (Anm. 7), S. 660.

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Wirkungsmöglichkeiten der Operette zwischen Rebellion und Sedativ, zwischen Provokation und Reaktion verstehen.50 Um mangelnde Stammhalter im adligen Hause dreht sich auch das zweite Textbuch von Dörmann für Straus, das Dörmann nach vielen weiteren Operettenlibretti 1919 verfertigte.51 Die galante Markgräfin wurde in der Wiener Volksoper 1919 uraufgeführt und war, im Unterschied zum Walzertraum, kein großer Erfolg.52 Wieder wählt Dörmann als Schauplatz eine deutsche Residenz, dieses Mal allerdings in »Süddeutschland«, und er verlegt die Handlung in die Vergangenheit, ins Jahr 1770. Dass die Handlungszeit historisch entrückt wird, erklärt sich wohl auch daraus, dass mit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie 1918 die Operette ihre Basis verlor, »die Grundlage dessen, was sie auszudrücken bestimmt war  : die Gesamtmonarchie« und eine aristokratische Welt der Bevorzugten.53 Der Adel war im Adelsaufhebungsgesetz von 1919 abgeschafft worden, und so war es probat, das Personal historisch zurückzuversetzen in eine vorrevolutionäre Zeit, in der die Stellung des Adels noch unhinterfragt war  ; so wurde die Handlung in eine unbedeutende Residenz des 18. Jahrhunderts verlegt, 19 Jahre vor der Französischen Revolution spielend  : Die junge Markgräfin langweilt sich mit ihrem alten Gatten und trifft in einem Dorf nahe bei ihrem Schloss auf den armen Bauern Hans, mit dem sie als Kind gemeinsam gespielt hat, bis der Hof dies als nicht-standesgemäßes Verhalten untersagt hat. Hans ist allerdings gerade frisch verlobt mit dem Dorfmädchen Lisbeth und hin- und hergerissen zwischen alter und neuer Liebe. Durch Irrtümer und Intrigen wird Hans an den Hof be50 Vgl. Stegemann  : »Wenn man das Leben durchs Champagnerglas betrachtet…« (Anm. 39). 51 Nach dem Walzertraum verfasste Dörmann 1908 für die Operette Bub oder Mädel von Bruno Granichstaedten den Text, 1911 für Granichstaedtens Operette Majestät Mimi (gemeinsam mit Roda Roda). Für Edmund Eyslers Der unsterbliche Lump schrieb er 1910 den Text, 1912 folgte Die liebe Unschuld mit Musik von W. Lirsky, 1913 Flora Bella mit Musik von Ch. Cuvillier, 1914 Was tut man nicht alles aus Liebe mit Musik von Leo Ascher, 1915 Das Finanzgenie mit Musik von Hans Kottow, 1916 Arizonda mit Musik von Jean Gilbert und 1918 Die Lily vom Chor mit Musik von K.  Komjathy. Vgl. zu dieser professionellen Operettenproduktion Schneider  : Felix Dörmann (Anm. 32), S. 298–319. Schneider hat zudem den Nachlass Dörmanns gesichtet und bilanziert  : »Bis zu seinem Tod im Jahre 1928 sollte dann kaum mehr ein Jahr vergehen, in dem kein neues Produkt aus der Operettenwerkstatt Dörmann das Licht der Theaterwelt erblickte. Im Nachlaß findet sich eine erstaunliche Menge an Entwürfen und fertigen Libretti, die meines Wissens nach niemals aufgeführt wurden« (ebd., S. 303). 52 Vgl. Mailer  : Weltbürger der Musik (Anm. 32), S. 106. Dörmann bearbeitete für Die galante Markgräfin die musikalische Komödie Das Tal der Liebe, die 1910 in der Wiener Volksoper uraufgeführt worden war (Das Tal der Liebe. Eine musikalische Komödie in drei Aufzügen [nach Max Dreyer]. Musik von Oscar Straus. Text von Rudolf Lothar. Leipzig 1910). Vgl. Christoph Wagner-Trenkwitz und Felix Brachetka  : »… dass die beste Zauberflöte stets die lustige Witwe blasen wird«. Operette an der Volksoper Wien (I)  : 1904–1938, in  : Welt der Operette. Glamour, Stars und Showbusiness. Hg. von Marie-Theres Arnbom, Kevin Clarke und Thomas Trabitsch. Wien 2011, S. 166–177, hier S. 171. 53 Lichtfuss  : Operette im Ausverkauf (Anm. 14), S. 21.

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stellt und ausgerechnet vom Markgrafen selbst zum Soldaten und Grenadier bestimmt, der vor dem Schlafzimmer seiner Frau Wache halten soll. Eine vom alten Markgrafen penibel vorbereitete Liebesbegegnung mit seiner eigenen Frau (um den Fortbestand der Dynastie voranzutreiben) kommt nicht zustande, da der alte Markgraf vom Wein benebelt einschläft. So kommt, was kommen muss  : Am Ende des zweiten Aktes finden Hans und die Markgräfin zusammen. Der fallende Vorhang des zweiten Akts verdeckt und betont zugleich den Ehebruch der galanten Markgräfin. Der dritte Akt spielt wieder im Dorf des ersten Akts und lässt Hans reumütig zu seiner Verlobten zurückkehren. Die Markgräfin versucht dies noch kurz zu verhindern (dominant in einer Husarenuniform in »Lackstiefeln mit Sporen«, »die Reitpeitsche schwingend«54), fügt sich schließlich aber in ihr Schicksal, während ihr Mann sich freut, dass sich Nachwuchs im gräflichen Hause ankündigt. Dass dieser sich allerdings eher dem erotischen Engagement von Hans als dem markgräflichen Schlummer verdankt, kann sich der Zuschauer denken, als der Schlusschor jubelt  : »Kinderlieder, Kinderlieder – / Glücklich sind wir wie noch nie  ! / Heil und Segen sank hernieder, / Hoffen darf die Dynastie  !« (62) Während das reale Haus Habsburg gerade abgesetzt worden war, feiert diese Spieloper an der Wiener Volksoper 1919 den Fortbestand einer fiktiven spielzeuggroßen Dynastie, freilich unter zweifelhaften Umständen der bürgerlichen ›Blutauffrischung‹. Auch hier steht, wie im Walzertraum, ein Rebell im Mittelpunkt der Handlung, der (letztlich vergeblich) versucht, aus den ihm auferlegten Zwängen des Hofzeremoniells auszubüxen. Zeichnete im Walzertraum Dörmann Leutnant Nikis Flucht vor den Flausenthurn’schen Obliegenheiten nach, so wehrt sich die galante Markgräfin schon in ihrer Auftrittsarie gegen die an sie herangetragenen Erwartungen, sehnt sich nach der unbeschwerten Kindheit mit Hans zurück und rächt sich an ihrer Umgebung nicht wie Niki durch Ehestreik, sondern durch Ehebruch. Auffällig am Textbuch ist die Namensgebung, durch die Dörmann in doppelter Weise an Offenbachs Praxis der Opernparodie anknüpft. Die Markgräfin heißt Isolde, und der zweite Akt entfaltet sich als kichernde Tristan-Karikatur. Dass es sich bei den Protagonisten nicht schlicht um ein gräfliches Paar, sondern speziell um ein »markgräfliches« handelt, mag man als weiteren intertextuellen Verweis betrachten, mit dem Dörmann augenzwinkernd auf die Dreieckskonstellation Isolde, Marke und Tristan bei Richard Wagner anspielt. Bei Wagner wie Straus wird das ehebrecherische Paar von Sopran und Tenor, der betrogene ältere Ehemann von einem Bass gegeben.55 Auch eine BrangäneFigur findet sich bei Dörmann und Straus  : Die Kammerfrau von Prillwitz wird von der 54 Oscar Straus, Felix Dörmann  : Die galante Markgräfin. Spiel-Oper in drei Akten. Textbuch. Leipzig, Wien 1919, S. 56. Im Folgenden wird aus dem Textbuch im fortlaufenden Text mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert. 55 Vgl. Felix Dörmann  : Die galante Markgräfin. Spieloper in 3 Akten. Musik von Oscar Straus. Klavierauszug. Leipzig, Wien 1919, S. 2.

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Markgräfin Isolde als Botin und Wächterin instrumentalisiert.56 Und schließlich spielt das Liebesduett von der Gräfin und ihrem Hans am Ende des zweiten Aktes immer wieder auf den zweiten Aufzug des Tristan an. Wenn Isolde und Hans ihre Liebesnacht besingen mit der Phrase »Verschwunden ist der grelle Tag« (46), so alludiert dies deutlich Tristans Klage gegen den »tückischen Tage, / dem härtesten Feinde«.57 Während Tristan und Isolde noch inständig von der »Nacht der Liebe« erflehen  : »Löse von / der Welt mich los  !«,58 kann Hans bereits jubeln  : »Die Welt ist uns verschwunden« (46). Bezieht sich der zweite Akt von Straus’ Spieloper so parodistisch auf Wagners Tristan und Isolde, ruft der dritte Akt andere Wagner-Assoziationen hervor. Die Situation des aus einem »Zauberschloß« (51) vor einer betörenden Frau fliehenden Mannes alludiert Wagners Tannhäuser.59 So wie Tannhäuser am Ende des ersten Aufzugs aus dem Venusberg entkommt zurück zu seiner Landgräfin Elisabeth, so schickt auch Dörmann Hans zurück in sein Dorf.60 Auch hier indizieren wieder die weiblichen Vornamen die intertextuellen Bezüge  : Hans’ Verlobte wird »Lisbeth« gerufen als Verkürzung von Elisabeth. Zu einer Wiener Operette des frühen 20.  Jahrhunderts gehörte obligatorisch ein Wiener Walzer, nun spielt aber Die galante Markgräfin im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, 1770, also 20 Jahre bevor um 1790 die ältesten bekannten Walzer komponiert wurden.61 Seinen Siegeszug trat der Wiener Walzer ja erst nach dem Wiener Kongress 1815 an. Straus’ Spieloper begegnet diesem chronologischen Problem mit Humor und thematisiert es direkt. Im zweiten Akt tritt im Schloss des Markgrafen dessen rein weibliches Ballett auf und tanzt ein Menuett, woraufhin die Markgräfin fehlende männliche Tänzer beklagt und sich explizit einen Walzer wünscht, der dann auch von Soldaten mit 56 Während Wagners Brangäne ihre Rolle geradezu inbrünstig ausfüllt, wehrt sich Frau von Prillwitz allerdings vehement gegen die ihr zugedachten Aufgaben. 57 Richard Wagner  : Tristan und Isolde, Die Meistersinger, Parsifal. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a. M. 1983 (Dichtungen und Schriften, Bd. 4), S. 42. 58 Ebd., S. 48. 59 »Mir ist’s als hätt’ ich ein Märchen erlebt  ; / Es sitzt eine Fee im Schlosse und webt / Den Zauber um des Liebsten Glieder. / Sie singt die süßesten Liebeslieder, / Sie kraut ihm das Haar mit weicher Hand, / Umschlingt sein Herz mit magischem Band. / Und wer ihr verfallen kehrt nie wieder. – / Und wär’ ich geblieben im Zauberschloß, / Das Haupt gebettet in ihrem Schoß, / so hätt’ ich, berückt von dem göttlichen Leib, / Vergessen die Heimat, vergessen mein Weib« (51). 60 »Aber das Heimweh ist aufgewacht. / Ich bin vom Schlosse durchgebrannt, / Und flieh von hinnen ins fremde Land. / Vorher jedoch, ein letztes Mal, / Begrüß’ ich meiner Heimat Tal. – / Und Lisbeth, Lisbeth will ich bitten, / Verzeih’, was du durch mich gelitten« (51). 61 Norbert Linke  : Zur Frühgeschichte des Walzers. Symposiumsbericht von Thomas Nußbaumer & Franz Gratl. Buchbesprechung, in  : Neues Leben. Mitteilungsblatt der Deutschen Johann Strauß Gesellschaft 47 (2014), S. 87–90. Zur Frühgeschichte des Walzers. Hg. von Thomas Nußbaumer und Franz Gratl. Innsbruck 2014.

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den Ballett-Tänzerinnen ausgeführt wird. Dass sich Dörmann und Straus damit bewusst einen Anachronismus leisten, macht der Text aber eigens deutlich. Nachdem die Markgräfin das Menuett kritisiert hat  : »Ja, ja, es ist ganz nett, / Nur fehlt der Schwung und die Finesse« (33), entgegnet der Markgraf  : »Es ist historisch echt« (34), woraufhin die Markgräfin konzedieren muss  : »Ja, ja sie haben recht, / Ich folg’ dem Tanze mit Interesse.« (34) »Historisch echt« sind zwar die Menuette, die Walzer in der Galanten Markgräfin allerdings natürlich nicht, aber der zweite Akt fingiert so musikgeschichtlich die Entstehung des Walzers aus der erotischen Unzufriedenheit mit dem Menuett. Während der Walzertraum vor dem Ersten Weltkrieg eine Apotheose des feschen Wiener Leutnants bot, zeigt sich Die galante Markgräfin 1919 durchaus behutsam militärkritisch. Der Markgraf macht Hans zum Soldaten, der das aber nicht will und sich dagegen vergeblich wehrt. Ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mag der zeitgenössische Zuschauer die Worte von Hans daher auch auf die eigene Situation beziehen  : »Mein Leben lang Soldat  ? / Das will ich nicht, / Das mag ich nicht, / Da schickt mich lieber / Aufs Hochgericht  !« (29) Als Hans im letzten Akt schließlich zu seiner Verlobten zurückkehrt, da ist dies nicht nur eine private Flucht aus seinem markgräflichen Venusberg, sondern erfüllt auch militärrechtlich den Tatbestand der Desertation. Allerdings wird der Delinquent eigentümlich tituliert  : »Der verschwunden  – o Malheur  – / Der geliebte Deserteur  !« (54) Auf diese Weise gibt Dörmann dieser in der Vergangenheit spielenden Operette indirekt auch einen aktuellen politischen Zeitbezug.

2. Von der Burleske zum Singspiel Der tapfere Cassian (1904/1909) von Arthur Schnitzler

Nach Felix Dörmann war Arthur Schnitzler der zweite prominente der Jungwiener Autoren, der sich auf eine musikalisch-literarische Zusammenarbeit mit Oscar Straus einließ. Er arbeitete sein Puppenspiel Der tapfere Cassian (1904) zum Libretto des kurzen Singspiels in einem Aufzuge Der tapfere Kassian um, das 1909 am Leipziger Stadttheater uraufgeführt wurde.62 Die Bemühungen, das Singspiel dann 1911/1912 auch in Wien zur Aufführung zu bringen, verliefen einigermaßen unglücklich, wozu wohl unterschwellig auch die unausgesprochene Konkurrenz zu dem gleichzeitigen Riesenerfolg des Rosenkavaliers (1911) von Hofmannsthal und Richard Strauss in Dresden beigetragen hat. Aus einer geplanten Aufführung des Kassian an der Wiener Hofoper wurde 62 Bei der Leipziger Uraufführung war Der tapfere Kassian eingerahmt durch zwei weitere Einakter von Straus. Zuvor wurde der Einakter Colombine (1904) gegeben, und auf den tapferen Kassian folgte als zweite Uraufführung des Abends das Fasnachtsspiel Venus im Grünen, mit einem Text von Rudolf Lothar.

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jedenfalls nichts (weil der neue Direktor Hans Gregor befand, dass »Oscar Straus nicht in die Oper« gehört63) und es kam lediglich zu einer mäßig erfolgreichen ConcordiaMatinee im auf Operetten spezialisierten Carl-Theater am 17. März 1912, bei der die Schnitzler’sche/Straus’sche-Koproduktion an den Rand gedrängt wurde durch den Publikumsmagneten Alexander Girardi, der dann noch neue Fiakerlieder nach dem Cassian zum Besten gab.64 Das Puppenspiel Der tapfere Cassian gehört zu den 1906 von Schnitzler zusammengefassten drei Einaktern Marionetten und bildet dessen Mittelteil nach Der Puppenspieler. Studie in einem Aufzug und vor Zum großen Wurstel. Burleske in einem Akt. Beendet wurde es 1902 und 1904 erstmals einzeln abgedruckt in der Neuen Rundschau. In diesem Erstabdruck trug es noch den generischen Untertitel Burleske in einem Akt.65 Alle drei Einakter der Marionetten kreisen in unterschiedlicher Weise um die Frage nach der Selbstbestimmung des Menschen, inwieweit er über einen freien Willen verfügt und sein Leben zielgerichtet zu gestalten vermag oder von anderen Menschen oder Mächten »marionettenhaft« gelenkt oder determiniert ist. Während der erste Einakter des Zyklus eine Figur (von einem Schauspieler, nicht von einer Puppe verkörpert) in den Mittelpunkt rückt, die irrigerweise meint, ihre Umgebung wie Marionetten lenken zu können und als Puppenspieler des Lebens die Fäden in der Hand zu halten, präsentiert der Schlussteil der Trilogie ein Marionettentheater auf dem Wiener Prater samt Zuschauern  : Theater auf dem Theater. Dazwischen steht Der tapfere Cassian, der sich zwar im Untertitel der Buchfassung als Puppenspiel ausweist, aber noch von menschlichen Schauspielern präsentiert wird. Dieser Einakter verbindet die Frage nach der Wechselhaftigkeit und Unberechenbarkeit des Schicksals mit einer literaturtheoretischen Selbstreflexion, die das Illusionstheater selbst parodistisch ad absurdum führt. Der 15-seitige Einakter spielt am Ende des 17. Jahrhunderts in einem Dachzimmer einer kleinen deutschen Stadt und beginnt mit einer Abschiedsszene. Der Flötenspieler Martin will seine Geliebte Sophie verlassen, weil er durch Glücksspiel reich geworden einer dämonisch-faszinierenden Tänzerin nachreisen möchte, als plötzlich sein Vetter, die Titelgestalt, der tapfere Cassian auftaucht. Sophie, die zuvor noch Martin nachjammerte, verliebt sich spornstreichs in den aufschneiderischen Titelhelden, einen Soldaten, der Martin erst seine Geliebte, danach in einem Würfelspiel sein Geld und schließlich in 63 So äußerte sich Hans Gregor im Gespräch mit Schnitzler  ; vgl. Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1909–1912. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Maria Neyses, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1981, Tagebucheintrag vom 23. März 1911, S. 228. 64 Zu Details vgl. Mailer  : Weltbürger der Musik (Anm. 32), S. 59–71. 65 Arthur Schnitzler  : Der tapfere Cassian. Burleske in einem Akt, in  : Die Neue Rundschau 15 (1904), S. 227–247.

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einem Duell das Leben nimmt. Als Cassian Sophie verlassen will (wegen der nämlichen Tänzerin), stürzt Sophie sich verzweifelt aus dem Fenster und Cassian ihr hinterher. Aber das erwartete Unglück bleibt aus, denn ein Diener vermeldet in einem Botenbericht  : »Höchst Wundersames hat sich ereignet. Der springende Herr hat das springende Fräulein in der Luft aufgefangen und beide sind wohlbehalten unten angelangt«.66 Der seltsame Einakter drängt auf wenigen Seiten enorm viel Handlung zusammen, die in einem Stechlauf klischeehafte Situationen des Boulevardtheaters aneinanderreiht, ohne sie logisch zu plausibilisieren  : »Liebe auf den ersten Blick  ; der Mann, der das Doppelspiel der Liebe spielt  ; der unerwartete Dritte, der das Dreiecksverhältnis der Eifersucht und Rivalität herstellt  ; die Szene des Glücksspiels mit den überraschenden Launen Fortunas  ; die Untreue der Frau  ; schließlich das unvermeidliche Duell« und das logisch unmögliche Happy End.67 Aber neben dieser Parodie auf die verbrauchten Szenen des Boulevardtheaters spielt Schnitzlers Text auch auf avancierte zeitgenössische Manifeste zu den innovativen Möglichkeiten des Einakters an. Die letzten Worte des sterbenden Martin, »es ist bitter, allein zu sterben, wenn man eine Viertelstunde vorher noch geliebt, wohlhabend und der herrlichsten Hoffnungen voll war« (870), zitieren mit der Zeitangabe Strindbergs Einakter-Essay, in dem der das eine »Viertelstunde« währende Stück als ideale Form für eine moderne dramatische Experimentalästhetik erklärt hatte.68 Auch Maurice Maeterlinck hatte 1894 mit seinen Trois petits drames pour marionnettes eine neue knappe dramatische Form entwickelt und dort den Menschen als unfrei und determiniert entworfen. An beide, Strindberg und Maeterlinck, knüpft Schnitzler hier an und parodiert zugleich auch seine eigenen Texte unterschwellig mit.69 Der Fenstersturz (mit glücklichem Ausgang) von Sophie parodiert Christines tragischen Selbstmord in Schnitzlers Erfolgsstück Liebelei.70 Der Soldat Cassian, der sich am Schluss schon auf das nächste Duell freut und »einem frechen Italiener einen Degenstich zwischen die Rippen versetzen« (870) will, erinnert nicht von ungefähr an 66 Arthur Schnitzler  : Der tapfere Cassian. Puppenspiel in einem Akt, in  : Ders.: Die dramatischen Werke. Erster Band. Frankfurt a. M. 1962 (Gesammelte Werke), S. 855–870, hier S. 870. Zitate aus dem Stück werden im Folgenden nach dieser Ausgabe im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen nachgewiesen. 67 Hans-Peter Bayerdörfer  : Vom Konversationsstück zur Wurstelkomödie. Zu Arthur Schnitzlers Einaktern, in  : Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), S. 516–575, hier S. 566. 68 August Strindberg  : Die Moderne  ?, in  : Das Magazin für Litteratur 64 (1895), Nr. 1, Sp. 5–8, hier Sp. 6. Vgl. auch Hans-Peter Bayerdörfer  : Marionetten, in  : Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel. Stuttgart, Weimar 2014, S. 119–122, hier S. 122. 69 So Reinhard Urbach  : Arthur Schnitzler. Hannover 21972, S. 67. 70 Während das Drama Liebelei mit der Regieanweisung »Sie stürzt ab« (Arthur Schnitzler  : Liebelei. Schauspiel in drei Akten, in  : Ders.: Die dramatischen Werke. Erster Band [Anm.  66], S.  215–264, hier S. 264) die Art des Selbstmords offenlässt, vereindeutigt Max Ophüls in seinem Liebelei-Film 1933 dies zu einem Fenstersturz.

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den großmäuligen Lieutenant Gustl, der ebenfalls am Ende des Textes mit den Worten »Dich hau’ ich zu Krenfleisch« dem nächsten Duell entgegenfiebert.71 Der tapfere Cassian changiert zwischen Selbstparodie, »Metatheater und Groteske«, wie Nikola Roßbach überzeugend herausgearbeitet hat.72 Das Stück verstört in seinem anti-illusionistischen Charakter die Erwartungshaltung des Publikums und verfremdet das Geschehen zudem auch noch zusätzlich durch das historische Kostüm des 17. Jahrhunderts  : Es gibt in dieser deutschen barocken Kleinstadt einen malerischen »Gasthof zum wallfahrenden Kamel« (865) mit einem »Koch, den der Großherzog von Parma zum Land hinausgejagt hat, weil er so gut kochte, daß die Prinzessin ihn durchaus heiraten wollte« (865)  ; gezahlt wird mit glänzenden »Dukaten« (857) und geträumt von Damen, »die in Fontainebleau nachts im Schloßpark vor dem König von Frankreich und seinen Offizieren ohne Schleier« (862) tanzen. So wie die Handlung bunt, hektisch und überdreht erscheint, so besticht die Titelgestalt ebenfalls durch eine grelle Überzeichnung. Dass diese Figur mit den Parametern des realistischen Theaters bricht, signalisiert bereits ihr Kostüm  : Der Soldat Cassian erscheint auf der Bühne »in phantastischer Uniform« (860), verhält sich »sehr laut und heftig« (860) und bramarbasiert mit Wonne. Cassian ist, wie es Konstanze Fliedl formuliert hat, eine Mischung aus »Miles gloriosus, Baron Münchhausen und Casanova im Kleinformat«  ;73 ein hinreißender Aufschneider, dem alles mühelos gelingt, und der in seinen Abenteuer-Erzählungen so übertreibt, dass diese wiederum deutlich als Fiktionen erkennbar werden. Die Schönheit von Sophie, Tochter eines »bürgerliche[n] Schmied[s]« (865), wird von Cassian auf ein ›Versehen‹ der Mutter von Sophie zurückgeführt  : CASSIAN  Wir wollen nicht daran zweifeln, Fräulein, daß Ihre Mutter nach ihrem besten Wissen tugendhaft gewesen  ; aber schwören will ich, daß sie sich, während sie Euch unter dem Herzen trug, an der heidnischen Göttin Venus selbst verschaut hat, die ihr wohl im Traum erschienen sein mag. Solches widerfährt den ehrbarsten Frauen  ; ich selber war zu dem Traum einer vornehmen Dame geladen, der ein Mohrenfürst erschien und die ein kohlrabenschwarzes Mägdelein auf die Welt brachte. (865)

71 Arthur Schnitzler  : Leutnant Gustl, in  : Ders.: Die Erzählenden Schriften. Erster Band (Anm. 5), S. 337– 366, hier S. 366. 72 Nikola Roßbach  : Theater über Theater. Parodie und Moderne 1870–1914. Bielefeld 2006, S. 153. 73 Konstanze Fliedl  : Arthur Schnitzler. Stuttgart 2005, S. 134.

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Das Phänomen des Versehens der Frauen,74 also der Annahme, dass Sinneseindrücke, »die eine Schwangere empfängt, auf die Leibesfrucht übertragbar sind«,75 wurde um 1900 in Wien heftig diskutiert. Otto Weininger hat in seinem Skandalbuch Geschlecht und Charakter (1903) eine regelrechte Theorie des ›Versehens‹ und der Telegonie entwickelt  ;76 und der Arzt Schnitzler schaltete sich in diese medizinischen Diskussionen mit seiner Erzählung Andreas Thameyers letzter Brief (1902) ein, in der sich der Wiener Sparkassenbeamte Thameyer umbringen möchte, nachdem seine Frau ein schwarzhäutiges Kind zur Welt gebracht hat und er sich und seine Umgebung als unzuverlässiger Erzähler vergeblich davon zu überzeugen versucht, dass die Hautfarbe des Kindes nicht durch einen Ehebruch erklärbar ist, sondern von einem optischen ›Versehen‹ seiner Frau herrührt, als diese die »Völkerschau« des westafrikanischen Ashantee-Stammes im Wiener Tiergarten besucht habe.77 Hier wie im tapferen Cassian wird das ›Versehen‹ mit der irritierenden Hautfarbe eines Kindes in Verbindung gebracht und so intertextuell auch rückführbar auf den antiken Schlüsseltext der Äthiopischen Geschichten von Heliodor, in denen davon erzählt wird, dass eine schwarzhäutige Prinzessin ein weißes Mädchen gebar, nachdem sie weiße Marmorstauen betrachtet hatte.78 Schnitzler variiert hier im tapferen Cassian intratextuell sein eigenes Œuvre und nutzt das Motiv des ›Versehens‹, um die Münchhausen-Atmosphäre der unglaubwürdigen Lügengeschichten pittoresk zu verdichten. Phantastisch gesteigert wird das Phänomen des ›Versehens‹ im tapferen Cassian in dreierlei Hinsicht. Zum einen redet Cassian nicht von einem Sinneseindruck in der Realität der Wachwelt, sondern er geht von einem ›Versehen‹ von Sophies Mutter im Traum aus. Darüber hinaus soll sich Sophies Mutter nicht an einem realen Menschen ›versehen‹ haben, sondern an der mythologischen Gestalt »der heidnischen Göttin Venus selbst« (865). Und schließlich fällt die seltsame Formulierung auf, mit der Cassian das Phänomen des ›Versehens‹ beglaubigen und beweisen möchte  : Er betont, dass er selbst »zu dem Traum einer vornehmen Dame geladen [war], der ein Mohrenfürst erschien« und die daraufhin ein »kohlraben74 Gerhard von Welsenburg [i. e. Iwan Bloch]  : Das Versehen der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart und die Anschauungen der Ärzte, Naturforscher und Philosophen darüber. Leipzig 1899. 75 [Anonymus  :] [Rezension zu] Max Seiling  : Vorgeburtliche Beeinflussung, in  : Wiener Rundschau 4 (1900), S. 179 f. 76 Vgl. Barbara Beßlich  : Mütter im Visier. ›Versehen‹ und Telegonie in Otto Weiningers »Geschlecht und Charakter« – mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola, in  : KulturPoetik 4 (2004), S. 19–36. 77 Vgl. hierzu Achim Aurnhammer  : Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin, Boston 2013, S. 103–131 und die narratologische Analyse in der vorliegenden Abhandlung im letzten Kapitel Nachschriften. 78 Vgl. hierzu Franz K. Stanzel  : Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination. Wien, Köln, Weimar 2008, S. 25 f.

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schwarzes Mägdelein auf die Welt brachte« (865). Was man sich unter der Einladung zu einem Traum vorzustellen hat und welche Beweiskraft einer solchen voyeuristischen Traumhospitanz für das Phänomen des ›Versehens‹ zukommen kann, bleibt dem verdutzten Zuschauer dieser Burleske selbst überlassen zu überlegen.79 Der Unwahrscheinlichkeit von Cassians Abenteuern korrespondiert auch eine hyperbolische Sprache, die sich in rhetorischen Steigerungen gefällt. Als Cassian aufgefordert wird, »mit wenigen Worten, wenn du’s vermagst« (866), davon zu erzählen, wo er gerade herkommt, reagiert er mit folgenden zahlreichen Worten  : CASSIAN […] Ich komme aus einer Schlacht, wo mir zwei Pferde unterm Leib und drei Mützen vom Schädel weggeschossen wurden. Des Fernern komm’ ich aus der Gefangenschaft, wo etliche brave Kameraden verhungert und von Ratten aufgefressen worden sind. Ferner vom Richtplatz, wo sieben an meiner Seite füsiliert und ich mit ihnen für tot in eine Grube geworfen wurde, obwohl alle Kugeln an mir vorbeigepfiffen waren. Ferner aus den Krallen eines Geiers, der mich für Aas hielt wie die andern, die sich an meiner Seite bereit machten zu verwesen, und der mich aus Bergeshöhe auf die Erde herunterfallen ließ, – glücklicherweise auf einen Heuschober. Ferner aus einem Wald, wo mich ein paar Kaufleute für ein Gespenst ansahen und mir in ihrem Schrecken allerlei gutes Zeug und Bargeld zurückließen. Ferner aus einem gar lustigen Haus, wo Kroatinnen und Tscherkessinnen und Spanierinnen meinethalben mit den Dolchen aufeinander losgingen, und ihre Galans mich umbringen wollten, … so daß ich durch den Rauchfang aufs Dach flüchtete und fünf Stockwerke heruntersprang, … kurz und gut  : ich komme aus so vielen Abenteuern, daß ein anderer mehr Mühe hätte, sie zu erfinden, als es mir gemacht hat, sie zu überstehen. (866 f.)

»Kurz und gut« (867) ist dieser Abenteuerkatalog natürlich nicht, aber er führt den Zuschauer mit seinen Zahlensteigerungen rasant und rhetorisch bombastisch in die außeralltägliche Welt des Titelhelden ein. Von »zwei Pferden« und »drei Mützen«, die unter und über ihm zerschossen werden, über den Sprung über »fünf Stockwerke« (der hier schon den späteren Fenstersturz von Sophie und Cassian präludiert) bis hin zu »sieben« sterbenden Kameraden ist Cassian alles nur Erdenkliche und Unwahrscheinliche passiert im Krieg, im Gefängnis, auf dem Richtplatz, in den »Krallen eines [ja wohl absonderlich großen] Geiers«, auf einem (halb beabsichtigten) Raubzug im Wald und im Bordell. Die parallelen Satzkonstruktionen, die mit dem fünfmal geminierenden 79 Intratextuell verweist Schnitzler hier auch noch einmal auf das unzuverlässige Erzählen in Andreas Thameyers letzter Brief  : Auch der autodiegetische Erzähler Thameyer bringt eine Fülle von vermeintlichem Beweismaterial für seine ›Versehens‹-These an, was aber in keiner Weise den eigentlichen Sachverhalt klärt. Dieses Verfahren steigert Schnitzler im tapferen Cassian ins Absurde, wenn die Einladung zu einem Traum die Existenz des ›Versehens‹ verbürgen soll.

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»Ferner« eingeleitet werden, verstärken den Eindruck des Kataloghaften. Die atemlose Gedrängtheit dieser Abenteuerfülle wird am Ende der Aufzählung durch die zweifach gesetzten Auslassungszeichen betont. Die prahlerisch erzählten Kriegserlebnisse stellen Cassian gattungsästhetisch in die Tradition der Lustspiel-Figur des Miles gloriosus, der schon bei Plautus von kaum etwas anderem spricht als seinen eigenen angeblichen Heldentaten in der Schlacht. Während man den märchenhaft glimpflichen Sturz aus den Krallen des Geiers »aus Bergeshöhe« in einen Heuschober den Lügengeschichten Münchhausens assoziiert, erinnert die Flucht Cassians durch den Rauchfang aufs Dach vor den aufgebrachten »Galans« der um Cassian buhlenden Kurtisanen an Casanovas Histoire de ma fuite des prisons de la République de Venise qu’on appelle les Plombs (1788). Dass sich Cassians Ruhmredigkeit und seine unglaubwürdigen Abenteuer so vielfältigen literarischen Traditionen verdanken, deutet seine Erzählung am Ende selbstreflexiv an, wenn Cassian resümiert, dass »ein anderer mehr Mühe hätte, [die Abenteuer] zu erfinden, als es mir gemacht hat, sie zu überstehen«. Cassians Abenteuerkatalog bietet mit seinen Zahlensteigerungen eine prächtige Vorlage für eine Registerarie. Es ist vielleicht nicht erstaunlich, dass Schnitzler bereits 1903, also noch vor der Erstveröffentlichung des Textes in der Neuen Rundschau, den »Cassian auf Operettenmöglichkeit hin bedacht« hat und mit einer entsprechenden Umarbeitung begann.80 Das Tagebuch vermerkt nach – noch im Juni 1903 – ersten zögerlichen Anläufen (»versuchte Verse, Cassian«) im August 1903, dass das »Libretto Cassian vorläufig abgeschlossen« sei.81 Dann blieb das Operettentextbuch allerdings erst einmal liegen. Schnitzler erwog zuerst Alexander Zemlinsky und Engelbert Humperdinck als mögliche Komponisten.82 Schließlich kommt er im November 1908 zu Oscar Straus.83 Straus und Schnitzler hatten sich bereits 1904 nach einer Aufführung von den lustigen Nibelungen, die Straus selbst im Carl-Theater dirigiert hatte, unterhalten. Am 14. November 1908 wurde die Operette Der tapfere Soldat von Straus im Theater an 80 Schnitzler  : Tagebuch 1903–1908 (Anm. 28), Tagebucheintrag vom 18. Juni 1903, S. 32. 81 Ebd., Tagebucheinträge vom 21. Juni und 3. August 1903, S. 32 und 39. Reinhard Urbach betont, dass damit Schnitzlers Interesse an einem Operetten-Projekt deutlich vor der 1906 einsetzenden Zusammenarbeit von Hofmannsthal mit Richard Strauss anzusiedeln sei, mithin Schnitzler nicht von Hofmanns­ thals Opern-Projekten angeregt oder zu Konkurrenz gereizt gewesen ist (Reinhard Urbach  : »Sonderbare Abenteuer«. Arthur Schnitzler und die Oper, in  : Arthur Schnitzler und die Musik [Anm. 2], S. 29–43, hier S. 30). Das betont Urbach gegen Marc A. Weiner  : Arthur Schnitzler and the Crisis of Musical Culture. Heidelberg 1986, S. 39. 82 Im Juni 1903 war Zemlinsky bei Schnitzler zu Gast, und Schnitzler »las Alkandi vor, Cassian, Marionetten. –Cassian frappierte und gefiel sehr, Marionetten amüsierten. – musikalisch schien Z. am meisten von Cassian […] angeregt« (Schnitzler  : Tagebuch 1903–1908 [Anm. 28], Tagebucheintrag vom 25. Juni 1903, S. 3). 83 Vgl. Oswald Panagl  : Arthur Schnitzler und Oscar Straus, in  : Arthur Schnitzler und die Musik (Anm. 2), S. 69–78, hier S. 73–76.

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der Wien uraufgeführt. Straus hatte hier nach George Bernard Shaws Komödie Arms and the Man (1894), die dem Libretto von Der tapfere Soldat zugrunde lag, bereits militärisches Aufschneidertum auf die Schippe genommen. Auch dies wird wohl Schnitzler bestätigt haben, dass er mit dem Schöpfer von Der tapfere Soldat einen passenden Komponisten für seinen, im Titel schon ähnlich lautenden, tapferen Kassian gefunden hatte. Beide Textbücher stellen einen Miles gloriosus in den Mittelpunkt der Handlung. Zu Beginn des Jahres 1909 startet eine intensive Zusammenarbeit von Schnitzler und Straus, es steht auch zwischenzeitlich die Überlegung im Raum, ob und wie Oscar Straus Schnitzlers Anatol vertonen könnte.84 Im März 1909 ist Schnitzler zu Besuch bei Straus, der ihm den tapferen Kassian am Klavier vorspielt, und Schnitzler befindet im Tagebuch, die Musik sei »sehr fein, singspielhaft«, schränkt aber gleichzeitig ein, »aber ich glaube dem eigentümlichen Humor nicht ganz gemäß«.85 Mit dem Begriff des »Singspielhaften« zielt Schnitzler nicht nur auf die kompositionelle Charakteristik der Musik, sondern auch auf die spezielle Konfiguration des Einakters, da der tapfere Kassian mit seiner überschaubaren Personenzahl ganz auf Chöre und Massenszenen verzichtete, wie sie in der Wiener Operette sonst oft üblich waren.86 Daher ist es auch nur folgerichtig, dass das Libretto schließlich den generischen Untertitel erhielt Singspiel in einem Aufzuge. Schnitzlers Libretto kombiniert versifizierte und gereimte Gesangstexte mit prosai­ schen gesprochenen Zwischentexten. Die Gesangsnummern arrangieren variantenreich Duette, Romanzen, Cantodramen, Lieder und Terzette. Während das Puppenspiel noch gattungsreflektierend von der »Viertelstunde« (870) Handlungszeit des ­Einakters sprach, erweitert sich dies nun im Libretto auf eine »halbe Stunde«,87 was wohl auch ungefähr der Aufführungszeit des Singspiels entspricht, das allein schon durch das Vorspiel und einige musikalische Wiederholungen mehr Zeit in Anspruch nimmt. Ausführlicher als im Puppenspiel gerät etwa die nachgetragene Vorgeschichte Martins, die dieser 84 Vgl. Schnitzler  : Tagebuch 1909–1912 (Anm.  63), Tagebucheinträge vom 22.  Februar 1909, S.  51, vom 27. Februar 1909, S. 52, vom 24. Mai 1909, S. 69 und vom 17. Januar 1910, S. 120. 85 Ebd., Tagebucheintrag vom 7. März 1909, S. 54 f. Später wird Schnitzler gegenüber Richard Strauss sein frühes Urteil bekräftigen, wenn er dem neuen Wiener Operndirektor Richard Strauss Den tapferen Kassian empfiehlt als eines der »feinsten und liebenswürdigsten Werke« von Oscar Straus (Brief Arthur Schnitzlers an Richard Strauss vom 4. Juni 1919, in  : Arthur Schnitzler  : Briefe 1913–1931. Hg. von Peter Michael Braunwarth. Frankfurt a. M. 1984, S. 188 ff., hier S. 189). 86 Vgl. auch Lichtfuss  : Operette im Ausverkauf (Anm.  14), S.  92  : »Als Singspiele […] bezeichneten die Autoren Werke, in denen sie auf Chor und Massenszenen verzichteten und den Text in den Vordergrund stellten.« 87 Schnitzler  : Der tapfere Kassian. Singspiel in einem Aufzug, in  : Ders.: Die dramatischen Werke. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1962 (Gesammelte Werke), S. 7–26, hier S. 26. Zitate aus dem Libretto werden im Folgenden nach dieser Ausgabe im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

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in einem Lied (15 f.) präsentiert und so den Zuschauer informiert über seine Herkunft, seine Schwärmerei für die Tänzerin und sein vergangenes Spielglück. Die ›Versehens‹Episode verlagert Schnitzler in einen gesprochenen Dialog und er hätte so, wenn er gewollt hätte, den Prosatext ohne Anpassungen aus dem Puppenspiel übernehmen können. Das macht er aber nicht, sondern verknappt Kassians Redeanteil, der durch Glockengeläut abgebrochen wird  : K ASSIAN  Wir wollen nicht daran zweifeln. Aber schwören will ich, daß sich Ihre Frau Mutter, während sie Sie unter dem Herzen trug, an der heidnischen Göttin Venus selber verschaut hat, die ihr im Traume erschienen sein mag. Oh, lachen Sie nicht. Solche Dinge kommen vor. Ich selber war einmal zu dem Traume einer jungen Dame geladen … Glocken. (19)

Diese Fassung ist weniger redselig, streicht Halbsätze,88 modernisiert die Anredeform vom »Ihrzen« Sophies zum »Siezen« und setzt das umgangssprachliche »selber« statt des hochsprachlichen »selbst«.89 Der ›Versehens‹-Komplex wird gekürzt und untermalt vom Gelächter Sophies, was die Angreifbarkeit dieser Vorstellung markiert. Dadurch, dass das Glockengeläut Kassians Rodomontade abbricht, entfällt die Geschichte vom »Mohrenfürsten« im Traum der »vornehmen Dame« (865). Das nimmt der Handlung einerseits etwas von ihrem pittoresken Charakter. Andererseits ermöglicht der abgebrochene Redeanteil Kassians eine neue Deutung. Hier scheint es plausibel, dass Kassians Traumhospitanz keineswegs die eines Voyeurs eines ›Versehens‹ ist, sondern dass der Aufschneider und Lügensoldat eine eigene Liebesaffäre mit den Folgen eines ihm optisch ähnlichen Kindes mit der Theorie des ›Versehens‹ zu verbrämen versucht. Während im Puppenspiel auf Martins Frage »Woher kommst du denn eigentlich  ?« (866) Cassian zu seiner rhetorisch aufgebauschten umfangreichen Schau-Erzählung ansetzte und damit (von Sophie und Martin nicht unterbrochen) die Handlung für einige Zeit pausierte, eröffnet Martins leicht verknappte Frage »Woher kommst du eigentlich  ?« (19) im Singspiel keineswegs eine Solo-Arie von Kassian, sondern ein Terzett von Sophie, Martin und Kassian. Cassians atemloser Abenteuerbericht wird im Terzett »Allegro molto moderato« in einzelne Episoden zerlegt,90 die Sophie und Martin jeweils staunend mitankündigen und kommentieren. Die Etappen sind dieselben wie im Pup-

88 »Fräulein, daß Ihre Mutter nach ihrem besten Wissen tugendhaft gewesen« (865). 89 Im Puppenspiel trug die Mutter noch »Euch unter dem Herzen« und sollte sich »an der heidnischen Göttin Venus selbst verschaut« (865) haben. 90 Der tapfere Kassian. Singspiel in einem Aufzuge von Arthur Schnitzler. Musik von Oscar Straus. Klavierauszug mit Text (Klavierpartitur). Leipzig, Wien 1909, S. 25–28, hier S. 25.

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penspiel (Schlacht, Gefängnis, Richtplatz, Geier, Bordell),91 aber sie werden dialogisch aufgefächert. Das fünfstrophige Terzett setzt an den Anfang jeden Abenteuers anaphorisch betont Kassians Zusammenfassung  : »Ich komm’ aus heißer Schlacht« (19), »Ich komm’ aus Ketten schwer« (20), »Ich komm’ vom Hochgericht« (20), »Ich komm’ aus eines Geiers Mund« (20), »Ich komm’ aus einem gar lustigen Haus« (21), um unmittelbar nach dieser Ankündigung die staunende, echoartige Wiederholung von Sophie und Martin folgen zu lassen.92 Erst nach dieser gedoppelten Ankündigung (von Kassian einerseits und refrainartig wiederholt von Sophie und Martin andererseits) erfolgt jeweils die detailliertere sechsversige Abenteuererzählung Kassians, die im letzten Vers immer schließt mit der eigenen Unbeschadetheit (»Ich rührte mich nicht vom Fleck« [20], »Ich aber blieb heil und gesund« [20], »Und ich war lebendig wie je« [20], »Da stand ich vergnügt wieder auf« [21], »Bis durch den Kamin ich entwich« [21]). Nach der jeweiligen Abenteuererzählung geben Sophie und Martin ihren gesanglichen Applaus, indem sie bewundernd unisono im Sechsachteltakt anstimmen  : »Immer der tapfere Kassian« (20). Bei den ersten drei Abenteuererzählungen teilen Sophie und Martin in ihren Kommentaren Noten und Text.93 Aber ab der vierten Episode weicht Sophie in ihrem textlichen Kommentar von dem Martins ab. Während Martin weiterhin ausruft  : »Immer der tapfere Kassian  !« (21), singt Sophie zu denselben Noten nun »Herrlicher einziger Mann  !« (21), was ihre Verfallenheit an Kassian nicht nur generell zum Ausdruck bringt, sondern auch konkret an dessen Fabulierkunst und Erlebnisreichtum rückbindet. Nach der fünften und letzten Abenteuererzählung bleibt es bei diesem unterschiedlichen Text von Martins (»Immer der tapfere Kassian  !« [21]) und Sophies (»Herrlicher, einziger Mann  !« [21]) Kommentaren, aber die Semantik verschiebt sich noch einmal entscheidend, indem Schnitzler Regieanweisungen ergänzt  : Martin soll das letzte Hoch auf Kassian nicht mehr bewundernd, sondern »höhnisch« (21) singen und Sophie ihre Liebeserklärung »für sich« (21). Damit wird deutlich, dass Schnitzler im Singspiel Kassians Herkunftserzählung nicht mehr nur ausschließlich braucht, um die gattungsästhetisch eklektisch-bunte Tradition seiner Titelgestalt zu veranschauli­ chen, sondern auch dramaturgisch nutzt, um die psychologische Entwicklung seiner Nebenfiguren zu plausibilisieren. Seit dem gemeinsamen Singspiel-Projekt gehörte Straus zum weiteren Bekanntenkreis Schnitzlers, sie treffen immer mal wieder zusammen in Gesellschaften, bei Mittag-

91 Lediglich der beschönigte Raubzug im Wald, »wo mich ein paar Kaufleute für ein Gespenst ansahen und mir in ihrem Schrecken allerlei gutes Zeug und Bargeld zurückließen« (867), entfällt. 92 »Er kommt aus heißer Schlacht« (19), »Er kommt aus Ketten schwer« (20), »Er kommt vom Hochgericht« (20), »Er kommt aus eines Geiers Mund« (21), »Er kommt aus einem gar lustigen Haus« (21). 93 Der tapfere Kassian. Singspiel in einem Aufzuge von Arthur Schnitzler (Anm. 90), hier S. 25 f.

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essen, »zum Thee« oder bei Soupers.94 Auch nach Schnitzlers Tod fühlte sich Straus dessen Werk verbunden.95 Er wollte zur amerikanischen Verfilmung von Schnitzlers Novelle Spiel im Morgengrauen die Musik beitragen, was die Direktion der Filmgesellschaft Metro Goldwyn Mayer allerdings ablehnte und eigenmächtig die hierfür vorgesehene Walzer-Szene von Straus in einem anderen Film unterbrachte, dort gesungen von Lawrence Tibbett.96 Straus hat darüber hinaus Schnitzlers Liebelei 1934 in eine Operette in acht Bildern transformiert und dafür den tragischen Ausgang (ziemlich brachial) in ein Happy End abgebogen.97 Zu Max Ophüls’ Reigen-Verfilmung (La Ronde [1950]) trug Straus den die einzelnen Sequenzen leitmotivisch verklammernden Walzer als Filmmusik bei.98

3. Felix Saltens Alt-Wien-Idyll in der Girardi-Operette Mein junger Herr (1910) Nach Dörmann und Schnitzler war der nächste Jungwiener Straus-Librettist Felix Salten. Für Dörmann und Salten stellten die Operettenlibretti eine wichtige Geldquelle dar. Salten hat dies Schnitzler gegenüber offen erörtert. Schnitzlers Tagebuch vermerkt im Februar 1910 einen morgendlichen Spaziergang mit Salten, bei dem dieser von seinen »Operettenpläne[n berichtet]. Er möchte in 10 Jahren 800.000 Kr[onen] haben, hofft es«.99 Aber während Dörmann nach dem Walzertraum (1907), auch aus diesem finan­ziellen Grund, ungefähr ein Operettenlibretto pro Jahr verfasste,100 beschränkte sich Salten insgesamt auf zwei Libretti. Nachdem er zu einer alten Johann Strauß 94 Schnitzler  : Tagebuch 1909–1912 (Anm. 63), Tagebucheintrag vom 1. Januar 1911, S. 208.  95 Vgl. Achim Aurnhammer  : Vertonungen, in  : Schnitzler-Handbuch (Anm. 68), S. 395–398, hier S. 396.  96 Die Direktion der MGM verfrachtete die Walzerszene von Straus aus Daybreak (so der Titel der Spiel im Morgengrauen-Verfilmung) in den Film The Southener. Zu Daybreak, ohne die vermittelnde Funktion von Oscar Straus zu erwähnen vgl. Ursula von Keitz, Wolfgang Lukas  : Plurimediale Autorschaft und Adaptionsproblematik. »Spiel im Morgengrauen« und »Daybreak«, in  : Arthur Schnitzler und der Film. Hg. von Achim Aurnhammer, Barbara Beßlich und Rudolf Denk. Würzburg 2010, S.  209–241, hier S. 231–239. Laut Franz Mailer ist es dem Vorschlag von Oscar Straus zu verdanken, dass die MGM überhaupt Schnitzlers Novelle mit Ramón Novarro verfilmte. Vgl. Mailer  : Weltbürger der Musik (Anm. 32), S. 150.  97 Oscar Straus  : Liebelei. Ein Wiener Stück mit Musik nach dem gleichnamigen Schauspiel von Arthur Schnitzler. Basel 1934. Vgl. hierzu Panagl  : Arthur Schnitzler und Oscar Straus (Anm. 83), S. 71 ff.  98 Vgl. Gerd K. Schneider  : »Ich will jeden Tag einen Haufen Sternschnuppen auf mich niederregnen sehen«. Arthur Schnitzlers »Reigen« in Österreich, Deutschland und den USA. Wien 2008. Mailer  : Weltbürger der Musik (Anm. 32), S. 184–190.  99 Schnitzler  : Tagebuch 1909–1912 (Anm. 63), Tagebucheintrag vom 2. Februar 1910, S. 124. 100 Vgl. Schneider  : Felix Dörmann (Anm. 32), S. 303.

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Operette einen neuen Text verfasst hatte, kam es 1910 zur Zusammenarbeit mit Oscar Straus. Während Schnitzler und Dörmann unter ihrem richtigen Namen die Libretti verfassten, wählte Salten für seine beiden Operettenlibretti das Pseudonym »Ferdinand Stollberg«, was signalisiert, dass er sein übriges Werk von diesem Ausflug zur leichten Muse zu separieren gedachte.101 Das funktionierte aber nur bedingt. Während einige Rezensionen der Uraufführung der Operette am Wiener Raimundtheater am 23.  Dezember 1910 noch Stollberg als »Revolutionär des Genres« feierten,102 machte sich Karl Kraus am 31. Dezember 1910 genüsslich daran, in der Fackel das Pseudonym auffliegen zu lassen  : Es ist ein eigenes Verhängnis, daß es ausgesucht die seichtesten Leute sein müssen, die jetzt daran gehen, die Operette zu vertiefen. Ich will von Herrn Felix Salten schweigen, aber dieser Ferdinand Stollberg liefert Operettentexte, die so fein psychologisch sind, daß man ihm getrost auch die Renaissance der Renaissancenovelle und sogar das Burgtheaterreferat anvertrauen könnte.103

Zur Zusammenarbeit mit Oscar Straus kam Salten sicherlich auch, weil er beobachten konnte, wie finanziell erfolgreich das Walzertraum-Libretto für Dörmann und wie vergleichsweise ästhetisch anspruchsvoll Schnitzlers Umarbeitung des tapferen Cassian von der Burleske zum Singspiel ausgefallen war. Ungefähr ein Jahr nach der Leipziger Uraufführung des tapferen Kassian war das Ehepaar Salten bei Schnitzler im Oktober 1910 zum Nachtmahl zu Gast. Nach dem Essen spielte Schnitzler am Klavier Auszüge aus seinem Singspiel Der tapfere Kassian vor und vermerkte hinterher im Tagebuch, halb schwankend zwischen pikierter Verärgerung (über den »Nachmacher« Salten) und Stolz auf die Vertonung des eigenen Werks  : Salten »war ganz entzückt (z.  Th. wohl veranlaßt dadurch, daß Straus mit ihm eine Operette schreibt, – aber doch auch ganz direct)«.104 Salten hatte in seiner hymnischen Rezension der lustigen Witwe 1906 gefordert, dass die neue moderne Operette Stoffe der Gegenwart bearbeiten könnte, nicht unbedingt nur wienerisch, sondern kosmopolitisch ausgerichtet sein sollte, zeitpolitische Themen nicht aussparen musste und vor allem auch offen die »karessante Sinnlichkeit« auf die 101 Ferdinand Stollberg  : Reiche Mädchen. Operette in drei Akten. Musik von Johann Strauß. Leipzig, Wien 1910. Ders.: Mein junger Herr. Operette in drei Akten. Musik von Oskar Straus. Leipzig, Wien 1910. 102 [A.E.:] Raimundtheater, in  : Neues Wiener Journal vom 24. Dezember 1910, S. 11. Ähnlich positiv fiel die Rezension aus von [R.P.:] »Mein junger Herr«, in  : Neues Wiener Tagblatt vom 24. Dezember 1910, S. 14. 103 Karl Kraus  : Ernst ist das Leben, heiter war die Operette, in  : Die Fackel vom 31. Dezember 1910, S. 13–16, hier S. 13. 104 Schnitzler  : Tagebuch 1909–1912 (Anm. 63), Tagebucheintrag vom 9. Oktober 1910, S. 182.

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Bühne bringen durfte.105 All diese enthusiasmiert vorgetragenen Forderungen erfüllt nun das Libretto zu Mein junger Herr in keiner Weise. Diese Operette spielt nicht in der Gegenwart, sondern um 1830 und verherrlicht das Alt-Wien der Biedermeierzeit.106 Politisch-sozial brisante Themen werden weiträumig umschifft und die Handlung bringt die amourösen Verwirrungen ihrer adligen Protagonisten weitaus dezenter auf die Bühne als Die lustige Witwe oder auch Ein Walzertraum. Dieser Widerspruch zwischen der theoretischen Proklamation einer dem Jungen Wien affinen modernen Operette und der praktischen Erfüllung des Alt-Wien-Klischees war mit Sicherheit auch einer der Gründe, warum Salten ein Pseudonym für seine Librettisten-Tätigkeit wählte. Als die Operette 1912 noch einmal mit mäßigem Erfolg am Münchner Gärtnerplatz-Theater gegeben wurde, bemerkte auch ein Rezensent entsprechend  : »Felix Salten pflegt sich ›Stollberg‹ zu nennen, wenn er invita Minerva arbeitet«.107 Die Handlung von Mein junger Herr spielt im »Komtessenmilieu« und kreist im biedermeierlichen Wien um einen alten Kammerdiener, der seinen titelgebenden gräflichen »jungen Herrn« durchs Leben begleitet. Der verwaiste junge Franz Graf Buschfeld, soeben zum Leutnant avanciert, verschaut sich in die exotische, leicht verruchte, östlich aufregende Fürstin Emilia Bartinska, obwohl er doch seit Jugendtagen seiner unschuldigen Base vom Land, Komtesse Therese, versprochen ist. Der alte Diener Florian richtet das Malheur, verhindert ein drohendes Duell, bringt den rebellierenden jungen Grafen zur Vernunft und am Ende steht die Verlobung von Franz und Therese.108 Die Handlungen der jungen Generation stehen dabei nicht eigentlich im Vordergrund, sondern die Haltung des alten Dieners, der in Wirklichkeit der Vater seines jungen Herrn ist  : Der Graf war ein alter Mann, die Gräfin eine junge Frau. Und als Florian in den Dienst des gräflichen Paares trat, pulste auch durch seine Adern noch unverbrauchtes Blut. Er tröstete die liebesdürstige Frau, und diesem Umstande war es zu danken, daß der talentlose Graf Vater

105 Salten  : Die neue Operette (Anm. 25), S. 43. 106 Vgl. hierzu allgemein Christian Glanz  : Himmelblaue Zeit. Alt-Wien in der Operette, in  : Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war (Anm. 18), S. 228–234. 107 L.  G. Oberländer  : Bühnen und Musikrundschau, in  : Allgemeine Rundschau. Wochenschrift für Politik und Kultur vom 25. Mai 1912, S. 416. 108 Eine modernere Fassung dieses Sujets ( Junger adliger Herr wird durch die Klugheit seines Dieners aus diversen Widrigkeiten gerettet) bietet Cole Porters Musical Comedy Anything goes (1934), deren Text P. G. Wodehouse und Guy Bolton verfassten und deren Handlung Wodehouses Jeeves-Geschichten aufgriff. Zur Rolle des Dieners in der Operette vgl. auch Heike Quissek  : Das deutschsprachige Operettenlibretto. Figuren, Stoffe, Dramaturgie. Stuttgart, Weimar 2012, S. 113 ff.

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werden durfte. Aber dieser freute sich nicht lange seines Glückes, er starb, und ihm folgte bald auch die Mutter Franzls ins Grab. So blieb denn Florian mit einem Sohne allein zurück,109

so fasste ein zeitgenössischer Zeitungsartikel die Vorgeschichte zusammen. Aber diese (allen Figuren außer dem Diener bis zum Schluss unbekannte) Vaterschaft wird nicht explizit thematisiert, sondern nur angedeutet. Getragen wurde die ganze Operette 1910 durch den Darsteller dieses Dieners, den seinerzeit ungeheuer prominenten Volksschauspieler Alexander Girardi (1850–1918), dem Salten das Libretto auf den Leib schneiderte. Berühmt geworden als Gesangs­ komiker und vor allem als Valentin (mit seinem Hobellied) in Ferdinand Raimunds Verschwender (1834) war Girardi bei der Uraufführung von Mein junger Herr 60 Jahre alt.110 Girardis Figuren standen in der Tradition der lustigen Person, schwankten zwischen Lachen und Weinen und setzten wirkungsästhetisch ganz auf ein identifikatori­ sches Moment der Rührung. Tanz und Sinnlichkeit spielten in Girardi-Operetten eine nachgeordnete Rolle, vielmehr konzentrierten sie sich auf volkstümliche Sujets und orientierten sich an lokalen Wiener Traditionen. Mal eher sentimental-komisch, mal massiv melancholisch bediente Girardi (auch in seinen beliebten Fiakerliedern) das kleinbürgerliche Heimweh nach der guten alten Zeit.111 Er verkörperte um 1900 Alt-Wien auf der Bühne. Nachdem er für einige Jahre in Berlin gewirkt hatte, war er nach Wien zurückgekommen und dort äußerst erfolgreich mit seinen alten gemütvollen Vater­ figuren. Hermann Bahr widmete Girardi 1910 zu dessen 60.  Geburtstag einen E ­ ssay und beschrieb, wie Girardi »ein Denkmal der verlöschenden alten Wiener Art in der erwachenden neuen Stadt« wurde.112 Schnitzler, der die Uraufführung von Mein junger Herr besuchte, war begeistert von der Bühnenkunst des Hauptdarstellers (»Girardi außerordentlich«113), und auch die meisten Rezensionen waren ähnlich angetan. Das Neue Wiener Journal schwärmte  : »Alexander Girardi hat seinen Meisterfiguren eine neue angeschlossen. Er hielt die Figur im besten Volksstückstil. Man muß die Noblesse seiner Charakteristik, die Diskre109 [R. P.:] »Mein junger Herr« (Anm. 102). 110 Zu Girardi vgl. Rudolf Holzer  : Die Wiener Vorstadtbühnen. Alexander Girardi und das Theater an der Wien. Wien 1951. 111 Vgl. hierzu Marion Linhardt  : Ein »neuer« Raimund  ?  ! Alexander Girardis Rolle für die Alt-Wien-Rezeption um 1900, in  : Nestroyana 26 (2006), S. 165–184. 112 Hermann Bahr  : Girardi (zum 60. Geburtstag), in  : Ders.: Austriaca. Hg. von Gottfried Schnödl. Weimar 2011 (Kritische Schriften in Einzelausgaben, Bd. 11), S. 125–131, hier S. 131. 113 »Mit O. Raimundtheater. ›Junger Herr‹ Première Straus. Buch von Salten. Musik charmant. Text matt und humorlos. Girardi außerordentlich. Man wär vielleicht minder streng gegen das Buch, wenn der Autor andern gegenüber weniger prätentiös wäre« (Schnitzler  : Tagebuch 1909–1912 [Anm. 63], Tagebucheintrag vom 23. Dezember 1910, S. 204).

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tion seiner künstlerischen Mittel immer wieder von neuem bewundern. Wie ergreifend ist er im stummen Spiel«.114 Das Neue Wiener Tagblatt staunte, wie »unerschöpflich die Register [sind], die der Kunst Girardis zur Verfügung stehen«, und lobte die Art, wie er die »Domestikenseele und das Vaterherz unter einen Hut bringt«.115 Auch die Neue Freie Presse sah in dieser Doppelrolle als Vater und Diener eine stilistische Schauspielerleistung vollkommenster Art  : jeder Zug, der behutsame Gang, die discrete Rede, der Herrschaftsdiener in bester Haltung und einer aus Altwien dazu. Meisterhaft. Und wundervoll, wenn das Vatergefühl durchbricht und sich in einer Zurückhaltung sondergleichen in einem stolzen, gleich wieder unterdrückten Lächeln, einem feuchten Auge, einer erschrocken beschwörenden Handbewegung meldet und sich sofort wieder unter den guten Manieren des wohlerzogenen Lakaien verbirgt.116

Auch Bühne und Welt bewunderte »Girardi in seiner meisterlichen Virtuosität«.117 Einzig die Österreichische Rundschau wagte Kritik, wenn auch nicht an Girardis Spiel, so doch an der Art und Weise, wie hier eine Girardi-Operette konstruiert worden war  : Die »sogenannte Girardi-Operette der letzten Jahre krankt an der fixen Idee ihrer ­Urheber, in den Mittelpunkt der Handlung einen alten, sentimentalen Wiener stellen zu müssen«. Das Urbild hierzu war Girardis Darstellung des Valentin in Raimunds Verschwender. Dabei war Valentin bei Raimund »nur im letzten Akt alt […], nicht drei Akte hindurch«. Eine solche Betonung des Alten und Sentimentalen wie in Mein junger Herr sei »Raubbau an der schönen, durch die Milde des Alters verklärten Innerlichkeit Girardis, ein Raubbau der zur Devastierung der reichsten Künstlerschaft führen muß«. Es langweile letztlich, »Girardi immer nur von seinem Alter singen und sagen zu hören«.118 Diese kritische Rezension signalisiert einen Geschmackswechsel von den an den alten Wiener Volksstücken orientierten Girardi-Operetten hin zu den modernen kosmopolitischen Operetten à la manière de Lustige Witwe, für die der Tenor Louis Treumann zum neuen Aushängeschild wurde.119 Das Raimundtheater, an dem Mein junger Herr uraufgeführt wurde, hatte sich seit 1908 unter der neuen Leitung von Wilhelm Karczag und Karl Wallner (die bereits das 114 [A. E.:] Raimundtheater (Anm. 102). 115 [R. P.:] »Mein junger Herr« (Anm. 102). 116 [Anonymus  :] »Mein junger Herr«, in  : Neue Freie Presse vom 24. Dezember 1910, S. 11. 117 Ludwig Klinenberger  : Von den Wiener Theatern 1910/11, in  : Bühne und Welt 13, 1 (1910), S. 392 ff., hier S. 394. 118 Die letzten Zitate alle aus Theodor Antropp  : Wiener Theater, in  : Österreichische Rundschau 26, 1 (1911), S. 161–164, hier S. 163 f. Antropp hatte auch zuvor schon über den Niedergang der Operette geklagt, vgl. Theodor Antropp  : Vom Verfall der Wiener Operette, in  : Der Strom 1 (1911), S. 65–71. 119 Vgl. Linhardt  : Residenzstadt und Metropole (Anm. 9).

Felix Saltens Alt-Wien-Idyll 

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Theater an der Wien leiteten) auf Operetten spezialisiert und bot seinen Zuschauern Ausstattungsstücke, die auch Wert auf opulente Kostüme und Bühnenbilder legten. Bei Mein junger Herr wurde im historisierenden »Krinolinen- und Lavendelstil« das Alt-Wien von 1830 auf die Bühne gezaubert.120 Die Neue Freie Presse beschrieb Saltens Inszenierung der »Kaiser Franz-Zeit. Reifröcke und Schmachtlocken, Escarpins und Jabots. Weiße goldverzierte Zimmer, deren Aussicht auf die Basteien und Glacis zeigt und in denen jedes laute und grelle Wort wie eine pöbelhafte Stillosigkeit wirkt«.121 Salten wählt für die beiden jungen Komtessen Kathi und Therese den Ton des Niedlich-Koketten  : »Wir sind zwei kleine Komtessen, / Wir schreiten ganz still und gemessen, / Die Augen zu Boden gesenkt, / Damit jeder sich denkt  : / Zwei kleine Komtessen, / Herzig zum Fressen«.122 Dieses Duett begeisterte das Publikum. Bei der Darstellung von Franzls Regimentskameraden fehlen auch nicht Ironie und sanfter Spott, denn die Wiener Leutnants von Salten sind von ihrer Wichtigkeit schon arg überzeugt und leicht großsprecherisch veranlagt. Während Leutnant Wellhofer die Bedeutsamkeit des Leutnants in einem kulinarischen Vergleich festhält (»ein Leutnant ist bei den Truppen – Wie Schnittlauch auf einer Suppen  !« [14]), ist Leutnant Jasnitz überzeugt  : »Und laß dir sagen, das Vaterland / Braucht immer noch einen Leutenant – / Und glaubens die andern auch schwerlich, / ’s ist jeder von uns unentbehrlich  !« (14) Der Unglaube der »andern« spiegelt hier durchaus auch dezent und indirekt eine mögliche Kritik an der Selbstherrlichkeit des österreichischen Militärs ein. Aber weder der niedlich-kokette Ton der kleinen Komtessen, noch der komisch-aufschneiderische von Franzls Freunden ist für den Gesamtklang von Mein junger Herr ausschlaggebend, der geprägt wird von den melancholischen Liedern des Dieners, dessen Herr und Sohn seinen Lebensinhalt darstellt und dem er sich opfert.123 Bereits sein Auftrittslied klagt, die Kinder »möchten fort in vollem Saus und Braus, / Es lockt sie längst in alle Welt hinaus, / Sie kommen jetzt erst recht in Schwung  ; / Da wird man alt und sitzt im leeren Haus – / Und sie sind jung  !« (9) Ähnlich melancholisch selbstbespiegelnd verabschiedet sich Florian auch mit seinem Schlusslied im dritten Akt  : Alt … Ja, alt … 120 [Anonymus  :] »Mein junger Herr« (Anm. 116). 121 Ebd. 122 Ferdinand Stollberg  : Mein junger Herr (Anm.  101), S.  22. Im Folgenden wird aus dem Libretto von Mein junger Herr nach dieser Ausgabe mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert. 123 In dieser Konfiguration ähnelt Mein junger Herr Girardis Leib- und Magenrolle in Mein Leopold von Adolf L’Arronge (Mein Leopold. Volksstück mit Gesang in 3 Acten. Musik von R. Bial, Text von L’Arronge. Berlin 1873).

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Die Jahre flieh’n im raschen Lauf, Man lebt so hin und paßt nicht auf – Erst nachher merkt man’s  : wie bald Wird man alt, Wie bald Ist man alt  !

Was hilft’s da noch, sich zu beklagen  ? Das muß man mit Fassung eben tragen […]. (47)

Dass diese Altersklage nicht vollständig ins Weinerliche abrutschte, war wohl der exorbitanten Darstellungskunst von Girardi und der leichthändig-eleganten Musik von Oscar Straus zu verdanken. Gleichzeitig sei hier abschließend noch auf eine kleine Parallele hingewiesen. Gut einen Monat nach der Uraufführung von Mein junger Herr in Wien hatte am 26. Januar 1911 der Rosenkavalier in Dresden Premiere. Auch dort gibt es eine Vergänglichkeitsklage einer Hauptfigur, die das eigene Altern reflektiert. Die Marschallin grübelt am Ende des ersten Akts über die eigene Vergänglichkeit  : »Aber wie kann das wirklich sein, / daß ich die kleine Resi war / und daß ich auch einmal die alte Frau sein werd  !.. / […] / Und man ist dazu da, daß man’s ertragt«.124 Die Benennung dieser Parallele (der Selbstappell der Hauptfigur, das eigene Altern mit Fassung zu ertragen) soll hier natürlich nicht implizieren, dass Hofmannsthal es nötig gehabt hätte, für seine ästhetisch komplexe Darstellung der Marschallin Saltens Libretto zu kennen. Hier sei lediglich darauf hingewiesen, dass die Vanitas-Gedanken durchaus zeitgleich zum Kernbestand der sentimentalen Wiener Girardi-Operette gehörten. Die zeitgenössischen Rezensionen haben diese Sentimentalität des Librettos von Salten auch rückgebunden an die Forderungen nach Psychologisierung, wie sie innerhalb der Wiener Moderne in den 1890er Jahren formuliert worden war. So bemerkte Theodor Antropp kritisch, dass von der Operette Mein junger Herr kein Reformimpuls ausgehe, weil sie sich »in der verfeinerten Langeweile psychologisch tuender Sentimentalität« verliere.125

124 Hugo von Hofmannsthal  : Der Rosenkavalier. Komödie für Musik, in  : Ders.: Operndichtungen 1. Hg. von Dirk O. Hoffmann und Willy Schuh. Frankfurt a. M. 1986 (Sämtliche Werke, Bd. 23), S. 36. 125 Antropp  : Wiener Theater (Anm. 118), S. 163.

Wertheimers und Batkas Die himmelblaue Zeit 

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4. Friedrich von Gentz, Moritz von Schwind und Eduard von Bauernfeld als Operettenfiguren in Die himmelblaue Zeit (1914) von Paul Wertheimer und Richard Batka Die Libretti zu Ein Walzertraum (1907), Der tapfere Kassian (1909), Mein junger Herr (1910) und Die galante Markgräfin (1919) hatten fiktive Figuren auf die Bühne zur Musik von Oscar Straus gebracht. Im frühen 20. Jahrhundert intensivierte sich allerdings die Mode, historische Gestalten auf die Operetten-Bühne zu stellen. Während man in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts gerne Mozart in den Mittelpunkt der Handlung rückte,126 konzentrierte man sich danach immer öfter auf einen versüßlichten Franz Schubert als Protagonisten.127 Das führte zu seltsamen Pasticci, in denen Musik von Mozart und Schubert bearbeitet wurde und im Operettenumfeld sich deutlich seichter geben musste als sie war. Aber nicht nur Komponisten der Hochkultur oder Virtuosen wie Paganini standen in der Operettengunst.128 Auch Dichter konnten zu OperettenHelden avancieren, so Nestroy in verschiedenen Singspielen,129 oder, vielleicht aus heutiger (und germanistischer) Perspektive am skurrilsten, Goethe in dem Singspiel Friederike von Franz Lehár, das die Sesenheimer Beziehung von Goethe und Friederike Brion zur verzuckerten Liebelei verniedlichte.130 Solche bekannten und sakrosankten Gestalten des kulturellen Gedächtnisses in den Mittelpunkt einer Operette zu stellen, bedeutete, sich um eine Verernstigung der Operette zu bemühen und gleichzeitig die Trennlinie zwischen Unterhaltungs- und Hochkultur bewusst zu verwischen. Ähnliches gilt auch für die Strategie, berühmte Figuren und Konstellationen der großen Politik- und Diplomatiegeschichte zu Operettenfiguren zu küren und gleichzeitig aus einem intimen Blickwinkel zu bebildern. Mätressenwirtschaft bei Hofe ist als Thema per se operettentauglich (weil sie angestammte Herrschafts- und Geschlechterordnungen karnevalesk und erotisierend durcheinanderwirbelt) und so verwundert es auch nicht, dass Leo Fall 126 Um Mozart kreisen Mozart. Ein Lebensbild in vier Akten (1854) von Franz von Suppé und Leonhard Wohlmuth, Wolfgang und Constanze. Charakterbild in drei Akten (1873) von Franz von Suppé unter Verwendung Mozartscher Motive und Anton Langer, Schikaneder. Historisches Original-Zeitbild mit Gesang in fünf Akten (1885) von Paul Mestrozi mit Benutzung von Melodien Mozarts und Friedrich von Radler, Mozart. Singspiel in zwei Akten und einem Nachspiel (1923) von Hans Duhan, Julius Wilhelm und Paul Frank. 127 Schubert in den Mittelpunkt stellen Franz Schubert. Original-Liederspiel in einem Akt (1864) von Franz von Suppé unter Benutzung von Schubert’schen Kompositionen und Hans Max, Schubert. Singspiel in einem Akt (1908) von Béla Laszky, Leo Heller und Richard Wurmfeld, Das Dreimäderlhaus. Singspiel in drei Akten (1914) von Heinrich Berté nach Franz Schubert, Alfred Maria Willner und Heinz Reichert. 128 Paganini. Operette in drei Akten (1925) von Franz Lehár, Paul Knepler und Bela Jenbach. 129 Auf der Nestroy-Insel. Festspiel (1880) von Friedrich von Radler, Johann Nestroy. Singspiel in drei Akten (1918) von Ernst Reiterer, Alfred Maria Willner und Rudolf Oesterreicher. 130 Friederike. Singspiel in drei Akten (1928) von Franz Lehár und Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda.

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sich an einer Madame Pompadour-Operette 1922 versuchte. Eine solche MätressenOperette ist auch, allerdings ins Wiener Biedermeier-Milieu versetzt, Die himmelblaue Zeit (1914), die um Fanny Elßler (1810–1884) kreist, österreichische Tänzerin und letzte Liebe des 46 Jahre älteren Friedrich von Gentz (1764–1832), dem Berater und Sekretär von Metternich, konservativen Staatsdenker, Übersetzer von Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France, weithin gehassten Spiritus rector der Karlsbader Beschlüsse und Organisator der österreichischen Restaurationspolitik. Die himmelblaue Zeit bildete den Auftakt zu weiteren Fanny-Elßler-Operetten und -Filmen.131 Auf die Idee, eine Elßler/Gentz-Operette zu versuchen, kam Paul Wertheimer, eine Randgestalt der Wiener Moderne, der gemeinsam mit Hugo von Hofmannsthal das akademische Gymnasium besucht hatte,132 mit Hermann Bahr und Arthur Schnitzler befreundet war und in den 1890er Jahren mit morbid dekadenten Gedichten als Lyriker des jungen Österreich von sich reden gemacht hatte.133 In der Gesellschaft bewarb er 1897 Hermann Bahrs Renaissance und erklärte den reichsdeutschen Lesern die Literatur des Jungen Wien als eine spätzeitliche.134 Nach seinem Jusstudium arbeitete er zugleich als Rechtsanwalt und Redakteur bei der Neuen Freien Presse und wurde bis 1932 von Karl Kraus in der Fackel unermüdlich attackiert, zusammen mit Raoul Auernheimer zur schwächlichen und talentlosen Nachhut der Wiener Moderne abgestempelt  : Kraus ätzte gegen den vermeintlichen »Esprit der Auern- und Wertheimer«.135 Die intermediale Offenheit hin zur Musik, wie sie sich im Libretto für Oscar Straus äußert, war für Wertheimer 1914 kein Novum, denn Wertheimer war befreundet mit Alexander Zemlinsky, der Gedichte von ihm bereits um die Jahrhundertwende vertont hatte.136 Für die Operettenbühne eingerichtet wurde Wertheimers Text von Richard Batka, einem Musikkritiker, der bei August Sauer Germanistik und Musikgeschichte bei Guido Adler studiert hatte, Musikredakteur beim Wiener Fremdenblatt war und Musikgeschichte an der Wiener Musikakademie lehrte. Er hatte sich mehrfach essayistisch im Kunstwart zu den neueren Operetten im 20. Jahrhundert geäußert. 1908 publizierte er 131 Die Tänzerin Fanny Elßler. Operette in drei Akten (1934) mit Musik von Johann Strauß, arrangiert von Oscar Stalla und Bernard Grun, Hofball in Schönbrunn (1937) von August Pepöck und Josef Wenter. 1937 kam auch der UFA-Film Fanny Elßler mit Lilian Harvey und Willy Birgel heraus. Aber bereits 1920 hatte Friedrich Zelnik einen Stummfilm gedreht über Die Erlebnisse der berühmten Tänzerin Fanny Elßler. 132 Davon berichtet er in Paul Wertheimer  : Hugo von Hofmannsthal. Versuch eines Schattenrisses, in  : Radio Wien, März 1929, S. 358 f. 133 Paul Wertheimer  : Gedichte. Leipzig 1896. Ders.: Neue Gedichte. München 1904. 134 Paul Wertheimer  : Hermann Bahrs Renaissance, in  : Die Gesellschaft 13 (1897), S. 91–103, hier S. 103. 135 Karl Kraus  : Die Riedauer, in  : Die Fackel vom 26. Januar 1911, S. 1 ff., hier S. 2. 136 Vgl. Lorraine Gorrell  : Discordant Melody. Alexander Zemlinsky, His Songs, and the Second Viennese School. London 2002, S. 159.

Wertheimers und Batkas Die himmelblaue Zeit 

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Operettenkoller und versuchte dort, dem enormen Erfolg von Lehárs lustiger Witwe und Straus’ Walzertraum auf den Grund zu kommen. Batka beobachtet, dass der Triumph dieser beiden neuartigen Operetten bewirkt hätte, »daß Musiker vom ›seriösen Fach‹ plötzlich ihre ›leichte Hand‹ entdeckten und Hals über Kopf ihre Seele dem Dreivierteltakt verschrieben. Kurzum, der Operettenkoller tobt im Lande, und es erscheint an der Zeit, ihn einmal als eine Kulturerscheinung zu betrachten«.137 Oscar Straus und Franz Lehár hätten, so die These von Batka, die in der neueren Forschung von Marion Linhardt aufgegriffen wurde,138 davon profitiert, dass Girardi für einige Jahre Wien verlassen habe. Denn Girardi stand, auch für Batka, für die sentimentale Alt-Wiener Operette, wohingegen die Libretti für Die Lustige Witwe und Ein Walzertraum nicht auf Girardi zugeschnitten waren und eine Zäsur ermöglichten  : »Seit Girardi dem Thea­ter an der Wien den Rücken gekehrt hat, ist deshalb die Operettenproduktion tatsächlich in eine neue Ära getreten, neue Kräfte sind frei geworden  – und Lehár und Strauß [sic] sind die Glücklichen, die zuerst davon Nutzen zogen«.139 Gleichwohl ist Batka 1908 nicht richtig zufrieden mit dieser neuen Operettenform, deren Herkunft aus dem »Tanzsaal« er bemängelt und bei der er doch auch zu häufig ein »Gemengsel von Blödsinn und Sentimentalität« vorfindet. Mangels besserer Alternativen erscheine der »›Walzertraum‹ in der modernen Operettenproduktion verhältnismäßig noch als ein Stück von fast literarischem Anstrich […]. Der intime Schluß, mit Verzicht auf das herkömmliche Hurra des Massenensembles erscheint wie eine revolutionäre Tat«.140 Batka hofft auf eine aristophanische Hebung des Operettenniveaus, dessen Ziel die Zeitsatire sein soll. Am Ende seines Textes Operettenkoller überlegt Batka, wer der neue Retter der Operette sein könnte  : Sollte Oskar Strauß [sic], der bisweilen eine Neigung verraten hat, die geistige Enge der Wiener Operettenkonventionen zu durchbrechen, der kommende Mann sein  ? Wir glauben’s nicht recht, aber wenn, dann  : Glück auf  ! Die Unabhängigkeit, die zu dieser Wandlung nötig wäre, dürfte er ja durch den Riesenerfolg seines »Walzertraums« inzwischen gewonnen haben.141

Enthusiasmus klingt anders, und doch finden Batka, Wertheimer und Straus 1914 zusammen, nachdem Batka sich 1912 im Kunstwart noch einmal bitter über den zeitgenössischen Operettenmarkt beklagt hatte.142 Die Premiere von Die himmelblaue Zeit 137 Richard Batka  : Operettenkoller, in  : Kunstwart 21, 17 (1908), S. 257–260, hier S. 258. 138 Linhardt  : Residenzstadt und Metropole (Anm. 9). 139 Batka  : Operettenkoller (Anm. 137), S. 258. 140 Die letzten Zitate alle bei Batka  : Operettenkoller (Anm. 137), S. 260 und 259. 141 Ebd., S. 260. 142 Richard Batka  : Operettenmarkt, in  : Kunstwart 26 (1912), S. 9–12.

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fand am 21. Februar 1914 in der Wiener Volksoper statt und wurde in der Presse warm aufgenommen.143 Die amouröse Beziehung von Friedrich von Gentz zu Fanny Elßler bot eine Reihe von operettenaffinen Konfigurationen, Motiven und Milieus  : Die himmelblaue Zeit wählt einen Stoff, der in Wien um 1830 zwischen Adel und Bürgertum spielt, und gehört, wie auch Mein junger Herr, zu den Operetten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Alt-Wien-Mythos bedienen. Jede Menge lokalprominentes Personal ließ dieses Musiktheater aufmarschieren  : Neben dem handlungstragenden Paar von Fanny Elßler und Friedrich von Gentz brachte das Singspiel den Maler Moritz von Schwind, den Dichter Eduard von Bauernfeld und den Satiriker Moritz Gottlieb Saphir als dramatische Randfiguren auf die Bühne. Es stand mit Fanny Elßler eine Tänzerin im Mittelpunkt, und so mussten die zahlreichen Tanzeinlagen, die in der Operette nach 1900 immer wichtiger wurden, nicht mehr künstlich motiviert werden, sondern erklärten sich selbstverständlich aus dem Beruf der Protagonistin. Der komische Alte, der sich heillos in die sehr viel jüngere Frau verliebt, beherrschte als senex amans bereits in der Antike die Bühne und war als Pantalone-Typus in der Opera buffa zu Hause.144 In diese Tradition der greisen Liebestrottel und komischen Gecken hätte man Gentz stellen und damit zugleich eine restaurationskritische Tönung formulieren und weiterhin die in der Wiener Operette so beliebte Preußenkarikatur perpetuieren können, war Gentz, der Sekretär Metternichs, doch von Geburt preußischer Protestant. Allein – eine explizit politische Positionierung wagt das Libretto dann nicht mit letzter Konsequenz. Gentz wird zwar einerseits im Nebentext phänotypisch auf den senex amans und Pantalone-Typus zugerichtet als »älterer Elegant, gut konserviert, sehr gepflegt, von weltmännischen Allüren. Er trägt violette Pantalons, seidene Weste«.145 Andererseits traut sich der Haupttext dann doch nicht, den Organisator der Restauration vollends zur lächerlichen Figur zu verzeichnen. So schwankt das Libretto etwas unentschlossen zwischen einer respektvollen Zeichnung von Gentz’ politischem Handeln und einer humoristischen Schilderung seiner privaten Nöte.

143 [R.:] Die himmelblaue Zeit, in  : Neue Freie Presse vom 22.  Februar 1914, S.  15. [E.B.:] Volksoper, in  : Neues Wiener Journal vom 22.  Februar 1914, S.  15. Ludwig Karpath  : »Die himmelblaue Zeit«, in  : Neues Wiener Tagblatt vom 22. Februar 1914, S. 17. [K.:]  : Volksoper, in  : Fremden-Blatt vom 22. Februar 1914, S. 19 f. L. G. Oberländer  : Verschiedenes aus aller Welt, in  : Allgemeine Rundschau vom 21. März 1914, S. 212. Gegenüber diesen freundlichen Besprechungen fällt der Verriss auf von Ottokar Stauf von der March  : Wiener Brief, in  : Bühne und Welt 16 (1914), S. 32–35, hier S. 32. 144 Vgl. Quissek  : Das deutschsprachige Operettenlibretto (Anm. 108), S. 116 f. 145 Paul Wertheimer  : Die himmelblaue Zeit. Ein Wiener Singspiel in drei Akten, bearbeitet von Richard Batka. Musik von Oscar Straus. München, Berlin 1914, S. 4. Im Folgenden wird das Libretto nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

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Dass es aber Wertheimer und Batka doch auch um augenzwinkernde Zeitkritik zu tun war, zeigt das Auftrittscouplet von Bauernfeld und Schwind, mit dem die Operette einsetzt. Bauernfeld und Schwind starten »im Bänkelsängerton« (5) mit einem zwiespältigen Lobpreis der eigenen Stadt und der eigenen Zeit. Es beginnt noch ganz harmlos und biedermeierselig im Duett von Bauernfeld und Schwind  : »Ist es nicht heute eine Lust zu leben / In unsrer lieben wunderschönen Stadt  ? / Wo man von Wein, Weib und Gesang umgeben / sein täglich Backhendel im Magen hat« (5). Moritz von Schwind singt dann allein weiter, ähnlich die Idylle ins Pastorale fortzeichnend (»Man zieht hinaus ins Hügelland der Reben. / Berauscht vom Heurigen und der Natur« [5]), aber Bauernfeld schließt die Strophe dann »(spöttisch) Und wem da ward ein loses Maul gegeben, / dem schließt es eigenhändig die Zensur« (5). Damit wird deutlich, dass das folgende Geschehen nicht nur apolitisch die Liebeswirren eines alternden Bonvivants umkreist, sondern dass die emotionalen Turbulenzen hier konkret in der rigiden Zensurpolitik der Metternich-Ära angesiedelt werden. Der Refrain besingt die Lebenslust in »unsrer himmelblauen, / Unsrer blümelblauen, / Unsrer himmel-blümel-blauen Zeit  !« (5) Die variierenden Wortwiederholungen und das hyperbolische neologistische Kompositum (»himmel-blümel-blau«) betont die überschäumende Harmlosigkeit in einer Weise über, die das Gegenwartslob durchaus ambivalent erscheinen lässt. An diese Doppeldeutigkeit knüpft auch die nächste Strophe von Bauernfeld und Schwind an  : Beide  : Schwind  : Bauernfeld  : Schwind  : Bauernfeld  :

Sind wir nicht glücklich heutzutag zu preisen  ? Sogar bei uns fängt schon der Fortschritt an  ! Man darf schon ohne Paß nach Grinzing reisen, Man spricht sogar von einer Eisenbahn. Der Leiermann darf spielen sanfte Weisen – Frei in die Lüfte krähen darf der Hahn  ! Der Luftballon darf frei im Äther kreisen – Doch bindet man ihn noch zur Vorsicht an  ! (5 f.)

Hier werden die Beschneidungen der Meinungs- und Pressefreiheit und auch der Personenfreizügigkeit in der Zeit von Metternichs Restaurationspolitik indirekt vorgeführt. Es wird zwar nicht konkret gesagt, was alles verboten wird, aber man kann als Zuhörer aus dem, was als erlaubt gepriesen wird, indirekt schließen, was sanktioniert wird. Während der »Hahn« »frei in die Lüfte krähen darf«, ist dies dem österreichischen Staatsbürger mitnichten möglich, der von einem rigiden Bespitzelungs- und Zensursystem eingeschränkt wird. Auch der »Leiermann« darf lediglich »sanfte Weisen« spielen, aufwiegelnde Revolutionslieder sind ihm verboten. Die Freizügigkeit der Person endet hinter Grinzing. Der »Fortschritt«, der hier als in seinen zarten Anfängen befindlich

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besungen wird, entpuppt sich als restauratives Gängelungssystem. Ähnlich charakterisiert Wertheimer auch noch 1920 die Metternich-Ära in der Einleitung einer von ihm herausgegebenen Sammlung von Texten zum Alt-Wiener Theater  : »Ein politisch gebundenes, mundtot gemachtes Volk tobte seine schlummernden Kräfte dort aus, wo es sich austoben durfte  : in Witz und Zote und in spaßige, rabelaishaft gesteigerte Figuren«.146 Ein Duettino im ersten Akt knüpft an diese Strategie der moderaten Zeitkritik an. Wertheimer und Batka lassen eine ältere Gräfin Hohenstein und einen ebenfalls älteren Grafen van der Eck, die sich durch bornierte Sehnsucht nach der guten alten Zeit auszeichnen,147 als der Adel noch unangefochten und die Jugend weniger rebellisch war, ein Jammerlied anstimmen, das auf den Zuschauer komisch wirken soll. Die Gräfin führt die Jugendrevolte ihrer Tochter zurück auf all die »verrückten Ideen / Die in den Büchern von Heine stehen… / Wie sittenlos ist dies Jahrhundert  !« (15) Der Graf kann ihr hier nur zustimmen (während der historische Gentz ein Connaisseur von Heines Schriften war und ihn verehrte). Der Graf klagt, »die neue Zeit, / Wohin, ach, soll all dies noch führen  ? / Die Mädchen von heute, / Die jungen Leute / Mit ihren modernen Allüren  !« (15) Die Gräfin bestätigt die Zeitklage und warnt vor der neuen Zeit »mit ihren Fortschrittsideen« (15). Und gemeinsam sind sie sich einig  : »Wie anders die Leute / Von einstmals und heute  ! / Wie sittenlos ist dies Jahrhundert  !« (16) Diese Gegenwartsklage mit ihrer Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als alles besser war, blickt von 1830 zurück auf die Zeit vor 1789. Aber implizit ermöglicht sie es dem Zuschauer in der Volksoper 1914, hier durchaus ein Spiegelbild der regressiven Alt-Wien-Mode um 1910 zu sehen. So wie hier die ältlichen Grafen auf das ancien régime zurückblicken, so sehnen sich die Zuschauer von Die himmelblaue Zeit zurück in das Alt-Wien von 1830. Dabei zeigt es sich, dass die Leute »von einstmals und heute« keineswegs so verschieden sind, wie das Graf und Gräfin vermeinen. Alle glauben gleichermaßen, dort wo sie nicht sind, das Glück zu sehen.

146 Paul Wertheimer  : Vorwort, in  : Alt-Wiener Theater. Schilderungen von Zeitgenossen. Eingeleitet und hg. von Paul Wertheimer. Wien 1920, S. 5–21, hier S. 18. 147 In der Personenbeschreibung werden Graf van der Eck als »älterer, pretiöser, sehr soignierter Hofmann« und die Gräfin als »ältere, ziemlich pompöse Erscheinung« (4) beschrieben.

III. Kriegsbeginn und Habsburgs Ende Von der Militarisierung zur Demobilisierung der Literatur (1914–1924)

1. Faktuale und fiktionale Mobilmachung in Metropole und Provinz Felix Saltens Wiener Kriegspublizistik und seine Garnisonsstadtnovelle Abschied im Sturm (1915)

Am 28. Juli 1914 wurde das österreichische Kriegspressequartier gegründet, das viele Schriftsteller in der Folge zu embedded poets des habsburgischen Imperiums machte. Als die Donaumonarchie an diesem Tag Serbien den Krieg erklärte, war Felix Salten ein erfolgreicher 44-jähriger Journalist, der sich in den Jahren zuvor einen enormen sozialen Aufstieg erarbeitet hatte. Während der Sohn eines verarmten ungarischen, jüdischen Ingenieurs in den 1890er Jahren noch gegenüber seinen großbürgerlichen Wiener Freunden Schnitzler und Hofmannsthal oft finanziell in die Bredouille geraten war, hatte er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewiesen, dass er sich mit dem Journalismus einen aufwendigen Lebensstil finanzieren konnte. Salten schrieb für die Wiener Neue Freie Presse und den Pester Lloyd, die deutschsprachige Zeitung Budapests.1 Während des Ersten Weltkriegs avancierte er als verantwortlicher Redakteur zum eigentlichen Chef der Zeitung des österreichischen Außenministeriums, dem Fremdenblatt, das er maßgeblich mitgestaltete. Salten begleitete aber nicht nur innerhalb der k. u. k. Doppelmo­ narchie das Kriegsgeschehen journalistisch, sondern er publizierte auch immer wieder als Korrespondent in reichsdeutschen Zeitungen. Im Berliner Tageblatt berichtete er den Deutschen am 27. Juli 1914 von der Stimmung am Entscheidungstag in Wien, als das österreichisch-ungarische Ultimatum gegenüber Serbien ablief.2 Dass ausgerechnet Salten die Aufgabe zuteilwurde, den Preußen die österreichische Befindlichkeit zwischen Julikrise und Mobilmachung zu erläutern, hat sicher auch mit 1 Vgl. Zsuzsa Bognár  : Kriegsvorahnung im Feuilletonteil des »Pester Lloyd« in den 1910er Jahren, in  : Wechselwirkungen. Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext. Beiträge der internationalen Konferenz des germanistischen Instituts der Universität Pécs vom 9.–11. September 2010. Hg. von Zoltán Szendi. Bd. 1. Wien 2012, S. 561–575. 2 Felix Salten  : Der Entscheidungstag in Wien, in  : Berliner Tageblatt vom 27. Juli 1914, S. 2 f. Der am 27. Juli veröffentlichte Text berichtet vom 25. Juli 1914 in Wien.

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seiner Berliner Vorgeschichte zu tun, denn Salten war 1905 für kurze Zeit als Chef­ redakteur der Ullsteiner Berliner Zeitung und der Morgenpost in die deutsche Hauptstadt übergesiedelt und hatte im S. Fischer Verlag eine Essaysammlung über Das österreichische Antlitz publiziert, in der er dem reichsdeutschen Publikum die kakanische Mentalität porträtierte.3 Während seiner Zeit als Berliner Redakteur hatte er auch immer wieder Artikel in der österreichischen Presse veröffentlicht, in denen er wiederum dem Wiener Publikum Berlin vorstellte als Die fremde Stadt. Thema mit Variationen.4 Salten präsentierte sich in Berlin als idealer Korrespondent für Wiener Belange und in Wien als intimer Kenner wilhelminischer Dispositionen, ein Wanderer zwischen den hohenzollernschen und habsburgischen Welten und eine wichtige Gestalt der Kontaktgeschichte zwischen der Berliner und Wiener Moderne, wie sie Peter Sprengel und Gregor Streim beschrieben haben.5 An diese eigene kulturvermittelnde Vergangenheit knüpfte Salten am 27. Juli 1914 an, als er den Berlinern die Stimmung in Wien auf den Straßen begreiflich zu machen suchte. Er ließ in acht kurzen Impressionen den Tag in Wien vom frühen Morgen bis Mitternacht Revue passieren und beschrieb die Atmosphäre auf den Straßen aus der Perspektive eines teilnehmenden Beobachters in einer wogenden Menge im Pluralis Modestiae. Den Übergang von angestrengter Spannung zu ekstatischer Begeisterung ebnet in diesen Skizzen immer wieder die Musik. Einer der ersten Abschnitte beschreibt die mittägliche Wachtparade vor der Hofburg, die eine »dichtgedrängte Menge« lautlos betrachtet, bis die Fanfarenmelodie von Prinz Eugen, der edle Ritter einsetzt. Sie fungiert als Fanal  : Dann brüllt die Menge hier auf wie ein Wettersturm und verschlingt das Reiterlied vom Prinzen Eugen. Und die Luft bebt bei diesem Ausbruch. Von der Musik hört man kaum mehr etwas als den rhythmischen Donner der großen Trommel und dann und wann den zerfetzten, blitzend hellen Klang der Flügelhörner. Unsere Nerven aber werfen sich gleichsam in dieses wilde Meer von Stimmen, tauchen darin unter, baden darin und erfrischen sich. Wir vergessen alle ruhigen Erwägungen, vergessen alles und schreien mit. Bald hören wir unsere Stimme

3 Felix Salten  : Das österreichische Antlitz. Berlin 1909. 4 Felix Salten  : Die fremde Stadt. Thema mit Variationen, in  : Die Zeit vom 13. Mai 1906, S. 1 ff. 5 Peter Sprengel, Gregor Streim  : Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Mit einem Beitrag von Barbara Noth. Wien, Köln, Weimar 1998. Bei Sprengel und Streim kommt Salten vor allem als Kriegspublizist in den Blick. Seine Bedeutung als Literatur- und Kulturvermittler zwischen Berlin und Wien vor 1914 harrt jenseits der biographischen Darstellungen von Driver Eddy (Beverly Driver Eddy  : Felix Salten. Man of Many Faces. Riverside 2010) und Mattl und Schwarz (Siegfried Mattl, Werner Michael Schwarz  : Felix Salten. Annäherung an eine Biografie, in  : Felix Salten. Schriftsteller – Journalist – Exilant. Hg. von Siegfried Mattl und Werner Michael Schwarz. Wien 2006, S. 14–73) noch der literarhistorischen Erschließung und Analyse.

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allein, bald wieder unsere Stimme gar nicht, sondern nur die Brandung, die uns umtost. […] Die Menge rast, und das hat etwas Befreiendes.6

Ähnliches passiert, als die Hymne Gott erhalte, Franz den Kaiser angestimmt wird, die normalerweise, so erläutert Salten den Berlinern gleich einem Cicerone, immer bei der Wachtparade gespielt wird, wenn die abgelöste Kompagnie die Fahne übergibt. Jeden Tag wird sie von der ruhigen Gaffermenge ruhig angehört und reißt mitten in der Strophe ab, wenn die Fahne übergeben ist. Heute aber fallen Tausende Menschenstimmen mit ein. […] Die Regimentskapelle bricht ab wie sonst. Aber die Masse der Menschen singt weiter.7

Der Ausnahmezustand wird nicht nur akustisch untermalt, sondern realisiert sich überhaupt erst in der Musik. Speziell für das Publikum in Berlin fügt Salten dann noch eine weitere musikalische Szene am Nachmittag in Wien ein. Er lässt sich in der Menge treiben, »ganz ziellos, wie mir schien. Dann aber […] merke ich, daß diese Menge hier ein bestimmtes Ziel hat«,8 und das ist die deutsche Botschaft, wo die Österreicher nun die deutsche Kaiserhymne Heil Dir im Siegerkranz und die Wacht am Rhein intonieren. Die Nibelungentreue zwischen Österreich und dem Deutschen Reich wird so suggestiv musikalisch beschworen, noch bevor Österreich und das Deutsche Reich den Krieg überhaupt erklärt haben. Die Mitternacht wird mit dem Radetzkymarsch eingeläutet, dem, so Salten, »genialsten, farbig fröhlichsten aller österreichischen Kriegsmärsche«.9 Abschließend reflektiert Salten über diesen eigentümlichen Schwebezustand zwischen Frieden und Krieg und bekennt sich zum begeisterten Überschwang der letzten Stunden, denn es gehört »zum besten Menschentum, in manchen Stunden solch gelassene Erwägung, solch ruhiges Philosophieren zu vergessen  !«10 Während Salten so in seinem nach Berlin adressierten Wiener Stimmungsbild am 27.  Juli 1914 die Kriegseuphorie auf der Straße als eine Verführung zum irrationalen Ausnahmezustand schildert, dem man sich guten Mutes hingeben könne, akzentuiert er die Situation zwei Tage später in der Wiener Neuen Freien Presse anders. Direkt auf der ersten Seite der Zeitung unterhalb des Kriegsmanifests des österreichischen Kaisers An meine Völker  ! ist Saltens Artikel Es muß sein platziert. Explizit bekennt er dort, »ach nein, wir sind in keinem Rausch« und betont die Überlegtheit und den feierlichen Ernst,   6 Salten  : Der Entscheidungstag in Wien (Anm. 2), S. 2.   7 Ebd.   8 Ebd., S. 3.   9 Ebd. 10 Ebd.

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mit denen sich Österreich zum Krieg entschlossen habe.11 In kritischer Auseinandersetzung mit dem Nationalstereotyp von der österreichischen Leichtlebigkeit und Lässigkeit beschwört Salten eine Wende zur Seriosität (»Wir sind auch nicht wie einst […] leichtfertig und übermütig«12) und durchzieht den Kommentar leitmotivisch mit der Sentenz »es muß sein«, mit der das staatstragende Feuilleton auch endet. Diese Formel »es muß sein« nahm Karl Kraus als Aufhänger, um sich über Saltens patriotisches Pathos und seine affirmative Kriegspublizistik zu echauffieren. Kraus ärgerte sich über Salten, der sich welthistorisch verstellt, Allerseelenstimmungen schreibt mit dem Refrain  : »es muß sein« und der Überzeugung Ausdruck gibt, daß auch im Innern der trauernden Mütter, der Witwen und Waisen »wie eherner Glockenklang dies Wort schwingt, dem wir uns alle beugen.« Muß es auch sein, daß sie sich das von Herrn Salten, einem jetzt unbeschäftigten Librettisten sagen lassen  ? Braucht die Musik des Todes solchen Text  ?13

Kraus’ Unmut bezog sich dabei nicht nur auf diesen ersten kriegsbejahenden Artikel von Salten in der Neuen Freien Presse, sondern auf viele weitere, die in den nächsten Wochen und Monaten folgten.14 Mit seinen journalistischen Arbeiten im Herbst und Winter 1914 beteiligte sich Salten engagiert am Krieg der Geister, an der Konstruktion eines deutsch-österreichischen Kulturkriegs gegen eine westliche Zivilisation.15 Als Henri Bergson und Maurice Maeterlinck den Weltkrieg zu einem Kampf der Zivilisation gegen die deutsche Barbarei erklärten, schaltete sich Salten ein auf Ein Wort vom Barbarentum. Von einem Schriftsteller der Wiener Moderne mussten Maeterlincks Aussagen gegen die deutsch-österreichischen Barbaren als besonders schmerzlich empfunden werden, hatte 11 Felix Salten  : Es muß sein, in  : Neue Freie Presse vom 29. Juli 1914, S. 1 ff., hier S. 1. Vgl. hierzu auch Alfred Pfoser  : Der Schmock funèbre. Die Kriegsfeuilletons des Felix Salten, in  : Kulturmanöver. Das k. u. k. Kriegspressequartier und die Mobilisierung von Wort und Bild. Hg. von Sema Colpan, Amália Kerekes, Siegfried Mattl, Magdolna Orosz und Katalin Teller. Frankfurt a. M. 2015, S. 111–126. 12 Salten  : Es muß sein (Anm. 11), S. 2. 13 Karl Kraus  : Ich hatt’ einen Kameraden, in  : Die Fackel vom 10. Dezember 1915, S. 84. Mit der beruflichen Einordnung Saltens als »jetzt unbeschäftigten Librettisten« bezieht sich Kraus (wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt) auf das Textbuch, das Salten unter Pseudonym für Oscars Straus’ am Raimundtheater 1910 uraufgeführter Operette Mein junger Herr verfasst hatte. 14 Vgl. zur Neuen Freien Presse im Ersten Weltkrieg Sigurd Paul Scheichl  : Journalisten leisten Kriegsdienst. Die »Neue Freie Presse« im September 1915, in  : Österreich und der Große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte. Hg. von Klaus Amann und Hubert Lengauer. Wien 1989, S. 104–109. Und allgemeiner zur österreichischen Kriegspublizistik  : Musen an die Front  ! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda zwischen 1914 und 1918. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung. Hg. von Jozo Džambo. München 2003. Eberhard Sauermann  : Literarische Kriegsfürsorge. Österreichische Dichter und Publizisten im Ersten Weltkrieg. Wien, Köln, Weimar 2000. 15 Vgl. die zeitgenössische Publikation  : Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkrieg 1914. Hg. von Hermann Kellermann. Weimar 1915.

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Hermann Bahr 1891 doch Maeterlinck als Dichter eines nervösen Symbolismus den Jungwienern als Vorbild anempfohlen.16 Aus Saltens Feuilleton klingt dementsprechend auch eine große Enttäuschung heraus, dass das Idol der 1890er Jahre sich so schroff gegenüber den begeisterten Rezipienten von ehedem äußert. Salten nutzt die Kriegspublizistik, um die eigene ästhetische Vergangenheit umzuwerten und kritisch zu bilanzieren. Retrospektiv erscheint der französisch-belgisch-deutsche Kulturtransfer als ein Irrweg, wenn er klagt  : Kein Talent hat auf Frankreichs […] Boden die Augen aufgeschlagen, dem wir nicht entgegen­ geeilt wären, um es zu begrüßen. […] Wir haben unsere eigenen Arbeiten beiseite geschoben, um für die anderen Aufmerksamkeit zu werben, wir haben unseren eigenen Kräften den Raum geschmälert, um den Fremden Platz zu schaffen. […] Wir haben das Wesen der Gallier […] studiert, haben vom Besten aufs Gute geschlossen und es unter uns verkündet. Und was haben wir dafür empfangen  ?17

Als sich in der französisch-englischen Kriegspublizistik die Vorstellung formierte, man wolle diesen Krieg als einen gegen den deutschen Militarismus, aber nicht gegen die deutsche Kultur verstanden wissen, meldete sich Salten wieder zu Wort. Nachdem Anatole France und George Bernard Shaw metonymisch proklamiert hatten, dieser Krieg werde nicht gegen Goethe und Beethoven geführt, sondern dieser Krieg richte sich lediglich gegen Potsdam (als Inbegriff des preußischen Militarismus), veröffentlichte Salten in der Neuen Freien Presse eine zweiteilige Studie über Potsdam, die Arthur Schnitzler »vorzüglich« fand.18 Hatte Salten Ende Juli 1914 den Berlinern vom Entscheidungstag in Wien berichtet, entwirft er den Wienern jetzt Potsdam nicht so sehr als Stätte eines martialischen Militarismus, sondern als Musterfall deutscher Kultur. Geschickt zitiert er Voltaires Sentenz, dass sich in Potsdam zugleich »Grenadiere und Musen, Kriegstrompeten und Geigen« befänden und schließt mit einem flammenden Plädoyer für eine unteilbare deutsche Kultur, deren militärische Elemente sich nicht abkoppeln ließen  : Das Deutschland, das Goethe, Schiller, Kleist und Beethoven, Mozart und Schubert gebar, ist so arm, ist so schwach gewesen, daß es seine Genies […] mußte darben lassen. Diesem Volk 16 Hermann Bahr  : Maurice Maeterlinck, in  : Das Magazin für Litteratur 60, Nr.  2 vom 10.  Januar 1891, S. 25 ff., hier S. 26. 17 Felix Salten  : Ein Wort vom Barbarentum, in  : Neue Freie Presse vom 10. September 1914, S. 1–4, hier S. 2. 18 Vgl. Tagebucheintrag Schnitzlers vom 28. Oktober 1914  : »Bei Salten, ihm über sein vorzügliches Potsdam Feuilleton gutes sagen« (Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1913–1916. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik u.a. hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1983, S. 146 f.).

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ist zu Königsberg und Weimar, zu Salzburg und Wien unsterblicher Ruhm erstanden. Derweil aber wurde ihm zu Potsdam ein festes Dach gezimmert. […] In Potsdam haben sie zur Reveille geblasen, und da sind alle deutschen Kräfte aufgestanden, die Nüchternheit und der Fleiß und die leidenschaftliche Pflichterfüllung, die zähe Ausdauer und der haushälterische Sinn und der Handelsgeist und der schlaflose Wille zur Macht. Es klingt sehr schön, wenn man sagt  : Goethe und Beethoven gehören der ganzen Welt. Aber nun soll auch die ganze Welt einmal dem Volk gehören, das Goethe und Beethoven hervorgebracht hat.19

Das großdeutsche Timbre, das Schiller und Schubert als Angehörige eines »Volks« ausstellt und Weimar und Wien zusammenzieht, ist durchaus typisch für diese frühen Kriegsfeuilletons Saltens.20 Die erstaunliche imperialistische Schlussvolte, die gleich nach der »ganzen Welt« ausgreift, und dies mit kultureller Hegemonie legitimiert, illustriert die Intensität seines kulturkriegerischen Engagements. Die vor allem in der französischen Kriegspublizistik ausgestaltete Idee, dass man es gegenwärtig mit zwei unterschiedlichen Deutschlands zu tun habe, einem zu verehrenden der Dichter und Denker und einem anderen zu bekämpfenden der Militaristen und Barbaren, wird immer wieder in der deutsch-österreichischen Kriegspublizistik kritisch diskutiert. Der jüdische Philosoph Karl Joël etwa rekapituliert, die Kriegsschriften der Franzosen »wollen den stillen Denker […] vor dem Damoklesschwert des Militarismus schützen  ; sie wollen den Engel Goethe vom Teufel Bismarck erlösen«. Gegen diese Vorstellung behaupten Joël und Salten gleichermaßen eine Übereinkunft von deutscher Kultur und deutschem Militarismus, ganz so, wie es in der deutschen sogenannten Erklärung an die Kulturwelt im Herbst 1914 formuliert und von 93 Wissenschaftlern und Künstlern unterzeichnet worden war. So fragt Joël suggestiv  : Muss man denn erst zeigen, »wieviel Kantischer Pflichteifer im preußischen Unteroffizier, wieviel Hegelscher Ordnungssinn im preußischen Beamten lebt  ?«21 Während im Deutschen Reich der publizistische Einsatz vieler jüdischer Intellektueller im Kulturkrieg auch und vor allem von der Hoffnung getragen war, die Burgfriedensparole von Wilhelm II. auf das deutsch-jüdische Verhältnis auszudehnen,22 scheint 19 Felix Salten  : Studie über Potsdam, in  : Neue Freie Presse vom 21. Oktober 1914, S. 1 ff. und 28. Oktober 1914, S. 1 ff., hier 28. Oktober 1914, S. 3. 20 Vgl. auch Peter Sprengel  : Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 803. 21 Karl Joël  : Neue Weltkultur. Leipzig 1915, S. 42 und 53. 22 Hermann Cohens Schriften Über das Eigentümliche des deutschen Geistes (Berlin 1914) und über Deutschtum und Judentum (Gießen 1923) stehen für eine solche Hoffnung auf eine deutsch-jüdische Symbiose im Zeichen des Burgfriedens. Vgl. hierzu Ulrich Sieg  : Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Berlin 22008. Petra Ernst  : Der Erste Weltkrieg in deutschsprachig-jüdischer Literatur und Publizistik in Österreich, in  : Krieg  – Erinne-

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eine vergleichbare Vorstellung beim Österreicher Salten nicht vorrangig zu sein. Die Belange speziell der jüdischen Bevölkerung spielen in seinen Kriegsfeuilletons eher selten eine Rolle. Eine Ausnahme stellt der Artikel Praterspatzen dar, in dem Salten um Mitleid und Verständnis für die jüdischen galizischen Flüchtlinge in Wien wirbt. Die Religionszugehörigkeit der galizischen Flüchtlinge wird von Salten kein einziges Mal explizit benannt, und doch reagiert der Artikel merklich auf die antisemitische Stimmung gegenüber den Flüchtlingen. Saltens Artikel verarbeitet wohl auch ein Gespräch, das er einige Tage zuvor mit Schnitzler geführt hat, und von dem Schnitzler im Tagebuch Folgendes festhält  : »Nachher Saltens. […] Der Antisemitismus hier, durch die galizischen Flüchtlinge gesteigert. Kläglich freches Benehmen gewisser höherer behördlicher Factoren – Ideen zu ›habsburgischen Festspielen‹. – Hugo, als Politiker  ; will die übeln Wirkungen des Katholizismus nicht zugeben«.23 Auch wenn sich Salten vor 1914 und nach 1918 immer wieder zum Zionismus äußert und Theodor Herzl würdigt,24 so scheint doch während des Ersten Weltkriegs das Interesse an jüdischen Fragen zurückzutreten. Das mag auch mit der offiziösen Stellung Saltens zu tun haben, die er als leitender Redakteur der Zeitung des Außenministeriums einnahm, der einzigen Zeitung, die Kaiser Franz Joseph wirklich gelesen haben soll. Ab Juli 1916 gehörte Salten zur Literarischen Gruppe im Kriegsarchiv.25 Er rückte mit diesen Tätigkeiten nah ans Zentrum der Macht, und das schmeichelte ihm und provozierte den Spott von Karl Kraus über den »Hof- und Kammerfeuilletonisten« Sal-

rung – Geschichtswissenschaft. Hg. von Siegfried Mattl, Gerhard Botz, Stefan Karner und Helmut Konrad. Köln, Weimar 2009, S. 47–72. David Rechter  : The Jews of Vienna and the First World War. Oxford 2008. Weltuntergang. Jüdisches Leben und Sterben im Ersten Weltkrieg. Hg. von Marcus G. Patka im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Wien 2014. 23 Felix Salten  : Praterspatzen, in  : Neue Freie Presse vom 22. Dezember 1914, S. 1–4. Schnitzler  : Tagebuch 1913–1916 (Anm. 18), S. 158, Tagebucheintrag vom 18. Dezember 1914. Zum Krieg in Galizien vgl. auch Primus-Heinz Kucher  : Schicksal und Trauma. Galizien und Karpathen in der Wahrnehmung österreichischer Autoren zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in  : Kulturen des Erinnerns. Hg. von Hajnalka Nagy und Jörg Meier. Innsbruck 2015, S. 38–48. 24 Zu Saltens Stellung zum Judentum vgl. Manfred Dickel  : »Ein Dilettant des Lebens will ich nicht sein.« Felix Salten zwischen Zionismus und Jungwiener Moderne. Heidelberg 2007. Siegfried Mattl  : Felix Salten. Zionismus als literarisches Projekt, in  : Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus  – Zionismus. Hg. von Frank Stern und Barbara Eichinger. Wien, Köln, Weimar 2009, S. 419–426. 25 Vgl. hierzu Elisabeth Buxbaum  : Des Kaiser Literaten. Kriegspropaganda zwischen 1914 und 1918. Wien 2014, S. 144–158. Manfried Rauchensteiner  : Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger-Monarchie 1914–1918. Wien, Köln, Weimar 2013, S. 231. Peter Broucek  : Das Kriegspressequartier und die literarischen Gruppen im Kriegsarchiv 1914–1918, in  : Österreich und der Große Krieg (Anm. 14), S. 132–139, hier S. 137. Kurt Peball  : Literarische Publikationen des Kriegsarchivs im Weltkrieg 1914 bis 1918, in  : Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 14 (1961), S. 240–260.

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ten, der sich »welthistorisch verstellt«.26 Salten hatte Kontakt mit dem Außenminister Ottokar Graf Czernin und dem Ministerpräsidenten Ernest von Koerber. Als Kaiser Franz Joseph starb, vermittelte die Fürstin Metternich Salten die Gelegenheit, allein vor dem Sarg Franz Josephs in Schönbrunn zu stehen. Voll Pathos beschrieb Salten auch das Staatsbegräbnis, worüber sich wiederum Karl Kraus in der Fackel erhitzte und Salten als »Trauergalaschmock«, »Schmock funèbre«, »rechtmäßige[n] Arrangeur historischen Reichtums« und als verkappte Hofschranze beschimpfte.27 In seinen unveröffentlichten Memoiren berichtet Salten davon, dass ihn Graf Galen als Öffentlichkeitsberater für Kaiser Karl, den Nachfolger von Franz Joseph, gewinnen wollte.28 Diese amtlichen Rollen, die Salten wohl auch gern ausfüllte, erklären zum Teil die Vehemenz der Kriegsfeuilletons. Aber diese staatstragenden Äußerungen sind nicht die einzigen Zeugnisse von Salten aus der Kriegszeit. In privaten Briefen und Gesprächen zeigt sich seine Haltung ambivalenter. Man findet zwar auch dort patriotischen Überschwang und Kriegsbejahung  : Ich glaube und hoffe es, dass wir alle sehr verändert aus diesem Krieg hervorgehen werden. Und ich hab eine so feste Zuversicht zu unserem alten Österreich  ! Das merke ich oft daran, dass ich in der fiebernden Aufregung in der ich, wie jetzt wohl jeder, lebe, doch niemals ein Bangen spüre. So selbstverständlich sitzt mir die Gewissheit in der Brust, dass wir den Sieg für uns haben werden. […] Und überall hört man wie glänzend unsere Truppenoffiziere sich halten und stets im Feuer voraus gehen. All das ist gut und macht einen in dieser Zeit froh.29

Aber Salten äußert auch schon früh immer wieder Zweifel am Sinn und Zweck dieses Krieges  : Hier ist es so ganz still, ganz einsam und das beruhigt einigermassen. Sonst – wenn man sich’s klar macht, was jetzt geschieht und warum es geschieht – könnte man verzweifeln. Wer dran glaubt, dies alles sei wegen Serbien ist eigentlich zu beneiden. Denn er hat doch etwas, um sein Rechtsgefühl damit zu füttern.30

26 Karl Kraus  : Wenn ein hoher Herr gestorben ist, in  : Die Fackel vom 5. Februar 1913, S. 6 f., hier S. 6. Kraus  : Ich hat’ einen Kameraden (Anm. 13). 27 Vgl. Karl Kraus  : »Es gibt Galaschmöcke«, in  : Die Fackel vom 18. Januar 1917, S. 42 f. 28 Vgl. Mattl, Schwarz  : Felix Salten. Annäherung an eine Biografie (Anm. 5), S. 48. 29 Brief Saltens an Ernst Décsey vom 6. September 1914, zitiert nach Mattl, Schwarz  : Felix Salten. Annäherung an eine Biografie (Anm. 5), S. 45 (Wienbibliothek [WB] Salten-Briefe I.N.158.116). 30 Brief Saltens an Schnitzler vom 10. August 1914, zitiert nach Mattl, Schwarz  : Felix Salten. Annäherung an eine Biografie (Anm. 5), S. 45 (Brief in Abschrift im Nachlass Felix Salten, Archiv Lea Wyler, Zürich [NFS/ALW]).

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Eine weitere Facette von Saltens Stellung zwischen Kriegspropaganda und Friedenssehnsucht wird sichtbar, wenn man seine fiktionalen Texte hinzuzieht. Im Folgenden soll daher eine Erzählung von Salten vorgestellt werden, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs entstand und 1915 in München im Albert Langen Verlag erschien in der Reihe Geschichten aus Deutschlands Kämpfen 1914/15.31 Arthur Schnitzler würdigte Saltens Text etwas gönnerhaft, aber durchaus anerkennend, indem er gleichzeitig Bahrs Kriegsdrama Der muntere Seifensieder. Ein Schwank aus der deutschen Mobilmachung (1915) abkanzelt und Saltens Leutnantsnovelle lobt  : »Las Bahrs neuen Schwank (Seifensieder), der am Schluss einfach wie vertrottelt wirkt  ; – von Salten eine ganz hübsche Novelle ›Abschied im Sturm‹«.32 Dass Schnitzler Saltens Text gefiel, mag auch damit zu tun haben, dass Personenkonstellation und Erzähltechnik Anleihen bei Schnitzlers Œuvre nehmen. Hier lässt sich auch an einem Kriegstext von Salten zeigen, wie sehr Schnitzler als Stilvorbild für Saltens Werk prägend ist. Saltens Novelle Abschied im Sturm erzählt eine Ehebruchsgeschichte in Zeiten der Mobilmachung, aus dem Hochsommer 1914. In einer namenlosen österreichischen Garnisonsstadt in der Nähe von Wien unterhält der junge Leutnant Ferdinand Rohn­ bach seit wenigen Wochen ein amouröses Verhältnis mit der reichen Fabrikantengattin Justine Bernhaber. Während die 31-jährige Justine für Ferdinand leidenschaftlich entflammt ist, fühlt sich der Leutnant in der Liaison unwohl und zu der 17-jährigen Mathilde Hirschwanger hingezogen. Die österreichische Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli 1914 und der Aufbruch des Leutnants in den Krieg (sein Abschied im Sturm) beenden das Verhältnis, von dem Justines Ehemann Eduard Bernhaber bereits wusste. Salten greift mit dem Abschied zu Kriegsbeginn novellistisch ein Sujet auf, das er bereits feuilletonistisch im August 1914 bearbeitet hatte.33 Der Krieg erscheint hier als großer Verernstiger des Lebens. Er bewahrt Ferdinand Rohnbach zwar vor einem möglichen Duell mit dem betrogenen Ehemann, aber bringt ihn in die Todesgefahr der Front. Die Mobilmachung führt eine Zeit der Leichtlebigkeit zum Abschluss und markiert einen Epochenwechsel. Die Erzählung endet mit dem Auszug von Ferdinand Rohnbachs Dragonerregiment aus der Garnisonsstadt. Die Novelle gliedert sich in neun (vier- bis zwölfseitige) Kapitel, die zwei Tage im Juli 1914 als erzählte Zeit umfassen. Während die ersten vier Kapitel hauptsächlich die private Dreiecksgeschichte entwickeln, stellen die Kapitel sechs bis neun die Mobilmachung in den Mittelpunkt. Den Übergang von 31 Felix Salten  : Abschied im Sturm. München 1915. Die Erzählung wird im Folgenden im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert. Vgl. zu Abschied im Sturm die Analysen bei Jürgen Ehneß  : Felix Saltens erzählerisches Werk. Beschreibung und Deutung. Frankfurt a. M. 2002, S. 209–213. Michael Gottstein  : Felix Salten (1869–1945). Ein Schriftsteller der Wiener Moderne. Würzburg 2007, S. 174–180. 32 Vgl. Tagebucheintrag Schnitzlers vom 23. Januar 1915 (Anm. 18), S. 170. 33 Vgl. Felix Salten  : Leb’ wohl … komm wieder, in  : Neue Freie Presse vom 12. August 1914, S. 1 ff.

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der privaten zur politischen Geschichte bildet spiegelsymmetrisch das mittlere fünfte Kapitel. Das Personal dieser Novelle alludiert noch einmal zahlreiche Konfigurationen der Wiener Moderne. Leutnant Ferdinand teilt mit Lieutenant Gustl die amouröse Umtriebigkeit und Arroganz des Offiziers gegenüber der bürgerlichen, nicht militärischen Welt. Das heimliche Stelldichein des jungen Ferdinand mit der verheirateten Justine, mit dem die Novelle anhebt, zitiert die Szene »junger Herr – Ehefrau« aus Schnitzlers Reigen  ; und die Dreieckskonstellation, in der sich Ferdinand zwischen der sozial hochgestellten verheirateten Dame und dem jungen unverheirateten Mädel entscheiden soll, erinnert wohl nicht von ungefähr an Liebelei. Die Gefahr des Entdecktwerdens und die mögliche Konsequenz eines Duells am Ende der Novelle lassen auch noch einmal das Duell in Schnitzlers Liebelei als Reminiszenz aufscheinen. Zugleich gestaltet Salten (vielleicht auch mit einem nibelungentreuen Blick nach Preußen) Gespräche zwischen dem älteren betrogenen Ehemann und seinem vertrauten Jugendfreund in einer Weise, die dem Leser möglicherweise intertextuell auch das Gespräch von Innstetten und Wüllersdorf über das Duellwesen in Effi Briest in Erinnerung rufen. Während in Effi Briest allerdings Wüllersdorf und Innstetten explizit für und wider das Duellwesen sprechen, begnügt sich Abschied im Sturm mit der Personenkonstellation »betrogener Ehemann im Gespräch mit vertrautem Jugendfreund«, um eben diese Szene aus Fontanes Roman dem Leser ins Gedächtnis zu rufen. In der österreichischen Garnisonsstadt bleibt vieles unausgesprochen, was im Berlin von Fontanes Roman direkt debattiert wird. Salten minimiert die äußere Handlung und konzentriert sich impressionistisch auf die psychologische Introspektion der drei Hauptfiguren. Im verinnerten Erzählen werden die »Seelenstände« (Hermann Bahr) von Ferdinand, Justine und Eduard dem Leser ausführlich sichtbar gemacht. Die Mobilmachung erscheint als Kulisse für das private Geschehen, und Salten zeigt die Unsicherheit der Menschen angesichts der sich in ihr Leben hineindrängenden großen Geschichte. Diese Kriegserzählung spielt nicht an der Front, sondern in der Heimat  ; sie interessiert sich nicht für eine (wie auch immer geartete) Charakteristik des Feindes, sondern sie bleibt national selbstbezüglich, und sie »nutzt das Bild einer krisengefährdeten Ehe als Symbol für die instabile Vorkriegszeit«.34 Erzähltechnisch steht Saltens Leutnantsnovelle ganz in der Schuld von Hermann Bahrs narratologischem Manifest Die neue Psychologie (1890), in dem Bahr die Subjektivierung des Erzählens als Projekt des Jungen Wien formuliert hatte. Bahrs Ziel war es gewesen, eine Form personalen Erzählens zu entwickeln, »indem die Zusätze, Nachschriften und alle Umarbeitungen des Bewußtseins ausgeschieden und die Gefühle

34 Gottstein  : Felix Salten (Anm. 31), S. 177.

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auf ihre ursprüngliche Erscheinung vor dem Bewußtsein zurückgeführt werden«.35 Bahr forderte eine strikte Zurücknahme des Erzählers als privilegierte nullfokalisierende Deutungsinstanz  ; der Erzähler »darf nicht plötzlich aus der Versenkung herauf­ tauchen mit Zwischenreden, Behauptungen, Erklärungen«.36 Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler und auch Felix Salten hatten seit den 1890er Jahren mit Brief- und Tagebucherzählungen experimentiert, Formen der erlebten Rede und des inneren Monologs erprobt, um eine solche Subjektivierung (ohne auktoriale Bewertungen) zu realisieren. An diese narrativen Versuche knüpft Salten in seiner Leutnantsnovelle an, um den Krieg von unterschiedlichen Perspektiven aus in erlebter Rede zu bespiegeln, ohne ihn letztgültig zu bewerten. Kapitelweise wechseln die Standpunkte, und der Leser blickt auf das Geschehen mal aus der Perspektive des betrogenen Ehemanns, mal aus der des in den Krieg ziehenden Leutnants und mal aus der der von ihrem Geliebten verlassenen Justine. Ein Morgen dieser Geschichte wird repetitiv, zwei Mal hintereinander erzählt, erst aus der Perspektive Justines, dann aus dem Blickwinkel ihres Mannes. Eine privilegierte Erzählermeinung, wie denn nun der Krieg endgültig zu bewerten sei, bleibt unausgesprochen. Und so erscheint der Krieg Eduard Bernhaber zu Beginn »nichts anderes als ein Mittel, Justine zu überführen« (46 f.), dann als ungerechte »Veranstaltung, lediglich zu dem Zweck getroffen, damit der Leutnant Rohnbach ihm entwischen könnte« (49). Erst allmählich schiebt sich neben diesen intimen Blickwinkel eine welthistorische Perspektive, als die Erzählung aus den privaten Räumen der Fabrikantenvilla auf den öffentlichen »schwarz-gelb« und »rot-weiß« beflaggten Marktplatz schwenkt, auf dem die ausziehenden Regimenter der Garnison bejubelt werden. Die Novelle führt die kleinstädtische Kriegsbegeisterung parallel zu der eifersüchtigen Erregung des gehörnten Ehemanns, der angesichts der ihn umgebenden triumphierenden Menge nicht mehr recht zwischen amourösem und bellizistischem Ausnahmezustand zu unterscheiden vermag  : Niemals noch hatte er dergleichen gefühlt, wußte auch nicht, was er jetzt eigentlich fühlte, aber eine Lust war in ihm, in lautes Rufen auszubrechen. Er hielt sich jetzt für fähig, zu jubeln oder zu schluchzen, wußte weder für das eine, noch für das andere eine Veranlassung, hätte es nicht vermocht irgendeine der vielen Regungen, die ihn jetzt durchzuckten, in Worte zu fassen, und spürte nur, daß alle Pforten seines Wesens plötzlich weit offen standen. (55 f.)

35 Hermann Bahr  : Die neue Psychologie, in  : Moderne Dichtung 2, Heft 2, Nr. 8 vom 1. August 1890, S. 507 ff. und ebd. Heft 3, Nr. 9 vom 1. September 1890, S. 573–576, hier S. 508 f. 36 Ebd., S. 574.

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Bernhaber ist hin und her gerissen zwischen seinen privaten Nöten und der anbrausenden Exaltation der kleinstädtischen Menge. Er stemmt sich zwar gegen die Massenstimmung  ; in erlebter Rede wird seine persönliche Abwehr dargestellt (»Was ging ihn das alles hier an, wovon die Welt bewegt wurde  ? Sein eigenes Haus, sein eigenes Lebensglück stürzte zusammen« [57]). Aber diese Distanz vermag er nur so lange aufrecht zu erhalten, bis der Radetzkymarsch erklingt, der schließlich auch Bernhabers private Interpretation der Situation verdrängt. Wie schon in Saltens Kriegsfeuilletons kommt auch in seiner Novelle der Militärmusik eine katalysatorische Funktion zu. Die Macht der Musik erschließt Eduard Bernhaber die welthistorische Dimension des Geschehens  : Der Krieg bedeutete ihm jetzt nicht mehr ein bloßes Wort, er schien ihm nun nicht mehr ein Zufall, aus dem er persönlich die Möglichkeit gewinnen konnte, ein sehr unwichtiges weibliches Wesen einer sehr unwichtigen Verfehlung zu überführen. Er dachte nicht mehr, daß hier eine Veranstaltung getroffen worden sei, um einen jungen Mann, den er zur Rechenschaft ziehen wollte, entwischen zu lassen. (60)

Dem Radetzkymarsch widmete Salten auch ein eigenes Kriegsfeuilleton.37 Das Musikstück fungiert in der Novelle massenpsychologisch als Stimmungsvereinheitlicher, und es stellt die Situation 1914 in eine historische Kontinuität. Der Krieg, so heißt es, war vor allem in dem alten Marschlied, das nun über die Menschen hinjubelte und pochte. Im tiefsten Grund dieser Melodie hatte er geschlummert. Und diese Melodie war viele Jahre lang nichts gewesen, als ein leichtes ergötzlich leeres Spiel. Jetzt aber war der Krieg darinnen wieder aufgewacht und stürmte hervor mit Flammen und Funken. (60 f.)

Diese Vorstellung vom Krieg als kathartischem Bringer der neuen Ernsthaftigkeit, die mit einer schalen Vorkriegszeit des »ergötzlich leere[n] Spiels« aufräumt, zeigt sich besonders markant in der Figur des Jugendfreundes von Eduard Bernhaber, dem Bezirksrichter Dr. Schaller, der in den letzten Jahren »dick und weich und schlapp«, »wie kraftlos« (49) geworden war. Die Situation im Juli 1914 verändert ihn, Bernhaber beobachtet, dass Schallers »sonst so bierselig schwimmende Augen einen harten, tiefen Glanz angenommen hatten und dunkler geworden schienen« (52). Mit dem Krieg hält die Wirklichkeit Einzug in einer bis dato bequemen Welt ohne Sinn und Ziel. Schaller bekennt gegenüber Bernhaber  :

37 Felix Salten  : Radetzkymarsch, in  : Neue Freie Presse vom 27. Mai 1915, S. 1 ff.

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»Gott, Gott … man hat ja an nichts mehr geglaubt in der Welt … hat auf alles geschimpft … auf die Leut und auf das Land und überhaupt auf das Ganze … und jetzt …« Eindringlich fragte er  : »Hörst du, was sie spielen  ? Radetzkymarsch  ! Das ist jetzt auf einmal etwas Wirkliches.« (62 f.)

Der Gegensatz von Krieg als Zeit der Wirklichkeit und Frieden als Zeit des bloßen Spiels wird bereits zuvor aus dem Blickwinkel von Ferdinand Rohnbach eingeführt, als er am Abend zuvor die friedliche Kleinstadt beobachtet  : »Die spazierenden Menschen hier, die Wagen, die sonst da gefahren kamen, das war nun alles weggeräumt, wie Spielzeug in die Schachtel gelegt, das alles wurde für morgen aufbewahrt« (36). Schallers Entwicklung illustriert das Deutungsmuster vom Krieg als Abschied von der Unverbindlichkeit, Langeweile und der Décadence der Vorkriegsjahre. Das bedeutet aber nicht, dass Saltens Novelle insgesamt als eindeutig kriegseuphorischer Text zu qualifizieren ist. Denn Schallers Figurenperspektive ist eine, die durch Eduard Bernhabers Sichtweise ergänzt, relativiert und korrigiert wird. Während Schallers Blick die ausziehenden Regimenter als gloriose Zeichen einer neuen besseren Zeit des Kriegs begreift, interpretiert sein Freund Eduard Bernhaber das Geschehen ganz anders  : Eduard sah immer nur die Soldaten an. Junge Gesichter, lauter junge Gesichter, fünfzig, hundert, fünfhundert, tausend … junge, braune Gesichter, braune, blonde kleine Schnurrbärte, braune, schwarze und lichtblaue Augen, in denen Ruhe war, und verhaltene Erregung  ; Mienen, die offen lächelten, geduldig, ergeben, bereitwillig. Wie sie fest und geradeaus durch den Schwarm, der sie gleichsam umtanzte, durch das Gedränge, das den Platz ausfüllte, dahinzogen, kamen sie ihm schon losgelöst von allen andern und einsam vor. Eine merkwürdige Erschütterung durchdrang ihn, als plötzlich die letzten vorübermarschierten und der Zug auf einmal abriß. […] »Jugend«, dachte Eduard und es war auch ihm zum Weinen. Dort hinter den Häusern verschwand das Blinken der Gewehrläufe. Der ganze Ort erschien Eduard nun, als hätte er seinen Extrakt verloren, bliebe geschwächt und im Wert gemindert zurück. (63 f.)

Eduard Bernhabers Blick auf die ausziehenden Regimenter stellt deren Opferbereit­ schaft aus, ohne diese zu feiern. Die Sonderrolle der Soldaten wertet er aus deren Perspek­tive als Einsamkeit, und schließlich scheint ihm der Auszug der jungen Soldaten als Abzug des Lebens aus der Heimat, die, ihres Wichtigsten beraubt, »geschwächt« zurückbleibt. Eine solche Position lässt den Kriegsbeginn durchaus ambivalent erscheinen. Hier gibt es kein bellizistisches »Heldenfrisieren« wie in anderen Schriften, die vom Kriegs­presse­quartier oder vom Kriegsarchiv lanciert wurden.38 38 Zum sogenannten »Heldenfrisieren«, also der Konstruktion vorbildlicher soldatischer Lebensbilder,

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Damit kann Salten fiktional auch an seine eigene kriegskritische Literatur vor 1914 anknüpfen. Denn Salten hatte sich in den 1890er Jahren belletristisch immer wieder militärkritisch exponiert. Seine Novellen Heldentod (1895) und Sedan (1899) dekonstruierten die Vorstellung vom ruhmreichen Soldatentod und zeigten die Sinnlosigkeit des Kriegs auf.39 Sein Dramenerstling Der Gemeine (1901) war sogar verboten worden, weil er das Militär verächtlich gemacht haben sollte.40 Solche drastischen Äußerungen waren 1914 nun unter Kriegszensurbedingungen nicht mehr opportun, und sie geben wohl auch nicht mehr die Position des arrivierten Salten im Dienst des Außenministeriums wieder. Arthur Schnitzler kritisierte 1915 die Diskrepanz zwischen den öffentlichen und privaten Aussagen Saltens über den Krieg als Wankelmütigkeit und notierte, Salten »sagt  : ›Wenn wir geschlagen werden, so bin ich eine Ratte, wandere aus‹, etc. Am nächsten Tag das Feuilleton mit Tönen des Muts, der Treue, der Siegesgewißheit«.41 Schnitzlers Unzufriedenheit bezieht sich auf den Kontrast zwischen den privaten Gesprächen und öffentlichen Zeitungsartikeln Saltens. Vielleicht lässt sich Schnitzlers biographische Beobachtung literaturwissenschaftlich erweitern (ohne ihre Wertung zu übernehmen), wenn man zu den mündlichen und journalistischen Äußerungen noch die fiktionalen Texte Saltens hinzunimmt. Dann ginge es nicht darum, eine persönliche Charakterschwäche zu diagnostizieren, sondern um unterschiedliche Sprech- und Schreibweisen über den Krieg, in unterschiedlichen sozialen Rollen und verschiedenen Textsorten mit differenziertem Adressatenkreis. Für die österreichische Literatur scheint mir eine solche Differenzierung besonders wichtig zu sein, weil das Kriegspressequartier, das Kriegsfürsorgeamt und das Kriegsarchiv ja zentrale Organisationen darstellten, die die Schriftsteller zum Propagandaeinsatz verpflichteten. Während die reichsdeutschen Kulturkrieger ihre Publizistik aus eigenem Antrieb veröffentlichten, erschienen viele öster­reichische Kriegsartikel als propagandistische Auftragsarbeit. Salten selbst etwa publizierte 1915, angeregt vom Kriegsarchiv, seine Erzählung Prinz Eugen der edle Ritter für die Ullstein-Jugendbücher.42

vgl. Christoph Tepperberg  : Krieg in der öffentlichen Meinung. »Dichterdienst« und »Heldenfrisieren«. Kriegspressequartier und Kriegsarchiv als Instrumente der k. u. k. Kriegspropaganda 1914–1918, in  : Der Erste Weltkrieg und die »Heimatfront«. Hg. von Rudolf Kropf. Eisenstadt 2014, S. 291–304. 39 Vgl. hierzu Ehneß  : Felix Saltens erzählerisches Werk (Anm.  31), S.  56 f., 61 f. Gottstein  : Felix Salten (Anm. 31), S. 41–44 und 46–50. 40 Vgl. etwa Lore Muerdel Dormer  : Felix Salten, in  : Major Figures of Turn-of-the-Century Austrian Literature. Hg. von Donald G. Daviau. Riverside 1991, S. 407–440, hier S. 430 f. Driver Eddy  : Felix Salten (Anm. 5), S. 164. 41 Arthur Schnitzler  : Zu den Diagrammen, in  : Ders.: Aphorismen und Betrachtungen. Hg. von Robert O. Weiss. Frankfurt a. M. 1967 (Gesammelte Werke), S. 346. 42 Felix Salten  : Prinz Eugen der edle Ritter. Mit Bildern von Max Liebert. Berlin, Wien 1915. Zum Kriegs-

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Für die Berliner inszeniert Salten den Entscheidungstag in Wien journalistisch als dionysische Massenenthemmung, während er den Wienern in der Neuen Freien Presse einen staatstragenden Ernst als angemessene Haltung anempfiehlt. Der im Jungen Wien erprobte narrative psychologische Perspektivismus ermöglicht es Salten wiederum, in seiner Novelle Abschied im Sturm den Krieg uneindeutiger zwischen Skepsis und Begeisterung auszuspannen als in seinen Feuilletons der Neuen Freien Presse. Mündlich und privat geäußerte Zweifel und Ängste ließen sich zwar nicht in expositorischen Kriegsartikeln reformulieren, aber sie waren literarisch transformierbar in fiktionale Rede. So nutzt der Schriftsteller Salten die unterschiedlichen Bedingungen von fiktionalem und faktualem Erzählen, um die Grenzen des Sagbaren im Krieg auszuloten. Während sich Abschied im Sturm inhaltlich von der eigenen Jungwiener Vergangenheit der Leicht­ lebigkeit und ästhetizistischen Unverbindlichkeit distanziert und eine epochale Zäsur markiert, steht die Novelle formal doch in der Schuld eben dieser literarischen Strömung und nutzt die narrativen und psychologisierenden Innovationen der Wiener Moderne, um den Krieg skeptisch zu betrachten. Am 29. Juli 1914 hatte Salten seine Kriegsbegrüßung Es muß sein publiziert. Exakt drei Jahre später, am 29. Juli 1917, veröffentlichte er wieder in der Neuen Freien Presse eine Kriegsbetrachtung, in der er für einen Verständigungsfrieden warb, den Krieg nunmehr als »Katastrophe« qualifizierte und rückblickend feststellte  : »Wir alle zusammen haben während dieser drei Jahre nicht immer sagen dürfen, was wir denken«.43 Diese Aussage lässt sich durchaus auch als Lektüreschlüssel für die Novelle Abschied im Sturm nehmen, die das 1914 faktual Unsagbare fiktional transformierte. Bezeichnend ist in Saltens Retrospektive Drei Jahre Krieg von 1917, dass die Ernüchterung und Desillusionierung zwar umfassend in der Gegenwart konstatiert werden, dass davon unbenommen aber die Erinnerung an den Sommer 1914 bleibt, dessen Erfahrung nach drei Jahren Leid nur umso heller strahlt. Während die Fiktion von 1914/15 die Mobilmachung durchaus ambivalent im Zwielicht von Skepsis und Kriegsaffirmation erscheinen ließ, vereindeutigt sich im Feuilleton 1917 rückblickend das Erlebnis zu unumschränktem Jubel. Das in der Musik erfahrbare Gemeinschaftserlebnis wird separiert von dem nachfolgenden Kriegsalltag  : »Heißer noch als vom Brand der sommerlichen Sonne waren die Tage, die jetzt zum drittenmal sich jähren, durchglüht von Begeisterung. Und wie waren diese Tage durchrauscht von Gesang«.44

pressequartier vgl. auch Hannes Gruber  : »Die Wortemacher des Krieges«. Zur Rolle österreichischer Schriftsteller im Kriegspressequartier des Armeeoberkommandos 1914–1918. Dipl. masch. Graz 2012. 43 Felix Salten  : Drei Jahre Krieg, in  : Neue Freie Presse vom 29. Juli 1917, S. 1 ff., hier S. 1 und die Kennzeichnung des Kriegs als »Katastrophe« S. 2. 44 Ebd., S. 1.

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2. Geharnischte Lyrik Richard Schaukals Eherne Sonette (1914) und die poetische Positionierung des Dichters im Krieg

Richard Schaukal war 40 Jahre alt bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und es stand für ihn außer Frage, dass es sich bei Österreichs Krieg um eine gerechte Sache handelte, die der publizistischen Unterstützung der Dichter bedurfte.45 Seit 1903 arbeitete der Jurist im Ministerratspräsidium in Wien und sein bekanntestes Buch, Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, erschien 1907 schon bereits parallel zu Schaukals äußerst erfolgreicher Karriere als Verwaltungsbeamter. Für sein literarisches Engagement im Ersten Weltkrieg erhielt Schaukal das Kriegskreuz zweiter Klasse für Zivildienste, und Kaiser Karl nobilitierte ihn noch (im allerletzt-möglichen Moment) 1918. Berühmt-berüchtigt geworden sind Schaukals Eherne Sonette, die in der gattungsästhetischen Tradition von Friedrich Rückerts Geharnischten Sonetten metrisch disziplinierte Kriegspropaganda boten. So wie Rückert 1814 gegen Napoleon zum Sonettenkrieg blies, so stellte sich Schaukal 100 Jahre nach den Befreiungskriegen wieder in Oktetten und Sextetten formiert in lyrischer Opposition gegen Frankreich auf.46 »Den verbündeten Heeren« gewidmet,47 bemühte sich dieser Gedichtzyklus um eine geistige Mobilmachung, die sich der Tradition vergewisserte, den Feind attackierte, den Kampfesmut und die weltanschauliche Geschlossenheit in den eigenen Reihen als Nibelungentreue mit dem Deutschen Reich beschwor und die Rolle des Dichters in Zeiten der Wirren reflektierte. Schaukal hielt seine Ehernen Sonette für literarhistorisch bedeutsam und separierte sie bewusst vom Gros der populären Kriegslyrik, die er in den Orkus der ästhetischen Irrelevanz verabschiedete.48 In einem Aufsatz über Kriegsgedichte befand er mit geistes­ aristokratischem Aplomb  : Die zahllosen Gedichte, die dieser Weltkrieg als gräßliches Nebenprodukt gezeitigt hat und leider wie eine Seuche mitschleppt, sind zum größten Teil nichts weniger als echt, sondern

45 Richard Schaukal  : Österreichs Krieg, in  : Das Gewissen 1, 2 (1919), S. 20–30. 46 Zu den Geharnischten Sonetten von Rückert und darüber hinaus zu den politischen Sonetten der deutschen Romantik im Befreiungskrieg gegen Frankreich vgl. Friedhelm Kemp  : Das europäische Sonett. Göttingen 2002, Bd.  2, S.  119–133. Schaukals Eherne Sonette berücksichtigt Kemp nicht. Zur Publizistik der Befreiungskriege vgl. Christoph Jürgensen  : Federkrieger. Autorschaft im Zeichen der Befreiungskriege. Stuttgart 2018. 47 Richard Schaukal  : 1914. Eherne Sonette. München 1914, S. 9. 48 Zur populären Kriegslyrik vgl. Populäre Kriegslyrik im Ersten Weltkrieg. Hg. von Nicolas Detering und Michael Fischer. Münster 2013.

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nachempfunden und fast durchaus unbedeutend, nichtig. Warum  ? Weil sie von gleichgültigen Menschen herrühren.49

Julius Bab und Josef Neumair stimmten als Rezensenten von Schaukals Ehernen Sonet­ ten weitgehend mit dieser Auffassung überein und lobten den Gedichtzyklus als ästhetisch herausragende Lyrik.50 Innere Ergriffenheit und literarische Begabung waren für Schaukal also die Kriterien für gute Kriegsdichtung. Keineswegs aber musste dieses ­Pathos der Identifikation für ihn einhergehen mit einem realen Fronterlebnis. Auf den zeitgenössischen Vorwurf, dass dieser »Kriegsdienst mit der Feder« nur denen zustehe, die sagen konnten, sie seien mit dabei gewesen, reagierte Schaukal äußerst empfindlich und mit dem Hinweis auf das literarische Erbe des 19. Jahrhunderts  : Bekanntlich sind mit Ausnahme sehr weniger (darum aber nicht etwa der besten) die meisten unserer berühmtesten Kriegsgedichte hinter der Front geschrieben worden. […] Darum sind die von Kleist, Arndt, Hauff, Freiligrath, Rückert, Geibel – lauter Poeten »hinter der Front« nicht weniger lebensfähig und lebensberechtigt.51

Das war die Tradition, in die sich Schaukal selbstbewusst stellte. Diese Selbstpositionierung funktionierte zeitgenössisch durchaus, wenn sogar der Expressionist Kurt Pinthus sie registrierte. Pinthus rezensierte die Ehernen Sonette in der Zeitschrift für Bücherfreunde und betonte das Formbewusstsein des Gedichtzyklus  : Diese Sonette sind alles andere als dilettantisch, sondern kühl und sicher geformt, sie mühen sich, abgehetzte Schlagworte der Tagespresse zu meiden […]. Stets zügelt Hirn das Herz, der kultivierte Bildungsmensch den rasenden Rufer. […] Rein formal betrachtet sind sie vielleicht die geschlossensten, rundesten Gedichte der Kriegsdichtung. – Manche dieser Sonette sind nur aus dem Augenblick für den Augenblick geschaffen, manche sind im Ausdruck nicht original genug, manche aber verdienen als gutgeformter, lyrischer Ausdruck unserer Zeit auch über den Krieg hinaus aufbewahrt zu werden.52

49 Richard Schaukal  : Kriegsgedichte, in  : Ders.: Zeitgemäße deutsche Betrachtungen. München 1916, S. 54– 58, hier S. 56. 50 Julius Bab  : Kriegslyrik von heute, in  : Das literarische Echo 17 (1914/1915), S. 795–800 und 858–864, hier S. 864. Josef Neumair  : Richard Schaukals Kriegssonette, in  : Der Gral 9 (1915), S. 697–701. 51 Schaukal  : Kriegsgedichte (Anm. 49), S. 54. 52 Kurt Pinthus  : Richard Schaukal, 1914 in Ehernen Sonetten, in  : Zeitschrift für Bücherfreunde 6, 10 (1915), S. 414.

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Dieses von Pinthus herausgestellte Formbewusstsein zeigt sich schon in der (militärische Aufstellungen imitierenden) Anordnung der Gedichte in drei Reihen in der späteren erweiterten Fassung, die schließlich 93 Gedichte zählte. Die drei Reihen des Gedichtzyklus spiegeln die drei Reihen (Hastati, Principes und Triarii) der Schlachtordnung der älteren Phalanx-Aufstellung in der römischen Legion.53 Im Folgenden bezieht sich die Darstellung auf die erste Reihe (mit 30 Sonetten), die unmittelbar nach Kriegsbeginn »vom 15. August bis zum 2. September 1914« geschrieben wurde und schon im September 1914 erschien.54 Dass Schaukal mit dieser Veröffentlichung eine doppelte Publikationspolitik verfolgte und sowohl in der breiten Masse als auch beim ästhetisch elitären Leser seiner früheren Schriften im Jungwiener Umfeld zu wirken hoffte, dokumentiert die druckpraktische Ausdifferenzierung der ersten Auflage, die insgesamt 3100 Exemplare umfasste, von denen »100 auf holländisch Bütten abgezogen, von 1 bis 100 mit der Hand beziffert und vom Dichter mit seinem eigenen Namen gezeichnet« wurden.55 Diese Luxusausgabe hatte einen Pergamentumschlag und kostete im Deutschen Reich 6 Mark. Die übrigen 3000 Exemplare hingegen überließen Autor und Verlag zur weiteren Verwendung den Bundesleitungen der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz in Wien und dem Kriegsfürsorgeamt des k. u. k. Ministeriums des Innern in Wien. Die übersichtliche Schaukal-Forschung, allen voran Johann Sonnleitner und Dominik Pietzcker, hat die Ehernen Sonette ideologiekritisch als Teil einer poetischen Mobil­ machung beschrieben, die politisch die k. u. k. Monarchie stützt, nibelungentreu Die deutsche Eiche bedichtet und aggressiv ausfällig gegen den Feind Stellung bezieht.56 Bisher unberücksichtigt blieb, inwiefern Schaukal seine Kriegssonette auch nutzt, um sich poetisch zu positionieren, Traditionsstiftungen von ehedem zu korrigieren und die 53 Vgl. hierzu Guennadi Vassiliev  : Denken in Antinomien. Die Darstellung des Ersten Weltkrieges in Richard Schaukals »Eherne Sonette« (1914), in  : Gedichte und Geschichte. Zur poetischen und politischen Rede in Österreich. Beiträge zur Jahrestagung der Franz-Werfel-Stipendiatinnen am 16. und 17. April 2010 in Wien. Hg. von Arnulf Knafl. Wien 2011, S. 37–45. 54 Schaukal  : 1914. Eherne Sonette (Anm. 47), S. 7. Später erschien dann Schaukal  : Standbilder und Denkmünzen. Der ehernen Sonette zweite und dritte Reihe. München, Berlin 1915. Und schließlich die Gesamtausgabe  : Schaukal  : Eherne Sonette 1914. Gesamtausgabe. München, Berlin 1915. 55 Schaukal  : 1914. Eherne Sonette (Anm. 47), S. 7. Zur autorschaftlichen Selbstinszenierung Schaukals in Friedenszeiten vgl. Cornelius Mitterer  : Richard Schaukal in Netzwerken und Feldern der literarischen Moderne. Berlin, Boston 2020. 56 Für die Analyse unerlässlich sind Johann Sonnleitner  : Eherne Sonette 1914. Richard von Schaukal und der Erste Weltkrieg, in  : Österreich und der Große Krieg 1914–1918 (Anm. 14), S. 152–158. Dominik Pietzcker  : Richard von Schaukal. Ein österreichischer Dichter der Jahrhundertwende. Würzburg 1997, S. 208–219. Wenig Neues bieten darüber hinaus Silke Regin  : Richard von Schaukal und die ›poetische Mobilmachung‹ im August 1914, in  : Eros Thanatos. Jahrbuch der Richard-von-Schaukal-Gesellschaft 1 (1997), S. 29–43. Vassiliev  : Denken in Antinomien (Anm. 53).

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Rolle des Dichters in Krisenzeiten zu bestimmen. Bereits Julius Bab hatte aber bemerkt, dass es gerade diese poetologischen Sonette sind, die »des Dichters privates Sein, seine Bücher, sein Haus, seinen lieben Schönbrunner Park mitten in den Welttumult setzen und lebendige Beziehungen von außen nach innen schaffen«, und in denen »wirklich ein Dichter [spricht], der mit seinen Worten mehr als zureden, der von innen heraus bezwingen kann, weil er nicht von Begriffen, sondern von Gefühlen ausgeht«.57 Diese poetologische Dimension der Ehernen Sonette soll im Folgenden in den Mittelpunkt der Analyse rücken. Eines der ersten Gedichte der ersten Reihe zeigt den vom Kriegsausbruch überraschten Dichter, der aus der Sommerfrische nach Hause zurückgekehrt sich Gedanken macht über das Verhältnis von Tat und Wort im Krieg. Das Ich des Gedichts wendet sich An meine Bücher und lässt dabei nur kurz in der Schwebe, ob es sein eigenes Werk damit apostrophiert oder die Bände anderer Autoren in seiner Bibliothek  : An meine Bücher (Nach der Heimkehr, August 1914)

Ich find euch wieder, wie ich euch verlassen, geliebte Freunde ernster Einsamkeit  ! Ihr habt gewartet, doch mich reißt die Zeit Geblendet in den Fackelqualm der Gassen.

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Kann diese Lohe mir zur Leuchte blassen, die sanften Schein der holden Stille weiht  ? Ihr spendenden Gefährten, wer befreit mich unter euch von Pranken, die mich fassen  ?

Ein Windstoß hat die Blätter der Geschichte 10 Vor ungewohnten Augen aufgeschlagen  : Sie flattern rauschend, reißen sich vom Rand  ; Rasch hat ein glühnder Hauch sie hochgetragen, die Lettern lodern rot im grausen Lichte  : die Welt, in der wir weilten, steht in Brand  !58

57 Bab  : Kriegslyrik von heute (Anm. 50), S. 864. 58 Richard Schaukal  : An meine Bücher (Nach der Heimkehr, August 1914), in  : Ders.: 1914. Eherne Sonette (Anm. 47), S. 13.

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Formal orientiert sich Schaukal an der deutschen Wiederbelebung der petrarkistischen Sonettform in der Romantik. Die Ehernen Sonette sind metrisch in jambischen Fünfhebern gefasst, bedienen sich im Oktett des Blockreims und variieren die Reimfolge im Sextett  ; allerdings beschränkt sich Schaukal nicht auf weibliche Kadenzen (wie in der Folge von August Wilhelm Schlegel üblich), sondern kombiniert männliche und weibliche Kadenzen in bunter Folge. Der Gedichteingang variiert den Beginn der Zueignung von Goethes Faust und macht damit deutlich, dass im Folgenden die Auseinandersetzung eines Künstlers mit seinem Werk zu erwarten ist. Aber während bei Goethe das Werk auf den fast passiven Künstler unversehens zukommt (»Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten«), lässt Schaukal den Dichter aktiv auf das Werk zugehen (»Ich find euch wieder« [V. 1]). Das Oktett gilt den als »geliebte Freunde« (V. 2) und »spendende[.] Gefährten« (V. 7) apostrophierten Büchern, die so vermenschlicht zum wichtigsten Kontakt des Dichters in seiner (alliterativ herausgehobenen) »ernste[n] Einsamkeit« (V. 2) geworden waren. Das Sextett wechselt von der Anredeform in der zweiten Person Plural in eine allgemeinere Reflexion über den aktuellen politischen Zustand, die sich zum Ende in ein Sprechen im einvernehmlichen »wir« (V. 14) weitet. Die Quartette bilanzieren die Wortwelt des Dichters, die Terzette blicken auf das Kriegsgeschehen  ; damit nutzt Schaukal die antithetische Struktur des Sonetts, um die 1914 viel diskutierte Beziehung von Tat und Wort im Krieg auszuloten.59 Die Rolle der Intellektuellen im Krieg steht zur Disposition. Immer wieder wird in diesen Kulturkriegsdebatten auf die eine oder andere Weise Goethes Faust und seine zur Redensart banalisierte Sentenz (»Der Worte sind genug gewechselt, / Laßt mich auch endlich Taten sehen«) alludiert. Wenn auch die zweite Strophe mit ihren beiden ängstlichen Selbstbefragungen einen Abschied von der Intellektualität in Kriegszeiten insinuiert, so weist die Bildlichkeit des Gedichts doch in eine andere Richtung. Wort und Tat, Oktett und Sextett, sind durch ihre Metaphorik miteinander verbunden. Der Krieg wird als Feuer imaginiert, dessen »Fackelqualm« (V. 4) im ersten Quartett sich zum »Brand« (V. 14) im letzten Vers des Sonetts ausbreitet. Wenn auch die »Lohe« (V. 5) des Kriegs auf den ersten Blick nicht zur inspirativen »Leuchte« (V. 5) des Dichters taugen mag, so zeigt das bibliobellizistische Bild des ersten Terzetts doch auch eine andere Deutungsmöglichkeit. Denn der Krieg ist Teil der Geschichte, die wiederum als Buch imaginiert wird, dessen »Blätter« (V. 9) durch die stürmischen Zeitläufte nicht nur neu »aufgeschlagen« (V. 10), sondern regelrecht zerfleddert werden. Das Ende des Sonetts verschlingt Feuer- und Buch-Bildlichkeit ineinander  : »die Lettern lodern rot im grausen Lichte« (V. 13). Man kann dies als ein Verbrennen und damit Zunichtemachen der geistigen Welt deuten, man kann aber auch von einer schöpferischen Erneue59 So Friedrich Gundolf  : Tat und Wort im Krieg, in  : Frankfurter Zeitung vom 11. Oktober 1914.

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rung der Literatur durch die Kriegsfeuer sprechen, die sich in diesem Bild der feuerrot flammenden Buchstaben ausdrücken soll. Die Dichtung im Krieg vermag für Schaukal wohl die Gefahr, Kraft und Macht eines Scarlet Letter (Hawthorne) anzunehmen. Der Krieg löst darüber hinaus die Sehnsucht nach einer Zeitenwende ein. Im Sonett Götzendämmerung formuliert die Sprechinstanz den fragenden Wunsch, dass »diese Wende wohl die Umkehr sein« werde.60 Von was sich da ab- und zu was umgekehrt werden soll, bleibt einigermaßen unklar, deutlich aber ist der Wunsch nach einer kathartischen Reinigung und Zäsur. So soll das gegenwärtige Geschlecht »durch seiner Götzen Dämmerung belehrt, / geläutert aus der Asche auferstehen«.61 Wenn die Ehernen Sonette den Kriegsgegner attackieren, richten sie sich nicht nur gegen Potentaten und Heerführer, sondern auch gegen Schriftsteller der kriegführenden Nationen. Essayistisch hatte sich Schaukal explizit gegen einen solchen publizistischen Ausfall gegen ausländische Kollegen gewandt. In seinem Aufsatz Deutschtum und Kunstgesinnung weist Schaukal empört eine Degradierung d’Annunzios in kulturkriegerischer Absicht zurück  : Jüngst habe ich lesen müssen, daß d’Annunzio ein Stümper sei, und ein Freund […] hat mir ein Blättchen gezeigt, wo ein entbrannter Zeitgenosse d’Annunzio Ganghofer gegenüberstellt und uns begeisterten Gemütes in diesem Zeichen siegen läßt. […] Wir sind reich genug, aber seien wir nicht wahrhaftige Barbaren, indem wir uns zu Bekennern stempeln des Hausbackenen gegen den Geist, des Formlosen gegen die Form, des Familienblattes gegen die Elegantia.62

Hier in diesem Aufsatz Schaukals scheint das alte kosmopolitische Geschmacksideal des Jungen Wien stärker zu sein als der nationale Furor. Der literarische Rang ist entscheidendes Kriterium, nicht die nationale Zugehörigkeit. In den Ehernen Sonetten allerdings greift Schaukal ein anderes ästhetisches Idol der Jahrhundertwende vehement an  : Maurice Maeterlinck. Maeterlinck war für Schaukal in den 1890er Jahren ein dichterisches Vorbild gewesen.63 Schaukals schriftstellerisches Debut kreiste um den belgischen Symbolisten  : »Meine erste Buchbesprechung galt Maeterlincks ›Princesse Maleine‹«.64 60 Richard Schaukal  : Götzendämmerung, in  : Ders.: 1914. Eherne Sonette (Anm. 47), S. 24. 61 Ebd. 62 Richard Schaukal  : Deutschtum und Kunstgesinnung, in  : Der Merker 6, 4 (1915), S. 840 ff., hier S. 840 f. 63 Vgl. Claudia Warum  : Richard von Schaukal als Kritiker und Übersetzer aus dem Französischen. Literarische Kontakte zwischen Österreich und Frankreich von 1890 bis 1940. Diss. masch. Wien 1993, S. 129–132. Rolf E. Windthorst  : Richard von Schaukals Begegnung mit der französischen Literatur, in  : Sprachkunst 5, 2 (1974), S. 244–267. 64 Richard Schaukal  : Meine literarischen Anfänge, in  : Ders.: Beiträge zu einer Selbstdarstellung. Eine Auswahl von Versuchen. Wien 1934, S. 29–35, hier S. 30. Vgl. Ders.: [Rezension zu] Prinzeß Maleine von Maurice Maeterlinck, in  : Die Gesellschaft 9, 2 (1893), S. 935–937. Schaukal versucht hier, gegen Hermann

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Und das war Schaukal so wichtig, dass er in einem späten lyrischen Selbstporträt auf seine schriftstellerischen Anfänge (Noch nicht neunzehn Jahre alt) zurückblickt und den Kontakt mit Maeterlinck regelrecht als dichterische und literaturkritische Initiation wertet  : Im gepflasterten Hof leiert die Mittagsorgel. Auf den Telegraphendrähten, sich sonnend, kauern Spatzen. In den Küchen von fünf Geschossen wird Essen bereitet. Und ich sitze vor Maeterlincks Sept princesses, die ich bespreche, noch nicht neunzehn Jahre alt.65

1897 übertrug Schaukal Maeterlincks Abhandlung Le Réveil de l’âme für die Wiener Rundschau ins Deutsche.66 Rilke verglich in einem Brief an Schaukal in demselben Jahr Maeterlincks lyrische Dramen mit Schaukals dramatischer Lyrik in dessen Gedichtsammlung Meine Gärten  : Mir ist bei dem neuen Buch [i. e. Schaukals Gedichtband Meine Gärten, einsame Verse]  : was Maeterlinck in lyrischer Dramatik, suchen Sie in dramatischer Lyrik zu finden  ; Sie lehren in Ihren schweren prunkenden Versen, dort wo der Faltenwurf des Gewandes nicht zu ausschweifend und gezwungen wird, das Tiefste  : Das auf-den-Zehen-Schreiten zu den dunklen Quellen des heiligen Lebens.67

Den dritten Teil von Meine Gärten widmete Schaukal Maeterlinck. Wilhelm von Scholz rezensierte 1899 Schaukals Gedichtband Tristia und betonte, wie sehr »die feinen belgischen Mystiker […] auf Schaukal Einfluß ausgeübt« haben.68 Insbesondere Maeter-

Bahrs Maeterlinck-Enthusiasmus eine reflektiert-kritische Maeterlinck-Rezeption zu initiieren  ; vgl. den Schluss der Rezension  : »Prinzeß Maleine zeigt, was er hätte leisten können, denn die Technik hat er weg. […] Aber da sind die gebietenden Ordner. Mit breiten Maeterlinckschleifen um den Leib stürmen sie die Reihen entlang und – machen Stimmung. Und ein Ball fällt zu Boden. Oh  ! ruft Maeterlinck und Ah  ! staunen die Ordner, und die Leute ringsum sehen sich an und die Ordner murmeln Ah  ! Das nennt man heute einen Genius machen. Grüß die ›Überwindung‹« (ebd., S. 937). 65 Richard Schaukal  : Noch nicht neunzehn Jahre alt, in  : Ders.: Herbsthöhe. Neue Gedichte 1921–1923. Paderborn 1933, S. 33. 66 Maurice Maeterlinck  : Das Erwachen der Seele, übersetzt von Richard Schaukal, in  : Wiener Rundschau vom 15. Juni 1897, S. 573–578. 67 Brief Rilkes an Schaukal aus dem Sommer 1897, in  : Rainer Maria Rilke  : Briefe aus den Jahren 1892 bis 1904. Leipzig 1939, S. 43. 68 Wilhelm von Scholz  : Tristia. Neue Gedichte von Richard Schaukal, in  : Das literarische Echo 2 (1899/1900), S. 63.

Geharnischte Lyrik 

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lincks Serres chaudes war Schaukal verpflichtet.69 Diese von Schaukal durchaus gesuchte Wahlverwandtschaft scheint 1914 nicht mehr ins Gewicht zu fallen, nachdem der Belgier Maeterlinck im Krieg die Deutschen zu Barbaren erklärt hatte angesichts der Verletzung der belgischen Neutralität durch den deutschen Einmarsch und der Bombardierung und Zerstörung der Bibliothek von Löwen.70 Schaukal reagiert auf Maeterlincks publizistisches Engagement gegen Deutschland als »Monstrum der Welt« folgendermaßen  :71 An Maurice Maeterlinck

Du schmähst die Deutschen, Moritz Maeterlinck  ! Befrage Dich, befrage Deine Ahnen  : Was an Dir gut ist, dankst Du den Germanen, der Rest, mein Freund, verzeih, ist sehr gering.

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Auch was Du nicht bist, — hörs, Ballon, und sink  ! Muß ich Dich, Moritz, wirklich des gemahnen  ?— Die Luft, die heiß Dich hochtrieb aus den Bahnen, die Dir gemäß, ist deutsch. O, wir sind flink  !

Ach, nur zu flink, blind vor der eignen Nähe, 10 kniefällig aufzuschaun zum fremden Gotte, den wir genährt mit unserm besten Blute, daß er uns dann im frechen Übermute ob unsrer Unterwürfigkeit verspotte und, geld- und ruhmgefüllt, uns geifernd schmähe.72 69 Vgl. Pietzcker  : Richard von Schaukal (Anm. 56), S. 71. Vgl. auch Mario Zanucchi  : Transfer und Modifi­ kation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin, Boston 2016, S. 195. 70 Vgl. Sophie de Schaepdrijver  : »Ô faiseuse de crépuscule«. Deutschlandbilder in Belgien im Ersten Weltkrieg, in  : Deutschlandbilder in Belgien 1830–1940. Hg. von Hubert Roland, Marnix Beyen und Greet Draye. Münster 2011, S. 292–310. Peter Sprengel  : »Wir haben eine Erscheinung…«. Maeterlincks Einfluß auf deutsche Kriegsdichtungen (Goering, Johst, Rilke), in  : Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung 5 (1993), S. 65–96. Zur französisch-belgischen Kriegspublizistik vgl. Almut Lindner-Wirsching  : Französische Schriftsteller und ihre Nation im Ersten Weltkrieg. Tübingen 2004. 71 Maeterlincks Artikel und die publizistische Reaktion in Deutschland auf sie dokumentiert Kellermann (Hg.)  : Krieg der Geister (Anm. 15), S. 354–364. Vgl. auch Maurice Maeterlinck  : Les Débris de la Guerre. Paris 1916. 72 Richard Schaukal  : An Maurice Maeterlinck, in  : Ders.: 1914. Eherne Sonette (Anm. 47), S. 31.

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Der Begriff des »Schmähens« eröffnet und schließt dieses Gedicht (V.  1 [»Du schmähst« ] und V. 14 [»uns geifernd schmähe« ]), das in der Tradition des SchmähSonetts wiederum den Apostrophierten zurückbeschimpft. Das Schmähen ist nicht nur der Maeterlinck zum Vorwurf gemachte Tatbestand, sondern performativ die Aussage des Gedichts. Das Oktett spricht Maeterlinck direkt an, duzt ihn und verunglimpft ihn zum lyrischen Heißluftballon (V. 5). Das Sextett wechselt in eine deutsch-österreichische Selbstbetrachtung und versucht, das Verhältnis der deutschsprachigen Literatur zu Maeterlinck zu resümieren. Das erste Quartett erklärt das Werk Maeterlincks als beeinflusst von deutschem Denken und Dichten. Diese behauptete Abhängigkeit wird besonders dadurch betont, dass der Name des Dichters verdeutscht wird. Während der Gedichttitel noch die allgemein übliche Schreibweise wählt (»An Maurice Maeterlinck«), nennt das Sprecher-Ich den französischsprachigen Kollegen im ersten Vers plötzlich »Moritz« (statt Maurice) und dass auch die Aussprache des Nachnamens eingedeutscht gedacht war, macht der seltsame Endreim (Maeterlinck/gering) deutlich. Erst bei einer deutschen Aussprache des belgischen Familiennamens wird aus einer vagen Assonanz ein einigermaßen funktionierender unreiner Reim.73 Der Vorwurf, dass Maeterlinck eigentlich ein verkappter deutscher Dichter sei, der sein Bestes den Deutschen zu verdanken habe, ist dabei allerdings keineswegs erst eine nationalchauvinistische Argumentationsfigur des Kriegs, sondern reicht zurück zur Jahrhundertwende. Der Novalis-Übersetzer Maeterlinck galt den Deutschen rasch als Nachfahre deutscher Frühromantik,74 und schon 1897 findet sich die Überzeugung, dass »Maeterlincks Auffassung von der Liebe […] eine dem romanischen Temperament völlig fremde« ist und »vielleicht deshalb berührt sie mit so eigenartig neuem Zauber. Sie ist den Reflexionen des grübelnden Nordens entsprungen«.75 In der österreichischen Zeitschrift Merker betonte Johannes Schlaf noch unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg  : »Auffallend schon seine vlämische Abstammung  ! […] Noch auffallender aber Maeterlincks unmittelbarer Anschluß an germanische und im besonderen deutsche Dichtung

73 Die Aussprache des Nachnamens lautet in Belgien [ma.tɛʁ.lɛ̃ːk], in Frankreich [mɛ.teʁ.lɛ̃ːk]. 74 Vgl. Alfred Kerr  : Der zweite Maeterlinck, in  : Neue deutsche Rundschau 1902, S. 1181–1189, hier S. 1183. Vgl. hierzu Paul Gorceix  : Les affinités allemandes dans l’œuvre de Maurice Maeterlinck. Paris 1975. 75 Anna Brunnemann  : Maurice Maeterlinck, in  : Pan 3 (1897), S. 254–259, hier S. 256. Zum Anteil Friedrich von Oppeln-Bronikowskis und dem Eugen Diederichs Verlag an dieser kulturkritischen Eindeutschung Maeterlincks vor dem Krieg vgl. Dirk Strohmann  : Die Rezeption Maurice Maeterlincks in den deutschsprachigen Ländern (1891–1914). Frankfurt a. M. 2006, S. 357 ff. Irmgard Heidler  : Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930). Wiesbaden 1998, S. 467–478. Vgl. auch Laurence Brogniez  : »Germanisme, sceau du nouveau monde«. Deutschland in der nordischen Mythologie der belgischen Symbolisten französischer Sprache, in  : Deutschlandbilder in Belgien (Anm. 70), S. 153–181, hier S. 174 f.

Geharnischte Lyrik 

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und Geisteskultur  !«76 Schaukal dient diese Denkfigur von der »Germanité« Maeterlincks dazu, indirekt den Vorwurf der Undankbarkeit und »Nestbeschmutzung« gegenüber Maeterlinck zu formulieren. Oktett und Sextett werden mit einer Anadiplose verklammert (»O, wir sind flink  ! // Ach, nur zu flink« [V. 8 f.]), die überleitet zur nationalen Selbstbetrachtung, die in flagellanter Manier den Selbstvorwurf formuliert, sich zu schnell und zu bereitwillig vom Ausland beeinflusst und dabei außer Acht gelassen zu haben, dass der »zum fremden Gotte« (V.  10) erhobene Maeterlinck doch nur deutsche Gedanken literarisiere. Hier ähnelt Schaukals Argumentation durchaus Saltens Kriegsessays, der ja, wie weiter oben ausgeführt, ebenfalls gejammert hatte  : »Wir haben unsere eigenen Arbeiten beiseite geschoben, um für die anderen Aufmerksamkeit zu werben, wir haben unseren eigenen Kräften den Raum geschmälert, um den Fremden Platz zu schaffen«.77 Bei Beiden, Salten und Schaukal, ist die Enttäuschung groß, dass nun einmal wieder Undank der Welt Lohn ist. Salten klagt suggestiv  : »Wir haben das Wesen der Gallier […] studiert, haben vom Besten aufs Gute geschlossen und es unter uns verkündet. Und was haben wir dafür empfangen  ?«78 Auch Schaukal ist tief betrübt und zornig, dass die »kniefällig[e]« (V.  10) Bewunderung mit »frechem Übermute« (V.  12) und Spott vergolten wird. Diese Wut drückt sich ebenfalls in einem Frankreich geltenden Sonett aus, in dem Schaukal geschichtsphilosophisch befindet, dass die romanische Welt nach Napoleon endgültig niedergegangen sei  : Seit dieser Stern [i. e. Napoleon] im Ozean versunken, ist Gallien eine ungestalte Masse, im eignen Spülicht hoffnungslos ertrunken  ; sein Volk entnervt, ein Mischmasch, keine Rasse, verbraucht in Abenteuern, faul im Kern.79

Eine ähnliche historische Abstiegsthese, freilich ohne die biologistische Komponente von Schaukal (»sein Volk entnervt, ein Mischmasch, keine Rasse«), findet sich zeitgleich in Karl Joëls völkerpsychologischer Darstellung, die ebenfalls erklärt, dass die weltgeschichtliche Blütezeit des Romanischen vorüber sei  : »Frankreichs Weltszepter scheint gebrochen«.80 Gleichzeitig knüpft der nationale Ausfall Schaukals gegen Frank76 Johannes Schlaf  : Die französische Renaissance, in  : Der Merker 5, 2 (1914), S. 464–474, hier S. 467. 77 Salten  : Ein Wort vom Barbarentum (Anm. 17), S. 2. 78 Ebd. 79 Schaukal  : Frankreich, in  : Ders.: 1914. Eherne Sonette (Anm. 47), S. 33. 80 Joël  : Neue Weltkultur (Anm. 21), S. 18.

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reich gattungshistorisch natürlich auch an Rückerts Geharnischte Sonette an, die sich während der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich aufstellten. Vielleicht ist Schaukals Schmäh-Sonett gegen Maeterlinck zum Teil aber auch psychologisch zu erklären aus dem immer wieder gegen Schaukal formulierten Vorwurf des Eklektizismus. Der österreichische Expressionist Albert Ehrenstein degradierte Schaukal etwa 1914 zum »mixtum compositum« und befand, Schaukal sei (im Vergleich mit Otto Stoessl, Ernst Weiß und Hermann Graedener) der Talentvollste und Genieloseste unter den Genannten, könnte jeden dieser drei Dichter stilistisch nachäffen. Selbst hat er – ein anderer Hofmannsthal – keinen eigenen Stil, existiert an sich ebensowenig wie dieser vormals geschätzte, inkonstante Neolibrettist. […] Wenn sich dennoch so häufig etwas Schaukaliges nach außen projiziert, ist das keineswegs seine Schuld  ; er wird eben hie und da von anderen, weit größeren Schriftstellern gestaltet, und die Nachwirkungen und Nachwehen solcher plastischen Lektüre erscheinen von Zeit zu Zeit in Buchform. […] Den von Richard Schaukal signierten Text stellt bereitwilligst die Weltliteratur bei. Wir haben es in diesem Brünner Dichter nämlich mit einer Art Tierstimmenimitator zu tun, ­einem routinierten Fregoli und Verwandlungskünstler. […] Ob er nun Gedichte schreibt, von Heine, Verlaine, Heredia Verse abschöpft, E.T.A. Hoffmann parasitär umrankt oder […] kleistisch blendet, immer bleibt dem Lektor die ahnungsvolle Frage und der Geschmack auf den Lippen  : »Sapperment  ! Woher bezieht denn jetzt Schaukal seinen Stil  ?«81

Wer so heftig angegriffen wird, ist womöglich umso leichter bereit, den Vorwurf der Unoriginalität weiterzureichen, wie im Fall dieses Kriegssonetts an Maeterlinck. Wie Schaukal seine Kriegslyrik nutzt, um sich im literarischen Feld zu positionieren und zu behaupten, zeigt auch das letzte Gedicht der ersten Ausgabe der Ehernen Sonette, das schon Kurt Pinthus in seiner Rezension besonders aufgefallen war  : Ihr und ich (Epilog)

Was habt Ihr mich nicht alles schon gescholten  ! Weltschmerzler, Dandy, Snob, Poseur, Artisten, Französling, Charlatan, Mystifizisten  ; ich hab als platt, frech, leicht und seicht gegolten.

81 Albert Ehrenstein  : Österreichische Prosa, in  : Der Sturm 5, Nr. 13/14 (1914), S. 98 f., hier S. 99.

Geharnischte Lyrik 

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Kalt hieß mich dieser, jene wieder grollten Dem Überhitzten, Heide schien ich Christen, zu christlich freien Denkern, manche mißten Herz, Geist, Klang, Form, kurz, was sie eben wollten.

Nur wenigen ward Einsicht in das Wesen 10 Des Menschen, den nicht mit dem Lineale Ein Zimmermann entwarf in groben Zügen. Ich geize nicht darnach, Euch zu genügen  : Mit trüben Blicken kann man mich nicht lesen, und einen Quell erschöpft nicht eine Schale.82

Unter dem Titel Ihr und ich apostrophiert das Ich des Gedichts seine Leser und bilanziert eine falsche Rezeption seines Werks. Als moderate Publikumsbeschimpfung konzipiert, listet das Oktett katalogartig die einseitigen, widersprüchlichen oder missverständlichen Fremddarstellungen des Dichters in der Vergangenheit auf. Damit wird beim Leser die Erwartungshaltung aufgebaut, dass das Sextett antithetisch nun dieser Fremddarstellung eine Selbstdeutung entgegensetzen werde, die diese falsche Außenwahrnehmung gültig korrigiert. Allein diese Erwartung wird nicht eingelöst, da sich das Dichter-Ich einer freimütigen Selbstinterpretation verweigert und lediglich herablassend darauf hinweist, dass es schon etwas mehr intellektueller Mühe bedürfe, um seine Ästhetik angemessen zu erfassen. Das erste Quartett rekapituliert die Fremdwahrnehmungen der Jungwiener der Jahrhundertwende, asyndetisch gereiht als »Weltschmerzler, Dandy, Snob, Poseur, Artisten / Französling, Charlatan, Mystifizisten« (V. 2/3). Dieser Leporello der Décadence synthetisiert den österreichisch-französischen Kulturtransfer und die ebenfalls von Frankreich importierten neumystischen Strömungen mit dem Ästhetizismus. Der Dandy, der das Leben als Kunstwerk gestaltet und sich elitär von einer trivialen Massengesellschaft distanziert, war Protagonist und Thema von Schaukals Erfolgsbuch Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten (1907) und beeinflusste durchaus auch die Selbstinszenierung der anderen Jungwiener.83 Während die 82 Schaukal  : Ihr und ich. (Epilog), in  : Ders.: 1914. Eherne Sonette (Anm. 47), S. 40. 83 Richard Schaukal  : Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten. München 1907. Vgl. hierzu Jörg Schönert  : Glossen, Gespräche und Geschichten zum ›Dandy-Pop‹. »Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser, eines Dandy und Dilettanten, mitgeteilt von Richard Schaukal« (1907), in  : Pop in Prosa. Erzählte Populärkultur in der deutsch- und ungarischsprachigen Moderne. Hg. von Amália Kerekes, Magdolna Orosz, Gabriella Rácz und Katalin Teller. Frankfurt a. M. 2007, S. 15–27.

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Kategorien der ersten drei Verse des ersten Quartetts mehr oder minder für alle Vertreter des Jungen Wien in den 1890er Jahren zutreffen, rekapituliert der Abschlussvers des Quartetts mit bitterem Unterton schon die Vorwürfe, die speziell gegenüber Schaukals Werk erhoben wurden. Der Charakteristik einer Strömung der Jahrhundertwende folgen literaturkritische Werturteile, die Schaukal mangelnden ästhetischen Anspruch (»platt, frech, leicht und seicht« [V. 4]) attestieren. Das zweite Quartett kontrastiert einander widersprechende Aburteilungen von Schaukals Werk, um so die Willkür und Beliebigkeit der Rezensentenmeinungen vorzuführen. Dem Feuilleton habe Schaukal zugleich als gottlos und frömmlerisch, distanziert und identifikatorisch dichtend gegolten. Jedem habe etwas Anderes gefehlt, dem einen das Gefühl, dem anderen die Vernunft. Nachdem das Oktett so die zeitgenössische Kritik als defizitär abgekanzelt hat, vermeldet das Sextett, dass bisher überhaupt kaum jemand das Werk und die poetische Absicht von Schaukal angemessen verstanden hätte, was freilich auch damit zu tun hat, dass dieses Dichter-Ich es auch nicht darauf anlegt, von seinen Lesern verstanden zu werden und »Euch zu genügen« (V. 12). Das Zeihen einer falschen Rezeption, der Dichterhochmut gegenüber dem breiten Publikum »mit trüben Blicken« (V. 13), diese horazische Abwehr des profanum vulgus und die elitäre Betonung, dass wirkliches Verständnis für sein Werk »nur wenigen« (V. 9) gegeben ist, weist dieses Sonett mit seiner stolzen Attitüde der Hermetik als intertextuelles Pendant zu Stefan Georges arkanen Selbstdeutungen im Siebenten Ring aus. Im ersten Zeitgedicht rekapitulierte das Ich Georges die Fremdwahrnehmung seines Frühwerks als dekadente l’art pour l’art-Artistik  :

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Ihr meiner zeit genossen kanntet schon Bemasset schon und schaltet mich – ihr fehltet. Als ihr in lärm und wüster gier des lebens Mit plumpem tritt und rohem finger ranntet  : Da galt ich für den salbentrunknen prinzen Der sanft geschaukelt seine takte zählte In schlanker anmut oder kühler würde In blasser erdenferner festlichkeit.84

Bis in die Lexik hinein orientiert sich Schaukal hier an George  : Die Retrospektive auf das »Schelten« (»schaltet« bei George, »gescholten« bei Schaukal) der Kritiker er84 Stefan George  : Das Zeitgedicht, in  : Ders.: Der siebente Ring. Stuttgart 1986 (Sämtliche Werke, Bd. 7), S. 6. Zu George und Schaukal vgl. Christian Oesterheld  : »Ein Höhenwanderer zur Seelenklarheit«. Richard Schaukal und der Kreis um Stefan George, in  : Eros Thanatos. Jahrbuch der Richard von SchaukalGesellschaft 3/4 (1999/2000), S. 71–88.

Europa als Ersatz 

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öffnet in beiden Gedichten das lyrische Selbstporträt. Auch der Inhalt der literaturkritischen »Schelte« ähnelt sich  : Werfen die Zeitgenossen dem Sprecher-Ich bei George die ästhetisch selbstgenügsame Formverliebtheit vor im Bild des »salbentrunknen prinzen / der sanft geschaukelt seine takte zählte«, so greifen die Kritiker den Dichter bei Schaukal direkter an als »Dandy, Snob, […], Artisten« (V. 2). In beiden Fällen verbinden die Formulierungen das poetische Konzept des Ästhetizismus mit der Vorstellung der sozial herausgehobenen Stellung des Dichters. George nutzt in seinem Zeitgedicht die Rezensentenschelte, um seine Rezeption in neue Bahnen zu lenken. Gegenüber der Fremdwahrnehmung von klar durch Zäsuren getrennten Werkphasen verkündet das Sprecher-Ich klar verständlich  : »Ihr sehet wechsel ∙ doch ich tat das gleiche«.85 Eine solche Rezeptionskorrektur unterbleibt bei Schaukal. Man kann dies vielleicht auch verstehen als (nicht besonders geglückten) Versuch, die Hermetik Georges noch zu potenzieren. Dieses Sprecher-Ich deutet sich nicht mehr selbst in enigmatischen Bildern, sondern verweigert sich einer Selbstausdeutung und beschränkt sich auf den geistesaristokratischen Hinweis  : »Nur wenigen ward Einsicht« (V. 9), auch dies wieder eine George-Reminiszenz, hatte der doch im Jahr der Seele verkündet  : »Des sehers wort ist wenigen gemeinsam«.86

3. Europa als Ersatz (Mittel-)Europa-Konzepte als Lösung für Vielvölkerstaatsprobleme (Hermann Bahr) und Kompensation für Altösterreichverluste (Hugo von Hofmannsthal)  ?

Die Schriftsteller der Wiener Moderne begannen sich für Europa zu interessieren, als der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn auseinanderzubrechen begann. Selbstverständlich ist zwar auch schon die Programmatik der frühen Wiener Moderne in den 1890er Jahren stark geprägt durch einen regen innereuropäischen kosmopolitischen Kulturtransfer. Hermann Bahr gilt als ein veritabler Import-Export-Fachmann für französische Literatur. Felix Dörmann kopierte Baudelaire und Swinburne. Richard Schaukal verehrte vor dem Krieg Maurice Maeterlinck. Paul Bourgets Begriff der états d’âmes, der Seelenstände, bildet die Voraussetzung für Arthur Schnitzlers psychologische Introspektionen in erzählerisch innovativer Form und Hugo von Hofmannsthal gewinnt den Schriften Gabriele d’Annunzios eine ganz eigene ästhetizistische Position ab. Aber es ist auffällig, dass solche Rezeptionen zumeist bilaterale Angelegenheiten sind, Rezeptionen von ­einem ganz bestimmten Autor oder Text. Es geht in den frühen Anverwandlungen 85 Ebd., S. 7. 86 Stefan George  : Das Jahr der Seele. Stuttgart 1982 (Sämtliche Werke, Bd. 4), S. 51.

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fremder Literaturen innerhalb des Jungen Wien nicht so sehr um einen europäischen Gesamtentwurf, sondern um ganz bestimmte avantgardistische ästhetische Positionen, die diskutiert, transformiert und aufgenommen werden. Es ist in diesem Sinn auch bezeichnend, dass von Hermann Bahr, dem allgegenwärtigen Literaturtheoretiker des Jungen Wien, zwar viele einzelne Artikel zur französischen Literatur vorliegen, eine Russische Reise (1891), eine Dalmatinische Reise (1909) und Berichte Vom jüngsten Spanien (1894), aber Europa im Ganzen in den frühen poe­ tologischen und programmatischen Texten kaum eine Rolle spielt.87 Ähnliches gilt für Hugo von Hofmannsthal, dessen Schaffen natürlich ohne den Resonanzraum der gesamten abendländischen Kultur nicht denkbar ist und der immer wieder in großen Würfen antike und alteuropäische Texte beleiht, um ihnen eine ganz eigene moderne und zugleich traditionsgesättigte Variante abzuringen, aber auch für Hofmannsthal ist auffällig  : Die Idee Europa drängt sich erst ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als es um die österreichisch-ungarische Monarchie schlecht bestellt ist. Das ist vielleicht so verwunderlich nicht, und man kann fragen  : »Beflügelte die Idee Europa die Phantasie der Menschen nicht vor allem in Zeiten der Bedrohung, in Katastrophen  ? Man fand zusammen  : gegen die Nichtchristen im Mittelalter, gegen die Araber in Spanien und Frankreich, gegen die Türken vor Wien, gegen die Gewaltherrschaft einzelner (Napoleon, Hitler), gegen die wirtschaftliche Übermacht bestimmter Länder (Japan, USA). Europa ein regulierender und konstruktiver Faktor vor allem in der Abwehr von Bedrohung  ?«88 Für den Beginn der Auseinandersetzung der älter gewordenen Jungwiener mit Europa muss man diese Frage wohl bejahen. Europa fungiert in den späten Texten der Wiener Moderne als Remedium für Gefährdetes und als Ersatz für Verlorenes. Die älter gewordenen Jungwiener propagieren ein Europa, das mitnichten auf den Grundfesten einer liberalen Demokratie und einer freiheitlich-pluralistisch gedachten Gesellschaftsordnung fußt. Diese österreichischen Europabilder gehören zu einem Ensemble von Europa-Vorstellungen, die im frühen 20. Jahrhundert »Europa und seine Gesellschaft(en) nach konfessionellen, ständisch-elitären, imperialen oder auch hegemonialen Vorgaben zu ordnen gedachten und sich damit grundlegend von unserer heutigen Idee von Europa unterschieden«.89 87 Insofern ist der Titel eines wichtigen Sammelbandes von 2001 Hermann Bahr  – Mittler der europäischen Moderne (Hermann-Bahr-Symposium Linz 1998). Hg. von Johann Lachinger. Linz 2001) auch eher missverständlich. Präziser durch den Plural hingegen der Titel eines Sammelbandes von 2014  : Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden. Hg. von Martin Anton Müller, Claus Pias und Gottfried Schnödl. Bern 2014. 88 Wolfram Mauser  : »Die geistige Farbe des Planeten«. Hugo von Hofmannsthals »Idee Europa«, in  : Hofmannsthal-Jahrbuch 2 (1994), S. 201–222, hier S. 205. 89 Vanessa Conze  : Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970). München 2005, S. 1.

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Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal starten mit ihrem Europa-Engagement während des Ersten Weltkriegs.90 Dieser Zusammenhang ist wichtig. In der älteren Forschung findet man häufig den Versuch, die politische Pro-Kriegspublizistik der öster­ reichischen Schriftsteller als zwar unangenehme Entgleisung zu werten, davon aber abzusetzen die hell leuchtenden Europa-Vorstellungen der Jungwiener, die dann gar gelegentlich zu Vordenkern der Europäischen Union stilisiert wurden.91 Aber die beiden Gedankenkomplexe lassen sich nicht trennen. Die Europa-Ideen des Jungen Wien entstehen als Teil ihrer apologetischen Kriegspublizistik.92 Beide, Bahr und Hofmannsthal, haben publizistisch den Krieg unterstützt und versucht, ihn intellektuell zu legitimieren.93 Nicht ganz so prominent und rückblickend vielleicht noch schwieriger zu verstehen, ist die Tatsache, dass auch der junge Robert Musil Pro-Kriegsschriften verfasste, in denen Europa eine nicht unerhebliche Rolle spielte. Unter dem Titel Europäertum, Krieg, Deutschtum erschien im September 1914 in der Neuen Rundschau eine kurze Studie von Musil, in der er im Pluralis Modestiae von einem »wir« der »vielleicht auf lange hinaus letzten Europäer« ausgehend den Krieg begrüßte.94 In diesem Text scheint allerdings das Europäertum eine überlebte kosmopolitische Vorkriegshaltung gewesen zu sein, die nun 1914 von einem Deutschtum abgelöst wurde. Insofern erläutert der Titel Europäertum, Krieg, Deutschtum ein zeitliches Nacheinander, das hier auch als Klimax begriffen wird. Musil feiert den Krieg und wundert sich, »wie schön und brüderlich der Krieg ist«.95 90 Ein kleines Vorspiel stellt Bahrs Essay Die Hauptstadt von Europa. Eine Phantasie (1900) dar (in  : Ders.: Essays. Hg. von Gottfried Schnödl. Weimar 2011 [Kritische Schriften, Bd. 12], S. 192–197). 91 Solche positiven (Ver-)Zeichnungen finden sich in unterschiedlich starker Ausprägung etwa bei Gert Mattenklott  : Hofmannsthals Votum für Europa, in  : Austriaca 37 (1993), S. 202–222. Franz Schüppen  : Zur Entwicklung und Bedeutung des Begriffs »Europa« bei Hugo von Hofmannsthal, in  : Neohelicon 38 (2011), S. 19–40. 92 Vgl. zu diesem Zusammenhang vor allem Gregor Streim  : Vom »unrettbaren Ich« zur »europäischen Idee«. Zum Verhältnis von Ästhetik und Politik in den Schriften Hermann Bahrs, in  : Hermann Bahr. Mittler der europäischen Moderne (Anm. 87), S. 61–70. 93 Zu Bahr vgl. Barbara Beßlich  : Hermann Bahrs »Ideen von 1914«, in  : Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne. Hg. von Petra Ernst, Sabine A. Haring und Werner Suppanz. Wien 2004, S. 57–75. Zu Hofmannsthal vor allem immer noch Heinz Lunzer  : Hofmannsthals politische Tätigkeit in den Jahren 1914 bis 1917. Frankfurt a. M. 1981. Christian Soboth  : Berichterstatter, Dichter, Priester und Prophet. Ämter und Rollen in Hugo von Hofmannsthals Kriegspublizistik, in  : Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des »modernen« Krieges in Literatur, Film, Theater, Photographie und Film, Bd. 1. Osnabrück 1999, S. 215–232. Oliver Tekolf  : »… zurückzukehren – das ist die Kunst.« Hugo von Hofmannsthals publizistisches und dramatisches Werk 1914–1929. Nordhausen 2004. 94 Robert Musil  : Europäertum, Krieg, Deutschtum, in  : Ders.: Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek 1978 (Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 1020 ff., hier S. 1020. 95 Ebd.

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Während in diesem frühen Kriegstext von Musil Europa als überwundener Gegenbegriff zu Staat und Nation erscheint, verlagern sich die Akzente deutlich anders in den Kriegsschriften von Hermann Bahr, denn hier erscheint Europa als positive, schillernde Lösungsvokabel, um Nationalitätenkonflikte innerhalb Österreich-Ungarns zu kompen­ sieren. Hermann Bahrs Kriegsschriften beschwören nibelungentreu eine deutsch-österreichische Synthese, aber keine, die bis zur völligen Ununterscheidbarkeit der beiden Staaten drängt. Bahr betont, adressiert an die Deutschen, dass sie Österreich nicht von seinen deutschsprachigen Gebieten her zu denken hätten und kritisiert, Deutschland sah bis zum Krieg an Österreich noch immer nur die Deutschen Österreichs, nur diese zwölf Millionen unter den einundfünfzig, als ob dieses Viertel Österreich wäre, jemals ganz Öster­ reich gewesen wäre, und bemerkte nicht, daß auch diese Deutschen Österreichs, so gute Deutsche sie geblieben sind, ja durch das gemeinsame Leben mit anderen Völkern, welches Österreich ist, doch längst noch etwas anderes geworden sind, noch etwas wesentlich andres  : eben Österreicher.96

Die Schwierigkeiten, die unterschiedlichen Nationen innerhalb des Vielvölkerstaates miteinander auszugleichen, bezeichnet Bahr zwar einerseits als »österreichisches Problem«, münzt dieses Problem dann aber um in eine Leistung und einen Erfahrungsgewinn, Multiethnizität zu moderieren. Damit wird für Bahr Österreich zu einem Vorbild für eine künftige Ordnung Europas. So formuliert er 1916  : Österreich ist in Europa der erste große Versuch oder Entwurf, ein bisher noch nicht ganz gelungener, ein vielleicht eben jetzt erst gelingender Versuch einer Organisation von Völkern in Freiheit, einer Ordnung des Vielfältigen zur Eintracht, eines neuen Staates aus alten Staaten, deren Persönlichkeit, Eigenart, Vorgeschichte, Richtung und Willenskraft in ihm nicht nur nicht verlischt, sondern sich gerade durch ihn, an ihm erst erfüllt.97

Das autosuggestive Moment in solchen Formulierungen ist deutlich, die Hoffnung darauf, dass im Krieg die Friktionen und Konflikte der Vorkriegszeit überwunden werden könnten. Um den Vielvölkerstaat als das bessere Modell gegenüber dem Nationalstaat konzipieren zu können, betont Bahr die Simplizität des Nationalstaats, der sich schon »durch seine Denkbequemlichkeit« empfehle und nirgends mit Widerstand rechnen müsse.98 Demgegenüber müsse ein Vielvölkerstaat grundsätzlich auf Anfangs- und 96 Hermann Bahr  : Deutschland und Österreich (1916), in  : Ders.: Schwarzgelb. Berlin 1917, S. 9–29, hier S. 14. 97 Ebd., S. 18. 98 Ebd.

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Gründungsschwierigkeiten gefasst sein, sei aber bei Gelingen die attraktivere Variante, oder in Worten Hermann Bahrs  : Bis ein Völkerstaat, der ja so viele Brüche zunächst erst einmal auf einen gemeinsamen Nenner bringen muß, abgerechnet hat, ächzt und stöhnt und stockt er oft, er setzt sich schwer in Bewegung, die Maschinerie des Nationalstaates geht gleich glatt. Ist aber der Völkerstaat so weit, daß seine vielen Stimmen endlich einstimmen, gegen den Orgelton dieser brausenden Fuge, wie klingt da der Nationalstaat mit seiner einen Saite matt und dünn und schal  ! Ein mechanisch gesinntes Zeitalter, dem es auch im Politischen an allem Sinn fürs Organische gebrach, hatte nur freilich dafür kein Ohr, es fand Österreich wider seinen Sinn, es sprach ihm vor der Vernunft die Berechtigung ab, da zu sein  ; Österreich konnte darauf nicht anders antworten, als indem es da war und da blieb.99

Der Völkerstaat wird hier als lebendiger Körper bebildert, der »ächzt« und »stöhnt«, während der Nationalstaat als Maschine beschrieben wird, der zu einem »mechanisch gesinnten Zeitalter« passe. Die Wertungen sind deutlich, organisches Leben rangiert über der toten Maschine. Damit verkehrt Bahr virtuos die im 19. Jahrhundert üblichen Metaphern, die eher den Nationalstaat als organische Angelegenheit begriffen hatten. Auch die musikalische Metaphorik unterstützt die Hierarchisierung vom Vielvölkerstaat oberhalb des Nationalstaats. Während der Nationalstaat durch anspruchslose Einstimmigkeit geprägt sei, schillere und leuchte der Vielvölkerstaat in der polyphonen Pracht wie eine mehrstimmige Fuge. Wider die Realität der nationalen Unruhen und auch der Sprachenproblematik innerhalb des österreichischen Militärs proklamiert Bahr (als hoffe er auf eine selbsterfüllende Prophezeiung)  : »Wie dieser Krieg uns überall umzulernen zwingt, zeigt er uns nun auch Staat und Nation in einem ganz neuen Verhältnisse  : Der Staatsbegriff überwächst das Nationalgefühl, der Staat tritt vor, die Nation zurück«.100 Das war nun freilich gerade nicht so in der Realität, ein folgenschwerer Irrtum. Interessant ist aber, dass Bahr an diese Umwertung eine weitere Überlegung anknüpft, die auch noch den Vielvölkerstaat transzendiert zu einem Staatenbund  : Dieser Krieg stellt allen und stellt besonders uns, stellt dem Deutschen Reiche, dem mit Deutschland verbündeten Europa, dem Deutschtum in der Welt Bedingungen, für die nicht bloß das Nationalitätsprinzip, der alte Nationalstaat längst nicht mehr reicht, sondern dieser Krieg hat den Staatsgedanken so weit gedehnt, so hoch gespannt, daß ihm jetzt schon auch der bisherige  99 Ebd., S. 19. 100 Ebd., S. 20.

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Völkerstaat nicht mehr genügen kann, daß er einen noch größeren Raum für sich braucht und eine noch biegsamere Form, daß er etwas wie einen neuen Völkerbundesstaat verlangt, gleichsam eine Auferstehung der alten Christenheit des Mittelalters, in ungeheuren Maßen.101

Ein neuer »Völkerbundesstaat« wird hier entworfen und in die romantischen Zusammenhänge eines Novalis rückgebunden, der ebenfalls seine Europa-Idee vom katholischen Mittelalter her konzipierte. Bahr reagiert mit seinem Text von 1916 indirekt auf die Mitteleuropa-Entwürfe von Friedrich Naumann (ohne ihn zu nennen), prägt sie aber auch um. Im Oktober 1915 war die Abhandlung Mitteleuropa des deutschen Politikers Friedrich Naumann erschienen und hatte sich rasch über 100.000-mal verkauft.102 Naumann forderte »für die Zeit nach dem Kriegsende einen primär wirtschaftspolitisch integrierten Staatenbund, dessen Kern ein stärkerer Zusammenschluss der Mittelmächte, insbesondere Deutschlands und Österreich-Ungarns, darstellen müsse, der jedoch sukzessive nach mehr oder weniger föderativen Grundsätzen erweitert und im Endeffekt weite Teile Zentral- und Südosteuropas umfassen sollte«.103 Dieses »Mitteleuropa« Friedrich Naumanns war dominiert vom Deutschen Reich, und dies vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Da setzt Bahr nun (korrigierend) ein, er spricht von einem übernationalen »Werkbund« und beruft sich auf den österreichischen Politiker Karl Renner, der, so Bahr, befand  : »Der Staat ist zu klein, die Welt teilt sich in wenige große Gruppen, man muß in Erdteilen denken  !«104 Ein solches Denken in Kontinenten nimmt Bahr wörtlich und erweitert den Subkontinent Europa in den asiatischen Raum. Zu seinem »neuen Reich der Mitte« gehören nämlich »das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, de[r] Balkan, die Türkei, Persien und China«.105 Das war nun ziemlich groß gedacht und dehnte bisherige Ost-Imaginationen der Wiener Moderne erheblich ins Asiatische aus.106 Bahr versucht sich diesen gigantischen Plan eines Zusammen-

101 Ebd. 102 Friedrich Naumann  : Mitteleuropa. Berlin 1915. Vgl. Jürgen Elvert  : »Irrweg Mitteleuropa«. Deutsche Konzepte zur Neugestaltung Europas aus der Zwischenkriegszeit, in  : Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz Duchardt und Malgorzata Morawiec. Mainz 2003, S. 117–137. 103 Florian Greiner  : Der »Mitteleuropa« -Plan und das »Neue Europa« der Nationalsozialisten in der englischen und amerikanischen Tagespresse, in  : Zeithistorische Forschungen 9 (2012), S. 467–476, hier S. 468. Vgl. auch Jacques Le Rider  : Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes. Essay. Aus dem Französischen von Robert Fleck. Wien 1994, S. 121–129. Jürgen Elvert  : Mitteleuropa  ! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945). Stuttgart 1999. 104 Bahr  : Deutschland und Österreich (1916) (Anm. 96), S. 21. 105 Ebd. 106 Vgl. auch Bahr  : Österreich (1915), in  : Ders.: Schwarzgelb (Anm. 96), S. 46–78.

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schlusses handhabbarer zu machen, indem er solche kontinentalen Großpläne in eine spezifisch habsburgische Tradition einordnet  : Hat Habsburg nicht immer schon in Erdteilen gedacht  ? Ist diese neue Form, die zum gemeinsamen Werk so vieler Völker jetzt notwendig sein wird, diese lebendigere, reichere, beweglichere Form, diese Form der Fülle, der Entfaltung, der Vieleinigkeit nicht in unserm alten Österreich immer schon leise, wenn auch noch bange, vorgefühlt worden  ? Ist nicht unser altes Österreich schon ihre Verheißung, ihr freilich noch ungewisses, gespenstisch schwankendes, zaghaft ahnungsvolles Vorbild im kleinen gewesen, wird nicht das jetzt erstehende neue Reich der Mitte, dieser federnde Kreis zwischen dem starren Osten und einem exzentrischen Westen, ja doch eigentlich bloß Österreichs gereinigtes, erwachsenes, stark versichertes Abbild im großen sein  ?107

Österreich als role model der Kontinentalisierung,108 der Vielvölkerstaat als Vorbild für europäisch(-asiatische) Staatenbundkonzepte gegen den Westen, so argumentiert Bahr. In einer anderen Kriegsschrift hatte Bahr mit großösterreichischer Verve erläutert, »daß ja jetzt Europa nichts übrigbleiben wird als österreichisch zu werden. […] Der Österreicher […] ist ein Entwurf, gewissermaßen ein erster Versuch des Europäers. […] Das hätten wir uns auch nie träumen lassen, daß wir noch einmal Lehrmeister werden, die Lehrmeister, Tanzmeister Europas«.109 Dadurch, dass Österreich bereits multilaterale Erfahrungen gemacht habe, könne es wiederum zum Mentor Deutschlands werden, wie Bahr überlegt  : Und so hätten wir Österreicher dann, während wir seitab in aller Stille nur unser eigenes Haus zu bestellen meinten, damit einen weltgeschichtlichen Beruf erfüllt, indem wir das Modell des neuen Europa schufen, und hätten, wenn das nicht ohne manche Torheit geschah, den Trost, daß sie dafür hoffentlich der deutschen Welt erspart bleiben wird. Unsere österreichische Geschichte ist ein Anschauungsunterricht im deutschen Umgang mit andern Völkern, aus dem, an unsern Fehlern und Erfolgen, der Weltdeutsche der Zukunft, dieser Österreicher im großen Format, lernen mag, jene zu vermeiden, diese zu benützen. Es wäre ein Augenblick, wie wir noch keinen größeren erlebt haben. Sein Vorgefühl beglückt jeden Österreicher. Gar aber den deutschen Österreicher stellt es recht eigentlich erst wieder her, er kann jetzt wieder an sein Vaterland glauben.110

107 Bahr  : Österreich und Deutschland (1916) (Anm. 96), S. 21. 108 Vgl. Paul Michael Lützeler  : Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller. Bielefeld 2007. 109 Bahr  : Der Österreicher (1915), in  : Ders.: Schwarzgelb (Anm. 96), S. 106–113, hier S. 111 und 113. 110 Bahr  : Österreich und Deutschland (1916) (Anm. 96), S. 21 f.

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Während zuvor der hegemoniale Anspruch Deutschlands, wie er in Friedrich ­Naumanns Mitteleuropa-Konzept formuliert worden war, eher relativiert und gemindert wurde, scheint dieses Zitat wieder deutlicher das »neue Reiche der Mitte« vom Deutschen Reich und einem Deutsch-Österreich aus zu konzipieren. Nachdem Bahr zuvor, an die Deutschen adressiert, dazu aufgerufen hatte, Österreich explizit von den nicht deutschsprachigen Gebieten aus zu denken, kehrt er am Ende die Perspektive wieder um. Da steht der »deutsche Österreicher« wieder im Zentrum der Betrachtung. Daher hat Gregor Streim auch sehr zu Recht argumentiert, dass »der politische Publizist Bahr während des Weltkriegs alles andere denn ein Vermittler zwischen Österreich und Europa oder gar ein Vordenker der europäischen Gemeinschaft, daß er vielmehr der Propagandist eines deutschen Imperialismus in Europa gewesen ist«,111 der sich eben nur über weite Strecken rhetorisch einigermaßen gut tarnt und Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Konzept österreichisch einzuhegen sucht, indem er das Modell Österreich als Vorschule eines deutschen Expansionstriebs gestaltet.112 Am Ende seiner Abhandlung zu Österreich und Deutschland steht dann auch sehr deutlich ein Bekenntnis zu Deutschland als Hegemonialmacht, das die vorherigen argumentativen Bemühungen um Ausgleich und gleichberechtigten Austausch der Nationen innerhalb der Doppelmonarchie Lügen straft. So fragt Bahr rhetorisch und suggestiv in einer Riesenhypotaxe  : Vielleicht ist dieser Krieg doch nur der Krieg um Europa, um den ewigen Frieden, um die Vereinigten Staaten Europas, die Denker und Dichter lange schon träumten und die vielleicht doch nur der deutsche Geist uns bringen kann, weil vielleicht nur er tief, aber auch weit genug, gewaltig, aber auch empfänglich genug, ausgreifend, aber auch einfühlend genug ist und vielleicht nur er Raum für alle hat, Raum für die ganze Menschheit Europas, Raum und Luft und Licht, denn diese Menschheit verlangt, unter einem Starken in seinem Schutz ihr eigener Herr und frei und froh zu sein, wo sonst aber ist ein Volk, das zur Kraft auch noch die Geduld der verstehenden Liebe hätte  ?113

Hier kommt sehr deutlich ein deutsch-österreichischer Imperialismus zum Tragen, der nicht gerade dazu einlud, solche hegemonialen Konzepte im auseinanderbröckelnden Vielvölkerstaat breiter populär zu machen. Bahrs österreichischem Europa-Gedanken 111 Streim  : Vom »unrettbaren Ich« zur »europäischen Idee« (Anm. 92), hier S. 68. Vgl. auch zu einer solchen kritischen kulturpolitischen Kontextualisierung des späten Bahr Martin Anton Müller, Claus Pias, Gottfried Schnödl  : Einleitung, in  : Dies. (Hg.)  : Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden (Anm. 87), S. 7–13. 112 Vgl. etwa in diesem Sinne auch folgende Sentenz  : »Österreich ist der deutsche Drang ins Morgenland.« (Hermann Bahr  : Österreich (1915) [Anm. 106], S. 47). 113 Bahr  : Österreich und Deutschland (1916) (Anm. 96), S. 24 f.

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ging es letztendlich »nicht um die Einigung Europas im Sinne eines grenzübergreifendföderativen Modells, sondern […] um die Etablierung einer […] deutsch-österreichischen Hegemonie im Herzen des Kontinents«. Die Nationen Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas besaßen in Bahrs Gedanken wohl eher »den Stellenwert eines untergeordneten wirtschaftlichen Ergänzungsraums, der dem Zentrum die eigenen Ressourcen liefern und ihm die Fertigprodukte abnehmen sollte«.114 Man kann mit Primus-Heinz Kucher von einer kolonialistischen alteuropäischen Österreich-Vorstellung sprechen, »die längst jeder Grundlage verlustig geraten war und durch den Krieg nur mehr als überheblicher, rhetorischer Gestus aufgefasst werden konnte«.115 Bahr bleibt während des Kriegs bei dieser Orientierung an deutsch-hegemonialen Europa-Konzepten. Er rezensiert wohlmeinend distanziert die völlig verquaste Abhandlung des deutschen Botanikers Camillo Karl Schneider, der 1916 Mitteleuropa als Kulturbegriff traktierte.116 1918 schließlich zeigt er sich begeistert von Artikeln in der Österreichisch-Ungarischen Finanzpresse eines gewissen Civis.117 Hinter diesem Pseudonym »Civis« verbarg sich der Autor Robert Müller, dessen exotistischer Roman Tropen 1915 erschienen war. Robert Müller war beim Kriegspressequartier beschäftigt und leitete die Zeitschrift Österreichisch-Ungarische Finanzpresse bis 1919.118 Unter dem Pseudonym »Civis« verfasste Müller militärkritische Artikel, aber nicht nur. Bahrs Enthusiasmus nämlich gilt den Europa-Ausführungen von Robert Müller, der Europa als Mittler zwischen »Amerikanismus« und »Asiatismus« verstand und der sich zugleich eine neue »Deutschheit« von Österreich erhoffte, so die Begriffe von Bahr. Davon ausgehend reflektiert Bahr im Sommer 1918 noch einmal über Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Konzept und seine Entwicklungsmöglichkeiten  : Ja 1915, da war Naumanns Mitteleuropa wirklich eine Tat, wenn auch erst nur auf dem Papier. Es war ein ungeheurer Schritt  : der Schritt aus der Enge der Nation in den freien Raum des

114 So Jürgen Elvert für die Europa-Vorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts in  : Ders.: Europäische Leitbilder der Neuzeit, in  : Leitbild Europa  ? Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit. Hg. von Jürgen Elvert und Jürgen Nielsen-Sikora. Stuttgart 2009, S. 81–88, hier S. 85. 115 Vgl. Primus-Heinz Kucher  : Zwischen ›West-östlichem Barock‹ und Dämonisierung/Asiatisierung des Ostens. Strategien literarischer Anverwandlung des fremden Ostens bei Hermann Bahr und Robert Müller, in  : Konzept Osteuropa. Der »Osten« als Konstrukt der Fremd- und Eigenbestimmung in deutschsprachigen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Dagmar Lorenz und Ingrid Spörk unter Mitarbeit von Alexandra Rollett und Elisabeth Scherr. Würzburg 2011, S. 131–146, hier S. 136 f. 116 Karl Camillo Schneider  : Mitteleuropa als Kulturbegriff. Leipzig 1916. Hermann Bahr  : Tagebuch, in  : Neues Wiener Journal vom 29. Juni 1918, S. 5 f. 117 Hermann Bahr  : Tagebuch, in  : Neues Wiener Journal vom 14. Juli 1918, S. 5 f. 118 Vgl. Bettina Pflaum  : Politischer Expressionismus. Aktivismus im fiktionalen Werk Robert Müllers. Hamburg 2008, S. 52.

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Uebernationalen. Wenn es die Idee von 1914 schien, Individualismus und Sozialismus […] zu versöhnen, so sollte […] nun auch der Individualismus der Völker  : der Nationalismus zur Selbstbesinnung genötigt werden.119

Der alte Überwindungsgedanke, mit dem Hermann Bahr schon die ästhetischen Verhältnisse um 1890 strukturiert und den Naturalismus für obsolet erklärt hat, feiert hier fröhliche Urständ. Nun wird der Individualismus der Völker überwunden und in einem neuen Europa-Konzept aufgehoben. Allerdings bleibt Bahr 1918 nicht bei diesem Konzept stehen, sondern reflektiert eine erneute Weitung des Zusammenschlusses, und hier wird es einigermaßen nebulös  : Was Naumann damals entdeckte, wiederentdeckte, war die uralte Sehnsucht des Deutschen über sich hinaus. […] Seither haben wir einsehen gelernt, daß dieses Mitteleuropa doch eigentlich bloß ein Weltersatz wäre. […] Mitteleuropa war nur das erste Zeichen unserer Sehnsucht nach Raum und Luft  ; die Selbstüberwindung des nationalen Paroxysmus fing damit an. Heute sind wir doch weiter. […] Mitteleuropa gab uns gleichsam nur den Vorgeschmack einer übernationalen Ordnung, aber l’appetit vient en mangeant. Wer nur die Wahl hätte zwischen dem Kerker eines Nationalstaats und dem immerhin freieren Raum eines Staatenbunds, wird sich für diesen entscheiden. Wer aber zur Welt gehören kann, warum soll sich der eigentlich mit Mitteleuropa begnügen  ?120

Wie soll man ein solches Zitat einordnen  ? Wäre man wohlgesonnen, so könnte man hier Globalisierungsahnungen und eine österreichische Variante eines Völkerbundkonzepts erblicken. Aber Bahr bezieht sich hier wohl kaum auf Völkerbundmodelle, wie sie der Kriegsgegner Woodrow Wilson ein Jahr später realisierte.121 Geht man eher kritisch an dieses Zitat, so vermag man vielleicht schon verblasene Welteroberungspläne zu erblicken, die der Nationalsozialismus dann in der Wirklichkeit zweieinhalb Jahrzehnte später zu realisieren versuchte. Aber immerhin geht es hier bei Bahr 1918 noch um ein »zur Welt gehören« und nicht um ein »Gehören der Welt«. Dennoch ist es für den Nachgeborenen schwierig, in einem solchen Zitat nicht auch schon das nationalsozialistische Lied von Hans Baumann mitzuhören, das in dem expansiv-aggressiven Refrain schloss »heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt«. Bahr äußerte seine Überlegungen anlässlich eines politisch-diplomatischen Treffens in Salzburg, das den wirtschaftspolitischen »Ausbau und die Vertiefung des Bündnis119 Hermann Bahr  : Tagebuch, in  : Neues Wiener Journal vom 14. Juli 1918, S. 6. 120 Ebd. 121 Wilson hatte am 8. Januar 1918 sein Programm für eine umfassende internationale Neuordnung nach dem Ende des Kriegs in einer Rede vor dem amerikanischen Kongress vorgestellt.

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ses« der Mittelmächte zum Thema hatte.122 Der übernationale Zuschnitt war hier äußerst begrenzt und bewegte sich in alten cisleithanischen Bahnen. Der »Weltbezug« in diesem Zitat bleibt also einigermaßen unkonkret. Vor dem weiteren Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts erscheinen natürlich solche Formulierungen wie die einer deutschen »Sehnsucht nach Raum« einigermaßen unheimlich und klingen nach planetarischem Größenwahn. Bahrs Konzept bleibt allerdings trotz der aktualisierenden Vokabeln letztendlich wohl eher rückwärtsgewandt und restaurativ. Das zeigt auch die Empfehlung, mit der er seine Europa-Reflexionen 1918 beschließt. Den Bevollmächtigten des Bündnisses der Mittelmächte solle man, so rät er, bei ihren Verhandlungen in Salzburg »im Hotel Europe Novalis’ Fragment ›Die Christenheit oder Europa‹ aufs Nachtkastl legen, da steht schon alles drin«.123 Wie restaurativ schließlich auch Bahrs Europabild nach dem Ersten Weltkrieg blieb, zeigt auch seine Auseinandersetzung mit Coudenhove-Kalergis Idee von Paneuropa. Der Österreicher Coudenhove-Kalergi hatte seine paneuropäische Union gegründet und 1923 seine Monographie Paneuropa veröffentlicht,124 die Hermann Bahr im Neuen Wiener Journal wohlmeinend, aber deutlich von oben herab rezensierte. Einerseits deutet er das anti-kommunistische Paneuropa-Modell um und macht es gemein mit anderen historischen und kriegerischen Großreichsambitionen. So verallgemeinert, vereinfacht und verfälscht Bahr  : »Cäsar, Augustinus, Kaiser Friedrich II. und Karl V. bis hin zu Napoleon haben doch alle ›Pan-Europa‹ gemeint«.125 Das war natürlich so, oratorisch vereinfacht, völliger Unsinn. Andererseits verniedlicht er Coudenhove-Kalergis Ziele als kindisch-naive Weltfremdheit, wenn er seine Besprechung mit den Worten beschließt  : »Ich, ein alter Mann, dem sein Vaterland vergangen, der nirgends mehr daheim ist, freue mich des hohen Wunschbildes, durch das Coudenhove bezaubert, aber ich kenne Menschensinn und Menschenart zu gut, um seiner Utopie trauen zu können«.126 Hermann Bahr, das wird deutlich, war hier nicht mehr ein avantgardistischer Mann von übermorgen, zu dem ihn einst Maximilian Harden geadelt hatte. Bahr 122 Vgl. [Anonymus  :] Die Beratungen in Salzburg über den Ausbau des Bündnisses. Beginn in der nächsten Woche, in  : Neue Freie Presse vom 1. Juli 1918, S. 1. Zu der vorherrschenden Formel (»Ausbauung und Vertiefung« oder auch »Befestigung und Vertiefung« des Bündnisses) vgl. auch sprachkritisch Karl Kraus  : Ausgebaut und vertieft, in  : Die Fackel vom 15. Oktober 1918, S. 3–9. Zu diesem Treffen in Salzburg vgl. Jan Vermeiren  : The First World War and German National Identity. The Dual Alliance at War. Cambridge 2016, S. 314. 123 Hermann Bahr  : Tagebuch, in  : Neues Wiener Journal vom 14. Juli 1918, S. 6. 124 Richard Coudenhove-Kalergi  : Paneuropa. Wien 1923. Vgl. hierzu Vanessa Conze  : Leitbild Paneuropa  ? Zum Europagedanken und seiner Wirkung in der Zwischenkriegszeit am Beispiel der Konzepte Richard Coudenhove-Kalergis, in  : Leitbild Europa  ? (Anm. 114), S. 119–125. 125 Hermann Bahr  : Tagebuch, in  : Neues Wiener Journal vom 27. April 1924, S. 10. 126 Ebd.

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hat zeit seines Lebens viele Verpuppungen und Verwandlungen nicht so sehr nur durchlaufen, sondern bewusst inszeniert  : »vom Provinzialismus und Kosmopolitismus über Nationalismus, Militarismus und Imperialismus zu Katholizismus und Antisemitismus, Austroslawismus, Austromarxismus und Austro-Europäertum«.127 Er verabschiedete sich nach 1918 resignativ in restaurative Betrachtungen, begegnete der neuen Republik mit feindseliger Skepsis,128 erklärte sich selbst offensiv zum »Mann von vorgestern«,129 reaktivierte eine übernationale Barockidee und näherte seine Vorstellungen der europäischen Nachkriegsordnung »mit postfeudalen und paternalistischen Attitüden« auch Überlegungen einer katholischen Variante der konservativen Revolution an.130 Hiervon absetzen lässt sich Hugo von Hofmannsthals Auseinandersetzung mit der europäischen Idee, die zwar auch äußerst konservativ, katholisch verankert und an romantische Vorstellungen gekoppelt ist,131 aber gerade im Verhältnis zum Deutschen Reich anders gelagert und um österreichische Distanz vom als preußisch perhorreszierten Deutschland bemüht. Auch gegenüber Friedrich Naumanns MitteleuropaKonzept bleibt Hofmannsthal skeptisch. Ihn interessieren nicht wirtschaftspolitische Zusammenschlüsse und schon gar nicht eine geopolitische expansiv-imperialistische Diskussion um Gebietserweiterungen in Osteuropa.132 Hofmannsthals Exemplar von Naumanns Mitteleuropa ist mit vielen Anstreichungen versehen, er lernte den deutschen Politiker 1916 auch persönlich in Berlin kennen.133 Aber den Befürwortern von Naumanns Mitteleuropa-Idee hält Hofmannsthal 1916 in einer Rede über Österreich im Spiegel seiner Dichtung entgegen  :

127 So die Auflistung von Tomislav Zelić  : Einleitung. Traditionsbrüche – Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr, in  : Ders. (Hg.)  : Traditionsbrüche. Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr. Frankfurt a. M. 2016, S. 7–13, hier S. 7. 128 Vgl. Norbert Bachleitner  : Krone, Krieg und kommunistische Krawalle. Vom schwierigen Übergang JungWiener Autoren zur Demokratie, in  : Traditionsbrüche (Anm. 127), S. 77–85. 129 Hermann Bahr  : Selbstbildnis. Berlin 1923, S. 2. 130 Vgl. Kucher  : Zwischen ›West-östlichem Barock‹ und Dämonisierung/Asiatisierung des Ostens (Anm. 115), hier S. 136. Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet Josef Nadler Bahrs Europa-Begriff in den 1920er Jahren würdigt  ; vgl. Josef Nadler  : Vom alten zum neuen Europa. Fantasien über das Thema »Hermann Bahr«, in  : Preußische Jahrbücher 193 (1923), S. 32–51. 131 Zur romantischen Tradition in Hofmannsthals Europa-Idee und in seinem Spätwerk insgesamt vgl. umfassend Cristina Fossaluzza  : Poesia e nuovo ordine. Romanticismo politico nel tardo Hofmannsthal. Venedig 2010. 132 Vgl. Primus-Heinz Kucher  : Hugo von Hofmannsthals Kriegsziel-Notizen im Kontext deutscher und österreichischer Südosteuropa-Konzepte im Ersten Weltkrieg, in  : Zagreber germanistische Beiträge 25 (2016), S. 29–44. 133 Hugo von Hofmannsthal  : Bibliothek. Hg. von Ellen Ritter in Zusammenarbeit mit Dalia Bukauskaité und Konrad Heumann. Frankfurt a. M. 2011 (Sämtliche Werke, Bd. 40), S. 504.

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Wo alles in der Welt auf Bindung hindrängt, scheine ich sondern zu wollen  ; wo der Begriff ­eines Mitteleuropa mit der größten Liberalität behandelt werden will […], scheine ich reaktio­när und partikularistisch. Ich verwirre Ihnen die Einfalt der Gefühle und statuiere einen Dualismus dort, wo Sie in der Einheit der Sprache jede übrige Einheit mit dem großen deutschen Volk, wie es sich zum größten Teile im deutschen Nationalstaat verkörpert, verbürgt wissen wollen. Lassen Sie mich da, wo ich diese heiklen Dinge berühre, die Überzeugung entgegenhalten, daß nur bei zarter Sonderung und reiner Ausbildung aller Begriffe eine Harmonie, eine wirkliche Harmonie erzielt werden kann.134

Ein solches Beharren auf einer spezifisch österreichischen Perspektive jenseits von deutschhegemonialen Absichten unterscheidet Hofmannsthal deutlich von Bahrs imperialistischer Kriegspublizistik. Im März 1917 hielt Hofmannsthal in der Schweiz, in Bern, eine Rede über Die Idee Europa, deren Wortlaut nicht überliefert ist, und für die er Notizen verwendete, die er zum Teil gemeinsam mit Rudolf Borchardt erarbeitet hatte.135 Diese Notizen sind erhalten und zeigen, dass Hofmannsthal und Borchardt die Situation 1917 analogisieren mit anderen Krisen- und Übergangsphänomenen in der Antike. Nach drei Jahren Krieg ist der siegesgewisse Enthusiasmus, der die Schriften und Reden von 1914 und 1915 auszeichnete,136 verschwunden und weicht besonneneren Tönen, die um eine geistige 134 Hugo von Hofmannsthal  : Österreich im Spiegel seiner Dichtung, in  : Ders.: Reden und Aufsätze II 1914– 1924. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.  M. 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 13–25, hier S. 21 f. Vgl. in diesem Sinn auch die distanzierende Formulierung  : »Mitteleuropa ist ein Begriff der Praxis und des Tages« (Hofmannsthal  : Die österreichische Idee, in  : Ders.: Reden und Aufsätze II 1914–1924 [s.o.], S. 454–458, hier S. 457 f.). Zu Hofmannsthals Reserve gegen Preußen vgl. auch Alexander Honold  : Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Berlin 2015, S. 361 ff. 135 Zum Zusammenhang von Borchardts und Hofmannsthals Kriegspublizistik vgl. Gregor Streim  : Deutscher Geist und europäische Kultur. Die ›europäische Idee‹ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz, in  : Germanisch-Romanische Monatsschrift 46 (1996), S.  174–197. Jürgen Prohl  : Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt. Studien über eine Dichterfreundschaft. Bremen 1973, S.  220 ff. Zu Hofmannsthals Skepsis gegenüber Naumanns MitteleuropaKonzept vgl. auch Jacques Le Rider  : Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Wien, Köln, Weimar 1997, S. 229–252. 136 Vgl. hierzu Sabine Schneider  : Orientierung der Geister im Bergsturz Europas. Hofmannsthals Hermeneutik des Kriegs, in  : Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Hg. von Karl Wagner, Stephan Baumgartner und Michael Gamper. Zürich 2014, S. 185–196. Eberhard Sauermann  : Hofmannsthals »Österreichischer Almanach auf das Jahr 1916« – ein Beitrag zur Geistesgeschichte oder zur Kriegspublizistik  ?, in  : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75, 2 (2001), S. 288–328. Andreas Schumann  : »Macht mir aber viel Freude«. Hugo von Hofmannsthals Publizistik während des Ersten Weltkriegs, in  : Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne. Hg. von Uwe Schneider und Andreas Schumann. Würzburg 2000, S. 137–151.

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Neuorientierung nach dem Krieg ringen. Der Erste Weltkrieg bedeutet Borchardt und Hofmannsthal vor allem eine Erosion des »Begriff[s] Europa  : Wir sind mit ihm groß geworden. Sein Zusammenbruch [war] für uns ein erschütterndes Erlebnis«.137 Wie dieser alte Europa-Begriff genauer zu fassen sei, wird erst einmal in einem Ausschlussverfahren versucht zu begründen. Betont wird, dass die »Einheit Europas keine geographische« (43) sei, denn in geographischer Hinsicht, so hat es Borchardt formuliert, sei der Subkontinent Europa nichts weiter als ein »asiatische[r] Nordwestfortsatz«.138 Noch kaltschnäuziger hatte das Gottfried Benn gefasst, als er sich (Kontinente anthropomorphisierend) ereifert hatte über »Europa, dieser Nasenpopel / Aus einer Konfirmandennase«.139 Neben der Ablehnung einer geographischen Definition wird betont, dass sich Europa auch nicht ethnisch fassen lasse, seine »Einheit [ist] auch keine rassenmäßige ethnische« (44), heißt es in den Notizen.140 Europa sei also weder geographisch noch ethnisch bestimmbar, es handele sich vielmehr um ein geistiges Werte-Ensemble, das die Europäer eine und dessen Gültigkeit und Verbindlichkeit mit einer eigenartigen Metapher aus dem Schuldrecht bebildert wird, denn Europas Charakter zeichne sich aus durch die »höchste Gemeinbürgschaft für ein heiliges Gut, dessen Benennung mit den Zeiten gewechselt hat« (44). Eine »Gemeinbürgschaft« oder »Gemeinschuld« bezeichnet eine nur von Mehreren gemeinsam erbringbare Leistung, wie sie etwa in einem Orchesterkonzert zustande kommt. Diesen schuldrechtlichen Begriff hatte Heinrich Mann prominent in die Europadiskussion während des Ersten Weltkriegs eingebracht, als er 1916 ausgeführt hatte  : »Öffentliches Geheimnis ist es, eben jetzt, daß eine europäische Gemeinbürgschaft besteht, gegen die wir alle nur mit schlechtem Gewissen verstoßen«.141 Es ist einigermaßen bemerkenswert, dass sich im Begriffsgebrauch hier die aufklärerisch-universalistische (West-)Europa-Konzeption von Heinrich Mann und die deutlich in konservativ-romantischen Traditionen verankerte von Hofmannsthal und Borchardt treffen. Auch Hofmannsthal nutzt den Begriff 137 Hugo von Hofmannsthal  : Die Idee Europa. Notizen zu einer Rede (1917), in  : Ders.: Reden und Aufsätze II 1914–1924 (Anm. 134), S. 42–54, hier S. 43. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe aus der Idee Europa mit eingeklammerten Seitenzahlen im fortlaufenden Text zitiert. 138 Rudolf Borchardt  : Europa, in  : Ders.: Prosa IV. Hg. von Marie Luise Borchardt. Stuttgart 21996 (Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 7–40, hier S. 11. 139 Gottfried Benn  : Alaska I, in  : Ders.: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 2006, S. 42. 140 Die Notizen proponieren ein hybrides Mischungskonzept  : »die weiße Rasse des Okzidents greift über Europa hinaus, fremde greift in sie hinein« (44). 141 Heinrich Mann  : Der Europäer (1916), in  : Ders.: Macht und Mensch. Essays. Nachwort von Renate Werner, Materialanhang von Peter-Paul Schneider. Frankfurt a. M. 1989, S. 129–135, hier S. 133. Vgl. hierzu Paul Michael Lützeler  : Die Schriftsteller und Europa von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1992, S. 245 f.

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der »Gemeinbürgschaft«, um die Bereitschaft und Selbstverpflichtung Europas für eine gemeinsame Sache zu veranschaulichen. Ein historischer Rückblick erläutert, auf welche Wertkonzepte sich Europa in der Vergangenheit zu einigen und verpflichten wusste. Im Mittelalter sei es die »civitas dei« (45) gewesen, die sich in den »Kreuzzugsjahrhunderten« als »Gemeinbürgschaft der Christen gegen die Heiden« (44) formiert hatte. Während der mittelalterliche Zusammenschluss als ein Abwehrbündnis gefasst wird, zeichnet sich die nächste Phase durch eine positive Selbstverständigung aus. In der Renaissance sieht Hofmannsthal eine Gemeinbürgschaft gegeben »aller an der Latinität […] beteiligten für Erweckung und Bewahrung dieses grundlegenden Erbes« (44). Eine in die Antike zurückgreifende Traditionsstiftung als Identitätsbegründung steht also über dieser zweiten Phase, die synkretistisch zu der christlichen »civitas dei« die an der Antike orientierte »res publica litteraria« (45) treten lässt. Schließlich wird als dritte und leuchtend ausgemalte Phase die Sattelzeit um 1800 benannt, in der die »deutsche Humanität« (45) zwischen Klassik und Romantik als übernationale Verbindlichkeit entworfen wird. Zitiert werden in diesem Zusammenhang Herder, Schiller, Novalis, Humboldt und Goethe, und die Notizen betonen ein »neues Pathos der Toleranz« (46), das die Menschheit als universalistischen Leitbegriff benennt  : »Postuliert ist nicht Europa sondern namens Europa die Menschheit« (46). Von diesen drei identitätsbegründenden weltgeschichtlichen Sternstunden wird dann allerdings scharf die weitere Entwicklung des Europabegriffs im 19. Jahrhundert abgegrenzt, denn nun setzt in dieser Master-Erzählung von Hofmannsthal eine absteigende Linie ein. Sie ist gekennzeichnet durch eine Verwestlichung und Politisierung des Europabegriffs, der sich in staatspolitische Zusammenhänge der Bündnisdiplomatie eines »europäischen Konzertes« (46) der Mächte oder des »europäischen Gleichgewichtes« (46) einordnen muss. Neben dieser Politisierung wird eine Veralltäglichung des Europa-Begriffs festgemacht, der nicht mehr als auratische Kraft und identitätsstiftendes Konzept den Zweck des Ganzen anzeige, sondern zum Mittel verkommen sei  : »›Europa‹ [wurde] nicht mehr als Integrale über den einzelnen Komponenten empfunden, sondern als System der Lagerung der Componenten untereinander.« (47) Eine »beginnende Unlust gegen dies Europa« (47) des 19. Jahrhunderts führen Borchardt und Hofmannsthal zurück auf den Eindruck, dass die »alte Missio eingeschrumpft [gewesen sei] zum Begriff einer vom Zentrum aus regelnden, etwas schulmeisterlichen obersten Weltinstanz« (47). Einer solchen Veräußerlichung des Europa-Begriffs werden noch einmal die großen alten Ideen entgegengehalten  :

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Die Religion Europas, die Humanität Europas waren unkäuflich gewesen, schwer zu geben, unendlich schwer zu nehmen, aber  : aus dem Ganzen der Seele fließend, das Ganze fordernd, das Ganze gestaltend. Gehalt des Begriffes im XIX. Jahrhundert nicht bereichert  : nur konsolidiert, indem es alle die alten Formen in einem allseitigen Kulturbegriffe zusammenfaßt. (47)

Es folgt dann eine umfassende Kritik der internationalisierten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die als Epoche der Beschleunigung und anhebenden Globalisierung geschildert wird. Die folgende Passage stammt nun aus den Abschnitten der Notizen zur Rede Die Idee Europa, die Hofmannsthal allein, ohne Rudolf Borchardt, verfasst hat. Hofmannsthal charakterisiert die unmittelbare Vorkriegszeit also folgendermaßen  : Die rasende Hast des Austausches, die praktische Abschaffung der Entfernungen […]  – Ozean­dampfer, die als Resultat der gesamten Weisheit und Wissenschaft unserer Tage einen Fetzen Stoff über das Meer fahren für den Salon einer Modedame, Berge von überflüssigen Nachrichten in die Welt setzen durch Wunder von Tausendundeiner Nacht. Dies nur als notwendiger Schritt der Weltauswirkung erträglich, aber unheimlich, wenn man den Herrn dieser Maschine sah. Das tausendfach internationale Ich, dieses europäische Wesen, für das die gesamte Maschine lief – es war nicht gewaltig. (48)

Ein solcher kulturkritischer Rundumschlag bezieht schließlich retrospektiv auch die ­eigene Sprachkritik der Jahrhundertwende als Symptom der Krise Europas mit ein, wenn Hofmannsthal stichwortartig notiert  : »Sprachkritik als Welle der Verzweiflung über die Welt laufend  : als jene Seelenverfassung, die sich ergeben hatte, weil nicht Wahrheit sondern Technik das Ergebnis des wissenschaftlichen Geistes war.« (49) Des Weiteren beklagt Hofmannsthal, dass diese internationalisierte europäische Welt der Vorkriegszeit die »drei Götzen Gesundheit, Sicherheit und langes Leben« (49) ohne Scheu angebetet und einen »Kultus der Sicherheit, des Behagens« zelebriert habe, der zu »Komfort ohne Schönheit« (49) geführt habe. Schuld an all diesem sei vor allem anderen die Macht des Geldes, die Hofmannsthal wortreich anprangert. Intratextuell mag es interessant sein, dass Hofmannsthal sich in dieser Zeit nicht nur mit Georg Simmels Philosophie des Geldes erneut auseinandersetzt, sondern auch ein politisches Drama projektiert (Timon der Redner), in dem die Geldkritik großen Raum einnimmt. Natürlich zehrt die Geldkritik in der Idee Europa auch von der Simmel-Rezeption im Jedermann

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(1911), dem Spiel vom Sterben des reichen Mannes.142 Die entsprechenden Passagen in der Idee Europa lesen sich wie ein nachträglicher Kommentar zum Jedermann  : Gefährlichste Einengung und Erniedrigung des Ich  : Abhängigkeit jedes vom Gelde. Der verlarvte Einfluß des Geldes. Das Zweifelhafte der Taten. Charakteristisch, daß in der deutschen Sprache »handeln« einerseits »tun« bedeutet, andererseits »Handel treiben«. Jedes Machtverhältnis in Geld umsetzbar. […] Hat das Geld fragt sich jener, der es ins Auge faßte, nicht die Kraft, sich an Stelle Gottes zu setzen  ? […] Das Geld mehr und mehr Ausdruck und Äquivalent aller Werte, über allen Objekten wird es zum Zentrum, worin die fremdesten fernsten Gedanken einander berühren. Es entsteht das Zutrauen in seine Allmacht, uns jedes beliebige Einzelne und Niedrigere in jedem Augenblick gewähren zu können. […] Wirklichkeit des Überpersönlichen war verloren – oder nur repräsentiert durch Geld-Chaos. (49 f.)

Während der Glaube an die Beherrschbarkeit des Geldes den Jedermann an den Abgrund seines Lebens führt, treibt das »Geld-Chaos« die Alteuropäer in Hofmannsthals Rede aus Europa hinaus. Denn in seinem rückblickenden kulturhistorischen Panorama der Vorkriegszeit schildert Hofmannsthal nicht nur generell eine geldkritische EuropaMüdigkeit, sondern er erläutert auch, wie solche Europa-Fluchten geistig nach Asien führen konnten.143 Diese positiv gedachte kulturkritische Volte nach Osten trennt Hofmannsthals Idee Europa deutlich von der Borchardts, bei dem Asien eher die »gelbe Gefahr« der Zersetzung denn ein heilsamer Zufluchtsort für Europa-Müde bedeutete. Hofmannsthal rekapituliert also  : Dumpfes Gefühl der Not. Hinstreben zu Asien als Zeichen der Zeit, anders als im achtzehnten Jahrhundert. Tolstois Grauen vor Europa, Romain Rollands Grauen vor dem Geldwesen. Tolstois Korrespondenz mit Chinesen  : dem Land des Gesetzes, gegenüber der Exuberanz der Freiheit. […] Grauen vor Europa, vor dem Individualismus, Mechanismus, Merkantilismus. Blick auf Asien  : Paradies – das noch vorhandene, beginnliche unzeitliche, »zeitlose«. (51)

Dieses Lob Asiens ist natürlich ein europäisch vermitteltes, denn als Gewährsmann für dieses idealisierte Gegenbild dient Hofmannsthal vor allem Lafcadio Hearn, der als amerikanischer Schriftsteller griechisch-irischer Abstammung das westliche Japanbild 142 Vgl. hierzu Ursula Renner  : Hofmannsthals »Jedermann«. »Die Allegorie des Dieners Mammon« zwischen Tradition und Moderne, in  : Welttheater, Mysterienspiel, rituelles Theater. »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle«. Hg. von Peter Csobádi. Anif 1992, S. 435–448. 143 Hierzu erhellend Thomas Pekar  : Hofmannsthals »Umweg über Asien«. Zur Konstellation von Europa und Asien im europäischen »Krisen-Diskurs« am Anfang des 20. Jahrhunderts, in  : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), S. 246–261.

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der Jahrhundertwende entscheidend geprägt und dessen ins Deutsche übersetzten Band Kokoro Hofmannsthal bereits 1905 mit einem Vorwort versehen hatte.144 Einige Monate nach seiner Europa-Rede vom März 1917 wird Hofmannsthal seinen positiven Blick gen Orient in einer anderen kulturkritischen Schrift bestätigt sehen  : Die Krisis der euro­ päischen Kultur von Rudolf Pannwitz,145 der gemeinsam mit Hofmannsthal auch auf China blickte und die Schriften von Ku Hung-Ming, der nicht nur Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen proklamierte, sondern auch 1916 reflektierte über den Geist des chinesischen Volkes und den Ausweg aus dem Krieg, Schriften, die im Eugen Diederichs Verlag in Jena in Übersetzung erschienen waren.146 Diese Wendungen nach Asien scheinen Hofmannsthal nicht als Irrwege, sondern als Möglichkeit, eine europäische Regeneration asiatisch geläutert zu wagen. Denn im Blick auf Asien wird für Hofmannsthal »das Stigma Europas« klar erkennbar, nämlich, »die Mittel, nicht das Ziel des Daseins zu suchen, über dem Werden das Sein, über der Scheinfreiheit das Gesetz verloren zu haben« (52). So steht am Ende von Hofmanns­ thals Europa-Rede auch der Versuch, gestärkt durch den Blick nach Asien, einen europäischen Neuanfang zu wagen, der freilich äußerst vage bleibt, wenn er peroriert  : Eine neue europäische Idee  : neue Wirklichkeit. Nicht eine Utopie, nicht eine Konföderation […], obwohl alles dies kommen kann, – sondern ein neues europäisches Ich, ein geändertes Verhältnis des Ich zum Dasein, zum Geld. […] Hier kann nun der ermüdete und überanstrengte Begriff Europas wieder auftauchen. In Einzelnen. […] Es werden vereinzelte Individuen sein, eine stille Gemeinde, die schon da war, in denen die letzte Phase des Begriffes Europa sich verteidigt und vertieft. Von hier allein Europa als die geistige Grundfarbe des Pla144 Lafcadio Hearn  : Kokoro. Mit einem Vorwort von Hugo von Hofmannsthal. Übersetzung Berta Franzos. Frankfurt a.  M. 1905. Vgl. hierzu Michaela Holdenried  : Das alte Japan und die europäische Moderne. Versuche über den Exotismus (Bernhard Kellermann, Hugo von Hofmannsthal), in  : »Schöpferische Restauration«. Traditionsverhalten in der Klassischen Moderne. Hg. von Barbara Beßlich und Dieter Martin. Würzburg 2014, S. 87–103. Thomas Pekar  : Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860–1920). Reiseberichte – Literatur – Kunst. München 2003. 145 Cristina Fossaluzza hat die Bedeutung von Pannwitz für Hofmannsthals Europa-Bild präzise analysiert  ; vgl. Fossaluzza  : Rudolf Pannwitz, in  : Hofmannsthal-Handbuch. Leben  – Werk  – Wirkung. Hg. von Mathias Mayer und Julian Werlitz. Stuttgart 2016, S.  65 f. Vgl. auch Dies.: Der Dichter und der Deuter. Poesie und Kulturkritik im Dialog zwischen Hofmannsthal und Pannwitz, in  : Kulturkritik zwischen Deutschland und Frankreich (1890–1933). Hg. von Olivier Agard und Barbara Beßlich. Frankfurt a. M. 2016, S. 291–305, sowie Martin Stern  : Hofmannsthals Pannwitz-Rezeption, in  : »Der Geist ist der König der Elemente«. Der Dichter und Philosoph Rudolf Pannwitz. Hg. von Gabriella Rovagnati. Overath 2006, S. 135–140. 146 Vgl. Ku Hung-Ming  : Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen. Jena 1911. Ders.: Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg. Jena 1916. Vgl. auch Gabriella Rovagnati  : Sehnsucht und Wirklichkeit. Die Mythisierung des Fernen Ostens bei Hugo von Hofmannsthal, in  : Zeitschrift für Germanistik 4 (1994), S. 309–317.

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neten empfunden, das Europäische als der absolute Maßstab aufgestellt, das jeweilig Nationale immer wieder an ihm gemessen und korrigiert. (52 f.)

Es geht also bei dieser Wiederbelebung des Europa-Begriffs von Hofmannsthal nie vorrangig um den politischen Zusammenschluss von Staaten, sondern um eine persönliche Haltung eines »neuen europäischen Ich«. Der Inhalt dieser Haltung bleibt allerdings verschwommen, aber er ist gegen ein als westlich gebrandmarktes Utilitaritätsdenken gerichtet, gegen den Liberalismus, die »Exuberanz der Freiheit«, die er vor 1914 vorherrschend sah. Dagegen sehnt er sich nach dem Gesetz einer erneuerten Ordnung. 1917 erscheint Hofmannsthal für eine solche europäische Neubesinnung der Österreicher prädestiniert, denn  : Wer sagt »Österreich«, der sagt ja  : tausendjähriges Ringen um Europa, tausendjährige Sendung durch Europa, tausendjähriger Glaube an Europa. Für uns, auf dem Boden zweier römischen Imperien hausend, Deutsche und Slawen und Lateiner, ein gemeinsames Geschick und Erbe zu tragen auserlesen, – für uns wahrhaft ist Europa die Grundfarbe des Planeten, für uns ist Europa die Farbe der Sterne, wenn aus entwölktem Himmel wieder Sterne über uns funkeln. (54)

Eine solche Zuversicht in eine Vorreiterrolle Österreichs für Europa war Hofmannsthal dann aber über die Kriegsniederlage vergangen. Hofmannsthal hatte wie Bahr die natio­nalen Selbstbestimmungsbestrebungen im Vielvölkerstaat völlig unterschätzt. Das wurde im Krieg besonders deutlich, als er versuchte, für sein Projekt der Ehrenstätten Österreichs Jaroslav Kvapil mit ins Boot zu holen und der ihm eine Abfuhr erteilte mit den Worten  : »Wir wollen uns nicht täuschen. Österreichs Erfolge waren sehr selten auch unser Glück, und unser Ruhm hat selten Österreich erfreut«.147 Als er 1922 wieder einen Blick auf den geistigen Zustand Europas wagte, suchte er nach europäischen Vorbildgestalten in der Gegenwart und fand sie nicht mehr in Österreich.148 Nachdem er die Mitlebenden Anatole France und George Bernard Shaw erwogen und für zu leicht 147 Zitiert nach  : Kurt Ifkovits  : Prag. Lernen und umlernen, in  : Hofmannsthal. Orte. 20 biographische Erkundungen. Hg. von Wilhelm Hemecker und Konrad Heumann in Zusammenarbeit mit Claudia Bamberg. Wien 2014, S. 336–353, hier S. 343. 148 Zum Europabild Hofmannsthals in den 1920er Jahren vgl. Elena Raponi  : Hofmannsthals Europaverständnis in der publizistischen Tätigkeit der zwanziger Jahre, in  : Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 »Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Hg. von Jean-Marie Valentin unter Mitarbeit von Jean-François Candoni, Bd. 12. Bern 2007, S. 43–48. Severin Perrig  : Hugo von Hofmannsthal und die Zwanziger Jahre. Eine Studie zur späten Orientierungskrise. Frankfurt a. M. 1992. Tillmann Heise  : »Schöpferische Restauration« und Habsburg »reloaded«. Hugo von Hofmannsthals Europaideen der 1920er Jahre, Rohans Kulturbund und die »Europäische Revue, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne

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befunden hatte, empfahl er seinen Zeitgenossen als Orientierung in Zeiten der Wirren die höchst verstorbenen Goethe und Dostojewski und es ist wohl kein Zufall, dass hier wieder der Blick (mit Dostojewski) gen Osten schweifte.149 Europa blieb in den 1920er Jahren bei Hofmannsthal ein zentraler Begriff. Sein Zeitschriftenprojekt der Neuen deutschen Beiträge stand ganz im Zeichen von Europa,150 und er ließ sich auch vom ultrakonservativen Karl Anton Rohan für dessen Zeitschrift Europäische Revue als Beiträger gewinnen.151 Hier ist man wohl bei einem weiteren Grund für die Anziehungskraft des Europa-Begriffs für Hofmannsthal in den 1920er Jahren. Denn die Fürsprecher eines konservativen, antidemokratischen, ständisch sortierten, oft dem alten Reichsgedanken verpflichteten und religiös, genauer katholisch überwölbten Europa waren in der Zwischenkriegszeit auffällig oft Adlige, die nach den revolutionären Unruhen am Kriegsende in den europäischen Ländern nach alten übernationalen Ordnungen und ihrer Reformierbarkeit fragten.152 Bis zum Adelsaufhebungsgesetz von 1919 in Österreich waren Coudenhove-Kalergi Graf und Karl Anton Rohan Prinz gewesen. Coudenhove-Kalergis adlige Herkunft reichte väterlicherseits bis in die Kreuzzüge, die Rohans führten ihre Familie gar auf die bretonischen Könige zurück. Hofmannsthals Adelssympathien, über die sich Karl Kraus und Hermann Broch so spitzzüngig ereiferten, haben hier mit Sicherheit eine Rolle gespielt. Rohan wiederum bemühte sich in dem von ihm gegründeten elitären »Europäischen Kulturbund« und in seiner Zeitschrift Europäische Revue um die Konzeption eines neuen Adels in bürgerlichen Zeiten. Die Europäische Revue sympathisierte mit dem italienischen Faschismus und lehnte das PaneuropaKonzept von Coudenhove-Kalergi als »konstruiert, traditionsfeindlich, unmetaphysisch und rationalistisch« ab.153 Rohan überholte gewissermaßen Coudenhove-Kalergi von rechts und arbeitete an einem dezidiert antimodernen Europa-Konzept.154 Dessen Ziel (1890–1938). Hg. von Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher. Heidelberg 2019, S. 87–104. 149 Vgl. Hugo von Hofmannsthal  : Blick auf den geistigen Zustand Europas (1922), in  : Ders.: Reden und Aufsätze II 1914–1924 (Anm. 134), S. 478–481. 150 Vgl. Corinne Wagner-Zoelly  : Die »neuen Deutschen Beiträge«. Hugo von Hofmannsthals Europa-Utopie. Heidelberg 2010. Jan Andres  : Deutsche Akademie nach französischem Muster, erdacht in Österreich, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne (Anm. 148), S. 161–177. 151 Vgl. Guido Müller  : Von Hugo von Hofmannsthals »Traum des Reiches« zum Europa unter nationalsozialistischer Herrschaft. Die »Europäische Revue« (1925–1936/1944), in  : Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien. Hg. von Hans-Christof Kraus. Berlin 2003, S. 155–186. 152 Vgl. Dina Gusejnova  : European Elites and Ideas of Empire (1917–1957). Cambridge 2018. 153 Müller  : Von Hugo von Hofmannsthals »Traum des Reiches« zum Europa unter nationalsozialistischer Herrschaft (Anm. 151), S. 159. Vgl. auch Ders.: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das deutsch-französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund. Oldenburg 2005. 154 Vgl. Nils Müller  : Karl Anton Rohan (1898–1975). Europa als antimoderne Utopie der konservativen Revolution, in  : Jahrbuch für europäische Geschichte 12 (2011), S. 181–206.

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war die Verbindung eines neuen Nationalismus mit dem europäischen Zusammenhalt, wenn er urteilte  : »Der Weg zu Europa geht über die Nation  ; Europa kann organisch nur als ein Kuppelbau entstehen, der auf den Säulen der nationalen Kräfte ruht«.155 Rohans Europäische Revue propagierte »Ideen, die süddeutsch oder großdeutsch geprägt, katholisch-universal ausgerichtet, ›abendländisch‹ orientiert und aus dem Traditionsbestand des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation stammten«, dagegen wurden »liberale und pazifistische, parlamentarisch-demokratische und von ›westlichen‹ Ideen bestimmte internationalistische Vorstellungen abgelehnt und bekämpft«.156 Diese rechte Zeitschrift findet, vermittelt über Josef Redlich, im späten Hofmannsthal einen Beiträger und Verteidiger. So konnte es dazu kommen, dass Hofmannsthal 1926 in Rohans Zeitschrift publizierte und Europa als den »umfassendsten und wichtigsten Begriff unserer Existenz« bezeichnete.157 Der kompensatorische Charakter dieses Werbens für Europa trat bei Hofmannsthal von Jahr zu Jahr mehr hervor. Die Kriegsniederlage, das Zusammenbrechen der alten monarchischen Ordnung und die Gebietsverluste im Rumpfstaat Österreich bedingten die Hinwendung zu seiner Vorstellung von Europa  ; Die österreichische Idee war von der Idee Europa abgelöst worden und sollte sie substituieren. Diese Europa-Vorstellungen des späten Hermann Bahr und des späten Hugo von Hofmannsthal sind also nicht liberal-demokratische EU-Vorläufer. Bahr wirbt für expansive deutschhegemoniale Konzepte. Seine Europa-Pläne entwickeln sich im Krieg aus Gedanken über den Zusammenhalt der Mittelmächte gegen den Westen. Hofmannsthal interessiert sich nicht für konkrete politische Ausgestaltungen einer möglichen Konföderation, sondern mehr für das, was er ein »neues europäisches Ich« nennt. Allerdings platziert er sein Ringen um dieses postliberale »neue europäische Ich« im Umfeld von Rohans österreichischem Kulturbund, der in der Zwischenkriegszeit zunehmend antidemokratisch, antiliberal und rechtskatholisch ausgerichtet war. Dieser elitäre adligbürgerliche Diskurs der Europäischen Revue, in den sich Hofmannsthal einschaltete, »war nicht demokratisierbar und fand zudem nur sehr begrenzt Partner in westeuro-

155 Karl Anton Prinz Rohan  : Die Utopie des Pazifismus, in  : Ders.: Umbruch der Zeit 1923–1930. Berlin 1930, S. 22 ff., hier S. 23. 156 Müller  : Von Hugo von Hofmannsthals »Traum des Reiches« zum Europa unter nationalsozialistischer Herrschaft (Anm. 151), S. 159. Vgl. auch Ina Ulrike Paul  : Konservative Milieus und die »Europäische Revue« (1925–1944), in  : Le milieu intellectuel conservateur en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890– 1960) / Das konservative Intellektuellenmilieu, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960). Hg. von Michel Grunewald und Uwe Puschner. Bern 2003, S. 509–555. 157 Hugo von Hofmannsthal  : Europäische Revue (1926), in  : Ders.: Reden und Aufsätze III 1925–1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889–1929. Hg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1980 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 78–83, hier S. 79.

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päischen und stärker von egalitären Entwicklungen geprägten Ländern«.158 Wenn wir heute emphatisch sprechen von einer »Idee von Europa als einer Wertegemeinschaft, die die übernationale Verwirklichung von Demokratie, Pluralismus, Föderalismus und Menschenrechten bedeutet«,159 so muss man sich vor Augen halten, dass dies Vorstellungen sind, die erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg verbindlich wurden.160 Es scheint mir daher wichtig, die Beiträge der Dichter zu Europa in eine internationale Ideengeschichte einzubinden, die diese sehr unterschiedlichen Konzepte einer europäischen Ordnung im frühen 20. Jahrhundert im Blick hat. Auch wenn das geistige Europa des späten Hofmannsthal also nur wenig zu tun hat mit den Europa-Vorstellungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften führten, so beeindruckt doch, welch starke Sorge um Europa aus den Verlusterfahrungen des frühen 20.  Jahrhunderts erwachsen konnte. An Carl Jacob Burckhardt schrieb Hofmannsthal  : »Meine Heimat habe ich behalten, aber Vaterland hab ich keins mehr, als Europa  ; ich muß dies fest erfassen, nur die Klarheit bewahrt vor langsamer Selbstzerstörung«.161 Als Hugo von Hofmannsthal 1926 in Wien in der Hofburgbibliothek den Kongress der Europäischen Kulturbünde eröffnete, bekannte er  : »Wer einmal die äußere Bedrohung hat wirksam werden sehen, der ist empfindlich für das Maß von Bedrohung, mit dem Europa als Ganzes umgeben ist, und niemand wird in seiner Sorge um Europa aufrichtiger sein als der, dem Europa ein verlorengegangenes Vaterland ersetzen muss«.162

4. Nach dem Ende  : Zäsur oder Kontinuität  ? Kriegsschluss, Republikerlebnis, Katzenjammer und Galgenhumor in Hermann Bahrs Novellette Heimkehr (1924)

1924 jährte sich der Kriegsbeginn zum zehnten Mal, und es jährte sich auch zum zehnten Mal das Erscheinen von Bahrs Kriegssegen, einem der pathetischsten und religiös 158 So Guido Müller  : Jenseits des Nationalismus  ? »Europa« als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen, in  : Adel und Bürgertum in Deutschland II. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert. Hg. von Heinz Reif. Berlin 2001, S. 235–269, hier S. 267. 159 Conze  : Das Europa der Deutschen (Anm. 89), S. 383. 160 Wie lange noch nach 1945 die deutschen Europavorstellungen zwischen alter Reichstradition und Westorientierung changierten, analysiert Conze  : Das Europa der Deutschen (Anm. 89). 161 Brief Hofmannsthals an Carl  J. Burckhardt vom 10.  September 1926, in  : Hugo von Hofmannsthal  – Carl  J. Burckhardt  : Briefwechsel. Hg. von Carl  J. Burckhardt. Frankfurt a.  M. 1956, S.  223–229, hier S. 225. 162 Hofmannsthal  : Ansprache bei der Kongresseröffnung der Kulturverbände in Wien (1926), in  : Ders.: Reden und Aufsätze III 1925–1929 (Anm. 157), S. 19–23, hier S. 21.

Nach dem Ende  : Zäsur oder Kontinuität  ? 

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überhöhtesten Texte des österreichischen Kulturkriegs, was Karl Kraus zum Vorschlag veranlasste, man sollte für die begeisterten Kriegspublizisten von ehedem, insonderheit für Bahr, »jetzt, da sie bereits wissen, daß wir noch nicht gesiegt haben, wenigstens die Einrichtung haben, daß sie gezwungen sind, an jedem Jahrestag des Kriegsbeginns sich von mir vorlesen zu lassen, was sie damals geschrieben«.163 Ob das etwas genutzt hätte  ? Knapp zehn Jahre nach Kriegsbeginn resümierte der von Kraus avisierte Bahr die Entwicklungen von Kriegsniederlage, Untergang der Monarchie und Republikbeginn in eigentümlich humoristischer Form in seiner Novellette Heimkehr. Bahr ließ diesen 1923 erstveröffentlichten Text 1924 noch einmal in Buchform abdrucken. Es handelt sich um eine Erzählung, die von einem aus der Kriegsgefangenschaft nach Wien zurückkehrenden österreichischen Oberst berichtet, der glaubt, Frau und Vaterland verloren zu haben und mit den politischen und privaten Veränderungen daheim zurechtkommen muss. Die Katastrophe wird in dieser knappen Erzählung seltsam verniedlicht und schrumpft zum »Apokalypserl« (Ehrenstein). Hofmannsthals bekannte Orientierung an Novalis’ Diktum (»Nach einem unglücklichen Krieg müssen Komödien geschrieben werden«) wandelt Bahr transgenerisch ab und entwirft die komödienhafte Novellette zur rezeptionsästhetischen Bewältigung von Kriegsniederlage und Untergang der Monarchie. Begrüßte Bahr den Krieg 1914 im genus grande und in seinem Kriegssegen mit liturgischen Formeln (»Das deutsche Wesen ist uns erschienen«164) als »deutschen Advent«, so evoziert das Kriegsende einen Wechsel der Stilhöhe  : Dem verlorenen Krieg, den massiven Gebietsverlusten und dem Staatsformwechsel begegnet Bahr mit leichter Hand im genus humile. Stefan Zweig hat 1924 Bahrs Heimkehr ediert und mit einem Nachwort versehen, in dem er diese Leichtigkeit nicht nur als Gegenreaktion auf die chaotische Gegenwart, sondern darüber hinaus als eine wichtige Facette im Alterswerk des Autors würdigt  : Er ist nun sechzig Jahre alt und seine Bücher füllen, nebeneinandergestellt, längst einen ganzen Schrank. […] Leichtigkeit ist für Bahr keine Anstrengung, sie ist ihm so natürlich wie der Atem und gänzlich wesenhaft, ebenso wie die glitzernden Einfälle, die blendenden Paradoxen und oft sehr bedeutenden Aphorismen nicht durch angestrengtes Nachdenken ersonnen, sondern aus innerem Reichtum verschwenderisch gegeben sind. […] Solche Leichtigkeit zeigt mehr als alles Schwierige dieses Mannes ungeheure Vitalität, die sich nun seit vierzig Jahren,

163 Karl Kraus  : Kriegssegen, in  : Die Fackel vom Dezember 1925, S. 29–42, hier S. 42. Zum Kriegssegen von Hermann Bahr vgl. das Kapitel in meiner Dissertation  : Barbara Beßlich  : Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000, S. 242–257. 164 Diese Formel durchzieht leitmotivisch den Text von Hermann Bahr  : Kriegssegen. München 1915.

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statt zu erschöpfen, beständig steigert und deren Puls bis in das letzte Äderchen seiner Kunst, bis in die kleinste Gelegentlichkeit seiner geistigen Laune mitpocht.165

Die im Erstdruck noch als »Skizze« gattungsästhetisch ausgewiesene Heimkehr setzt ohne auktoriale Exposition unmittelbar ein in der Nachkriegsgegenwart mit dem Zusammentreffen des zurückgekehrten österreichischen Oberst Dangl in Wien mit seinem kleinen Sohn, den er jahrelang nicht gesehen hat, weil er erst an der Front und danach in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen war.166 Seine Frau hatte sich mittlerweile von ihm scheiden lassen, während er eine einigermaßen unwahrscheinlich-abenteuerliche Flucht aus der Kriegsgefangenschaft über China und die USA zurück nach Wien begann. Sein Sohn ist ihm entfremdet, er hatte nur eine vage Erinnerung an das Baby, »an etwas mit fleischigen Beinen Strampelndes«, und wundert sich nun über ein wohlerzogenes Kind, das ihm als »kleiner van Dyck-Prinz« eher fremd und distanziert erscheint und der erst warmes Interesse an seinem Vater äußert, als er von dessen USA-Aufenthalt erfährt und begeistert ausruft  : »›Aber Papa, dann hast du ja Dollars  ?‹«167 Dieser ökonomische Aufjuchzer des kleinen Dangl eröffnet als direkte Rede die Novellette medias in res. Dangl Senior wird als ein unerschrockener österreichischer Held entworfen, den weder die Realität des Kriegsalltags noch das Elend der Gefangenschaft zermürben konnten. In einer epischen Rückwendung schildert der Erzähler knapp Dangls Kriegsjahre, die ihm nichts anzuhaben vermochten, denn Dangl verfügte solange über gute Nerven, bis sein Vaterland verschwand. Er hatte bei der Nachricht, Österreich sei weg, zunächst auflachen müssen über diesen dummen Spaß, den man sich mit ihm machen wollte. Kann der Abendstern abgeschafft werden  ? Sein Vaterland war auf einmal eines Tages nicht mehr vorhanden  ! Wenn es türkisch geworden wäre oder eine englische Kolonie, ja wessen Willen immer untertan, aber doch noch da, nicht einfach aus der Welt gelöscht, das alte Reich, an Siegen und an Ehren Reich  ! Er hatte wochenlang geweint. (67)

Der Wechsel von der Monarchie zur Republik wird nicht als Änderung der Staatsform beschrieben, sondern als Abschaffung eines Landes. Obwohl im Vertrag von SaintGermain 1919 der Staatsname »Republik Österreich« festgelegt wurde und die 1920 beschlossene Verfassung die parlamentarische Ordnung installierte, empfindet der Protagonist von Bahrs Erzählung dies nicht als staatspolitische Transformation, sondern als 165 Stefan Zweig  : Nachwort, in  : Hermann Bahr  : Die schöne Frau. Mit einem Nachwort von Stefan Zweig. Leipzig 1924, S. 74 ff., hier S. 74 f. 166 Vgl. Hermann Bahr  : Heimkehr. Skizze, in  : B.Z. am Mittag vom 23. April 1923, 1. Beiblatt, S. 5. 167 Hermann Bahr  : Heimkehr, in  : Ders.: Die schöne Frau (Anm. 165), S. 65–73, hier S. 65. Die Erzählung wird im Folgenden im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

Nach dem Ende  : Zäsur oder Kontinuität  ? 

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Eliminierung des eigenen Landes. Nicht bloß die Habsburger und mit ihnen die Monar­ chie waren abgeschafft, sondern »sein Vaterland verschwand«, für ihn war »Öster­reich […] weg«. Damit steigert Bahr François Clemenceaus lakonischen Kommentar, der bei den Friedensverträgen 1919 überschaute, was denn übrigblieb, nachdem die Alliierten im Namen der nationalen Selbstbestimmung das Habsburgerreich in einzelne Staaten aufgeteilt hatten  : »L’Autriche, c’est qui reste.«168 Für Bahrs Dangl gilt nicht mal mehr Clemenceaus Torso-Parole »Der Rest ist Österreich«, sondern Österreich ist schlicht nicht mehr vorhanden. Joseph Roth variiert 1932 diese Formulierung im Radetzkymarsch, wenn dort Graf Chojnicki dem verblüfften Bezirkshauptmann von Trotta erläutert, dass es überflüssig ist, dem Vaterland dienen zu wollen, »weil das Vaterland nicht mehr da ist«.169 Einigermaßen verschwommen bleibt bei den Formulierungen von Bahrs Dangl, ob die Gebietsverluste oder der Wechsel der Staatsform vorrangig für die Vorstellung vom Verschwinden eines Landes sind. Die monarchische Verfassung erschien Dangl jedenfalls als naturgegeben und er identifizierte sie mit Österreich selbst. Dementsprechend verdattert und konsterniert scheint Dangl die Beendigung der Monarchie logisch genauso paradox, als wolle man die Naturgesetze außer Kraft setzen und den Abendstern abschaffen. Bemerkenswert erscheint in dem Zitat auch, dass Dangl der phantasierten Kolonialisierung Österreichs und seiner ersponnenen Übernahme durch das englische oder osmanische Imperium den Vorzug gegeben hätte vor der republikanischen Realität des Rumpfstaates. Diese staatspolitische Entwicklung initiiert für Dangl die privaten ­Veränderungen, die als folgerichtig nach dem Ende der Monarchie wahrgenommen werden. Als Dangl nach der Gründung der Republik Österreich erfuhr, dass seine Frau ihn verlassen hatte, »kam ihm das ganz natürlich vor  : es gab kein Österreich mehr, da war dann natürlich auch alles andere weg, Ehe, Liebe, Treue, denn wie konnte das bestehen, wenn das Vaterland, an dem doch alles hing, nicht mehr bestand  ?« (67) Der Wechsel von Staats- und bürgerlicher Lebensform werden parallelisiert und darüber hinaus als Signum einer Beschleunigung der Moderne wahrgenommen, die den Oberst verunsichert  : »Das Leben ist schneller geworden, die Frauen warteten jetzt nicht mehr, bis der erste stirbt, jede neue Zeit hat eben ihr eigenes Tempo« (66). Während Vater Dangl diese Beschleunigung erschüttert, beobachtet er, dass der nächsten Generation dies bereits als normal erscheint.170 Der Oberst kennzeichnet seine eigene Vätergeneration als »sentimen168 Vgl. zu diesem ganzen Komplex  : Helmut Konrad, Wolfgang Maderthaner (Hg)  : Das Werden der Ersten Republik. … der Rest ist Österreich. Zwei Bde. Wien 2008. 169 Joseph Roth  : Radetzkymarsch, in  : Ders.: Romane und Erzählungen 1930–1936. Hg. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln 1990 (Werke, Bd. 5), S. 137–455, hier S. 289. 170 Der Sohn »sprach schließlich unbefangen auch über die Scheidung der Eltern. Seine Schulkollegen

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tal« (66) und charakterisiert die Generation seines eigenen Sohnes wiederum als zur Sachlichkeit und »Klarheit« (66) tendierend. Diese Generationsanalyse schmiegt sich durchaus an zeitgenössische Epochendiagnosen einer neuen Sachlichkeit an, die »Verhaltenslehren der Kälte« in der Zwischenkriegszeit als der jungen Generation angemessen propa­g ierte.171 Für Oberst Dangl ist nichts mehr so, wie es war, gleichwohl muss er nach Wien zurückgekehrt erstaunt feststellen, dass seine Landsleute so weiterleben wie bisher und sich scheinbar gar nicht um die weltpolitischen Veränderungen scheren. Angesichts seiner Wahrnehmung von einem »Loch, in das das Vaterland gesunken war«, erscheint es Dangl, als lebten die Leute »vergnügt in der Luft weiter, ganz so, wie sie früher auf Erden gelebt hatten« (67). Die sorglose Ignorierung der Gebietsverluste und republikanischen Neuerungen macht die Wiener für Dangl erst einmal gleichsam zu extraterrestrischen »Luftmenschen«.172 Zugleich muss Dangl aber auch realisieren, dass sowohl pragmatische Anpassung als auch gleichmütige Nichtbeachtung der offiziellen Veränderungen alltagstaugliche Umgangsformen mit der neuen Ordnung sind. Am Beispiel seines Schwagers lernt Dangl mit den Veränderungen umzugehen und das zuvor konstatierte Ende erst einmal für sich in eine Zäsur abzuschwächen und dann immer mehr den Zeitenwechsel überhaupt zu relativieren. Dangl findet seinen Schwager, einen namenlos bleibenden Hofrat, zu seinem Erstaunen charakterlich »unverändert. Er war der richtige österreichische Hofrat geblieben und nur dazu noch Abonnent der Arbeiterzeitung geworden« (67 f.). Die Veränderung wird hier nicht mehr als ein Verlust imaginiert, sondern als »Zutat« zum Bestehenden entworfen. Der pragmatische Schwager erläutert Dangl, wie es zu der neuen Lektüre und der plötzlichen politischen Sympathie für die Sozialdemokraten kam, die Schlimmeres verhindert hätten  : »›Denn eines kann ich dir nur sagen  : wenn wir die Sozialdemokraten nicht gehabt hätten, hätten wir am End’ eine wirkliche Revolution gehabt  !‹« (68)173 hätten auch fast alle schon den zweiten Papa. […] Der Oberst bewunderte die Klarheit des Buben. Er dachte  : wenn ich meinen Sohn zum Vater gehabt hätte, wäre mir manches erspart geblieben, aber diese leichtlebigen Wiener vom alten Schlag waren halt alle so sentimental  !« (66). 171 Vgl. Helmut Lethen  : Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994. Als generationsspezifisches Phänomen in den 1920er Jahren beschreibt Ulrich Herbert das Pathos der Kälte, Objektivität und Sachlichkeit. Vgl. Ulrich Herbert  : »Generation der Sachlichkeit«. Die völkische Studentenbewegung der frühen zwanziger Jahre in Deutschland, in  : Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken. Hg. von Frank Bajohr, Werner Lohe und Uwe Lohalm. Hamburg 1991, S. 115–144. 172 Zu Entstehung und Bedeutungswandel der Denkfigur des »Luftmenschen« vgl. Nicolas Berg  : Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen 2008. 173 Zur Rolle der Sozialdemokraten in der Österreichischen Republik vgl. etwa Helmut Weihsmann  : Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik. Wien 22002.

Nach dem Ende  : Zäsur oder Kontinuität  ? 

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Den für Dangl essentiellen Umschlag schwächt sein Schwager zu einer nominellen Variante ab. Eigentlich habe sich gar nichts Wesentliches geändert, so der Hofrat, nur die Bezeichnung für die Sachverhalte, die gleichgeblieben seien, habe gewechselt. Die Ordnung der Dinge bleibe unberührt von den politischen Zeitläuften. Und so räsoniert der Hofrat  : »Jede Zeit hat ihre Launen. Das Vergnügen der unseren sind Namensänderungen. Gassen werden umgetauft, also warum nicht Staaten auch  ? Es bleiben doch dieselben Gassen  ! Keiner heißt mehr Graf, aber deswegen bleibt er doch ein Graf  ! Revolution ist, wenn geköpft wird. Denn, nicht wahr  ? Wenn du keinen Kopf mehr hast, das ist ein Argument  ! Aber wenn man dir bloß sagt, daß dein Kopf nichts mehr zu bedeuten hat, das braucht dich doch nicht zu genieren  !« (68)

Das österreichische Adelsaufhebungsgesetz von 1919 wird so sozial für nichtig erklärt, denn die rechtliche Aufhebung von adeligen Standesbezeichnungen (wie Ritter, Freiherr, Graf oder Fürst) vermag für den Hofrat keine faktische Änderung im Alltag herbeizuführen. Wechseln auch die Namen, die soziale Realität bleibt gleich, es bleibt der Graf »doch ein Graf«, auch wenn er nicht mehr so heißt. Der Wechsel des Herrschaftssystems berührt für den Hofrat nicht die bestehende Sozialordnung. Eine handfeste Zäsur hätte für den Hofrat erst stattgefunden, wenn der Adel physisch eliminiert worden wäre. Solange aber nicht Gewalt angewendet wird, liegt für den Hofrat keine »wirkliche Revolution« (68) vor.174 Beruhigend versichert der Hofrat seinem Schwager, »daß unter den neuen Namen noch alles beim alten ist« (69). Eindrücklichster Beleg für diese Meinung ist in Bahrs Erzählung die Figur des Hofrats selbst, die namenlos bleibt und nur über ihren anachronistischen Titel dem Leser greifbar ist. Der nichtakademische Titel Hofrat überlebte das Ende des Kaiserreichs und damit das Ende des kaiserlichen Hofes, nach dem er doch benannt war. Dem Oberst wird angesichts des eristischen Jonglierens seines Schwagers ganz blümerant. Dangl weiß nicht, ob die Haltung seines Schwagers »eigentlich Verrat oder höchste Treue war« (69). Die Konfusion der Begriffe und das vexatorische Changieren der weltanschaulichen Konzepte sind in dieser Novellette ähnlich virulent wie auf dem im selben Jahr wie Heimkehr erscheinenden Zauberberg. Dangl fühlt sich zuerst um »seinen schönen Schmerz betrogen« (69). Er war nach Wien zurückgekommen mit dem festen Willen, den Verlust Österreichs zu betrauern. Und er sieht sich nun 174 Zu den revolutionären Unruhen in Wien 1918 vgl. Norbert Christian Wolf  : Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19. Wien 2018. Wolfgang Maderthaner  : Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in  : Wien. Geschichte einer Stadt. Hg. von Peter Csendes und Ferdinand Opll. Bd. 3  : Von 1790 bis zur Gegenwart. Wien, Köln, Weimar 2006, S. 175–544, hier S. 337–345.

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umgeben von fröhlichen Wienern, die ihn aus dem weltanschaulichen Rhythmus bringen. Der Stimmungswechsel wird musikalisch als eine irritierende Modulation von Moll nach Dur und von der Militär- zur Tanzmusik gefasst  : »Er war auf einen Trauermarsch gefaßt gewesen und konnte sich in den Walzerschritt« (69) der daheimgebliebenen Wiener nicht gleich finden. Gleichwohl erfasst Dangl peu à peu die Feierlaune der ihn umgebenden Wiener als kulturelle Überlebensstrategie und erfolgreiche Assimilationsverführung. Die Metropole des erheblich geschrumpften Landes entwickelt für ihn eine narkotische Strahlkraft, die ihr Fortdauern sichert. Wien wird anthropomorphisiert als »verwirrende Schönheit«, deren »lächelnde Hingebung« eine Kraft bedeute, nämlich »die Kraft, alles aufzusaugen und sich neues Blut daraus zu bereiten« (69). Diese Bebilderung vermischt zusehends geschlechtliche Zuschreibungen mit ethnologischen und völker­ psychologischen Überlegungen und schließlich erscheint Wien biologisiert als ein Organismus, der die Feinde von ehedem sich wie eine Gottesanbeterin einverleibt. Im Rückblick auf die Türkenkriege des 17. Jahrhunderts und der Zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683 reflektiert der Erzähler aus der Perspektive seines Protagonisten intern fokalisiert, was passiert wäre, wenn Johann III. Sobieski nicht bei der Schlacht am Kahlenberg am 12. September 1683 den entscheidenden Angriff gegen die Türken siegreich geführt hätte  : Wenn damals, bei der Belagerung, nicht im letzten Moment, der Sobieski zurechtgekommen und Wien also türkisch geworden wäre, die Türken wären von ihm [i. e. dem Organismus Wien] gerade so verdaut worden, wie Spanier, Italiener, Slawen und Deutsche zu Wienern verdaut worden sind  : seinem guten Magen kann nichts widerstehen  ! (69 f.)

Dangl beginnt nun, seine Situation umzuinterpretieren. Erschienen ihm zuvor die politische Gleichgültigkeit und das weltanschauliche Phlegma seiner Mitbürger als unverantwortliche Leichtlebigkeit und mangelnder Patriotismus, so wird die vormals diagnostizierte Schwäche zu einer hybriden Stärke umdefiniert. Als der Oberst beim gewohnten Ringstraßenkorso ungewohnt fremde Sprachen zu hören bekommt, wird dies zum Anlass, Vielvölkerstaatsreminiszenzen zu formulieren und daraus eine EuropaVision zu entwickeln  : Wien ging noch immer von der Sirkecke zur Gartenbaugesellschaft auf und ab spazieren. Der Oberst spazierte jetzt wieder mit. Das war ihm schon ein großer Trost, daß es dies noch gab. Aber freilich  : es klang jetzt anders  ; fremde Sprachen klangen drein. Er erinnerte sich dunkel, derlei schon einmal gehört zu haben. Wo denn nur  ? In der österreichischen Geschichte mußte es schon einmal ähnlich zugegangen sein wie jetzt hier auf der Ringstraße. Wann denn nur  ? Ja

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richtig  ! Nun fiel es ihm ein  : Wallensteins Lager mag genau dasselbe Sprachdurcheinander gewesen sein  ! Und ganz ebenso Radetzkys Armee doch auch noch  ! Vielleicht ist Österreich in seinen besten Zeiten immer ein solches Durcheinander gewesen, Sprachdurcheinander, Blutsdurcheinander, Völkerdurcheinander, das vergnügt spazieren geht  ! Vielleicht ist Österreich dazu da, Europas Ringstraße zu sein. Und ob diese Ringstraße nun ein bissel länger oder kürzer ist, darauf kommt’s doch nicht an, wenn wir nur wieder der Korso Europas sind  ! (70 f.)

Die erlebte Rede in der dritten Person Singular wandelt sich in diesem Zitat zum Schluss in ein einvernehmliches Sprechen in der ersten Person Plural, bei dem nicht mehr eindeutig entscheidbar ist, ob hier in einer (unmarkierten) direkten Rede ein Gedankenzitat der Figur Dangl wiedergegeben wird, oder ob hier nicht auch im Pluralis Auctoris der Erzähler selbst seine Meinung äußert. Diese Interferenz von Gedankenzitat und Erzählerbericht privilegiert und bekräftigt die Aussage, dass es nur darauf ankomme, dass die Österreicher, dass »wir nur wieder der Korso Europas sind  !« Diese Metapher nutzt die Mehrdeutigkeit des Korso-Begriffs. Wien soll mitnichten nur der Prachtboulevard oder ein festlicher Umzug Europas sein. Bahr rekurriert hier auf den vor dem Ersten Weltkrieg üblichen Begriff des Ringstraßenkorsos, der die Promenade der »besseren« Wiener Gesellschaft an Sonntagvormittagen bezeichnete zwischen der Sirkecke an der Kärntner Straße und dem Schwarzenbergplatz. Österreich als »Korso Europas« zu verbildlichen, formuliert somit nicht nur die Idee von Wien als zentralem Ort (»Europas Ringstraße«), sondern zugleich auch den Wunsch, dass dieser Ort ein hervorgehobenes Forum der Zusammenkunft und des Austauschs sein möge. Bahrs Heimkehr-Novellette hat auf launige Weise Anteil an dem österreichischen Europa-Diskurs der Zwischenkriegszeit, in dem die Enttäuschung über den Misserfolg der Nationalstaatskonzepte in große und oft auch nostalgische Träume von alteuropäischen Abendlandmodellen transformiert wurde. Europa wurde zur Losung und versprach jenseits des Nationalstaats die Größe kulturell zu regenerieren, die 1918 geopolitisch verloren gegangen war.175 Diese Hoffnung macht den Oberst Dangl regelrecht »seelenvergnügt, er konnte jetzt erst wieder guten Gewissens auf und ab spazieren« (67) bei seinem Ringstraßenkorso. Zur politischen Zuversicht gesellt sich dann recht schnell auch wieder die private, denn Dangls Ex-Frau trifft ihn eines Tages beim Ringstraßenkorso und versichert ihm, dass sie nicht nur in ihrer zweiten Ehe unzufrieden sei, sondern dass der Oberst höchst selbst es sei, »der ihr in den Armen seines Nachfolgers vorschwebe« und dass sie »zuweilen Stunden« habe, »wo sie zu allem fähig wäre, sogar ihn zum zweitenmal zu hei175 Thomas Angerer  : De l’Autriche germanique à l’Autriche européenne  ? Identités nationales et internationales de l’Autriche depuis 1918, in  : Le rôle et la place des petits pays en Europe au XXe siècle. Hg. von Gilbert Trausch. Brüssel 2005, S. 407–464.

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raten« (72). Der Oberst ist beglückt von der Möglichkeit, den privaten Zustand ante quem 1914 wiederherzustellen, und er ist regelrecht bezaubert vom Weg dorthin  ; die Vorstellung von der »Zeit, bis es dann so weit sein würde, die Zeit des Ehebruchs mit seiner Frau« (73) bereitet ihm eine spitzbübische Freude. So stellt sich am Ende dieser kleinen Novellette auf wundersame Weise die verloren geglaubte Ausgangssituation der schmerzlich vermissten Welt von Gestern wieder her. Privat zeichnet sich die Wiederverheiratung des Obersts mit seiner Ex-Frau ab, und politisch lernt der Oberst die realen Veränderungen nicht so ernst zu nehmen, zu übersehen oder umzuinterpretieren. Steht am Anfang der Novellette die Konstatierung eines ungeheuren Verlusts und einer radikalen Zäsur, so schließt der Text mit einer versöhnlichen Kontinuitätsbehauptung, die sich dem genius loci verdankt  : Diese Stadt, dachte der Oberst, ist schon sehr merkwürdig  : hier stellt sich alles immer wieder von selber her, aber auf unerwartete Weise. Sie wirkt immer überraschend, weil sie, was auch in ihr und mit ihr geschehen mag, immer dieselbe bleibt, immer das unsterbliche Wien  ! Man mag mit ihr noch so viel Experimente machen, es kommt dabei nix heraus, das heißt, es kommt immer wieder dasselbe heraus  : das lächelnde, weltüberwindende Wien  ! (73)

So bleibt am Ende von Bahrs Kriegsheimkehrer-Erzählung implizit die Operettenweisheit der Fledermaus als sozialquietistische Haltungsempfehlung für die republikanische Zukunft  : »Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist«.

IV. Wiederkehr der alten Götter

1. Religiöses Suchen in säkularisierten Zeiten Hermann Bahrs Erlösungshoffnung zwischen Wissenschaft, Kunst und Katholizismus

In seiner Rede Wissenschaft als Beruf ärgert sich Max Weber 1917 über religiös gestimmte Zeitgenossen, die geschmäcklerisch in einer gottlosen Mystik der Moderne schwelgen und sich eklektisch eine private Pseudoreligion basteln. Religion, sagt Weber, entsteht nicht dadurch, daß manche moderne Intellektuelle das Bedürfnis haben, sich in ihrer Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumöblieren, und sich dabei dann noch daran erinnern, daß dazu auch die Religion gehört hat, die sie nun einmal nicht haben, für die sie aber eine Art von spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierter Hauskapelle als Ersatz sich aufputzen oder ein Surrogat schaffen in allerhand Arten des Erlebens, denen sie die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes zuschreiben und mit dem sie – auf dem Büchermarkt hausieren gehen. Das ist einfach  : Schwindel oder Selbstbetrug.1

Den orientierungslosen Zeitgenossen empfiehlt Weber statt der frei vagierenden religiösen Suchbewegungen eine Rückkehr zu traditionellen Glaubensformen  : »Wer das Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muß man sagen  : Er kehre lieber, schweigend, ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen zurück«.2 Die konfessionelle Reversion, die Weber als Lösungsvorschlag für intellektuelle Erlösungshoffnungen unterbreitet, hatten manche Zeitgenossen in ihrem persönlichen Lebensweg zum Zeitpunkt von Webers Rede bereits hinter sich gebracht. Viele Schriftsteller des Jungen Wien fanden im Alter zurück zu ihren religiösen, konfessionell gebundenen Wurzeln. Und viele nahmen dabei auch einen Umweg über die frei vagierenden religiösen Suchbewegungen des frühen 20.  Jahrhunderts, deren mangelnde Authentizität Max Weber so geißelte. So auch Hermann Bahr, der öster1 Max Weber  : Wissenschaft als Beruf, in  : Ders.: Wissenschaft als Beruf 1917/1919, Politik als Beruf 1919. Hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod. Tübingen 1992 (Gesamtausgabe, Bd. I, 17), S. 71–111, hier S. 108 f. 2 Ebd., S. 110.

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reichische Schriftsteller, der von Maximilian Harden als Mann von übermorgen um die Jahrhundertwende gefeiert worden war und sich selbst in seiner Autobiographie mit 60 Jahren als alt gewordenen »Mann von vorgestern« ironisierte.3 Bahr hatte nach einer gefährlichen Blinddarmoperation 1903 zwischen 1909 und 1913, spätestens mit 50 Jahren zum Katholizismus (zurück-)gefunden, allerdings nicht »schweigend«, »schlicht und einfach«, sondern mit allerlei literarischen Begleiterscheinungen. Im Folgenden soll Bahrs Weg von seinen wissenschaftsenthusiastischen Anfängen als Student der Natio­ nalökonomie über seine Wissenschaftsskepsis hin zu seinem katholischen Bekenntnis nachgezeichnet werden mit dem Augenmerk auf den literarischen Zeugnissen, in denen Bahr diese Entwicklung rückblickend reflektiert und damit »auf dem Büchermarkt hausieren« (Max Weber) geht. Damit soll Bahr einerseits als ein Beispiel für die von Weber kritisch beobachtete religiöse Gefühligkeit im frühen 20. Jahrhundert sichtbar gemacht werden. Andererseits soll auch deutlich werden, dass Bahr als Student und Doktorand der Nationalökonomie in den 1880er Jahren in Berlin in ähnlichen Diskussions- und Problemzusammenhängen wie Weber wurzelt, aber für sich eine grundsätzlich andere Option wählt. Der Österreicher Bahr hat immer wieder auf seine reichsdeutschen natio­ nalökonomischen Lehrjahre zurückgegriffen. Sie sind Grundlage für sein publizistisches Engagement im Ersten Weltkrieg, seinen katholisch-österreichischen Entwurf der »Ideen von 1914«, die er gegen die reichsdeutsche Variante des Münsteraner Professors für Nationalökonomie Johann Plenge verteidigte.4 Bahr selbst hatte den Eindruck, »daß diese drei Berliner Jahre, von 1884–1887, alles was ich bin, aus mir hervorgeholt haben« und ihm signalisierten, »was mir vom Schicksal zugewiesen ist  : von meinem Platz aus, soviel ich kann, mitzuhelfen an der Form der neuen Menschheit«.5 Die folgende Darstellung knüpft an Forschungen zur Intellektuellengeschichte an und versucht, sie für eine kulturhistorisch orientierte Literaturgeschichte fruchtbar zu machen  : Während Gangolf Hübinger sich vor allem den kulturprotestantisch geprägten reichsdeutschen »Gelehrten-Intellektuellen« zuwendet und methodisch Intellektuellengeschichte und Wissenschaftsgeschichte aufeinander bezieht,6 soll hier ein österreichischer katholischer Schriftsteller-Intellektueller im Mittelpunkt stehen, der in der deutschen Wissenschaft hospitiert, um sich dann der Literatur und der Religion zuzu3 Hermann Bahr  : Selbstbildnis. Berlin 1923, S. 2. 4 Hermann Bahr  : Die Ideen von 1914, in  : Hochland 14, 1 (1916/17), S. 431–448. Die briefliche Auseinan­ dersetzung über die kulturkriegerischen Ideen von 1914 zwischen Johann Plenge und Hermann Bahr ist dokumentiert in Johann Plenge  : Zur Vertiefung des Sozialismus. Leipzig 1919, S.  38–89. Vgl. auch Barbara Beßlich  : Hermann Bahrs »Ideen von 1914«, in  : Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne. Hg. von Petra Ernst, Sabine A. Haring und Werner Suppanz. Wien 2004, S. 57–75. 5 Das Hermann-Bahr-Buch. Zum 19. Juli 1913. Hg. vom S. Fischer Verlag. Berlin 1913, S. 16 f. 6 Gangolf Hübinger  : Intellektuellengeschichte und Wissenschaftsgeschichte, in  : Ders.: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte. Göttingen 2006, S. 9–28.

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wenden. Damit wird versucht, methodisch den Zusammenschluss von Intellektuellenund Wissenschaftsgeschichte um die literaturhistorische Perspektive zu ergänzen und darüber hinaus auf einige Forschungsdesiderate aufmerksam zu machen  : Zum einen gehört Hermann Bahr zu den vielen Dichtern der klassischen Moderne, die auch einmal Nationalökonomie studiert haben. Es ist bisher nicht hinreichend untersucht worden, inwiefern dieses Studium auch für das literarische Werk der Autoren prägend war. Zum anderen täte es einer wissenshistorisch ausgerichteten Germanistik wohl, Gestalten wie Hermann Bahr, die nicht nur fiktional, sondern vor allem auch essayistisch und weltanschauungsliterarisch die kulturellen und politischen Belange ihrer Zeit kommentieren, als Intellektuelle kulturhistorisch zu untersuchen.7 Hermann Bahr kam 1884 mit 21 Jahren nach Berlin und hatte bereits zuvor an der Universität Wien, neben seinem eigentlichen Studium der Philologie und Philosophie, die Nationalökonomie, in Wien vertreten durch Lorenz von Stein, als neue Wissenschaft kennengelernt. Nach Berlin zog es den Bismarck-Schwärmer eigens wegen der Nationalökonomie und deren politischen Einflussmöglichkeiten, hatte Bahr doch davon gehört, dass Adolph Wagner als »Berater [von Bismarcks Sozialreform], ja gar ihr Inspirant galt«.8 Bahr bekannte sich als »leidenschaftlicher Adolf [sic] Wagnerianer«, und dazu gehörte auch »von vorneherein ein Mißtrauen gegen Schmoller«, dessen Seminar »ich unerträglich langweilig« fand.9 An die Nationalökonomie stellte Bahr Erwartungen, die weit über das hinausgingen, was man von einem regulären Universitätsstudium üblicherweise gewärtigte. Bahr erhob die noch junge Wissenschaft zur neuen Leitdisziplin, die nicht nur die Philosophie als Königin der Wissenschaften ablöste, sondern sich auch im Kampf mit den erfolgreichen Naturwissenschaften zu behaupten wusste  : Ich war nach Berlin gegangen, um Nationalökonomie zu studieren, eine Wissenschaft, von der ich zwei Jahre früher noch kaum den Namen kannte  ; sie war eben erst Mode geworden. Alle Fragen, die wir jungen Leute vergebens an die ratlose Philosophie wiederkäuender Epigonen (die Schriften Nietzsches wußte der Klüngel ja damals noch sorgfältig zu sekretieren)[,] an die in ihrem ewigen tristen Ignorabimus erstarrende Naturwissenschaft stellten, schien diese 7 Zu einer solchen kulturhistorisch erweiterten Betrachtung Bahrs (wenn auch unter Aussparung einer spezifisch intellektuellengeschichtlichen Perspektive) riet erstmals explizit Gotthart Wunberg  : Hermann Bahr – ein Fall für die Kulturwissenschaften, in  : Hermann Bahr – Mittler der europäischen Moderne (Hermann-Bahr-Symposium 1998). Hg. von Johann Lachinger. Linz 2001, S. 197–203. 8 Bahr  : Selbstbildnis (Anm.  3), S.  173. Zu Bahrs Studium der Nationalökonomie vgl. Barbara Beßlich  : Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914. Darmstadt 2000, S. 196–207. Gottfried Schnödl  : Vom ›Zusammenhang im All‹ – Hermann Bahr als Student der Nationalökonomie, in  : Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden. Hg. von Martin Anton Müller, Claus Pias und Gottfried Schnödl. Bern 2014, S. 15–37. 9 Bahr  : Selbstbildnis (Anm. 3), S. 204.

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neue Wissenschaft noch am ehesten Antwort zu verheißen  ; und sie gab sich für eine Lehre vom Leben der Nation aus, wie mußte das die Jugend eines Volkes locken, das eben versuchte, zur Nation zu werden  !10

Die Nationalökonomie als Orientierungsweiserin und Sinnstifterin wird von Bahr aber nicht nur nationalpolitisch interpretiert, sondern darüber hinaus religiös gefärbt und mit regelrechten Heilsqualitäten versehen. Die Erlösungshoffnung, die auf die Nationalökonomie appliziert wurde, formuliert Bahr utopisch überformt so  : Die Nationalökonomie war uns fast, was den Neugierigen heute der Okkultismus ist  : Einsicht in die geheimsten, Völkerschicksal bestimmenden Kräfte versprachen wir uns ja von ihr, auch wir wollten zaubern lernen, eine glücklichere würdigere Zukunft der Menschheit herbeizaubern. Ihr galt ja nicht bloß Erkenntnis, sie verlangte nach Tat, sie half die Zukunft meistern, die Gestalt einer neuen Welt entwerfen, uralte Träume der Sehnsucht verwirklichen. Und sie war nicht bloß Wissenschaft, sie war auch noch Kunst  : sie war die Wissenschaft von der geheimen Kunst, aus Arbeit Gold zu machen  ; wirklich als Alchemie der Zukunft empfanden wir sie.11

Eine solche Vorstellung von einer »Alchemie der Zukunft« versammelte ein gerüttelt Maß an überweltlicher Sehnsucht auf das Studium der Nationalökonomie, das Hermann Bahr bei Adolph Wagner neben illustren Kommilitonen anging, die später wegweisend für die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wie auch für die europäische Politik werden sollten  : Gemeinsam mit Hermann Bahr pilgerten zum Seminar in Wagners Haus in Charlottenburg die späteren Professoren für Nationalökonomie und Staatswissenschaften Heinrich Dietzel und Werner Sombart, Karel Kramář (Führer der tschechischen Nationalbewegung während des Ersten Weltkriegs und erster Ministerpräsident der Ersten Tschechoslowakischen Republik), Wolfgang Heine (Führer des nationalistisch-antisemitischen »Vereins deutscher Studenten«, Herausgeber von dessen Verbandsorgan Kyffhäuser, später Sozialdemokrat und Reichstagsabgeordneter) und Michael Hainisch (österreichischer Bundespräsident von 1920–28). Seit dem Sommer 1885 arbeitete Bahr an einer Dissertation über »Die Entwicklung vom Individualismus zum Socialismus«, die mit der Aufklärung anheben, mit Rodbertus, Marx und Engels enden und dabei, so ambitiös wie halsbrecherisch, Ökonomie, Philosophie, Politik, Literatur, bildende Kunst sowie erkenntnis- und wissenschaftsthe-

10 Ebd., S. 171 f. 11 Ebd., S. 172.

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oretische Überlegungen verbinden sollte.12 Im April 1886 lag Wagner das Ergebnis von Bahrs Bemühungen vor, das er allerdings alsbald an den Doktoranden zur Überarbeitung zurückgab, denn was er las, war für Wagner viel zu breit angelegt und wissenschaftlich zu wenig abgesichert. Bahr hat die Dissertation nie fertiggestellt oder neu eingereicht, aber Teile seiner Arbeit hat er zu Aufsätzen umgearbeitet, die er erst 1886/87 in Pernerstorfers Zeitschrift Deutsche Worte veröffentlichte und dann in seiner Essaysammlung Zur Kritik der Moderne 1890 aufnahm. Im germanistischen Kontext blieb bisher überwiegend vernachlässigt, dass weite Teile (genauer  : ein Fünftel) von Hermann Bahrs literarisch Epoche machender Proklamation und Kritik der Moderne aus dem nationalökonomischen Diskussionszusammenhang transferiert wurden. Diese Programmschrift der Wiener Moderne speist sich aus Berliner Studien und zeigt eindrücklich, wie wichtig es ist, Berliner und Wiener Moderne nicht als Gegenmodelle zu fassen, sondern in einer Kontaktgeschichte aufeinander zu beziehen  ;13 und diese von der Germanistik als ästhetisches Manifest verstandene Essaysammlung illustriert auch, dass diese literarische Programmatik eine wissenschaftliche Vorgeschichte und weltanschauliche Komponente hat, die es in einer Intellektuellengeschichte, die Wissenschafts- und Literaturgeschichte integriert, zu würdigen gilt. In ihren ersten Abschnitten widmet sich Bahrs Kritik der Moderne 1890 keineswegs der Literatur, sondern dem Kapitalismus, dem Liberalismus, der Rationalität, der Intel­ lektualität sowie dem Subjektivismus, und es erfolgt ein Aufruf zur Überwindung des Individualismus. Im Individualismus sieht Bahr die Weltanschauung des sich g­ egen den Feudalismus auflehnenden Bürgertums, eine Weltanschauung, die sich aber im 19. Jahrhundert zum Selbstzweck jenseits des Aufstandsmediums entwickelt habe. Die Vernunft sei dabei maßlos überschätzt worden und zum »kalten Räsonnement« verkommen.14 Diese Warnung vor einer sich selbst überhebenden Vernunft verbindet sich mit einer Gelehrsamkeitskritik der Aufklärung, die die Intellektualität zu ­Lasten ursprünglichen Empfindens gefeiert habe  : eine »Aera der Studierstube, des Nur­zere­bral­ menschenthums«.15 Der Abwertung der Vernunft folgt die Aufwertung der Nerven, die als neues Perzeptionsmedium entdeckt und schließlich im Wiener Kontext zur Nerven12 Vgl. die Briefe von Bahr an seinen Vater vom 26. Juli 1885 und vom 19. April 1886, in  : Hermann Bahr  : Briefwechsel mit seinem Vater. Ausgewählt von Adalbert Schmidt. Mit einem Nachwort und Register. Wien 1971, S. 100 f. und 117. 13 Zu einer solchen Kontaktgeschichte vgl. Peter Sprengel, Gregor Streim  : Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik. Mit einem Beitrag von Barbara Noth. Wien, Köln, Weimar 1998. 14 Hermann Bahr  : Die Weltanschauung des Individualismus, in  : Deutsche Worte 7 (1887), S. 59–70, hier S. 65, wieder abgedruckt in  : Ders.: Zur Kritik der Moderne. Gesammelte Aufsätze. Erste Reihe. Zürich 1890, S. 35–49. 15 Bahr  : Die Weltanschauung des Individualismus (Anm. 14), S. 67.

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kunst weiterentwickelt werden. Ihren Ursprung hat diese literarische Innovation auch hier wieder im nationalökonomischen Dissertationsprojekt, wenn Bahr formulierte  : Das »höchste Gebot an jeden Einzelnen kann nicht anders lauten als dahin  : bis in die Fingerspitzen nervös zu sein«.16 Während Bahr in seinen Berliner Studienjahren die im deutschen Kaiserreich vorherrschende kulturprotestantisch timbrierte Hochschätzung der Wissenschaft in seiner Vorstellung von der Nationalökonomie als Heilslehre und »Alchemie der Zukunft« radikalisierte,17 verschoben sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Akzente. Er stand der Wissenschaft zunehmend skeptisch gegenüber und zeigte sich beeindruckt von der »ungeheuren religiösen Sehnsucht unserer Zeit«.18 In seiner Essaysammlung Inventur beobachtet er 1912, ein Jahr vor seinem 50. Geburtstag  : Ganz England und Deutschland ist jetzt neuer Propheten voll, und allen diesen seltsam nach Zukunft verlangenden Menschen wie Campbell, Jatho, Traub, Artur Bonus, dem sozia­ listischen Zürcher Pfarrer Hermann Kutter, dem Wanderprediger Johannes Müller, dem Schwarmgeist Josua Klein, treibt die Sehnsucht Scharen zu.19

Die religiöse Erneuerung wird von Bahr deutlich als ein länderübergreifendes Phänomen gekennzeichnet, und während er hier den deutsch-englischen Brückenschlag betont, streicht er in anderem Zusammenhang die deutsch-französische Gemeinsamkeit in den religiösen Suchbewegungen heraus. Bahr beobachtet eine religiöse Zeitenwende, als »Eucken in Deutschland, Bergson in Frankreich erschienen und weckten das Gefühl für die Geheimnisse wieder auf, für das unbekannte Hinterland im Menschen und im Leben, das unserer Vernunft nicht erreichbar und doch von uns als Heimat unserer Handlungen empfunden wird«.20 Im Blick auf Frankreich ist dann nicht mehr so sehr die »frei vagierende Religiosität« (Nipperdey) jenseits der Kirchen zentral, sondern die katholische Erneuerungsbewegung, die vor allem im frühen 20. Jahrhundert eine Angelegenheit von Literaten wurde. Der renouveau catholique ist für Bahr bedeutsam, da er hier Konversionen beobachten kann bei Schriftstellern, die er einst um ihrer dekadenten 16 Bahr  : Das transzendentale Korrelat der Weltanschauungen, in  : Deutsche Worte 6 (1886), S. 322–331, hier S. 331, wieder abgedruckt unter dem geänderten Titel Die Herkunft der Weltanschauungen, in  : Ders.: Zur Kritik der Moderne (Anm. 14), S. 5–17. 17 Zu dieser Bildungsreligion im Kulturprotestantismus vgl. Gangolf Hübinger  : Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen 1994, S. 170–190. 18 So ein Tagebucheintrag Bahrs vom 20. August 1911, abgedruckt bei Erich Widder  : Hermann Bahr. Sein Weg zum Glauben. Linz 1963, S. 89–113, hier S. 109. 19 Hermann Bahr  : Als ob, in  : Ders.: Inventur. Berlin 1912, S. 60. 20 Hermann Bahr  : Religion, in  : Ders.: Inventur (Anm. 19), S. 63.

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und ästhetizistischen Qualitäten willen im Jungen Wien beworben hatte.21 Paul Bourget, Joris-Karl Huysmans oder Maurice Barrès führten Bahr modellartig und in Textmustern vor, dass es einen Weg von den schwarzen Messen der dekadenten Religiosi­tät zur katholischen Religiosität als Ausweg aus der Décadence gab.22 Als Bahr zum Katholizismus zurückfindet, wird dies zunächst, einigermaßen abgelegen, in Johannes Müllers Grünen Blättern zur Pflege des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, ruchbar. Bahr bekannte im Austausch mit Müller  : Nur im Gottesdienst der katholischen Kirche, am schönsten freilich in kleinen Dorfkirchen beim Amt am Sonntag erlebe ich dieses höchste Geheimnis, daß an den Teilnehmern der Leidenszug der eigenen Existenz plötzlich verlischt […]. Sonst bin ich das nur noch zuweilen in durch Musik erregten Versammlungen oder bei starken Ausbrüchen gemeinsamer Not gewahr geworden, bei der neunten Sinfonie und beim Bayreuther »Parsifal« oder bei Aufzügen streikender Arbeiter.23

Diese Confessio Bahrs sorgte sogleich für Aufmerksamkeit, Häme und genüssliches Fremdschämen  ; Egon Friedell erklärte Bahrs Katholizismus zum aktuellen intellektuellen Klatsch-Thema schlechthin  : Vor einigen Wochen kam in einer Gesellschaft ein Mensch auf mich zu und sagte  : »Nun, was ist denn Ihre Ansicht über –« »Pardon, mein Herr,« erwiderte ich verbindlich, »ich habe Kellermanns ›Tunnel‹ nicht gelesen, werde ihn auch nicht lesen und ersuche Sie dringend, mich nicht mit derartigen Fragen zu belästigen.« Der Mensch sagte jedoch ganz erstaunt  : »Aber wer spricht denn heute noch vom ›Tunnel‹  ? Ich meine selbstverständlich  : was ist Ihre Ansicht über Hermann Bahrs Katholizismus  ?« Da mußte ich denn erkennen, daß ich mich 21 Die nachträglichen Stilisierungen dieses französischen Einflusses in Bahrs Selbstbildnis untersucht Stefanie Arend  : Hermann Bahrs Auseinandersetzung mit Maurice Barrès im Kontext seiner ›Konversion‹, in  : Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Hg. von Wilhelm Kühlmann und Roman Luckscheiter. Freiburg 2008, S. 187–204. Zum problematischen Quellenstatus von Bahrs Autobiographie vgl. Martin Anton Müller  : Das »Selbstbildnis als Quelle«, in  : Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden (Anm. 8), S. 165–184. 22 Vgl. hierzu Jens Malte Fischer  : Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978, S. 91. Diese Entwicklung von der Décadence zum Katholizismus ist für die englische Literatur untersucht (vgl. etwa Hildegard Feinendegen  : Dekadenz und Katholizismus. Konversion in der englischen Literatur des Fin de siècle. Paderborn, München 2002), bedarf aber für die deutschsprachige Literatur noch einer gründlichen Aufarbeitung. 23 Johannes Müller  : Eine Unterhaltung mit Hermann Bahr über die Kirche, in  : Grüne Blätter zur Pflege persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens 16 (1913), S. 178–192, hier S. 192. Zu Johannes Müller vgl. Harald Haury  : Von Riesa nach Schloß Elmau. Johannes Müller (1864–1949) als Prophet, Unternehmer und Seelenführer eines völkisch naturfrommen Protestantismus. Gütersloh 2005.

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blamiert hatte, und daß die Frage, die jetzt jedermann an jedermann stellt, eine andre geworden war.24

Arthur Schnitzler debattierte mit Bekannten »über Bahrs neuesten Katholizismus« und notierte im Tagebuch, gleichsam mit hochgezogener Augenbraue  : »er bedarf der Sacramente«.25 Man zweifelte an der Aufrichtigkeit von Bahrs Bekenntnis. Stefan Großmann sah hier jenen »Schwindel« und »Selbstbetrug« einer pseudo-religiösen Modeerscheinung gegeben, den Max Weber einige Jahre später in Wissenschaft als Beruf als »allerhand Arten des Erlebens« beschrieb, denen der nach Erlösung suchende Intellektuelle »die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes« zuschreibt.26 Großmann sezierte Bahrs einfühlende Beobachtung der Gläubigen in der Dorfkirche als geistiges Schmarotzertum und religiösen Voyeurismus  : Das ist ein absoluter Beweis der Unechtheit des Bekenntnisses. Bahr hat bei dem berühmten kleinen »Dorfkirchlein« gestanden und hat die Frömmigkeit der anderen wahrgenommen. Er war ein Zuschauer fremder Religiosität  ! Ward je in solcher Laun’ ein Gott erkämpft  ? […] Nur kann man sich das Erwachen Gottes in einem Herzen nicht beim Zugucken zur Frömmigkeit der andern vorstellen. Der Katholizismus ist doch keine ansteckende Krankheit  ?27

Es ist bemerkenswert, dass Bahr auf diesen Vorwurf noch geraume Zeit später in seinem Selbstbildnis indirekt reagierte, wenn er einräumte  : »Ich muß zu meiner Beschämung gestehen […], daß […] ich zunächst nur auf Probe, sozusagen versuchsweise Katholik wurde«, und es ihm zu Beginn vor allem auf den »Gewinn psychologischer Erfahrung« ankam.28 Aber es blieb nicht bei diesem katholischen »Anschmecken«, sondern das konfessionelle Bekenntnis rückte in den folgenden Jahren ins Zentrum von Bahrs literarischem Schaffen. Der protestantische Theologe Ernst Troeltsch beobachtete Bahrs religiöse Wende interessiert und wertete sie nicht nur als binnenreligiöses Phänomen, sondern sprach ihr auch eine wissenschaftliche Rückwirkung und eine Kulturbedeutung für Die Revolution in der Wissenschaft zu. Ernst Troeltsch verweist auf Hermann Bahrs Band zum Expressionismus  : »Übrigens ist hier daran zu erinnern, daß schon 1916 Her24 Egon Friedell  : Bahrs Katholizismus, in  : Die Schaubühne 10, 18 (1914), S. 489–493, hier S. 489. 25 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1913–1916. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1983, Tagebucheintrag vom 22. März 1914, S. 105. 26 Weber  : Wissenschaft als Beruf (Anm. 1), S. 109. 27 Stefan Großmann  : Bahrs Dorfkirchlein, in  : Die Schaubühne 10, 10 (1914), S. 265 ff., hier S. 266 f. 28 Bahr  : Selbstbildnis (Anm. 3), S. 297.

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mann Bahr, dieser untrügliche Seismograph des Geistes, in seinem Buche ›Expressionismus‹ auf diese Zusammenhänge hingewiesen hat und seinerseits den Vorangang der Franzosen mit Bergson an der Spitze scharf beleuchtet hat«.29 Hermann Bahrs Weg zum Glauben war nämlich für ihn auch ein Weg weg von der Wissenschaft. 1917 erschien Bahrs Abhandlung Vernunft und Wissenschaft, in der er mit Brunetière den »Bankerott der Wissenschaft« erklärt und seinen Katholizismus verteidigt gegen den Verdacht der modischen Attitüde und beteuert  : Nicht der Vorwurf, mich andächtelnd zu betäuben, meine Verzweiflung einzuschläfern, in wogenden Entzückungen zu schwelgen, […] trieb mich heim. Das Getue monistischer Trunkenheit in auflösenden Allgefühlen war mir immer zum Ekel. Nicht aus Hysterie bin ich fromm.30

Das liest sich wie eine angestrengte Abwehr gegen Webers Spott über die »öffentliche Renegatenreklame« der Neureligiösen im Umfeld von Eugen Diederichs in Wissenschaft als Beruf,31 und es scheint mir gewinnbringend, Bahrs Vernunft und Wissenschaft als zeitgenössisches Dokument in die Diskussion über die posthistoristische Krise der Wissenschaft im frühen 20. Jahrhundert miteinzubeziehen.32 Bahr wurde es sehr ernst mit seinem Katholizismus, und er hat davon nicht nur in Vernunft und Wissenschaft faktual Zeugnis gegeben,33 sondern sich auch fiktional mit 29 Ernst Troeltsch  : Die Revolution in der Wissenschaft, in  : Ders.: Rezensionen und Kritiken (1915–1923). Hg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Diana Feßl, Harald Haury und Alexander Seelos. Berlin, New York 2010 (Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13), S. 519–563, hier S. 545. Allerdings scheint mir hier für Troeltsch neben Bahrs Expressionismus auch Bahrs Kriegserklärung an die herkömmliche Wissenschaft in Vernunft und Wissenschaft ein weiterer zentraler Referenztext zu sein. Der Verweis auf Bergson findet sich bereits 1912 bei Bahr  : Inventur (Anm. 19), S. 63. 30 Hermann Bahr  : Vernunft und Wissenschaft. Innsbruck 1917, S. 41. 31 Vgl. hierzu Friedrich Wilhelm Graf  : Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur ›Verlagsreligion‹ des Eugen Diederichs Verlag, in  : Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme. Hg. von Gangolf Hübinger. München 1996, S. 243–298. 32 Bei Richard Pohle  : Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar. Göttingen 2009, etwa fehlt Bahr. 33 Da Vernunft und Wissenschaft die herkömmliche Wissenschaft verabschiedet (»sie hatte nur noch dem Nutzen, dem Geschäft, dem Erwerb zu dienen. […] Wir verloren das Vertrauen zum Denken  ; auch die Logik wurde degradiert. Wir verloren die Sprache  ; Mauthner hat uns auch diesen letzten Aberglauben zerstört« [Bahr  : Vernunft und Wissenschaft [Anm. 30], S. 40]), war es nur konsequent, dass Bahr beim Wiederabdruck der Abhandlung einen neuen Titel wählte  : Vernunft und Glaube, in  : Ders.: Summula. Leipzig 1921, S. 53–112. Vgl. auch die Entgegnung von Fritz Mauthner  : Vernunft und Wissenschaft. Ein offener Brief an Hermann Bahr, in  : Berliner Tageblatt vom 2.  September 1917. Ein solcher Abschied von der Wissenschaft als Lebensform meint aber nicht, dass Bahr nicht weiterhin die (nationalökonomischen) Schriften seiner ehemaligen Kommilitonen interessiert registriert. So rezensiert er die neue Auflage von Sombarts Der Geist des Kapitalismus enthusiastisch (Bahr  : 1917. Innsbruck, München, Wien 1918, S. 15–20), begeistert sich für Max Webers Politik als Beruf (Bahr  : 1919. Leipzig, Wien, Zürich 1920,

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dem Weg von der Wissenschaft zum Katholizismus auseinandergesetzt in seinem Roman Himmelfahrt, der 1916 erstmals erschien und 1919 bereits in 16.  Auflage greifbar war. Himmelfahrt (für Schnitzler ein »katholisirender Roman  ; ein unleidliches Geschwätz«34) erzählt die Rückkehr des österreichischen Grafen Flayn zum Glauben der Väter. Dieser Graf Flayn erscheint in vielerlei Hinsicht als aristokratisches alter ego seines Autors. Gemeinsam mit Bahr hat er vor allem auch eine wissenschaftliche Vergangenheit. In seiner Sehnsucht nach Sinn und Orientierung in einer irrationalen Welt hatte Graf Flayn in einem neufaustischen Rundumschlag zuerst »die Wissenschaften abgesucht, erst Botaniker bei Wiesner, dann Chemiker bei Ostwald, in Schmollers Seminar, auf Richets Klinik, bei Freud in Wien, gleich darauf bei den Theosophen in London«.35 Diese wissenschaftliche Odyssee war angetrieben von der Hoffnung auf »Erkenntnis nicht um der Erkenntnis willen, sondern weil er eine Sicherheit, richtig zu handeln« (24) wollte. Enttäuscht muss Graf Flayn feststellen, dass danach »die Wissenschaft nicht [fragt], darauf antwortet sie nicht« (25). Die Erlösungssehnsucht hatte Graf Flayn zuletzt gar zum Spiritismus getrieben, und er war in London einem betrügerischen »Medium« zum Opfer gefallen. Enttäuscht zieht er sich auf das Familienanwesen in der österreichischen Provinz zurück und beobachtet die gutsherrlichlandwirtschaftliche Tätigkeit seines älteren Bruders als sehr viel sinnvollere Arbeit als die eigene wissenschaftliche Umtriebigkeit. Wenn Graf Flayn den ökonomischen Alltag auf dem Land »mit der leeren Geschäftigkeit, dem unfruchtbaren Hochmut, der lärmenden Nichtigkeit der ›Geistigen‹, der ›Intellektuellen‹ verglich, war ihm um jede Stunde leid, die er in dieses bodenlose Faß geworfen hatte« (53). Im Gespräch mit einem befreundeten Künstler lässt Graf Flayn die religiösen Suchbewegungen seiner Zeit Revue passieren. Der an Gustav Klimt gemahnende Maler Höfelind erläutert Graf Flayn,

S. 286 f. und 300–304) und stellt für sich ein nationalökonomisches Pandämonium zusammen, zu dem neben Sombart »seit Wagner und Schmoller abgetreten sind […] Karl Bücher, Heinrich Dietzel, Josef Redlich, Max Weber, Franz Oppenheimer, Plenge und Schumpeter allenfalls noch – Simmel« gehören (Bahr  : 1917 [s. o.], S. 18). Eugen Diederichs macht Bahr brieflich auf Max Webers Auftritt bei den Lauensteiner Tagungen aufmerksam. Bahr fasst diese Lauensteiner Tagungen als eine »Art Verschwörung der heimlich noch an den deutschen Geist zu glauben Gewillten, wo besonders Max Weber das unausbleibliche Schicksal, noch mehr bureaukratisiert zu werden, in schwarzen Farben malte« (Hermann Bahr  : Tagebücher 2. Innsbruck, Wien, München 1919, S. 60 f.). 34 Schnitzler  : Tagebuch 1913–1916 (Anm. 25), Tagebucheintrag vom 17. April 1916, S. 280. Vgl. auch Hermann Kienzl  : Die Himmelfahrt des Hermann Bahr, in  : Gegenwart. Zeitschrift für Literatur, Wirtschaftsleben und Kunst 45 (1916), S. 401 f. 35 Hermann Bahr  : Himmelfahrt. Berlin 13–161919, S. 13. Im Folgenden wird aus dem Roman im Fließtext nach dieser Ausgabe mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

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»Nein, sicherlich ist es mit dem Spiritismus auch nichts. So wenig als mit den anderen Prophe­ ten. Lauter betrogene Betrüger. Es spukt ja jetzt überall, ein neuer Glaube geht um, oder doch Sehnsucht nach ihm, wir haben einen starken religiösen ›Betrieb‹, ich fürchte, daß das Angebot schon größer als die Nachfrage ist, auch wird so schnell produziert, daß dabei ja nur Posel herauskommen kann, die neuen Religionen werden bald im Ausverkauf zu haben sein, wegen Räumung des Geschäfts  !« (119)

Was Bahr 1912 in seinem Band Inventur essayistisch debattierte, die religiöse Sehnsucht seiner Zeit und die Inflation von semi-prophetischen Gestalten jenseits der Kirche, lässt er hier im Roman in einem Gespräch seines Protagonisten noch einmal aufscheinen. Der Maler Höfelind ist durch diverse religiöse Experimente hindurchgegangen und bilanziert die Erfahrung wütend, »er schrie  : ›zwei Jahre meines Lebens habe ich mit dem neuen Sport vertan  !‹« (119) Graf Flayn zieht es schließlich zurück zum Katholizismus, allerdings beginnt er erst einmal (wie sein Autor 1913 beim Besuch der alten Dorfkirche) mit dem »höchst seltsame[n] Gefühl von Staunen, Rührung und auch Neid beim Anblick von Betenden« (145), und er lässt sich von spätnachmittäglichen Dämmerstunden in der Kirche »ästhetisch« (145) affizieren. Die Darstellung von Graf Flayns anfänglich eher ästhetisch motivierter Näherung an den Katholizismus ähnelt ein wenig der Charakteristik der katholischen Mode zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der von Franz Blei herausgegebenen Zeitschrift Der lose Vogel  : Fast alle Leute sind heute katholikoman. […] Aber es ist schon an sich ein oberflächliches Phänomen. […] Man möchte nicht liberal sein, nicht evident, theoretisch nicht, nicht subjektiv, am wenigsten zu verstehen und am wenigsten mithin verpflichtet sein. Jedermann erzählt Ihnen, er will katholisch werden, alle Fräulein aus Norddeutschland, alle Dichter, alle bedeutenderen Politiker, die nicht jeden Tag erklären, wie protestantisch sie sind, also alle Juden, alle Christen, mit Ausnahme der Katholiken, die selten sagen, sie sind es gerne. Wenn man wissen will, was diese Prätendenten mit ihrem Übertreten wollen, […] so wird man nichts Genaues hören. Musik, so und so beleuchtete Kirchen. »Haben sie schon einmal eine Hochmesse in der Markuskirche gesehen  ?« usw. Keiner denkt z. B. an das Gebet. Eher Freitags Fisch. Und warum sie nicht übertreten  ? Alles sehr herrlich, aber »man kann nichts glauben«.36

Dieses kulinarische Antesten des Katholizismus auf Probe, das bei Franz Blei komisiert wird, kommt Graf Flayn aber nicht gut zustatten. Die katholische Kirche präsentiert 36 [Anonymus  :] Verschiedene Hintergründe für eine ›einfache Sache‹, in  : Der lose Vogel 6 (1912), S. 202– 206, hier S. 202 f.

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sich dem nach Erlösung suchenden Graf Flayn zunächst keineswegs mit den »weit und erbarmend geöffneten Arme[n]« der Proselytenmacher.37 Ein charismatischer Domherr verweist ihm seine Näherungsversuche als persönliche Eitelkeit und intellektuelle Erlebnishascherei. Er kritisiert Graf Flayns Individualismus und kennzeichnet dessen religiöse Sinnsuche sozialhistorisch als Décadence-Erscheinung eines Adels, der sich selbst in seiner Legitimität bezweifelt.38 Es ist ein narrativ geschickter (fast ein wenig jesuitisch schimmernder) Schachzug von Bahr, die Kritik an Flayns intellektuellem katholischen Testlauf einen Vertreter der katholischen Kirche selbst aussprechen zu lassen. So mutet es einigermaßen kurios und konfessionell irritierend an, wenn in Himmelfahrt weberianisch tönende Kritik an der intellektuellen Erlebnissuche ausgerechnet aus dem Mund eines katholischen Domherrn kommt, der Graf Flayn tadelt, dass der gleichermaßen als Tourist in die Kirche komme, »wie man ins Seebad geht« (178), und ihn zurechtweist  : »Aber wenn Du jetzt einmal Lust hast, ein Semester lang Katholizismus zu belegen, um zu sehen, ob dir nicht die Kirche vielleicht noch irgendeine Sensation zu bieten hat, staunst du, daß wir nicht gleich alle Glocken läuten und dich unter den Gnaden und Wundern nur aussuchen lassen, was dir am besten konveniert  ! Wissenschaft und Kunst haben dich enttäuscht, aber ich will dir sagen, warum  : weil du dich ihrer bloß bedienen willst, statt ihnen zu dienen. Du suchst überall nur dich, darum findest du auch nichts als dich, und das kann selbst der größten Genügsamkeit nicht genügen. Jetzt soll’s der Zauber der Kirche  ! Das ist aber wieder ein Irrtum. Sie zaubert nicht. […] Wer es heute so weit bringt, seiner selbst überdrüssig zu werden und aus sich selbst weg zu verlangen, hält dies dann immer gleich für Religion. Es ist jedenfalls nicht die unsere. […] Ihr denkt ja, man könne Religion treiben wie Malerei, Schach oder irgendeinen Sport, und was ihr die neureligiöse Bewegung nennt, ist wirklich nur, damit ihr ein bißchen Bewegung macht, weil ihr spürt, daß euer Geist fett und faul geworden ist« (172, 386 und 394).

Graf Flayn nimmt sich diese Philippika zu Herzen, geht in sich, streift schließlich den Individualismus von sich ab und findet in der Praxis des Gebets und der Beichte zum katholischen Glauben zurück. Damit legt Bahr in seinem Roman indirekt auch Rechenschaft gegenüber seinen Kritikern ab, die sein katholisches Bekenntnis als unecht bezeichnet hatten. Sein Roman Himmelfahrt und seine Autobiographie Selbstbildnis 37 Weber  : Wissenschaft als Beruf (Anm. 1), S. 110. 38 »›Es ist eine merkwürdige Zeit,‹ sagte der Priester, ›in der ein Graf Flayn so fragt. Daran geht ihr zugrunde  ! Dein Vater hätte nicht so gefragt. Der wußte noch, daß ihr da seid, um da zu sein. Du schaust mich verwundert an  ? Weit ist es mit euch gekommen  ! Und spürt ihr denn nicht, daß ihr damit abdankt  ?‹« (179).

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erläutern einander wechselseitig als fiktionale Transformationen einer katholischen Heimkehr. Bahrs Hinwendung zum Katholizismus verändert auch sein Geschichtsdenken, denn mit seinem persönlichen renouveau catholique verabschiedet er auch den »Aberglauben an den Fortschritt«.39 Es scheint ihm absurd, »daß, weil morgen erst kommt, damit allein schon bewiesen sein soll, daß morgen besser sein muß als heute«.40 Der Fortschrittsglauben der Aufklärung wird von Bahr verantwortlich gemacht für eine prinzipielle Gegenwartsverdrossenheit des 19. Jahrhunderts. Eine Zeit, die nur auf Optimierung in der Zukunft hoffe, degradiere sich selbst zu einer permanenten Vorgeschichte eines zu kommenden Besseren. Das begreift Bahr als eine unstatthafte Verunmöglichung von Zufriedenheit und »Flucht von sich selbst weg«. Er sieht sich in dieser Überzeugung sowohl bestätigt von der eigenen literarischen Vergangenheit als auch von aktuellen weltanschauungsliterarischen Großdeutungen  : »alle Schlagworte meiner Generation widerrufen« den Fortschrittsglauben, »von der ›Decadence‹ der achtziger, der ›Fin de siècle‹ der neunziger Jahre bis zum ›Untergang des Abendlands‹« Oswald Spenglers. Aber auch das Abstiegsnarrativ mag er nicht als letztgültiges Deutungsmuster gelten lassen. Für den Katholiken Bahr hat es lediglich ein »einziges weltgeschichtliches Ereignis gegeben  : den Kreuzestod Gottes«. Jenseits dieses Ereignisses ist für ihn die Menschheit »weder entschieden ›fortgeschritten‹ noch entschieden ›herabgekommen‹«. Gleichwohl bedrückt Bahr seine rationalisierte Gegenwart, die er nicht wie Max Weber im Bild des »ehernen Gehäuses«, sondern für sich mit der Metapher des »Betriebs« zu beschreiben sucht. Am Ende seiner Autobiographie stehen nicht die Prognose weiterer Bürokratisierung und der Appell, dies männlich zu ertragen, sondern die Hoffnung auf eine epochale Zäsur  : Uns aber, die wir den letzten Grad von Bedrückung und Erniedrigung der menschlichen Natur durch den Betrieb erlebt haben, ward dafür gegeben, auch das Ende zu sehen, das Ende der Epoche, die vor Valmy begann. Das Ende des Betriebs ist’s, der Aufgang des alten Abendlandes, die Wiederkehr der alten Wahrheit.41

2. Mystik, mal modern und mal katholisch Im November 1891 hielt Hermann Bahr in Linz einen Vortrag über Moderne Mystik, den er im März 1892 in Wien im »Verein für modernes Leben« wiederholte. In einem 39 Bahr  : Selbstbildnis (Anm. 3), S. 297. 40 Dieses und die folgenden Zitate ebd., S. 298. 41 Ebd., S. 300.

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Brief kündigt Bahr die Veranstaltung folgendermaßen an  : »In der nächsten Versammlung der ›Freien Bühne‹, die auf meinen Antrag ganz umgemodelt wurde und jetzt ›Verein für modernes Leben‹ heißt, soll ich die ›treue Adele‹ lesen und ein anderes Mal den Vortrag über ›Moderne Mystik‹ halten, mit dem ich die Dummen des deutschen Klubs seinerzeit erschreckte«.42 Der Text dieses Vortrags ist nicht erhalten, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass die Formulierung von der »Mystik der Nerven«, zu der Bahr 1891 in der Überwindung des Naturalismus findet, im Zusammenhang mit diesem frühen Vortrag steht. Wenn Hermann Bahr in den 1890er Jahren von Mystik spricht, dann geht es ihm nicht um die mittelalterliche monastische Mystik eines Meister Eckhart, Johannes Tauler oder Heinrich Seuse, sondern er setzt den Begriff metaphorisch für profane, subjektive, ästhetische Entgrenzungsphantasien seiner Gegenwart generell ein. Der Begriff der Mystik erscheint in diesen frühen Texten nur selten allein  ; er wird fast immer verkoppelt mit anderen Schlüsselbegriffen, sei es durch attributive Ergänzungen oder Genitivkonstruktionen. In der Kombination mit anderen Merkworten der Epoche, wie dem der »Moderne« oder dem der »Nerven«, erhält der Begriff eine Intensivierungs- und Steigerungsfunktion. So lautet in der Überwindung des Naturalismus Bahrs literaturkritische Prognose  : Ich glaube also, daß der Naturalismus überwunden werden wird durch eine nervöse Romantik  ; noch lieber möchte ich sagen  : durch eine Mystik der Nerven. Dann freilich wäre der Naturalismus nicht bloß ein Korrektiv der philosophischen Verbildung. Er wäre dann geradezu die Entbindung der Moderne  : Denn bloß in dieser dreißigjährigen Reibung der Seele am Wirklichen konnte der Virtuose im Nervösen werden.43

Steht hier der Mystik-Begriff noch im Dienst, eine ältere literarische Strömung abzulösen und die (durch den Naturalismus ermöglichte) ästhetische »Entbindung der Moderne« zu vollziehen, verkoppelt ihn Bahr bald darauf mit einer neuen in Frankreich beobachteten Strömung, der Décadence. Er spricht nun variierend von der »Romantik der Nerven«, der Sehnsucht nach erlesenen »Stimmungen« in der neueren französischen Literatur und benennt schließlich 1894 das Mystische als eines von drei Merkma42 Brief Hermann Bahrs an seinen Vater vom 28.  Februar 1891, in  : Bahr  : Briefwechsel mit seinem Vater (Anm. 12), S. 317. 43 Hermann Bahr  : Die Überwindung des Naturalismus, in  : Ders.: Die Überwindung des Naturalismus. Als zweite Reihe von »Zur Kritik der Moderne«. Dresden, Leipzig 1891, S.  152–158, hier S.  155 f. Zuvor hatte Bahr bereits in seinem Essay zu Villiers de l’Isle-Adam beobachtet, wie dieser schlich »um das Ungekannte, an das Unerkennbare, bis in die Schauer der Mystik«. Hermann Bahr  : Villier de l’Isle-Adam, in  : Ders.: Zur Kritik der Moderne. Gesammelte Aufsätze, Erste Reihe. Zürich 1890, S.  195–199, hier S. 197.

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len der Décadence. Zur Décadence gehören für Bahr »also erstens die Hingabe an das Nervöse. Zweitens die Liebe des Künstlichen, in welchem alle Spur der Natur vertilgt wird. Dazu kommt drittens eine fiebrische Sucht nach dem Mystischen«.44 An einem okkultistischen Roman von Péladan erläutert Bahr, was er genauer unter modern-dekadenter Mystik versteht, nämlich den Wunsch, poetisch das Unsagbare auszusprechen und philosophisch das Unwissbare zu erkennen sowie einen »unersättliche[n] Zug ins Ungeheure und Schrankenlose« und die Vorliebe fürs Unerhörte und Aparte  : »Alles Gewöhnliche, Häufige, Alltägliche ist ihnen [i. e. den mystischen Décadents] verhasst. Sie suchen die seltsame Ausnahme mit Fleiss«.45 Friedrich M. Fels äußert sich ähnlich wie Bahr und konstatiert »die Bewegung vom Naturalismus weg« hin »zu Péladans mit ganz richtigen Anschauungen von romanischer Décadence durchsetzter Mystik«.46 Wenn der frühe Bahr von Mystik spricht, dann geht es ihm nicht um eine Einheitserfahrung mit Gott, und es geht ihm auch nicht um Texte, die eine solche Einheitserfahrung mit Gott verschriftlichen. Es geht nicht um einen geordneten asketischen Läuterungsweg, der stufenweise gegliedert ist. Es geht auch nicht um eine literarische Rezeption christlicher Mystik vergangener Epochen. Gelegentlich wird das Attribut »mystisch« auch schlicht als Intensivierungspartikel eingesetzt, um das exklusiv Arkane und Opake der neuen Literatur auszudrücken. Die gottlose Mystik im Wien der 1890er Jahre teilt allerdings mit der christlich gebundenen Mystik den radikal subjektiven Blickwechsel nach innen.47 So wie die christliche Mystik reagiert auf eine konfessionell klar geregelte, objektive religiöse Struktur in Kulten, Riten oder Dogmen und ihnen das persönliche, spontane und nicht objektivierbare Erlebnis entgegensetzt, so antwortet Bahrs »Mystik der Nerven« auf eine Skepsis gegenüber der Rationalität und Wissenschaft. Ähnlich konnotieren andere Autoren im Umfeld der Wiener Moderne in den 1890er Jahren den Begriff der Mystik. Rudolph Lothar etwa beschreibt das mystische Interesse in der französischen Literatur als Gegenbewegung zur Wissenschaftseuphorie der Gegenwart  :

44 Hermann Bahr  : Die Décadence, in  : Ders.: Studien zur Kritik der Moderne. Frankfurt a. M. 1894, S. 19– 26, hier S. 25. 45 Ebd., S. 26. 46 Friedrich M. Fels  : Von neuen Romanen, in  : Moderne Rundschau 4, 1 (1891), S. 20–24, hier S. 21. 47 Vgl. hierzu Martina Wagner-Egelhaaf  : Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989. Uwe Spörl  : Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende. Paderborn, München, Wien, Zürich 1997. Profane Mystik  ? Andacht und Ekstase in Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts. Hg. von Wiebke Amthor, Hans R. Brittnacher und Anja Hallacker. Berlin 2002.

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Der Wissensdurst unserer Zeit, ausgerüstet mit allen Waffen der Naturwissenschaft und der Technik, muß Halt machen vor den Schranken allen Wissens  ; und angesichts des Ewig-Unfaßbaren bemächtigt sich der im tollen Jagen nach Erkenntnis Entflammten ein Schauer, der sich in erhöhtem Zweifel oder in erhöhtem Glauben äußert – in Skepsis oder in Mystik.48

In einer solchen weiten Begriffsverwendung gerät Mystik dann auch schnell zu einer pauschalen Formel zur Wiederverzauberung der modernen Welt. Mystik wird zum Antidot gegen die entfremdende Rationalisierung der Moderne. So differenziert etwa Rudolf Kassner deutlich zwischen einer historischen mittelalterlichen Mystik und dem aktuellen Begriffsgebrauch der Jahrhundertwende, der sehr viel weiter, aber auch sehr viel diffuser ausfällt und immer mehr verschwimmt mit der dichterischen Einbildungskraft, der Erlösungsqualitäten zukommen  : Wir leben nicht mehr im Zeitalter der großen Formen, der Kathedralen, der Systeme in der Bedeutung des Aristoteles, des Thomas von Aquin, der Mystik im Sinne Eckharts oder Nicolaus von Cues. Mystik ist für mich Magie im Zeitalter der Zerrissenheit, daher die Imagination  ; Mystik ist für mich, bedeutet für mich  : Magie der Imagination, ist immer Mystik des kreativen Lebens, … ist Einbildungskraft, darin Magie in Freiheit aufgeht.49

So produktionsästhetisch gewendet wird Mystik zu einer poetologischen Vokabel, die dem Dichter der Moderne Spielräume des Assoziierens eröffnet. Max Messer wiederum verbindet den Begriff der Mystik mit der Beschäftigung der Jungwiener mit dem Vorbewussten, ihrem Schwelgen in psychischer Introspektion und verbildlicht dies als einen Gang in die »Unterwelt«. Vorbildfigur für eine solche Suche nach jenen »dunklen, geheimnisvollen Tiefen, aus denen alles Lebendige entspringt«, ist ihm Maurice Mae­terlinck. Messer beschreibt die Themen und Schreibstrategien der Wiener Moderne folgendermaßen  : Während sich die dionysisch-lyrische Kunst gleichsam oberhalb der Kunst der Realität, wie ein phantastischer Wolkenhimmel über die Erde hinzieht, ist das dritte Reich der Kunst, das mystische, gleichsam eine Unterwelt. Nicht das wirkliche Leben und nicht die ideale Fortbildung dieses wirklichen Lebens für die Zukunft ist das Thema seiner Künstler, sondern die Vorstadien 48 Rudolph Lothar  : Zur Geschichte der Kritik in Frankreich, in  : Die Gesellschaft 7 (1891), S. 656–668, hier S. 664. Ähnlich auch in der Argumentation Rudolf Kafka  : Weltanschauung und Perspektive, in  : Die Gesellschaft 13 (1897), S. 15–26. 49 Alphons Clemens Kensik  : Aus den Gesprächen mit Rudolf Kassner, in  : Rudolf Kassner zum achtzigsten Geburtstag. Gedenkbuch. Hg. von Alphons Clemens Kensik und Daniel Bodmer. Zürich 1953, S. 181– 234, hier S. 233.

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des Lebens, die Entwicklungsanfänge menschlicher Verhältnisse und seelischer Vorgänge. Kühn greifen diese Künstler in das geheimnisvolle Chaos, dem die menschlichen Schicksale und alle Gefühle, Leidenschaften, Wünsche enttauchen. Sie wollen diese nicht als schon Fertiges, Wirkendes, sondern als noch Werdendes, Keimendes belauschen und schildern. Sie schildern also nicht  : die Liebe, die Eifersucht, die Angst in jenem Stadium, da sie deutlich in ihrer Aeußerung und in ihrer Wirkung im realen Leben erscheinen, sie schildern die dunklen, uns kaum ins Bewußtsein tretenden Wurzeln und Keime dessen, was dem gewöhnlichen Menschen erst bewußt und damit überhaupt existent zu werden scheint […]. Diese »mystischen« Künstler richten ihr Auge nicht nach oben, in die himmelblauen Fernen der Zukunftsideale, sie schauen auch nicht um sich in das tägliche Leben der Realität, sondern sie graben in die Tiefe, sie bohren Schachte in jene dunklen, geheimnisvollen Tiefen, aus denen alles Lebendige entspringt.50

Solche Psychogramme des Vorbewussten werden durch neue Darstellungsverfahren realisiert, und in diesem Sinn spricht auch Friedrich  M. Fels vom »psychologischen Mysticismus« der Wiener Moderne, den er in Hermann Bahrs Romandebüt Die gute Schule prototypisch erzählerisch verwirklicht sieht.51 Hier, bei Messer und Fels, wird der Begriff der Mystik fast zu einem narratologischen Terminus transformiert, um die verinnerten Erzählweisen des Jungen Wien (wie erlebte Rede und innerer Monolog) zu erfassen, wie sie Bahr 1890 in seinem Aufsatz über Die neue Psychologie theoretisch vorkonzipiert hatte. Bahrs Essay Die neue Psychologie liest sich deutlich als Prätext von Max Messers und Friedrich M. Fels’ Überlegungen zum »psychologischen Mysticismus« des Jungen Wien, wenn es dort heißt  : Die alte Psychologie hat die Resultate der Gefühle, wie sie sich am Ende im Bewußtsein ausdrücken, aus dem Gedächtnis gezeichnet  ; die neue zeichnet die Vorbereitungen der Gefühle, bevor sie sich noch in’s Bewußtsein hinein entschieden haben. Die alte Psychologie hat die Gefühle nach ihrer Prägung in den idealen Zustand ergriffen, wie sie von der Erinnerung aufbewahrt werden  ; die neue Psychologie wird die Gefühle in dem sensualen Zustand vor jener Prägung aufsuchen. Die Psychologie wird aus dem Verstande in die Nerven verlegt – das ist der ganze Witz.52 50 Max Messer  : Maurice Maeterlinck, in  : Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift 2, 10 (1899), S. 339 f., hier S. 339 f. 51 Friedrich M. Fels  : Naturalistische Literatur in Deutschland, in  : Die Gegenwart 38, 42 (1890), S. 244–247, hier S.  247. Zu einem solchen psychologischen Mystizismus in Bahrs Roman vgl. Maximilian Bergengruen  : Das göttliche Ende der Nerven. Hermann Bahrs »Die gute Schule« zwischen Psychopathologie und Mystik, in  : Leib/Seele, Geist/Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900. Hg. von Ralf Haeckel und Markus Dauss. Würzburg 2009, S. 317–338. 52 Hermann Bahr  : Die neue Psychologie, in  : Moderne Dichtung 2, 2, Nr. 8, 1. August 1890, S. 507 ff. und 2, 3, Nr. 9 vom 1. September 1890, S. 573–576, hier S. 509.

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Weiter fällt an dieser frühen profan-modernen Mystik des Jungen Wien auf, dass sie von den österreichischen Schriftstellern maßgeblich als internationaler ästhetischer Importartikel empfunden wird. Auf die Rezeption von Maeterlinck und Péladan und den Einfluss der französischen Décadence wurde schon hingewiesen. Marie Herzfeld blickt darüber hinaus nach Skandinavien, mustert Knut Hamsuns erzählte Innenwelten und beobachtet an Ola Hanssons Novellen eine »Mystik des Seelenlebens«, die sich »im Zusammenspiel des Physischen und Psychischen verliert«.53 Auch Hugo von Hofmannsthal sieht die Mystik-Konjunktur vornehmlich aus dem Ausland nach Österreich fluten, registriert bei Maurice Barrès »mystische Schönheit« und findet in Gabriele d’Annunzios Römischen Elegien die Darstellung der Liebe verbunden mit einer »uneingeschränkten mystischen Hingabe an die Stimmung«.54 An dieser Formulierung von Hofmannsthal kann man die Selbstbezüglichkeit dieser profanen Wiener Mystik der Moderne gut erkennen. Diese Mystik ist nicht adressiert an ein personales Gegenüber, gibt sich nicht hin an Gott, sondern gefällt sich in einer »Hingabe an die Stimmung«, die ein Ästhet sich selbst geschaffen hat.55 Diese Mystik ist auch nicht Mittel zum Zweck einer Gottesbegegnung (oder überhaupt einer Begegnung mit irgendeinem anderen), sondern genügt sich selbst in einer dilatorischen Außerkraftsetzung des Alltags. Berta Zuckerkandl hält 1894 schließlich einen solchen modernen »Mysticismus« für eine gleichberechtigte künstlerische Strömung neben dem Impressionismus.56 Gipfel- und Scheitelpunkt einer solchen poetologischen Begriffsverwendung im Umfeld der Wiener Moderne ist wohl Rudolf Kassners Essaysammlung über Die Mystik, die Künstler und das Leben.57 Das Sprechen über Mystik war in der Wiener Moderne gegen Ende der 1890er Jahre inflationär. In einem Artikel über die Wiener Secession heißt es 1898, »was damals der

53 Marie Herzfeld  : Neue Strömungen in der skandinavischen Literatur, in  : Wiener Literatur-Zeitung 3 (1892), S. 9 ff., hier S. 11. 54 Hugo von Hofmannsthal  : Maurice Barrès, in  : Ders.: Reden und Aufsätze I (1891–1913). Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979 (Gesammelte Werke in Einzelbänden), S.  118–126, hier S.  124. Ders.: Gabriele d’Annunzio, in  : Ders.: Reden Aufsätze  I (1891–1913) (s. o.), S. 174–184, hier S. 182. Zu Hofmannsthals Transformationen der Mystik vgl. Maximilian Bergengruen  : Mystik der Nerven. Hugo von Hofmannsthals literarische Epistemologie des »Nicht-mehr-Ich«. Freiburg 2010. 55 Zum Stimmungsbegriff im Jungen Wien vgl. Anna-Katharina Gisbertz  : Stimmung – Leib – Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne. München, Paderborn 2009. 56 »Wir aber stecken im Impressionismus, im Naturalismus, im Mysticismus drin  – dichten, malen und bildhauern in dieser neuen Tonart« (Berta Zuckerkandl  : Modernes Kunstgewerbe, in  : Die Zeit vom 3. November [1894], S. 72 f., hier S. 72). 57 Vgl. hierzu Simon Jander  : Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner – Hugo von Hofmannsthal – Gottfried Benn. Heidelberg 2008.

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fromme Weg zur Kirche, das ist heute der Gang zur Mystik«.58 Die profane Mystik der Moderne schien manchem die alte konfessionelle Bindung zu ersetzen. Was aber passiert mit dem kompensatorischen »Gang zur Mystik«, wenn der älter gewordene Jungwiener sich wieder den frommen Weg zur katholischen Kirche ermöglicht hat  ? Das soll im Folgenden beleuchtet werden an Texten von Hermann Bahr nach seiner offiziellen Reversion zum Katholizismus im Jahr 1913. Einen Übergang zu der rekatholisierenden Auseinandersetzung mit der Mystik im Jungen Wien bildet die Wiederentdeckung der deutschsprachigen mittelalterlichen Mystik als Sujet der Literaturkritik. 1908 erscheint ein Essay von Hermann Bahr mit dem Titel Gottfinder. Für den kundigen Leser wird durch diesen Titel bereits eine intertextuelle Spur gelegt, dass es in diesem Essay auch um Meister Eckhart geht, sprach dieser doch auch von den Gottsuchern und Gottfindern in seinen Traktaten  : »Alsô wart gesprochen von einem menschen, der sollte eines niuwen lebens beginnen von niuwem, und sprach ich alsô in dirre wîse  : daz der mensche sollte werden ein gotsuochender in allen dingen und gotvindender mensche ze aller zît und in allen steten und bî allen liuten und in allen wîsen«.59 Hier wendet sich Bahr zum ersten Mal ausführlich der deutschsprachigen Mystik der Vergangenheit zu. Anlass hierfür sind Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt  : Als erstes nennt Bahr die beiden neuen Meister-Eckhart-Ausgaben, zum einen die aus dem Eugen Diederichs Verlag mit ihrer deutschnationalen Einleitung von Hermann Büttner,60 zum anderen die poetisch-anarchisch inspirierte von Gustav Landauer.61 Des Weiteren verweist er auf eine Auswahl der Schriften Heinrich Seuses, verantwortet von dem Neuklassizisten Wilhelm von Scholz, und auf die Angelus-Silesius-Edition des Ex-Naturalisten Otto Erich Hartleben.62 Bahr sieht an Gustav Landauer, Wilhelm von Scholz und Otto 58 Rudolph Lothar  : Von der Secession, in  : Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift 1, 49 (1898), S. 813 f., hier S. 814. 59 Meister Eckhart  : Wie man gote volgen sol und von guoter wîse, in  : Ders.: Werke. Texte und Übersetzungen. Hg. von Niklaus Largier. Frankfurt a. M. 1993, Bd. 2, S. 412–419, hier S. 418. 60 Meister Eckeharts Schriften und Predigten. Hg. und aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Hermann Büttner. Zwei Bde., Leipzig 1903 und 1909. Vgl. hierzu Justus H. Ulbricht  : Durch »deutsche Religion« zu »neuer Renaissance«. Die Rückkehr der Mystiker im Verlagsprogramm von Eugen Diederichs, in  : Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900. Hg. von Moritz Baßler und Hildegard Châtellier. Straßburg 1998, S.  165–186. Niklaus Largier  : Mystik und Tat. Zur populär-publizistischen Eckhart-Rezeption zwischen 1900 und 1940, in  : Mittelalter-Rezeption IV  : Medien, Politik, Ideologie, Ökonomie. Gesammelte Vorträge des 4. Internationalen Symposions zur Mittelalter-Rezeption an der Universität Lausanne 1989. Hg. von Irene von Berg, Jürgen Kühnel, Ulrich Müller, Alexander Schwarz. Göppingen 1991, S. 27–49. Ingeborg Degenhardt  : Studien zum Wandel des Eckhartbildes. Leiden 1967, S. 233–238 und 250–261. 61 Meister Eckhart  : Mystische Schriften. Aus dem Mittelhochdeutschen in unsere Sprache übertragen von Gustav Landauer. Berlin 1903. Vgl. hierzu Thorsten Hinz  : Mystik und Anarchie. Meister Eckhart und seine Bedeutung im Denken Gustav Landauers. Berlin 2000. 62 Heinrich Seuse  : Eine Auswahl aus seinen deutschen Schriften. Mit einer Einleitung zur Suso-Ausgabe von

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Erich Hartleben, dass die Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen und barocken christlichen Mystik zunehmend auch ein Anliegen von Dichtern der Gegenwart im frühen 20. Jahrhundert wird. Das führt dazu, dass er keineswegs bloß eine Rezension dieser Herausgaben verfasst, sondern selbst einen Wiener Beitrag zu dieser Wiederentdeckung der historischen Mystik leistet und sich Gedanken macht über den kirchengeschichtlichen Ort der mittelalterlichen Mystik. Dem zu dieser Zeit, 1908, noch eher kirchenfernen (zumindest nicht offiziell katholischen) Bahr imponieren die mittelalterlichen Mystiker als vermeintliche Rebellen gegen die Institution, als individualistische Trotzköpfe, Figuren »der geistigen Vermessenheit, der geistigen Empörung wider jede Gewalt«.63 Mit der radikalen Lesart von Gustav Landauer und Hermann Büttner gestaltet Bahr die mittelalterliche Dominikanermystik zu einer brisant sozialrevolutionären und anachronistisch überkonfessionellen Angelegenheit. Bahr polarisiert den traditionellen Gläubigen, der sich mit dem Versprechen der Kirche auf eine Gottesbegegnung im Jenseits begnügt, mit der aufmüpfigen Unzufriedenheit der Mystiker, die eine Gottesbegegnung im Diesseits gegen die Dogmen der Kirche zu erzwingen bereit sind  : Wer gehorcht, das Gebot der Kirche hält und sich ihr anvertraut, dem sichert sie zu, dass er durch einen seligen Tod zu Gott kommen soll. Drüben. Jenseits. Aber den Schwärmern genügt das nicht. Sie können es nicht erwarten, sie haben nicht die Geduld. Sie harren nicht aus, bis der Tod sie rufen wird. Sie wollen es schon hier. Sie wollen Gott schon auf der Erde. Nicht nach dem Tode, nicht im Himmel erst, nein, gleich jetzt, noch hier, schon in unserem irdischen Leben hier wollen sie mit Gott zusammen sein, zur Erde herab soll er zu ihnen kommen.64

Aus der Perspektive der Kirche erscheint, laut Bahr, der Grenzraum, »wo der Heilige zum Ketzer wird« oft erschreckend schmal, und Bahr aktualisiert die mittelalterliche Mystik durch eine bemerkenswerte Personenzusammenstellung, wenn er resümiert, »wer sich zum Mystischen neigt, ist ihr [i. e. der Kirche] immer verdächtig, vom Meister Eckhart bis auf Don Romolo Murri«.65 Bahrs Zeitgenosse, der Priester Murri, gehörte der modernistischen Richtung der katholischen Kirche in Italien an und hatte sich mit 1829. Hg. von Wilhelm von Scholz. München, Leipzig 1906. Otto Erich Hartleben  : Angelus Silesius. Dresden 1896. 63 Hermann Bahr  : Gottfinder, in  : Ders.: Das Buch der Jugend. Wien, Leipzig 1908, S. 91–97, hier S. 92. 64 Ebd., S.  93 f. Noch anlässlich Landauers Ermordung erinnert Bahr an Landauers Wiederbelebung der Mystik  ; vgl. Hermann Bahr  : 21. April 1921, in  : Ders.: Liebe der Lebenden. Tagebücher 1921/23. Hildesheim 1925, Bd. 1, S. 130–137, hier S. 137. 65 Bahr  : Gottfinder (Anm. 63), S. 93.

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seinen Überlegungen zu einer Annäherung von Kommunismus und Katholizismus so weit nach vorn gewagt, dass er 1907 suspendiert und zwei Jahre später exkommuniziert wurde. Neben der von Landauer übernommenen sozialrevolutionären Interpretation Eckharts spielt zu dieser Zeit bei Bahrs Wahrnehmung der Mystik mit Sicherheit auch eine Rolle, dass er in der vermeintlich so traditionskritischen Haltung der Mystik gegenüber der Institution Kirche auch eine Analogie sehen konnte zu seiner eigenen poe­ ti­schen Dauerüberwindungsgeste, mit der er das ästhetische Traditionsverhalten der Jahrhundertwende permanent neu sortierte. Die Bewunderung für Meister Eckhart als »von allen [Mystikern] der Mildeste, der Weiseste, der Menschlichste« ist groß in diesem Essay von Bahr,66 und das hat auch damit zu tun, dass Meister Eckhart hier als ein regelrechter Vorläufer von Ernst Haeckel modelliert wird, und seine christliche Mystik einem profanen Monismus angenähert wird  : Meister Eckhart habe ausgesagt, »dass es nämlich Gott nur im Menschen selbst gibt, im einsamen Menschen, der, zu sich gekommen, hier sich und die Welt und Gott findet, welche dasselbe sind  ; verruchter monistisch hat keiner gepredigt, nicht eher noch später«.67 Bahr, der nach seiner Reversion betonen wird, niemals mit dem Monismus kokettiert zu haben,68 scheint hier doch beeindruckt von dem subjektiven Mut und der weltanschaulichen Aktualisierbarkeit von Meister Eckharts Lehren. Nach dem Ersten Weltkrieg amalgamiert der mittlerweile bekennende Katholik Bahr das Interesse an der historischen Mystik und ihrer Bedeutung für die Literatur mit der Frage, wie mystisches Erleben wissenschaftlich seriös empirisch erforscht werden könne. An einem aktuellen französischen Fall, dem von Romano Guardini ins Deutsche übersetzten Geistlichen Tagebuch der Lucie Christine,69 fragt Bahr nach Bedingungen und 66 Ebd., S. 95. 67 Ebd. Noch »verruchter monistisch« erscheint vielleicht parallel die neomystische Überhöhung des geschlechtlichen Miteinander bei Richard Dehmel, der verkündet  : »Ich kann zu keinem Gott mehr beten / als dem in dein-und-meiner Brust« (Richard Dehmel  : Zwei Menschen. Roman in Romanzen. Berlin 1911, S. 20). Das Paradies wird im Diesseits gesucht und gefunden in zwischenmenschlicher Heilsgewissheit. Hier frappiert die Sicherheit der Aussage und der Prophezeiung  : »Uns ging kein Paradies verloren, / es wird erst von uns selbst geboren. / Schon reift in manchem Schooß auf Erden / ein neuer Menschensohn« (ebd., S.  23 f.). Auffällig ist die Vervielfältigung der prophezeiten Erlösergestalten  ; schließlich scheinen »in manchem Schooß« Heilsbringer heranzuwachsen. In der Tat ist sich Dehmel durchaus bewusst, dass an die Stelle christlicher Heilsgewissheit nicht ein einziges Substitut allein treten kann. In pluralisierten und ausdifferenzierten Zeiten scheint es dementsprechend Teilzeiterlöser zu geben. So formuliert Dehmel in hieratischem Ton  : »Für jeden engsten Kreis ist heut / ein neuer Heiland uns von Nöten  : / der alte starb, zu dem ihr schreit  !« (Richard Dehmel  : Erlösungen. Eine Seelenwandlung in Gedichten und Sprüchen. Stuttgart 1891, S. 11). 68 Vgl. Bahr  : Vernunft und Wissenschaft (Anm. 30), S. 41. 69 Lucie Christine  : Geistliches Tagebuch (1870–1908). Hg. von P. Aug. Poulain S. J. nach der zweiten durchgesehenen und vermehrten Ausgabe von 1912 übersetzt von Romano Guardini. Düsseldorf 1921. Vgl.

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Äußerungsformen abendländisch christlicher Mystik in der Moderne. Bahr situiert das Journal spirituel der Französin (die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre Gebetserfahrungen in ein intimes Tagebuch notierte) in die literarische Tradition von Goethes Bekenntnissen einer schönen Seele, die Bahr wiederum (mit dem Heidelberger Germanisten Max von Waldberg) in der Nachfolge von Theresa von Ávila ansiedelt.70 An diesen Notaten interessiert Bahr die Beschreibung des mystischen Erlebnisses als visuelles und akustisches Phänomen. Er hadert mit der Übersetzung Guardinis vom französischen »vue« zur deutschen »Schauung«, bemüht sich um eine Abgrenzung von den Begriffen »Vision« und »Gesicht« und versucht auch, eine »Lichtempfindung« als Sonderform zu beschreiben. Die sinnliche Dimension des mystischen Moments ist für Bahr besonders deutlich, wenn Lucie Christine die Gottesbegegnung auch haptisch als körperlichen Kontakt und »Ergriffensein« beschreibt. Auch Lucie Christine nennt einmal ihre »Seele durch das Gefühl von Gottes Gegenwart ergriffen und gleichsam überflutet«. Nun ist ja jetzt unsere Sprache schon so verwaschen, daß man nie sicher ist, ob ein Wort auch wirklich das meint, was es sagt. »Ergriffen« setzt eigentlich einen »Griff« voraus, und so hätten wir auch hier zunächst einen Taktus. Auch Raptus, das Wort, das in der Mystik immer wiederkehrt, deutet auf dasselbe, Raptus ist Stoß, es drückt aus, daß jemand errafft worden ist.71

Es geht um eine leiblich »fühlbare Berührung«.72 Wie sich der autosuggestive Faktor und die »Mitwirkung des Willens an Visionen und Auditionen« genauer bestimmen und sich mithin das mystische Erlebnis verlässlich von »willkürlichen Halluzinationen« abgrenzen lasse, versucht Bahr auch in Rezensionen weiterer religionspsychologischer Studien zu ergründen.73 In der Karwoche pflegt Bahr nach dem Krieg Jahr für Jahr »das bittere Leiden unseres Herrn nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich in der Niederschrift Brentanos« zu lesen,74 und er ärgert sich ein wenig über Brentanos Lihierzu Bernhard Grom  : »Ich sprach zu dir, ohn’ alle Worte«. Die Mystikerin Lucie Christine (1844–1908), in  : Geist und Leben 81, 2 (2008), S. 112–124. 70 Vgl. Hermann Bahr  : 9. April 1923, in  : Ders.: Liebe der Lebenden (Anm. 64), Bd. 3, S. 97–103, hier S. 98 f. und Max von Waldberg  : Zur Entwicklungsgeschichte der schönen Seele bei den spanischen Mystikern. Berlin 1910. 71 Bahr  : 9. April 1923 (Anm. 70), S. 100 f. 72 So Bahr in  : 30. März 1920, in  : Ders.: Kritik der Gegenwart. Augsburg 1922, S. 98–104, hier S. 103. 73 Vgl. Bahrs Rezension von Willy Müller-Reif  : Zur Psychologie der mystischen Persönlichkeit. Berlin 1921, in  : Hermann Bahr  : 30. August 1923, in  : Ders.: Liebe der Lebenden (Anm. 64), Bd. 3, S. 212–216, hier S. 214 f. 74 Bahr  : 30. März 1920 (Anm. 72), S. 98. Gekürzt in  : Ders.: Mystik im Katholizismus, in  : Das neue Reich 41 (1920), S. 682 f.

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terarisierungen, die ihm den gewünschten Nachvollzug eines authentischen Erlebnisberichts torpedieren. Bahr beteuert zwar einerseits, dass die »zuweilen unwillkürlich leise fälschende Nachhilfe« des Dichters »weiter kein Leid getan« hätte, bemerkt dann aber doch mit spitzer Feder, dass Brentano bisweilen die Tendenz habe, bei einzelnen Episoden »ein Volkslied daraus« zu machen.75 Gleichzeitig bildet Brentanos Reversion natürlich für Bahr auch ein romantisches, literarisches Vorbild für seine eigene Rückwendung zum Katholizismus.76 Von Emmericks Gesichten kommt Bahr zu einer Studie des Beuroner Paters Alois Mager, der in der Benediktinischen Monatsschrift versucht hatte, »das Wesen mystischen Erlebens wissenschaftlich zu bestimmen«.77 An Magers Bemühung fasziniert Bahr die Versöhnung der Mystik mit den katholischen Institutionen, denn, so Bahr mit Mager, »mystisches Erleben [kann] den Glauben nur bestätigen, nicht aber ersetzen, noch entbehren«.78 Mystik im Katholizismus wird von Bahr gepriesen als ein Zugleich von höchster Subjektivität und »vollkommener innerer Bindung«, das er im bildkünstlerischen Bereich am gewaltigsten im Isenheimer Altar des Matthias Grünewald verwirklicht sieht.79 Alois Magers benediktinische Auseinandersetzung mit der Mystik fesselt Bahr hinfort, und er lobt ihn als den »beste[n] Kenner der Erscheinungen, die der oft mißbrauchte Name Mystik umfaßt«.80 Er liest mit Bedacht dessen Studie über den Wandel in der Gegenwart Gottes und findet dort eine neue Idee formuliert, die innerkirchliche Mystik an die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts anzupassen. Mager nämlich versucht, der Mystik ihren exklusiven Charakter zu nehmen, und betont die Notwendigkeit, dass das »Christentum an der Gesamtheit der Menschheit das vollbringt, was es bisher nur an Einzelmenschen vollbrachte«, und damit einen Bereich der Gotteserfahrung für alle öffnet, wo bisher nur Heilige und Mystiker Bürgerrecht hatten  : was wir im Mystischen bisher nur an wenigen Einzelpersönlichkeiten beobachten konnten, wird mit der Zeit aus innerer Wesens75 Vgl. Bahr  : 30. März 1920 (Anm. 72), S. 99. 76 Zu Brentanos Wendung zum Katholizismus vgl. Wolfgang Bunzel  : Clemens Brentanos Reversion. Zur Verschränkung von Religiosität und Autorschaft, in  : Figuren der Konversion. Friedrich Schlegels Übertritt zum Katholizismus im Kontext. Hg. von Winfried Eckel und Nikolaus Wegmann. Paderborn 2014, S. 239–262. Clemens Engling  : Die Wende im Leben Clemens Brentanos. Folgen der Begegnung mit Katharina Emmerick. Würzburg 2009. 77 Bahr  : 30. März 1920 (Anm. 72), S. 102. 78 Ebd., S. 103. 79 Ebd. Zu Matthias Grünewald als Projektionsfigur des renouveau catholique im deutschsprachigen Raum vgl. Achim Aurnhammer  : Joris-Karl Huysmans’ ›Supranaturalismus‹ im Zeichen Grünewalds und seine deutsche Rezeption, in  : Moderne und Antimoderne (Anm. 21), S. 17–42. 80 Bahr  : 20. Oktober 1921, in  : Ders.: Liebe der Lebenden (Anm. 64), Bd. 1, S. 336 ff., hier S. 336.

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notwendigkeit heraus zu einer Allgemeinerscheinung zu einem soziologischen Hauptfaktor werden.81

Alois Mager reagiert auf die grassierende mystische Mode, indem er daraus gewissermaßen ein egalitäres Anrecht an mystischer Erfahrung für jeden Christen ableitet. Bahr registriert dies und benennt diese anti-elitäre Tendenz durchaus kritisch als einen »Franziskanerhauch«, der sich hier mit uraltem »Benediktinergeist« vermische, und er erfindet für diese allgemeine Öffnung der persönlichen Gotteserfahrung den Begriff der »Demomystik«.82 Die neologistische »Demomystik« als eine Erscheinung für alle Gesellschaftsschichten versucht, die politische Demokratisierungserfahrung der Nachkriegszeit in religiöse Sphären zu überführen. Bahr steht dem skeptisch gegenüber. Er beobachtet es interessiert, aber er distanziert sich davon. Je katholischer Bahr wird, desto stärker versucht er, den Begriffsumfang der Mystik konfessionell wieder einzuhegen und abzugrenzen von alltagssprachlichen Verwendungen. Er unterscheidet klar eine mystische Mode von dem, »was der Katholik unter Mystik versteht. Wenn man heute schon jede […] leiseste Spur seelischer Empfindung oder auch nur des inneren Mitschwingens, Mitzitterns im Zusammenhang der Natur immer gleich mystisch nennt, ist das ein Mißbrauch des Wortes«.83 Neben Meister Eckhart tauchen in den 1920er Jahren auch Nikolaus Kempf von Straßburg und vermehrt Theresa von Ávila als mystische Vorbildfiguren auf.84 Auch die mittelalterliche Frauenmystik wird von Bahr registriert. Er beschäftigt sich etwa mit Margarete Ebner, Mechthild von Hackeborn, Mechthild von Magdeburg und Gertrud von Helfta.85 Mystik verbürgt sich so für Bahr immer mehr historisch und wird immer mehr von gegenwärtigen Debatten abgegrenzt. Bahr betont 1922, Mystik »hat also weder mit monistischen Waldeinsamkeitstrunkenheiten, vor deren Erbrechen schon Mephisto den Faust warnt, noch mit den jetzt so beliebten okkulten Abendunterhaltungen das mindeste gemein«.86 Während Bahr 1894 noch an einem okkultistischen Roman von Péladan erläutert hatte, was 81 Ebd., S. 337. Vgl. Alois Mager  : Der Wandel in der Gegenwart Gottes. Eine religionsphilosophische Betrachtung. Augsburg, Stuttgart 1921, S. 80 f. 82 Vgl. Bahr  : 20. Oktober 1921 (Anm. 80), S. 337. 83 Hermann Bahr  : Gebet und Mystik, in  : Das neue Reich 4 (1922), S.  581 f., hier S.  581. Dieser Artikel rezensiert am Ende wohlmeinend Martin Grabmann  : Wesen und Grundlagen der katholischen Mystik. München 1922. Zu Bahrs katholischer Publikationspolitik in den 1920er Jahren vgl. Primus-Heinz Kucher  : »Kathokult« – Hermann Bahrs kulturpolitische Glossen in katholischen Programmzeitschriften nach 1918, in  : Traditionsbrüche. Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr. Hg. von Tomislav Zelíc. Frankfurt a. M. 2016, S. 103–118. 84 Vgl. Bahr  : Gebet und Mystik (Anm. 83), S. 582. 85 Vgl. Hermann Bahr  : 30. August 1923, in  : Ders.: Liebe der Lebenden (Anm. 64), Bd. 3, S. 213. 86 Bahr  : Gebet und Mystik (Anm. 83), S. 582.

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er unter moderner Mystik versteht,87 versucht er nach dem Ersten Weltkrieg, Okkul­ tismus, Spiritismus und Magie scharf vom Begriff der Mystik zu scheiden. Es geht ihm darum, »die Grenze zwischen dem Versinken in Gott und dem Verschwimmen in Natur, zwischen Vergottung und Selbstvergötterung unverwischt« kenntlich zu machen.88 Anlässlich einer im Insel Verlag situierten neuen Ausgabe einiger Schriften von Paracelsus macht sich Bahr über die gegenwärtig »gierig mystelnde Zeit, in der auf allen Dächern die Spatzen Geheimnisse pfeifen«, lustig.89 Er versucht, den Gründen für die Renaissance der Mystik im frühen 20.  Jahrhundert und den Ursachen für die zahlreichen esoterischen Relektüren der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystiker auf die Spur zu kommen  : Nie hat man sich, scheint’s, mehr für die Begegnung mit Gott interessiert, als seit man nicht mehr an ihn glaubt. Das ist gar nicht so paradox, als es klingt  : hat einer erst seinen Gott abgeschafft, so gönnt er auch den anderen ihren nicht mehr, und lassen sie sich ihn nicht nehmen, schafft sich der eitle Snob flugs einen neuen an, und einen viel bequemeren, der auch in die geistige Mode viel besser paßt  : einen Gott in Eigenregie. Darauf ist es ja heute von den Schwarmgeistern abgesehen  : jeder kocht sich seinen Gott zu Hause selbst. Komisch ist dabei nur, daß man für dieses Exsudat der eigenen Lust und Laune dann aber doch auf einmal allgemeine Gültigkeit, ja fast eine gewisse Wirklichkeit anspricht, der deunculus wird mit Würde wattiert und um ihm einen Schein von Legitimität zu geben, vor allem geschwind mit einer gefälschten Ahnentafel versehen  : jeder Sudelkoch datiert den Brei seiner neuesten Freireligiö­ serei mindestens bis auf den Meister Eckhart zurück, so wenig glauben sie selber an ihren eigenen abergläubigen Unglauben  !90

Es handelt sich für Bahr also bei diesem wiedererwachten außerkirchlichen Interesse an der mittelalterlichen Mystik lediglich um eine aufhübschende Ahnensuche des modernen Monismus, und dies ist für Bahr nach seiner Rückwendung zum Katholizismus nicht statthaft, weil diese neomystische Filiationsstiftung lediglich eine mangelnde Überzeugung von der eigenen freireligiösen Sache zu kompensieren suche. Die vielen

87 Es handelte sich dabei um Péladans La Victoire du mari von 1889. 88 Hermann Bahr  : 7. Februar 1922, in  : Ders.: Liebe der Lebenden (Anm. 64), Bd. 2, S. 37–44, hier S. 38 f. sowie Ders.: Magie, in  : Ders.: Labyrinth der Gegenwart. Hildesheim 1929, S. 78 f. 89 Bahr  : 7. Februar 1922 (Anm. 88), S. 37. Bahr mag Paracelsus gar nicht, denn dessen »bombastische[.] Sätze« und »gewaltsame[r] Glauben an sich selbst« stoßen ihn ab (ebd., S. 41). Paracelsus gehört für Bahr zu den »Denkern, die von Einfällen weit über ihre Verhältnisse leben« (ebd., S. 42). Ähnlich auch in Bahr  : Magie (Anm. 88), S. 79. 90 Bahr  : 7. Februar 1922 (Anm. 88), S. 37 f.

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»Deunculi« der Moderne können für Bahr nicht mehr den Providentissimus Deus der Katholiken ersetzen. Gleichzeitig versucht Bahr, der Mystik-Lektüre ein erdendes Gegengewicht zu verschaffen, spricht von den »strebenden Kräften« der Mystik, denen basal tragende Kräfte an die Seite gestellt werden müssten.91 Mystik und Scholastik, so lautet seine Lösungsformel in den 1920er Jahren, müssen einander ergänzen und haben einander in der Vergangenheit auch ergänzt. Historisch bekräftigt er diese Kombination, indem er betont, »der Meister Eckhart hat vor Thomisten gepredigt  !«92 Dass er damit implizit auch seine eigene frühere (durch Gustav Landauer geprägte) traditionskritische Eckhart-Lektüre korrigiert, erläutert Bahr, wenn er retrospektiv eine jugendlich-rebellische subjektive Eckhart-Lektüre von einer altersreifen objektiven abgrenzt  : Ich, der ihn [i. e. Meister Eckhart] erst wild, später aber immerhin mit einem freilich dürftigen Vorgeschmack thomistischer Zucht las, kann aus eigener Erfahrung reden  : anfangs schien’s auch mir damals bloß ein gelindes Geistesgaukelspiel, fast auffordernd zu tänzelnder Häckelei  ; den ungeheuren Ernst der inneren Bindungen vernahm ich erst das zweitemal.93

Diese »inneren Bindungen« rücken immer mehr ins Zentrum von Bahrs Überlegungen. Nur wo diese Bindungen an die Lehre der katholischen Kirche gewährleistet sind, mag Bahr noch von legitimer Mystik sprechen. Ein Glücksfall einer solchen bindungsbereiten Neuinterpretation der mittelalterlichen Mystik im 20. Jahrhundert findet Bahr in Willibrord Verkades Translation von Jan van Ruysbroeks chierheit van der gheestelijcker brulocht ins Neuhochdeutsche. In Anlehnung an Augustinus’ De trinitate schilderte Ruysbroek in seinem mystischen Hauptwerk aus dem 14. Jahrhundert nacheinander geordnet in drei Teilen drei Stadien der seelischen Heimkehr zu Gott. Und er tat dies, ohne in Widerspruch zu den Dogmen der katholischen Kirche zu geraten. Verkades Übertragung aus dem Mittelniederländischen ist für Bahr wegen ihres Übersetzers und wegen ihrer symbolistischen Vorgeschichte kulturbedeutsam. Jan Verkade war ein niederländischer Maler, der nach Lehrjahren bei Gauguin in Paris zur katholischen Kirche fand, 1894 als Novize in die Benediktiner Erzabtei Beuron eintrat, den Namen Willi-

91 Ebd., S. 39. 92 Ebd. 93 Ebd. Mit dieser Deutung, die Meister Eckhart näher an die Scholastik anbindet, greift Bahr die ältere dominikanische Interpretation des Eckhart-Editors Heinrich Denifle wieder auf und präludiert gewissermaßen auch Positionen Kurt Ruhs. Vgl. hierzu etwa Kurt Ruh  : Vorbemerkung zu einer neuen Geschichte der abendländischen Mystik im Mittelalter, in  : Ders.: Scholastik und Mystik im Spätmittelalter. Hg. von Volker Mertens. Berlin, New York 1984, S. 337–363, hier besonders S. 346 ff.

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brord erhielt und 1902 zum Priester geweiht wurde.94 Als Leiter der Beuroner Kunstschule vermittelte Verkade ästhetische Konzepte der Pariser Künstlergruppe Nabis in deutsch-katholische Kontexte und stellte Beuroner Gemälde 1905 in der Wiener Sezession in einer spektakulären Ausstellung vor.95 Dieser Maler-Mönch mit Pariser Vergangenheit teilte mit Bahr eine weltlich-französisch inspirierte künstlerische Frühphase und eine darauf folgende Hinwendung zum Katholizismus. Bahr beobachtete Verkades Entwicklung und rezensierte dessen Lebenserinnerungen enthusiastisch.96 Die Beiden kannten sich persönlich seit 1917 und waren befreundet.97 1922 reformuliert Bahr Verkades Entwicklung folgendermaßen  : Willibrord Verkade, Holländer, Mennonit und Maler von Geburt, ohne Gott aufgewachsen, Schüler Gauguins, in diesem Kreis der dem Naturalismus absagenden, nach Geheimnissen verlangenden, mit Magie spielenden Nebiim aus seinem arglosen Weltsinn aufgeschreckt, eben um diese Zeit, als er, vierundzwanzigjährig, zum erstenmal bei den »Indépendants« ausstellte und zur Pariser Aufführung von Maeterlincks »Les sept princesses« den Vorhang malte, schon in Pascals »Pensées« und in die Nachfolge Christi vertieft, doch sie noch als richtiger Aesthet bloß artistisch genießend, dann aber höchst geheimnisvoll unmerklich, ja fast widerwillig zu Gott gedrängt, wirklich wie durch ein Wunder, wenn man es ihn erzählen hört (in seinem leuchtenden Buch »Die Unruhe zu Gott« […]) endlich bei den Jesuiten in Vannes getauft im August 1892, aber schon im Juni 1894 Novize der Benediktiner zu Beuron  : dieser Hellste von allen Menschen, denen ich begegnete, hat nun des seligen Jan van Ruysbroeck um ihrer undurchdringlichen Dunkelheit willen verrufene »Zierde der geistlichen Hochzeit« übersetzt.98

94 Vgl. Harald Siebenmorgen  : Avantgarde und Restauration. Die Verbindlichkeit des ideellen Bildthemas um 1900, in  : Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Hg. von Wolfgang Braungart, Gotthard Fuchs und Manfred Koch. Paderborn 1998, Bd. 2  : Um 1900, S. 233–265. 95 Vgl. Harald Siebenmorgen  : Die »Beuroner Kunstschule« und Wien, in  : Avantgardist und Malermönch. Peter Lenz und die Beuroner Kunstschule. Hg. von Velten Wagner. Hildesheim 2007, S.  19–32. Adolf Smitmans  : Die internationale Rolle der Beuroner Kunstschule um 1905, in  : Erbe und Auftrag 61 (1985), S. 188–196. Hubert Krins  : Beuroner Kunst in der Wiener Secession 1905–2005. Beuron 2007. Annegret Kehrbaum  : Die Nabis und die Beuroner Kunst. Jan/Willibrord Verkades Aichhaldener Wandgemälde (1906) und die Rezeption der Beuroner Kunst durch die Gauguin-Nachfolger. Hildesheim 2006. Claire Barbillon  : Die Schule von Beuron und die Nabis. Spirituelle Gemeinsamkeiten, theoretische Übereinstimmungen, in  : Avantgardist und Malermönch (s.o.), S. 39–50, hier S. 39 ff. 96 Vgl. Willibrord Verkade  : Die Unruhe zu Gott. Erinnerungen eines Maler-Mönches. Freiburg 1920. Hierzu Hermann Bahr  : Die Unruhe zu Gott, in  : Hochland 17 (1920), S. 530–535. Ders.: Maler Mönch, in  : Vossische Zeitung vom 18. Juni 1920. Ders.: Verkade, in  : Ders.: Bilderbuch. Leipzig, Wien 1921, S. 131–141. 97 Vgl. hierzu knapp Müller  : Das »Selbstbildnis« als Quelle (Anm. 21), S. 180 ff. 98 Hermann Bahr  : 20.  Oktober 1922, in  : Ders.: Liebe der Lebenden (Anm.  64), Bd.  2, S.  234–238, hier S. 234.

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Wenn Verkade, dieser bildkünstlerische »Zwillingsgeist« von Bahr,99 1922 Jan van Ruysbroeks mittelalterlichen Text ins Neuhochdeutsche überträgt, greift er ein ästhetisches Projekt der 1890er Jahre wieder auf, das Hermann Bahr seinerzeit allerdings eher nebenbei registriert hatte. 1891 hatte der junge Maurice Maeterlinck Ruysbroeks mystisches Hauptwerk ins Französische übersetzt, und Bahr nahm dies damals zum Anlass, dem Wiener Publikum den neuen Maeterlinck vorzustellen, der »noch ernster, noch dunkler geworden« war.100 Verkades Neuübersetzung von Ruysbroek versteht sich als ein heller Gegenentwurf zu Maeterlincks hermetisch-düsterer Translation des Fin de Siècle. Verkade distanziert sich explizit von Maeterlincks Verbildlichung Ruysbroeks als »ein trunkner Adler, schwebend über schneebedeckten Berggipfeln« und stemmt sich gegen Maeterlincks Auffassung, »es gäbe keine Ordnung in seinen [i. e. Ruysbroeks] Schriften, alle scholastische Logik fehle«.101 Dagegen betont Verkade  : Wie töricht ist aber die Vorrede Maeterlincks zu seiner Übersetzung  ! Wie falsch beurteilt er unseren Seligen  ! Er ein trunkner Adler, ein lallendes Kind, ein Darsteller, der keine Ordnung und keinen architektonischen Aufbau kennt  ? Und das sagt Maeterlinck, nachdem er die ›Zierde der geistlichen Hochzeit‹ übersetzt hat  ? Grade das Gegenteil ist der Fall. Wer schaut denn mit unerschütterten Augen in das hellste Licht  ? Wer findet noch Worte, da wo Ruysbroeck das Tiefste und Verborgenste klar beschreibt  ? Welches Werk ist schöner aufgebaut als die »Zierde der geistlichen Hochzeit«  ?102

Diese rhetorischen und suggestiven Fragen etablieren einen formbewussten Mystiker mit objektiven Bindungen, wie ihn auch Bahr in den 1920er Jahren sucht. Dementsprechend freut sich Bahr über Verkades Ruysbroek und grenzt ihn ebenfalls von Maeter­ lincks Fassung ab, deren damalige Wirkung aus der »Kraft seiner Sehnsucht nach den Geheimnissen« erklärlich gewesen sei, »au delà des cercles sûrs de la conscience ordinaire, au delà de la science positive et de la spéculation rationnelle«.103 Maeterlincks Tendenz, »das Verhüllte lieber noch mehr zu verhüllen, das Dunkel zu heiligen, indem  99 Den Begriff des »Zwillingsgeists« borge ich mir von Bahr, der ihn auf Maurice Barrès appliziert, um dessen katholische Wendung mit seiner eigenen zu parallelisieren  ; vgl. Bahr  : Selbstbildnis (Anm.  3), S. 238. 100 Hermann Bahr  : Der neue Maeterlinck, in  : Die Zeit vom 7. März 1896, S. 157 f., hier S. 157. Bereits 1894 hatte Bahr in einem Artikel über Camille Mauclair auf Ruysbroek aufmerksam gemacht. Vgl. Hermann Bahr  : Camille Mauclair, in  : Die Zeit vom 8.  Dezember 1894, S.  154 f., hier S.  155. Vgl. auch Ders.: Emerson, in  : Die Zeit vom 29. Dezember 1894, S. 199. 101 Willibrord Verkade  : Vorwort, in  : Jan van Ruysbroeck  : Die Zierde der geistlichen Hochzeit. Aus dem Flämischen von Willibrord Verkade. Mainz 1922, S. 1–9, hier S. 1 f. 102 Ebd., S. 5. 103 Bahr  : 20. Oktober 1922 (Anm. 98), S. 235.

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er es noch mehr verdunkeln ließ«, hält Bahr nicht mehr für zeitgemäß.104 Verkades Übersetzung ist hingegen für Bahr vorbildlich, da hier die inneren Bindungen, Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten jenseits des Enigmatischen sichtbar werden. Verkades Ruysbroek führt den Leser »in eine von ihren eigenen Gesetzen beherrschte Welt und man muß für diese Gesetze das Gehör haben«, das Maeterlinck, so das retrospektive Urteil, fehlte.105 Es ist Bahr nach dem Ersten Weltkrieg auch wichtig, die Mystik vom Ruch des Exotismus zu befreien und ganz in abendländische Denktraditionen rückzubinden. Er wehrt sich gegen Tendenzen, asiatische Formen, etwa der hinduistischen Mystik, zu rezipieren, da dies prinzipiell bedeute, die Mystik nicht als eigenen christlichen Traditionsbestand zu verinnerlichen, sondern auf Abstand zu halten  : Man will sich am Übersinnlichen […] die Nerven frottieren, aber nur ja nicht am Ende sich wirklich damit einlassen müssen. Man bezieht es deshalb möglichst weit her, räumlich weit, aus Hinterasien, oder zeitlich weit, von Urvölkern  ; es soll nach Kuriosität schmecken, und je deutlicher es einen Zusatz von Schwindel und Hokuspokus zeigt, desto willkommener.106

Je weniger Bahr bereit ist, solchermaßen die Mystik aus der zeitlichen und räumlichen Ferne in die europäische Gegenwart zu importieren, desto mehr schiebt sich auch eine nationale Perspektive auf die Mystik in den Vordergrund. 1924 erscheint in der katholischen Zeitschrift Das Neue Reich eine Kompilation von zwei Artikeln von Bahr unter dem Titel Vom Wesen des Deutschen, in der das Mystische zum nationalen Merkmal erklärt wird.107 Bahr konstatiert eine allgemeine Unsicherheit seiner Zeit über das, was eigentlich deutsch sei  : Der Deutsche scheint an seinem eigenen Wesen, an dem eben noch die Welt genesen sollte, selber irre geworden, er traut dem eigenen Gefühl nicht mehr, er fragt herum, was denn eigentlich deutsch sei, der Name hat seinen alten Sinn verloren, man sucht einen neuen, jeder will einen anderen. Dem Deutschen ist es zur Stunde wichtiger, Monarchist oder Republikaner zu sein als deutsch, denn unter Republik oder Monarchie kann er sich noch allenfalls etwas vorstellen, aber Deutsch ist ein leerer Schall geworden, das Wort sagt ihm jetzt nichts

104 Ebd., S. 236. 105 Ebd., S. 237. 106 Hermann Bahr  : 9. April 1923, in  : Ders.: Liebe der Lebenden, Bd. 3 (Anm. 73), hier S. 97. 107 Hermann Bahr  : Vom Wesen des Deutschen, in  : Das Neue Reich 6 (1924), S.  1074 f. Die Kompilation bezieht sich auf die Einträge vom 12. Oktober 1923 und vom 10. Oktober 1923, in  : Ders.: Liebe der Lebenden (Anm. 64), Bd. 3, S. 256–259 und 255 f.

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mehr. Jeder ist jetzt auf eigene Faust deutsch und jeder schreibt, um das festzustellen, darüber ein Buch, das niemand liest.108

Auf diese allgemeine nationale Ratlosigkeit antwortet Bahr mit einer spezifischen Form mystischen Sprechens, das Unsagbare zu beschreiben. Das Ringen um die nationale Definition gerät bei Bahr selbst zu einem mystischen Unterfangen  : »Das Wesen des Deutschen ist unaussprechlich, es kann nicht benannt, es kann durch kein Wort ergriffen, es kann nur tönend vernommen und im Bilde gezeigt werden«.109 Das Unaussprechliche des Deutschen führt nun aber keineswegs zum Verstummen, sondern, analog zur Rede des Mystikers, zu hyperbolischen, tautologischen und paradoxen Bemühungen, das Wesen des Deutschen approximativ zu erfassen. Die Argumentationsstruktur der apophatischen Theologie wird in einen negativen Nationalismus überführt, der das Wesen des Deutschen durch das bestimmt, was es nicht ist. Eine solche Rhetorik der nationalen Verrätselung und hermetischen Auratisierung nähert sich noch einmal Sprechweisen der Jahrhundertwende, wenn dort der Mystikbegriff genutzt wurde, um die dekadenten Kunstwelten eines Des Esseintes noch enigmatischer und begehrenswerter erscheinen zu lassen. Jetzt wird der Unsagbarkeitstopos nicht für ästhetische, sondern für nationale Zwecke eingespannt. Aber wenn er das Deutsche mit dem Mystischen verquickt, sieht er auch Risiken. Angesichts eines solchen drohenden politischen Mystizismus ist es Bahr besonders wichtig, die deutschen Mystiker des Mittelalters als katholische Vorbildfiguren zu modellieren, die keineswegs sozial rebellisch, sondern im Einklang mit der scholastischen Ordnung ihre subjektiven Erlebnisse sprachlich nachvollziehbar machen. Hier sieht er den »Segen verborgener, schamhafter, verschwiegener Mystik« und grenzt sie harsch ab von dem gegenwärtigen »Unheil, das von mystischen Gecken, Snobs und Gauklern, von Bravourmystikern, Salonmystikern und Industriemystikern angerichtet worden ist«.110 Die Entwicklung von der modernen Mystik der Jahrhundertwende zur rekatholisierenden Form lässt sich vielleicht so resümieren  : »Mystik« ist in den 1890er Jahren im Jungen Wien ein Integrationsbegriff und fungiert als Sammelbezeichnung für subjektive postnaturalistische Literaturströmungen mit ästhetischen Entgrenzungsphantasien. Diese Moderne Mystik versteht sich antirational und außeralltäglich und wird kombiniert mit anderen Reizworten der Epoche, wie dem der Nerven oder der Stimmung. Vor allem aber wird Mystik durch Bahr mit der Décadence enggeschlossen, und die geheimbündlerische Dunkelmänner-Assoziation unterläuft dabei nicht nur unbeabsichtigt, 108 Bahr  : 12. Oktober 1923 (Anm. 107), S. 257. 109 Ebd., S. 258. 110 Hermann Bahr  : Mystisch II, in  : Münchner Neueste Nachrichten vom 16. November 1924, S. 1 f., hier S. 2.

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sondern wird bewusst forciert. Die aus Frankreich importierte mystische Décadence zieht ihren Reiz aus einer nicht ganz gesellschaftsfähigen Antibürgerlichkeit, sie spielt mit dem Geruch des Unerlaubten und strapaziert eine Nähe zu Okkultismus, Spiritismus und Magie. Mystik wird zur Formel der Wiederverzauberung einer entfremdenden modernen Welt, und im poetischen Kontext rückt sie in begriffliche Nähe zur dichterischen Einbildungskraft (Kassner). Narratologisch gewendet perspektiviert diese psychologisch aufgeschlossene Mystik auch die verinnerten Erzählweisen des Jungen Wien (Fels, Messer). Wenn man etwas mystisch nennt im Wien der 1890er Jahre, dann tut man dies auch, um es aufregender, hermetischer und avantgardistischer zu machen. Der Begriff bleibt darüber hinaus unspezifisch, hat keine klar umrissene Benennungsfunktion und fungiert eher als Code, mit dem sich eine kleine Künstlergruppe identifizieren kann in bewusster Abgrenzung gegenüber einer traditionellen Ästhetik. Je populärer das Reden von der Mystik um 1900 wird, desto weniger funktioniert die Moderne Mystik noch als Erkennungszeichen der Eingeweihten. In dem Moment, wo die Mystik Mode wird, ist sie nicht mehr tauglich, eine Gruppe nach außen abzugrenzen. In dieser Phase differenziert sich auch der Begriff. Während sich Fritz Mauthner als Sprachskeptiker der apophatischen Theologie und der sprachschöpferischen Kraft der Mystik zuwendet,111 interessiert sich Bahr eher für die traditionskritische Haltung der Mystik. Die weltanschauliche Wiederentdeckung Meister Eckharts im Eugen Diederichs Verlag in Jena hat hier auch Rückwirkungen auf das Junge Wien. Man übernimmt erst einmal die überkonfessionelle Interpretation der Mystiker und deutet sie als institutionenkritische Rebellen. Der vermeintliche Kampf gegen die Kirche wird analogisiert mit dem Kampf gegen eine alte Literatur. Hermann Bahr, der sich gern als der große Überwinder stilisieren lässt, parallelisiert implizit in diesem Sinn die Mystik mit der ästhetischen Avantgarde, die ihr Selbstverständnis als streitbarer Vorkämpfer pflegt. Mit der Rückwendung der österreichischen Autoren zur konfessionell gebundenen Religion verschiebt sich auch ihre Auffassung der Mystik. Zu dem Zeitpunkt, als die älter gewordenen Jungwiener selbst nicht mehr zur ästhetischen Avantgarde gehören und ihnen von den nachfolgenden Strömungen des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit explizit die Modernität aberkannt wird, schimmert auch ihr Mystikverständnis nicht mehr bilderstürmerisch, sondern institutionenkonform. Bei Hermann Bahr erscheint die mittelalterliche Mystik nach dem Ersten Weltkrieg als Parallelbewegung zur Scholastik, die sie ergänzt, aber ihr nicht widerstrebt. Die Mystik wird historisiert, klar, abendländisch, christlich und katholisch beschrieben, und der ehemals diffus 111 Vgl. hierzu Waldemar Fromm  : Vom »Humor« über die Sprachkritik zur Mystik – Zur Entwicklung von Mauthners Literaturverständnis im Vergleich (Vischer, Holz, Hofmannsthal, Rilke), in  : An den Grenzen der Sprachkritik. Fritz Mauthners Beiträge zur Sprach- und Kulturtheorie. Hg. von Gerald Hartung. Würzburg 2013, S. 207–230.

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weite Begriffsumfang eingegrenzt. Aus einer monismusaffinen gottlosen Schwärmerei der Gegenwart wird eine Sonderform katholischer Frömmigkeit des Mittelalters. Okkultismus, Spiritismus und Magie haben nichts mehr mit dieser Form von Mystik zu tun. In diesem Zusammenhang werden mystische Projekte des Fin de Siècle wieder aufgegriffen und umgedeutet. Bezeichnend ist hierbei Bahrs Begeisterung für Willibrord Verkades Neuübersetzung von Jan van Ruysbroeks mystischem Hauptwerk, die gegen Maeterlincks Translation von 1891 ausgespielt wird als die wahre Mystik mit »inneren Bindungen«. Diese neukatholische Mystik ist nicht mehr dunkel, geheimnisvoll und selbstbezüglich, sondern klar strukturiert und erkennt die kirchlichen Hierarchien an  ; sie sucht die Form.112 Diese Nachkriegsmystik der älter gewordenen Jungwiener ist aber auch nur bedingt nationalen Vereinnahmungen gegenüber aufgeschlossen, und das mag eine österreichische Besonderheit und habsburgisches Erbe des Vielvölkerstaates sein. Der Österreicher Bahr warnt 1924 im einvernehmlichen »wir«, dass die Deutschen, »wir vielleicht mehr als irgend ein anderes Volk von der Gefahr einer ausschweifenden Mystik bedroht« sind, da hier »der Drang nach Unendlichkeit stärker« sei als das »Verlangen nach Vollendung« und nirgendwo sonst so oft das »Unermeßliche« mit dem »Maßlosen« verwechselt werde.113

3. »Jüdisches Oberammergau«  ? Traumwirklichkeiten und Künstlerfiguren in Richard Beer-Hofmanns Weihespiel Jaákobs Traum (1918)

Nachdem Richard Beer-Hofmanns biblisches Drama Jaákobs Traum im Herbst 1919 in der Regie von Max Reinhardt in Berlin aufgeführt worden war, erschien im Hamburger Fremdenblatt eine Rezension, die sich schwer tat mit dem ästhetisch-religiösen Anspruch des jüdischen Mysterienspiels, das als Präludium zum Zyklus über Die Historie von König David konzipiert war  : Nach dem Vorspiel zu schließen, soll es ein jüdischer Nibelungen-Ring werden, oder besser gesagt, ein Mittelding zwischen einem jüdischen Faust und einem jüdischen Parzifal, und wenn die Zionisten ihr Ziel erreichen sollten, so würden sie beim Einzug in Jerusalem um ein Weihspiel nicht verlegen sein. Freilich, es mischt sich in dieses jüdische Bayreuth viel jüdi112 Bezeichnend für diese Suche nach der Form ist Bahrs Tagebucheintrag vom 10.  Oktober 1923 (Anm. 107), S. 255 f. 113 Hermann Bahr  : Mystisch, in  : Münchner Neueste Nachrichten vom 15. November 1924, S. 1 f., hier S. 1.

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sches – Oberammergau. Das Menschliche erstickt im Nationalistischen. Moses ist stärker als die Propheten, der Rassen- und Religionskämpfer Beer-Hofmann stärker als der Religionsund Kulturphilosoph. […] Etwas von dem Hochmut des auserwählten Volkes hat aller Nationalismus an sich, und Hochmut im Leiden kann noch abstoßender wirken als Hochmut im Glück. Unwiderstehlich, wenn auch wohl gegen den Willen des Dichters, klingt das hindurch auch in Beer-Hofmanns Gesang vom auserwählten Volk. Ob aber Jude oder Christ, diese Art Nationalismus sollten gerade wir Deutschen von 1919 in ihrer Unwahrhaftigkeit überwunden haben.114

Dieser Rezensent war nicht der Einzige, der mit Beer-Hofmanns Dramatisierung des auserwählten Volkes und ihrer biblischen Gründergestalt Jaákob seine Schwierigkeiten hatte. Hugo von Hofmannsthal hatte sich für die Uraufführung von Jaákobs Traum am Wiener Burgtheater im April 1919 in der Regie von Albert Heine beim Ehepaar BeerHofmann wegen eines starken Katarrhs und Fieber entschuldigen müssen, fügte aber in einem Brief an seinen Freund Richard Beer-Hofmann am Ostersonntag 1919 an, dass ihm diese Verhinderung nicht unlieb war, denn  : Im Bette liegend, hab ich mir eingestanden, daß ich dem Zufall dankbar war, der mich die Aufführung Ihres Stücks […] versäumen ließ. […] Mir geht es eigen mit dem Stück. In der Erinnerung wird mir der Zug, der mir fremd darin ist, der chauvinistische oder national-stolze – worin ich, wie im Dünkel u. in der Selbstgerechtigkeit des einzelnen, nicht anders kann als die Wurzel alles Bösen sehen – weit fühlbar und verstört mich beinahe wie ein fremder u. böser Zug in einem sonst lieben u. schönen Gesicht.115

Hofmannsthal und der Rezensent des Hamburger Fremdenblatts hadern gleichermaßen mit dem religiösen Pathos und dem bisweilen monumentalen Ton, mit dem Beer-Hofmann die israelitische Gründungsgeschichte auf die Bühne bringt. Die zeitgenössischen Vorwürfe des »jüdischen Oberammergaus« und des »chauvinistisch« Nationalistischen ziehen Zweifel an der künstlerischen Dignität mit der Skepsis gegenüber der weltanschaulichen Ausrichtung des Dramas zusammen. Es geht bei der abschätzig intendierten Formel vom »jüdischen Oberammergau« nicht nur um eine Religionskritik, sondern auch um die Vorstellung, dass die intensive religiöse Absicht hier vielleicht auch negative ästhetische Folgen zeitigt. Der Rezensent des Hamburger Fremdenblatts bemisst die religiöse Dichtung nach poetischen Kriterien und scheint zu einem ähnlichen 114 [Ck  :] Beer-Hofmann  : »Jaákobs Traum«, in  : Hamburger Fremdenblatt vom 14. November 1919, S. 2. 115 Brief Hugo von Hofmannsthals an Richard Beer-Hofmann vom 20.  April 1919, in  : Hugo von Hofmannsthal  – Richard Beer-Hofmann  : Briefwechsel. Hg. von Eugene Weber. Frankfurt a.  M. 1972, S. 144 ff., hier S. 145.

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Ergebnis zu kommen wie Gottfried Benn gegenüber der religiös tingierten Dichtung seiner Zeit  : »Die Götter tot, die Kreuz- und die Weingötter, mehr als tot  : schlechtes Stilprinzip, wenn man religiös wird, erweicht der Ausdruck«.116 Arnold Zweig wiederum begrüßte in einer Rezension zwar das religiöse Selbstbewusstsein Beer-Hofmanns (»Hier hat der Jude sich selbst […] bejaht  : und dieses Ja, in deutscher Sprache adelnd eingeboren, wird stehen bleiben«117), aber auch Arnold Zweig ging mit der Art und Weise der ästhetischen Umsetzung dieses jüdischen Bekenntnisses hart ins Gericht, denn ihm schien Jaákob zu sehr katholisierend als Heiliger verklärt, das List- und Betrugsgeschehen neuklassizistisch geglättet und die versifizierte Sprache dem Sujet unangemessen. Einen solchen dämpfenden Stilwillen kennzeichnet Zweig als typisch für die älter gewordenen Jungwiener. Es ist für ihn ein überholter literarischer Ausdruck. Angemessen wäre es für Zweig gewesen, das Junge und Ungestüme in Jaákobs jüdischer Gestalt annehmen zu lassen, in Beer-Hofmanns Werk dagegen tritt etwas Entgegengesetztes ebenso stark ins Licht  : das Reife und Geklärte im Juden. […] In Hofmannsthal und Schnitzler walten ähnliche Ströme […]. Die anti-naturalistische Aufgabe der Gestaltung von Symbolen, biblischer Gestalten und gar leuchtender Erzengel und ihrer Sphäre hat eine Gefahr, und ihr ist Beer-Hofmann bisweilen nicht entronnen  : statt des Schönen, das absichtslos entsteht, das gewollt Schöne zu geben, das Allzuedle, das leicht Konventionelle und Glatte  ; Legendenglanz, aber ein wenig zu golden, zu romanisch farbenvoll, zu katholisch. Der Blankvers tut ein übriges, um die Gefährdung zu erhöhen. Etwas von der Rauheit und Körnigkeit heutiger Sprachgestaltung wünscht man dem Gedicht, auch nach seinen eigenen Formabsichten gefaßt, bisweilen.118

Dass diese rezeptionsästhetische Wirkung bei Jaákobs Traum »wohl gegen den Willen des Dichters« eintrat, bezeugt auch der Briefwechsel, der sich nach Hofmannsthals Kritik zwischen dem tief gekränkten Beer-Hofmann und Hofmannsthal entspann, in dem Beer-Hofmann beteuerte, weder dem Zionismus noch überhaupt einem »jüdischen Nationalstolz« das Wort reden zu wollen.119 116 Gottfried Benn  : Lebensweg eines Intellektualisten, in  : Ders.: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 2006, S. 305–345, hier S. 323. 117 Arnold Zweig  : Zu Jaakobs [sic] Traum, in  : Der Jude 9 (1919/20), S. 420–425, hier S. 425. Zu Zweigs Rezension im Kontext der Zeitschrift vgl. Eleonore Lappin  : Der Jude 1916–1928. Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus. Tübingen 2000, S. 318 f. 118 Zweig  : Zu Jaakobs Traum (Anm. 117), S. 425. 119 Vgl. die ausführliche und intensive Korrespondenz von Hofmannsthal und Beer-Hofmann zu diesen Fragen zwischen dem 20. April 1919 und dem 23. Mai 1919 in  : Hugo von Hofmannsthal – Richard Beer-Hofmann  : Briefwechsel (Anm. 115), S. 144–170. In diesen Briefen betont Beer-Hofmann explizit,

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Beer-Hofmann hatte sich früher als andere Autoren des Jungen Wien seinen religiösen Wurzeln zugewandt. Er ist wohl auch derjenige, bei dem die Religion am entschiedensten zum Thema seiner Dichtung wird. Zwar entdeckt auch der späte Leopold von Andrian in seiner Weltanschauungsliteratur, wie auch der älter gewordene Richard Schaukal, den Katholizismus für sich neu, und Hermann Bahr schreibt mit Himmelfahrt 1916 einen Roman über die Heimkehr zur katholischen Religion, Schnitzler problematisiert die gesellschaftliche Stellung der Juden und nimmt zum Antisemitismus in seinem Roman Der Weg ins Freie (1908) und seinem Drama Professor Bernhardi (1912) engagiert Stellung, aber das jüdische Bibeldrama Beer-Hofmanns stellt doch einen Sonderfall im Spektrum religiösen Schreibens der älter gewordenen Jungwiener dar. Bereits in Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs (1900) und dann auch im Trauerspiel Der Graf von Charolais (1904) hatte das Religiöse eine entscheidende Rolle gespielt und auch als Ausweg aus dem Ästhetizismus fungiert.120 Beer-Hofmann äußerte im Gespräch mit Werner Vordtriede retrospektiv, dass er im Tod Georgs »dem Ästheten mit den Mitteln des Ästhetentums ein Ende« habe bereiten wollen.121 Die Forschung hat diesen Weg Beer-Hofmanns vom Ästhetizismus zum jüdischen Bekenntnis intensiv untersucht  ;122 und es liegen auch zahlreiche Deutungen von Jaákobs Traum als dramatischem Zeugnis dieser religiösen Überzeugung vor.123 Dirk Niefanger wiederum hat Beer-Hofmanns dass er sein Drama nicht zionistisch verstanden wissen möchte, und deshalb auch seinen Jaákob habe betonen lassen, dass es ihm nicht um Landnahme ging, sondern um theologische Orientierung. 120 Vgl. hierzu etwa Stefan Scherer  : Judentum, Ästhetizismus und literarische Moderne. Zu einem Zusammenhang beim frühen Beer-Hofmann, in  : Richard Beer-Hofmann. Zwischen Ästhetizismus und Judentum. Symposion Heidelberg 1995. Hg. von Dieter Borchmeyer. Paderborn 1996, S. 9–31. 121 Werner Vordtriede  : Gespräche mit Beer-Hofmann, in  : Richard Beer-Hofmann. Zwischen Ästhetizismus und Judentum (Anm. 120), S. 163–188, hier S. 183. 122 Vgl. vor allem Dieter Borchmeyer (Hg.)  : Richard Beer-Hofmann. Zwischen Ästhetizismus und Judentum. (Anm. 120). Stefan Scherer  : Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne. Tübingen 1993. Ulrike Peters  : Richard Beer-Hofmann. Zum jüdischen Selbstverständnis im Wiener Judentum. Frankfurt a. M. 1993. Norbert Otto Eke, Günter Helmes (Hg.)  : Richard Beer-Hofmann (1866–1945). Studien zu seinem Werk. Würzburg 1993. Sarah Fraiman-Morris (Hg.)  : Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturkontext des »Fin de Siècle«. Tübingen 2005. Abigail Gillman  : Viennese Jewish Modernism. Freud, Hofmannsthal, Beer-Hofmann, and Schnitzler. Pennsylvania 2009, S. 78–100. 123 Hans-Gerhard Neumann  : Richard Beer-Hofmann. Studien und Materialien zur »Historie von König David«. München 1972. Kathleen Harris  : Richard Beer-Hofmann  : Ein großer Wiener jüdischer – und deutscher – Dichter. Am Beispiel von »Jaákobs Traum«, in  : Auseinandersetzung um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur – die Assimilationskontroverse. Hg. von Walter Röll und Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 1986, S. 171–175. Guennadi Vassiliev  : Das Konzept der Erwählung in Richard Beer-Hofmanns Drama »Jaakobs [sic] Traum« (1918), in  : Österreich in Geschichte und Literatur 47, 4 (2003), S. 228–239. Urszula Kawalec  : Das Weltbild im Werk von Richard Beer-Hofmann. Stuttgart 2005, S. 112–118. Daniel Hoffmann  : Bruchstücke einer großen Tradition. Gattungspoetische Studien zur deutsch-jüdischen Literatur. Paderborn 2005, S. 34–39. Simone Lutz  : »Du aber halte meinen Bund«. Die Bibel als Paradigma jüdischer Identität in Beer-Hofmanns »Jaákobs Traum«, in  :

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Drama dezidiert im zionistischen Diskurs verortet und auf die explizit politischen Dimensionen seiner Kulturkritik hingewiesen.124 Hier wird im Folgenden nicht noch einmal Beer-Hofmanns Entwicklung vom Ästhetizismus zum Judentum beleuchtet und es wird auch nicht Jaákobs Traum als isolierter Text eines religiösen Spätwerks begriffen, sondern vielmehr soll gefragt werden, ob sich in diesem späten jüdischen Weihespiel noch Spuren der Jungwiener Vergangenheit finden lassen. Es wird also nicht abermals untersucht, wie viel jüdische Selbstreflexion schon im ästhetizistischen Frühwerk zu finden ist,125 sondern vielmehr wie viel Jungwiener Ästhetik noch im religiösen Spätwerk fortlebt. Inwiefern greift Beer-Hofmann in seinem späten Bibeldrama Motive und Konstellationen der Wiener Moderne wieder auf und transformiert sie in religiöser Absicht  ? Das zwischen 1909 und 1915 entstandene Drama war von Beer-Hofmann als Vorspiel zu seinem (ursprünglich als Pentalogie geplanten, dann) als Trilogie erschienenen Dramenzyklus über Die Historie von König David gedacht gewesen. Beer-Hofmanns JaákobDrama entstand so in Wien zur selben Zeit wie Arnold Schönbergs Torso gebliebenes Oratorium Jakobsleiter, für das der 1898 zum Protestantismus konvertierte und zu dieser Zeit theosophisch umtriebige Schönberg gern Richard Dehmel als Librettist gewonnen hätte.126 Mit dem biblischen Jaákob sollte bei Beer-Hofmann die zentrale Gründungsgestalt des Judentums auf die Bühne gebracht werden. Er ist nach Abraham und Isaak der dritte der drei Erzväter, der Patriarchen Israels. In seiner Gestalt ließ sich die geschichtliche Einheit des Volkes Israel auf eine vorgeschichtliche Familienkonstellation zurückführen. Alfred Polgar qualifizierte das Drama gattungsästhetisch als »Mysterienspiel« und parallelisierte so implizit Beer-Hofmanns Bemühung um die jüdische Tradition mit Hofmannsthals Wiederbelebung des christlichen Mysterienspiels im Jedermann (1911) und später der Erneuerung der spanisch-katholischen Barocktradition im Salzburger großen Welttheater (1922).127 Die jüngere Forschung hat gezeigt, wie Beer-Hofmann in seinem Bibeldrama in der Tat formalästhetisch dialogisch konzipierte Denkfiguren des Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit. Hg. von Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 2008, S. 221–235. Tim Krechting  : Richard Beer-Hofmanns jüdisches Denken. Eine theologische Werkanalyse unter besonderer Berücksichtigung der »Historie von König David«. Hamburg 2009, S. 64–69. 124 Dirk Niefanger  : »Jísro-El«. Politische Kulturkritik in Richard Beer-Hofmanns »Die Historie von König David«, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938). Hg. von Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher. Heidelberg 2019, S. 281–296. 125 Vgl. dazu etwa  : Sarah Fraiman-Morris  : Richard Beer-Hofmanns Suche nach der Transzendenz. »Schlaflied für Mirjam« und »Der Tod Georgs«, in  : Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturkontext des »Fin de Siècle« (Anm. 122), S. 51–60. 126 Vgl. Astrid Schweighofer  : Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900. Berlin, München 2015, S. 184–187 und 292–298. 127 Alfred Polgar  : Jaákobs Traum, in  : Die Weltbühne 15 vom 31. Juli 1919, Nr. 32, S. 142–145.

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rabbinischen Midrasch mit Traditionen des barocken Jesuitentheaters synthetisiert und so jüdische und katholische Schreibweisen ineinander schlingt.128 Dass das Bühnenspektakel in Jaákobs Traum mit Erzengeln, Blitzen, Feuer, Wind und Wolken Anleihen beim barocken Jesuitendrama nahm,129 fiel bereits den Zeitgenossen während der Theaterproben auf. Hermann Bahr beobachtete eine Beleuchtungsprobe des Bühnenbildners Alfred Roller und fragte Beer-Hofmann  : »Und wissen Sie denn aber, was eigentlich der Roller da treibt  ?« Da »Richard, ganz in den Feuerzauber verschaut, schwieg«, urteilte Bahr selbst  : »Jesuitenstil  !«130 Aber die jesuitisch-barocke Theatermaschine wird lediglich reaktiviert, um die Traumwelt Jaákobs und seine Begegnung mit Gott im Traum im letzten Drittel des Dramas anschaulich zu machen. Erst im Traum wird es auf der Bühne bewegt, laut und voll  ; zuvor bestimmen nur wenige Figuren das zurückgenommene Geschehen. Die dem Traum vorgelagerten Szenen stehen gattungsästhetisch in einer anderen Tradition, die bisher von der Forschung vernachlässigt wurde. Bisher unberücksichtigt blieb, wie BeerHofmann mit seinem versifizierten Vorspiel auch an die lyrischen Dramen der Wiener Moderne selbst anknüpft. Auch Beer-Hofmanns figurenarmes Drama mittlerer Länge kreist wie die kurzen lyrischen Dramen des Fin de Siècle in gehobener Sprache um die inneren Konflikte seines Protagonisten und weist große Ähnlichkeiten zu den lyrischen Dramen Hofmannsthals auf. Die äußere Handlung tritt zurück und weicht einer psychischen Introspektion, die Beer-Hofmann transformiert zur Dramatisierung eines Traums seines Protagonisten. Daher soll im Folgenden in einer intertextuellen Analyse sichtbar gemacht werden, wie Jaákobs Traum Deutungsmuster, Problemkonstellationen und dramenästhetische Konfigurationen von Hofmannsthals Künstlerdrama Der Tod des Tizian (1892/1901) religiös variiert. Beer-Hofmanns Drama geht frei mit dem Bibeltext um, integriert erfundene Szenen und zieht vier in der Genesis zeitlich weit auseinanderliegende Ereignisse in seinem 128 Zur Dramenaffinität des Midrasch vgl. Matthias Morgenstern  : Die »Midrasch-Drama-Connection« am Beispiel von Richard Beer-Hofmanns »Jaákobs Traum«, in  : Frankfurter Judaistische Beiträge 31 (2004), S. 105–122. Zur Rezeption von Elementen des barocken Jesuitentheaters vgl. Carina Heer  : Gattungsdesign in der Wiener Moderne. Traditionsverhalten in Dramen Arthur Schnitzlers und Hugo von Hofmannsthals. Mit Vergleichsanalysen zu Hermann Bahr, Felix Salten und Richard Beer-Hofmann. München 2014, S. 387–398. 129 Auch die Transformation des körperlichen Ringens Jaákobs mit Gott in der Bibel zu einer Art weltgerichtlichem Tribunal bei Beer-Hofmann kann man in die Tradition des Jesuitentheaters stellen. 130 Hermann Bahr  : 7. April 1919, in  : Ders.: 1919 (Anm. 33), S. 120–126, hier S. 120 ff. Für Bahr ist damit Beer-Hofmanns Drama Teil der Wiederentdeckung des Barock, die er selbst enthusiastisch bewirbt. Vgl. auch Roger Bauer  : Götter, Helden und lustige Personen. Wienerische Variationen eines barocken Themas, in  : Theatrum mundi. Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Franz Link und Günter Niggl. Berlin 1981, S. 231–256.

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Drama auf zwei Tage Handlungszeit zusammen. Das Vorspiel setzt nachts unmittelbar nach dem Segensbetrug Jaákobs an seinem Bruder (Gen 27,1–40) ein. Auf Anraten seiner Mutter Rebekah hatte Jaákob sich gegenüber dem Vater Jizchak (Isaak) als sein älterer Bruder Edom (Esau) ausgegeben und vom sterbenden Vater durch diese Täuschung den Segen erhalten, der eigentlich dem Erstgeborenen Edom zugedacht war.131 Indem dieser Segensbetrug selbst nicht auf der Bühne gezeigt wird, sondern lediglich nachträglich von den betroffenen Figuren kontrovers diskutiert wird, bleibt das eigentliche Betrugsgeschehen im Dunkeln und Objekt einander widersprechender Deutungs- und Legitimierungsversuche.132 Das Drama blendet dann über zur Flucht Jaákobs nach Haran (Gen 27,41–28,22) mit einem von Beer-Hofmann hinzu erfundenen Sklaven Idnibaál und zu einer Wiederbegegnung und Versöhnung der feindlichen Brüder am darauf folgenden Spätnachmittag, die in der Bibel erst sehr viel später stattfinden (Gen 33).133 Unmittelbar nach der Versöhnung mit dem Bruder lässt Beer-Hofmann Jaákob schließlich abends in einem Traum nicht nur die biblische Himmelsleiter erschauen (Gen 28,12– 15),134 sondern auch noch seinen Kampf mit Gott austragen (Gen  32,23–32), zwei nächtliche Ereignisse, die in der Bibel zeitlich und örtlich weit auseinander liegen und denen dort auch ein unterschiedlicher Realitätsstatus zukommt. Während in der Bibel die Himmelsleitervision als Traum gekennzeichnet ist, erscheint das nächtliche Ringen mit der männlichen Gestalt am Jabbok im ersten Buch Mose keineswegs als geträumt, sondern als real. Beer-Hofmann zieht beide Begebenheiten zu einem nächtlichen Traumerlebnis als Bühnengeschehen zusammen und intensiviert so (passend zu den Motivvorlieben des Jungen Wien) die Bedeutung des Traums.135 Aus dem biblischen Offenbarungstraum von der Himmelsleiter (Gen 28,12–15), in dem Jakob rein passiver Empfänger einer göttlichen Botschaft ist und nicht selbst handelnd oder sprechend Teil der Traumwelt ist, sondern nur ihr Zuschauer, wird so bei Beer-Hofmann ein Traum, 131 Mit der eigentümlichen Fassung der Namen ( Jaákob, Edom, Jizchak und Rebekah) versucht Beer-Hofmann, das deutschsprachige Drama phonetisch dem hebräischen Bibeltext anzunähern. 132 Der vorangegangene Betrug Jaákobs an Edom, die Erschleichung des Erstgeburtsrechts um ein Linsengericht, wird bei Beer-Hofmann nie thematisiert. 133 Ausgeklammert werden in Beer-Hofmanns Drama Jaákobs Aufenthalt bei Laban, sein Dienen um Lea und Rahel, seine Kinder, sein Reichtum, seine List gegen Laban und seine Trennung von Laban (Gen 29,1–32,22). 134 Zur Übersetzungsproblematik der »Jakobsleiter« als Treppe, Rampe, Leiter oder Pforte vgl. auch Jörg Lanckau  : Der Herr der Träume. Eine Studie zur Funktion des Traums in der Josefsgeschichte in der Hebräischen Bibel. Zürich 2006, S. 89 f. Norbert Otto Eke  : Rettung des Sinns. »Jaákobs Traum« und das Projekt einer Geschichtstheodizee, in  : Richard Beer-Hofmann (1866–1945). Studien zu seinem Werk (Anm. 122), S. 128–155, hier S. 133. 135 Zum Traum in der Literatur der Wiener Moderne vgl. etwa Michaela Perlmann  : Der Traum in der literarischen Moderne. Untersuchungen zum Werk Arthur Schnitzlers. München 1987. Peter-André Alt  : Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München 2002, S. 306–367.

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in dem der Träumer selbst handelnd und sprechend Teil des Geschehens ist und dieses maßgeblich mitgestaltet. Während in Der Tod Georgs (1900) ein erzählter Traum den Leser rezeptionsästhetisch nachhaltig verunsichert, weil dieser Traum über weite Strecken der Lektüre nicht als solcher erkennbar und der Realität zum Verwechseln ähnlich ist, verlegt Beer-Hofmann in seinem späten Bibeldrama die komplette Gottesbegegnung in die Traumwelt seines Helden und subjektiviert sie so zwar einerseits in der Tradition der Wiener Moderne  ; gleichzeitig ist aber andererseits diesem dramatisierten Traum rezeptions- und gattungsästhetisch eine größere Objektivität eingeschrieben (als dem unzuverlässig erzählten Traum Pauls in Der Tod Georgs), denn allein schon seine dramaturgische Realisierung auf der Bühne suggeriert dem Zuschauer intersubjektive Bedeutung. Der Traum ist im Spätwerk Beer-Hofmanns sowohl objektives Medium der göttlichen Offenbarung als auch subjektiver Spiegel von Jaákobs Psyche. Die Grenze zwischen Traum und Realität ist im späten Drama deutlich markiert und nicht verwischt wie in der frühen Erzählung Der Tod Georgs. Das Traumerlebnis wird in Beer-Hofmanns Drama als Bühnengeschehen realisiert, aber es ist gerahmt von Szenen, die in der Wirklichkeit spielen. Damit unterscheidet sich Beer-Hofmanns szenische Traumeinlage sowohl von den Traumberichten im antiken Drama als auch von den reinen Traumspielen, die komplett in der Traumwelt angesiedelt sind.136 Drei Viertel der Handlung verlagert Beer-Hofmann in die Nacht oder in die Dämmerung nach Sonnenuntergang. Das erste Bild spielt komplett in der Nacht, und im zweiten Bild, das in »den langen Schatten des späten Nachmittags« einsetzt,137 dämmert es vor dem Zusammentreffen von Jaákob und Edom, noch während des Gesprächs von Jaákob mit Idnibaál. Die brüderliche Auseinandersetzung beginnt nach Sonnenuntergang, »auf der Kuppe liegt Dämmerung« (61). Auch schon vor der nächtlichen Dunkelheit und dem titelgebenden Traum Jaákobs wird immer wieder der Traum leitmotivisch aufgerufen. Rebekah begründet Jaákobs Auserwähltsein damit, »weil, aller Ahnen Zweifel Traum und Sehnen – / […] in ihm klingt« (27). Gegenüber Idnibaál kennzeichnet Jaákob die Erinnerung an Tage der Knechtschaft als »des bösen Traumes Schatten«, der »schwarz über deinen hellen Tag« (57) fällt. Ein schlafendes Lamm, das »träumt, es tränke« (37), 136 Zu diesen Kategorien (Traumbericht, szenische Traumeinlage und Traumspiel) vgl. Martin Stern  : Vom Traum im Spiel zum Traumspiel. Dramaturgien des Träumens zwischen Aeschylus und Brecht, in  : Traum und Wirklichkeit in Theater und Musiktheater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2004. Hg. von Peter Csobádi. Salzburg 2006, S. 13–21. Vgl. auch Albert Gier  : »Ein Traum, was sonst  ?« Zur Dramaturgie von Traum und Wirklichkeit im Musiktheater, in  : Traum und Wirklichkeit in Theater und Musiktheater (s.o.), S. 34–48. 137 Richard Beer-Hofmann  : Jaákobs Traum. Ein Vorspiel, in  : Ders.: Die Historie von König David und andere dramatische Entwürfe. Hg. von Norbert Otto Eke. Paderborn 1996 (Werke, Bd. 5), S. 7–117, hier S. 32. Im Folgenden wird Jaákobs Traum im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

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wird von Jaákob, während es schläft, getränkt, und Jaákob kommentiert seine Handlung mit den Worten  : »Ich mache deine Träume wahr  !« (37) Hier verschwimmt die Wortbedeutung von Traum als psychischer Aktivität während des Schlafs mit der einer wachen Wunschvorstellung, und zugleich reflektiert dieser Milchtraum des durstigen Lamms natürlich auch Sigmund Freuds These vom Traum als einer Wunscherfüllung.138 Während Freud in der Traumdeutung einräumte, »wovon Tiere träumen, weiß ich nicht«,139 rückt Beer-Hofmann das vom Trinken träumende Lamm ins Zentrum des Interesses. Der Sklave Idnibaál belebt in seinen Reden naturmagisch die Erde und betont, wenn man nächtens Wein verschütte, »so wird die Erde von ihm trunken, / Es nimmt ihr ihren ruhevollen Schlaf, / Sie träumt und sendet ihre Träume in / Die Nacht  !« (50) Diese Personifizierung der träumenden Erde wird von Jaákob aufgegriffen, indem er »leise vor sich hin« (50) murmelt  : »So träumt sie auch  – die Erde  ?« (50) Alles träumt in diesem Drama  : das Tier, der Mensch, die Natur. Vom Mikro- bis zum Makrokosmos zeigt sich der nächtliche Traum als Zustand der Allverbundenheit der Kreatur. Diese Beschwörung des nächtlichen Traums als Sphäre der geheimnisvollen Vereinigung des Menschen mit der Schöpfung scheint mir auch inspiriert durch Gianinos Nachterlebnis in Hofmannsthals lyrischem Drama Der Tod des Tizian. Gianino, der im Personenverzeichnis Hofmannsthals charakterisiert wird als »sechzehn Jahre alt und sehr schön«,140 erzählt leicht übernächtigt dem Sohn Tizians von seiner Erfahrung der vergangenen Stunden  : GIANINO Mir wars, als ginge durch die blaue Nacht, Die atmende, ein rätselhaftes Rufen. Und nirgends war ein Schlaf in der Natur. Mit Atemholen tief und feuchten Lippen, 5 So lag sie, horchend in das große Dunkel, Und lauschte auf geheimer Dinge Spur. Und sickernd, rieselnd kam das Sterngefunkel Hernieder auf die weiche, wache Flur. Und alle Früchte, schweren Blutes, schwollen 10 Im gelben Mond und seinem Glanz, dem vollen, Und alle Brunnen glänzten seinem Ziehn. 138 Auch Freud wählt den Dursttraum als Beispiel, um seine These vom Traum als Wunscherfüllung zu illustrieren. Vgl. Sigmund Freud  : Die Traumdeutung. Frankfurt a. M. 1972 (Studienausgabe, Bd. 2), S. 142. 139 Ebd., S. 150. 140 Hugo von Hofmannsthal  : Der Tod des Tizian, in  : Ders.: Gedichte, Dramen I 1891–1898. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 245–269, hier S. 246.

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Und es erwachten schwere Harmonien. Und wo die Wolkenschatten hastig glitten, War wie ein Laut von weichen, nackten Tritten … 15 Leis stand ich auf – ich war an dich geschmiegt – Er steht erzählend auf, zu Tizianello geneigt. Da schwebte durch die Nacht ein süßes Tönen, Als hörte man die Flöte leise stöhnen, Die in der Hand aus Marmor sinnend wiegt 20 Der Faun, der da im schwarzen Lorbeer steht Gleich nebenan, beim Nachtviolenbeet. Ich sah ihn stehen, still und marmorn leuchten  ; Und um ihn her im silbrig-blauen Feuchten, Wo sich die offenen Granaten wiegen, 25 Da sah ich deutlich viele Bienen fliegen Und viele saugen, auf das Rot gesunken, Von nächtgem Duft und reifem Safte trunken. Und wie des Dunkels leiser Atemzug Den Duft des Gartens um die Stirn mir trug, 30 Da schien es mir wie das Vorüberschweifen Von einem weichen, wogenden Gewand Und die Berührung einer warmen Hand. In weißen, seidig-weißen Mondesstreifen War liebestoller Mücken dichter Tanz, 35 Und auf dem Teiche lag ein weißer Glanz Und plätscherte und blinkte auf und nieder. Ich weiß es heut nicht, obs die Schwäne waren, Ob badender Najaden weiße Glieder, Und wie ein süßer Duft von Frauenhaaren 40 Vermischte sich dem Duft der Aloe … Das rosenrote Tönen wie von Geigen, Gewoben aus der Sehnsucht und dem Schweigen, Der Brunnen Plätschern und der Blüten Schnee, Den die Akazien leise niedergossen, 45 Und was da war, ist mir in eins verflossen  : In e i n e überstarke, schwere Pracht, Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht.141 141 Ebd., S. 251 f.

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Gianinos panerotisches Erfühlen der belebten Nacht gleicht in Hofmannsthals Einakter Tizians künstlerischem Schaffensrausch im Angesicht des Todes. Die Natur wird personifiziert zu einer Gestalt mit »feuchten Lippen« (V. 4) und einer fiebrigen erotischen Anziehungskraft. Eine große allseitige Vereinigung im nächtlichen Dunkel wird hier nachempfunden  : In einer neuromantischen Überbietung von Eichendorffs Mondnacht ist es hier nicht mehr nur so, »als hätt der Himmel / Die Erde still geküsst«,142 sondern der Himmel kommt begattend auf die Erde, das astrale »Sterngefunkel« (V. 7) auf die alliterierend feminisierte »weiche, wache Flur« (V. 8) der Erde nieder. Aber es handelt sich nicht nur um eine Vereinigung im Großen, der Sterne und der Erde. Vom Makro­ kosmos wird zum Mikrokosmos geschwenkt. Die Früchte werden gleichfalls anthropomorphisiert, sie werden mit »schwere[m] Blut[.]« (V. 9) versehen und schwellen dem Mond entgegen. Die nächtliche Natur wird sodann akustisch belebt  : »Schwere Harmonien« (V. 12) werden eingeführt, und die nächsten Verse gleichen einem Wechselsang, in dem das »leis[e]« (V.  15) Aufstehen Gianinos alliterierend und antithetisch dem »Laut von weichen, nackten Tritten« (V.  14) respondiert. Das synästhetisch präsentierte »süße[] Tönen« (V. 17) ist nicht irgendein Klang, sondern es erscheint in einem Vergleich als das »leise Stöhnen« (V. 18) einer Flöte wahrnehmbar, das Requisit des antiken Hirtengottes Pan, der hier zuerst klanglich durch die nach ihm benannte Panflöte eingeführt wird.143 Für Gianino belebt und verzaubert sich die Nacht mythisch begleitet vom Hirtengott, der nach seiner akustischen Einführung dann auch optisch Gestalt annimmt. Die Marmorskulptur eines Fauns steht im Park der Villa im schwarzen Lorbeer beim Nachtviolenbeet und wacht im Folgenden über den Liebeszauber der nächtlichen Natur.144 Es vereinigen sich Flora und Fauna, wenn auf die Blüten der Granatapfelbäume, assonanzenreich hervorgehoben, »viele Bienen fliegen« (V. 25). Nachdem Gianino die Natur musikalisch mit Flötentönen erotisiert hat, belebt sie sich für ihn auch olfaktorisch und haptisch  : Der »Duft des Gartens« (V. 29) evoziert bei Gianino autosuggestiv die Einbildung der »Berührung einer warmen Hand« (V. 32). Umgeben vom dichten Tanz »liebestoller Mücken« (V.  34) verschwimmen Gianino die exakten Wahrnehmungsparameter, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt, die Natur erscheint vergöttlicht, und es ist nicht mehr klar zu unterscheiden, ob er auf dem Teich des Nachts Schwäne oder im Gefolge Pans badende Najaden mit schwanengleichen Gliedern sah. Pflanzenduft der Aloe und »Duft von Frauenhaaren« (V.  39) werden Gianino ununterscheidbar. Gianino empfindet einen Wirbel der Allvereinigung, wieder 142 Joseph von Eichendorff  : Mondnacht, in  : Ders.: Gedichte. Eine Auswahl. Mit einem Nachwort von Konrad Nussbächer. Stuttgart 1988, S. 134. 143 Hier alludiert gerade auch in den Synästhesien Hofmannsthal Mallarmés symbolistische Dichtung L’après-midi d’un faune. 144 Der Fruchtbarkeitsgott Faun entspricht in der römischen Mythologie dem griechischen Pan.

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durch Synästhesien eingeführt, indem Klänge und Farben in eins gezogen werden zu »rosenrote[n] Tönen« (V. 41). Dieses panerotische Einheitserleben der Spätsommernacht stiftet den Sinn, den er des Tags auf der Terrasse im eloquenten Epigonendasein vermisst  : »Und was da war, ist mir in eins verflossen  : / In e i n e überstarke, schwere Pracht, / Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht« (V. 46 f.). Was bei Hofmannsthal als panerotisches Nachtgeschehen konnotiert ist, transformiert Beer-Hofmann zu einem mystischen Gotteserlebnis in der nächtlichen Natur. Eine weitere intertextuelle Verwobenheit zwischen Hofmannsthals Tod des Tizian und Beer-Hofmanns Jaákobs Traum scheint mir hervorhebenswert. Bei Hofmannsthal wird über die Sentenz »Es lebt der große Pan« eine Wiederkehr der alten griechischen polytheistischen Götterwelt alludiert.145 Die Schüler wissen nicht mit allem, was Tizian schafft und sagt, etwas anzufangen. Gänzlich rätselhaft erscheint ihnen das getriebene, rauschhafte Malen Tizians im Angesicht des Todes. Er malt eine Frauengestalt, die eine Puppe in den Händen hält, »die ganz verhüllt ist und verschleiert ganz«. Die Frau sieht diese Puppe »mit Scheu verlangend an  : / Denn diese Puppe ist der große Pan«.146 Gianino berichtet retrospektiv von einer anderen Begegnung mit dem Meister  : GIANINO Er sprach schon früher, was ich nicht verstand, Gebietend ausgestreckt die blasse Hand … Dann sah er uns mit großen Augen an Und schrie laut auf  : »Es lebt der große Pan.« Und vieles mehr, mir wars, als ob er strebte, Das schwindende Vermögen zu gestalten, Mit überstarken Formen festzuhalten, Sich selber zu beweisen, dass er lebte, Mit starkem Wort, indes die Stimme bebte.147

Der griechische Hirtengott Pan, seiner Gestalt nach halb Mensch, halb Ziegenbock, ist als Gott des Waldes und der Natur oft dargestellt worden im Gefolge des Dionysos und steht dort für die sinnenfrohe und orgiastische Lebenszugewandtheit. In Hofmanns­

145 Zum lebensphilosophischen Kontext der Rezeption des Pan-Mythos während der Jahrhundertwende vgl. Wilhelm Kühlmann  : Der Mythos des ganzen Lebens. Zum Pan-Kult in der Versdichtung des Fin de Siècle, in  : »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900. Hg. von Achim Aurnhammer und Thomas Pittrof. Frankfurt a. M. 2002, S. 363–400. 146 Hofmannsthal  : Der Tod des Tizian (Anm. 140), S. 258. 147 Ebd., S. 250.

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thals Drama heißt es, Pan sei der Gott, »der das Geheimnis ist von allem Leben«.148 Bei Plutarch (De defectu oraculorum 17) ist die Geschichte vom Tod des Pan überliefert  : Ein Schiffer habe im ersten nachchristlichen Jahrhundert eine Stimme vernommen, die ihn beauftragte zu verkünden, dass der große Pan gestorben sei. Als der Schiffer daraufhin der Küste zugerufen habe »Der große Pan ist tot«, sei ein allseitiges Wehklagen wahrnehmbar geworden.149 Im Gefolge dieser Geschichte wurde der Ausruf »Der große Pan ist tot« zur Chiffre für den Abschied vom griechischen Polytheismus und seiner sinnenfrohen Lebenszugewandtheit. Mit diesem Ausruf wurden die Götter Griechenlandes (Schiller) verabschiedet und das neue weltgeschichtliche Kapitel des sinnenabgewandten, asketischen, monotheistischen Christentums aufgeschlagen. Der Ausspruch »Der große Pan ist tot« signalisierte in der Neuzeit das Ende einer mythischen Welterfassung, in der der Mensch in einer von Göttern belebten und verzauberten Natur diese Welt nicht nur rational erfasste, sondern noch ganzheitlich vorbewusst erlebte. Wenn bei Hofmannsthal Tizian ausruft  : »Es lebt der große Pan«, proklamiert die Gestalt Tizians damit eine an die Antike anknüpfende Sinnenfreude, mythisch verzauberte Welterfassung und dionysische Lebensintensität. Beer-Hofmann schildert in seinem Drama den Beginn des jüdischen ­Monotheismus und antwortet intertextuell so auf Hofmannsthals renaissancistische Revocatio der antiken polytheistischen Götterwelt. Im Gespräch zwischen Idnibaál und Jaákob werden Polytheismus und Monotheismus miteinander konfrontiert, und die mythische Durchzauberung der Natur mit vielen Gottheiten wird in Idnibaáls Vorstellung sichtbar. Auch der Beginn von Jaákobs Traum reagiert auf Gianinos Nachterleben, denn der Gottes­begegnung Jaákobs vorgelagert ist im Traum die Belebung der nächtlichen Natur  : Quelle und Stein beginnen zu Jaákob zu sprechen. Auch dies mag man als Reminiszenz an Gianinos Naturerfahrung verstehen. Bei Beer-Hofmann träumt nicht nur der Mensch von der Schöpfung, sondern vice versa an der »Erde Säumen, / [wo] Urerste heilige Schöpfung schlafend ruht / Und von uns träumt« (56), erweist sich der Traum als Begegnungsort von Gott und Mensch. Beer-Hofmann fasst die Geschichte Jaákobs aus der Genesis asymmetrisch in zwei unterschiedlich dimensionierten Bildern. Ein kurzes erstes Bild führt den Zuschauer zum Haus Jizchaks (Isaaks) in Beér-Scheba unmittelbar nach dem Segensbetrug Jaákobs, über den in Botenberichten informiert wird. Jaákob selbst tritt hier noch nicht auf, sondern seine Mutter Rebekah und sein ungleicher erstgeborener Zwillingsbruder Edom (Esau) sprechen über Jaákob und den moribunden Jizchak, und sie entwerfen dabei ein148 Ebd., S. 258. 149 Vgl. etwa Slobodan Dušanić  : Plato and Plutarch’s Fictional Techniques. The Death of the Great Pan, in  : Rheinisches Museum 139 (1996), S. 276–294.

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ander widersprechende Charakterbilder. Während Edom und seine Frauen Jaákob Hinterlist und betrügerische Absicht vorwerfen, argumentiert Rebekah, dass sich der Segen seinen Auserwählten selbst suche. Rebekah erscheint hier als prophetisch-kämpferische und übermächtige Mutter eines fremdbestimmten, verhätschelten zweitgeborenen Sohnes, der nicht selbst für seine Zukunft Sorge tragen kann. Edom und seine Frauen kennzeichnen Jaákob als »Schwächling« (26). Die Sympathielenkung in diesem ersten Bild lässt den Zuschauer sich fast eher mit dem starken und betrogenen Edom identifizieren und rezeptionsästhetisch eine gewisse Spannung entstehen, wie angesichts dieser verständlichen Vorwürfe gegen Jaákob noch eine positive religiöse Gründerfigur aufgebaut werden kann. Dieses erste Bild ist vom Sterben des greisen Jizchak überschattet, der nie auftritt, aber indirekt das Geschehen auf der Bühne bestimmt. Damit greift der Auftakt des Dramas die Konfiguration von Hofmannsthals frühem lyrischen Drama Der Tod des Tizian auf, in dem dessen Sterben hinter der Szene die Handlung lenkt. Das erste Bild von Beer-Hofmanns Drama könnte auch übertitelt sein Der Tod des Jizchak. Der Senex Tizian und der greise Jizchak erscheinen nie auf der Bühne, aber ihre dominante Vergangenheit bestimmt das dramatische Geschehen und lastet auf der nachfolgenden Generation, eine Situation, die das Traditionsverhalten in der Wiener Moderne reflektiert und bei Beer-Hofmann in biblische Kontexte transferiert wird. Hermann Bahr hatte einst das ästhetische Selbstverständnis des Jungen Oesterreich über sein Verhältnis zu den geistigen Vätern definiert  : »Sie verehren die Tradition«.150 Hofmannsthal problematisiert bereits in seinem Künstlerdrama diese Traditionsbewunderung, indem er sie als Kippfigur zum lähmenden Epigonentum konzipiert  ; aus der Verehrung wird eine Last. Beer-Hofmann schließlich lässt seine dramatischen Figuren dermaßen gefesselt durch die kaum noch bewussten Handlungen eines Sterbenden erscheinen (der in der Agonie seine Söhne verwechselt), dass eine Emanzipation des Sohnes gegenüber seinem Vater nicht nur verständlich, sondern geboten erscheint. So wie im frühen Künstlerdrama Hofmannsthals eine Schülerriege ihre epigonale Situation angesichts des übermächtigen Meisters reflektiert und beklagt, so erscheint in Beer-Hofmanns spätem Bibeldrama die Gründungsgestalt des Judentums zu Beginn als Sohn, der dem Vater nur noch durch eine List beizukommen vermag. Das längere zweite dramatische Bild von Jaákobs Traum gliedert sich in zwei jeweils wieder zweigeteilte Blöcke.151 Zu Beginn sieht der Zuschauer Jaákob auf einer Höhe, »später 150 Hermann Bahr  : Das junge Oesterreich (1894), in  : Ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg. Stuttgart 1968, S. 141–158, hier S. 145. 151 Der erste Block (32–77) des zweiten Bildes zeigt den Hirten Jaákob (32–62) und die Konfrontation von Jaákob und Edom (62–77)  ; der zweite Block gilt dem titelgebenden Traum Jaákobs (78–109), der zuerst

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Beth-El genannt« (32), am Spätnachmittag mit dem Sklaven Idnibaál im Gespräch, eine Szene, die Jaákob als vorbildlichen Hirten und empfindsamen Zuhörer präsentiert (32– 62). Jaákob und Idnibaál unterhalten sich über ihre Herkunft, Gottesvorstellungen und Unfreiheitserfahrungen, und am Ende des Gesprächs gibt Jaákob Idnibaál die Freiheit. Es schließt sich unmittelbar die Konfrontation mit Edom an (62–77), der den Bruder überrascht und angreift. Aber sein Pfeil trifft statt Jaákob ein in seinen Armen liegendes Lamm. Über der Versöhnung der Brüder wird es Abend, Edom geht, und Jaákob schläft ein. Der große zweite Block des zweiten Bildes blendet von der Realität in die Traumwelt Jaákobs (78–109), in der zuerst die biblische Himmelsleitervision (Gen 28,12–16) als eine Belebung der Natur und Engelsbegegnung ästhetisiert wird (78–93) und schließlich Jaákobs körperliches Ringen mit Gott (Gen 32,23–33) von Beer-Hofmann transformiert wird in einen verbalen Schlagabtausch zwischen Jaákob, einer mephistophelischen Gestalt, Samáel, die gleichsam zum Stellvertreter Jaákobs wird, und einer körperlosen göttlichen Stimme (93–109) über Sinn und Leid des Auserwähltseins. Zu Beginn des zweiten Bildes tritt Jaákob das erste Mal auf, und Beer-Hofmann nutzt diesen Auftritt, um den negativen Charakterzeichnungen aus dem ersten Bild ein Gegenmodell zu erschaffen. Nicht List und betrügerische Absicht bestimmen hier das Handeln Jaákobs, sondern Mitgefühl, Selbstlosigkeit und Aufopferungsbereitschaft für die geschundene Kreatur. Während der Sklave Idnibaál für Jaákob Milch zur Erfrischung in einer Quelle kühlen möchte, verlangt Jaákob nach dieser Milch in lauer Temperatur für ein Lamm, das seine Mutter verloren hat. Idnibaál reicht Jaákob das schlafende Lamm  : IDNIBAÁL hat behutsam das junge Lamm emporgehoben  : Sieh, Herr  ! Es schläft und schnaubt in tiefem Schlaf und schiebt Die weichen Lippen saugend auf und nieder Und träumt, es tränke. Er reicht das Lamm Jaákob, der es nahe an sich heranschiebt. JAÁKOB hat die Finger seiner Linken mit Milch benetzt und schiebt sie dem Lamm zwischen die Lippen  : Komm nur, Kleines  ! Trink  ! Ich mache deine Träume wahr  ! Gedämpft, nachdenklich  : Wie seltsam  ! Ein Lamm, wie andre, ist’s  ! Nur weil sein Herz An meines pocht und weil ich fühle, wie es die Himmelsleitervision auf der Bühne Gestalt annehmen lässt (78–93) und schließlich das Ringen Jaákobs mit Gott (93–109) dramatisiert.

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Schutz, Wärme, Nahrung, dumpfen Sinns von mir – Vertrauend meiner Allmacht – sich erhofft … Erscheint mir fast, als hätt’ ich’s lieb  ! Wie muß Erst einer. Er hat die Finger von neuem mit Milch genetzt  ; zum Lamm, das seinen Fingern nachdrängt. Hab Geduld  ! Gleich wieder  ! (37 f.)

Der Traum des Lammes, das »träumt, es tränke«, präludiert Jaákobs Traum am Ende des Vorspiels und bietet Beer-Hofmann die Möglichkeit, Jaákob als guten Hirten zu zeigen, der sich gegenüber den ihm Anvertrauten vorbildlich verhält. Wenn man den zeitgenössischen Vorwurf des religiösen Kitschs und des »jüdischen Oberammergaus« gegenüber Beer-Hofmanns Bibeldrama nachvollziehen möchte, so ist es in dieser Szene möglich, die das Edle, Wahre und Gute der biblischen Gestalt forciert  ; Arnold Zweig sprach von der »leicht übertriebenen Süße, die in Jaakobs Haltung dem neugeborenen Lamm gegenüber zum Ausdruck kommt«, und stemmte sich gegen die katholisierende »Geste des lammtragenden Jünglings, die so stark an byzantinische Darstellungen des ›guten Hirten‹ erinnert und erinnern soll«.152 Jaákobs Habitus lässt sich aber auch in poetologische Traditionen der Wiener Moderne einordnen. Jaákob erweist sich in seinem Handeln als moralisch untadelig, aber dieses Handeln macht ihm innerlich zu schaffen. Denn er scheint in einer Übersensitivität sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen. Nur weil im direkten Körperkontakt das Herz des Lamms an seines »pocht, und weil ich fühle, wie es / Schutz, Wärme, Nahrung, dumpfen Sinns von mir  – / Vertrauend meiner Allmacht  – sich erhofft« (37), spürt er schmerzlich die Verantwortung und Zuneigung für die Kreatur. Die abschließende Aposiopese deutet an, wie unvorstellbar größer die Bürde dieses Mitfühlens sein muss für jemanden, dem nicht nur ein Lamm, sondern ein ganzes Volk anvertraut ist. Das Leiden am Auserwähltsein, das ihm der mit List erhaltene väterliche Segen vorausbestimmt, kündigt sich hier an. Der übersensitive Jaákob erscheint hier durchaus auch einer impressionistischen Künstlerfigur vergleichbar, die die von außen auf sie einströmenden Eindrücke in sich aufnimmt, sich ihrer aber auch nicht erwehren kann. Hermann Bahr hatte 1903 erklärt, dass der Impressionismus nicht nur eine bildkünstlerische Technik sei, sondern dass diese »Technik des Impressionismus […] eine Anschauung der Welt« mit sich bringe und voraussetze, die sich dadurch auszeichne, dass alles Gegenständliche nur Anreiz für sinnliche Empfindungen und seelische Regungen darstelle.153 Bahr be152 Zweig  : Zu Jaakobs Traum (Anm. 117), S. 422. 153 Hermann Bahr  : Impressionismus, in  : Österreichische Volkszeitung vom 21. Januar 1903, S. 1. Zur Proble-

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schrieb, »Element und Empfindung sind eins, das Ich löst sich auf und alles ist nur eine ewige Flut, […] alles ist nur Bewegung von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen und Zeiten«, die als »Stimmungen, Gefühle und Willen erscheinen«.154 Der Kronzeuge für diese Anschauung war für Bahr Ernst Mach, und dessen Empiriokritizismus erhob er zur »Philosophie des Impressionismus«.155 Während sich Bahr begeisterte für die Weltanschauung Machs, wurde sie von anderen problematisiert. Fritz Mauthner hatte in seinen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache die impressionistische Haltung zur Wirklichkeit beschrieben als »Hyperästhesie«, als »übermäßige Empfindlichkeit der Nerven«.156 Damit erscheint die impressionistische Haltung einer Krankheit vergleichbar, denn unter Hyperästhesie versteht man eine abnorm starke Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Sinnesreizen, insbesondere Berührungen. Eine solche Hyperästhesie liegt auch bei Beer-Hofmanns Jaákob vor, für den das Herzklopfen des Lamms ein geradezu schmerzhaftes Gefühl der Zuneigung und Verantwortung evoziert. Bereits im ersten Bild hatte Rebekah das Auserwähltsein Jaákobs damit begründet, dass er »vor aller Wesen Leid erblaßt / Und er zu allem spricht und zu ihm alles« (27 f.). Wenn »zu ihm alles« spricht, lässt sich Jaákobs ethisches Mitgefühl ästhetisch gewendet auch als impressionistische Beeinflussbarkeit verstehen. Zu Beginn des Traums wird diese Übersensitivität noch einmal aufgegriffen und intensiviert, wenn die Natur (in Gestalt von Quelle und Stein) zu Jaákob spricht und ihm erläutert, dass er »nie [allein] zu sein« (79) vermöge, da alle ihn umgebenden Eindrücke auf ihn direkt wirken, ohne dass er dies verhindern könne. Das Auserwähltsein erweist sich als ein impressionistisches Stigma. Die Charakterzeichnung Jaákobs zu Beginn des zweiten Bildes (im Gespräch mit Idnibaál und Edom) scheint ebenfalls von den Stimmungsevokationen in Hofmannsthals handlungsarmen frühen lyrischen Dramen beeinflusst. Die melancholisch-ruhige Haltung, mit der die Schüler Tizians ihr Epigonendasein bespiegeln, hat hier auch auf Jaákob abgefärbt, der im Wachen keineswegs als trotziger Rebell und aufbrausender Charakter gegeben wird. Mag er auch im Traum Gott trotzen, erscheint er zuvor nicht als Kämpfer. Auffällig sind hier die reich gesetzten Regieanweisungen Beer-Hofmanns. Diese junge Gründerfigur Jaákob spricht

matik, den Impressionismus-Begriff jenseits der zeitgenössischen Selbstreflexion als literaturgeschichtliche Periodisierungskategorie in den zahllosen »Ismen« der Jahrhundertwende zu verwenden, vgl. Peter Sprengel  : Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 115 f. 154 Hermann Bahr  : Impressionismus, in  : Österreichische Volkszeitung vom 1. März 1903, S. 13. 155 Ebd. 156 Fritz Mauthner  : Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Leipzig 31923, Bd. 1, S. 101.

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»den Kopf gesenkt, leise und ruhig vor sich hin« (35), »in ruhigem nicht zu schwerem Ton« (36), »gedämpft, nachdenklich« (37), »nachdenklich« (38, 39, 41), »leiser, als vertraue er Geheimes an« (46), »in müdem Ablenken« (46), »mit nachlässigem Griff« (48), »lächelnd« (49, 50, 52), »nun leise vor sich hin« (50), »ernst« (52), »mit gedämpfter Stimme« (53), »leiser, ein Zucken um die Lippen« (53), »leise, zwischen kaum bewegten Lippen« (53), »halb für sich« (54), »nachsinnend« (54), »ruhig sinnend« (54), »in tiefem, sehnsüchtigen Begehren abbrechend« (56), »mit unbestimmter Zärtlichkeit« (56), »leise. Seine Stimme klingt tiefer« (56), »ruhig« (57), »leise, gütig« (57), »leise« (58), »müde […] mit gedämpfter Stimme« (59), »mit gütigem Lächeln abwehrend« (61), »ruhig« (63), »ruhig, mit klarer Stimme« (64), »ruhig, leise« (66), »ruhig« (68), »tief und ruhig« (68), »leise« (69), »mit leicht schmerzlichem Lächeln« (70), »mit traurigem Lächeln« (71), »achselzuckend, mit einem Aufseufzen« (71), »leise und eindringlich« (73), »zögernd« (74), »ruhig« (74), »nickt leise« (76), »leiser« (78), »Er hält inne  ; dann gleiten die Worte, wenig bewegt, immer ruhiger über seine Lippen« (78).

Hier handelt es sich nur um die Regieanweisungen für Jaákob vor dem titelgebenden Traum, in dem es dann auch laut und monumental wird, und der barocke Theaterapparat angeworfen wird mit »Ferne[m] Sausen«, »kurzen Windstößen«, »durchleuchtete[n] Wolken« und anschwellendem »Wehen von neuen Winden, die von fernher zu Hilfe eilen, immer mehr genährt – zum Sturm« (83). Aber bevor es saust, weht, blitzt und donnert, Steine und Quellen zu sprechen beginnen und Engel ihre Flügel spreiten, fällt der ganz zurückgenommene Kammerspielton in Beth-El auf. Keine starken Affekte bestimmen den Protagonisten vor seinem Traum, sondern ein sanftes Lächeln. Sowohl die Lautstärke als auch das Tempo werden reduziert durch die immer wiederkehrende Justierung von Jaákobs Sprechen als »leise« und »ruhig«. Als ein müder und melancholischer Denker tritt diese religiöse Gründerfigur auf, und sie scheint so gar nichts vom jungen Aufbruchswillen zu verkörpern, sondern ähnelt eher den »lächelnd[en]«, »traurig lächelnd[en]«, »halblaut« und »halb für sich« sprechenden spätzeitlichen Gestalten in Hofmannsthals Der Tod des Tizian.157 Für Arnold Zweig war diese Szenerie nicht stimmig, wenn er bemerkte  : »Etwas Ruhig-Anschauliches, der Anschauung bildhaft Entgegenkommendes« wirke in den Auftritten um den wachen Jaákob  : Die Bühne ist nie voll wilder Geste sondern wird von schönen Gruppen und guter Haltung beherrscht  ; auf dieser Abgeschlossenheit des einzelnen Zustandes ruht ein Akzent, der sich dem wilden Fließen, Ringen, sich Brechen, sich Auftürmen der Jaakobsgestalt [sic] und ihrem

157 So die Regieanweisungen bei Hofmannsthal  : Der Tod des Tizian (Anm. 140), S. 251, 254, 250 und 251.

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Wiederkehr der alten Götter

Geiste entgegensetzt. Diese Form, edel, wohllautend, klassizistisch, ist zugleich sehr dekorativ und geschmackvoll farbig.158

Für Arnold Zweig verfestigt sich der Eindruck eines unvollständigen, einseitigen Jakob. Für ihn war die biblische Gestalt »ein Titan also, den das Geschick zum Kampfe mit Gott bestimmt vom Mutterleibe an […]. Übervorteilung und Betrug, Inbrunst und rasender Wille zur Größe, zur Gemeinschaft mit Gott«.159 Bei Beer-Hofmann sieht Zweig eine »Veredelung des Titanen zum Heiligen« und fügt hinzu  : »ich weiß nicht, ob man so rauh-großartige Gebilde nicht verkleinert, indem man sie glättet«.160 Wenn man eine gattungsgeschichtliche Perspektive einnimmt, lässt sich Beer-Hofmanns Jakob-Entwurf vielleicht aber auch anders verstehen. Es ist in der Tat ein Paradox, dass die Figur, die ja einen Anfang symbolisieren soll, hier eher als eine spätzeitliche Gestalt wahrgenommen wird. Das scheint mir an der intertextuellen Orientierung an den lyrischen Dramen der Jahrhundertwende zu liegen. Der wache Jaákob ist ein Geistesverwandter von Hofmannsthals Gianino. Da Beer-Hofmanns Jaákob vor seinem Traum so verhalten, weich, impressionistisch beeinflussbar und müde erscheint, wirkt sein verbalisiertes Ringen mit Gott im Traum umso stärker (auch als Wunschtraum des spätzeitlichen Décadent von einem kämpferischen Neuanfang). Wie sehr Beer-Hofmann auf die unterschiedliche dramaturgische Gestaltung von lyrisch-dramatischer Wachwelt und neobarocker Traumwelt Wert legt, lässt sich beobachten an zwei Motiven, die in der Wachwelt anders präsentiert werden als in der Traumwelt und doch beide Welten miteinander verknüpfen  : Im Traum spricht zu Jaákob eine Quelle, und er sieht sich mit geflügelten Engeln konfrontiert. Der Zuschauer hört wie der träumende Jaákob diese Quelle sprechen, und in den Regieanweisungen der Traumszenen werden immer wieder die Engelsflügel auch erwähnt  ; sie sollen für den Zuschauer sichtbar sein, und sie sind auch in der Regie von Max Reinhardt realisiert worden, zum Befremden der Kritiker, die die »Engel mit ihren Gipsflügeln und goldenen Rüstungen« seltsam fanden.161 Im Gespräch zwischen Edom und Jaákob zuvor allerdings in der realen Wachwelt ist es lediglich Edom, der meint, auf einmal eine Stimme neben Jaákob zu vernehmen, worauf Jaákob ihm das verweist und seinen Bruder beschwichtigt  : »Nichts  ! / Ein Quell nur rinnt zu Tal  !« (66) Keine Regieanweisung erwähnt hier, dass sich das akustische Arrangement der Szene irgendwie um Edoms Aussage herum verändern und der Zuschauer etwa eine Stimme hören soll. Kurz darauf glaubt Edom um Jaákob »weiße Schwingen« zu erblicken  : »Was – was 158 Zweig  : Zu Jaakobs Traum (Anm. 117), S. 424. 159 Ebd., S. 420. 160 Ebd., S. 421. 161 [Ck  :] Beer-Hofmann (Anm. 114).

»Jüdisches Oberammergau«  ? 

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ist da – neben / Nein, hinter dir – wie weiße Schwingen – da – / Auch unter dir – wie weiße große Schwingen  ! / Ich fühl’ ihr Wehen – rings um dich, Jaákob – / Ist großer Schwingen Flügelschlag  !« (67 f.) Auch diese vermeintliche Wahrnehmung von Flügeln wird nun aber in der Wachwelt keineswegs von Regieanweisungen begleitet, die erläutern, dass auf der Bühne wirklich solche Engelsflügel oder Engelsgestalten sichtbar werden und den von Gott Erwählten kenntlich machen sollen. Bühnengestaltung und Dramaturgie beglaubigen keineswegs Edoms Empfinden. Im Gegenteil  : Auch hier wieder relativiert Jaákob den Eindruck des Bruders als subjektive Wahrnehmungsverzerrung  : »Nur weiße Wolken, Abendnebel steigen / Auf, aus dem Tal, und schweben nun um uns« (68). Die Gestaltung der Wachwelt bleibt an realistische Parameter gebunden.162 So ließen sich die sprechende Quelle und die Engelsbegegnung in Jaákobs Traum psychologisch auch verstehen als Jaákobs Verarbeitung von Tagesresten, der diese Eindrücke des Bruders verfremdend verarbeitet, verdichtet und überträgt zu eigenen Erlebnissen. Diese doppelte Optik, die den göttlichen Offenbarungstraum Jaákobs zugleich auch als subjektive psychische Transformation von Tageserlebnissen plausibilisiert, den bedeutungsvollen somnium als normalen insomnium lesbar macht,163 zeichnet die poetische Stärke von Beer-Hofmanns Text aus, der zugleich Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses und Zeugnis des Fortwirkens ästhetischer Schreibweisen der Wiener Moderne ist. Indem Beer-Hofmann gattungsästhetisch zwei Traditionen konfrontiert und Jaákob im Wachen in die Tradition des lyrischen Dramas der Jahrhundertwende stellt, während die Traumszenen auch vom jesuitischen Bühnenzauber des Barock beeinflusst sind, arbeitet er mit einer scharfen Kontrastästhetik der doppelten literaturgeschichtlichen Bezugnahme. Das ließe sich auch als eine Potenzierung des Traditionsbewusstseins der Wiener Moderne begreifen.

162 Auch dass der Pfeil des Bruders nicht Jaákob, sondern das Lamm in seinen Armen tödlich trifft, mag unwahrscheinlich sein, ist aber immerhin möglich. 163 Die antiken Traumtheorien unterschieden »zwischen den seltenen und bedeutungsvollen ›Traumgesichten‹ (oneiros bzw. somnium) und den ungleich häufigeren ›normalen‹ Träumen (enhypnion bzw. insomnium)« (Manfred Engel  : Kulturgeschichte/n  ? Ein Modellentwurf am Beispiel der Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes, in  : KulturPoetik 1, 2 [2001], S. 153–176, hier S. 159, dort Anm. 8).

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V. Vom Umgang mit einem norddeutschen Aufklärer Lessing als Damenspende im Wiener Fasching 1912 und 1929

Fragt man nach der Epochenkonstruktion der Aufklärung im Jungen Wien, so hat man viele Möglichkeiten, das Forschungsfeld zu beackern. Hier wird der Weg gewählt, durch die Auseinandersetzung der Jungwiener mit Gotthold Ephraim Lessing eine bestimmte Facette der Aufklärungskonzeption zu betrachten. Auch hier böten sich wieder mehrere Möglichkeiten, das Thema zu perspektivieren. Man könnte untersuchen, ob und wie die Dramatiker der Wiener Moderne sich mit Lessings Theater insgesamt auseinandersetzen. Entschiede man sich für diesen dramenästhetischen Zugang, so wäre etwa danach zu fragen, inwieweit Arthur Schnitzlers Bühnenerfolg Liebelei (1895) an Konfiguratio­ nen des bürgerlichen Trauerspiels anknüpft oder ob in Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige (1921) sich die prolongierte Exposition und die verzögerte Konfliktlösung einer gründlichen Lektüre der Minna von Barnhelm verdanken.1 Eine etwas andere Herangehensweise wäre es, zu prüfen, wie sich die jüdischen und katholischen Autoren des Jungen Wien mit Lessings Religionskritik, seiner Toleranzidee und ihrer Wirkung auf das 19. Jahrhundert beschäftigen. Wählte man diesen Zugang, könnte man etwa überlegen, in welcher Weise die Antisemitismusdebatten in Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie (1908) und in seinem Drama Professor Bernhardi (1912) auf Lessing rekurrieren,2 oder ob eventuell der Gottesbegriff in Richard Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs (1900) etwas mit Lessings Nathan zu tun hat  ;3 und man dürfte vielleicht auch hinweisen auf eine Buchbesprechung von Hermann Bahr, der Samuel Meisels’ Wiener Schrift Deutsche Klassiker im Ghetto 1922 rezensiert, den Lesern dringend empfiehlt und folgendermaßen zusammenfasst  : 1 Vgl. Carina Heer  : Gattungsdesign in der Wiener Moderne. Traditionsverhalten in Dramen Arthur Schnitzlers und Hugo von Hofmannsthals. Mit Vergleichsanalysen zu Hermann Bahr, Felix Salten und Richard Beer-Hofmann. München 2014, S. 113–144. 2 Vgl. Nikolaj Beier  : »Vor allem bin ich ich …«. Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk. Göttingen 2008. Bettina Riedmann  : »Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher«. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen. Tübingen 2002. 3 So Renate Böschenstein  : Mythos als Wasserscheide. Die jüdische Komponente der Psychoanalyse. Beobachtungen zu ihrem Zusammenhang mit der Literatur des Jahrhundertbeginns, in  : Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen 1989, S. 287–310, hier S. 307.

Lessing als Ballspende im Fasching 1912 

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Wir erfahren da, daß bei den Gettojuden von allen deutschen Dichtern Lessing den höchsten Ruhm genoß, als Freund Mendelssohns, auch um des »Nathan« willen, besonders aber für seinen Stil, an dem sie »den Dreh« zu bewundern nicht müde wurden. Noch volkstümlicher aber war bei den Ostjuden Schiller, in dem sie nicht so sehr den Dichter als den »Weisen«, den Gott mit einem Teil seiner Weisheit ausgestattet hat, verehrten,4

so der katholische Hermann Bahr in seiner Rezension. Hier soll im vorliegenden Kapitel allerdings erst einmal nicht nach der intertextuellen Nähe zu Lessing im dramatischen Werk der Jungwiener gefragt werden, und auch nicht nachgeforscht werden, inwieweit Lessings Religionsphilosophie die Jungwiener in ihrer fiktionalen Auseinandersetzung mit dem Judentum beeinflusste. Es geht hier erst einmal viel allgemeiner und banaler um Lessingbilder im Wien des frühen 20. Jahrhunderts.5 Dass diese Lessingbilder aber auch erheblich von den Autoren des Jungen Wien geprägt wurden, zeigt sich, wenn versucht wird, eine Veranstaltung aus dem Fasching 1912 und eine aus dem Fasching 1929 ausschnitthaft vor Augen zu führen. Abschließend soll dann noch Hofmannsthals späte Lessing-Würdigung etwas genauer gemustert und mit den zur selben Zeit erscheinenden von Raoul Auernheimer und Richard Schaukal verglichen werden.

1. Lessing als Ballspende im Fasching 1912 Die Darstellung blendet sich also folgend ein in einen festlichen Abend im Wiener Fasching von 1912  : Es ist der 12. Februar, die Ballsaison neigt sich ihrem Höhepunkt und Ende zu und in den Wiener Sophiensälen in der Marxergasse im III. Bezirk findet der alljährliche Ball der Concordia, der österreichischen Schriftsteller- und Journalistenvereinigung, statt. Das ist ein großes gesellschaftliches Ereignis, »denn der Wiener Presse­ball vereinigt jedes Jahr so ziemlich alles, was zur offiziellen Welt gehört, alles, was jemals in die Lage kommt, die Presse als Mittler zwischen sich und der Oeffentlichkeit zu begrüßen«.6 Man zählt 2800 Besucher, deren prominenteste in den nächsten Tagen 4 Hermann Bahr  : [Rezension zu  :] Samuel Meisels  : Deutsche Klassiker im Ghetto. Eine Aufsatzreihe. Wien 1922, in  : Neues Wiener Journal vom 12. Februar 1922, S. 5, wieder abgedruckt in  : Hermann Bahr  : 30. Januar 1922, in  : Ders.: Liebe der Lebenden. Tagebücher 1921/23. Hildesheim 1925, Bd.  2, S.  35 ff., hier S. 35 f. 5 Zum religiösen Nebeneinander in Wien vgl. Frank Stern, Barbara Eichinger (Hg.)  : Wien und die jüdische Erfahrung. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus. Wien, Köln, Weimar 2009. Steven Beller  : Wien und die Juden 1867–1938. Wien, Köln, Weimar 1993. 6 [Anonymus  :] Concordia-Ball, in  : Neues Wiener Journal vom 13. Februar 1912, S. 2 f., hier S. 2. Zur Concordia vgl. Peter Eppel  : »Concordia soll ihr Name sein…«. 125 Jahre Journalisten- und Schriftstellerverein. Eine Dokumentation zur Presse- und Zeitgeschichte Österreichs. Wien, Köln, Graz 1984.

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Vom Umgang mit einem norddeutschen Aufklärer

ausführlich in den Zeitungen aufgelistet werden.7 Der Ballsaal ist prächtig geschmückt, Blumen und Blattpflanzen überall, und das Atelier der Hoftheatermaler Kautsky und Rottonara hat die Stirnseite des Raums mit einem riesigen Gemälde versehen, das »mit Girlanden von Glühbirnen« beleuchtet wird.8 Dieses modern-elektrisch illuminierte Gemälde zeigt ein altes Sujet, Wien im Jahre 1775, von den Grinzinger Anhöhen aus gesehen  : »Die untergehende Sonne vergoldet die liebliche Landschaft und das mit ziehenden Wolken bedeckte Firmament«.9 »Im Vordergrunde zwischen Weingärten, in denen Winzer tätig sind, wandelt Lessing mit seiner Braut Eva König, die er damals in Wien getroffen hat«.10 Denn der Concordiaball steht 1912 im Zeichen Gotthold Ephraim Lessings. Dass Lessing als Motto über diesem Faschingsball steht, zeigt nicht nur das überdimensionale pastorale Wandgemälde, das sich historisch korrekt auf den Wien-Aufenthalt von Lessing im Jahr 1775 bezieht und zugleich Lessing samt Braut in seltsamer Weise zum Teil der seit der Jahrhundertwende florierenden Alt-Wien-Mode verkitscht.11 Dass diese Tanzveranstaltung ein veritabler Lessing-Ball ist, dokumentiert vor allem auch die Damenspende, also das von den Veranstaltern zu Beginn des Festes den weiblichen Gästen überreichte Geschenk  : Es ist in diesem Fall ein carnet de bal, ein kunstvoll gestaltetes Büchlein, das »schon um ½ 11 Uhr« an diesem Abend vergriffen war, »so daß sich ein großer Teil der Besucherinnen mit Coupons begnügen musste, die zum Bezug einer Damenspende berechtigten«.12 Bei dieser begehrten Damenspende des Concordiaballs von 1912 handelt es sich um einen Lessing-Almanach, den der Journalist und Theaterkritiker Julius Bauer redaktionell betreut hat.13 Dieser Band versammelt nicht Texte von, sondern Texte über Lessing und gliedert sich in drei Teile  : Der erste Abschnitt ist übertitelt Lessing im Urteile der Gegenwart (S. 3–44) und bringt kurze Stellungnahmen von zeitgenössischen Schriftstellern über die Bedeutung Lessings für das 20. Jahrhundert. Der zweite Teil über Lessing in der Schauspielkunst (S.  45–63) präsentiert Photographien von berühmten Darstellern im Kostüm ihrer Lessing-Paraderollen  ; und der dritte Teil heißt Das Neueste aus dem Reich des Witzes (S. 65–83), wie einst Lessings Monatsbeilage für die Berlinische privilegirte Zeitung. Nur ist hier in der Ballspende von 1912, anders als in der Monats  7 Vgl. ebd. [Anonymus  :] »Concordia« -Ball, in  : Neues Wiener Tagblatt vom 14. Februar 1912, S. 9–12.   8 [Anonymus  :] Concordia-Ball (Anm. 6), S. 2.   9 So die Beschreibung bei [Anonymus  :] »Concordia« -Ball (Anm. 7), S. 9. 10 [Anonymus  :] Die Damenspende des »Concordia« -Balles, in  : Neue Freie Presse vom 13. Februar 1912, S. 8 f., hier S. 8. 11 Vgl. Mythos Alt-Wien. Spannungsfelder urbaner Identitäten. Hg. von Monika Sommer und Heidemarie Uhl. Wien 2009. 12 [Anonymus  :] »Concordia« -Ball (Anm. 7), S. 9. 13 Bauer stellte eine Mischung aus Wiederabdrucken und Originalbeiträgen, die eigens für die Ballspende verfasst wurden, zusammen.

Lessing als Ballspende im Fasching 1912 

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beilage aus dem 18. Jahrhundert, mit »Witz« nicht mehr »Geist« gemeint, sondern der spaßige Kalauer, denn in dieser humoristischen Schlussabteilung des Almanachs wird launig gefrotzelt und gereimt. Das Neue Wiener Journal zeigte sich nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Aufmachung des Buchs äußerst angetan  : Auf dem Ball des Wiener Journalisten- und Schriftstellervereins »Concordia« wurden die Damen mit einer reizenden Überraschung bedacht. In einem eleganten Karton mit Seidenbändern, reichen Ornamenten und dem Bilde Lessings auf der Vorderseite wurde ihnen ein geschmackvoll gebundenes kleines Buch überreicht, ein Lessing-Almanach mit vielen geistvollen Beiträgen bekannter Schriftsteller und Persönlichkeiten.14

Zu diesen »bekannten Schriftstellern und Persönlichkeiten« zählen nicht nur Österreicher, auch Gerhart Hauptmann, Maximilian Harden, Alfred Kerr, Otto Brahm, Wilhelm von Scholz und Frank Wedekind sind mit von der Partie. Von der österreichischen Schriftstellerprominenz beteiligen sich Fritz Mauthner, Stefan Großmann, Walter von Molo, Max Nordau und Hugo Salus. Auch germanistische Kompetenz ist repräsentiert, in Gestalt von Jakob Minor, dem Nachfolger von Erich Schmidt auf dem Wiener Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur. Da Jakob Minor für seinen Beitrag allerdings nicht den in Ballspenden eher üblichen humoristischen Tonfall wählt, sondern professoral ausschweift, veranlasst dies Karl Kraus zu dem Kommentar  : Jetzt hat Minor das Wort. Er kann nicht umhin, aus seinem reichen Schatz an literaturhistorischen Erfahrungen etwas beizusteuern. Er denkt, zwischen Lessing und dem Concordiaball könne nur das Seminar vermitteln  ; dann werde jener die Schäbigkeit der Gesellschaft nicht merken. Minor richtets ihr bei Lessing, er kennt seine Lebensgewohnheiten. […] Gehen wir, die Sache beginnt öd zu werden, zwanzig Studenten haben belegt, sechzig davon sind eingeschlafen, der Rest sattelt um und will Kunstgeschichte studieren.15

Aus dem Kreis der langsam gesetzter werdenden Jungwiener sind Hermann Bahr, Arthur Schnitzler, Raoul Auernheimer und Felix Salten mit Beiträgen zu Lessing vertreten. 14 [Anonymus  :] Die Damenspende des Concordiaballs. Ein Lessing-Almanach, in  : Neues Wiener Journal vom 13. Februar 1912, S. 3 f., hier S. 3. 15 Karl Kraus  : Lessing, in  : Die Fackel vom 29. Februar 1912, S. 1–5, hier S. 4. Zu Minors Beitrag zur österreichischen Lessing-Forschung zwischen Wilhelm Scherer und Erich Schmidt vgl. Werner Michler  : Lessings »Evangelien der Toleranz«. Zu Judentum und Antisemitismus bei Wilhelm Scherer und Erich Schmidt, in  : Judentum und Antisemitismus. Studien zur Literatur und Germanistik in Österreich. Hg. von Anne Betten und Konstanze Fliedl. Berlin 2003, S. 151–167.

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Vom Umgang mit einem norddeutschen Aufklärer

Auch das ruft augenblicklich Karl Kraus auf den Plan, der sich in der Fackel genüsslich fremdschämt und maliziöse Gedanken macht über die Idee, Lessing zum Helden eines Faschingsballs zu küren, über das Wandgemälde im Sophiensaal, die religiöse Zusammensetzung der Ballgesellschaft, das intellektuelle Niveau des Bandes und die Absichten des Herausgebers  : Lessing hat sich den Concordiaball gewiß auch anders vorgestellt. Dort, wo der Schnapsl um das Schicksl wirbt, dürften er und seine Eva, an die Wand gemalt und eine Nacht lang verpflichtet, zuzuschauen, sich als Eindringlinge gefühlt haben. Gegen das Bedürfnis des Herrn Julius Bauer, sich ein Lessing-Denkmal zu setzen, war aber nicht aufzukommen, und so mußte es geschehen, daß eine Gesellschaft, die von Lessing nichts anderes weiß, als daß er den einzigen vorrätigen Reim auf Messing bildet, und die nichts an ihm höher schätzt, als daß er mit dem Vornamen Ephraim geheißen hat, »im Zeichen« dieser bekannten Persönlichkeit ihr spezifisches Ballfest beging. […] Da Lessing selbst sich zur Damenspende nicht sehr eignet, so haben sich einige literarische Persönlichkeiten zusammengetan, um zu vermitteln. Der Versuch ist so ausgiebig gelungen, daß sich wohl keine Dame finden dürfte, die dem intellektuellen Niveau der Herren Beiträger nicht gewachsen wäre.16

Karl Kraus attackiert die Ballgesellschaft als eine Zusammenkunft von bornierten Banausen in Feierlaune, denen Lessings Werk ziemlich unbekannt und herzlich egal ist, und die lediglich die wohlfeile Gelegenheit ergreifen, irgendeinem dem Jüdischen aufgeschlossenen großen Dichter zu huldigen. Das ist, wie oft bei Kraus, eine ungerechte und parteiische Kollegenschelte (und wie ebenfalls oft bei Kraus nicht frei von antisemitischen Klischees). Kraus ignoriert dabei auch geflissentlich, dass es bei dieser Ehrung Lessings durch die Concordia nicht einfach nur gesamteuropäisch allgemein darum ging, irgendeinen Kronzeugen für den Assimilationsgedanken oder ein beliebiges Symbol für ein harmonisches christlich-jüdisches Zusammenleben zu finden. Wenn speziell die österreichische Schriftstellerorganisation Lessing ehrte, hatte dies auch etwas damit zu tun, dass Lessings damaliger Aufenthalt in Wien und seine Audienz bei J­oseph II. für die Entwicklung der österreichischen Literatur- und Theatergeschichte bedeutsam gewesen waren. Nur wenige Monate nach Lessings Besuch in Wien wurde das zum »Hof- und Nationaltheater« ernannte Burgtheater dazu aufgefordert, explizit das deutschsprachige Drama zu fördern. Und es wurden darüber hinaus neue Theater in den

16 Kraus  : Lessing (Anm. 15), S. 1.

Lessing als Ballspende im Fasching 1912 

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Wiener Vorstädten zugelassen.17 Daran sollte das Wandgemälde in den Sophiensälen mit der Szene von 1775 auch erinnern. Deshalb war Lessing nicht nur der Heros eines Faschingsfestes geworden, sondern die thematische Konzeption des Balls stand auch im Zusammenhang mit einem anderen kulturpolitischen Projekt  : Es hatte sich kurz zuvor innerhalb der Concordia ein Lessingdenkmal-Komitee gebildet, das sich bemühte, in Wien im Rathauspark eine Lessingstatue errichten zu lassen. Lessingmonumente gab es in Wolfenbüttel seit 1796, in Braunschweig seit 1853, in Hamburg seit 1881 und in Berlin seit 1890.18 Nun sollte auch Wien eines erhalten, und zwar auf Initiative von Moritz Epstein und einen Spendenaufruf von Jakob Minor hin.19 Der Präsident der Concordia, Sigmund Ehrlich, warb gleichfalls für die Einrichtung eines Lessing-Museums.20 Der Ball-Almanach ist Teil dieses Projekts. Vor allem Julius Bauers abschließendes Rollengedicht, das den Geist Lessings selbst zu Wort kommen lässt, macht den Zusammenhang von Ballspende und Denkmalsplan deutlich.21 Was finden sich nun in diesem Almanach für Texte von Jungwienern  ? Raoul Auern­ heimer hebt anlassgerecht den Humor und Unterhaltungswert Lessings hervor  : »Lessing ist recht eigentlich ein Unikum in Deutschland  : Ein großer Schriftsteller, der dabei amüsant ist, und – dem man es verzeiht«  ;22 Felix Salten würdigt den Kritiker und Dichter Lessing in einem Miniaturdialog,23 und Hermann Bahr erklärt Lessing zum Theoretiker der Falsifizierung  : »Lessing hat zuerst erkannt, daß all unseres Sinnens und Wirkens Wert im Erstreben, nicht aber im Erreichen der Wahrheit besteht, da jede Wahrheit, kaum erreicht, sich schon wieder als Irrtum enthüllt«.24 Das ist gar nicht so 17 Vgl. Hugh Barr Nisbet  : Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 586. 18 Zu den Lessing-Denkmalen in Deutschland vgl. Rolf Selbmann  : Dichterdenkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte in Erz und Stein. Stuttgart 1988, S. 2–29, 55, 86–88, 121 ff. 19 Vgl. Christa Veigl  : Monumentales Dichtergedenken. Lessings erstes Denkmal in Wien, in  : Der literarische Umgang der Österreicher mit Jahres- und Gedenktagen. Hg. von Wendelin Schmidt-Dengler. Wien 1994, S. 41–55. 20 Vgl. [Anonymus  :] Die Damenspende des Concordiaballs (Anm. 14), S. 3. 21 Julius Bauer  : Lessing läßt Euch sagen. (Schlußwort), in  : Lessing Almanach. Concordia-Ball. 12. Februar 1912. Wien 1912, S. 82 f. 22 Raoul Auernheimer  : [Ohne Titel], in  : Lessing Almanach (Anm. 21), S. 6. 23 Felix Salten  : Aus einem Gespräch, in  : Lessing Almanach (Anm. 21), S. 34. 24 Hermann Bahr  : [Ohne Titel], in  : Lessing Almanach (Anm. 21), S. 6. Bahr hat früh den Literaturkritiker Lessing im Blick, wenn er 1891 schreibt  : »Man kann sagen, seit Lessing, der die ganze kritische Arbeit der Nation allein verrichtet hat, ein unermüdlicher Riese, hat sie sich nicht gerührt, nicht einen Schritt vorwärts« (Hermann Bahr  : Zur Kritik der Kritik, in  : Ders.: Zur Kritik der Moderne. Erste Reihe. Zürich 1891, S. 248–255, hier S. 250). 1894 stemmt sich Bahr gegen eine Gegenwartsmanie des aktuellen Theaters, gegen die »Dramatisirung actueller, sensationeller Ereignisse. An die Stelle der ›Jungfrau von Orléans‹ wird eine neue Gabrielle Bompard treten und an jene des ›weisen Nathan‹ irgendein populärer Antisemitenhäuptling. Das Ende wird aber sein – so scheint mir – dass die Litteratur überhaupt aufhört und mit ihr der Schriftstellerstand« (Hermann Bahr  : Die Zukunft der Litteratur, in  : Ders.: Studien zur

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weit weg von Hugh Barr Nisbets heutiger Charakterisierung von Lessings Spätwerk als »entschieden provisorisch« und von Skepsis geprägt.25 Arthur Schnitzler steuert mit seinem Aphorismus in eine ähnliche Richtung wie Bahr  : »Um einer Partei anzugehören, ist eine gewisse Portion Einfalt unerläßlich. Vernünftige Leute, die den Standpunkt ihrer Partei bis in die letzten Konsequenzen zu vertreten suchen, erwecken immer den Eindruck, als ob sie konfus oder unehrlich geworden wären«.26 Das bleibt ziemlich allgemein und ist natürlich auch auf andere Personen als Lessing anwendbar, aber die Wirkung eines »konfusen« Eindrucks kann man vielleicht ja auch noch in der neueren Forschung finden, wenn man dort die Vieldimensionalität von Lessings Werk (zwischen »Streitschriften und Polemiken, altertumswissenschaftlichen Untersuchungen und religionsphilosophischen Abhandlungen«) einerseits wertneutraler und andererseits moderner »mit den Begriffen des ›Pluralismus‹ und ›Perspektivismus‹ zu fassen sucht«.27 Schnitzler hat sich insgesamt erstaunlich wenig öffentlich zu Lessing geäußert, obwohl sein Tagebuch immer wieder Lessing-Lektüren und Theaterbesuche vermerkt. Die gesellschaftskritische Dimension von Schnitzlers Dramen kann aber durchaus auch an die naturalistische Wiederentdeckung von Lessing anknüpfen, wenn die Naturalisten ihr soziales Drama in die Tradition des bürgerlichen Trauerspiels stellten.28 Dass Schnitzler Kritik der Moderne. Frankfurt a. M. 1894, S. 12–19, hier S. 17). Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts registriert Bahr beiläufig Lessing-Kritik von österreichischen Autoren des 19. Jahrhunderts. In literaturgeschichtlichen Notizen porträtiert er Grillparzer als prinzipiell unentrüsteten Menschen  : »Seiner Natur war versagt, sich zu wehren. (Gegen Regierung wie gegen Publicum). Das Wehren begriff er gar nicht. Daher seine Abneigung gegen Lessing, über den er zu Kuh […] gesagt hat  : ›Seine Rauflust war mir nicht sympathisch  ! Er hatte doch immer seine Freude am Streit‹« (Hermann Bahr  : Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte, Bd. 5  : 1906–1908. Hg. von Moritz Csáky. Bearbeitet von Kurt Ifkovits und Lukas Mayerhofer. Wien, Köln, Weimar 2003, S. 54). Diese Grillparzer-Anekdote bezieht Bahr aus einem Buch von Emil Kuh über Grillparzer und Stifter (Emil Kuh  : Zwei Dichter Österreichs  : Franz Grillparzer – Adalbert Stifter. Pest 1872, S. 217). In einem Skizzenbuch von 1907 exzerpiert Hermann Bahr die Lessing-Kritik von Alexander von Villers  : »Realismus auf der Bühne ist der Versuch eines Malers Bilder zu malen, in welchen die gemalten Personen das Sacktuch aus der Tasche ziehen, sich schneuzen und es wieder einstecken […]. Die Bühne bedeutet, sie ist nicht. Lessing würde heute andere dramaturgische Blätter schreiben. Er hat viel Unheil gestiftet. Im Dialog Ereignisse und Empfindungen in hohe Gedanken umsetzen, unter der Form einer edlen Sprache, wohltönend auszudrücken, erscheint mir der Kunst würdiger, als Leidenschaften herumzappeln lassen, an denen, Dichter, Darsteller und Zuhörer gleich unschuldig sind« (Bahr  : Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte, Bd. 5  : 1906–1908 [s.o.], S. 106. Das Zitat findet sich bei Alexander von Villers  : Briefe eines Unbekannten. Wien 1881, Bd. 1, S. 238 f.). 25 Nisbet  : Lessing (Anm. 17), S. 868. 26 Arthur Schnitzler  : [Ohne Titel], in  : Lessing Almanach (Anm. 21), S. 38. 27 So Friedrich Vollhardt  : Gotthold Ephraim Lessing. München 2016, S. 7. 28 Vgl. hierzu Wilfried Barner  : Lessing um 1900. Aspekte einer Klassikerkonstellation, in  : Mit Lessing zur Moderne. Soziokulturelle Wirkungen des Aufklärers um 1900. Beiträge zur Tagung des Lessings-Museums und der Lessing-Society im Lessing-Jahr 2004. Hg. von Wolfgang Albrecht und Richard E. Schade. Kamenz 2004, S. 19–24.

Ein halber Lessing-Almanach beim Concordiaball 1929 

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mit Lessings Werk bestens vertraut war, bezeugt nicht nur seine Lektüreliste,29 sondern erläutert auch ein Brief an Hofmannsthal, in dem er seine eigene literaturtheoretische Zurückhaltung mit den poetologischen Schriften von Lessing kontrastiert  ; Schnitzler berichtet, dass das »Theoretisieren einfach meinem Wesen nicht entspricht« im Unterschied zu den poetologischen Äußerungen Lessings und Hofmannsthals.30 Aber Schnitzler kannte nicht nur das autorisierte fiktionale und theoretische Œuvre Lessings gut, sondern auch die Dramenentwürfe und Briefwechsel.31 Während die neuere Lessing-Forschung die Korrespondenz zwischen Lessing und seiner Braut »zu den großen Zeugnissen der Briefkultur des 18. Jahrhunderts« rechnet,32 hatte Schnitzler da eine ziemlich andere Meinung. Er fragte 1895 Richard Beer-Hofmann in einem Brief  : »Kennen Sie den Briefwechsel Lessing – Eva König. Er ist nicht sehr interessant. Merkwürdig nur, wie sie sich immer über Lotterienummern berathen«.33 Insgesamt ist es auffällig, dass die Autoren des Jungen Wien sich in dem LessingAlmanach von 1912 für den Dramatiker und den angriffslustigen Literaturkritiker interessieren, aber nicht einen religionsphilosophischen Streiter für ein einträchtiges jüdisch-christliches Zusammenleben modellieren. Das tun andere in diesem Büchlein, etwa der jüdisch-ungarische Diplomat und Schriftsteller Ludwig Doczy, der feststellt, dass die Freiheit des Geistes, von der Lessing geträumt, von einem »Vaterlande noch nicht erreicht sei, wo ein Jude nicht Offizier werden kann«.34

2. Ein halber Lessing-Almanach beim Concordiaball 1929 Im Jahr 1929 stellt die Concordia ihren Faschingsball ein weiteres Mal in das Zeichen Lessings. Von einer Lessing-Statue ist trotz Gedenkjahr (man feiert Lessings 200. Geburtstag) immer noch weit und breit nichts zu sehen in Wien. So zieht der mittlerweile 29 Vgl. Achim Aurnhammer (Hg.)  : Arthur Schnitzlers Lektüren  : Leselisten und virtuelle Bibliothek. Würzburg 2013, S. 89. 30 Brief Schnitzlers an Hofmannsthal vom 23. Mai 1896, in  : Hugo von Hofmannsthal – Arthur Schnitzler  : Briefwechsel. Hg. von Therese Nickl. Frankfurt a. M. 1964, S. 66. 31 Zu den Dramenentwürfen Lessings vgl. entsprechend einen Brief Schnitzlers an Hofmannsthal vom 27. Juli 1891, in  : Hofmannsthal – Schnitzler  : Briefwechsel (Anm. 30), S. 9. Außerdem ist in diesem Briefwechsel auch Schnitzlers Lektüre von »Lessing’s Leben von seinem Bruder erzählt« vermerkt (Brief von Schnitzler an Hofmannsthal vom 14. Juli 1892, ebd., S. 22). 32 So Vollhardt  : Lessing (Anm. 27), S. 94. 33 Brief Arthur Schnitzlers an Richard Beer-Hofmann vom 24. Juni 1895, in  : Arthur Schnitzler – Richard Beer-Hofmann  : Briefwechsel 1891–1931. Hg. von Konstanze Fliedl. Wien, Zürich 1992, S. 76. 34 Lessing Almanach (Anm.  21), S.  13. Das kommentierte Karl Kraus hämisch, »als ob es nicht Trostes genug wäre, daß er [i. e. Doczy] in Ungarn Sektionschef werden kann  !« (Kraus  : Lessing [Anm. 15], S. 2).

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75-jährige Julius Bauer, seit 1928 Ehrenmitglied der Concordia, noch einmal alle Kräfte zusammen und gestaltet wieder eine Lessing-Damenspende  : dieses Mal allerdings nur eine halbe  ; denn das Büchlein, das die Ballbesucherinnen überreicht bekommen, ist zweigeteilt, und zwar dergestalt, dass man zunächst unter dem (Grabbes Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung [1822] variierenden) Titel Scherz und Satire ohne tiefere Bedeutung eine kulturpolitisch-gegenwartskritische Faschingsrevue lesen kann. Wenn man das Buch umdreht und von hinten aufschlägt, entpuppt es sich als ein Lessing-Almanach unter dem Titel Ernst, Satire und tiefere Bedeutung. Dieser Lessing-Almanach ist insgesamt überschrieben Lessing im Urteil der Gegenwart und setzt ein mit Zitaten von Dramatischen Schriftstellern (S. 7–17), lässt dann einen Teil mit Äußerungen von Dramaturgen (S. 19–25) folgen und schließt mit einer Würdigung von Lessing als Kritiker (S. 29–51).35 In diesem zweiten österreichischen Lessing-Almanach unter Jungwiener B ­ eteiligung prallen Texte unterschiedlicher Stilhöhe aufeinander. Viele Beiträge passen sich dem Kontext einer Faschingsballspende für die Damen an und wählen einen ganz leichten und humoristischen Ton, was im Kontrast zu den vielen dröhnenden deutschen Gedenk­ jahrbeiträgen aus der späten Weimarer Republik den heutigen Leser möglicherweise überrascht,36 wenn etwa Stephan Kamare augenzwinkernd von einer s­piritistischen ­Séance in Berlin berichtet, in der Lessings Geist herbeizitiert wird und auf die Frage, wen er denn für den bedeutendsten deutschen Dichter heute halte, lapidar »Bert Brecht« antwortet. Diese Brecht-Huldigung bleibt allerdings nicht bestehen, sondern wird gleich komisch relativiert, denn diese Äußerung [des Geistes] machte unter den Anwesenden, in deren Mitte sich der Dichter Bert Brecht selbst befand, größtes Aufsehen. Die Fachgelehrten stellen übereinstimmend fest, daß die spiritistische Erklärungsweise, wonach derartige Kundgebungen tatsächlich aus dem Jenseits stammen, durch dieses Experiment endgültig widerlegt sei, daß hingegen die animistische Theorie, welche diese Phänomene als Projektionen des Seelenlebens der Séanceteilnehmer oder zumindest eines unter ihnen erklärt, dadurch viel an Wahrscheinlichkeit gewonnen habe.37

35 Vgl. Scherz und Satire ohne tiefere Bedeutung. Faschingsrevue der Concordia. / Ernst, Satire und tiefere Bedeutung. Lessing-Almanach der Concordia. Wien 1929. 36 Zum deutschen Gedenkjahr 1929 vgl. Wilfried Barner  : Lessing 1929. Momentaufnahmen eines Klassikers vor dem Ende einer Republik, in  : Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag. Hg. von Wilfried Barner, Martin Gregor-Dellin, Peter Härtling und Egidius Schmalzriedt. München 1983, S. 439–456. 37 Stephan Kamare  : Séance in Berlin, in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung (Anm. 35), S. 13.

Ein halber Lessing-Almanach beim Concordiaball 1929 

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In eine ähnliche Richtung tendiert auch der Drehbuchautor Siegfried Geyer, wenn er in einem kontrafaktischen Gedankenspiel Lessing in die Gegenwart katapultiert und erfrischend respektlos überlegt, wie Lessing sich als Autor 1929 an die veränderte Medienlandschaft und neuen Aufschreibesysteme anpassen würde  : Im übrigen wäre er schon wegen der Schreibmaschine viel produktiver, hätte eine Villa in Hitzing [sic], ein Auto und wäre an S. Fischer gebunden. Reinhardt würde seine Stücke glatt nehmen. […] »Minna von Barnhelm« wäre wahrscheinlich ein Seriengeschäft, aber eine Zeit, in der »Miß Sara Sampson« nicht durchfällt, muß erst kommen. Doch vielleicht kann man aus dem Sujet eine Operette machen  !38

Diese spaßigen Einträge stehen unvermittelt neben hoch pathetischen Stücken, etwa einer versifizierten Welthymne von Egmont Colerus, die er »Lessings großer ToleranzIdee« zueignet, oder der aufschlussreichen Beobachtung des expressionistischen Dramatikers Franz Theodor Csokor  : »Kant, Goethe, Schiller, Nietzsche zwängte man in die Weltkriegstornister, nur Gotthold Ephraim Lessing, der paßte nie hinein«.39 Von den mittlerweile um die 60 Jahre alten Jungwienern sind dieses Mal vertreten Raoul Auernheimer, Hermann Bahr, Paul Goldmann, Felix Salten und Paul Wertheimer. Wertheimer verriss im Jahr 1900 Arno Holz’ Manifest Revolution in der Lyrik und stemmte sich vor allem gegen Holz’ Anspruch, Lessing als Literaturkritiker nachzufolgen.40 Jetzt im Almanach von 1929 modelliert er Lessing als Kämpfer gegen ein »naturfremd gewordene[s] Theater« und porträtiert ihn nicht so sehr allgemein als Kritiker (wie Paul Goldmann),41 sondern beruflich spezifischer als Journalisten und somit auch zum Vorbild des durchschnittlichen Concordia-Mitglieds  :

38 Siegfried Geyer  : 1729 – 22. Jänner – 1929, in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung (Anm. 35), S. 33. 39 Egmont Colerus (Welthymne) und Franz Theodor Csokor (Der Humanist des achtzehnten Jahrhunderts), in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung (Anm. 35), S. 10 und 11. 40 »Stellt man diese flackernde Darstellung der tiefen Sachlichkeit, Würde und überlegenen Eleganz Lessing’scher Polemik gegenüber, so wird man Arno Holz einstweilen noch nicht als Thronfolger auf dem kritischen Stuhle Lessings betrachten. […] Wenn Arno Holz Lessings Schatten herbeiruft, wohl um anzudeuten, daß nun die deutsche Lyrik reformirt werden müsse, wie Lessing das deutsche Drama reformirte, so hat er Eines nicht gewürdigt [und jetzt wird es literaturhistorisch einigermaßen halsbrecherisch bei Wertheimer, nämlich], daß vor dem Auftreten Lessings, von geringen Ansätzen abgesehen, kein nationales Drama in Deutschland bestand. […] anders die deutsche Lyrik, die nationaleigenthümlichste Kunst, deren Tradition fast bis in die Anfänge unserer Sprache zurückreicht  !« (Paul Wertheimer  : [Rezension zu  :] Arno Holz  : Revolution der Lyrik. Berlin 1899, in  : Die Zeit vom 2. Juni 1900, S. 141). 41 »Lessing als Kritiker – ein Glück, daß er bereits klassisch ist  ! Heut wäre er es nicht mehr geworden mit seiner gänzlich veralteten Ansicht, daß der Kritiker die Aufgabe hat, richtig zu urteilen und verständlich zu schreiben« (Paul Goldmann  : [Ohne Titel], in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung [Anm. 35], S. 33).

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Die Klarheit und Wahrheit, den Wagemut, Trotz und Stolz Gotthold Ephraim Lessings müßte besitzen  – wer die Feder ansetzt im Kampf um das wie zu Lessings Zeiten, nur anders, naturfremd gewordene Theater von heute. Dann wird wie bei ihm, dem ersten großen, streitbaren Journalisten Deutschlands, was für den Augenblick bestimmt schien, Ewigkeiten überdauern.42

Felix Salten würdigt das ausgeprägte Selbstbewusstsein Lessings als ein berechtigtes,43 und Hermann Bahr verlegt sich bei seinem zweiten Beitrag zu einem Concordia-Lessing-Almanach ganz ins humoristische Fach und plaudert anlassbezogen  : »Er [i. e. Lessing] hat auch oft genug seinen Gegnern mit so viel Bravour auf der Nase getanzt, daß er für unseren Ball bestens empfohlen werden kann, was hiermit bestätigt Hermann Bahr«.44 Während sich Bahr hier so leicht als Causeur mit Wortwitz gibt, zeigt ein Blick auf dieselbe Seite des Almanachs, dass das intellektuelle Klima auch in Österreich insgesamt mittlerweile ein anderes geworden ist. Der halbierte Almanach listet die Beiträger alphabetisch, und auf derselben Seite wie Bahr findet sich der Eintrag von Arnolt Bronnen  : Gotthold Ephraim ist mit seinen zweihundert Jahren lebendiger als irgend einer unserer heutigen — Männer. Gotthold war nämlich der erste, der deutsch schrieb mit einem großen Horizont  ; ein weltweites Deutsch  ; und weder Friedrich noch Johann, mit ihren Provinzialismen, konnten ihn hierin wieder erreichen.45

Großdeutsch, planetarisch ausgreifend, kernig, viril und kompromisslos erscheint Lessing in diesem Zerrbild des Bürgerschrecks und »faschistischen Piccolos« Arnolt Bronnen,46 der sich hier ungebeten auf Du und Du mit der Weltliteratur von L ­ essing, Schiller und Goethe stellt. So prallen in diesem österreichischen Almanach von 1929 zwei Generationen aufeinander  : Das alt gewordene Junge Wien mit dem elegant harmlosen Plauderton einer monarchischen Welt von Gestern und der 1895 geborene Bronnen, der in den späten 1920er Jahren sich völkischen Kreisen annähert, mit Joseph

42 Paul Wertheimer  : [Ohne Titel], in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung (Anm. 35), S. 46. 43 »›… man zeige mir ein Stück des erfolgreichen Sudermann, das ich nicht besser zu machen verstünde  !‹/ Wer von allen deutschen Kritikern dürfte solch einen Ausspruch niederschrieben  ? / Lessing durfte das vom ›großen Corneille‹ sagen. Denn Lessing hat für seine Behauptung nachher den vollen Beweis erbracht« (Felix Salten  : Der Kritiker, in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung [Anm. 35], S. 42). 44 Hermann Bahr  : [Ohne Titel], in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung (Anm. 35), S. 9. 45 Arnolt Bronnen  : [Ohne Titel], in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung (Anm. 35), S. 9. 46 Vgl. Harald Kaas  : Der faschistische Piccolo  : Arnolt Bronnen, in  : Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus. Hg. von Karl Corino. Hamburg 1980, S. 136–149.

Ein halber Lessing-Almanach beim Concordiaball 1929 

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Goeb­bels’ Geliebter anbändelt und einen heroischen Nationalismus proklamiert, der sich in anarchischen Zerstörungsphantasien und antisemitischen Tiraden gefällt. Von diesem zweiten Wiener Lessing-Ball mit seinem halbierten Lessing-Almanach wird zwar auch in der Tagespresse berichtet,47 allerdings lange nicht so umfangreich wie 1912, was auch damit zu tun haben wird, dass die Wiener Zeitungsleser mittlerweile gehörig mit Lessing-Gedenkartikeln eingedeckt sind, denn der Concordiaball fällt 1929 auf den 28. Januar (sechs Tage nach Lessings 200. Geburtstag), und die Abonnenten der Neuen Freien Presse hatten bis dahin schon reichlich Lessing-Informationen erhalten. Die Artikel zum 200. Geburtstag Lessings setzen bereits am 20. Januar gewichtig ein mit Hugo von Hofmannsthals und Raoul Auernheimers umfangreichen Würdigungen.48 Parallel wird man informiert über die bereits stattgehabte Wiener Lessing-Feier der Concordia und noch einmal hingewiesen auf den Ball am nächsten Montag.49 Am 21. Januar berichtet ein Korrespondent per Telegramm über die Berliner Lessing-Feier mit Friedrich Gundolf als Festredner,50 und am Geburtstag selbst bringt nicht nur der Redakteur Richard Charmatz sein Lessing-Feuilleton unter dem zeittypischen Titel Der Kämpfer, sondern es folgt auch noch ein kritischer Bericht über die Lessing-Feier am Burgtheater und ein dramaturgisch ausgerichteter Artikel über Lessing und der Schauspieler.51 In anderen österreichischen Zeitungen kann man sich über Lessing in Wien informieren,52 oder von einem Heidelberger Privatdozenten mehr über Lessing und den fragmentarischen Geist erfahren.53 Für die Frage nach dem Traditionsverhalten der älter gewordenen Jungwiener sind dabei mit Sicherheit die Würdigungen von Hofmannsthal, Auernheimer und Schaukal am aufschlussreichsten.

47 [Anonymus  :] Der »Concordia« -Ball und die Damenspende, in  : Neue Freie Presse vom 27. Januar 1929, S. 10. [Anonymus  :] Die offiziellen Ansprachen beim »Concordia« -Ball, in  : Neue Freie Presse vom 30. Januar 1929, S. 8. [Anonymus  :] Der »Concordia« -Ball, in  : Neue Freie Presse vom 31. Januar 1929, S. 5 ff. 48 Raoul Auernheimer  : Lessing bis heute, in  : Neue Freie Presse vom 20. Januar 1929, S. 1 f. Hugo [von] Hofmannsthal  : Gotthold Ephraim Lessing. Zum 22.1.1929, in  : Neue Freie Presse vom 20. Januar 1929, S. 2 f. 49 [Anonymus  :] Die Lessing-Feier der Concordia, in  : Neue Freie Presse vom 20. Januar 1929, S. 10. [Anonymus  :] Concordia-Ball, in  : Neue Freie Presse vom 20. Januar 1929, S. 13. 50 [Anonymus  :] Die Lessing-Feier. Eine Festrede Professor Gundolfs. Telegramm unseres Korrespondenten, in  : Neue Freie Presse vom 21. Januar 1929, S. 7. 51 Richard Charmatz  : Ein Kämpfer. Zu Lessings zweihundertstem Geburtstag, in  : Neue Freie Presse vom 22. Januar 1929, S. 1 ff. [Anonymus  :] Die Lessing-Feier im Burgtheater, in  : Neue Freie Presse vom 22. Januar 1929, S. 8. Franz Herterich  : Lessing und der Schauspieler, in  : Neue Freie Presse vom 22. Januar 1929, S. 11. 52 Ludwig Pohlner  : Lessing in Wien. Zu seinem 200. Geburtstag am 22. Jänner 1929, in  : Reichspost vom 22.  Januar 1929, S.  1 f. Siegfried Löwy  : Lessings Gattin als Wiener Fabrikbesitzerin. Ein Liebesidyll in Briefen, in  : Neue Freie Presse vom 27. Januar 1929, S. 35. 53 Otto Mann  : Lessing und der fragmentarische Geist, in  : Tagespost vom 22. Januar 1929, S. 1 f.

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3. Hofmannsthals Lessing-Essay von 1929 im Vergleich mit Auernheimer und Schaukal Hugo von Hofmannsthals und Raoul Auernheimers Lessing-Deutungen miteinander zu vergleichen, legt schon die Situation der Erstveröffentlichung nahe. Die beiden Geburtstagswürdigungen wurden am selben Tag in der Neuen Freien Presse auf denselben Seiten untereinander abgedruckt und kommentierten einander so für den zeitgenössischen Leser wechselseitig. Raoul Auernheimer, Großcousin von Theodor Herzl und zwei Jahre jünger als Hofmannsthal, war Redakteur der Neuen Freien Presse seit 1906 und 1929 Vizepräsident des von Felix Salten präsidierten österreichischen PEN-Clubs.54 In der Tradition von Heinrich Heine bezeichnet Auernheimer Lessing (seiner Wahrheitsliebe wegen) als einen »zweite[n] Luther« und »den Luther unseres Dramas«.55 Während weite Teile der Germanistik der Weimarer Republik in Reaktion auf den Versailler Vertrag Lessing als ästhetischen Bekämpfer und Überwinder der Franzosen modellierten, betont der Österreicher Auernheimer konträr und das meint er positiv  : Ihn als Feind der Franzosen oder gar ihrer Literatur anzusprechen, […] ist ganz irrig. Im Gegenteil, unter allen unseren klassischen Schriftstellern schreibt Lessing am französischesten, verdankt Lessings geistreich kurzer, gelenker Konversationsstil dem französischen Vorbild am meisten.56

Auernheimer widmet sich auch dem Kritiker Lessing und verteidigt die Daseinsberechtigung der Kritik in antiintellektuellen und geistfeindlichen Zeiten mit der Existenz Lessings, ganz ähnlich wie Thomas Mann 1929, und auch in der Concordia-Ballspende reagiert Auernheimer auf die schroffe Frage Wozu Kritik  ? folgendermaßen  : Die bloß Schaffenden werfen diese Frage immer gebieterischer auf, und die bloß Meinenden bleiben ihnen oft genug die Antwort schuldig. Ist es denn auch unbedingt notwendig, daß der erkennende Geist sich über das Geschaffene beugt, statt sich vor ihm zu beugen und dienend, anbetend, vermittelnd die Verbindung zwischen ihm und der Gemeinde herzustellen  ? Und wer wünscht es sich eigentlich, da doch weder dem Künstler noch dem Publikum an Wahrheitsforschung – denn nur das ist Kritik – das Geringste gelegen scheint  ? Aber wozu fragen  ? Wozu antworten  ? Dieser freie, dieser wahrhaft kritische Geist hat einen Lessing hervor-

54 Zu Auernheimer vgl. auch in vorliegender Abhandlung den ersten Teil des letzten Kapitels Nachschriften, das sich mit Auernheimers Auseinandersetzung mit Schnitzler beschäftigt. 55 Auernheimer  : Lessing bis heute (Anm. 48), S. 2. 56 Ebd.

Hofmannsthals Lessing-Essay von 1929 im Vergleich mit Auernheimer und Schaukal 

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gebracht, er hat die Hamburgische Dramaturgie gezeitigt  ; und somit ist die Daseinsberech­ tigung der Kritik ein für allemal und für jedes Zeitalter erwiesen.57

Hugo von Hofmannsthal hingegen setzt die Akzente deutlich anders. Er ist sehr viel näher am heroisierenden Festredenstil der späten Weimarer Republik, setzt ein mit einem etwas verschwommen bleibenden Blick auf die unsichere politische Gegenwart und betont, dass auch die aktuelle Klassikerdeutung nicht von politischen Umbrüchen unberührt bleibe. Es sei momentan schwierig, über einen unbezweifelten Klassiker wie Lessing heute etwas auszusagen, worin zugleich das Verhältnis der Allgemeinheit zu ihm klar zum Ausdruck käme. Eine solche Schwierigkeit wäre für einen Franzosen oder Engländer unverständlich, denn dort pflegen auch die heftigsten politischen und sozialen Änderungen die geistigen Hauptverhältnisse unberührt zu lassen. Innerhalb der deutschen Sprachwelt aber sind wir im Zusammenhang mit dem, was geschehen ist, gewissermaßen in ein anderes Klima geraten, von wo aus zu dem sozusagen selbstverständlich Vorhandenen ganz neue Richtlinien gezogen werden müssen.58

Der kulturelle Klimawandel einer politisch radikalisierten und sozial aufgeheizten Nachkriegszeit wird hier einerseits von Hofmannsthal angesprochen, andererseits bleibt einigermaßen nebulös, was genau hier eigentlich wem geschehen ist. Geht es um die Kriegsniederlage, die geographischen Gebietsverluste des Rumpfstaats Österreich, das Ende der habsburgischen oder wilhelminischen Monarchie, den Staatsformwechsel zur Republik, die wirtschaftliche Situation oder das veränderte politische Diskussionsklima in den späten 1920er Jahren  ? Und geht es um Österreich oder Deutschland, oder um Beide  ? Das bleibt unpräzisiert. Während Auernheimer seine Lessing-Würdigung deutlich auf Österreich zuschnitt (und etwa auch betonte  : »Ohne Lessing […] kein Burgtheater«59), scheint Hofmannsthal gleichermaßen für deutsche und österreichische Verhältnisse zu sprechen. Seine »ganz neuen Richtlinien« der kulturellen Deutung Lessings schimmern grenzüberschreitend.60 Nah an den Gedenkjahrwürdigungen 57 Ebd. Vgl. auch Raoul Auernheimer  : Wozu Kritik  ?, in  : Ernst, Satire und tiefere Bedeutung (Anm.  35), S. 29. Zu Thomas Manns Beitrag zum Lessing-Jahr 1929 vgl. Klaus Müller-Salget  : Thomas Mann und die Aufklärung, in  : Nachklänge der Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert. Für Werner M. Bauer zum 65. Geburtstag. Hg. von Klaus Müller-Salget und Sigurd Paul Scheichl. Innsbruck 2008, S. 251–265. 58 Hofmannsthal  : Gotthold Ephraim Lessing (Anm. 48), zitiert nach dem Wiederabdruck in  : Ders.: Reden und Aufsätze III (1925–1929). Buch der Freunde. Aufzeichnungen (1889–1929). Hg. von Bernd Schoeller und Ingeborg Beyer-Ahlert (Aufzeichnungen) in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1980 (Gesammelte Werke in Einzelbänden), S. 138–142, hier S. 138. 59 Auernheimer  : Lessings bis heute (Anm. 48), S. 2. 60 Dies gilt auch für Hofmannsthals Münchner Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927).

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der späten Weimarer Republik sind auch die Betonung des »herb Männliche[n], leuchtend Metallische[n]« und die vitalistische Aufwertung Lessings, dessen Wirkungskraft »man alles absprechen kann, nur nicht, daß sie lebendig ist«.61 Bei Auernheimer und Hofmannsthal ist Lessing gleichermaßen Gestalt des 18. Jahrhunderts,62 aber er wird nicht zum Musteraufklärer stilisiert (gegenüber den zu zeitüberragenden Gestalten erhobenen Goethe und Schiller). Auernheimer betont den deutschen Gelehrten. Hofmannsthals historisierender Blick wiederum scheint einerseits noch im Bann der kulturkriegerischen Dichotomien von westeuropäischer aufklärerischer Zivilisation und deutscher romantischer Kultur zu stehen, wenn er konzediert  : »Historisch gesprochen, erkennen wir vielleicht mehr als zuvor seine Zusammenhänge mit dem achtzehnten Jahrhundert«, aber gleichzeitig ›bewahrt‹ er Lessing auch vor einer rein aufklärerischen Kategorisierung, indem er ihn zeitlich weiter zurück verankert, denn Lessing erscheint ihm nicht nur als Bürger des 18.  Jahrhunderts, »dem er so völlig angehört, [sondern] darüber hinaus sogar mit dem sechzehnten [verwandt], dem Jahrhundert des militanten Protestantismus und des militanten Gelehrtentums«.63 Diese literaturgeschichtliche Rückbindung an das 16. Jahrhundert ist einerseits durchaus kompatibel mit neueren Tendenzen der Lessing-Forschung, wenn die sich besonders für Lessings Rettungen verkannter Autoren der Reformationszeit interessiert,64 andererseits rückt Hofmannsthal Lessing so zeitlich näher an die Traditionsbestände der Frühen Neuzeit, die ihn selbst in den 1920er Jahren fesseln und die wichtig sind für Das Salzburger Große Welttheater (1922) und sein Trauerspiel Der Turm (1927). Von den Dramen Lessings würdigen Auernheimer und Hofmannsthal Emilia Galotti, Minna von Barnhelm und Nathan der Weise. Bei Beiden schneidet Emilia Galotti am schlechtesten und Minna von Barnhelm am besten ab. Mit Nathan tun sich Beide schwer und betonen gattungsästhetisch, dass es sich hier recht eigentlich um ein Lustspiel handelt. Auernheimer hofft  : »Dieses Werk als dasjenige zu erkennen, was es eigentlich ist, nämlich als ein Lustspiel, wenn auch eines vom höchsten Geistesadel, bleibt vielleicht erst unserer Zeit überlassen«.65 Hofmannsthal kritisiert, »dass man dieses Stück, für mein Gefühl, nie so gespielt hat, wie es gespielt werden müßte  ; ganz als das geistreichste Lustspiel, das wir haben«.66 Dieses lustspielhafte Element im ernsten dramatischen Gedicht bindet Hofmannsthal zurück an Calderón, denn ihm erscheint in 61 Hofmannsthal  : Gotthold Ephraim Lessing (Anm. 58), S. 139. 62 »Und zwar ist Lessing ein Gelehrter im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts« (Auernheimer  : Lessing bis heute [Anm. 48], S. 1). 63 Hofmannsthal  : Gotthold Ephraim Lessing (Anm. 58), S. 138. 64 Vgl. Michael Multhammer  : Lessings ›Rettungen‹. Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin 2013. 65 Auernheimer  : Lessing bis heute (Anm. 48), S. 3. 66 Hofmannsthal  : Gotthold Ephraim Lessing (Anm. 58), S. 140.

Hofmannsthals Lessing-Essay von 1929 im Vergleich mit Auernheimer und Schaukal 

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dieser Hinsicht der Nathan »fast wie das Stück eines der großen Spanier«.67 Bei aller Bewunderung verweist Hofmannsthal auch auf kritische Stimmen zum Nathan, die das Drama »ein schwaches Werk [nennen], das zwischen der Poesie und Philosophie im Leeren hänge«.68 Noch sehr viel mehr Probleme mit Nathan als Hofmannsthal hat allerdings Richard Schaukal, katholischer Dichter und Randgestalt des Jungen Wien und spätestens seit 1919 vehementer Antisemit.69 In seiner Lessing-Würdigung, abgedruckt in der Wiener Zeitung am 22. Januar 1929, verschwurbelt und verklausuliert Schaukal Lessings Nathan bis zur Unverständlichkeit zum gefährlichen, weil im Sinne der Toleranz instrumentalisierbaren Stück  : Eine Tendenz – und eine der in ihrer scheinbaren Milde und Versöhnlichkeit einseitigsten und gefährlichsten […] – erfährt als Dichtung die Macht dieses zum Sieg berufenen Kämpfers  : auch »Nathan der Weise«, gleich den »Provinciales« Pascals verderblichstem Mißbrauch eine heimtückische Waffe, bekundet, so wie dieses Juwel, durch Schliff und Feuer den verehrungswürdigsten Schöpfer.70

Als Dichtung mag der Nathan Bestand haben, in religionspolitischer Hinsicht erscheint er Schaukal gefährlich und die falschen Werte zu transportieren. Eine solche bemühte Separierung der ästhetischen Leistung von der inhaltlichen Aussage illustriert Schaukals Anstrengung, Lessing in keiner Weise als um Toleranz bemühten Religionsphilosophen gelten zu lassen. Der Vergleich mit Blaise Pascals Lettres provinciales (1656/57), die in der Kontroverse zwischen Jesuiten und Jansenisten für die Jansenisten Position bezogen, macht den katholischen Ausgangspunkt von Schaukals Argumentation sichtbar. Auch Pascal fiktionalisierte, wie Lessing, eine theologische Streitfrage, und hatte mit seinem Werk eine enorme Wirkung. Schaukals Artikel stellt nun eine extreme Position im erweiterten Kreis der alternden Jungwiener dar. Schaukals katholischer Antisemitismus bildet einen Sonderfall in 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Vgl. Richard Schaukal  : Wir und die Juden, in  : Das Gewissen 1 (1919), S. 24–31. Schaukal überführt dort den kulturkriegerischen Deutschland-England-Gegensatz, der sich bei Werner Sombart in ein antikapitalistisches Helden-Händler-Antonym ausprägte (Werner Sombart  : Helden und Händler. Patriotische Besinnungen. München, Leipzig 1915), in ein antisemitisches Stereotyp  : »Der Jude ist unkriegerisch, ›Pazifist‹, der Arier Krieger, ›Held‹. Der Jude ist Kaufmann, Händler, der Arier Erzeuger, ›Unternehmer‹. Der Jude ist Schauspieler, Nachahmer, Virtuose, der Arier ist Künstler, Schöpfer, ›Dilettant‹. Der Jude ist ›fortschrittlich‹, der Arier ›konservativ‹. Der Jude ist umgänglich, der Arier ist grundsätzlich« (S. 27). 70 Richard Schaukal  : Lessing. Zu seinem 200. Geburtstag am 22. Jänner, in  : Wiener Zeitung vom 22. Januar 1919, S. 1 f., hier S. 2.

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den Lessing-Würdigungen des Jungen Wien. Dennoch fällt insgesamt auf, dass auch bei den jüdischen Schriftstellern des Jungen Wien der Religionsphilosoph Lessing weit in den Hintergrund rückt gegenüber dem Kritiker und Dramatiker. Sowohl Felix Salten und Arthur Schnitzler als auch Raoul Auernheimer und Paul Wertheimer interessiert anscheinend nur der Kritiker und streitbare Erneuerer des Dramas, dessen Wahrheitsliebe beeindruckt. Wilfried Barner urteilte, dass Lessings Eintreten für die Juden bei Hofmannsthal und anderen 1929 nur ganz zurückhaltend und »fast schamhaft« anklingt.71 Diese Beobachtung hat meines Erachtens im Fall der assimilierten Jungwiener damit zu tun, dass diese sich vor allem als Schriftsteller und nicht als Österreicher jüdischer Abstammung zur Stellungnahme herausgefordert sahen. Die Jungwiener mit ihrem erlesen-elitären literarischen Geschmack separierten sich so auch von populären Sympathiebekundungen, wie sie Samuel Meisels 1929 für das Ostjudentum in einem Zeitungsartikel über Lessing im Ghetto referierte.72 Während der zionistische Religions­ philosoph Ernst Simon 1929 insgesamt von einer jüdischen Orientierung an Lessing abriet, weil dieser mit seiner Toleranz-Idee erst eigentlich die Assimilation und damit Generationen von überanpassungsbereiten »Scheinjuden« ermöglicht habe,73 ist die Intention im Jungen Wien anders gelagert. Die enthusiastische Begeisterung für den Dramatiker und Kritiker kompensiert in einigen Fällen fast die Nichtäußerung zu religiösen Fragen. Umso mehr fällt es ins Gewicht, wenn Hofmannsthal ganz am Ende seiner Lessing-Würdigung dann doch noch, wenn auch knapp, auf Lessing und das Judentum zu sprechen kommt  : Achtung zu fühlen, Achtung zuzuerkennen dort, wo er sie fühlte, das setzte sein Gemüt in Bewegung. Da ihm edle Juden, oder ein edler Jude, begegneten, bezeigte er den Juden Achtung […]. Die Gesinnung im allgemeinen ist die des Jahrhunderts, aber im Ausdruck ist der ganze Lessing. […] Er zeigte eine Möglichkeit deutschen Wesens, die ohne Nachfolge blieb […]. Seine Bedeutung für die Nation liegt in seinem Widerspruch zu ihr.74

71 Barner  : Lessing 1929 (Anm. 36), S. 451. 72 Vgl. Samuel Meisels  : Lessing im Ghetto, in  : Jüdische Rundschau vom 22. Januar 1929, S. 35 f. Dieser Artikel reformuliert noch einmal den Lessing-Abschnitt aus seiner Schrift Deutsche Klassiker im Ghetto von 1922. 73 So Ernst Simon  : Lessing und die jüdische Geschichte, in  : Jüdische Rundschau vom 22. Januar 1929, S. 1 f. 74 Hofmannsthal  : Gotthold Ephraim Lessing (Anm. 58), S. 141 f.

Im Reisemantel 

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4. Im Reisemantel Das doppelte Wiener Lessing-Denkmal von Siegfried Charoux (1935/1967)

Die zahlreichen österreichischen Lessing-Publikationen im Gedenkjahr 1929 zeigten Wirkung. 1930 wurde endlich ein Wettbewerb für das Denkmal ausgeschrieben, den Siegfried Charoux gegen eine Konkurrenz von 82 Bildhauern gewann.75 1935 wurde sein Lessing-Denkmal auf dem Wiener Judenplatz aufgestellt und enthüllt. Das Denkmal zeigte Lessing im Reisemantel und sollte damit auf seinen kurzen Wien-Aufenthalt 1775 anspielen, der nicht zu einem längeren Verweilen in Österreich motivierte, sondern nur Episode blieb. Der Historiker Oswald Redlich hielt am 15. Juni 1935 die Ansprache anlässlich der Enthüllung auf dem Judenplatz. Die Auswertung der Presseberichte ergibt allerdings, dass das Wiener Lessing-Denkmal in austrofaschistischen Zeiten von den Festrednern kaum noch als Zeichen für ein jüdisch-christliches Zusammenleben gewertet wird, sondern dass vielmehr das Denkmal eines norddeutsch-protestantischen Dichters im katholischen Wien 1935 als ein Zeichen für die Annäherung Österreichs an Deutschland, mithin als ein ›Anschlussbeschleuniger‹ gewertet wird, so zumindest in der Rede des Staatssekretärs Penter  : »Die heutige Enthüllung des Lessingdenkmals soll darum ein neuer Beweis und ein neues Bekenntnis des österreichischen Geistes zur gesamtdeutschen Kultur sein«.76 Warum das Lessingdenkmal nun auf dem Judenplatz (dem Zentrum der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde Wiens und Ort des umfangreichsten Pogroms im mittelalterlichen Österreich) steht, wird in den Reden nicht reflektiert. Der Zusammenhang Lessings mit dem Judentum wird vollständig ausgeblendet. Das Denkmal war dort anstelle eines Trafikkiosks errichtet worden. Die Geschichte der geplanten Standortwechsel des Denkmals ist einigermaßen kompliziert. Der erste Vorkriegsdenkmalsplan von 1909 hatte vom Bürgermeister Karl Lueger die Zustimmung für den Rathauspark erhalten, nachdem der Antisemit Lueger die Denkmalserrichtung befürwortete mit der nonchalant intendierten Einschränkung  : »Sein Stück ›Nathan der Weise‹ können wir ihm nachsehen«.77 Für diesen ersten Denkmalsplan war Franz Metzner als Bildhauer vorgesehen, der 1919 verstarb, ohne sein Lessing-Denkmal zu vollenden. Schon während dieser ersten Phase war ein Standortwechsel geplant auf den am Ring gelegenen Platz am Ausgang der Wollzeile. Dann ruhten die Lessingdenkmalspläne bis 1925, als die Stadt auf das Lessingdenkmalskomitee zukam, weil dieser Platz nun ausgerechnet 75 Zu Charoux vgl. Hans Kurt Groß  : Siegfried Charoux. Die Wiener Jahre des Karikaturisten und Bildhauers. St. Pölten 1997. Robert Waissenberger  : Siegfried Charoux (1896–1967). Wien 1968. 76 Vgl. W. D.: Die Enthüllung des Lessing-Denkmales, in  : Neue Freie Presse vom 16. Juni 1935, S. 11. [Anonymus  :] Die Enthüllung des Lessing-Denkmals, in  : Wiener Zeitung vom 16. Juni 1935, S. 5. 77 Dieser Ausspruch Luegers wird hier zitiert nach Veigl  : Monumentales Dichtergedenken (Anm. 19), S. 44.

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Vom Umgang mit einem norddeutschen Aufklärer

für ein Karl-Lueger-Denkmal vorgesehen war, das dort 1926 errichtet wurde, woraufhin der Platz auch Dr.-Karl-Lueger-Platz benannt wurde, wie er bis heute heißt. Für das Lessingdenkmal war fürderhin der Schmerlingplatz vorgesehen, bis 1929 auch dieser Standort aufgegeben wurde, weil dort ein Denkmal für die Republik geplant war. Erst in dieser letzten Phase wurde der Judenplatz zum geplanten Aufstellungsort ausersehen.78 Nun stand also Lessing 1935 im Reisemantel dort auf dem Judenplatz vor der ehemaligen Böhmischen Hofkanzlei. Allerdings nicht sehr lange. 1939 trugen die National­ sozialisten das Denkmal ab und beschlagnahmten es 1940 als Metall für Rüstungs­ zwecke. Lessing wurde eingeschmolzen. Diese nationalsozialistische Aktion richtete sich in diesem Fall nicht so sehr gegen Lessing, sondern vor allem gegen den Bildhauer Siegfried Charoux, der fälschlich als Jude bezeichnet wurde. 1940 stand Charoux, der seit 1935 in England lebte, auf einer Fahndungsliste der Gestapo.79 Lange nach dem Zweiten Weltkrieg, 1968, wurde ein zweites, wieder von Siegfried Charoux konzipiertes, Lessing-Denkmal aus Bronze in Wien aufgestellt, erst einmal weitab, unterhalb des Ruprechtsplatzes am Franz-Josefs-Kai. Erst 1981 wurde das Denkmal von dort zurück auf den Judenplatz gebracht. Dort steht Lessing heute den Blick gerichtet auf das Mahnmal für die österreichischen Opfer der Shoa.

78 Vgl. Veigl  : Monumentales Dichtergedenken (Anm.  19). Josef Seiter  : Politische Denkmäler im Wien der Ersten Republik (1918–1934), in  : Steinernes Bewußtsein I. Die öffentliche Repräsentation staatlicher und nationaler Identität Österreichs in seinen Denkmälern. Hg. von Stefan Riesenfellner. Wien, Köln, Weimar 1999, S. 411–459, hier S. 445–449. 79 Vgl. Groß  : Siegfried Charoux (Anm. 75), S. 270 ff.

VI. Politik und Poetologie im Lustspiel Hugo von Hofmannsthals Dramen-Fragment Timon der Redner (1916–1926) Timon der Redner ist ein gewaltiger Texttrümmerhaufen. Das nachgelassene späte Lustspielfragment bietet ein besonders eindrückliches Beispiel für die bei Hofmannsthal so eigentümliche Spannung zwischen intensiven Vorstudien, mehrfachen Umschriften und verdichtetem Einarbeiten vielfältigster Traditionsbestände auf der einen Seite und dem grandiosen Scheitern und kreativen Zerbersten der weitgespannten Werkpläne auf der anderen. Hofmannsthal beschäftigte sich ein Jahrzehnt, von seinem 42. bis 52. Lebensjahr, von 1916 bis 1926 mit diesem Vorhaben. Zu Lebzeiten Hofmannsthals wurde lediglich eine Szene (Die Mimin und der Dichter) dieses dramatischen Unternehmens in einer Zeitschrift veröffentlicht.1 Als Reinschrift und Typoskript liegen zwei Szenen vor, die in den Gesammelten Werken (in zehn Einzelbänden) postum abgedruckt bloß 19 Seiten umfassen.2 Aber das Material an Entwürfen, Notizen, Exzerpten und Apophthegmata ist immens (Mathias Mayer spricht von einem »ungewöhnliche[n] Riesentorso«3) und füllt in der kritischen Ausgabe einen kompletten, voluminösen Band mit 664 Seiten.4 Timon der Redner  – das komödiantische Gegenstück zum späten Trauerspiel Der Turm – beschäftigt sich mit der Legalität und Legitimität von Staatsformen und Staatsformwechseln, mit dem Gegeneinander von demokratischen und aristokratischen Überzeugungen, mit kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Krisen- und Niedergangsszenarien, mit der Macht des Geldes und mit dem Rätsel, welcher politischen Partei warum Erfolg beschieden ist, und mit der Frage, wie eine Revolution zustande kommt. Im Mittelpunkt steht der als »radicale Kleinbürger« (7) bezeichnete Timon, der als Populist und erfolgreicher Rhetor die Macht anstrebt, um 1 Hugo von Hofmannsthal  : Die Mimin und der Dichter, in  : Die literarische Welt 1, Nr. 12/13 vom 25. Dezember 1925, S. 1. 2 Hugo von Hofmannsthal  : Timon der Redner, in  : Ders.: Dramen IV Lustspiele. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 539–558. 3 Mathias Mayer  : Hugo von Hofmannsthal. Stuttgart 1993, S. 98. 4 Hugo von Hofmannsthal  : Timon der Redner. Hg. von Jürgen Fackert. Frankfurt a. M. 1975 (Sämtliche Werke, Bd. 14, Dramen 12). Aus diesem Band 14 der Sämtlichen Werke wird im Folgenden mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

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sich zu bereichern. In einem Interview ordnete Hofmannsthal 1926 Timon der Redner in sein Komödienschaffen folgendermaßen ein  : Dann verfolge ich seit vielen Jahren, seit 1907, den Typus eines meiner Art und meiner Epoche angemessenen Lustspiels. Ich arbeite eigentlich unablässig daran. Die Linie ist ungefähr diese  : »Sylvia im Stern«, »Cristinas Heimreise«, »Der Rosenkavalier«, »Der Schwierige«. Aber diesmal wendet sich mir mein Gegenstand ins Politische. Die beiden ewigen politischen Weltelemente, das aristokratische und das demokratische werden konfrontiert. Zum Lustspiel spitzt sich dieser Kontrast zu, indem Vertreter dieser beiden Prinzipien in eine kleine Stadt gebannt werden, deren Kleinbürger die schrankenlose Demokratie anstreben, während eine Hetäre das aristokratische Element verkörpert. Schon diese Andeutung zeigt, daß als Zeit die Spät-Antike, etwa die griechische Verfallsperiode gewählt wurde, eine Vergangenheit so besonderer biegsamer Art, daß sie für eine nur leicht verschleierte Gegenwart gelten kann.5

Hier soll nun in drei Schritten vorgegangen und als erstes das kreative Zerbersten dieses Lustspielprojekts an der Traditionsübermacht vorgeführt werden. Ein zweiter Teil soll sichtbar machen, wie diese politische Komödie das Scheitern verschiedener Staatsformen dramatisiert, und ein dritter und letzter Teil widmet sich den Gegenwartsbezügen der Komödie im antiken Gewand.

1. Kreatives Zerbersten an der Traditionsfülle Operetten-Pläne, Mimus-Möglichkeiten, Chandos-Fragen

Das Ganze beginnt als Operetten-Jux. Richard Strauss schlägt Hofmannsthal im Mai 1916 vor, nach dem Rosenkavalier und Ariadne auf Naxos ein weiteres gemeinsames Vorhaben anzugehen und zwar eine »politisch-satirisch-parodistische Operette  !«6 Dem höchlich erstaunten Hofmannsthal erläutert Strauss, dass es ihm mit diesem Ausflug zur leichten Muse wirklich ernst sei und dass er, Hofmannsthal, bald einsehen werde, daß ich ein großes Talent zur Operette habe – und da meine tragische Seite ziemlich ausgepumpt ist und mir nach diesem Kriege Tragik auf dem Theater vorläufig ziemlich blöde und kindlich vorkommt und dieses unbezwingliche Talent (ich bin doch jetzt schließlich der ein5 Paul Stefan  : Was arbeiten Sie  ? III. Gespräch mit Hugo von Hofmannsthal, in  : Die Literarische Welt, Nr. 9, 2. Jg. vom 26. Februar 1926, S. 1. 6 Vgl. Briefe von Richard Strauss an Hugo von Hofmannsthal vom 25. Mai 1916 und 5. Juni 1916, in  : Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal  : Briefwechsel. Gesamtausgabe. Hg. von Franz und Alice Strauss, bearbeitet von Willi Schuh. Zürich 1952, S. 332 f. und 335 f. Zitat aus dem Brief vom 5. Juni 1916, S. 336.

Kreatives Zerbersten an der Traditionsfülle 

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zige Komponist, der wirklich Humor und Witz und ein ausgesprochen parodistisches Talent hat) betätigen möchte. Ja, ich fühl mich geradezu berufen zum Offenbach des 20. Jahrhunderts, und Sie werden und müssen mein Dichter sein. Offenbachs »Helena« und »Orpheus« haben die Lächerlichkeiten der »grand opéra« ad absurdum geführt. Das, was ich mit meinen aus der Luft gegriffenen Anregungen, die Sie so sehr übelnehmen, meine, wäre eine politischsatirische Parodie schärfsten Stiles.7

Hofmannsthal ist zwar einstweilen noch höflich distanziert gegenüber diesem Ansin­ nen, aber der Brief scheint zu wirken  ; denn nicht nur den von Strauss bereits 1916 reflektierten Zusammenhang von turbulenten Zeitläuften und gattungsästhetischem Genrewechsel ins humoristische Fach wird sich Hofmannsthal zu eigen machen, wenn er 1921 in der Ironie der Dinge proklamiert  : »Nach einem unglücklichen Kriege müssen Komödien geschrieben werden«.8 Auch den explizit politischen Stoff, den Strauss proponiert, greift Hofmannsthal schließlich auf. Hatte Strauss zuerst noch überlegt, eine solche Operette »im Milieu des Wiener Kongresses mit einer wirklich hocharistokratischen Spionin als Hauptperson« anzusiedeln,9 verweist er Hofmannsthal dann (in Anlehnung an Jacques Offenbachs Orphée aux Enfers und La Belle Hélène) auf die Antike als möglichen Schauplatz. Strauss versorgt Hofmannsthal mit Lesestoff, schickt ihm nach Altaussee in die Sommerfrische die Plautus-Bearbeitungen von Jakob Michael Reinhold Lenz und betont mit Blick auf Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte, »ein besseres Milieu für eine Operette als dieses späte, heruntergekommene Sparta gibt es wohl kaum«.10 Es ist dann zwar nicht das »späte, heruntergekommene Sparta«, sondern eine als Ephesos erkennbare »griechisch-kleinasiatisch[e] Stadt der Spätzeit« (31) zum Handlungsort geworden, aber der Einfluss von Strauss und sein Verweis auf die Tradition der Opéra bouffe, welche die Grand Opéra mit ihren mythologischen Stoffen parodierte und im antiken Kleid die Bürgerwelt des 19. Jahrhunderts satirisch vorführte, sind entscheidend. Auch Hofmannsthal wird die Antike wählen, um politische Umwälzungen, ökonomische Krisen und gesellschaftliche Probleme der Gegenwart zu spiegeln. Richard Strauss ist unermüdlich mit seinen bibliographischen Tipps und liefert weitere literarische Stimmungsbilder der Spätantike, die wegweisend werden. Einem Brief legt er einen Text bei, den er dringend zur Lektüre empfiehlt  : »Lesen Sie bitte in   7 Brief von Strauss an Hofmannsthal vom 5. Juni 1916 (Anm. 6), S. 335 f.   8 Hugo von Hofmannsthal  : Die Ironie der Dinge, in  : Ders.: Reden und Aufsätze II 1914–1924. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), S. 138–141, hier S. 138.   9 Brief von Strauss an Hofmannsthal vom 25. Mai 1916 (Anm. 6), S. 333. 10 Brief von Strauss an Hofmannsthal vom 12.  Juni 1918, in  : Strauss  – Hofmannsthal  : Briefwechsel (Anm. 6), S. 396.

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beiliegendem Scherz den Essay  : ›Ein antiker Schwindler‹. Vielleicht können Sie den Selbstverbrenner für unsere Komödie brauchen. Wie geht es derselben  ? Ist sie schon im Werden  ? Ich freue mich sehr darauf«.11 Bei diesem von der Forschung bislang nicht identifizierten wichtigen Prätext für Timon der Redner handelt es sich um einen Text des Schweizer Schriftstellers Johannes Scherr.12 Jürgen Fackert mutmaßt im Kommentar der kritischen Ausgabe ganz richtig, dass in diesem (bisher unbekannt gebliebenen) Text Lukians Geschichte des Selbstverbrenners Peregrinus paraphrasiert wird (526). Wichtig aber an Scherrs populärer Geschichtsdarstellung ist nicht so sehr der Inhalt von Lukians Erzählung, sondern richtungsweisend sind Scherrs aktualisierende Kommentare, atmosphärische Miniaturen und kulturkritische Bewertungen, die Hofmannsthal für seinen Entwurf einer auf den Hund gekommenen griechischen Spätzeit nutzen kann. Scherr liefert nicht nur eine Nacherzählung von Lukian, sondern setzt davor ein ausführliches Kulturpanorama der Spätantike. Daher sei es erlaubt, im Folgenden mit einem längeren Zitat Scherrs Epochenporträt als Quelle für Hofmannsthals Lustspielfragment erstmals vorzustellen. Scherr beschreibt Lukians Zeit ausführlich als eine »epigonenhafte[.]« und erläutert, dass damals literarisch die großen Gattungen brach[lagen]. Wo dieselben etwa durch Poeten zweiten, dritten, vierten Ranges anzubauen versucht wurden, kam nur Halbgereiftes oder ganz Mißrathenes zu Tage. […] Seitdem hatte die ganze Literatur mehr und mehr publicistisch-journalistischen Character angenommen. Im Verein mit den vagierenden »Philosophen« des Zeitalters, welche in allen Ecken und Enden ihre Stegreifkanzeln aufschlugen, um die modische Philosophie des Zeitalters […] vorzutragen, ersetzte diese Literatur, welche an Tiefe verlor, was sie an Breite gewann, unser modernes Zeitungswesen. So, wie sie war, zeigte sie den Zersetzungsproceß der antiken Gesellschaft auf […]. Überall stieß man auf Zerfahrenheit. […] Man empfand eine furchtbare Leere, welche […] die Materialisierung des ganzen Daseins in den Gemüthern geschaffen, und suchte diese Leere mit aftergläubischem Kram und Quark der läppischsten oder wahnwitzigsten Sorte auszufüllen. In einer Gesellschaft, welche an die Stelle der hellenischen Philopatrie und der römischen Virtus als alles bedingende und bestimmende Macht die Voluptas gesetzt hatte, musste das Gauklerthum einen großen Stand haben. Da wimmelte es von Lügenpropheten, Weltverbesserern, Mystagogen, Wunderthätern, Geistersehern, Todtenbeschwörern, Zauberärzten, Afterpfaffen, Schwindlern und Gaunern aller Art. Auch eine Erscheinung, die in allen raffinirt verderbten Epochen wiederkehrt, die Krankheit des Größenwahns, trat häufig und deutlich auf die Bildfläche. […] Einer der lukian’schen Essays ist 11 Brief von Strauss an Hofmannsthal vom 9. November 1916, in  : Strauss – Hofmannsthal  : Briefwechsel (Anm. 6), S. 351. 12 Johannes Scherr  : Ein antiker Schwindler, in  : Ders.: Neues Historienbuch. Leipzig 1884, S. 61–94.

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überschrieben »Der Tod des Peregrinus« und handelt in Briefform vom Dasein und Ende des […] antiken Erzschwindlers, welcher sich selbst Proteus zubenannte, in Philosophie schwindelte, wie man heutzutage in Absolutismus, Parlamentarismus, Demokratismus, Socialismus, Spiritismus, Volkswohl, Fürstenglück […] und dergleichen Raritäten mehr schwindelt, und schließlich, da er nicht mehr wusste, wo aus oder ein, als Schlußeffekt des Schwindeldrama’s seiner Laufbahn eine theatralisch inscenierte Selbstverbrennung bewerkstelligte.13

Hofmannsthals Timon wird sich zwar nicht selbst verbrennen, aber Scherrs leichthändiges Epochenporträt macht Hofmannsthal die Aktualisierungspotentiale dieser Zeit überdeutlich. Sinnentleert, materialisiert, geldgierig, raffiniert und verderbt wird auch er seine sinkende Antike gestalten, in der voluptas regiert und ein Bordell zum zentralen Schauplatz wird. Timon passt in Scherrs Panoptikum der größenwahnsinnigen Lügenpropheten und rhetorisch begabten Schwindler und auch die Parallelisierung von antiken Wanderrhetoren mit dem modernen Journalismus, die später auch Oswald Spengler stark machen wird, ist wichtig für Hofmannsthal. Schließlich steht am Ende von Scherrs Zitat auch der Vergleich der antiken Redner mit den modernen Politikern, die versatil für die unterschiedlichsten Staatsformen zu predigen bereit sind. All dies wird Hofmannsthal für seinen Timon nutzen können. Für die Stilhöhe dieses politischen Komödienprojekts gibt Richard Strauss ebenfalls wesentliche Hinweise, wenn er Hofmannsthal 1919 mit folgenden Worten in die Sommerpause verabschiedet  : »Mit herzlichen Wünschen für guten Sommer (möge derselbe Ihnen einige gute Opernstoffe für mich bescheren, ich hätte so gern eine politische Satire im spätgriechischen Gewande, mit Jeritza als Lukianische Hetäre […])«.14 Es sind also nicht die großen mythologischen Gestalten, die Götter und Heroen, die Strauss vorschweben, sondern mit Lukians Hetärengesprächen wird eine ganz andere, eine niedere und realistische Sphäre avisiert, die andere Sujets und eine andere Sprache bedingt. Wie Lukian katapultiert uns Hofmannsthal in Timon der Redner in eine spätgriechische Halbwelt, in der Friseure, Hetären und Zuhälter zu handelnden Figuren werden, die sich einer derben Sprache bedienen. Neben der von Strauss angeregten Beschäftigung mit Lukian war hierfür auch entscheidend Hofmannsthals intensive Lektüre von Hermann Reichs Monographie über den Mimus,15 also jener antiken Präsentation volkstümlich-komischer Momente aus dem Alltagsleben, die in kurzen, improvisierten, gebärdenstarken und oft obszönen Szenen zur Belustigung der breiten Volksschichten Ehebruchsgeschichten und Fress- und 13 Ebd., S. 72, 74 und 77 f. 14 Brief von Strauss an Hofmannsthal vom 27.  Juni 1919, in  : Strauss  – Hofmannsthal  : Briefwechsel (Anm. 6), S. 430 f., hier S. 430. 15 Hermann Reich  : Der Mimus. Ein litterar-entwicklungsgeschichtlicher Versuch. Berlin 1903.

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Saufgelage inszenierten. Dem griechischen Mimus und den Hetärengesprächen Lukians verdankt Timon der Redner eine bei Hofmannsthal ganz eigentümliche soziale Ausrichtung, die die Grenzen des Sagbaren neu auslotet und ins Grobianische und Skatologische weitet. Eine nachgelassene Notiz Hofmannsthals stellt eigens Timons maledicta zusammen  : Timons Schimpfwörter  : Du Mischmasch  ! Du krummbeiniger Hundsfott  ! Du Wasserkopf  ! Vogelhirn  ! Embryo  ! Du Pfütze  ! Du Abtritt  ! Auskehricht der Schöpfung  ! – […] Zum Sohn  : Ich wollte ein Markthelfer sein, ein Gehilfe in einem Hurenhaus  – ein Arschwisch  – ein Schwein, eine Eidechse – alles lieber als du  ! (170)

Ein Freudenhaus wird zum Ort der Handlung, die Verdauung des Protagonisten zum Thema, man spricht über »unfehlbare[.] Haarfärbemittel« (8) und auch darüber, dass eine Prostituierte verbotenerweise außerhalb des Bordells »auswärts mit Männern schläft« (19), man ruft nach dem »Klempner« (11), schlemmt mit fettverschmiertem Mund »Schafsnieren mit Knoblauch« (24), und Fluchtwege führen hinter dem »Ziegenstall« (17) »übern Abtritt« (17) ins Freie. Diese (sich bei Hofmannsthal so seltsam ausnehmende) Sprache der Gosse ist der Tradition des Mimus und den Satiren Lukians geschuldet, sie wird aber von Hofmannsthal auch zur Sprache der Politik transformiert und die Politik damit als dreckiges Geschäft markiert. Dass es Hofmannsthal nicht nur darum ging, Politisches, sondern auch Poetologisches in dieser Komödie zu verhandeln, zeigt die abgeschlossene Szene Die Mimin und der Dichter. Hier debattiert die aristokratisch gesonnene Gegenspielerin des demokratischen Timon, die Hetäre und Mimin Bacchis, mit dem Dichter Agathon über Nutzen und Nachteil der Tragödie für das Leben gegenüber dem improvisierten Possenspiel des Mimus, der nicht auf schriftliche Fixierung angelegt war und mehr von der Gebärde als dem gesprochenen Wort bestimmt wurde. In diesem Dialog zwischen der Mimin und dem Dichter werden Populär- und Elitenkultur, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Gebärde und Wort gegeneinander abgewogen. Hofmannsthal weist der Gebärde hier mehr Authentizität und Überzeugungskraft zu als der Sprache. Die Tragiker werden als bloße »Wortmacher« (32) gescholten, Bacchis ist nicht bereit, »an Euripides und an das Advokatengeschwätz seiner Figuren« (32), wie sie sagt, respektvoll zu denken  : BACCHIS Eure Worte sind ein schlaffes, weites Gewand, in das jeder hinein kann. Es kommt nur darauf an, welcher Leib es trägt, und wie er es trägt. Eure Worte sind hurenhaft, sie sagen alles und nichts. Man kann sie heute zu dem brauchen und morgen zu jenem. Das Leben aber, von dem ihr schwatzt, ist in Wahrheit ein Mimus. Meine Gebärde  : das bin ich – in einen Moment zu-

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sammengepreßt, spricht sie mich aus – und stürzt dann dahin ins Nichts – wie mein Ich selber, unwiederholbar. Aber ihr habt eine Gaunersprache, eine schwindelhafte Übereinkunft – die nennt ihr den Ruhm, das Gedächtnis der Welt  ! Schwätzer verleihen Schwätzern Ruhm – aus Worten, für Worte, das ist alles  ! Oh, ihr Wortkünstler  ! (33)

Hier werden intratextuell nicht nur alte sprachkritische Chandos-Fragen reaktiviert und die Tauglichkeit der fremden Worte zum Ausdruck des eigenen Selbst bezweifelt, sondern mit der Formulierung, dass das »Leben […] in Wahrheit ein Mimus« sei, knüpft Hofmannsthal auch an die ästhetizistischen Jahrhundertwende-Debatten über das diffizile Verhältnis von Poesie und Leben an. Der Dichter wirft der Mimin vor  : »Du willst aus dem Leben ein Theater machen« (34), woraufhin die Mimin repliziert  : BACCHIS Und du möchtest aus den Worten ins Leben hinüber, Dichter  ! – Aber du spielst dabei unter den Lebenden genau die Rolle wie der Eunuch im Harem. Denn es gibt nur einen Weg, wie das Wort ins Leben herüberkann. AGATHON Und der wäre  ? BACCHIS Wenn es der Schatten ist, den die Tat vorauswirft. (34)

Diese performative Potenz, mit der Macht des Wortes Taten zu erzeugen, sieht Bacchis nicht bei dem Dichter Agathon, sondern bei dem Politiker Timon gegeben, der durch seine rhetorisch geschickten Volksansprachen die Massen zu manipulieren imstande ist und den Aufstand in Ephesos anzettelt. Die politische Verführbarkeit durch Rhetorik in der Antike parallelisiert Hofmannsthal dann mit der gegenwärtigen Macht des Journalismus und der Propaganda. Diese Analogie zwischen antiker Eristik und dem Journalismus des frühen 20. Jahrhunderts findet Hofmannsthal nach der Lektüre von Johannes Scherrs antikem Schwindler auch in Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes postuliert.16 Er nutzt dies, um in Timon auch den mächtigen (1920 verstorbenen) Chefredakteur der Wiener Neuen Freien Presse, Moriz Benedikt, mit zu porträtieren. Timon ist wie Benedikt Meinungsmacher und Medienmanipulierer, und Timon bekommt nun, auch noch wie Benedikt, einen problematischen Sohn an die Seite gestellt, der es nicht schafft, sich vom übermächtigen 16 Vgl. Oswald Spengler  : Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Ungekürzte Sonderausgabe in einem Band, 209.–223. Tausend des ersten bzw. 188.–202. Tausend des zweiten Bandes der Gesamtauflage. München 1981, S. 48.

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Vater zu emanzipieren. Die Identitätsnöte dieses Sohnes erhalten nach Hofmannsthals Lektüre von Gottfried Benns Gehirne-Novellen wiederum eine ganz eigene Sprache, die Benns Lexik und Klang alludieren, wenn Timons Sohn spintisiert  : »Das Hirn macht Seifenblasen. Irgend etwas ist da – was nicht da ist. Ich höre  : eine Stimme. Ich sehe  : eine Gestalt. Gräßlich. Das drängt sich zwischen uns« (26). Zudem versieht Hofmannsthal Timon mit einem veritablen Doppelleben  : »In einem Stadtbezirk ist er ein bescheidener Kleinbürger, verheiratet, Vater von fünf Kindern. In einem andern Bezirk heißt er Malchus, ist er Teilhaber an einem öffentlichen Haus und der Beschützer von dessen Vorsteherin, Leäna« (7). Das Motiv des geheimen Doppellebens wanderte intratextuell aus einem anderen Werkplan Hofmannsthals (Das Caféhaus oder der Doppelgänger) in das Timon-Projekt ein. Die Konfiguration wird nun immer überfrachteter. Dieser Timon ist politischer Agitator, Medienmogul, Pantoffelheld und Bordellbesitzer in Personalunion, mit ­einer überzeichneten Xanthippe zu Hause als Frau und einem Gottfried-Bennsch sprechenden Schwächling als Sohn. Er hat als Zuhälter einen architektonisch und personell ambitionierten Erweiterungsplan für sein Etablissement  : »Zubauen werden wir. Ein Männerbad kommt hinzu. Zwei drei Negerinnen stellst Du an. […] Erweitern will ich  ! Solch einen Saal dazu  ! Gross werden  ! Negerinnen, indische Schönheiten will ich hier arbeiten sehen« (23). Mit solchen Reden profiliert Hofmannsthal die Doppelmoral und Profitgier seines Protagonisten. Parallel zu dieser Situierung der Handlung in einem antikisierten Rotlichtmilieu liest Hofmannsthal nun auch noch Shakespeares Timon of Athens. Und jetzt wird es wirklich kompliziert. Denn Hofmannsthals Protagonist erhält zwar von Shakespeares Helden den Namen, aber sonst recht wenig. »Timon der Redner verkörpert jene Gesellschaft, die Timon of Athens geißelt«, so hat es Jürgen Fackert treffend formuliert.17 Die Shakespeare’sche Gestalt des Misanthropen, der zum Menschenfeind wird, weil er in Geldsorgen von seinen Freunden im Stich gelassen wird, überträgt Hofmannsthal auf eine neue Figur, den Bettler Phanias, »ein verarmter großer Herr« (31), der als Außenseiter, Zyniker und Narrengestalt seiner Umgebung in so kluger Weise den Spiegel vorhält, dass er als Sympathieträger zunehmend der eigentlichen Antagonistin von Timon, der gebildeten pro-aristokratischen Hetäre, den Rang streitig macht. Über Shakespeares verarmten und verbitterten Timon vermittelt rückt nun auch die Geldthematik immer mehr in den Vordergrund. Alexander Mionskowski hat in einer instruktiven Studie diese Bezüge herausgearbeitet.18 Ergänzend hierzu sei noch darauf hingewiesen, dass 17 Jürgen Fackert  : Eine »Welt der Bezüge«. Vorlagen und Anregungen zu Hofmannsthals unvollendeter politischer Komödie »Timon der Redner«, in  : Hofmannsthal-Blätter 2, Heft 10/11 (1973), S. 213–317, hier S. 267. 18 Alexander Mionskowski  : Komödie des Profanen. Hugo von Hofmannsthals Shakespeare-Adaption »Timon

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Hofmannsthal eine solche Geldkritik mit seiner Spengler-Lektüre intensivieren und aktualisieren konnte, denn Spengler parallelisierte antike Rhetorik und gegenwärtigen Journalismus explizit als geldwirtschaftliche Unternehmen folgendermaßen  : Was ist zivilisierte Politik von morgen im Gegensatz zur kultivierten von gestern  ? In der Antike Rhetorik, im Abendlande Journalismus, und zwar im Dienste jenes Abstraktums, das die Macht der Zivilisation repräsentiert, des Geldes. […] Ohne daß der Leser es merkt, wechselt die Zeitung und damit er selbst den Gebieter. Das Geld triumphiert auch hier und zwingt die freien Geister in seinen Dienst. Kein Tierbändiger hat seine Meute besser in der Gewalt.19

Auch die Lektüre von Georg Simmels Philosophie des Geldes mag hier eine weitere Rolle gespielt haben. Die Rand- und Nebenfiguren nehmen zu, die poetologischen Debatten über Kunst und Leben von ehedem werden aktualisiert, das familiäre Doppelleben der Hauptfigur gestaltet sich eigen und verselbständigt sich zu einer neuen Nebenhandlung, die unterschiedlichen Sprachebenen der (von Richard Strauss gewünschten) satirischparodistischen Offenbachiade, des grobianischen Mimus, der lukianischen Hetärengespräche, der Tragödie Shakespeares und der Gehirne-Novellen Gottfried Benns überlagern sich merkwürdig. Aber als nun auch noch die Hetäre erst einem Gesandten eines revolutionären Nachbarreichs zugehören, dann einem charismatischen Sklaven von geheimer aristokratischer Abkunft verfallen soll und der schließlich als seltsame Cäsarenfigur und mystagogisch überglänzter Retter von Ephesos am Horizont erscheint,20 sind nicht nur die Konfigurationen verheddert, sondern auch die Möglichkeiten der Gattung überdehnt und die Grenzen des Komödienhaften erreicht. Der Stoff hatte sich zusehends erweitert und verernstigt und war als Lustspiel kaum noch zu retten. Hofmannsthal strebt mit seinem kreativen Traditionsverhalten die Amalgamierung unterschiedlichster Stilebenen an, berücksichtigt nicht nur literarische Vorbilder (Lukian, William Shakespeare, Gottfried Benn), sondern verarbeitet auch intensiv wissenschaftliche (Robert von Pöhlmann, Hermann Reich, Georg Simmel) und weltanschauliche Lektüren ( Johannes Scherr, Oswald Spengler, Othmar Spann), porträtiert kaum verder Redner« als Fragment einer Poetik der Masse, in  : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 89 (2015), S. 425–466. 19 Spengler  : Der Untergang des Abendlandes (Anm. 16), S. 48 und 1140. Vgl. Alexander Mionskowski  : »Timon der Redner« (Fragment 1925/1975), in  : Hofmannsthal-Handbuch. Leben  – Werk  – Wirkung. Hg. von Mathias Mayer und Julian Werlitz. Stuttgart 2016, S. 240 f., hier S. 240. 20 Ursprünglich waren der Gesandte und der Sklave als ein und dieselbe Figur konzipiert. Erst in einem späteren Stadium zerspaltet Hofmannsthal die Figuren, was die Handlung noch einmal kompliziert, zumal der verlassene Gesandte den Selbstmord erwägt, was das Komödienhafte zusätzlich torpediert. Vgl. hierzu Juliette Spering  : Das Selbstopfer als mystischer Weg ins Schicksal. Gedanken zu Hofmannsthals Fragmenten »Andreas« und »Timon der Redner«, in  : Hofmannsthal-Forschungen 7 (1983), S. 123–144.

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schlüsselt gegenwärtige Personen des öffentlichen Lebens (Moriz Benedikt), reichert das Personenverzeichnis zusehends an, fügt intratextuell Konfigurationen aus anderen eigenen Werkplänen in die politische Komödie mit ein und hofft darauf, dass das Ganze sich irgendwie zusammenfügen lässt. Es liegen insgesamt 520 Blätter mit Notizen und Entwürfen vor, als das Ganze zerbirst. Dennoch ist auffällig, dass bis zuletzt das Zutrauen in die intertextuelle Verdichtung, die Hoffnung auf ein gelungenes Werk erstaunlich nah liegen, auch zeitlich erstaunlich nah, neben der Desillusion gegenüber der Unmöglichkeit der Realisierung. An ­Walther Brecht schreibt Hofmannsthal im Spätherbst 1925 noch wohlgemut superlativisch, »meine politische Komödie wird Sie als das bunteste u. überlegteste Gewebe das ich jemals zu unterfertigen mich getraut habe, unterhalten«.21 Ähnliches Zutrauen spricht auch noch aus einem Brief an Ottonie Gräfin Degenfeld vom 5. Dezember 1925  : »Es sind auch die weiteren Acte von dem Lustspiel so vorgearbeitet, daß sie eigentlich nur mehr eine leichte drübergemalte Schicht brauchen, um fertig zu sein«.22 Die eigentümliche intermediale Metapher von der Komödie als Gemälde, dem nur noch eine letzte »drübergemalte Schicht« fehlt zur Vollendung, formuliert autosuggestiv den inständigen Wunsch, sich aus der Schwesterkunst der Malerei eine Strategie des Beendens borgen zu können. Aber 1926 gesteht Hofmannsthal dann gegenüber Carl Jacob Burckhardt ein  : Die Arbeit vom vergangenen Herbst muß verworfen werden (jenes politische Lustspiel) – es ist eine Rechnung, die nicht aufgehen kann. Ich wollte in ein Theaterstück mehr hineinbringen, als es enthalten kann – es war kein Raum da, eine solche Figur, wie den Sclaven der Kaiser wird, zu entwickeln  ; vielleicht war dieser Teil der Conception ganz episch – man erkennt zu spät.23

2. Die politische Komödie Das Scheitern der Staatsformen

Das Lustspiel-Fragment Timon der Redner beschwört ein Interregnum, führt das Scheitern diverser Staatsformen vor und dramatisiert damit verschiedene Modelle eines 21 Brief Hofmannsthals an Walther Brecht vom 28. Oktober 1925, in  : Hugo von Hofmannsthal – Walther Brecht  : Briefwechsel. Mit Briefen Hugo von Hofmannsthals an Erika Brecht. Hg. von Christoph König und David Oels. Göttingen 2005, S. 80–86, hier S. 81. 22 Hugo von Hofmannsthal  – Ottonie Gräfin Degenfeld  : Briefwechsel. Hg. von Marie Therese Miller-­ Degenfeld unter Mitwirkung von Eugene Weber. Eingeleitet von Theodora von der Mühll. Frankfurt a. M. 1974, S. 481 ff., hier S. 482. 23 Brief Hofmannsthals an Carl  J. Burckhardt vom 10.  Juli 1926, in  : Hugo von Hofmannsthal  – Carl  J. Burckhardt  : Briefwechsel. Hg. von Carl J. Burckhardt. Frankfurt a. M. 1956, S. 209.

Die politische Komödie 

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Verfassungskreislaufs. Die Komödie arrangiert in moderner Weise antike Staatstheorien. Arabesk werden platonische, aristotelische und polybianische Entwürfe von der Abfolge der Verfassungsformen der Polis alludiert. Während Platon in der Politeia die Vorstellung vom Verfall der Aristokratie (über die Stadien der Timokratie, der Oligarchie und Demokratie) zur Tyrannis formulierte, konzipierte Aristoteles drei von ihm für gut befundene Staatsformen (Monarchie, Aristokratie und Politie), die aber dazu tendierten zu degenerieren (zur Tyrannis, Oligarchie und Demokratie). Um der Degeneration vorzubeugen, empfahl er eine Mischverfassung. Polybios wiederum ließ in seiner Universalgeschichte idealtypisch sechs Verfassungsformen einander in einem Kreislauf ablösen. Dabei folgte jeweils auf eine gute eine schlechte Verfassungsform  : Aus der Monarchie wird eine Tyrannis, aus der Tyrannis eine Aristokratie, aus der Aristokratie eine Oligarchie, aus der Oligarchie eine Demokratie, die zur Ochlokratie verfällt, und wenn sich aus dieser Pöbelherrschaft ein Einzelner erhebt und im Sinne des Gemeinwohls eine neue Monarchie begründet, schließt sich für Polybios der Kreis.24 In Hofmannsthals Timon der Redner geht es nicht nur um das Scheitern von Figuren, sondern in dieser Staatskomödie werden die Verfassungsformen gleichsam zu Protagonisten, die agonal gegeneinandergesetzt werden. Die Handlung setzt ein mit einer dekadent gewordenen Aristokratie, die sich gegen demokratische Kräfte zur Wehr setzen muss. Die aristokratische Partei in Ephesos geht von einer gottgewollten und naturgegebenen Ungleichheit der Menschen aus. Bacchis spricht zum Volk und argumentiert gegen Timon  : »Er betäubt euch, denn er mischt alles durcheinander mit der Kraft der Zunge. Aber Sonderung ist göttlich – so im Denken als im Sein – alles ist abgestuft und nichts hat seines gleichen« (92). In den Worten von Bacchis schimmert nicht nur die aristotelische Vorstellung von der Aristokratie als Herrschaft der Wenigen und Besten durch, sondern gleichzeitig werden wohl auch schon (mit den Begriffen der »Sonderung« und der »Abstufung«) ständestaatliche Modelle aufgerufen, wie sie Othmar Spann in den 1920er Jahren (im Vorfeld des Austrofaschismus) entwickelte.25 In Ephesos herrscht zu Beginn des Dramas ein »geschwächtes, stolzes, leicht korruptes aber stets noch fähiges aristokratisches Regime. Dessen centrale Figur / Die Hetäre« (547) ist. So hält es ein sogenanntes politisches Exposé fest, das Carl Jacob Burckhardt 1924 nach Gesprächen mit Hofmannsthal über den Dramenplan fixiert hat. Mit Aristoteles scheint hier davon ausgegangen zu werden, dass die für gut befundene Staatsform der Aristokratie dazu tendiert zu degenerieren. Im Tatbestand der Korruption zeichnen sich durch den Machtmissbrauch das Scheitern der Aristokratie und der Übergang zur 24 Vgl. hierzu Alexander Demandt  : Antike Staatsformen. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt. Berlin 1995. 25 Vgl. Othmar Spann  : Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neuaufbau des Staates. Leipzig 1921.

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Plutokratie bereits ab. Hofmannsthals spätantikes Ephesos ist bevölkert von Lobbyisten, die sich bemühen, ihre Interessen mit Geld durchzusetzen. Am Gemeinwohl ist nur wenigen gelegen. Der aristokratischen Sphäre gegenübergestellt sind die sogenannten Kleinbürger von Ephesos, die eine »schrankenlose Demokratie« anstreben.26 Zu ihrem Anführer haben sie sich Timon erkoren. Allerdings ist fraglich, ob Timon im Sinne seiner Anhänger agiert. Er gibt sich zwar als »Anwalt der Unterdrückten« (14) aus, verspricht in großen Worten die Gleichheit aller (»Jeder einzelne ein König  ! Ein Zeus verwandter Fürst  !« [89]) und macht sich die Menge mit dem populistischen Konzept von ›Brot und Spielen‹ gefügig (»Wir wollen Feste feiern« [89])  ; aber er redet verdächtig oft von der Heiligkeit des Eigentums. Schnell wird deutlich, dass Timon ein pragmatischer Opportunist ist, der die Macht lediglich anstrebt, um sich zu bereichern. Er gibt sich als Fürsprecher der Demokratie, um zu Macht und vor allen Dingen zu Geld zu kommen. Er will in Wahrheit gar nicht viel ändern. Ihm geht es darum, zum Kreis derer zu gehören, die über die Macht verfügen. Wenn es dermaleinst so weit sein sollte, wäre es durchaus möglich, dass er seine vorgeblichen Ideale einer Herrschaft des Volkes hintanstellt. Timon steht nicht so sehr für die Demokratie, sondern für eine Timokratie (also eine geldaristokratische Herrschaft der Besitzenden), die sich als Demokratie tarnt, um Erfolg zu haben. Die Kleinbürger hingegen werden als gewaltbereiter Mob inszeniert, der (im Sinne von Polybios) nicht mehr für die am Gemeinwohl interessierte Demokratie, sondern deren negatives Pendant, die Ochlokratie steht, in der der Eigennutz mit Gewalt durchgesetzt wird. Eine Wahrsagerin prophezeit im weiteren Verlauf des Dramas einen neuen Alleinherrscher  : »Er ist ein Fremder. Ein sehr großer Herr. Er befiehlt über alle. […] Er ist ein Feldherr – er kommt von weit her er ist hier in der Nähe […] Er ist nahe, ganz nahe – […] Es ist etwas im Spiel  : ein Wille« (71 f.). Dieser beschwörende Attentismus, der das Warten auf einen Retter in der Staatskrise messianisch zum charismatischen Herrscheradvent auflädt, bestimmt vor allem die späteren Partien des Lustspielfragments. So setzt das Stück ein mit dem Niedergang der Aristokratie und Aufkommen der Demokratie. Aber am Ende zielt das Ganze auf einen Übergang der Volksherrschaft in eine neue Alleinherrschaft, ob in eine gute oder schlechte, ob in eine Tyrannis oder Monarchie bleibt verschwommen und umstritten. Die Hetäre sieht hier einen guten Alleinherrscher nahen und erweist sich damit als Vertreterin eines Verfassungskreislaufs, wie ihn Polybios formulierte, der von sechs verschiedenen Staatsformen ausgeht, bei denen sich gute und schlechte Modelle jeweils abwechseln. Wenn aus der Monarchie die Tyrannis, aus der Tyrannis die Aristokratie, aus der Aristokratie die Oligarchie, aus der Oligarchie 26 Stefan  : Was arbeiten Sie  ? (Anm. 5).

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die Demokratie und aus der Demokratie schließlich die Ochlokratie als Herrschaft des Pöbels geworden ist, schließt sich für Polybios der Kreis, indem sich aus der chaotischen Pöbelherrschaft ein guter Einzelner aufschwingt und wieder im Sinne des Gemeinwohls eine neue Monarchie begründet. Bacchis verteilt klare Wertungen, wenn Sie verkündet  : »Ein Mann ist mehr als der ganze Haufen« (79). Dass man die Beschwörung des großen Mannes, der das Chaos beendet, aber auch anders etikettieren und bewerten konnte, demonstriert eine weitere Figur des Dramas, die befindet  : »Der Demos trägt den Tyrannen in sich  : man muss ihm nur Zeit lassen ihn zu gebären« (79). Damit ist einerseits das platonische Modell aufgerufen, nach dem die Aristokratie in vier Stufen zur Tyrannis verfällt (von der Timokratie über die Oligarchie und Demokratie zur Tyrannis). Andererseits kann Hofmannsthal diese platonische Vorstellung vom Verfall der Verfassungen politisch mit Spengler aktualisieren, der das Scheitern der Demokratie durch die Geldwirtschaft beschleunigt sah und den Cäsaren als Alleinherrscher und politische Ordnungsmacht empfahl  : Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat. […] Der Cäsarismus wächst auf dem Boden der Demokratie, aber seine Wurzeln reichen tief in die Untergründe des Blutes und der Tradition hinab. […] Aber eben deshalb erhebt sich nun der Endkampf zwischen Demokratie und Cäsarismus, zwischen den führenden Mächten einer diktatorischen Geldwirtschaft und dem rein politischen Ordnungswillen der Cäsaren.27

Auch wenn Hofmannsthal hier seine Spengler-Lektüre nutzt, um das Verhältnis der Demokratie zur Geldwirtschaft und zum Cäsarismus endzeitlich zu unterfüttern, hatte er schon früh eine dezidiert kritische Haltung gegenüber dem Untergang des Abendlandes, was eine Anekdote nach dem Ersten Weltkrieg veranschaulicht. Im Dezember 1919 hielt sich Thomas Mann in Wien auf, um dort die Proben und die Aufführung seines Dramas Fiorenza zu verfolgen. Einen Abend verbrachte er auch mit Hofmannsthal, dessen Tochter folgendes Gespräch in ihrem Tagebuch festhielt  : Mann sagte  : Und der Spengler, das war doch ein großer Eindruck  ! Papa  : Nein wissen Sie, wenn einer weiß, die Welt geht unter und er hängt sich nicht auf sondern schreibt ein Buch für 7 M. 50 darüber, so ist er eigentlich ein Schurke. Mann  : (verwirrt) glauben Sie, nun ja, es mag sein, ja es ist ja rein negativ …28

27 Spengler  : Der Untergang des Abendlandes (Anm. 16), S. 1143 f. 28 Christiane von Hofmannsthal  : Tagebücher 1918–1923 und Briefe des Vaters an die Tochter 1903–1929. Hg. von Maya Rauch und Gerhard Schuster. Frankfurt a. M. 1991, Eintrag vom 22. Dezember 1919, S. 61.

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Die Hofmannsthal-Forschung hat nach der Aktfolge und Szenenordnung des TimonFragments gefragt und rekonstruiert, dass figural Timon den ersten Akt, Bacchis den zweiten Akt und die fremde Königsfigur den dritten Akt beherrschen sollte.29 Insofern Timon als halbseidener Demokrat und Bacchis als Zentralfigur der Aristokratie entworfen sind, ließe sich vielleicht auch überlegen, ob Hofmannsthal mit der Aktstruktur nicht auch eine eigene Ordnung der Staatsformen dramatisierte  : Auf einen demokratischen folgt ein aristokratischer Akt und das Ganze wird beschlossen mit einem monarchischen Aufzug. Ob mit dieser Abfolge auch eine Rangfolge erstellt werden sollte im Sinne einer aufsteigenden Linie, die die monarchische Alleinherrschaft als Lösung für die Wirren in Ephesos im krönenden Finale vorstellt, ließe sich diskutieren.

3. »Eine nur leicht verschleierte Gegenwart« Ephesos und die Erste Republik

Der rezeptionsästhetische Reiz vieler Operetten Offenbachs besteht in einer auf seine Gegenwart durchsichtig gemachten Antike, in der für das französische Publikum Sparta als Paris und Nauplia als mondäner Badeort Trouville dechiffrierbar sind. Auch Hofmannsthal beabsichtigte in der Tradition der Offenbachiade eine solche Transparenz auf österreichische Verhältnisse, wenn er Timon der Redner beschrieb als »das Lustspiel in griechischem Costüm, d. i. in der Gegenwart, aber leicht verschleiert«.30 Diese doppelte Optik beginnt schon bei Kleinigkeiten, wenn der Zuhälter Timon dem aristokratischen Publikum sein Freudenhaus mit Diskretion und Sprachregeln behaglich zu machen sucht. Seiner Bordellvorsteherin schärft er ein  : »Nur hier kein revolutionäres Wort  ! Hier müssen sie [i. e. die Aristokraten] sich geborgen fühlen. Lass solche Reden fallen wie  : Hier ist Alt-Ephesos  !« (23) Der Begriff »Alt-Ephesos« lässt sich auch als kalauernde Anspielung auf die sentimentale Alt-Wien-Mode der 1920er Jahre verstehen,31 mit der man sich aus der bedrückenden Gegenwart in die vermeintlich gute alte Zeit lange vor dem Krieg, noch vor dem Ringstraßenbau zurücksehnte. Dass Timon der Redner die revolutionären Umbrüche 1918/19 sowohl in Österreich als auch in Deutschland im Blick hat, zeigt sich im politischen Exposé von Carl Jacob Burckhardt, das sehr genau die Interaktionen des Umsturzes zwischen dem angrenzenden Land und Ephesos fixiert. Stichwortartig skizziert das Exposé ein »Nachbarreich, 29 Vgl. Juliette Spering  : Scheitern am Dualismus. Hofmannsthals Lustspielfragment »Timon der Redner«. Bonn Diss. masch. 1980. 30 Brief Hofmannsthals an Degenfeld vom 5. Dezember 1925, in  : Hofmannsthal – Degenfeld  : Briefwechsel (Anm. 22), S. 481 ff., hier S. 481. 31 Vgl. Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Hg. von Wolfgang Kos und Christian Rapp. Wien 2004.

»Eine nur leicht verschleierte Gegenwart« 

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übermächtig von dessen innenpolitischen Zuständen die Gestaltung auch der jonischen Stadt abhängt. […] Die Revolution bricht in dem Nachbarlande aus. […] Die Rückwirkung der Nachricht entfesselt die demokratischen Kräfte der Stadt« (547). Auch die wirtschaftlich desaströse Lage der 1920er Jahre mit der Inflation wird Thema. Immer wieder ist von der »Teuerung« die Rede, und Hofmannsthal betonte einmal sogar, dass Timon der Redner »am meisten den Erlebnissen der Jahre 1920–22, den ökonomischpolitischen Erlebnissen« verdankt.32 Im Bettler Phanias, dem »verarmte[n] große[n] Herr[en]« (31), personalisiert Hofmannsthal auch die Folgen des Adelsaufhebungsgesetzes von 1919 im Rumpfstaat Österreich. Phanias hat Vermögen und soziales Ansehen verloren und hadert mit seiner ihn missachtenden Gegenwart. Auffällig ist in Timon der Redner schließlich auch die aktualisierende Sprache. Neben die Vulgarismen und den grobianischen Unflat (in der Tradition des Mimus) rücken nämlich außerordentlich oft Termini aus der politischen Sphäre des frühen 20. Jahrhunderts. Da ist die Rede von »radikale[n] Kleinbürger[n]« (7), die von »halbverrückte[n] Politikaster[n]« (7) manipuliert werden. »Tryphon ist ein Agent« (7) und hadert mit seinen »Parteigenossen« (10). Timon hat erfolgreich einen »Volksentscheid« (13) erzwungen. Er wird als »Führer« (31) gefeiert. Den Gegnern wirft man vor, bloßes »Advokatengeschwätz« (32) zu fabrizieren und als »Volksverhetzer« (17) aufzutreten. In diesem spätantiken Ephesos spricht man die Sprache der politischen Propaganda der 1920er Jahre. Ob all dies aber genügt, um im kleinbürgerlichen Timon ein bewusstes Hitler-Porträt Hofmannsthals zu erblicken, scheint mir fraglich. Willy Haas, in dessen Zeitschrift Die literarische Welt die Szene Die Mimin und der Dichter 1925 abgedruckt wurde, hat dies nach dem Zweiten Weltkrieg so gesehen.33 Aber hinterher ist man immer schlauer. Klaus Bohnenkamp hat diese Überlegung 2014 noch einmal aufgriffen und schließlich abgelehnt,34 und das scheint mir richtig. Verbürgt sind Hofmannsthals Überlegungen, in Timon den jüdischen Chefredakteur der Neuen Freien Presse, Moriz Benedikt, als Medienmanipulierer und Meinungsmacher satirisch zu überzeichnen (523–525). Diese Pläne stammen freilich aus der frühen Phase der Werkentstehung, und in den 1920er Jahren mögen sich weitere Ideen dazugesellt haben. Wie auch immer  : 32 Brief Hofmannsthals an Josef Redlich vom 10. Oktober 1925, in  : Hugo von Hofmannsthal – Josef Redlich  : Briefwechsel. Hg. von Helga Fußgänger. Frankfurt a. M. 1971, S. 57–60, hier S. 60. 33 Willy Haas  : Erinnerungen an Hofmannsthal, in  : Merkur VI, Heft 53 (7.  Juli 1953), S.  643–659, hier S. 655 f. Zu Haas vgl. Christoph von Ungern-Sternberg  : Willy Haas 1891–1973. »Ein grosser Regisseur der Literatur«. München 2007. Pascale Avenel  : Willy Haas et le périodique »Die Literarische Welt« 1925–1933. Villeneuve-d’Ascq 1997. 34 Klaus  E. Bohnenkamp  : Zwischen Hofmannsthal und Hitler. Elsa Bruckmann-Cantacuzène 1865–1946, in  : Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Kassner und Rainer Maria Rilke im Briefwechsel mit Elsa und Hugo Bruckmann 1893–1941. Hg. und kommentiert von Klaus E. Bohnenkamp. Göttingen 2014, S. 5–110, hier S. 43 f. und 97 f.

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Politik und Poetologie im Lustspiel

In der Meinung des verarmten großen Herrn Phanias über den radikalen Kleinbürger Timon lassen sich vielleicht ganz allgemein auch Analogien zur Haltung eines entmachteten Adels gegenüber dem Parvenu aus Braunau finden. Phanias befindet  : PHANIAS Der Timon wird euch das Oberste zu unterst kehren. Er ist das was kommt […]. Für einen Ochsenfrosch halte ich ihn, für einen Bastardköter den man auf Katzen loslassen sollte – aber er hat ein Mundwerk, gemein genug dass sich um ihn das ganze werktätige arbeitsscheue Gesindel sammelt – und damit habt ihr den an der Stirn gepanzerten Elefanten der dieses alte wurmstichige Gebäude von Staat umstoßen wird. (78)

Auffällig sind hier die vermehrten Tierbildlichkeiten (»Ochsenfrosch«, Bastardköter«, »an der Stirn gepanzerten Elefanten«), die nicht nur in diesem Zitat die Sphäre des Politischen charakterisieren. Hofmannsthal nutzt in Timon der Redner Tiermetaphern zum einen, um das Schimpfwortrepertoire zu intensivieren und zu erweitern. Zum anderen bestialisiert die Tiermetaphorik das menschliche Zusammenleben und kennzeichnet das Politische als triebbestimmte und vernunftfreie Zone, in der der Mensch dem Menschen nicht so sehr ein Wolf, sondern ein auf den Hund gekommener »Bastardköter« ist.35 Dass es sich in diesem Zitat bei dem gezeigten politischen Gemeinwesen um ein »altes wurmstichiges« Staatsgebäude und nicht um eine blutjunge Republik handelt, die umgestoßen werden soll, macht aber deutlich, dass Hofmannsthals historischer Referenzpunkt eher der Untergang der Habsburgermonarchie ist als ein zukünftiger Staatsstreich eines möglichen populistischen Diktators. Insgesamt gestaltete sich die Komödie des Politischen für Hofmannsthal weitaus komplizierter als die bisherigen Lustspiel-Projekte. Das zeigt auch ein Brief an Paul Zifferer  : dieses Lustspiel mit politischen Motiven […] stellt grosse Anforderungen an die Geistesgegen­ wart, es handelt sich darum, Motive aus mehreren Welten, ja die verschiedenen Ebenen angehören, im Mimischen zu verbünden und dem Theatermäßigen zu subordinieren. Eine Arbeit mit der verglichen mir die Herstellung des »Schwierigen« als eine harmlose Besiguepartie erscheint. Gelingt es, so wird es ein merkwürdiges Stück Arbeit sein, es kann aber sehr leicht auch misslingen.36

35 Zur Tierbildlichkeit in Hofmannsthals Spätwerk vgl. auch Roland Borgards  : »wo ist dem Tier sein end  ?« Das Politische, das Poetische und die Tiere in Hofmannsthals »Turm«, in  : Hofmannsthal-Jahrbuch 24 (2016), S. 253–268. 36 Brief Hofmannsthals an Paul Zifferer vom 22.  November 1925, in  : Hugo von Hofmannsthal  – Paul Zifferer  : Briefwechsel. Hg. von Hilde Burger. Wien 1983, S. 196–199, hier S. 197.

VII. Immer dasselbe  ? Wiederaufnahmen und Wiederholungen in Arthur Schnitzlers ­letztem Roman Therese (1928) In den 1920er Jahren formulierten die Expressionisten und Neusachlichen wiederholt prominent den Vorwurf, dass Arthur Schnitzler keine neuen Themen mehr gesucht und gefunden, sich von der Gegenwart abgewandt habe und seine Sujets bornierterweise weiterhin in einer längst vergangenen habsburgischen Welt von Gestern ansiedele. Aber auch schon 1912 zum 50. Geburtstag Schnitzlers bilanzierte Karl Kraus ein solches sukzessive Historisch-Werden bei Lebzeiten und Abgleiten in die literarische Irrelevanz  : »Schnitzlers Seichtigkeit war das Abziehbild eines Jahrzehnts der schlechten Gesellschaft und als solches von Wert für ein weiteres Jahrzehnt«, und 1922 zum 60. Geburtstag Schnitzlers würdigte ihn die Neue Freie Presse lediglich noch als den Dichter einer untergegangenen Welt.1 Und in der Tat  : Sowohl Fräulein Else (1924), Schnitzlers zweite große InnereMonolog-Erzählung, als auch die späte umfangreiche Leutnantsnovelle Spiel im Morgengrauen (1927) greifen Figurenkonstellationen des Frühwerks auf und verlegen die Handlung in die Zeit der Jahrhundertwende zurück. Schnitzler knüpft in den 1920er Jahren offensiv intratextuell an eigene Werke des Fin de Siècle an, so auch wenn er aus der kurzen frühen Erzählung Der Sohn (1892) den Handlungskern seines letzten Romans Therese (1928) entwickelt, der ebenfalls im Österreich-Ungarn der Vorkriegszeit spielt. Die Kontinuität der Themen und Figurenkonstellationen sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schnitzler das Repertoire der Jahrhundertwende durchaus formal anders und narrativ neu aufbereitet  : So radikalisiert er in Fräulein Else den inneren Monolog (gegenüber Lieutenant Gustl [1900]) etwa, indem er Musik in Form von Notentext in die Narration montiert und graphisch unterschiedliche Präsentationen der direkten Figurenrede austestet  ; und Spiel im Morgengrauen profitiert sichtlich von Schnitzlers Auseinandersetzung mit dem Kino und experimentiert intermedial mit Formen filmischen Schreibens.2 Es scheint zum Teil so, als ob Schnitzler sehr bewusst auf inhaltlich Bekanntes zurückgreift, um desto unbelasteter formal Neues ausprobieren zu 1 Karl Kraus  : Schnitzler-Feier, in  : Die Fackel vom 21. Juni 1912, S. 77–88, hier S. 78. Edmund Wengraf  : Der Dichter einer untergegangenen Welt. Zu Arthur Schnitzlers sechzigstem Geburtstag, in  : Neue Freie Presse vom 15. Mai 1922, Nachmittagblatt, S. 6. 2 Vgl. Julia Ilgner  : Schnitzler intermedial  ? Zu einigen Aspekten »filmischen Erzählens« in den späten Novellen (»Traumnovelle«, »Spiel im Morgengrauen«, »Flucht in die Finsternis«), in  : Arthur Schnitzler und

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Immer dasselbe  ?

können. Diese These (dass der Rückgriff auf alte Sujets und eigene Entwürfe und Textbausteine Schnitzler Raum schafft für formalästhetische Innovationen) soll im Folgenden an Schnitzlers letztem Roman Therese expliziert werden. Die intratextuelle Wiederaufnahme der ehemals noch unter naturalistischen Umständen verfassten skizzenhaften Kriminalerzählung vom Muttermord belässt die Handlungszeit im Vorkriegsösterreich, wendet aber komplett andere Erzählverfahren an. Gleichzeitig macht Schnitzler in dem Roman das Moment der Wiederholung einerseits narrativ zum erzählstrukturierenden Prinzip des Episodischen und Seriellen. Redundanz ist hier auf der Ebene des discours erzählerisches Kunstmittel und innerhalb der histoire zentrale Wirklichkeitswahrnehmung der Heldin, deren Leben ihr als eine schier unendliche Serie von immer ähnlichen Dienstanstellungen und Liebschaften ins Unübersichtliche verfließt. Damit greift Schnitzler den Vorwurf der nachfolgenden Schriftstellergenerationen und apotropäischen Avantgardisten (er mache ja eh nichts Neues mehr und kopiere sich bloß noch selbst) offensiv auf und stellt zugleich gerade die forcierte Redundanz als das eigentlich Neue dar. Rückwärtsgewandtheit und Wiederholung unterlaufen hier nicht, sondern werden zum Thema und zur Schreibweise. Im Folgenden soll daher zuerst die frühe Erzählung Der Sohn als Prätext des Romans vorgestellt und narratologisch analysiert werden, um daran anschließend werkgenetisch die verschiedenen Stadien der Umarbeitung des frühen Textes zum zentralen Roman des Spätwerks zu betrachten. Dabei hilft das umfangreiche Material aus dem Nachlass, das sich in Kopien im Arthur-Schnitzler-Archiv in Freiburg i. Br. befindet. Eine solche methodische Kombination innerwerkspezifischer Intertextualitätsforschung mit werkgenetischer Rekonstruktion folgt dankbar einem Hinweis von Achim Aurnhammer.3 Ein dritter Teil widmet sich der Wiederholung als narrativer Strategie des Textes und Erlebnishorror der Protagonistin. Und ein vierter Teil fragt danach, inwiefern dieser kalendarisch offiziell vor 1914 spielende Roman nicht auch soziale Probleme und ästhetische Diskussionen der 1920er Jahre indirekt reflektiert.

1. Erbschaften und Verwandlungen des Naturalismus in der Tagebucherzählung Der Sohn (1892) Am 5. Mai 1891 sandte Schnitzler den Sohn an die Freie Bühne für modernes Leben, zu dieser Zeit noch ein vornehmlich dem Naturalismus verschriebenes Organ,4 das sich der Film. Hg. von Achim Aurnhammer, Barbara Beßlich und Rudolf Denk. Würzburg 2010, S. 15–44. Stephan Brössel  : Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin 2014. 3 Achim Aurnhammer  : Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin, Boston 2013, S. 272 f. 4 Vgl. Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1879–1892. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne

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aber zusehends auch anderen literarischen Strömungen öffnet, im Jahr 1892 den neuen Namen erhält Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit und in der im Januarheft des Jahres 1892 Schnitzlers Sohn veröffentlicht wird.5 Es ist sowohl für die ästhetische Ausrichtung der Zeitschrift als auch für das Verhältnis von Schnitzlers früher, bereits 1889 verfasster, Erzählung zum Naturalismus aufschlussreich, in welchem unmittelbaren Kontext Schnitzlers Erzählung publizistisch platziert ist. Im ersten Halbjahresband von 1892 der Freien Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit finden sich Vorabdrucke aus naturalistischen Dramen von Johannes Schlaf (Meister Oelze) und Max Halbe (Eisgang), Weltanschauungsliteratur von Wilhelm Bölsche (Wankt unsere moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung  ?), Ernst Haeckel (Die Weltanschauung des neuen Kurses) und Bruno Wille (Die Philosophie des reinen Mittels), Rezensionen über Gerhart Hauptmanns Webertragödie (von Bölsche) und Neue französische Lyrik (von Schlaf ).6 Unmittelbar gerahmt ist Schnitzlers Sohn allerdings nicht von Berliner Naturalisten, sondern von einem künftigen gründlichen Beobachter der österreichischen Literatur, Franz Servaes, der sich dort Gedanken macht über Nietzsche und der Sozialismus. Subjektive Betrachtungen und Hermann Bahrs Aufsatz über Loris, in dem er der geneigten Öffentlichkeit die Wiener Entdeckung des Gymnasiasten-Dichters Hofmannsthal präsentiert. Dass Servaes seine Ausführungen zu Nietzsche im Untertitel als »subjektiv« markiert (und damit jenseits eines auf Objektivität pochenden naturalistischen Manifests ansiedelt), passt ebenso gut zur literaturhistorischen Zwitterstellung von Schnitzlers Novellette wie auch Hermann Bahrs Ausführungen zu Hofmannsthals lyrischem Drama Gestern, das von den zeitgenössischen Feuilletons teils noch als »das definitive Werk des Naturalismus« gefeiert werde, teils aber bereits auch gelte als »der Erstling jener künftigen Kunst, die den Naturalismus überwunden haben wird«.7 Auch Schnitzlers Erzählung trägt naturalistische Erbschaften in sich,8 die aber in spezifischer Weise psychologisiert und ›verinnert‹ werden. Die kurze Novelle handelt von

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Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1987, Tagebucheintrag vom 5. Mai 1891, S. 329. Arthur Schnitzler  : Der Sohn. Aus den Papieren eines Arztes, in  : Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit 3, 1 (1892), S. 89–94. Johannes Schlaf  : Meister Oelze, in  : Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit 3, 1 (1892), S. 497– 514 und 587–602  ; Max Halbe  : Eisgang, in  : Ebd., S. 155–168, 258–267 und 367–382  ; Wilhelm ­Bölsche  : Wankt unsere moderne naturwissenschaftliche Weltanschauung  ?, in  : Ebd., S. 62–72  ; Ernst Haeckel  : Die Weltanschauung des neuen Kurses, in  : Ebd., S. 305–313  ; Bruno Wille  : Die Philosophie des reinen Mittels, in  : Ebd., S. 21–31, 145–154, 278–288, 406–416, 528–538 und 627–633  ; Wilhelm Bölsche  : Gerhart Hauptmanns Webertragödie, in  : Ebd., S.  180–186  ; Johannes Schlaf  : Neue französische Lyrik, in  : Ebd., S. 186–197. Hermann Bahr  : Loris, in  : Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit 3, 1 (1892), S. 94–98, hier S. 97. Vgl. allgemein zur Nähe zum Naturalismus im erzählerischen Frühwerk Schnitzlers Stefan Scherer  :

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einem Muttermord in einem ärmlichen Wiener Vorstadtmilieu. Ein Arzt berichtet als Ich-Erzähler davon, wie er am frühen Morgen in eine schäbige Vorstadtwohnung im vierten Stock gerufen wird, an den Tatort eines Verbrechens  : Ein 20-jähriger Mann hatte seine Mutter mit einem Beil angegriffen und an der Schläfe getroffen. Während der von Nachbarn beaufsichtigte Sohn auf die Gendarmerie wartet, kümmert sich der Arzt um die schwerstverletzte Mutter. Als der Sohn von der eintreffenden Polizei abgeführt wird, erfährt der Arzt von einer Nachbarin, dass der junge Mann schon immer ein verkommenes Subjekt, die Frau mit Namen Martha Eberlein hingegen das Inbild einer sorgenden und liebenden Mutter gewesen sei, die ihren Lebensunterhalt mit Näharbeiten bestreitet. In der folgenden Nacht wird der Erzähler wieder ans Bett der Kranken gerufen, die den Arzt darauf verpflichten möchte, nach ihrem Tod für ihren Sohn vor Gericht positiv auszusagen. Denn ihr Sohn könne nichts für seine Tat. Sie selbst trage Schuld, da sie ihn vor 20 Jahren unmittelbar nach seiner Geburt mit einem Kissen zu ersticken versucht hatte. Ihr erscheint der Muttermord als gerechte Strafe, logische Folge und erwartbare Reaktion auf ihren damals versuchten Kindsmord. In einer großen Lebensbeichte erläutert die Näherin Martha Eberlein dem Arzt ihre damalige verzweifelte Lage als von ihrem Geliebten verlassene ledige Mutter und vor allem ihre Vorstellung davon, dass dieses frühstkindliche Erlebnis den Sohn dergestalt düster geprägt habe, dass dieser gar nicht anders gekonnt hätte, als auf die abschüssige Bahn zu geraten. Widerstrebend lässt sich der Arzt von Martha Eberlein das Versprechen abnehmen, sich für ihren Sohn vor Gericht zu verwenden. Die Mutter stirbt und der Arzt reflektiert abschließend über die Triftigkeit von Martha Eberleins Determinationstheorie. Am Ende steht sein zögerlicher Entschluss, das der sterbenden Mutter gegebene Versprechen wahr zu machen und vor Gericht zu gehen, »denn mich dünkt, es ist noch lange nicht klar genug, wie wenig wir wollen dürfen und wie viel wir müssen«.9 Vom Naturalismus geprägt ist deutlich das ärmlich-trübe städtische Milieu und der hässliche Kriminalfall als Plot. Auch der Arzt als Erzählfigur passt stimmig zu den naturwissenschaftlichen Affinitäten des Naturalismus. Der Determinismus ist zentrales Thema der Erzählung, allerdings wird er nicht als richtige Vorstellung vorausgesetzt, sondern steht zur Disposition. Denn Martha Eberleins Lebensbeichte lässt auch für den Übergänge der Wiener Moderne. Schnitzlers Prosa der 1880er Jahre, in  : Textschicksale. Das Werk Arthur Schnitzlers im Kontext der Moderne. Hg. von Wolfgang Lukas und Michael Scheffel. Berlin, Boston 2017, S. 9–25. 9 Arthur Schnitzler  : Der Sohn. Aus den Papieren eines Arztes, in  : Ders.: Die Erzählenden Schriften. Erster Band. Frankfurt a. M. 1961 (Gesammelte Werke), S. 90–97. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden der Text mit der Sigle »S« und eingeklammerten Seitenzahlen zitiert. Der Roman Therese wird ebenfalls nach dieser Ausgabe (Therese. Chronik eines Frauenlebens, in  : Arthur Schnitzler  : Die Erzählenden Schriften. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1961 [Gesammelte Werke], S. 625–881) mit der Sigle »T« und eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

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Arzt und den Leser eine andere Deutung zu. Die Mutter ließ ihrem Sohn in den letzten 20 Jahren aus schlechtem Gewissen jede aufbegehrende und falsche Handlung durchgehen, und diese mangelnde Erziehung des Sohnes könnte genauso gut für seine Entwicklung zum Straftäter verantwortlich sein. Ein im Nachlass Schnitzlers befindlicher, erster handschriftlicher Entwurf dieser Erzählung von 1889 betont diese Deutungsoption unter dem Arbeitstitel Muttersöhnchen, wenn es dort heißt  : »Er, der Elende wird verwöhnt, gehätschelt von seiner Mutter«.10 Diese kurze Novellette gehört zu den frühen Erzählexperimenten Schnitzlers in der Ich-Form, die, wie auch die zeitgleich entstandene, ähnlich kurze Tagebucherzählung Der Andere (1889), mit ihren Untertiteln ihre Erzählweise prononciert ausstellen und eine torsohafte Herausgeberfiktion etablieren. Präsentierte sich Der Andere als Ausschnitt Aus dem Tagebuch eines Hinterbliebenen, so setzt sich Der Sohn zusammen aus drei Erzählsequenzen Aus den Papieren eines Arztes, wohl einer Art Berufstagebuch des Erzählers. Die parallelen Formulierungen (Aus dem Tagebuch […], Aus den Papieren […]) machen auf eine selektierende Herausgeberinstanz aufmerksam, die dem Leser die autobiographischen Ego-Dokumente in Auswahl präsentiert. Kreisten die Ausschnitte aus dem Tagebuch eines Hinterbliebenen monothematisch um einen gemutmaßten vormaligen Ehebruch der verstorbenen Frau, so fragen die Papiere eines Arztes nach dem Mordmotiv und dem Verhältnis von freiem Willen und Determinismus in diesem Kriminal- und Medizinalfall. In beiden Texten thematisiert der autodiegetische Erzähler seine Schreibsituation und wechselt zwischen dem nachträglichen Bericht unmittelbar zuvor erlebter Dinge und der präsentischen Reflexion des Erlebten. »Der Erzählakt dient hier jeweils nicht nur der Geschehensdarstellung, sondern zugleich […] der Selbsterkundung der Psyche des Schreibenden«.11 Während der emotional involvierte Witwer in Der Andere seine Tagebucheinträge sprachlich auffällig fragmentiert und seine atemlose Wut und wahnhaften Eifersuchtsanfälle sich graphisch vor allem in grassierenden Auslassungspunkten niederschlagen, semantisiert Schnitzler die Interpunktion in Der Sohn differenzierter, aber ähnlich auffällig. Nur an den Rändern der Tagebucheinträge, etwa als der Arzt, vom Tatort zurückgekehrt, seine Situation »um Mitternacht an meinem Schreibtisch« (S 90) reflektiert, finden sich einige Auslassungspunkte in seinen 10 Schnitzler  : [Skizze, Arbeitstitel  :] Muttersöhnchen, [dat.:] 16. 1. [  ?], Der Sohn, ausgeführt 1889, in  : Arthur-Schnitzler-Archiv Freiburg, zitiert und betitelt nach der Katalogisierung im Freiburger Findbuch (künftig abgekürzt mit der Sigle FF) von Gerhard Neumann, Jutta Müller  : Der Nachlass Arthur Schnitzlers. Verzeichnis des im Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg befindlichen Materials. Mit einem Vorwort von Gerhart Baumann und einem Anhang von Heinrich Schnitzler  : Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlaßmaterials. München 1969, C XLV, Mappe 162, 1, Bl. 2. 11 Peer Trilcke  : Kleinere Erzählungen II  : 1890er Jahre, in  : Schnitzler-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christoph Jürgensen, Wolfgang Lukas und Michael Scheffel. Stuttgart, Weimar 2014, S. 166– 169, hier S. 167.

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Gedankenreflexionen, die die allmählich einsetzende Niederschrift des Erlebten schubweise strukturieren. Im Folgenden aber weiß der emotional weit weniger involvierte IchErzähler eloquent und geordnet zu berichten. Die Auslassungszeichen migrieren hier zumeist aus der Erzählerrede in die zitierte Figurenrede der echauffierten Nachbarin und der Lebensbeichte von Martha Eberlein. Während die Auslassungszeichen in Der Andere Teil der schriftlichen Tagebucheinträge sind und die psychische Destabilisierung des Schreibenden markieren, kennzeichnen die Auslassungspunkte in Der Sohn vor allem die Mündlichkeit der Redebeiträge der zitierten Figuren. In den Reden der Nachbarin markieren die Auslassungspunkte sowohl überlegendes Atemholen, Redepausen, die Suche nach passenden Formulierungen als auch beredtes Schweigen.12 Auch im zitierten Gespräch zwischen dem Arzt und Martha Eberlein markieren die Auslassungszeichen vor allem Redepausen und das Ringen um die passenden Worte  ; und in dem großen Erinnerungsbericht von Martha Eberlein vervielfältigen sich die semantischen Funktio­ nen  : Auslassungszeichen stehen zwischen den einzelnen Erinnerungsetappen und signalisieren den suchenden Charakter der Vergangenheitsrekonstruktion. Aber auch die atemlose Gedrängtheit der zu Tode Verletzten und der emotionale Ausnahmezustand der Lebensbeichte werden durch die Auslassungszeichen verstärkt. In beiden frühen Erzählungen bleibt die titelgebende Gestalt sprachlos  : Der Andere erweist sich als eine bloß schemenhafte Gestalt und vielleicht sogar phantomhafte Wahnvorstellung eines verstörten Witwers, und Der Sohn, der Täter, kommt in der gesamten Erzählung nicht zu Wort. Das erzeugt einen seltsamen Rätselcharakter. Schnitzler spielt hier mit dem analytischen Erzählen und variiert es in entscheidender Weise. Analytische Detektiverzählungen nach dem klassischen Whodunit-Modell stellen an den Anfang ihrer Erzählung zumeist einen Mord, dessen Täter dann ermittelt und in einer auflösenden Rückwendung dem Leser am Ende präsentiert wird. Narrativ steht zu Beginn einer solchen Erzählung ein Rätsel, dessen rätsellösende Vorgeschichte im Folgenden analeptisch aufgerollt wird. Auch in Schnitzlers Erzählung Der Sohn steht zu Beginn die Tat, allerdings weiß man hier von Anfang an, wer wen zu ermorden versucht hat. Trotzdem bleibt ein Rätsel- und Spannungscharakter erhalten, denn man weiß nicht, warum die Tat verübt wurde. Das Rätsel ist hier nicht mehr die Identität, sondern die Motivation des Täters und die eigentümlich duldsame Haltung des Opfers. Mar12 Eigentümlich erscheint die Kombination von Auslassungszeichen mit einem Ausrufungszeichen, als die Nachbarin sich empört, dass der Sohn die Möbel der Mutter verpfändet hatte  : »›Die Wanduhr, fast alles, was nicht angenagelt war, wanderte ins Leihhaus…  !‹« (S 91) Obwohl die Rede bereits mit den Auslassungszeichen beendet ist, verstärkt das nachgesetzte Ausrufungszeichen den Ärger der Nachbarin. Aus dem durch die Auslassungszeichen markiertem beredtem Schweigen wird um Bestätigung heischende Empörung. Diese (durch Auslassungszeichen und Ausrufungszeichen) interpunktionell verdoppelten Satzenden finden sich sowohl in wörtlichen Reden der Nachbarin, des Arztes und der Mutter.

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tha Eberleins Beichte nimmt die Funktion einer teilweise auflösenden Rückwendung ein, allerdings wird das Rätsel um die Motivation des Täters nicht letztgültig gelöst, sondern bleibt in der Schwebe. Der Leser weiß am Ende zwar, warum Martha Eberlein ihrem Sohn alle Unverschämtheiten durchgehen ließ und Missetaten verzieh, aber er weiß nicht, warum der Sohn so handelte. Der Arzt erzählt von Martha Eberlein, die wiederum (in einer kleinen Binnenerzählung) die Lebensgeschichte ihres Sohnes vermittelt, aber der Sohn selbst kommt nicht zu Wort. Das analytische Erzählen läuft hier seltsam ins Leere, und der Text operiert mit weiteren Leerstellen, denn auch die eigentliche Tat bleibt unerzählt. Der Arzt trifft ja erst nach dem Mordanschlag ein, die Nachbarin weiß lediglich von akustischen Begleiterscheinungen zu berichten,13 und die Aussage der Mutter bricht unmittelbar vor der Tat des Sohnes aposiopetisch ab.14 Auch in anderen naturalistischen Kriminalerzählungen, wie etwa Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel, bleibt der Mord narrativ ausgespart (und der Erzähler setzt erst wieder mit der Auffindung der Mordopfer ein)  ; aber bei Hauptmann dient dies erzählerisch sympathielenkend dazu, Mitleid mit dem Täter zu entwickeln, der als armer Tropf und Opfer seiner Triebe porträtiert wird und der für den Leser gar nicht während seiner grausamen Tat sichtbar wird. Bei Schnitzler mag sich hingegen Sympathie mit dem Sohn nicht recht einstellen, dafür bleibt er zu blass und zu wenig greifbar, da die Leser lediglich Projektionen Dritter (Arzt, Nachbarin, Mutter) vermittelt, nicht aber eine Selbstaussage des Sohnes präsentiert bekommen. Der Sohn umfasst etwa zwei Tage erzählte Zeit, die in den Papieren eines Arztes in drei Abschnitte gegliedert ist. In der ersten Sequenz (S 90 ff.) sitzt der Arzt »um Mitternacht« (S 90) an seinem Schreibtisch und blickt auf den Tag zurück, als er frühmorgens erstmals zu Frau Eberlein gerufen wurde. Der zweite Eintrag (S  92–96) beginnt um »sechs Uhr morgens« (S 92) des nächsten Tages und enthält den Rückblick auf die Nacht, in der Martha Eberlein dem Arzt ihr Leben erzählte. Die letzte Sequenz (S 96 ff.) präsentiert den Arzt am Nachmittag desselben Tages nach Martha Eberleins Tod. Das Leben Martha Eberleins und das ihres Sohnes ist hier nicht synthetisch auserzählt, sondern analeptisch konzentriert in das analytische Erzählen eingeschachtelt. Aus dieser novellistischen Tektonik einen Roman zu entfalten, hat Schnitzler schon bald gereizt.

13 »›Die Türe hat er offen gelassen – bis zu uns herab … denken sie, vom vierten bis in den zweiten Stock – hörte man sein Toben. Und dann plötzlich ein Schrei. Noch ein Schrei. Da stürzten die Leute hinauf, und da sah man’s. Er aber soll ganz verstockt dagestanden sein und die Achseln gezuckt haben …  !‹ – « (S 91). 14 »›Ich mußte ihm Geld geben – ich hatte es versteckt – › er schrie und suchte und riß die Kasten auf und das Bett … und fluchte … Und dann … und dann …‹ / Nun hielt sie inne … Nach einer Sekunde sagte sie  : ›Und war es nicht sein Recht  ?‹« (S 96).

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2. Von der novellistischen Skizze zur Chronik Schnitzlers Wiederaufnahme und gattungsästhetische Transformation (1898–1928)

Das Sujet dieser frühen Erzählung begleitet Schnitzlers Werkpläne (mit großen Unterbrechungen) fast 40 Jahre, von dem ersten handschriftlichen Entwurf Muttersöhnchen von 1889 bis zur Veröffentlichung seines zweiten und letzten Romans Therese 1928. Das Arthur-Schnitzler-Archiv in Freiburg verwahrt in der Mappe zum Roman Kopien von zwölf bisher (größtenteils) unveröffentlichten Manuskripten und Typoskripten (Plänen, Skizzen, Fragmenten, Gliederungen und Korrekturen) aus unterschiedlichen Phasen der Werkentstehung, die nun im Folgenden gemeinsam mit Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenzen Schnitzlers helfen sollen, die Etappen der intratextuellen Verwandlungen transparent zu machen. Nach der Veröffentlichung der frühen Kriminalskizze in der Freien Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit stellt sich bei einem Abendessen Schnitzlers mit Ferdinand von Saar 1893 heraus, dass Saar die Erzählung »›Sohn‹ [kennt]. Daraus entwickelt sich ein theoretisches Kunstgespräch über abgethane Dinge, bei dem sich S[aar] als naiv und verständig […] erwies«.15 Schnitzler tauscht sich aber nicht nur mit der schriftstellerischen Vorgängergeneration über diesen Text aus, sondern in den 1890er Jahren auch mit den Jungwiener Kollegen, und er schreibt Hugo von Hofmannsthal 1898  : »Die alte Skizze vom ›Sohn‹ (Muttermörder) gestaltet sich in mir zu irgendwas aus, was beinah ein Roman sein könnte«.16 Diese Aussage bezieht sich auf einen im Nachlass befindlichen sechsseitigen maschinenschriftlichen Entwurf aus dieser Zeit, in dem zuerst die Vorgeschichte ab der Verführung der Protagonistin konzipiert wird. Aus den zwei Tagen erzählte Zeit erwachsen so erst einmal etwa 17 Jahre, die Schnitzler zuerst beabsichtigte, novellistisch in dem Moment einsetzen zu lassen, als der Sohn noch ein Kleinkind ist und die Mutter Geliebte eines Arztes wird, dem sie ihre Angst mitteilt, »dass das Kind von ihrem Mordversuch wisse und sie hasse«.17 Dass diese Erzählung aber darüber hinaus auch das Potential zum Roman haben könnte (wie Schnitzler Hofmannsthal mitteilte), wurde Schnitzler möglicherweise deutlich, als er am Ende dieses Entwurfs von 1898 die Protagonistin mit einem Namen (Therese) und einer Herkunftsfamilie versieht, 15 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1893–1902. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Konstanze Fliedl, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1989, Tagebucheintrag vom 2. Oktober 1893, S. 54. 16 Brief Schnitzlers an Hofmannsthal vom 15. Juli 1898, in  : Hugo von Hofmannsthal – Arthur Schnitzler  : Briefwechsel. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt a. M. 1964, S. 106. 17 Schnitzler  : [Typoskript  :] Der Sohn  – nach der alten Skizze, datiert auf den 9.  Juli 1898, FF C XLV, Mappe 162, 2, Bl. 5, paginiert S. 3.

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die bereits die Grundkonstellation des späteren Romans aufweist mit einem pensionierten Offizier als Vater und einem älteren Bruder Karl. Auch der Schauplatzwechsel von Salzburg nach Wien ist bereits angelegt. Die Mutter ist hier noch als »Italienerin« konzipiert, die früh verstirbt  ; später wird aus ihr eine slawonische schriftstellernde Landadlige, die Thereses Weg aus der Ferne noch längere Zeit begleitet. An diesem Entwurf arbeitet Schnitzler um die Jahrhundertwende sporadisch und hält 1902 im Tagebuch fest, der »Stoff zum Sohn (alte Skizze) entwickelt sich«.18 Dann ruht die Arbeit an diesem Werkplan erst einmal über ein Jahrzehnt und wird erst während des Ersten Weltkriegs wieder aufgegriffen. Es ist die Zeit, in der Schnitzler sich mit Lebenserzählungen im Allgemeinen und der Autobiographie von Casanova im Besonderen intensiv beschäftigt. Vielleicht rührt daher auch die Idee, aus der MutterSohn-Konfrontation der Novelle die biographisch ausgefaltete Chronik eines Frauenlebens zu entwickeln, als er im Mai 1916 im Tagebuch notiert  : »N[ach]m[ittags] eine Novelle ›der Sohn‹ begonnen, aus der uralten Skizze in der F. B. [i.e. Freie Bühne], nach einem Plan, der mir in Graz 98, auf dem Schloßberg […] lebendig wurde«.19 Von Mai bis Juli 1916 arbeitet Schnitzler recht intensiv an dem Text und in dieser Zeit notiert er auch ein Gespräch mit Arthur Kaufmann über »Willen und Kausalität«, das in den Umkreis der Ursprungsidee vom vermeintlich determinierten Sohn passt. So befindet Schnitzler gegenüber Kaufmann  : »Ich glaube an den freien Willen – weil er mir notwendig ist – aber nicht so fest, wie z.B. an meine Existenz«.20 Auch im Herbst und Winter 1916/17 setzt Schnitzler die Arbeit fort, allerdings nicht ohne Mühen. Die Ursache für das Stocken des Schreibprozesses macht er zu dieser Zeit nicht am Sujet fest, denn er arbeitet sich mit Notizen in das Thema dermaßen ein, dass er glaubt, »eine Nähe zum Stoff gewonnen [zu haben] wie bisher noch nie«.21 Allerdings klagt er insgesamt über ein Nachlassen der Kräfte, das er, zu dieser Zeit 54-jährig, dem Alter anlastet. Er dia­ gnostiziert eine »Krise meiner Production  ; meiner wachsenden Unlust oder Unfähigkeit etwas fertig zu machen«  ; aber im Gespräch mit seiner Frau Olga lässt er sich gerne davon überzeugen, dass es sich hierbei nicht um eine unaufhaltsam abschüssige Entwicklungslinie handele, sondern um die »klimacter. Periode meines Schaffens  ; nach der 18 Schnitzler  : Tagebuch 1893–1902 (Anm. 15), Tagebucheintrag vom 12. Juli 1902, S. 289. 19 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1913–1916. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Ruprechter und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1983, Tagebucheintrag vom 5. Mai 1916, S. 284. 20 Ebd., Tagebucheintrag vom 9. Mai 1916, S. 285. 21 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1917–1919. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1985, Tagebucheintrag vom 1. Januar 1917, S. 9.

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sie meine reinsten und klarsten Werke erwarte«.22 Diese biologisierende Metaphorik, die das eigene Werk vermenschlicht und in die Wechseljahre geraten lässt, hilft Schnitzler aber nur bedingt, das Stocken im Arbeitsprozess als Durchgangsstadium und nicht, wie befürchtet, als dauerhaftes Nachlassen und Versiegen zu begreifen. Im Juli 1918 hadert Schnitzler mit der möglichen Gestalt seines Erzählprojekts, das »vorläufig Materialiensammlung ist, völlig unmöglich in Form und Stil«.23 Er weicht der Formfrage erst einmal aus, arbeitet weiter am Plot und erstellt bis zum September 1918 einen dreizehnseitigen maschinenschriftlichen Entwurf, der Thereses Leben nach der Geburt des Kindes bis zu ihrem Tod skizziert.24 Dann ruht die Arbeit erst einmal über ein Jahr. 1920 greift Schnitzler den Plan kurz wieder auf, ab jetzt firmiert der Werkplan im Tagebuch gattungsästhetisch als Roman,25 aber 1921 bis 1923 legt er die Arbeit wieder zur Seite. Im September 1924 nimmt er dann die Arbeit wieder ernsthaft auf. Jetzt beginnt das eigentliche und kontinuierliche Romanschreiben als Hauptgeschäft. Im Tagebuch hält Schnitzler fest  : »Es ist doch viel gutes darin und fast schien es mir der Mühe werth, die Sache auszuarbeiten und zu vollenden. – Die ›soziale‹ Note interessirt mich jetzt daran  ; – vielleicht im Zusammenhang mit Wucki«.26 Mit »Wucki« ist die K ­ inderfrau Hermine Simandt gemeint, die lange in der Familie Schnitzlers gearbeitet hatte und, nachdem die Kinder Schnitzlers erwachsen wurden, aus dem Dienst entlassen wurde. Aus der Näherin Martha Eberlein in der frühen Erzählung wird nun beruflich im Romanplan endgültig eine Gouvernante, deren Lebensdarstellung es Schnitzler ermöglicht, ein umfassendes gesellschaftliches Panorama zu entwerfen. Denn die »›soziale‹ Note«, die ihn nun in den 1920er Jahren interessiert, lässt sich nicht nur auf die Milieu­ zeichnung der Herkunftsfamilie Thereses beziehen, sondern vor allem auch auf die Porträtierung der zahlreichen Familien, in denen Therese in Stellung gehen wird. Indem Schnitzler seine Protagonistin schließlich in mehr als 25 sozial ganz unterschiedlichen bürgerlichen und kleinadligen Wiener Haushalten arbeiten lassen wird, skizziert er ein enorm breites gesellschaftliches Tableau. Im Oktober 1924 lässt sich im Tagebuch 22 Ebd., Tagebucheintrag vom 7. März 1917, S. 25 f. 23 Ebd., Tagebucheintrag vom 12. Juli 1918, S. 161. 24 Schnitzler  : [Plan, datiert auf den 20. September 1918], FF C XLV Mappe 162, 3, Bl. 9–21, paginiert S. 1–13. 25 »Nm., – in einer fortdauernden Unfähigkeit, was rechts anzufangen – als wäre alles nur provisorisch, – den Roman vom Sohn (Mscrpt.) zu lesen begonnen, den ich 18 stehen ließ« (Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1920–1922. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1993, Tagebucheintrag vom 14. Juli 1920, S. 70). 26 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1923–1926. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1995, Tagebucheintrag vom 19. September 1924, S. 184.

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Schnitzlers die thematische Neukonzeption an der generationellen Titelverschiebung vom Kind auf die Mutter fixieren, aus dem Sohn wird Therese,27 deren biographische Lebenserzählung es Schnitzler ermöglicht, einen Gesellschaftsroman aus der Perspektive einer Gouvernante zu verfassen. Die konkreten Arbeitsbedingungen, die Umstände der Berufswahl und die ausweglose Notwendigkeit des Broterwerbs werden zum zentralen Thema. In keinem anderen Text von Schnitzler steht die konkrete Arbeitswelt so im Vordergrund der Darstellung. In seiner Jahrhundertwendenerzählung Frau Bertha Garlan (1901) musste sich die Protagonistin ihre Witwenrente zwar auch durch Klavierlektionen aufstocken. Aber ihr Arbeitsalltag stand nicht im Zentrum des Erzählten, im Gegenteil konzentrierte sich die Darstellung ganz auf die amourösen Ausflüge aus dem tristen Klavierlehrerinnendasein in der Provinz. In Schnitzlers spätem Roman hingegen bestimmt Thereses berufliche Tätigkeit die Handlung. Das, was er im Tagebuch als »›soziale‹ Note« für wichtig erachtete, konkretisiert sich in Notizen zum Roman als eine Ausgestaltung der häuslichen und schulischen (Aus-)Bildung der Protagonistin. So überlegt Schnitzler, »Stickereien und Klavierspiel Theresens mehr auszunützen«, reflektiert über ihre »Vorbildung für Stellung« und erwägt »später auch Versuch durch Stickereien Geld zu verdienen«.28 Schnitzler lässt seine Protagonistin schließlich in Salzburg das Lyzeum nicht bis zum Ende besuchen, und sie danach keine eigentliche Ausbildung durchlaufen. Dass das nicht nur mit den damaligen bürgerlichen Üblichkeiten für ihre Töchter, sondern auch mit Thereses mangelndem Interesse und ihrer eigentümlichen Antriebslosigkeit zu tun haben soll, betonen Notizen Schnitzlers aus dem Sommer 1926, in denen er ein Nachhaken ihres Verehrers Alfred notiert  : »Du hattest ja die Absicht in der Stadt als Lehrerin dein Glück zu versuchen«, und in derselben Notiz späterhin Theresens Phlegma ausgestaltet, die ohne Ausbildung und entsprechende Zeugnisse vergeblich versucht, »in einer Anstalt anzukommen«  ; als ihr klar wird, dass dies bedeuten würde, »Prüfungen nach[zu]tragen. Sie hätte 1–2 Jahre auf Studien verwenden müssen«, lässt sie von dem Bemühen ab.29 Schnitzler konzipiert so auch einen Antibildungsroman, der von einer verhinderten Lehrerin erzählt, deren Beruf es sein wird, andere zu bilden, und die doch selbst nur ungenügend dazu ausgebildet ist.30 27 »Dictirt ›Therese‹ (der Sohn) neu begonnen« (Schnitzler  : Tagebuch 1923–1926 [Anm. 26], Tagebucheintrag Schnitzlers vom 27. Oktober 1924, S. 199). 28 Schnitzler  : [8. Typoskript] Zum Roman, FF C XLV Mappe 162, 8, Bl. 53 f. 29 Schnitzler  : [9. Typoskript] Therese. Bemerkungen nach der Lektüre, Sommer 1926, FF C XLV Mappe 162, 9, Bl. 55 f. 30 Dass Therese am Ende des veröffentlichten Romans den Schritt von der abhängigen Gouvernante zur selbständigen »Nachhilfelehrerin« schafft, die sich allerdings mehr schlecht als recht von ihren Lektionen ernähren kann, ändert meines Erachtens nichts an diesem Konzept des Antibildungsromans.

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Immer wieder hadert Schnitzler mit dem Roman und zweifelt an seinem Gelingen. Dass er den Text überhaupt zum Abschluss bringt, hat auch finanzielle Gründe, denn er braucht das Honorar von Samuel Fischer dringend.31 Selbstkritisch reflektiert Schnitzler im Tagebuch im Sommer 1926, als die Arbeit bereits weit gediehen ist  : »Las Nachts den Roman ›Therese‹ zu Ende  ; er hat seine Vorzüge  ; manches ist noch recht schlampig geschrieben  ; Kürzungen sind nöthig  ; – im ganzen wird man ihn wohl publiziren können – abgesehn davon, dass es rein materiell nothwendig sein wird«.32 Die finanziellen Nöte und das Hadern mit dem eigenen Altern hat Schnitzler wiederum im Roman thematisch transformiert einfließen lassen. In den späten Notizen zu Therese häufen sich einerseits konkrete Geldangaben, wenn etwa der Sohn von seiner Mutter 100 Gulden fordert und sie »30 statt 100« sendet.33 Andererseits lässt Schnitzler auch seine Prota­ gonistin ihren Alterungsprozess bemerken und kommentieren  : »Therese fühlt sich altern. […] Ihr Bild im Wandspiegel Alt«.34 Je weiter die Arbeit am Roman voranschreitet, desto mehr drängt sich die Formfrage in den Vordergrund. Hatte Schnitzler 1918 darüber geklagt, dass es sich bei den bisher vorliegenden Textbausteinen noch eher um eine reine »Materialiensammlung«, »unmöglich in Form und Stil« handelt,35 vermeldet er im November 1925 an Hugo von Hofmannsthal  : »Arbeite an einem Roman (der richtiger eine Chronik zu nennen sein wird)«.36 Diese Gattungspräzisierung wird Schnitzler auch dann in den Untertitel aufnehmen  : Therese. Chronik eines Frauenlebens. Im frühen 20.  Jahrhundert verstand man allgemein unter einem »Chronikenstil« eine »nüchterne, aber oft durch treffende Ausdrücke und eigentümliche Darstellungsweise ansprechende Schreibart«.37 Eine Chronik bezeichnet, so Gert Melville, ursprünglich einen »Werktyp der Geschichtsschreibung, der den geschichtlichen Stoff chronologisch anordnet bzw. die Einzelereignisse den Etappen eines Zeitrasters zuordnet [und] dabei in der Regel die strukturellen Zusammenhänge kausaler Entwicklungen in den Hintergrund treten läßt«.38 Diese 31 Im März 1925 reflektiert Schnitzler im Tagebuch  : »Den Roman ›Therese‹ so weit er gediehn, durchgesehn. Die letzten 100 Seiten etwa (von 600) ganz schlampig  ; – im ganzen würd er wohl Ausarbeitung verdienen – aber ist nichts wichtigres zu thun  ? Materiell scheint mir die Sache aussichtsvoll« (Schnitzler  : Tagebuch 1923–1926 [Anm. 26], Tagebucheintrag vom 22. März 1925, S. 238). 32 Ebd., Tagebucheintrag vom 21. Juli 1926, S. 345. 33 Schnitzler  : [10. Typoskript] Erstes Buch. Therese, FF C XLV Mappe 162, 10, Bl. 81, paginiert S. 22. 34 Ebd., Bl. 79 f., paginiert S. 20 f. 35 Schnitzler  : Tagebuch 1917–1919 (Anm. 21), Tagebucheintrag vom 12. Juli 1918, S. 161. 36 Brief Schnitzlers an Hofmannsthal vom 16. November 1925, in  : Hofmannsthal – Schnitzler  : Briefwechsel (Anm. 16), S. 303. 37 [Anonymus  : Lexikonartikel] Chronik, in  : Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Vierzehnte vollständig neubearbeitete Auflage. Vierter Band  : Caub – Deutsche Kunst. Leipzig, Berlin und Wien 1898, S. 293 f., hier S. 294. 38 Gert Melville  : Chronik, in  : Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1  : A–G. Hg. von Klaus Weimar. Berlin, New York 31997, S. 304–307, hier S. 304.

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Kennzeichen treffen durchaus auch auf Schnitzlers Roman als fiktionalisierter Chronik eines Frauenlebens zu, deren heterodiegetischer Erzähler lapidar das Leben Thereses, Ereignis für Ereignis, nacheinander protokolliert und mitteilt.39 Eine Chronik strukturiert die darzustellenden geschichtlichen Ereignisse primär (nicht kausal, sondern) nach ihrer zeitlichen Abfolge und dementsprechend achten die späten im Nachlass befindlichen Aufzeichnungen zu Therese vor allem auf die zeitlichen Zusammenhänge. Eine 26-seitige maschinenschriftliche Kapitelgliederung bemüht sich, die Chronologie der Ereignisse transparent zu machen, die im veröffentlichten Roman dann so schwer zu entwirren ist, weil im gedruckten Roman keine einzige Jahreszahl zu finden ist und irritierende Variationen und scheinbare Wiederholungen von Ereignissen die Orientierung erschweren. Schnitzler hält sich zwar strikt an die zentrale Gattungsvorgabe der chronologisch korrekten Anordnung und erzählt synthetisch (ohne analeptische oder proleptische Unterbrechungen), verzichtet aber auf den Leser orientierende direkte Nennung von Jahreszahlen. Während die zählende Gattung der Annalen sich nach Jahren gliedert, beschreibt die erzählende Chronik einen größeren Zeitraum, in diesem Fall das Frauenleben Thereses, und unterscheidet nicht nach Wichtigem und Unwichtigem, sondern sortiert lediglich zeitlich. Im Nacheinander der mittelalterlichen Chronik ist der Verzicht auf kausale Verknüpfungen aufgehoben in der heilsgeschichtlichen Perspektivierung, die Orientierung und Sicherheit vermittelt.40 Die irdische Zeit der christlichen Chronik ist »zielgerichtet, einheitlich, unwiederholbar und strikt eingeteilt in epochale Phasen« und mündet notwendigerweise ein in die Zeitlosigkeit der göttlichen Ewigkeit.41 In Schnitzlers weltlicher Chronik der Wiener Jahrhundertwende hingegen entfällt ein solcher deutungsübergreifender Fluchtpunkt. So wie die mittelalterliche Chronik in ihrem korrekten Nacheinander auf eine analytisch-systematische hierarchisierende Anordnung des Stoffs verzichtet, so unterscheidet auch Schnitzlers Chronik nicht zwischen Wichtigem und Unwichtigem, aber das hat bei ihm eine andere Funktion. Denn dass den einzelnen Erlebnissen Thereses kein fester Platz in einer Gesamtdeutung dieses Frauenlebens zugesprochen wird, hängt damit zusammen, dass fast der komplette Text intern fokali-

39 Zum chronikalischen Erzählen in Therese vgl. Wolfram Kiwit  : »Sehnsucht nach meinem Roman«. Arthur Schnitzler als Romancier. Bochum 1991, S. 115–121. Zum Hintanstellen kausaler Verknüpfungen in Schnitzlers Roman vgl. Karl Zieger  : Therese. Chronik eines Frauenlebens (1928), in  : Schnitzler-Handbuch (Anm. 11), S. 155–160, hier S. 157. 40 Vgl. Gerhard Wolf  : Einleitung, in  : Chroniken des Mittelalters. Hg. von Gerd Wolf und Norbert H. Ott. Berlin 2016, S. 1–44. 41 Gert Melville  : Die Wege der Zeit zum Heil. Beobachtungen zu mittelalterlichen Deutungen der Menschheitsgeschichte anhand der Weltchronik des Rudolf von Ems, in  : Zeitenwende  – Wendezeiten. Hg. von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Dresden 2001, S. 159–179, hier S. 160.

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siert aus dem jeweiligen Augenblick heraus Thereses Lebensstationen festhält.42 Nicht aus einem fixierten Rückblick heraus wird hier mit einem großen Abstand zwischen erzählendem und erlebendem Ich eine Autobiographie mit einer Meistererzählung des eigenen Lebens erstellt, die sich eindeutige Kohärenz erzeugt  ; sondern diese Chronik protokolliert immer wieder mit dem Mittel der erlebten Rede Momentaufnahmen von Thereses Bewusstsein, die sich ihrer eigenen Vergangenheit immer wieder neu versichert und die sie auch permanent umdeutet. Erinnerungskorrekturen und Selbstwidersprüche begegnen bei der Lektüre laufend und sollen den Leser irritieren.43 Wenn daher manche zeitgenössischen Kritiker und ältere Forschungsbeiträge zu Therese die chronikalische Romanstruktur als traditionell, altmodisch oder defizitär charakterisieren,44 scheint mir das nicht ganz richtig, denn Schnitzler säkularisiert, modernisiert und figuralisiert ja das chronikalische Erzählen, indem er es zur Ausdrucksform einer metaphysischen Unbehaustheit und dem offensichtlichen Nichtbescheidwissen über Sinn und Ziel der eigenen Biographie transformiert. Für die mittelalterlichen Chroniken wurde festgehalten, dass sie vermehrt in histo­ rischen Krisenzeiten zu finden sind,45 und wohl auch deshalb als Gattung gewählt werden, um in chaotische Zeiten Schneisen der Dokumentation und erinnernden Orien­ tierung zu schlagen. Chroniken entstehen oft in turbulenten Situationen oder bezeugen diese, werden oftmals dort geschrieben, »wo es zu einem geschichtlichen Wandel gekommen ist, in dessen Folge Identitäten brüchig geworden sind und man sich nun paradoxerweise über den Schritt in die Vergangenheit des Umstandes versichern will, dass das Neue im Grunde immer schon das Alte war«.46 Für Schnitzlers moderne Chronik ließe sich diese Beobachtung in zweifacher Weise aufgreifen  : Auf der inhaltlichen Ebene der histoire protokolliert die Chronik von Thereses Frauenleben zugleich auch den sich andeutenden Untergang der Habsburger Monarchie als Krisenszenario.47 Aber es ist vielleicht auch bezeichnend, dass Schnitzler in den politisch chaotischen Zeiten der Ersten Republik zurückgreift auf die traditionelle Form der Chronik und sie nun 42 Einzig der Mordanschlag am Ende im vorletzten Kapitel wird intern aus dem Blickwinkel des Sohnes fokalisiert, dessen Perspektive damit im Unterschied zur frühen Novelle hier auch an entscheidender Stelle dem Leser zugänglich gemacht wird. 43 Vgl. hierzu vor allem Konstanze Fliedl  : Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung. Wien, Köln, Weimar 1997. 44 Vgl. etwa Martin Swales  : Arthur Schnitzler. A Critical Study. Oxford 1971, S.  38. Ruth  K. Angress  : Schnitzlers Frauenroman »Therese«, in  : Modern Austrian Literature 10 (1977), Heft 3/4, S.  265–282, hier S. 265. Zdenko Škreb  : Schnitzlers »Therese«, in  : Neohelicon 11 (1984), S. 171–184. 45 Vgl. Wolf  : Einleitung (Anm. 40). 46 Ebd., S. 27. 47 Vgl. hierzu schon Ruth Klüger  : Schnitzlers »Therese« – ein »Frauenroman«, in  : Dies.: Frauen lesen anders. Essays. München 1996, S. 35–62, hier S. 61.

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aber entschieden modernisiert und subjektiviert. Die Chronik als Ausdrucksform und Gegenentwurf zur Krise spiegelt sich sowohl in der Entstehungs- als auch in der Handlungszeit des Romans. Die literarische Figur Therese soll sich über den genauen zeitlichen Verlauf ihres Lebens nicht immer völlig im Klaren sein, umso wichtiger war es dem Autor Schnitzler hier Eindeutigkeit für sich bei der Arbeit am Text zu erzeugen. Die 26-seitige Gliederung des Romans im Nachlass sortiert die Handlung maschinenschriftlich nach durchnummerierten Kapiteln und paraphrasiert stichwortartig den Inhalt der einzelnen Kapitel. Immer wieder finden sich in dieser maschinenschriftlichen Gliederung auch Jahreszahlen, die etwa das Zusammentreffen mit Kasimir Tobisch, dem späteren Kindsvater, auf 1891 datieren.48 In der maschinenschriftlichen Kapitelgliederung aus dem Nachlass finden sich zudem immer wieder handschriftliche Zusätze, die versuchen, die Chronologie transparent zu machen und zu strukturieren, indem sie die Liebesverhältnisse und die Dienstanstellungen Thereses durchnummerieren. Das, was der gedruckte Roman tilgen wird (die exakte zeitliche Übersicht), erstellt sich der Autor sehr bewusst und in mehreren Arbeitsschritten. Diese Kapitelgliederung aus dem Nachlass stimmt zwar nicht restlos mit der Endfassung überein,49 aber dennoch lassen sich im Abgleich mit der Druckfassung Inhalt und Struktur des Romans sichtbar machen  : Der Roman erzählt das Leben Therese Fabianis chronographisch seit ihrem 16. Lebensjahr bis zu ihrem Tod. Dass die Kindheit ausgespart wird, signalisiert ja bereits der Untertitel, der lediglich das erwachsene Frauenleben Thereses annonciert. Die erzählte Zeit des Romans umfasst etwa 25 Jahre und setzt um 1886 in Salzburg ein und endet noch vor dem Ersten Weltkrieg in Wien. Aus der armen Näherin der Novelle, über deren Herkunft man nichts erfuhr, macht Schnitzler im Roman eine höhere Tochter, deren Vater Oberstleutnant der k. u. k. Armee war und deren Mutter von kleinem slawonischen Landadel abstammte. Dieses Anheben des sozialen Ausgangsmilieus ermöglicht eine enorme Fallhöhe und die Erzählung eines Niedergangs. Der Verfall einer Familie ereignet sich allerdings nicht allmählich über viele Generationen, wie bei den Buddenbrooks, sondern in der verhältnismäßig kurzen Zeit von etwa 25 Jahren, die der Roman sturzbachartig in den Blick nimmt  : Der pensionierte Vater verfällt dem Wahnsinn und muss in eine Irrenanstalt eingeliefert werden,50 die Mutter versucht, mit dem Schreiben von Trivialromanen ein Aus48 Schnitzler  : [10. Typoskript] Erstes Buch. Therese, FF C XLV Mappe 162, 10, Bl. 64, paginiert S. 5. 49 Statt der endgültigen 106 Kapitel, gibt es in der Gliederung noch 108 Kapitel und auch die zeitliche Struktur verschiebt sich noch etwas. 50 Angedeutet wird, dass Hubert Fabiani sich im Bordell die Syphilis eingefangen hat  : Erst wird von einer Nacht berichtet, die der Vater verbrachte »in einem der verfallenen Häuser nahe dem Petersfriedhof bei einer der Frauenspersonen, die dort Knaben und Greisen ihren welken Leib feilboten« (T 627). Später

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kommen zu finden und Therese an einen alten wohlhabenden Grafen zu verkuppeln. Die familiäre Ausgangssituation ist desolat, weder Mutter und Tochter noch Therese und ihr Bruder Karl haben ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander.51 Noch in Salzburg hat Therese zu Alfred Nüllheim, einem Schulkameraden ihres drei Jahre älteren Bruders, eine halb-platonische Beziehung. Als Karl und Alfred zum Medizinstudium nach Wien aufbrechen, beginnt Therese eine Affäre mit einem jungen Leutnant, der sie aber bald betrügt. Aus dieser Situation flieht die Protagonistin nach Wien, wo sie ohne Schulabschluss (sie hat lediglich die »vorletzte Lyzealklasse« [T 630] besucht) und ohne gesicherte Ausbildung sich als Kinderfräulein und Gouvernante verdingt. Mit dem Schauplatzwechsel nach Wien und dem Beginn des Arbeitslebens wird die serielle und episodische Struktur der Erzählung virulent  :52 Schnitzler lässt Therese insgesamt über 25 Arbeitsverhältnisse durchlaufen und zehn Liebhaber wechseln. Dieser Reihen­ charakter war auch schon früh Schnitzlers Verleger Samuel Fischer aufgefallen, der Schnitzler daher in einem Gespräch seinen Eindruck »über ›Therese‹ [mitteilte], – es sei  – eine Art  – ›Reigen‹  !«53 Das Ausrufungszeichen im Tagebuch signalisiert vielleicht Schnitzlers verblüffte Freude über Fischers transgenerische und intratextuelle Beobachtung, die dann später von der Forschung aufgegriffen wurde, wenn die Erzählstruktur von Therese auch mit dem Begriff des »Ritornells« beschrieben wurde.54 Aber während der zehn Dialoge umfassende Einakter Reigen nach dem Modell aufgebaut ist, A trifft B, B trifft C, C trifft D, D trifft E, E trifft F, F trifft G, G trifft H, H trifft I, I trifft J, und J trifft schließlich wieder A und sich der Reigen damit schließt, verfolgt der Roman lediglich die Perspektive der Protagonistin, so dass sich hier das Modell aufstellen ließe  : A trifft B, A trifft C, A trifft D etc. So entfaltet sich eine chronikalische »Ästhetik des Nacheinanders«.55 Einige Figuren begegnen allerdings immer wieder  : Jenseits der betont dann die Mutter gegenüber Therese die Verantwortung des Vaters für seine Krankheit  : »›Was willst Du  ? Er selbst ist schuld daran.‹« (T 630). 51 Vgl. hierzu Heidy Margrit Müller  : Töchter und Mütter in deutschsprachiger Erzählprosa von 1885 bis 1935. München 1991, S. 189–202. Gabrielle Gross  : Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann. Frankfurt a. M. 2002. 52 Vgl. hierzu Michael Scheffel  : Formen ›episodischen Erzählens‹ oder  : Zwei Lebensgeschichten vom ›Frauenglück‹ in Romanen von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und Arthur Schnitzler, in  : Euphorion 111 (2017), S. 225–246. 53 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1927–1930. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1997, Tagebucheintrag vom 29. November 1927, S. 109. 54 Sigrid Schmid-Bortenschlager  : Ritournelle et épisode dans »Thérèse«, in  : Arthur Schnitzler. Actes du col­loque du 19–21 octobre 1981. Hg. von Christiane Ravy und Gilbert Ravy. Paris 1983, S. 47–59. Zur Zirkularität vgl. auch Adelheid Koch-Didier  : »Gegen gewisse, sozusagen mystische Tendenzen«. L’œuvre romanesque d’Arthur Schnitzler, in  : Austriaca 50 (2000), S. 89–107, hier S. 96. 55 Vgl. hierzu auch Michael Scheffel  : Arthur Schnitzler. Erzählungen und Romane. Berlin 2015, S. 163.

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Familie (Mutter und Bruder) ist dies vor allem der Jugendfreund Alfred Nüllheim, der als verheirateter Arzt mit Therese später noch einmal in Wien eine Affäre hat und der ihr am Sterbebett verspricht, sich für ihren Sohn einzusetzen. Aus dem Ich-Erzähler der frühen Novelle wird hier eine wichtige Nebenfigur, dessen Auftreten zu Beginn, in der Mitte und am Ende den Roman strukturiert. Thereses Stellung ist nie sicher, immer wieder wird ihr von heute auf morgen gekündigt. Von Kasimir Tobisch, einem windigen Halbweltkünstler und Hochstapler, wird sie mit 21 Jahren schwanger und verlassen, ohne dass Therese Tobischs Verbleib ermitteln könnte. Therese erwägt eine Abtreibung, drei Mal nimmt sie Anlauf dazu, verdrängt aber auch immer wieder die Schwangerschaft und bringt schließlich in einer ärmlichen Vorstadtwohnung allein und ohne ärztlichen Beistand das Kind zur Welt. Der versuchte Kindsmord unmittelbar nach der Geburt wird (wie in der Novelle Der Sohn) zu einem zentralen Achsenereignis, das die Wiederholungsstrukturen mit seiner exzeptionellen Einmaligkeit unterbricht und narrativ zudem hervorgehoben wird, indem der Roman hier aus dem epischen Präteritum und der dritten Person Singular ins Präsens und die erste Person Singular des inneren Monologs wechselt. Therese gibt ihren Sohn, der im Roman den Namen Franz erhält, aufs Land nach Enzbach zu Bauern in die Pflege. Die folgenden Kapitel sind geprägt von perpetuierenden Pendelbewegungen Thereses zwischen ihren wechselnden Anstellungen in Wien und den Besuchen bei ihrem Sohn Franz in Enzbach. Eine weitere Schwangerschaft (Vater ist der fünfte Liebhaber Ministerialrat Dr. Bing) beendet Therese kurz entschlossen mit einer Abtreibung.56 Während der Sohn rasch auf die abschüssige Bahn gerät und sich schon früh zum Kleinkriminellen entwickelt, stiehlt, betrügt und immer wieder Ärger macht, scheint sich bei Therese eine leicht aufsteigende Entwicklung anzudeuten,57 als sie nicht mehr bei verschiedenen Familien in Anstellung ist, sondern es bewerkstelligt, sich in ihrer möblierten Wohnung mit Nachhilfeunterricht für Mädchen ein Auskommen zu verschaffen. Zudem entsteht ein Verhältnis zu dem geschiedenen Vater einer dieser Schülerinnen, der Therese heiraten will. Diese bürgerliche Sicherheit verheißende Verbindung kommt aber nicht zustande, weil dieser Herr Wohlschein unerwartet und kurz vor der Hochzeit an einem Herzinfarkt stirbt, ohne dass er noch sein Testament zu Thereses Gunsten hatte ändern können. Der gleichsam retardierende Moment ist vorbei und der Untergang ist absehbar, als Franz zurück aus dem Gefängnis von seiner Mutter 56 Die Unentschlossenheit während der ersten Schwangerschaft weicht der eindeutigen Überzeugung  : »Lieber der Tod als noch ein Kind« (T 752). 57 Eine solche aufsteigende Bildungsgeschichte betont etwa forciert Angress  : Schnitzlers Frauenroman »Therese«, (Anm.  44), aber auch Ester Saletta  : Die Imagination des Weiblichen. Schnitzlers »Fräulein Else« in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien, Köln, Weimar 2006, S. 89–106, und vorsichtiger Scheffel  : Arthur Schnitzler (Anm. 55), S. 166.

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immer wieder und immer aggressiver Geld fordert. Als Therese eines nachts nicht bereit ist, es ihm zu geben, greift Franz seine Mutter tätlich an, er würgt sie so stark, dass sie an den Folgen eines »Kehlkopfknorpelbruch[s]« (T 879) am nächsten Tag stirbt. So wie Geburt und versuchter Kindsmord narrativ hervorgehoben werden durch den Wechsel in den inneren Monolog, so wird auch der Angriff des Sohnes auf Therese erzählerisch herausgehoben, indem hier ein Fokalisierungswechsel Einblick in die Psyche des Täters gewährt, die Fokalisierung wird kurz variabel und bietet erlebte Gedankenrede aus der Perspektive von Franz. Der Roman endet in einem nüchternen Stil und extern fokalisiert mit dem zeitraffend annotierten Gerichtsprozess gegen den Sohn, der zu zwölf Jahren »schwere[m] Kerker« (T 881) verurteilt wird, und mit einem Blick auf das Grab Thereses.

3. Ein österreichischer Zeitroman Monotonie und Wiederholung als narrative Strategien der Verwirrung

Dass Schnitzler mit Therese, vier Jahre nach Thomas Manns Zauberberg, den er gründlich gelesen hatte,58 ebenfalls einen veritablen Zeitroman veröffentlichte, signalisiert paratextuell bereits der gattungspräzisierende Untertitel Chronik. Die Zeit (griechisch chrónos) und die subjektive Wahrnehmung ihres Vergehens sind Themen in beiden Epochenromanen. Der Zauberberg und Therese sind dabei in einem doppelten Sinn Zeitromane, insofern sie einerseits das Gattungsschema des gegenwartskritischen Zeitromans variieren als auch indem sie das subjektive Vergehen von Zeit selbst zum Sujet machen.59 Beide Romane entwerfen in den 1920er Jahren noch einmal eine Vorkriegswelt, die der Gegenwart als unendlich weit entfernt erscheint. Während Thomas Mann die Zeit auf dem Zauberberg scheinbar stillstellt, sich Gedanken macht über das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit und seinen Protagonisten Hans Castorp die zu sieben Jahren ausgedehnten Ferien von ursprünglich drei Wochen auch genießen lässt, bereitet Schnitzler seiner Protagonistin mit dem sich wiederholenden, 58 Vgl. den Brief Arthur Schnitzlers an Thomas Mann vom 5. Januar 1925, in  : Arthur Schnitzler – Thomas Mann. Briefwechsel. Hg. von Hertha Krotkoff, in  : Modern Austrian Literature 7 (1974), Heft 1/2, S. 1–33, hier S. 23 f. 59 Unter der Gattung »Zeitroman« versteht die Literaturwissenschaft ein Gegenstück zum Individualoder Bildungsroman. Ein Zeitroman konstituiert sich durch »Darstellung und Kritik der politischen und/oder sozialen Zeitgeschichte als literarischer Versuch eines (dokumentarischen oder fiktionalen) Bildes der Zeit in ihren Voraussetzungen, Grundzügen und Entwicklungen« (so Dirk Göttsche  : Zeitroman, in  : Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3  : P–Z. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 32003, S. 881–883, hier S. 881). Vgl. auch Martin Lindner  : Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart 1994.

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monotonen Einerlei von Stellungssuchen und Kündigungen einen zermürbenden Berufsalltag. Hans Castorp sehnt sich nach den alltäglichen Wiederholungen der Berghofrituale, Therese Fabiani verschleißen die immer wieder notwendigen beruflichen Stellungswechsel. Wiederholungen sind für beide Epochenromane ein wichtiges strukturierendes Moment,60 über das sich Schnitzler auch selbstkritisch Gedanken machte während der Arbeit am Text. So notiert er im Tagebuch nach der korrigierenden Lektüre seines Romantyposkripts  : N[ach]m[ittag] Roman zu Ende gelesen  ; ich meine dass er im ganzen gut erzählt ist, seine Qualitäten, allerlei Längen und vielleicht zu viele mattere ja banale Stellen hat. Anfang ist gut, die zweite Hälfte zum Theil sehr gut  ; am schwächsten manches in der Mitte. Manche »Wiederholung« ist Kunstmittel, mehr oder weniger absichtsvoll.61

Die »›Wiederholung‹ [als] Kunstmittel« prägt nun gerade den Mittelteil, mit dem Schnitzler hier noch unzufrieden ist, den er aber noch mehrfach überarbeitet hat. Wenn auch der gedruckte Roman bewusst auf Jahreszahlen verzichtet, so wird doch das chronographische Verfahren extrem betont, denn 83 Kapitel von insgesamt 106 beginnen in den ersten zwei Sätzen mit einer Zeitangabe. Bereits der erste Satz des ersten Kapitels exponiert die Zeit als das eigentliche Thema des Romans und setzt mit der biblischen Formulierung »Zu der Zeit, da« (T 625) ein. Es ist exakt dieser erste Satz des Romans, den sich Alfred Döblin 1929 leicht verfremdend zurechtschneiden wird, um in seinem programmatischen Text Der Bau des epischen Werks ein vorgestriges Erzählen scharf zu attackieren. Schnitzler hat dies betroffen registriert  : »In der N[euen] R[undschau] von Döblin ein Artikel über epische Kunst, worin er polemisch den Anfang von Therese (mit geänderten Namen) benützt  ; salopp und etwas lausbübisch. Welches fast unbegreifliche Ressentiment bei solchen Gelegenheiten herauskommt  !«62 Das Vergehen der Zeit wird

60 Zur Redundanz im Roman vgl. grundlegend Elsbeth Dangel  : Wiederholung als Schicksal. Arthur Schnitzlers Roman »Therese«. Chronik eines Frauenlebens. München 1985. Dies.: Vergeblichkeit und Zweideutigkeit. »Therese. Chronik eines Frauenlebens«, in  : Arthur Schnitzler in neuer Sicht. Hg. von Hartmut Scheible. München 1981, S. 163–187. Kiwit  : »Sehnsucht nach meinem Roman« (Anm. 39), S. 121–146. 61 Schnitzler  : Tagebuch 1927–1930 (Anm. 53), Tagebucheintrag vom 22. Juli 1927, S. 69. 62 Ebd., Tagebucheintrag vom 1. April 1929, S. 238.

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in diesen jeweils ersten Sätzen der Kapitel über Tageszeiten,63 Tages-,64 Wochen-65 oder Monatsangaben66 transportiert, größere Zeitsprünge werden auch über christliche Feiertage67 markiert. Niemals wird ein Datum kalendarisch konkret als der bestimmte Tag eines bestimmten Monats beziffert. Konkrete Wochentagsnennungen bilden die absolute Ausnahme zu Kapitelbeginn.68 Manche dieser kapiteleröffnenden Zeitangaben etablieren bereits eine Wiederholungsstruktur69 oder betonen den durativen Charakter.70 Selten begegnen konkrete Uhrzeiten,71 sehr viel häufiger sind relationale und ungenaue Zeitangaben.72 All dies trägt in einem Roman, der sich jegliche Jahreszahl versagt und doch ungefähr 25 Jahre erzählte Zeit vergehen lässt, erheblich zur Desorientierung des Lesers bei. So wie es der Protagonistin an der Übersicht über ihr eigenes Leben mangelt, so verliert der Leser die Kontrolle über Ausmaß und Vergehenstempo der erzählten Zeit. Die lineare Zeitordnung verflüchtigt sich, Uhr und Kalender als konventionelle »Zeitbestimmer« (Norbert Elias) verlieren zunehmend an Gültigkeit. 63 »Abend für Abend« (T 638), »Am nächsten Morgen« (T 639), »Eines Morgens« (T 648), »im Abenddämmer« (T 653), »Eines Abends« (T 656), »Die erste Nacht« (T 665), »zur Mittagsstunde« (T 692), »durch die Nacht« (T 714), »Am Abend diesen Tages« (T 719), »In später Nachtstunde« (T 762), »Am nächsten Morgen« (T 772), »am nächsten Morgen« (T 808), »Am nächsten Morgen« (T 829), »in früher Vormittagsstunde« (T 845), »Wenige Abende darauf« (T 863), »Eines späten Abends« (T 875), »Gegen Mittag« (T 879). 64 »In diesen Tagen« (T 632), »Am Tag dieser Begegnung« (T 636), »Am nächsten Tag« (T 646), »Am nächsten Tag« (T 650), »An einem Regentag« (T 653), »Am nächsten Tag« (T 672), »Die nächsten Tage« (T 691), »Wenige Tage später« (T 786), »Wenige Tage später« (T 802), »etwa acht Tage nachher« (T 817), »Am dritten Tag aber« (T 839), »Einige Tage später« (T 849), »Die Tage gingen hin« (T 856), »beinahe acht Tage verspätet« (T 858), »In den nächsten Tagen« (T 869). 65 »Erst nach einigen Wochen« (T 629), »Seit einigen Wochen« (T 669), »innerhalb von wenigen Wochen« (T 709), »Die nächsten Wochen« (T 727), »in den nächsten Wochen« (T 819), »Eine Woche und mehr vergingen« (T 823). 66 »Anfang Juli« (T 634), »für Anfang August« (T 635), »In einer Aprilnacht« (T 712), »an einem heißen Augusttag« (T 741), »in den letzten Oktobertagen« (T 745), »Im September« (T 755), »drei Monate beinahe« (T 848), »im Mai« (T 875). 67 »Am Weihnachtsabend« (T 627), »Bis zu Pfingsten« (T 848), »Am ersten Weihnachtsfeiertage« (T 867). 68 »Am nächsten Sonntag« (T 821). 69 »Abend für Abend« (T 638), »Manchmal« (T 643), »wieder einmal« (T 706), »weiter regelmäßig« (T 826), »wieder einmal« (T 835). 70 »In dieser ganzen Zeit« (T 667), »Innerhalb dieser vierzehn Tage« (T 680), »öfters als alle vierzehn Tage« (T 684), »in dieser Zeit« (T 686), »die nächste Zeit verstrich« (T 699), »weiterhin« (T 793), »Eine Zeitlang« (T 798), »in der letzten Zeit« (T 812). 71 »Um fünf Uhr früh« (T 670). 72 »Wenige Stunden vor« (T 701), »Nach einer Fahrt von kaum zwei Stunden« (T 718), »Drei Jahre folgten« (T 722), »Doch nun« (T 729), »Nun« (T 731), »Sie kam nun« (T 748), »Eines Tages« (T 789), »von nun an« (T 807), »Eines Abends« (T 814), »allmählich« (T 831), »Eines Tages« (T 836), »nun« (T 843), »einmal in früher Vormittagsstunde« (T 845), »und nun« (T 853).

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Besonders auffällig und häufig eröffnen Jahreszeitangaben ohne Monatsnennung die Kapitel  : Eingangsformeln wie »seit dem Herbst« (T 630), »der Winter war spät« (T  658), »in diesen trügerischen Vorfrühlingstagen« (T 660), »der Frühling nahte« (T 663), »der Frühling kam heran« (T 674), »das Herbstwetter brach an« (T 697), »an einem Vorfrühlingsabend« (T 768), »im Herbst« (T 779), »bei beginnendem Frühjahr« (T 780), »an einem schwülen Hochsommertag« (T 788), »zu Beginn des Winters« (T 804) oder »mit dem Herbst« (T 860) begegnen immer wieder und erfüllen damit einerseits die Gattungsanforderung der Chronik, deren Darstellungsverfahren »am naturalen Zeitablauf« orientiert ist.73 Diese vagen Zeitangaben »schaffen eine jahreszeitliche Atmosphäre, erlauben aber nicht, die Handlung präzise zu datieren«.74 Solche sich wiederholenden Jahreszeitenangaben betonen andererseits ohne orientierende Monatsnennung und Jahreszahlenzusatz nicht den fortschreitend-linearen, sondern eher den zyklischen Charakter der Handlung und lassen Protagonistin wie Leser in eine seltsam verwirrende Endlosschleife geraten, aus der erst der Tod einen Ausweg eröffnet. Der Kreislauf der Jahreszeiten bildet den Hintergrund für Thereses Wiederholungsverwirrungen und Sich-nicht-Zurechtfinden in der eigenen Vergangenheit und Gegenwart. Auch das Lebensalter Thereses hilft dem Leser nicht viel weiter, um sich zeitlich im Romangeschehen zu orientieren, denn in dem gut 250-seitigen Roman gibt es lediglich vier Mal konkrete Bezifferungen von Thereses Alter, obwohl das Gefühl des Älterwerdens ein bestimmendes Leitmotiv des Textes darstellt. Zu Romanbeginn ist Therese »eben sechzehn Jahre alt geworden« (T 625). Im 54. Kapitel wird lapidar vermeldet  : »Siebenundzwanzig Jahre war sie alt« (T 737). Die dritte Lebensalterangabe im Roman verwirrt jedoch den Leser weiter, denn hier treten numerisch fortschreitende Lebensalterbezifferung nach Jahren und zyklisch-jahreszeitliches, »naturales« Zeitempfinden auseinander und widersprechen einander. Im 76. Kapitel heißt es, dass Therese »kaum dreiunddreißig Jahre« (T 803) alt war, aber zwischen der 27-jährigen Therese im 54. Kapitel und 33-jährigen im 76. Kapitel liegen zehn erwähnte Sommer. Therese müsste hier also eigentlich bereits 37 Jahre alt sein. Dieser Widerspruch wird im Text nicht direkt aufgelöst.75 Die nächste Nennung, wenige Seiten später, vermerkt im 78. Kapitel, dass Therese »mit ihren vierunddreißig Jahren verblüht, ältlich, fahl aussah« (T 807). Die 73 So Melville  : Chronik (Anm. 38), S. 304. 74 Silke Lahn, Jan Christoph Meister  : Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart 22008, S. 154. 75 Gleichwohl gibt es Korrespondenzstellen, die darauf hinweisen, dass auch die Jahreszeitenwahrnehmung von Therese nicht zuverlässig ist. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass diese zeitlichen Inkongruenzen im Roman beabsichtigt sind und nicht etwa schriftstellerischer Laxheit entspringen. In ereignisarmen Lebensphasen schieben sich für Therese die einzelnen Jahreszeiten mehrerer aufeinander folgender Jahre zu einer einzigen großen Jahreszeit übereinander  : »Drei Jahre folgten, so gleichmäßig in ihrem Verlauf, daß sie später in Thereses Erinnerung immer ein Frühjahr ins andere, Sommer in Sommer, Herbst in Herbst, Winter in Winter gleichsam zusammenflossen« (T 722).

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Zeitverhältnisse geraten hier in eine ziemliche Konfusion. Jahreszeitenempfinden und Lebensalterberechnung divergieren. Man hat dies auch einer Nachlässigkeit des alten Autors anrechnen wollen, der sich in seinem eigenen Romanlabyrinth nicht mehr zurechtfand.76 Mit dem werkgenetischen Blick auf die genauen Zeitpläne des Romans, die sich im Nachlass Schnitzlers finden,77 scheint das aber eher unwahrscheinlich. Das Auseinanderklaffen von subjektiv zyklischem Zeitempfinden und gregorianisch kalendarischer Zeitberechnung demonstriert vielmehr eindrücklich, wie sehr der Eindruck des Repetitiven im eigenen Leben zu Verunsicherungen der Zeitbemessung führen kann. Diese Erfahrung überträgt sich auf den Leser, der mit sorgfältigem Nachrechnen der Zeitverhältnisse dieser Chronik nicht mehr gerecht werden kann. Der Leser ist sich permanent bewusst, dass Zeit vergeht, aber wie viel genau, bleibt schemenhaft und ist nicht mehr eindeutig rekonstruierbar. Zur forcierten Unübersichtlichkeit trägt auch die Einteilung des Romans in 106 ziemlich kurze, oft nur wenige Seiten umfassende Kapitel ohne Überschriften bei. Das traurige Frauenleben Thereses wird nicht immer gleich intensiv erzählt. Vor allem der Mittelteil des Romans zeichnet sich durch stark zeitraffende Partien aus. Versucht man diese auf den ersten Blick so amorph wirkende Chronik zu gliedern, bietet es sich an, sowohl die Mutter-Sohn-Geschichte als auch die so auffälligen episodischen Wiederholungsstrukturen in den Arbeitsstellen und Liebesbegegnungen Thereses zu berücksichtigen. So ließe sich eine Dreigliederung überlegen, bei der der erste Teil mit der Geburt des Sohnes endet (Kapitel 1–45) und in dem Therese zusammentrifft mit Alfred Nüllheim, dem Leutnant Max und Kasimir Tobisch.78 Der Mittelteil (Kapitel 46–72) ist in der Zeitorganisation besonders auffällig, beschleunigt einerseits zeitraffend das Erzählen und verunklart im Repetitiven zugleich die genauen Zeitstrukturen. Der Sohn steht hier nicht im Vordergrund, sondern die raschen Arbeitswechsel und sich beschleunigenden Liebesverhältnisse. Im Zentrum dieses Mittelteils wechseln nicht nur die Arbeitsstellen (Kapitel 54–68), sondern schließlich auch die Liebhaber (Kapitel 58–62) kapitelweise. Der Schlussteil (Kapitel 73–106) rückt wieder das Verhältnis von Mutter und Sohn in den Vordergrund, wenn Therese Franz bei sich in der Wohnung aufnimmt. Dieser Schlussteil präsentiert auch spiegelsymmetrisch zum Anfang wieder drei Männer in Thereses Leben  : Alfred Nüllheim, Richard und Herrn Wohlschein, wobei die Begegnung mit Alfred Anfang und Ende der Chronik bildet und rahmt. Obwohl sich 76 Das erwägt etwa Dangel  : Wiederholung als Schicksal (Anm. 60), S. 181. Dagegen argumentiert Kiwit  : »Sehnsucht nach meinem Roman« (Anm. 39), S. 123 f. 77 Vgl. hierzu die Analyse der im Nachlass befindlichen Romangliederungen im vorherigen werkgenetischen Kapitel (Von der novellistischen Skizze zur Chronik  : Schnitzlers Wiederaufnahme und gattungsästhetische Transformation [1898–1928]). 78 Vgl. auch Dangel  : Wiederholung als Schicksal (Anm. 60), S. 185.

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das Erzähltempo im Verlauf des Romans verändert und manche Arbeitsstellen knapper berücksichtigt werden als andere, versagt sich der Bericht ein iterativ ordnendes Zusammenfassen mehrerer Berufsanstellungen zu einem bestimmten Lebensabschnitt. Penibel und bewusst auf erzählerische Eleganz verzichtend (und so auch die Wirkung der Langeweile nicht nur nicht scheuend, sondern absichtlich einkalkulierend) besteht diese Chronik vielmehr auf ihrem singulativen Erzählen, das jede neue Berufsanstellung würdigt und so in ein anaphorisches Aufreihen mündet,79 das jeden beruflichen Neuanfang erneut in den Blick nimmt und auch jede Kündigung einzeln registriert. Schon früh fragt Therese Alfred Nüllheim  : »Was gibt es von hier zu erzählen  ? Ein Tag wird sein wie der Andere« (T 637) und bietet damit eine selbsterfüllende Prophe­ zeiung der Wahrnehmung des eigenen Lebens. Zur Monotonie der Chronik trägt auch ihre Erzählweise bei, die auffällig selten direkte Figurenrede präsentiert, die eine szenische Auflockerung bringen könnte. Nur etwa fünf Prozent des Romans bestehen aus direkter Rede  ;80 dominiert wird die Chronik von der internen Fokalisierung mit Therese als Reflektorfigur, deren Innensicht im Moment des Erlebens dem Leser die erzählte Welt perspektiviert. Formen der transponierten Rede und besonders die erlebte Rede prägen das figuralisierte Erzählen. Das verschwommene Gefühl des déjà vu, eines ewigen Einerleis und des Alles-schon-einmal-irgendwie-Erlebthabens wird gegen Ende des Romans auch zum expliziten Thema gemacht, wenn Therese mit ihrem Verlobten Herrn Wohlschein und dessen Tochter Thilda einen Ausflug macht und sie in demselben Gasthaus Rast machen, in dem sie Jahre zuvor bereits mit dem Kindsvater Kasimir Tobisch war  : Es war ein schöner Frühlingstag, in einem Waldwirtshaus ließ man sich nieder, und Therese merkte, daß es das gleiche war, in dem sie vor vielen Jahren einmal mit Kasimir eingekehrt war. Saß sie nicht an demselben Tisch, vielleicht auf demselben Stuhl wie damals  ? Waren es nicht am Ende dieselben Kinder, wie damals, die dort auf der Wiese herumliefen, – wie es der gleiche Himmel über ihr, die gleiche Landschaft und das gleiche Gewirr von Stimmen war  ? Saßen nicht dieselben Leute dort am Nebentisch, mit denen damals ihr Begleiter zu ihrem Mißvergnügen sich in eine Unterhaltung eingelassen hatte  ? Erst in der Sekunde darauf besann sie sich, daß der Mann, dessen sie sich jetzt erinnerte, der Vater ihres Kindes war  ; und noch 79 »Wenn sich ein Ereignis wiederholt und jedes Mal erneut erzählt wird, liegt eine Sonderform des singulativen Erzählens vor, das Genette anaphorisches Erzählen nennt, das aber auch als multi-singulatives Erzählen bezeichnet wird« (Lahn, Meister  : Einführung in die Erzähltextanalyse [Anm. 74], S. 148). 80 So ausgezählt von Maya Kündig  : Arthur Schnitzlers »Therese«. Erzähltheoretische Analyse und Interpretation. Frankfurt a. M. 1991, S. 87. Vgl. auch Melissa De Bruyker  : Das resonante Schweigen. Die Rhetorik der erzählten Welt in Kafkas »Der Verschollene«, Schnitzlers »Therese« und Walsers »Räuber« -Roman. Würzburg 2008.

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etwas anderes fiel ihr ein, woran sie rätselhafterweise seit heute morgen nicht mehr gedacht hatte, daß dieses Kind, daß ihr Sohn Franz sich am gestrigen Abend wieder in unerfreulichste Erinnerung gebracht hatte. (T 821 f.)

Wieder bleibt der Geschehenszeitpunkt unterbestimmt (»ein schöner Frühlingstag«) und der Abstand zu dem erinnerten Ereignis wird nur vage angegeben  ; »vor vielen Jahren«, wie vielen genau bleibt unklar, hat Therese sich am nämlichen Ort mit Kasimir Tobisch getroffen. Die Raumerinnerung scheint verlässlicher zu sein als die Zeitorientierung. Thereses Selbstbefragungen, die ihrer Unsicherheit über Ähnlichkeit oder Identität der erlebten Situation Ausdruck geben, spiegeln sich sprachlich auch in dem verdichteten und sich überkreuzenden Einsatz des Demonstrativpronomens »derselbe« und des Adjektivs »gleich«. In diesem kurzen Absatz wiederholt sich allein vier Mal das »gleiche« und variiert in flektierter Form vier Mal »derselbe/dieselbe«. Die verstörende Ungewissheit der Protagonistin schlägt sich in grammatischen Brüchen nieder  : Sie scheint die Schullektion, dass dasselbe und das Gleiche nicht dasselbe sind, vergessen zu haben. Während es durchaus das nämliche Wirtshaus und daher dasselbe und nicht »das gleiche« ist, könnte man darüber spekulieren, ob es sich noch um dieselbe oder »die gleiche Landschaft« (die sich gegenüber damals möglicherweise verändert hat) handelt. Definitiv sind Jahre später nicht »dieselben Leute dort am Nebentisch«, sondern höchstens ähnliche  ; und die spielenden Kinder von damals sind wahrscheinlich längst erwachsen und keinesfalls »dieselben Kinder, […] die dort auf der Wiese spielen«. Grammatik, Vergangenheitsrekonstruktion und gegenwärtige Wirklichkeitswahrnehmung der Protagonistin geraten zugleich ins Schwanken. Zusätzlich gedoppelt wird diese Wiederholungswahrnehmung dadurch, dass Therese zwar in diesem Gasthaus erst zum zweiten Mal mit einem Partner Rast macht, aber bereits zum dritten Mal das Gasthaus im Zusammenhang mit einer Männerbekanntschaft registriert. Denn bereits mit Richard ging sie nach einer stürmischen Liebesbegegnung an diesem Gasthaus vorbei und erkannte sofort den Kellner von damals, der von einem Tisch zum andern hastete, und wunderte sich, daß der sich in so vielen Jahren nicht im geringsten verändert hatte, beinahe, als wäre er der einzige von allen lebenden Menschen, der nicht gealtert war. Ist das alles nur ein Traum  ? dachte sie flüchtig, warf einen raschen Blick auf ihren Begleiter, als wollte sie sich vergewissern, daß es nicht Kasimir Tobisch sei, der an ihrer Seite ging. […] Wie viele Sonntage seit jenem, dachte Therese  ! Wie viele Paare haben sich seither gefunden, wie viel Kinder seitdem, wohlgeratene und andere  ; und wieder einmal kam ihr die ganze Unsinnigkeit ihres Schicksals, die Unverständlichkeit des Lebens überhaupt niederdrückend zu Bewußtsein. (T 785)

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Das Erlebnis des »wieder einmal« führt nicht zu ritualisierter Sicherheit und verlässlicher Orientierung, sondern im Gegenteil zur verstörenden Erfahrung der Traumhaftig­ keit und »Unverständlichkeit des Lebens überhaupt«. Ereignisse schrumpfen zu Wiederholungen von Ereignissen, weshalb in der Wahrnehmung Thereses »überhaupt kein echtes Ereignis stattfindet, Ereignishaftigkeit nur noch simuliert wird«.81 Die desillu­ sionierenden Wiederholungen und trübe Monotonie sind Empfindungen der Prota­ gonistin und übertragen sich durch das figuralisierte Erzählen auch dem Leser. Das Lektüreerlebnis der verschleifenden Wiederkehr des immer Gleichen konnte man als ästhetisches Defizit bemängeln, und manche Zeitgenossen Schnitzlers haben das auch getan und banales Sujet und reizlose Erzählweise in Schnitzlers Roman moniert.82 Ernst Lothar repetierte in der Neuen Freien Presse 1928 diese zeitgenössischen Vorwürfe aus der Weimarer Republik, um sie dann in österreichischer Solidarität zu entkräften. Er rühmt Schnitzlers Therese gerade wegen ihrer zermürbenden Erzählung von Monotonie und Wiederholung und stellt klar  : Man hat, in Deutschland, der »Therese« ihren »grauen Ton« zum Vorwurf gemacht. Man fand die chronikale, sozusagen protokollhafte Aneinanderreihung von Fakten des kargen Lebens einförmig und der Gesamtfarbe abträglich. Dieser Meinung kann ich nicht beipflichten. Denn hier wird als Manko betrachtet, was bewußte dichterische Absicht und wohl auch Notwendigkeit war. Nie hat sich Arthur Schnitzler im Vortrag oder Thema monoton gezeigt  ; immer als das absolute Gegenteil. Schon dieser sinnfällige Unterschied zwischen seinem bisherigen Werk und der »Therese« hätte klarstellen müssen, daß dieser Unterschied gewollt war. Nicht also zufällig oder aus nachlassender Kraft hat hier ein großer Dichter einen Lebens­ alltag grau in grau gezeichnet, sondern  : dies war strenges Darstellungsprinzip. Richtiges, wie ich glaube. Aus der Summe gleichbleibender Summanden sollte die ungeheure Differenz zwischen Anspruch und Erfüllung abgelesen werden  ; aus dem lebenslang Unveränderten die Überlebensgröße des Unabänderlichen  ; aus dem Oberflächengrau die unterirdische Blutröte der Sehnsucht. Deshalb wirkt das Buch ganz so beklemmend wie unser Leben.83

81 So im Anschluss an Baudrillard Nikola Roßbach  : Das Ende der Ereignisse. Arthur Schnitzlers »Therese«, in  : Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses in Wien 2000. Hg. von Peter Wiesinger. Bern 2002, S. 405–412, hier S. 408. 82 Vgl. etwa Karl Strecker  : Neues vom Büchertisch. Romane und Novellen, in  : Velhagen & Klasings Monatshefte 43 (1928), S. 115–120, hier S. 118. Boris Silber  : Der neue Roman von Arthur Schnitzler, in  : Die literarische Welt 4 (1928) vom 15. Juni 1928, S. 5. 83 Ernst Lothar  : Gespräch über die besten Bücher des Jahres. Ratschläge, Urteile, Feststellungen, in  : Neue Freie Presse vom 16. Dezember 1928, Morgenblatt, S. 1 ff., hier S. 2.

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Dass es die eigentliche Leistung dieser säkularisierten Chronik ist, die Ungreifbarkeit eines kohärenten Sinnzusammenhangs des eigenen Lebens im Moment des Erlebens darzustellen, blieb lange unberücksichtigt. Ernst Lothars bedenkenswerte Bemerkungen bedeuten im öffentlichen Raum eine Besonderheit, aber es fanden sich auch weitere wohlwollende Reaktionen  ;84 und privatim formulierte Hugo von Hofmannsthal in einem Brief an Arthur Schnitzler einen ganz ähnlichen Leseeindruck und vergleichbares literaturkritisches Urteil  : »Eben was dem stumpfen Leser monoton scheinen könnte, daß sich sozusagen die Figur des Erlebnisses bis zur beabsichtigten Unzählbarkeit wiederholt, das hat Ihnen ermöglicht, Ihre rhythmische Kraft bis zum Zauberhaften zu entfalten«.85 Auch Thomas Mann, der im Zauberberg seinen Erzähler als »raunenden Beschwörer des Imperfekts« bestimmt hatte, sandte Arthur Schnitzler einen enthusiastischen Brief und hob die unaufgeregte chronikalische Erzählweise als gleichsam avantgardistische Leistung hervor, die den Roman an seine Gattungsgrenzen treibe  : Ich muß Ihnen sagen, wie sehr ich Ihre »Therese« liebe, diesen Roman, der, wie alle guten und wichtigen heute, keiner mehr ist, und […] den ich in langsamer, inniger Lektüre in mich aufgenommen habe. Was ich so bewundere, ist die Conception des Buches, […], ohne Aufwand, ohne Spannung, Konflikte »Knotenschürzung«, »Erfindung«, – lauter Dinge, die als läppisch zu empfinden dies Buch wie kein anderes zu lehren geeignet ist.86

In einem Interview bekräftigte Thomas Mann seine Vorstellung von der Modernität Thereses  ; Victor Wittner gegenüber erläuterte Mann  : »Ich habe auch die ›Therese‹ Schnitzlers gelesen, es ist kein Roman im älteren Sinn, jedoch als Konzeption merkwürdig, und rührend in seiner Einfachheit, in der Monotonie des erzählten Schicksals«.87 Dass damit ein traditionsbewusster Erzähler einem anderen eine besondere Modernität versicherte, stimmt wohl, schmälert aber nicht Schnitzlers ästhetische Leistung.

84 Vgl. etwa die beiden (unterschiedlichen) freundlichen Rezensionen von Viktor Zuckerkandl  : Therese, in  : Neue Rundschau 39, 9 (1928), S. 334 f. Ders.: Arthur Schnitzlers »Therese«, in  : Vossische Zeitung vom 29. April 1928, S. 1 f. 85 Brief Hofmannsthals an Schnitzler vom 10.  Juli 1928, in  : Hofmannsthal  – Schnitzler  : Briefwechsel (Anm. 16), S. 309. 86 Brief Manns an Schnitzler vom 28. Mai 1928, in  : Schnitzler – Mann  : Briefwechsel (Anm. 58), hier S. 25. 87 Victor Wittner  : Unterhaltungen mit Zeitgenossen. Bei Thomas Mann  II., in  : Neue Freie Presse vom 28. Oktober 1928, S. 11 f., hier S. 11.

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4. Prekariat der Gegenwart Defraudanten, Angestellte und die neusachliche Ästhetik

Gegenüber dem verbreiteten und weit nachwirkenden Urteil, dass Schnitzler in den 1920er Jahren lediglich noch ein sentimentaler Dichter einer untergegangenen Welt war, hatten es andere Stimmen, die die engagierte Zeitgenossenschaft Schnitzlers auch während der Ersten Republik betonten, lange Zeit schwer. Claudio Magris’ Großurteil über die österreichische Literatur der Zwischenkriegszeit, die sich der politischen und sozia­ len Gegenwart verweigert und in einem habsburgischen Mythos zurückgesehnt habe nach einer vermeintlich glänzenden Vergangenheit Kakaniens,88 prägte lange Zeit auch die literaturwissenschaftliche Forschung zum späten Schnitzler. Wendelin SchmidtDenglers Mahnungen demgegenüber, Schnitzler ohne die Nostalgie, die man seinen Nachkriegswerken unterstellte, zu betrachten,89 haben erst langsam Wirkung gezeigt.90 Im Folgenden wird an diese, den Appell zur Nostalgie-Abstinenz ernst nehmenden Beiträge angeknüpft,91 und insbesondere danach gefragt, inwiefern sich nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern vor allem auch in poetologischer Hinsicht Schnitzlers Zeitgenossenschaft in seinem letzten Roman abzeichnet. Hier bieten die zahlreichen Studien von Primus-Heinz Kucher zur österreichischen Literatur der 1920er Jahre zwischen Moderne und Antimoderne und Sabina Beckers Forschungen zur neuen Sachlichkeit viele Hinweise, um Schnitzlers Schreiben angemessen kontextualisieren zu können.92 Zum ersten Todestag von Schnitzler druckte die Neue Freie Presse 1932 folgendes Urteil Thomas Manns über Schnitzlers letzten Roman »aus einem Gespräch« ab  : 88 Claudio Magris  : Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [1963]. Wien 2000. Vgl. hierzu etwa kritisch Sven Achelpohl  : Eine Welt von gestern – ein Mythos von heute  ? Über Claudio Magris’ »Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur«, in  : literaturkritik.de 3, 6 (2001), S. 1 f. (, abgerufen am 2. Februar 2020). 89 Wendelin Schmidt-Dengler  : Ohne Nostalgie. Zur österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit. Wien, Köln, Weimar 2002. 90 Vgl. etwa Verena Vortisch  : An der Grenze des Poesielands. Arthur Schnitzlers Komödie »Fink und Fliederbusch«. Würzburg 2014. Scheffel  : Arthur Schnitzler (Anm. 55), S. 171. Cristina Fossaluzza  : Snobismus als geistige Macht. Arthur Schnitzlers Zeitkritik und die Debatte um den ›Kulturkrieg‹, in  : Studia Austriaca 25 (2017), S. 21–36. 91 Konstanze Fliedl  : Verspätungen. Schnitzlers »Therese« als Anti-Trivialroman, in  : Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 33 (1989), S. 323–347. Joachim Heimerl  : Arthur Schnitzler. Zeitgenossenschaft der Zwischenwelt. Frankfurt a. M. 2012. 92 Hier nur stellvertretend für viele weitere und im Folgenden erwähnte Bände  : Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Literatur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938. Hg. von Primus-Heinz Kucher. Göttingen 2016. Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Hg. von Sabina Becker und Christoph Weiss. Stuttgart, Weimar 1995.

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Ganz besonders liebe ich Arthur Schnitzlers Roman »Therese«. Dieses Meisterstück stelle ich noch höher als den »Weg ins Freie«, der ja gleichfalls zu Schnitzlers edelsten Schöpfungen gehört. Von der Eintönigkeit, die manche Beurteiler an »Therese« tadeln, habe ich niemals etwas entdecken können. Das intensive Lebensgefühl der Trauer, das dieses Buch erfüllt, hat mich immer wieder ganz ungeheuer ergriffen. Schnitzlers »Therese« hat etwas bezwingend Geniales in der Komposition. Das Schicksal dieser Erzieherin, die in einer Reihe von Bürgerhäusern dient, bietet dem Dichter Gelegenheit zu einem Gesellschaftsgemälde von hinreißendem Farbenreichtum. Arthur Schnitzler macht es wie der Teufel in der berühmten Dichtung von Le Saye [sic] – der Teufel, der die Dächer des Hauses abdeckt und die verwirrende Mannigfaltigkeit der Schicksale sichtbar werden läßt.93

Diese abgedeckten Wiener Bürgerhäuser, in die Schnitzlers Roman Einblick gewährt, zeigen nun keineswegs nur eindimensional Vorkriegshaushalte, sondern evozieren immer wieder Zwischenkriegsschicksale. Das »Gesellschaftsgemälde von ­hinreißendem Farbenreichtum« changiert zwischen kakanischer Vergangenheitskonstruktion und Gegenwartsreflexion. So lässt sich der Bankrott des Bankdirektors Emil Greitler im Roman durchaus beziehen auf die chaotischen Jahre der Hyperinflation in Österreich.94 Aus der Dienstbotenperspektive erlebt Therese »ein sogenanntes großes Haus« (T 731), in dem sie erst einmal kaum etwas tun muss, denn die zu betreuenden zwei Kinder »besuchten öffentliche Lehranstalten und hatten überdies so viele Privatlehrer, daß Thereses Wirksamkeit sich so ziemlich darauf beschränkte, die beiden Kinder zur Schule, von dort nach Hause und auf Spaziergänge zu begleiten« (T  731). Dass der äußere Eindruck von gediegener Wohlhabenheit mit großen Abendgesellschaften und prächtigen Faschingsbällen allerdings täuscht, erschließt sich Therese erst, als sich ihre Gehaltsauszahlung um mehr als einen Monat verzögert. Gerüchte gehen um, dass »das Haus Greitler nach allen Seiten hin verschuldet« (T 732) sei. Die bloße Fassadenhaftigkeit dieses Wohlstands wird immer deutlicher. Schließlich geht Herr Greitler für zehn Tage auf Reisen, was aus der Dienstbotenperspektive nichts Besonderes ist, sondern etwas, das »häufig geschah« (T 733). Dass hier aber der verschuldete Bankdirektor sich 93 Thomas Mann  : Arthur Schnitzler als Vorbild. Zum ersten Todestage meines Freundes. (Aus einem Gespräch), in  : Neue Freie Presse vom 21. Oktober 1932, S. 9. Angespielt wird hier auf den Roman Le diable boiteux (1707) von Alain-René Lesage. 94 Vgl. Christian Beer, Ernest Gnan und Maria Teresa Valderrama  : Die wechselvolle Geschichte der Inflation in Österreich. Wien 2016, S. 15 f. Während Felix Dörmann in seinem Jazz-Roman diese Krisenjahre der Ersten Republik direkt literarisiert, bilden sie bei Schnitzler eher einen Assoziationsrahmen. Zu Dörmanns Krisenbild vgl. Primus-Heinz Kucher  : Entfesselter Kapitalismus, radikale Körperinszenierung und Kulturkritik. Von Hugo Bettauers »Hemmungslos« und Felix Dörmanns »Jazz«-Roman zu Arthur Rundts »Marylin«, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938). Hg. von Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher. Heidelberg 2019, S. 313–330.

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den Forderungen seiner Gläubiger zu entziehen versucht, erfährt Therese schließlich aus der Zeitung  : »Schon die Abendblätter brachten die Nachricht. Der Zusammenbruch war erfolgt  ; Herr Greitler war am Morgen im Eisenbahnzug, zwei Stunden weit von Wien, verhaftet worden« (T 733). Emil Greitler ist ein Defraudant. Damit geht wieder einmal rascher als geglaubt ein Berufsverhältnis von Therese zu Ende. Das Schicksal der Greitlers steht prototypisch für eine erzählte Welt, in der nichts mehr sicher ist und scheinbar aus heiterem Himmel der Ruin eintreten kann. Das Gefühl, dass nichts von Dauer ist und dass der äußere Schein des Intakten trügerisch ist, bildet schließlich auch die Grunderfahrung der Protagonistin. Der gesellschaftliche Absturz wird ihr von den Eltern präfiguriert, der Vater (einst k. u. k. Oberstleutnant) landet im Irrenhaus und die Mutter (adlig von Geburt) versucht, mit dem Schreiben von Trivialromanen ein finanzielles Auskommen zu finden. Ihrerseits gibt Therese die soziale Abwärtsrichtung an den Sohn weiter, der sich zum Kleinkriminellen, Zuhälter und versuchten Muttermörder entwickelt. Schnitzler spiegelt damit die Verlust- und Verlorenheitsgefühle nach 1918 in die erzählte Vorkriegswelt ein. Thereses Berufsleben ist bestimmt von allumfassender Unsicherheit  : »So stand sie immer und überall auf schwankendem Grunde« (T 752). Wenn man genauer hinschaut, ist Thereses Berufsweg für eine Vorkriegskinderfrau auch eher ungewöhnlich. Ein vergleichender Blick auf die Buddenbrooks kann dies illustrieren  : Während Ida Jungmann als Kinderfrau im 19. Jahrhundert in Lübeck Generationen von kleinen Buddenbrooks betreut, über 40 Jahre fester und stabilisierender Bestandteil des Familienlebens bleibt und ihre Entlassung erst nach dem Tod des Senators zum Thema wird, durchirrt Therese über 25 Berufsanstellungen in etwa 25 Jahren erzählter Zeit. Dass Schnitzler damit eher die Lebenswirklichkeit und Geldnöte der neuen Angestelltenklasse der 1920er Jahre einfängt als den Berufsalltag einer typischen Wiener Vorkriegsgouvernante, ist in der Forschung verschiedentlich bemerkt worden.95 Siegfried Kracauers soziologische Beobachtung der neuen Angestellten nach dem Ersten Weltkrieg ähnelt bis in die Familienverhältnisse hinein Thereses Situation.96 Therese ist immer von Arbeitslosigkeit bedroht, keine 95 Vgl. hierzu ausführlich und textgenau Dangel  : Wiederholung als Schicksal (Anm. 60), S. 192–201. 96 Kracauer beschreibt den sozialen Abstieg der neuen Angestellten auch aus den militärischen Kreisen nach dem Ersten Weltkrieg  : »Früher waren sie Offiziere oder Mittelstandsexistenzen von bescheidener Unabhängigkeit. Fremd ragen diese bürgerlichen Ruinen mit ihren Privatgefühlen und der ganzen verschollenen Innenarchitektur in die rationalisierte Angestelltenwelt hinein. Vermutlich zerfielen sie völlig, wenn sie sich nicht durch den Gedanken aufrecht erhielten, daß sie einmal etwas Besseres gewesen sind« (Siegfried Kracauer  : Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt a. M. 1974, S. 59)  ; vgl. auch Dangel  : Wiederholung als Schicksal (Anm.  60), S.193 f., die betont, dass bei Therese genau diese Haltung, sich für etwas Besseres zu halten als ihre Berufsgenossinnen, öfter vorliegt. Zum Geld als Thema der neuen Sachlichkeit vgl. Christian Meierhofer  : Geldwert und Neue Sachlichkeit. Bemerkungen zum Angestelltenroman um 1930, in  : Zeitschrift für deutschsprachige Kultur & Literatur 24 (2015), S. 285–308.

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Stellung ist je sicher, ihre Beschäftigung wird von einem anonymen »Stellungsbureau« (T 670) gegen ein Honorar vermittelt. Persönliche Bindungen zu den Familien, in denen sie tätig ist, lassen sich kaum aufbauen. Sie ist jederzeit ersetzbar durch ein anderes Kindermädchen. Schnitzler entwirft die Berufsgruppe der Gouvernanten als Prekariat, das durch stetige Unsicherheit im Hinblick auf Möglichkeit und Dauer der Erwerbstätigkeit gekennzeichnet ist. Thereses Lebensverhältnisse sind schwierig und fremdbestimmt, immer droht ihr eine Kündigung, die zum sozialen Abstieg führen kann. In mehreren dieser Kündigungssituationen erwägt Therese auch, sich zu prostituieren, denn sie erfasst »mit Schrecken die Tiefe ihres Abstiegs und die Geschwindigkeit, mit der er sich vollzog. Und mit vollkommen klarer Besinnung erwog sie zum erstenmal die Möglichkeit, […] sich einfach zu verkaufen« (T 669 f.). Dass die Prostitution so explizit zum Thema wird in diesem Roman,97 kennzeichnet Schnitzlers direkte und nüchtern-sachliche Chronik und unterscheidet sie durchaus von seinem dezenteren Erzählen der Jahrhundertwende. Das gilt nicht nur für das Thema der Prostitution, sondern mehr noch für das der Abtreibung. Während in Frau Bertha Garlan (1901) noch die Worte »Schwangerschaft« und »Abtreibung« nicht fallen und doch eine Figur an einer verpfuschten Abtreibung stirbt und dies seltsam indirekt mehr angedeutet als erzählt wird, macht Schnitzlers Altersroman die Abtreibungspraxis in Wien zwei Mal so explizit zum Thema, dass Viktor Zuckerkandl sich in seiner Rezension des Romans genötigt sah zu betonen, dass der Roman »weder ein sozialistisches Problembuch« noch ein »Angriff gegen die Abtreibungsgesetze« sei.98 Raoul Auernheimer wiederum sprach in seiner Rezension vom »Terror des § 144«, durch den Thereses Niederkunft »unvermeidlich geworden« war, und hob damit noch einmal hervor, wie sehr den Zeitgenossen diese unverblümte Enttabuisierung aufgefallen war.99 Als Therese mit Franz schwanger ist, erwägt sie drei Mal eine Abtreibung und sie weiß, dass das »mit Gefahr verbunden war, daß man krank werden, sterben oder auch in den Kerker kommen konnte« (T 692). Schnitzler schildert ausführlich drei sozial unterschiedliche Orte und Möglichkeiten der heimlichen und verbotenen Abtreibung in Wien (T 697–701), berichtet von den Kleinanzeigen der Zeitungen, in denen diese Dienste verklausuliert, aber für jeden sichtbar und öffentlich annonciert werden, und beschreibt die Doppelmoral, mit der man Therese begegnet. So erklärt Frau Ruhsam, Thereses zweite aus der Zeitung gefundene Anlaufstelle, dass sie sich zu einer Abtreibung »nur in den seltensten Fällen zu entschlie97 Vgl. hierzu Franziska Schößler  : Die Gouvernante als Hetäre. Bachofen in Schnitzlers Roman »Therese. Chronik eines Frauenlebens«, in  : Matriarchatsfiktionen. Johann Jakob Bachofen und die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. von Ulrich Boss, Yahya Elsaghe und Florian Heiniger. Basel 2018, S. 143–162. 98 Zuckerkandl  : Arthur Schnitzlers »Therese« (Anm. 84), S. 2. 99 Raoul Auernheimer  : Gouvernanten-Roman. »Therese« von Arthur Schnitzler, in  : Neue Freie Presse vom 22. April 1928, S. 1 ff., hier S. 1.

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ßen pflege, und nannte dann sofort einen Betrag, für den sie ausnahmsweise das Risiko auf sich zu nehmen bereit sei. Er war unerschwinglich für Therese« (T 698). Bei ihrer zweiten Schwangerschaft zögert Therese nicht, »und nach wenigen Tagen schon, gegen Zahlung einer nicht übergroßen Summe, die sie ursprünglich für ein neues Kleid bestimmt hatte, war sie rasch und ohne jede böse Folge von ihrer Sorge befreit« (T 752). Das Aptum des Romans hat sich verschoben, die Grenzen des Erzählbaren haben sich geweitet. Schnitzlers Spätstil ist hier deutlich direkter als sein Jahrhundertwende-Erzählen. Auch wenn Schnitzlers Roman Therese wieder einmal das Wiener Großbürgertum und den niederen österreichischen Adel thematisiert, so ist die Perspektive doch eine entscheidend andere als in Schnitzlers vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Erzählungen. Die »gute Wiener Gesellschaft« wird aus der Froschperspektive einer Angestellten des Hauspersonals beschrieben. Therese ist auch ein Hintertreppenroman  ;100 die großbürgerlichen Protagonisten von einst werden zu Nebenfiguren, der Müßiggang mancher gelangweilter Damen von Welt kontrastiert immer aufs Schärfste mit Thereses finanzieller und existentieller Not, die dauernd im Vordergrund der Erzählung steht. Therese ist eine soziale Grenzgängerin  : »Vor ihren Augen […] entrollt sich das Leben der Gesellschaftsschicht, der sie einmal angehörte. […] Aus dem Bürgertum kommt Therese, Proletarierin wird sie in ihrem Beruf und ihr Sohn sinkt ins Lumpenproletariat hinunter«, so die zeitgenössische Beobachtung von Fritz Rosenfeld.101 Mit Thereses Entschluss, als Privatlehrerin mit festem Wohnsitz ihr Leben zu finanzieren, werden die erzählten Lebensräume zusehends vorstädtischer und kleinbürgerlicher.102 Das Wien Thereses ist ein anderes als noch das mondäne eines Anatols in den 1890er Jahren.103 Dass die Haute volée und das kleinbürgerliche Prekariat an ungeahnten Orten aufeinandertreffen können, zeigt wiederum Thereses Gang zu einer in der Zeitung annoncierenden ›Abtreibungspraxis‹, in der ihr erzählt wird, »daß vor kaum einer halben Stunde eine junge Baronesse in gleicher Angelegenheit bei ihr vorgesprochen habe, und zwar schon zum zweitenmal in diesem Jahr« (T 697). Der bestimmende Leseeindruck, den die Erzählung von Thereses sich stetig wiederholenden Stellungssuchen, Einlebebemühungen und Kündigungserfahrungen hinter100 Eine zeitgenössische Rezension hebt die Treppenszenen des Romans hervor  : »treppauf, treppab sucht sie Stellung, bei Aerzten, Ingenieuren, Fabrikanten, Geschäftsleuten« (Fritz Rosenfeld  : Chronik eines Frauenlebens, in  : Salzburger Wacht vom 26. Mai 1928, S. 13 f., hier S. 13). 101 Ebd. 102 Scheffel  : Arthur Schnitzler (Anm. 55), S. 166, lokalisiert diese Wiener Wohnung »in Lichtental, zwischen Ring und Linie«. 103 Zu dem epochalen Wandel im Wienbild vgl. Exploration urbaner Räume. Wien 1918–38. (Alltags)kulturelle, künstlerische und literarische Vermessungen der Stadt in der Zwischenkriegszeit. Hg. von Martin Erian und Primus-Heinz Kucher. Göttingen 2019.

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lässt, ist der trostloser und unentrinnbarer Gleichförmigkeit. Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Thomas Mann benutzen gleichermaßen in ihren Romanwürdigungen hierfür die Bezeichnung der »Monotonie«.104 Damit kennzeichnen sie das Leben von Schnitzlers Protagonistin mit einer Vokabel, die in den 1920er Jahren als Schlüsselbegriff für die Erfahrung der technisierten Moderne und ihrer durchrationalisierten Arbeitswelt schlechthin genommen wurde. Stefan Zweig sprach 1925 von der Monotonisierung der Welt und entfachte damit eine österreichische (Anti-)Amerika-Debatte, an der sich auch Felix Dörmann beteiligte.105 Die Erfahrung eines monoton entfremdenden Lebens wird in Zeiten des Fordismus von den Zeitgenossen als typisches Erlebnis der 1920er Jahre verstanden und Therese als ein entsprechender Zeittyp. Während Therese zusehends die Kontrolle über ihr Leben entgleitet, obwohl sie sich (in der zweiten Hälfte des Romans) mit der Privatlehrerinnentätigkeit in der eigenen Wohnung von ihrem prekären Dasein als Gouvernante ohne festen Wohnsitz zu befreien versucht, präsentiert Schnitzler gegen Ende des Romans eine andere Frauenfigur, die die Diskussionen um die ›Neue Frau‹ in den 1920er Jahren aufgreift.106 Thilda Wohlschein, die Tochter von Thereses Verlobten, verkörpert das gelingende selbstbestimmte Leben, das Therese nie zu führen erlaubt war. Sie wirkt als heimliche Regisseurin der Verbindung von Therese mit Thildas Vater, entschließt sich ohne direkte Billigung ihres Vaters für eine Ehe fernab der Heimat und scheint sich dort auch auf Augenhöhe mit ihrem Mann wohl zu fühlen. Therese beobachtet bewundernd Thildas distanzierte Souveränität, schreibt ihr ein Charisma zu, das immer wieder als »Kälte« oder »Kühle« ausgestellt wird,107 und so Thilda auch als modernen Charakter greifbar werden lässt, der die 104 Vgl. den Brief Hofmannsthals an Schnitzler vom 10. Juli 1928 (Anm. 85), den Brief Stefan Zweigs an Arthur Schnitzler vom 15. Mai 1928 (Stefan Zweig  : Briefwechsel mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitzler. Hg. von Jeffrey  B. Berlin, Hans-Ulrich Lindken und Donald A. Prater. Frankfurt a. M. 1987, S. 438–441) sowie Wittner  : Unterhaltungen mit Zeitgenossen. Bei Thomas Mann II (Anm. 87). 105 Stefan Zweig  : Die Monotonisierung der Welt, in  : Neue Freie Presse vom 31. Januar 1925, S. 1 ff. Felix Dörmann  : Monotonisierung der Welt  ?, in  : Neue Freie Presse vom 8. Februar 1925, S. 1 ff. Vgl. hierzu Rebecca Unterberger  : »Amerika, du hast es besser«  ? ›Reisebeschreibung‹ aus der Neuen Welt, in  : »baustelle kultur«. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Hg. von Primus-Heinz Kucher und Julia Bertschik. Bielefeld 2011, S. 125–158. 106 Den Diskurs um die ›Neue Frau‹ im Jahr 1928 beleuchten Julia Bertschik, Primus-Heinz Kucher, Evelyne Polt-Heinzl, Rebecca Unterberger  : 1928. Ein Jahr wird besichtigt. Wien 2014, S. 36–44, 131–140 und 168–178. Vgl. auch Irmgard Roebling  : »Haarschnitt ist noch nicht Freiheit«. Das Ringen um Bilder der Neuen Frau in Texten von Autorinnen und Autoren der Weimarer Republik, in  : Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 5 (2000), S. 13–76. 107 Therese weiß, dass Thilda »zu einer anderen Art von Wesen gehörte als sie, zu den klugen, kühlen, in sich geschlossenen, denen niemals etwas ganz Ernstes und Schweres begegnen kann, weil sie sich selbst immer zu bewahren und von jedem anderen, der in ihrer Nähe, unter ihren Einfluß, in ihren Zauberkreis gerät, so viel zu nehmen verstehen, als ihnen eben nötig oder auch nur ergötzlich erscheint« (T 810).

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Verhaltenslehren der Kälte erlernt hat, die in den 1920er Jahren den Diskurs der neuen Sachlichkeit mitbestimmen.108 Konstanze Fliedl hat Therese überzeugend als einen Anti-Trivialroman gelesen, mit dem Schnitzler Kolportage- und Kitschmomente der trivialen Frauenromane und i­ hren aufgerüschten Aschenputtel-Geschichten der Zwischenkriegszeit kontrafaziert.109 Thereses Mutter, Julia Fabiani, produziert diese Trivialromane geglückten Frauenlebens mit reicher Heirat und Happy End in Serie, und es ist bezeichnend, dass Schnitzler besonderen Wert darauflegt, Julia Fabianis Schreibverfahren sichtbar zu machen, denn Julia Fabiani entwendet die an ihre Tochter adressierten und von ihr geschriebenen Liebesbriefe, um sie, ohne Thereses Erlaubnis einzuholen, in ihre Romane zu integrieren. Sie montiert faktuale Egodokumente in ein fiktionales Arrangement. Damit alludiert Arthur Schnitzler ironisch die dokumentarische Schreibweise der neuen Sachlichkeit, die gern Dichtung als Dokumente inszenierte.110 Als Therese ihre Mutter brieflich mit dem Wissen um ihre ungewollte Ko-Autorschaft konfrontiert, reagiert die Mutter so professionell wie unfreiwillig komisch, indem sie »sehr sachlich« (T 743), wie es ausdrücklich heißt, nachfragt, »auf welches Honorar Therese für ihre Mitarbeiterschaft Anspruch erhebe« (T 743). Künftig erhält Therese für ihre »›Berichte aus dem L ­ eben‹« (T 745) Geld. Während Schnitzler hier die dokumentarische Schreibweise und Tatsachenpoetik der neuen Sachlichkeit karikiert und zur Einfallslosigkeit einer Trivialautorin verfremdet,111 hat er aber mit anderen Ausdrucksformen seiner Chronik durchaus affirmativen Anteil am neusachlichen Schreiben, wie im Folgenden noch knapp ausgeführt werden soll. Bereits Michaela L. Perlmann hat darauf hingewiesen, dass Schnitzlers Chronik »als distanzierter, sich alle phantasievollen Ausschmückungen verbietende Form des Desillusionsromans […] sich in Einklang mit den Stiltendenzen der Neuen Sachlichkeit 108 Vgl. Helmut Lethen  : Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994. Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzepts. Hg. von Moritz Baßler und Ewout van der Knaap. Würzburg 2004. Johannes G. Pankau  : Einführung in die Literatur der neuen Sachlichkeit. Darmstadt 2010. Primus-Heinz Kucher  : »Neusachliche« Romananfänge. Tatsachenpoetik, kalte Persona und dokumentarischer Stil in österreichischen Romanen von Hugo Bettauer bis Lili Grün, in  : Textanfänge. Konzepte und Analysen aus linguistischer, literaturwissenschaftlicher und didaktischer Perspektive. Hg. von Ulrike Krieg-Holz und Christian Schütte. Berlin 2019, S. 213–230. 109 Fliedl  : Verspätungen (Anm. 91). 110 Vgl. Matthias Uecker  : Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 2007. Sabina Becker  : Neue Sachlichkeit. Bd. 1  : Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920–1933). Köln, Weimar, Wien 2000, S. 196–205. 111 Zur Tatsachenpoetik vgl. etwa Walter Fähnders  : »Linkskunst« oder »reaktionäre Angelegenheit«  ? Zur Tatsachenpoetik der Neuen Sachlichkeit, in  : Literatur und Kultur im Österreich der zwanziger Jahre. Vorschläge zu einem transdisziplinären Epochenprofil. Hg. von Primus-Heinz Kucher. Bielefeld 2007, S. 83– 102.

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sehen« lässt.112 Wenn im Folgenden diese These aufgegriffen wird, geschieht das nicht, um den späten Schnitzler schlankweg zu einem neusachlichen Autor und sein Schreiben der 1920er Jahre zu einem wegweisenden »Avantgardismus der Greise« zu erklären. Vielmehr geht es darum, auf die Verschränkung weit entfernt scheinender Schreiboptionen aufmerksam zu machen, diese »Interdiskursivität als Krisenbewußtsein«113 zu betrachten und anzuknüpfen an Beiträge, die die Janusköpfigkeit und Interferenzen der Moderne zwischen Deutschland und Österreich, künstlerischer Avantgarde, neuer Sachlichkeit und habsburgischem Mythos herausarbeiten.114 Die neue Sachlichkeit ist von den Zeitgenossen immer wieder auch als ein transformierter antiexpressionistischer, neuer Naturalismus gefeiert worden  ; Alfred Kerr etwa rubrizierte die neue Sachlichkeit als »eine[.] Art Neonaturalismus«.115 Gleichermaßen wurde Schnitzlers zweiter Roman rückbezogen auf den Naturalismus, dies zum einen, weil man um den Sohn (1892) als intratextuelle Vorlage wusste, die in einer naturalistischen Zeitschrift erstveröffentlicht worden war. Aber die Kritiker meinten zum anderen auch, darüber hinaus im Roman thematische und formale Rückbezüge zum Naturalismus zu erkennen. Raoul Auernheimer begründete seine literaturgeschichtliche Einschätzung nicht nur über das Sujet des kleinbürgerlichen Elends, sondern mehr noch stilistisch mit der kargen Schmucklosigkeit, weil Schnitzler »ganz kunstlos, eindimensional, wie in einem Polizeibericht oder in einer ärztlichen Anamnese Lebenstatsachen aneinanderreihen will  ; und in diesem Sinne ist der Roman ein bewußter Nachzügler der naturalistischen Schule«.116 Nüchternheit und Neutralität, als antagonistische Reflexe auf das steile »O Mensch« -Pathos des Expressionismus, gelten weiterhin als zentrale Stilelemente der neuen Sachlichkeit. Auch diese sind immer wieder als wichtige Merkmale von Schnitzlers Chronik gesehen worden, die einfach, knapp und lakonisch Erlebnis für Erlebnis Thereses hintereinander kommentarlos mitteilt. Schnitzlers Erzähler mischt sich nicht ein, sondern verschwindet hinter dem Blickwinkel seiner Protagonistin, deren Sicht auf die Welt das Erzählen limitiert. Der Erzähler hat sich »zum Chronisten entpersönlicht, der in der 112 Michaela L. Perlmann  : Arthur Schnitzler. Stuttgart, Weimar 1987, S. 179 f. Vgl. auch Heimerl  : Arthur Schnitzler (Anm.  91), S.  71–80. Evelyne Polt-Heinzl  : Österreichische Literatur zwischen den Kriegen. Plädoyer für eine Kanonrevision. Wien 2012, S. 8 f. 113 Vgl. die Formulierung bei Gilbert Merlio, Gérard Raulet (Hg.)  : Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität als Krisenbewußtsein. Frankfurt a. M. 2005. 114 Vgl. Julia Bertschik  : Janusköpfige Moderne. »Der Querschnitt« zwischen künstlerischer Avantgarde, Neuer Sachlichkeit und ›Habsburgischem Mythos‹, in  : Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde (Anm. 92), S. 171–185. 115 Alfred Kerr  : Spanische Rede vom deutschen Drama, in  : Die neue Rundschau 40 (1929), S. 793–806, hier S. 795. 116 Auernheimer  : Gouvernantenroman (Anm. 99), S. 2.

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einfachsten Form sachlichen Berichts die Ereignisse mitteilt«.117 Stefan Zweig rühmte in einem Brief an Schnitzler Thereses Modernität und betonte, diese Chronik »romantisiert nicht, sondern sie bleibt grausam nüchtern und erschreckend wahr«.118 Fritz Rosen­feld pries die »fast feierliche[.] Sachlichkeit« dieser Chronik, die ihr inhaltliches Pendant in Thereses nüchternem Lebensalltag habe  : »Sie trägt keine Mater-DolorosaKrone, diese Therese  ; ohne Pathos läuft ihr Leben ab«.119 Auch Viktor Zuckerkandl wählte für sein Schnitzlerlob Begriffe aus dem Repertoire der neuen Sachlichkeit, er feierte die »lapidare Daseinskonstatierung«, die »Meisterschaft der Darstellung, sie verlangt, Sachlichkeit, Charakter, Wahrheitsliebe  : dieser Dichter besitzt sie […] als neu­traler Berichterstatter, der nichts dazutut, nichts unterdrückt […], der aber bei äußerster Knappheit der Mittel noch Gestalten scharf zu umreißen« weiß.120 Der Romanschluss wechselt noch einmal das Erzählverfahren in besonderer Weise. Nachdem der überwiegende Teil aus der Perspektive Thereses figuralisiert erzählt und der tätliche Angriff auf die Mutter aus der Sicht des Sohnes wiedergegeben worden waren, präsentieren die letzten Seiten der Chronik einen neutralen Erzähler, der das Geschehen extern fokalisiert und nur noch Mutmaßungen über Thereses Innenleben anstellen kann, wenn es beispielsweise heißt, »sie erkannte wohl auch kaum die Leute, die allmählich in das Zimmer traten« (T 878). Diese Passagen bedienen sich eines bewusst kalten und distanzierten Blicks und sammeln die Ereignisse nacheinander zusammen »wie in einem Polizeibericht« (Auernheimer). Ohne Mitleid, distanziert dokumentarisch und medizinisch exakt werden Thereses letzte Stunden beschrieben. Therese ist nach dem Angriff des Sohnes nicht vernehmungsfähig  : Man stand daher vorläufig von einer Konfrontation ab, der Tatbestand war ja leicht festgestellt, der Arzt konnte auch konstatieren, daß anscheinend keine lebensgefährliche Verletzung vorlag. Die Wohnung wurde amtlich verschlossen und Therese noch in der gleichen Nacht ins Spital geschafft. Dort wurde festgestellt, daß ein Kehlkopfknorpel gebrochen war, was die Vorhersage ungünstiger gestaltete, auch für den Sohn. Aussagen der Hausbewohner ergaben, daß die Lehrerin Therese Fabiani die Schwester des Abgeordneten Faber sei, und so wurde dieser noch im Laufe der Nacht von dem Verbrechen verständigt, das an seiner Schwester begangen worden war. (T 878 f.)

117 Zuckerkandl  : Therese (Anm. 84), S. 334. 118 Brief Zweigs an Schnitzler vom 15. Mai 1928 (Anm. 104), S. 439. 119 Rosenfeld  : Chronik eines Frauenlebens (Anm. 100), S. 13. 120 Zuckerkandl  : Arthur Schnitzlers »Therese« (Anm. 84), S. 1.

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Der Text kombiniert kriminalistisches und medizinisches Fachvokabular (»Tatbestand«, »Kehlkopfknorpel«) und präsentiert einen genauen Blick auf die polizeilichen Tätigkeiten vom Versiegeln der Wohnung bis zur Zeugenbefragung der Nachbarn. Hier kann man sowohl die neusachliche Präzisionsästhetik als auch deren Forderungen nach Nüchternheit, Klarheit und Einfachheit wirksam werden sehen.121 Dass Thereses Verletzung schwerwiegend ist, wird nicht direkt vorausblickend mitgeteilt, sondern der Bericht rapportiert peu à peu das sich verändernde Wissen um Thereses Gesundheitszustand. Während der Arzt am Tatort noch davon ausgeht, dass »keine lebensgefährliche Verletzung« vorliegt, wird in der Nacht im Spital der Kehlkopfknorpelbruch diagnostiziert und damit das Sterben Thereses wahrscheinlich. Auch warum Therese in der Nacht Fieber bekommt, wird nicht auktorial gewusst und mitgeteilt, sondern sehr genau wird auch das ärztliche Wissen hier als eine bloße Hypothese ausgestellt, wenn es heißt  : »Es hatte sich erhöhte Temperatur eingestellt, was die Ärzte nicht so sehr auf die Verletzung als auf den Nervenschock zurückführen zu müssen glaubten« (T 879). Diese neutrale Außensicht bewahrt sich das Erzählen auch bei der komprimierten Zusammenfassung der Gerichtsverhandlung gegen den Sohn, dessen Gemütslage gar nicht mehr zur Debatte steht. Es werden lediglich die Argumente der Pflichtverteidigung und des »Gerichtshof[s]« (T 881) paraphrasiert und das »Urteil auf zwölf Jahre schweren Kerker« (T 881) berichtend mitgeteilt. Das Erzählen beschleunigt sich in diesen letzten zwei Seiten rasant und fasst mehrere Wochen protokollartig zusammen, um mit einem letzten Blick auf Thereses Grab zu schließen. Auch hier wieder gibt es lediglich eine dokumentarische Momentaufnahme ohne große erzählerische Erläuterung und Deutung  : Therese Fabiani war zu dem Zeitpunkt, als die Verhandlung stattfand, längst begraben. Neben einem bescheidenen, dürren, immergrünen Kranz mit der Aufschrift  : »Meiner unglücklichen Schwester« lag ein blühender Frühlingsstrauß, noch unverwelkt, auf dem Grab  ; die schönen Blumen waren mit erheblicher Verspätung aus Holland angelangt. (T 881)

Das ist der letzte Absatz des Romans, der analog wie der erste mit einer so unbestimmten wie auffälligen Zeitangabe beginnt. »Zu der Zeit, da« (T 625) der Roman einsetzt, wie »zu dem Zeitpunkt, als« (T 881) er schließt, vermag der Leser das Geschehen nicht exakt zu datieren und wird mit einem quasi photographischen Schlussbild aus der erzählten Welt entlassen. Das gespannte Verhältnis zum Bruder zeigt sich nicht nur im billigen und mickrigen Grabkranz, sondern mehr noch in dessen Aufschrift, die nicht der »geliebten«, sondern lediglich der »unglücklichen Schwester« gilt. Thilda Verkades (geborene Wohlschein) Blumenstrauß aus Holland kommt zu spät und diese »erhebliche[] 121 Vgl. hierzu Becker  : Neue Sachlichkeit (Anm. 110), Bd. 1, S. 129–138.

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Verspätung« illustriert ein letztes Mal die geringe Aufmerksamkeit, die man dieser Wiener Gouvernante zeit ihres Lebens und Sterbens zuteilwerden ließ. Arthur Schnitzlers letzter Roman rückt das Durchschnittsleben einer von der Gesellschaft Ausgestoßenen in den Mittelpunkt seines Interesses. Therese Fabiani entstammt zwar noch der Belle Époque, aber ihr tristes Leben ähnelt mehr den Daseinskämpfen der 1920er Jahre als dem dolce far niente der Jahrhundertwende oder zeigt vielmehr, dass die Belle Époque nur für einen ganz bestimmten und recht kleinen Teil der Gesellschaft schön und sorgenlos gewesen ist. Stefan Zweig hat 1922 anlässlich von Schnitzlers 60. Geburtstag geklagt, dass dem Autor mit dem Ende der Habsburger Monarchie sein angestammtes Figuren­ arsenal abhandengekommen sei  : »Das ›süße Mädel‹ ist verhurt, die Anatols machen Börsengeschäfte, die Aristokraten sind geflüchtet, die Offiziere Kommis und Agenten geworden – die Leichtigkeit der Konversation ist vergröbert, die Erotik verpöbelt, die Stadt selbst proletarisiert«.122 Genau diese Verwandlung bildet Schnitzlers Chronik eines Frauenlebens sechs Jahre später ab.

122 Stefan Zweig  : Arthur Schnitzler zu seinem sechzigsten Geburtstag (15. Mai 1922), in  : Die neue Rundschau 33 (1922), S. 510–513, hier S. 511.

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VIII. Prinzen im Arrest und Exil Leopold von Andrians ästhetischer Aristokratismus und politischer Legitimismus gegen den ›Anschluss‹ in Österreich im Prisma der Idee (1937) Die Literaturkritik der Jahrhundertwende imaginierte die katholischen Dichter des Ästhetizismus gern als Prinzen ohne Herrschaftserwartung. So erschien dem Philosophen Theodor Lessing etwa der frühe Stefan George als ein »junger, melancholischer Prinz im Exil, herrisch und verhärmt«, er beschrieb ihn als einen »steilen, priesterlich schreitenden Jüngling«, der in München »selbst hinterm Maßkrug« »eine so würdige Haltung« bewahrte, »daß mein Hohn ihn den Weihestefan nannte«.1 Der Berliner Literaturkritiker Franz Servaes wiederum charakterisierte 1897 den österreichischen Dichter Leopold Ferdinand Freiherr von Andrian zu Werburg ebenfalls als Prinzen, allerdings nicht als einen herrischen und verhärmten, sondern als verträumten und weltfremden Aristokraten  : Noch deutlicher selbst als aus Hoffmannsthal [sic] spricht das melancholische, alte, leuch­ tende Blut sich verwandelnder Geschlechter aus Leopold von Andrian zu uns. Er hat bloß ein dünnes Büchlein veröffentlicht, den »Garten der Erkenntnis«, aber er brauchte nichts weiteres mehr zu schreiben – seine Stellung in der Literaturgeschichte bliebe ihm gesichert. Ich liebe diesen zarten, blassen Prinzen mit den zuckenden Lippen und den fragenden, wissenden Augen, so wie ich seltene Blumen liebe, von denen ich weiß, dass sie Letztlinge sind, und deren sterbende Farben und süß-kranken Duft ich mit wehmüthiger Andacht genieße. […] Der ganze Katholicismus steht dahinter mit all’ seinen Künsten der Seelenbeschwichtigung und Seelenbetäubung. Er ist Aesthetismus geworden, der nur noch matte, aber unendlich verfeinerte Eindrücke in sich aufnimmt, vom Wohlleben ermüdet.2

Servaes überführt den aristokratischen Hintergrund von Wiener Autoren wie Hofmannsthal und Andrian historisch in eine kulturelle Diagnose der Décadence. Die im Fall Hofmannsthal zwar eher frisch nobilitierte, aber im Fall Andrian ziemlich altadlige 1 Theodor Lessing  : Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen mit einem Vorwort von Hans Mayer. Gütersloh 1974, S. 305, 303 und 306. 2 Franz Servaes  : Jung Wien. Berliner Eindrücke, in  : Die Zeit vom 2. Januar 1897, S. 6 ff., hier S. 8.

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Abstammung unterstreicht den Fin de siècle-Dusel und das Spätzeitgefühl, »Letztling« in einer langen Kette der Generationen zu sein und gibt dem Bemühen um Exklusivität einen konkreten sozialen Ort, wobei Andrians Herkunft allerdings eine bemerkens­ wert aristokratisch-bürgerliche Mélange »sich verwandelnder Geschlechter« darstellt, entstammte er doch väterlicherseits der österreichisch freiherrlichen Linie eines ursprünglich lombardischen Adelsgeschlechts des 14. Jahrhunderts, während seine Mutter Tochter des bürgerlichen Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer, dem jüdischen Intimfeind Richard Wagners, war.3 Für Andrian war zeitlebens die väterlich österreichisch-katholische Linie die entscheidende, und auch den Geburtsort Berlin versuchte der Erzösterreicher, noch 1949 biographisch als bloß zufällig zu retuschieren. Dem Georgeaner Eugen Hörmann, der Andrian um die genauen Geburtsdaten für eine Veröffentlichung bittet, bescheidet Andrian  : Berlin ist sozusagen mein zufälliger Geburtsort – meine Mutter […] hielt sich grade bei i­ hrer Mutter dort auf. Mein bürgerlicher Geburtsort, – der einzige nach damaliger Auffassung richtige, war Wien, wohin mein Vater und ich ipso facto zuständig waren. Es ist wohl richtiger Wien beizubehalten.4

Als nom de plume wählte der Dichter zwar schlicht »Leopold Andrian« und erbat sich von Stefan George beim Abdruck seiner Texte »keinen Titel und kein ›von‹ oder ›zu‹«  ;5 aber dies ist kaum als Verbürgerlichungsgeste zu begreifen, sondern eher eine nonchalante Verknappung einer geburtsadligen Tatsache, von der ohnehin jeder wusste. Servaes beschreibt in seinen Berliner Eindrücken des Jungen Wien von außen den aristokratischen Habitus eines Schriftstellers, aber sein Autorenporträt des jungen Andrian gleitet auch unmerklich über in eine Würdigung von dessen literarischem Œuvre, die Geschichte des adoleszenten traurigen Fürstensohns Erwin in seinem Erfolgsbuch Der Garten der Erkenntnis (1895). Die Verbildlichung des Autors und seiner literarischen Figur als Prinz verbindet die Vorstellung von einem jugendlichen Lebensalter mit einer traditionsgesättigten Haltung in einer vornehmen »Welt der Bevorzugten«, dies eine Formulierung, mit der der Hauslehrer Leopold von Andrians, der nachmalig berühmte Germanist Oskar Walzel, das Milieu seines Schützlings, 3 Zu Andrians Bemühungen, seine Herkunft väterlicherseits altadliger zu »frisieren«, als sie war, vgl. Günter Riederer  : Der letzte Österreicher. Leopold von Andrian und sein Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Marbach 2011. 4 Abschrift eines Briefs von Leopold von Andrian an Eugen Hörmann vom 21. September 1949, zitiert nach Riederer  : Der letzte Österreicher (Anm. 3), S. 63. 5 Brief Andrians an Stefan George vom 28. August 1896, in  : Leopold Andrian und die Blätter für die Kunst. Hg. und eingeleitet von Walter H. Perl. Hamburg 1960, S. 41.

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dem er als Hofmeister an die Seite gestellt war, beschrieb.6 Einem Prinzen als potentiellen Herrschaftsnachfolger im Wartestand kommt keine reale Macht zu, seine politische Bedeutung ist wesentlich hypothetisch. Diese poetischen Dichterprinzen der Jahrhundertwende verkörpern ein erdentrücktes Elitekonzept. Ein solcher ätherischer Aristokratismus bestimmt Servaes’ Fremdbild und Andrians Selbstentwurf  ; er prägt Andrians Autorinszenierung und Werkpolitik und ist integrales Thema seiner frühen narrativen und lyrischen Texte. 1897 erschien unautorisiert in Stefan Georges Blättern für die Kunst ein Gedicht Andrians, das einen traurigen Prinzen ins Zentrum rückte.7 Der unautorisierte Abdruck empörte Andrian derart, dass er Carl August Klein (als Redakteur der Blätter für die Kunst) über George ausrichten ließ, »daß ich ihn gerichtlich belangen werde, falls er ein anderes altes Gedicht von mir veröffentlicht«.8 Andrian ärgerte nicht nur die eigenmächtige Anpassung an die georgeanische Kleinschreibung, sondern vor allem, dass die Gedichte 1897 nicht als »Alte Verse« aus dem Jahr 1894 ausgezeichnet waren. Der 1897 erst 22-jährige Dichter bemühte sich, sich so im literarischen Feld zu positio­ nieren und zu behaupten und sein Werk in Phasen zu strukturieren, in denen das Jahr 1895 (als Erscheinungsdatum des Garten der Erkenntnis) die Zeitenwende markierte. Dieses Rollengedicht lässt nun einen Erbprinzen ohne Herrschaftshoffnung zu Wort kommen  : Sonett

Ich bin ein königskind, in meinen seidnen haaren Weht duft von chrysam, das ich nie empfangen. Es halten meine bösen diener mich gefangen Und auch mein reiz wich müd den langen jahren.

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Nicht er allein · ich habe ihre macht erfahren, Im leben das sie mich zu leben zwangen Ist alle meine hoheit hingegangen, Ich ward so niedrig wie sie niedrig waren.

6 Vgl. Oskar Walzel  : Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlass hg. von Carl Enders. Berlin 1956, S. 49. 7 Brief Andrians an Stefan George vom 21. Juli 1898, in  : Leopold Andrian und die Blätter für die Kunst (Anm. 5), S. 44 f., hier S. 45. 8 Vgl. Brief Andrians an Stefan George vom 28. August 1896, in  : Leopold Andrian und die Blätter für die Kunst (Anm. 5), S. 40 f.

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Sie haben mir den purpur abgenommen. 10 Starr blickt mein aug nach totem glück ins ferne. Wo sind mir meine goldnen locken hingekommen  ? Ich kann nicht schlafen · quälend sind die sterne. Oft nahen tückisch mir im schlaf die wächter – Ich kann nicht schlafen und ich schliefe gerne  !9

Dieses Sonett mit seinem generischen Titel zeigt einen inhaftierten Thronprätendenten, eine Situation, die Calderóns Barockdrama La vida es sueño alludiert. Calderóns Theaterstück präsentierte einen von seinem Vater seit seiner Kindheit eingekerkerten Kronprinzen, der nicht um seine Herkunft weiß, für einen Tag auf Probe traumgleich herrschen darf, Exzesse einer entfesselten Diktatur durchrast und zurück in den Kerker gebracht, geläutert und Gott ergeben das reale Herrscherleben als nichtige Scheinwelt interpretiert. Während Andrians Jungendfreund Hofmannsthal in den 1920er Jahren in seinen Turm-Dramen den Stoff nach intensiver Carl-Schmitt-Lektüre aufnimmt und transformiert, um Legalität und Legitimität von Herrschaftsformen und Herrschaftswechseln in entgötterten Zeiten durchzuspielen,10 kappt Andrian in seinem Jugendgedicht aus den frühen 1890er Jahren Details der äußeren politischen Umstände und konzentriert sich ganz auf die psychische Introspektion dieses verhinderten Herrschers. Grammatisch wird dessen narzisstischer Solipsismus im überreichen Einsatz des Personalpronomens in der ersten Person Singular sichtbar  : Jeder Vers enthält mindestens ein »ich« oder flektiert ein »mich« oder »mir« oder setzt das Possessivpronomen »mein« gewichtig ein. In den Versen 1 und 3 tummeln sich ganz nah beieinander »ich« und »mein« und »mein« und »mich«  ; und in Vers 11 prallen sie sogar direkt auf einander  : »Wo sind mir meine   9 Leopold Andrian  : Sonett, in  : Blätter für die Kunst 4 (1897), S. 3. Die georgeanische Kleinschreibung und den Mittelpunkt im Erstabdruck der Blätter für die Kunst hat Andrian später wieder aufgehoben. In der romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts ist dieses Sonett ausschließlich mit weiblichen Kadenzen versehen. Die Reimverschränkung orientiert sich am petrarkistischen Sonett-Typ. Sehr eigen ist das Metrum, das sich nicht recht zwischen einer sechshebigen und einer fünfhebigen jambischen Tradition entscheiden kann. Der erste sechshebige Vers gleicht mit seiner Zäsur nach der dritten Hebung einem Alexandriner (»Ich bin ein königskind, / in meinen seidnen haaren«). Da passt auch das barock angetönte Metrum inhaltlich stimmig zum Sujet des Königskinds, das weltliche Herrschaft als Eitelkeit und Nichtigkeit erlebt. Aber diese Affinität zum zweigeteilten Alexandriner wird in den folgenden Versen nicht konsequent durchgeführt. Die Verse 1, 3, 5 und 11 enthalten sechs Hebungen, die übrigen fünf Hebungen. Die fünfhebigen Verse liebäugeln mit der romanischen Tradition des Endecasillabo. Bis auf das Enjambement von Vers 1 zu Vers 2 werden die Versgrenzen auch syntaktisch beachtet. Der Satzschluss fällt immer mit einem Versschluss zusammen, so in Vers 2, 4, 9, 10, 11, 12 und 14. 10 Vgl. Marcus Twellmann  : Das Drama der Souveränität. Hugo von Hofmannsthal und Carl Schmitt. München 2004.

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goldnen Locken hingekommen  ?« Grammatisch und semantisch hätte »Wo sind die goldnen Locken hingekommen  ?« vollkommen genügt. Metrisch wäre dies sogar erwartbar gewesen, weil dann das erste Terzett einheitlich fünfhebig geblieben wäre. Aber die Selbstbezüglichkeit wird durch den Einschub des Reflexivpronomens »mir« noch eigens grammatisch, metrisch und alliterierend hervorgehoben. Das scheint metrische Methode zu haben. Überall da, wo sich in diesem Gedicht in einem Vers sechs Hebungen finden (Vers 1, 3, 5 und 11), könnte leicht durch Reduktion der Personal- oder Possessivpronomina die metrische Struktur vereinheitlicht und geglättet werden zu durchgehenden jambischen Fünfhebern  : »Es halten meine bösen Diener mich gefangen« (V.  3) hätte etwa ohne Sinnentstellung reduziert werden können zu  : »Es halten böse Diener mich gefangen.« Aber das war nicht gewollt. Im Gegenteil  : Es scheint so, als ob die metrischen Unebenheiten nicht nur in Kauf genommen, sondern geradezu strategisch genutzt werden, um auf die egozentrische Haltung des Prinzen hinzuweisen. Es kommt zu einer regelrechten personal- und possessivpronominalen Inflation  : Zwei Mal fällt »mich« und drei Mal »mir«, sechs Mal wird »mein« und sieben Mal »ich« gesetzt in 14 Versen. Man erfährt nicht, warum dieser Prinz gefangen gehalten wird, und auch der Vater-­ Sohn-Konflikt ist nicht greifbar, lediglich »böse diener« (V.  3) scheinen für das Gefängnis verantwortlich. Allerdings weiß dieses anonym bleibende Sprecher-Ich, das sich permanent selbstbespiegelnd umkreist, um seine geblütsadlige Herkunft und stellt sich eingangs assonanzenverliebt als »Königskind« vor. Zwei Bilder umschreiben die Entmachtung des »Königskindes«  : Zum einen ist ihm der »Purpur« (V.  9), metonymische Verkürzung für das Insigne des purpurfarbenen Herrschermantels, in einem symbolischen Akt »abgenommen« worden. Zum andern klagt der Prinz  : »In meinen seidnen haaren / Weht duft von chrysam, das ich nie empfangen.« (V.  1/2) Das geweihte Öl Chrisam fand bei der christlichen Herrschersalbung seinen Einsatz, und auf diese Krönungszeremonie spielt das Gedicht an. Die Herrschersalbung mit Chrisam ist ein religiöses Ritual der Übertragung und Legitimation politischer Macht. Erst nach der Salbung galt der neue Herrscher als Christus Domini, der seine Herrschaft direkt von Gott erhalten hat. Leopold von Andrians Sprecher-Ich hat das Chrisam »nie empfangen«, ist also nie gesalbt und gekrönt worden, und doch, so sagt es, »weht der duft von chrysam« in seinen »seidnen haaren«. Mit dieser paradoxen Formulierung behauptet dieser namenlose Prinz seinen legitimen Anspruch auf die Macht. Er ist von Gottes Gnaden zum Herrschen bestimmt, menschliche Intrigen verhinderten die Ausübung der Macht. Aber in seinem Selbstbild ist er Herrscher. Die in der Realität nicht stattgefundene Salbung wird olfaktorisch imaginiert und macht so im Selbstverständnis aus dem eingekerkerten Königskind einen rechtmäßigen Regenten. Dieser der Welt abhanden gekommene Prinz ist in der Gefangenschaft gealtert (von »langen Jahren« [V. 4] der Isolation ist die Rede), sein »Reiz«, im Sinne von Liebreiz,

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»wich« (V. 4) der Zeit, und er ist matt und »müd« (V. 4) geworden. Der Begriff des Reizes ist hier durchaus doppeldeutig eingesetzt, evoziert vielleicht auch die Assoziation von Gereiztheit und Entrüstung. Auch so verstanden macht der Vers einen Sinn. Die Empörung über die Haft, gefasst im Begriff des »Reizes« (V. 4), weicht einer Lethargie, die mit einer bemerkenswerten Selbstentfremdung verbunden ist. Die frühere Attrakti­ vität wird in eigentümlicher Weise vom gegenwärtigen Selbstverständnis abgespalten. Vers 5 formuliert die Selbstentfremdung  : »Nicht er [i. e. der Reiz] allein, ich habe ihre macht erfahren«. »Ihre macht« (V. 5) lässt sich ambivalent sowohl auf die Macht der Jahre als auch auf die Macht der Diener beziehen. Man könnte also paraphrasieren, »nicht meine Schönheit allein, sondern ich selbst habe die Macht der Diener und der Jahre zu spüren bekommen«. Hier wird eine Selbstbeobachtung sichtbar, in der das Ich in irritierender Weise zugleich Subjekt und Objekt der Analyse ist. Hofmannsthal hat in anderem Zusammenhang über die »unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung« der Wiener Ästhetizisten gesprochen  : »Wir schauen unserem Leben zu«.11 Das Monotone dieses von der Außenwelt isolierten Daseins mit seinem zermürbenden, immer gleichen Alltag betont Andrian durch variierende Wortwiederholungen,12 die sich im Schlussterzett virtuos steigern um den Begriff des Schlaf(en)s, der in jedem Vers erscheint. Die das Ich quälenden »Sterne« (V. 12) alludieren noch einmal Calderóns Drama La vida es sueño, da dort der Vater seinen Sohn aufgrund eines Horoskops, das die Tyrannenherrschaft des Sohns voraussagte, einkerkerte. Anaphorisch verbunden betonen die parallelen Verseingänge zu Beginn (V. 12) und zum Ende (V. 14) des Terzetts die Schlafsehnsucht und Lebensmüdigkeit des narzisstischen Prinzen. So steht am Ende dieses frühen Gedichts von Andrian die Erfahrung von Selbstentfremdung, Erschöpfung und Ratlosigkeit eines vereinsamten aristokratischen Ich, von der Welt abgeschottet und dem Leben abhan­ den­gekommen. Dieses Jugendgedicht wurde im vorliegenden Andrian-Kapitel an den Anfang gestellt, um zu zeigen, dass der Aristokratismus beim frühen Andrian ein ästhetisches Konzept darstellt, das nicht bloß vom Dandyismus französischen Typs (Baudelaire),13 sondern vor allem auch von einer über Grillparzer nach Österreich vermittelten 11 Hugo von Hofmannsthal  : Gabriele d’Annunzio (1893), in  : Ders.: Reden und Aufsätze 1. Hg. von HansGeorg Dewitz, Olivia Varwig, Mathias Mayer, Ursula Renner und Johannes Barth. Frankfurt a. M. 2015 (Sämtliche Werke, Bd. 32), S. 99–107, hier S. 99. 12 Vgl. die Geminatio in V. 8 (»ich ward so niedrig wie sie niedrig waren«), die Figura etymologica in V. 10 (»im Leben das sie mich zu leben zwangen«) und das Polyptoton in V. 14 (»Ich kann nicht schlafen und ich schliefe gerne  !«). 13 Vgl. hierzu Jochen Strobel  : Von Avantgarde und Aristokratie, in  : Literatur als Lust. Begegnungen zwischen Poesie und Wissenschaft. Festschrift für Thomas Anz zum 60. Geburtstag. Hg. von Lutz Hagestedt. München 2008, S. 301–307.

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katho­lisch-spanischen Calderón-Tradition geprägt ist, die Andrian an Konzepte des Wiener Ästhetizismus anzuschmiegen weiß, indem hier ein egotistischer, müder und lethargi­scher Prinz mit empfindlichen Nerven seine Lebensangst und seinen ennui in einer Stimmungskunst des vereinsamten »Nicht-ganz-von-dieser-Welt-Empfindens« ­lyrisiert. Sein Habitus ist nicht schneidig, sondern eher ein dolce stil novo. Dieser frühe äthe­rische Aristokratismus Andrians versteht sich antibürgerlich nicht so sehr in einem konkret politisch feudalistischen Sinn, sondern vielmehr in einer elitären Geisteshaltung gegenüber den Spießbürgern und (mit Worten Nietzsches) »verhausschweinten« Kapitalisten. Er setzt vor allem auf ästhetische Distinktion, liebäugelt erst mit der hochgemuten Ablehnung des literarischen Marktes im George-Kreis, verfährt dann aber in der konkreten Publikationspolitik doch anders und entscheidet sich nicht für den exklusiven Privatdruck, sondern wählt den populären S. Fischer Verlag in Berlin für die Erstveröffentlichung des Garten der Erkenntnis. Andrians Wiener Reserve gegenüber dem (rheinhessischen Dialekt sprechenden) Ästheten aus Bingen drückt sich plastisch in einem Brief an Hofmannsthal aus, in dem Andrian von einem Aufenthalt in München berichtet  : »Dort sah ich auch Stefan George, den ich wie einen alternden Hermaphroditen aussehend finde und wieder wie einen Schauspieler. Dann spricht er ein unsympathisches Deutsch«.14 Stefan George wiederum beauftragte Karl Wolfskehl, den Garten der Erkenntnis komplett abzuschreiben, um den Text in einer kalligraphisch angemessenen Weise und nicht in der für ihn degoutanten Ausgabe aus dem S. Fischer Verlag zu lesen. Gemeinsam mit Albert Verwey übertrug George den Garten der Erkenntnis ins Niederländische. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich aus diesem frühen ästhetizistisch-ätherischen Aristokratismus bei Andrian in den 1930er Jahren ein gesellschaftliches Ordnungsmodell entwickelt, das sich politisch konkretisiert, aber gleichzeitig an Textformate und Denkfiguren des poetischen Aristokratismus anknüpft. Über das Frühwerk seines Freundes urteilte Hofmannsthal rückblickend, dass das »Hauptproblem dieser sehr merkwürdigen Epoche« darin lag, »daß Poldy vollständig […] das Reale übersah«.15 Die Konfrontation mit der Realität des Jusstudiums und dem Beginn einer diplomatischen Karriere führte bei »Poldy« recht bald erst einmal zum literarischen 14 Brief Andrians an Hugo von Hofmannsthal vom 15. Februar 1894, in  : Hugo von Hofmannsthal – Leopold von Andrian  : Briefwechsel. Hg. von Walter H. Perl. Frankfurt a. M. 1968, S. 21. 15 Hugo von Hofmannsthal  : [Zeugnisse zum »Märchen der 672. Nacht« ], in  : Ders.: Erzählungen 1. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1975 (Sämtliche Werke, Bd. 38), S. 212. Zur Freundschaft zwischen Hofmannsthal und Andrian vgl. H. R. Klieneberger  : Hofmannsthal und Leopold Andrian, in  : Modern Language Review 80 (1985), S. 619–636. Jochen Strobel  : »Dein Leben … so unbegreiflich schwer…«. Zur Narrativität der Korrespondenz Hugo von Hofmannsthals und Leopold von Andrians zwischen ›Stimmung‹ und Biografie, in  : Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur 70 (2009), S. 19–41.

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Verstummen. 1911 wurde er (nach Stationen in Athen, Rio de Janeiro, St. Petersburg, Kiew und Bukarest) Generalkonsul in Warschau und wechselte 1915 nach Krakau, wo er als Delegierter des Ministeriums des Äußeren die Interessen Österreichs im Ersten Weltkrieg beim deutschen Generalgouvernement vertrat.16 Von Kaiser Karl geschätzt nahm Andrian teil an den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Dem Haus Habsburg blieb er über das Kriegsende hinaus auch persönlich verbunden, fungierte er doch als Berater von Otto von Habsburg. 1918 wurde Andrian für wenige Monate Generalintendant des Burgtheaters, legte aber nach den Novemberunruhen sein Rücktrittsgesuch vor und zog sich aus dem Berufs- ins Privatleben zurück.17 Als Legitimist ging er von der prinzipiellen Unabsetzbarkeit der Habsburgerdynastie aus und weigerte sich, die erste österreichische Republik anzuerkennen, da Karl I. 1918 zwar auf die Regierungsbeteiligung, nicht aber auf die Krone verzichtet habe. Das reale Ende der österreichischen Monarchie verstörte Andrian massiv, und er reagierte darauf mit einem bemerkenswerten Akt  : Andrian blieb zwar in der Republik Österreich wohnen, wechselte aber die Staatsangehörigkeit und wurde 1920 Liechtensteiner Staatsbürger, um so (zwar nicht geographisch, aber) weltanschaulich in die letzte verbliebene Monarchie zu exilieren, die von einem Herrscherhaus regiert wurde, das eng mit Habsburg verflochten war. Nur kurz wohnte Andrian in Liechtenstein und kehrte nach Reisen durch die Schweiz und Deutschland 1919 in seine Villa nach Altaussee zurück. Privatier seit seinem 43. Lebensjahr und politisch zutiefst enttäuscht über den Untergang seiner monarchischen Welt von Gestern, wurde für Andrian in den 1920er Jahren der Katholizismus zunehmend wichtiger als Ordnungsmacht. Andrian bemühte sich zwar auch noch einmal, an seinen belletristischen Erstlingserfolg anzuknüpfen, arbeitete an einer Fortsetzung des Garten der Erkenntnis und gab diesem Projekt den Arbeitstitel Gabriels Lauf zum Ideal. Abgeschlossen und veröffentlicht wurde diese Wiederaufnahme des fiktionalen Debuts aber nicht. Stattdessen wechselte Andrian zum faktualen Schrifttum  ; er wurde zum Weltanschauungsliteraten und publizierte 1930 die philosophisch-religiöse Bekenntnisschrift Die Ständeordnung des Alls, die sich im Untertitel als Rationales Weltbild eines katholischen Dichters vorstellt.18 Hermann Bahr rezensierte den 16 Zu Andrian als Diplomat im Ersten Weltkrieg vgl. Ursula Prutsch  : Die Polen- und Ruthenenpolitik der k. u. k. Monarchie 1911–1918 aus der Sicht Leopold von Andrians, in  : Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreich-ungarischen Monarchie. Hg. von Wolfgang Müller-Funk, Peter Plener und Clemens Ruthner. Tübingen, Basel 2002, S. 271–290. Zu weiteren biographischen Details vgl. die ältere Studie von Horst Schumacher  : Leopold Andrian. Werk und Weltbild eines österreichischen Dichters. Wien 1967. 17 Vgl. Leopold Andrian  : Meine Tätigkeit als Generalintendant der Wiener Hoftheater, in  : Neue Freie Presse vom 28. Oktober 1928, S. 28 f., 4. November 1928, S. 33 f. und 8. November 1928, S. 12 f. 18 Leopold Andrian  : Die Ständeordnung des Alls. Rationales Weltbild eines katholischen Dichters. München 1930.

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Text und dokumentierte damit auch ein Interesse von Jungwiener Katholik zu Jungwiener Katholik.19 Diese erste kulturkritische Abhandlung Andrians bleibt politisch noch einigermaßen diffus jenseits der allgemeinen Vorstellung, dass es eine von Gott gewollte hierarchische Ordnung alles Seienden gebe und sich diese naturgemäß auch in politischen Ordnungen der Ungleichheit spiegele. Obwohl die »Ständeordnung« im Titel eine konkrete politische Situierung im intellektuellen Vorfeld des austrofaschistischen »Ständestaats Österreich« vermuten lässt, konzentriert sich die Schrift mehr auf ästhetische und philosophisch-religiöse als auf politische Fragen. Die Ständeordnung des Alls wollte in unübersichtlichen Zeiten ordnende moralisch-metaphysische Erklärungen liefern, popularisierte den Neuthomismus und zielte im Adressatenkreis aber über ein theologisches Publikum hinaus. Ein Widmungsexemplar der Ständeordnung des Alls findet sich auch in Stefan Georges Nachlass im Stefan-George-Archiv in Stuttgart, was dokumentiert, wie sehr sich Andrian auch noch mit seinen späten Texten an die Schriftstellerkollegen von ehedem richtete. Politisch sehr viel konkreter und auch folgenreicher (bis hin zur Beschlagnahmung und zum Verbot 1938 durch die Gestapo) war Andrians zweite kulturkritische Bestandsaufnahme, die 1937 erschien mit dem Titel Österreich im Prisma der Idee. Der Untertitel Katechismus der Führenden signalisiert den Anspruch, für eine gesellschaftliche Elite ein Handbuch der Unterweisung zu verfassen. Ober- und Untertitel verkoppeln in ihrer Begrifflichkeit nationale und religiöse Sphären, und diese Vermischung ist wesentlich für das gesamte Buch. Während Erwin, der Protagonist in Andrians Frühwerk Der Garten der Erkenntnis, vergeblich nach Sinn und Orientierung suchte, und der letzte Satz der Erzählung dies gewichtig petrifiziert (»So starb der Fürst, ohne erkannt zu haben.«20), ist jetzt an die Stelle der ratlosen Suche der Gestus des panoramatischen Bescheidwissens und hieratischen Reglements getreten. Gewidmet hat Andrian seine Schrift dem 1929 verstorbenen »Hugo von Hofmannsthal in unvergänglicher Freundschaft« und stellt sich so in eine Jungwiener Tradition.21 Für die Geschichtswissenschaft ist dieser Text von Belang als legitimistische Confessio eines Aristokraten in austrofaschistischen Zeiten gegen den ›Anschluss‹ Österreichs an Hitler-Deutschland, denn gleich in der 19 Hermann Bahr  : Tagebuch, in  : Neues Wiener Journal 38 (1930), S. 16 (Eintrag vom 10. November 1930, abgedruckt am 14.  Dezember 1930). Dass aber weder Hofmannsthal noch Beer-Hofmann etwas mit der Ständeordnung des Alls anfangen konnten, erläutert Hermann Dorowin  : Von der Décadence zum politischen Ordnungsdenken. Leopold von Andrians Spätschriften, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938). Hg. von Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher. Heidelberg 2019, S. 195–207, hier S. 201. 20 Leopold Andrian  : Der Garten der Erkenntnis. Mit einem Nachwort von Iris Paetzke. Zürich 1990, S. 58. 21 Leopold Andrian  : Österreich im Prisma der Idee. Katechismus der Führenden. Graz 1937, unpaginierter Vorsatz. Im Folgenden wird Österreich im Prisma der Idee im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.

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Vorrede macht Andrian unmissverständlich klar, dass er sich gegen einen möglichen ›Anschluss‹ Österreichs positioniert  : Den Barbarenkönigen, die aus den Säulen antiker Paläste Kalk für Nutzbauten brennen ließen, gliche ein deutscher Staatsmann, der, um äußerer Machtvermehrung willen, Österreich seines Eigendaseins, des politisch oder auch nur allein des kulturellen, berauben wollte, denn ein in allen Attributen der Selbständigkeit glänzendes Österreich ist für Deutschlands höhere Zwecke so unentbehrlich wie Deutschland für Österreich ist und wie beide für Europa sind. (14)

Für die Literaturgeschichte wiederum mag die Anknüpfung an Diskurse des Jungen Wien bemerkenswert erscheinen und vielleicht auch die eigenwillige Form dieses Textes, die seltsam zwischen Fiktionalität und Faktualität schimmert und ein selbstreflektiertes Traditionsverhalten offenbart. Die Forschung konzentrierte sich bisher vor allem auf die politische Positionierung Andrians gegen den ›Anschluss‹.22 Kaum berücksichtigt wurden bisher die literarische Form dieses Textes in der dialogessayistischen Tradition der Wiener Moderne und die eigenwillige Ausformung der Kultur-Zivilisations-Antithese, mit der Andrian eine Sonderstellung in der Kulturkritik des frühen 20. Jahrhunderts einnimmt. Auf Beides soll im Folgenden gattungsästhetisch und intellektuellengeschichtlich eingegangen werden. Die Ständeordnung des Alls war 1930, wie viele kulturkritische Texte des frühen 20.  Jahrhunderts, als Weltanschauungsliteratur konzipiert. Unter Weltanschauungsliteratur werden mit Horst Thomé dick- und hartleibige Texte verstanden, die den ­A nspruch erheben, die ›Weltanschauung‹ ihres Verfassers direkt und faktual argumen­ tativ darzustellen. Weltanschauungsliteratur verbindet eine »breite Darlegung wissen­ schaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen«.23 Die Weltanschauungsliteratur nutzt wissenschaftliche B ­ efunde 22 Grundlegend hierzu Dorowin  : Von der Décadence zum politischen Ordnungsdenken (Anm. 19). Vgl. auch Markus Mayr  : Leopold von Andrians »Österreich im Prisma der Idee«. Ein Beitrag zur Diskussion um die österreichische Identität, in  : Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung 8 (1989), S.  96–126. Hermann Dorowin  : Retter des Abendlandes. Kulturkritik im Vorfeld des europäischen Faschismus. Stuttgart 1991, S.  91–139. Jens Rieckmann  : Leopold von Andrian und der österreichische Gedanke, in  : Austrian Writers and the Anschluss. Understanding the Past – Overcoming the Past. Hg. von Donald G. Daviau. Riverside 1991, S. 1–8. William M. Johnston  : Der österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs. Wien 2010, S. 258–264. 23 Horst Thomé  : Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in  : Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 338.

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zur allgemeinen Lebenshilfe und beansprucht umfassende Sinnstiftungskompetenz. Sie liefert in unübersichtlichen Zeiten ordnende Welterklärungen und zielt im Adressatenkreis deutlich über ein kleines akademisches Fachpublikum hinaus. Die eigene Gegenwart erscheint in diesen Texten als entscheidende Krisen- und Schwellenzeit  ; und aus diesem Krisenbewusstsein heraus entwickelten sich über eine zivilisationskritische Diagnose oft eine utopische Kraft und spekulative Energie. Diese Texte begeben sich gelegentlich in den narrativen Modus, wählen aber meist die Form einer Gesellschaftsanalyse, deren Sprecher der Autor ist. Als faktuale Texte äußern sie ihre Thesen und Werturteile direkt. So verfährt auch Andrian noch 1930 in seiner Ständeordnung des Alls, nicht aber mehr 1937 in Österreich im Prisma der Idee, das eine seltsame fiktionale Fassade errichtet. Der 61-jährige Andrian lässt in dramatisierter Form vier Figuren an drei Abenden im Frühjahr 1935 in Wien Gespräche miteinander führen. Ein vorangestelltes Personenverzeichnis lässt ein regelrechtes Dramolett erwarten. Es treten auf  : PERSONEN  : Heinrich Philipp (60 Jahre). . Gabriel (49 Jahre). . . . . . . . . . Erwin (55 Jahre). . . . . . . . . . . Franz (28 Jahre). . . . . . . . . . .

ADLIGER JESUITENPATER DICHTER HEIMWEHROFFIZIER (18)

Die gattungsästhetische Erwartung, die diese dramatis personae wecken, wird im Folgenden aber nicht erfüllt. Zwar wird eingangs noch der Kammerspielmodus bedient, indem auch der Schauplatz entworfen wird »Wien  : die innere Stadt. An einem Frühlingsabend des Jahres 1935 treten die vier genannten Personen aus dem Volksgarten heraus und gehen am Ministerium des Äußern vorbei auf den Michaelerplatz zu« (18). Man sieht also gleichsam die »vier genannten Personen« nach einem Vortrag des Heimwehroffiziers im jesuitischen Kollegium Kalksburg »aus dem Volksgarten heraus« (18) sich unterhaltend durch die Straßen von Wien gehen. Alle vier Personen sind Altkalksburger und teilen diesen Schulbesuch des elitären Jesuitengymnasiums sowohl mit dem Protagonisten aus dem Garten der Erkenntnis als auch mit ihrem Autor Andrian, der von 1885 bis 1887 das Collegium Immaculatae Virgini in Kalksburg bei Wien besucht hatte. Wirkt dies alles noch sehr anschaulich, so verliert sich aber im Folgenden der dramatische Charakter des Textes, die Handlung schrumpft auf die Tatsache zusammen, dass sich die vier an zwei weiteren Abenden in der Wohnung des Adligen zum Debattieren treffen. Die Gesprächsanteile der einzelnen Figuren verselbständigen sich immer mehr und wachsen sich bis zu über zehnseitigen Weltanschauungsessays aus. Die Figuren sprechen gegen Ende kaum noch miteinander, und in dem Maß, in dem die Figurenrede län-

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ger wird und als kulturkritisches Memorandum erscheint, verliert sich die literarische Anmutung des Textes, und die fiktionale Fassade bröckelt. In den Anfangspassagen, die noch durch kurztaktigere Wechselreden geprägt sind, kann man Österreich im Prisma der Idee auch in die Tradition des Dialog-Essays einordnen, der in der Jahrhundertwende Konjunktur hatte. Von Rudolf Kassners Dialog-Essay Die Mystik, die Künste und das Leben (1900), Hugo von Hofmannsthals Gespräch über Gedichte (1903), Rudolf Borchardts Gespräch über Formen (1905) oder Richard Dehmels Dialog über Kunst und Rasse (1908) übernimmt Andrian die dramatisierende Präsentation. Aber während sich Kassner, Borchardt und Dehmel auf zwei Gesprächspartner beschränken, vervielfältigt Andrian die Redeinstanzen, und hier ist wohl ein weiterer Text Hofmannsthals die entscheidende Vorlage, die Unterhaltung über die Schriften von Gottfried Keller (1906), in der Hofmannsthal vier Freunde debattieren lässt, die kaum verhüllt als er selbst (»ein nicht untüchtiger Literat«), Leopold Andrian (»der Legationssekretär«), Clemens von Franckenstein (»der Musiker«) und Hans Schlesinger (»der Maler«) erkennbar sind.24 Aus der beruflichen Kennzeichnung der Figuren bei Hofmannsthal wird bei Andrian eine ständische Zuordnung. Andrian erweist in Österreich im Prisma der Idee Hofmannsthals Unterhaltung über die Schriften von Gottfried Keller intertextuell die Reverenz und knüpft auch an deren schlüsselliterarisches Verfahren an. Man kann in Österreich im Prisma der Idee im Dichter Züge von Hofmannsthal wiedererkennen  : Der Dichter hat mit seinen 55 Jahren in Österreich im Prisma der Idee das Alter, in dem Hofmannsthal im Jahr 1929 verstarb. Gleichzeitig knüpft Andrian natürlich mit dem Namen »Erwin« auch an sein eigenes Frühwerk an, und man begegnet hier vielleicht auch einem erwachsen gewordenen Wiedergänger des Fürstensohns aus dem Garten der Erkenntnis. Der Jesuitenpater Gabriel erinnert bei Andrian wiederum auch an den Schwager Hofmannsthals, Hans Schlesinger, der Dominikanerpater geworden war  ; und in dem 60-jährigen adligen Heinrich Philipp mag man ein kaum camoufliertes Selbstporträt des späten Andrian entdecken. Neben dieser ästhetischen Wiederaufnahme von dialogessayistischen und schlüsselliterarischen Schreibweisen des Jungen Wien erhält die fiktionale Maske aber hier im kulturkritisch-politischen Spätwerk von Andrian noch eine weitere entscheidende Funktion  : Sie bildet einen Schutz vor der Eindeutigkeit und ermöglicht es Andrian, unterschiedliche politisch brisante Positionen gegeneinander zu stellen, ohne dass der Autor auf eine Meinung seiner literarischen Gestalten reduziert werden könnte. Mit der Auflistung seiner Protagonisten im Personenverzeichnis präsentiert An­ drian nicht nur verschiedene Lebensalter, sondern bildet vor allem (leicht variiert) das 24 Hugo von Hofmannsthal  : Unterhaltung über die Schriften von Gottfried Keller, in  : Ders.: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1991 (Sämtliche Werke, Bd. 31), S. 99–106.

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Ständewesen ab, in dem Adel und Klerus an der Spitze stehen und erst an ­dritter Stelle der bürgerliche Dichter platziert wird. Der jüngste Teilnehmer dieses weltanschaulichen Quartetts, der 28-jährige Heimwehroffizier Franz, ist als einziger von den vieren gegenüber einem ›Anschluss‹ an das Deutsche Reich aufgeschlossen, und er muss erst in einem philosophischen, einem geschichtlichen und schließlich einem politischen Diskussionsabend allmählich davon überzeugt werden, dass Österreichs Zukunft staatlich autonom und monarchisch strukturiert sein muss. Bemerkenswert erscheint an An­drians Text nicht nur formal die dialogessayistische Tradition, die er politisiert, sondern dass dieses im Ergebnis restaurativ-legitimistische Manifest zugleich eine Abwehr von deutschnationalen und nationalsozialistischen Tendenzen ist und immer wieder durchwebt wird von kulturkritischen Diagnosen, die sich nicht so sehr nur der alten Adelswelt, als vielmehr auch neuaristokratischen Konzepten verdanken.25 Politischer Legitimismus traditioneller Art und kultureller Neuaristokratismus verschränken sich hier. Ein solches Aufeinandertreffen von traditionalistisch-altadligen mit neuaristokratisch-kulturkritischen Positionen haben auch Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften und Thomas Mann im Doktor Faustus fiktionalisiert, indem sie zwei Personen einander begegnen ließen. Bei Musil wird der etwas trottelige General Stumm von Bordwehr mit dem versatilen modernen Großschriftsteller Arnheim konfrontiert, und im Doktor Faustus erscheint im Münchener Salon der Frau Schlaginhaufen der Privatgelehrte Dr.  Chaim Breisacher. Er hält dort neuaristokratische, konservativ-revolutionäre Rodomontaden avant la lettre und bringt mit diesen den altkonservativen Generalintendanten Exzellenz von Riedesel derart aus dem weltanschaulichen Gleichgewicht, »daß er sogar sein Monokel aus dem Auge nahm, wodurch sein Gesicht jedes Schimmers von Intelligenz beraubt war«.26 Während Musil und Mann im Roman Alt- und Neuaristokratismus so in personam als unvereinbar aufeinandertreffen lassen, vermischt sich bei Leopold von Andrian der politische Legitimismus integral mit kulturellen Konzepten des Neuadels. Der Heimwehroffizier Franz wehrt sich gegen den Kulturpessimismus der älteren Generation und ordnet diese Haltung einer vergangenen Epoche, der des Jungen Wien, zu  :

25 Vgl. zu diesem Forschungskomplex Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept 1890–1945. Hg. von Eckart Conze, Wencke Meteling, Jörg Schuster und Jochen Strobel. Köln, Weimar, Wien 2013. Alexandra Gerstner  : Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus. Darmstadt 2008. 26 Thomas Mann  : Doktor Faustus. Frankfurt a. M. 21974 (Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 6), S. 374. Breisacher stellt einen Neuaristokratismus und Jungkonservatismus vor, »bei dem es sich nicht sowohl um ein ›Noch‹ als um ein ›Schon wieder‹ handelte, einen nach- und gegenrevolutionären Konservativismus, ein Frondieren gegen bürgerlich-liberale Wertsetzungen von der anderen Seite, nicht von vorher, sondern von nachher« (ebd., S. 370).

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Ihr Alten redet von Verfall, weil ihr aus einer Verfallszeit kommt, aus dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Die jungen Leute von damals waren stolz darauf, dekadent zu heißen, und sie waren es wohl auch. Wir Jungen von heute sind es nicht, und wir glauben, in einer ganz neuen, einer großen Zeit zu leben. (24)

Groß ist die Gegenwart für Franz durch technische Errungenschaften, wie »Lichtspiele, Flugzeuge und Radio« (24), aber auch durch neue politische Herrschaftsformen, die zwar nicht direkt benannt, aber als die europäischen Faschismen erkennbar werden, wenn Franz schwärmt von den Staatskonzepten, »in denen die politischen Grundideen des Herrschens und Gehorchens, die der Liberalismus der Vorkriegszeit verkannt hatte, sich ausleben können  !« (24) Er resümiert  : »Was ihr als Verfallszeit anseht, scheint mir der Frühling einer neuen Epoche zu sein« (24). Mit dieser Zeitdiagnose, die modernistische Technikbegeisterung und Affirmation politisch-totalitärer Ordnungen der Ungleichheit verquickt, ähnelt Franzls Einschätzung Oswald Spenglers Befund im Untergang des Abendlandes, wenn der imperialistisch-cäsaristische Herrschaftsformen dem Deutschen Reich als politische Chance in Übergangszeiten nahelegte und der Jugend ernstlich empfahl, sich »der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik« zuzuwenden.27 Spengler perorierte  : »Für die prachtvoll klaren, hochintellektuellen Formen eines Schnelldampfers, eines Stahlwerkes, einer Präzisionsmaschine, die Subtilität und Eleganz gewisser chemischer und optischer Verfahren gebe ich den ganzen Stilplunder des heutigen Kunstgewerbes samt Malerei und Architektur«.28 Diese Hochschätzung der Technik und Abwertung der Kunst führte bei Thomas Mann zur allmählichen Distanzierung von Spengler, die er in seiner Rede Von deutscher Republik 1922 rekapitulierte  : Als ich aber erfuhr, daß dieser Mann seine Verkalkungs-Prophetie stockernst und positiv genommen haben wolle und die Jugend in ihrem Sinne unterweise, das heißt sie anhalte, an Dinge der Kultur, der Kunst, der Dichtung und Bildung nur ja nicht ihr Herz und ihre Leidenschaft zu schenken, sondern sich an das zu halten, was einzig Zukunft sei und was man wollen müsse, um überhaupt noch irgend etwas wollen zu können, nämlich an den Mechanismus, die Technik, die Wirtschaft oder allenfalls noch die Politik  ; als ich dies gewahr wurde, daß er tatsächlich dem Willen und der Sehnsucht des Menschen die kalte »naturgesetzliche« Teufels­

27 Oswald Spengler  : Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Ungekürzte Sonderausgabe in einem Band, 209.–223. Tausend des ersten bzw. 188.–202. Tausend des zweiten Bandes der Gesamtauflage. München 1981, S. 57. 28 Ebd., S. 61.

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faust entgegenballt – da wandte ich mich ab von so viel Feindlichkeit und habe sein Buch mir aus den Augen getan, um das Schädliche, Tödliche nicht bewundern zu müssen.29

Was Thomas Mann gruselt, begeistert den Heimwehroffizier. Der 55-jährige Dichter widerspricht dem jungen Franzl, insoweit dieser das 19.  Jahrhundert verteufelte. Der Dichter Erwin weist vielmehr darauf hin, dass vieles, was heute groß genannt werde, im letzten Jahrhundert wurzelt. Für diese Auffassung stellt er eine verblüffende Genealogie zusammen und lenkt die Aufmerksamkeit auf »Nietzsche den Philosophen, George den Dichter und auf problematische, aber jedenfalls große und jedenfalls das heutige Geschlecht führende Gestalten, wie die Lenins und Mussolinis« (27). Der Dichter ist zwar noch unentschlossen, ob er sich als Pessimist oder Optimist einordnen möchte, findet aber »sympathisch […] an der neuen Zeit, daß sie der Idealfigur des Führenden huldigt, also dem großen Einzelnen« (27). Erwin rekapituliert auch noch einmal seine eigene ästhetizistische Vergangenheit und schildert seinen Weg von einem selbstbezüglichen l’art pour l’art-Konzept zu einer Kunst, die sich religiös situiert  : Früher schuf ich mir wohl selbst meine Gottheiten, meine Schönheiten, unter meinen Händen blühten sie, wenn ich sie erlebte, wie Knospen auf. Jetzt, wo ich älter bin, gebricht es mir an Kraft sie zu erschaffen, ich sehne mich nach absoluten, sternhell leuchtenden Schönheiten, denen nicht ich Dasein leihen muß […]. Vielleicht sehne ich mich in der Wüste der Gegenwart nach der katholischen Kirche, gewiß nach allgemeiner, nach katholischer Kultur. (312 f.)

Andrian lässt seinen Dichter damit bespielhaft die Konversionen so vieler europäischer Ästhetizisten nachvollziehen, die aus der selbstbezüglichen dekadenten Kunstwelt zu einer Sicherheit in der Glaubenswelt des Katholizismus fanden. Die Kunst wird nicht mehr autonom entworfen, sondern stellt sich in den Dienst der Religion.30 Der erste Diskussionsabend der vier Wiener dreht sich vor allem um das Begriffspaar Kultur und Zivilisation. Nach anfänglichen Verwirrungen einigt man sich darauf, dass unter Werken der Zivilisation »Werke der Technik« (78) zu verstehen sind, die anwendungsbezogene Mittel sind, »um Raum und Zeit zu überwinden, Zeit und Arbeit oder auch Unbequemlichkeit zu ersparen« (79). Die anfänglich disparaten Meinungen fasst der Pater folgendermaßen zusammen  : Für Franzl gehören Religion, Kunst, Wissenschaft und auch Humanität, dann die Technik mit ihren Erfindungen in die Kultursphäre, Heinrich Philipp findet die Kultur in der Gesamtheit 29 Thomas Mann  : Gesammelte Werke in 13 Bänden (Anm. 26), Bd. 11, S. 841 f. 30 Vgl. hierzu auch das Kapitel Wiederkehr der alten Götter in der vorliegenden Abhandlung.

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der künstlerisch gestalteten Äußerungen des täglichen Lebens, Erwin, der den Umfang der Kultursphäre näher zu bezeichnen unterließ, sieht in der Sprache, sowohl der geschriebenen wie der gesprochenen, insofern sie veredelt ist, das Herzgebiet der Kultur, in das alle ihre Blutgefäße münden und von dem sie ausgehen. (48)

Die Zivilisation vereinheitliche hingegen unaufhaltsam die unterschiedlichen Lebenswelten und erscheint gleichsam als Globalisierungsbeschleuniger. Wehmütig rekapituliert der Jesuitenpater Gabriel  : Besonders die menschlichen Kollektivwesen, die Gemeinschaften, werden durch die Werke der Zivilisation einander immer ähnlicher, ihrer wirtschaftlichen und sozialen Struktur, aber auch ihrem Aspekte nach. Mit Recht hat man gesagt, daß Reisen nicht mehr lohnt, seitdem es Bahnen gibt, also grade, seitdem es leicht geworden ist, denn das Leben sei jetzt überall das gleiche. Und diese Nivellierung wird, so scheint es, notwendigerweise immer vollständiger werden. (81)

Die Vorstellung, dass die Zivilisation lebenspraktisch egalisierend wirke, wendet An­ drian dann ins Politische und charakterisiert die Zivilisation als wesentlich demokratische Erscheinung. Einer solchen demokratischen Zivilisation steht eine aristokratische Kultur gegenüber, die nach innen homogenisiere, nach außen aber distinkt erscheint  : »Die Zivilisation gehört allen Menschen und macht die Menschheit einförmig, eine Kultur gehört einer Gemeinschaft auf bestimmte Art Veredelter, eint, die sie erfaßt haben, und trennt sie von den anderen« (83 f.). Die Kultur der Wenigen und die Zivilisation der Masse stehen sich (für den Dichter) einerseits antagonistisch gegenüber  ; so fragt der Dichter suggestiv und rhetorisch  : »Die unglückselige Zivilisation, die unsere Kultur vernichtet hat  ! Besteht nicht aus Notwendigkeit zwischen Kultur und Zivilisation Antagonismus  ?« (78) Andererseits verwandelt sich das gegensätzliche Verhältnis (für den Adligen) auch in ein zeitliches Nacheinander. Die Dichotomie von Kultur und Zivilisation transformiert Heinrich Philipp in eine Chronologie, in der die Zivilisation als epochale Endzeit auf die Kultur folgt, auch dies wieder ein Gedanke, den Andrian sich von Spengler ausleiht. Heinrich Philipp führt aus  : Je mehr aber die seelische Kultur, neben der aufblühenden körperlichen, welche das Herz der Gegenwart erobert hat, abstirbt, desto üppiger entfaltet, desto mehr verbreitet sich die technische Zivilisation, und damit ist eine unvergleichliche Rührigkeit auf allen Gebieten des äußern Lebens verbunden, eine Fülle von Leistungen und technischen Fortschritten, die in der Menge Illusionen eines allgemeinen Aufstiegs der Epoche weckt. Sport, Technik, Zivilisation bilden […] die wirkende Dreieinigkeit der Moderne, und mit ihnen verbreiten sich, Entschlossen-

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heit, Gewandtheit, Tüchtigkeit, Organisierungskraft, – fundamentale Eigenschaften für den äußern Erfolg. […] Die neue Zeit, obwohl geistig verarmend, kulturlos und neubarbarisch, ist weder klein, noch eigentlich dekadent. […] Sie ist jung und robust, ihre Arme sind stark, weit ausholend und arbeitsentschlossen, sie schreitet mit großen, raschen Schritten in die Zukunft hinein. Ihr Angesicht ist nicht schön, denn es ist kein Reichtum an Form darin, und auch nicht interessant, denn es ist unbeseelt – am wenigsten ist es liebenswürdig. (291 und 298)

Einen Ausweg aus diesem krisenhaften zivilisatorischen Endzeitszenario sehen die vier in einer adligen Selbsterneuerung und Rückkehr zur Ständeordnung. Wie diese renovatio des Adels sich genau vollziehen soll, bleibt im Gespräch umstritten. Heinrich Philipp plädiert für eine Beibehaltung des alten Geblütsadels und befindet apodiktisch  : »Ohne Geburtsstände keine Kultur« (276), während die anderen die Gliederung der Gesellschaft in Berufsstände zu bevorzugen scheinen. Die Kategorie der Rasse spielt in diesem Zusammenhang in den Gesprächen keine Rolle.31 Gabriel ist, etwas nebulös formulierend, der Meinung, dass die »Neubildung sozialer Erbstände als Träger der Kultur eine Voraussetzung der Kulturerneuerung ist« (342). Da der Adel, sei es nun der alte Geblütsadel oder ein erst zu schaffender neuadliger »sozialer Erbstand«, bei Andrian als Bewahrer und Ermöglicher von Kultur überhaupt erscheint, ist er von zentraler Bedeutung für die Zukunft. Die Bedrohung einer solchen aristokratischen Kultur der Zukunft für Österreich durch eine übermächtige Zivilisation konkretisiert sich gegen Ende von Andrians Text immer mehr nationalstaatlich. Als Kontrahent der österreichischen aristokratischen Kultur erscheint eine deutsche nationalsozialistische Zivilisation der Massen, die es fernzuhalten gilt. Eine Abwehr des ›Anschlusses‹ ist für Andrian die Vorbedingung für eine Rückkehr der Habsburger auf den Thron. Auf diese Rückkehr hofft Andrian, und sie ist sein innigster Wunsch. Der Text von 1937 endet daher mit dem legitimistischen Ausruf  : »Hoch der Kaiser, hoch Österreich  !« (419) Aber es kam nicht der Kaiser, sondern der ›Führer‹, und das bedeutete für den ›Anschluss‹-Gegner und Sohn der jüdischen Caecilie von Andrian (geborene Meyerbeer), dass er Österreich verlassen musste. Andrian ging ins Exil und kehrte auch nach 1945 nicht zurück nach Österreich.32 So starb der Freiherr, ohne seine neuaristokratischen Ziele in der Moderne realisiert zu haben. 31 Die »Rasse« wird nicht zum Argument bei den Neuadelskonzepten Andrians, spielt aber durchaus eine Rolle bei der Abgrenzung Österreichs nach außen, sowohl, was die Grenze zu den »slawischen Völkern« angeht, aber vor allem auch bei der auf Distanz bedachten Bestimmung des Verhältnisses Österreichs zu den Reichsdeutschen. 32 Zu Andrians Exil vgl. Ursula Prutsch  : Leopold von Andrian  – ein Legitimist im Exil (Frankreich, Brasilien), in  : Zweimal verjagt. Die deutschsprachige Emigration und der Fluchtweg Frankreich  – Amerika 1933–1945. Hg. von Anne Saint Sauveur-Henn. Tübingen 1998, S. 155–166.

IX. Nachschriften

Dass die Literatur des Jungen Wien für die österreichischen Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts sowohl erdrückend als auch traditionsstiftend gewirkt hat, ist immer wieder in der Forschung festgestellt worden. Wie der junge Stefan Zweig um die Gunst von Arthur Schnitzler warb und auch sein Frühwerk ihm nachschuf, ist mehrfach nachgezeichnet worden.1 Gleichwohl hat auch Zweig einen kämpferischen Generationswechsel in Wien folgendermaßen teilnehmend beobachtet und den reichsdeutschen Lesern 1912 in den Leipziger Neuesten Nachrichten erläutert  : Mit dem Begriff des Wienerischen in der Literatur verbindet man im allgemeinen draußen im Reich die Vorstellung einer artistischen und formalen Vollendung, andererseits aber den fühlbarsten Feminismus einer weichen Nachgiebigkeit, die im letzten Grunde auf eine eingeborene Sentimentalität zurückgeführt wird. Derlei Begriffe, so falsch sie auch nach ihrer schärfsten Form zu sein pflegen, entstehen zumeist aber doch aus einer ursprünglich richtigen Beobachtung, und tatsächlich ist das schöpferische im Werke jener Wiener Gruppe, die man oft fälschlich die »Jungwiener« nennt – also Hofmannsthal, Schnitzler und Altenberg – eine sehr starke Reizbarkeit und Empfindlichkeit des Seelischen, die vorschnell sich in Melancholie verschattet, noch ehe sie die ganze Leuchtkraft der Erlebnisse zum Ausdruck bringen konnte. Vergessen wird aber immer, dass diese Jungwiener nicht mehr jung sind und dass die neue Generation in einem selbstverständlichen unbewußt beabsichtigten Gegensatz gerade zu anderen Lebensauffassungen gelangen will. So wie Gift im Organismus selbsttätig ein Gegengift erzeugt, so schaffen in der Literatur alle Strömungen logische Gegenströmungen, und in Wien ist gerade in der letzten Zeit eine Richtung bemerkbar, deren schärfste Bemühung es bedeutet, eben jene Weichheit und Sentimentalität in sich abzutöten, hart zu werden, nicht mehr den Gefühlen, sondern ihren Gegenwerten, dem Geiste und der Ironie, schöpferisch Kraft zu verleihen.2

1 Katarína Zechelová  : Prosa der Wiener Moderne. Arthur Schnitzler und Stefan Zweig. Berlin 2017. Yves Iehl  : Stefan Zweig und Arthur Schnitzler, in  : Austriaca 17, 34 (1992), S. 109–119. 2 Stefan Zweig  : Zwei Wiener, in  : Leipziger Neueste Nachrichten vom 24. Juli 1912, Beilage Literarische Rundschau. Bei den dort besprochenen zwei Wienern, die in Opposition zu den älter gewordenen Jungwienern gesetzt werden, handelt es sich um Albert Ehrenstein und Otto Soyka.

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Nachschriften

Die Expressionisten schärften ihr eigenes poetisches Profil, indem sie sich nach anfänglicher Verehrung und sukzessiver Distanzierung parodistisch vom ästhetizistischen Jungen Wien als Feindbild abzusetzen wussten.3 So erinnerte sich Hans Flesch von Brunningen an die Frühzeit der expressionistischen Zeitschrift Aktion  : »In Wien trug man damals neo-romantisch. Meine Freunde dichteten mit Innen-Reimen  : Vorbilder waren  : Hofmannsthal, Vollmoeller, Stucken. Ich stamme aus Wien. Aber die viele Seide, Goldbrokat, Bologneser Hündchen brachten mich auf. Aus Opposition ging ich in ein kaltes Zimmer und schrieb auf Klosett-Papier meine erste Prosa-Skizze«.4 Zwischen der huldigenden Verehrung eines Stefan Zweig und der verächtlichen Geste des Wiener Frühexpressionismus finden sich aber noch viele Schattierungen eines intertextuellen Bezogenseins zwischen epigonaler Anverwandlung und kreativer Weiterentwicklung, die bisher von der Forschung noch nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Daher möchte vorliegendes Kapitel »Nachschriften« des Jungen Wien in zweierlei Bedeutung behandeln  : Es geht neben der temporalen Bedeutung des »Nachklapps« eines zeitlich nachgereichten Postskriptums auch um das imitierende Nachschaffen als eine Form »höheren Abschreibens« (Thomas Mann), das Sujets und Schreibweisen der Prätexte mal zu travestieren oder parodieren und mal zu überbieten sucht. Hier soll im Folgenden zuerst das generationell gestaffelte Konkurrenzverhältnis innerhalb des Jungen Wien selbst in den Blick genommen und gezeigt werden, wie Raoul Auernheimer sich als ein später Jungwiener und Randgestalt der Wiener Moderne an seinem Vorbild Arthur Schnitzler abarbeitet. Danach soll der Blick gelenkt werden auf den in Prag geborenen, aber seit 1901 in Wien lebenden Autor Leo Perutz und in einer intertextuellen Analyse gezeigt werden, inwiefern Perutz Techniken des unzuverlässigen Erzählens von Schnitzler übernimmt und zu überbieten sucht.

1. »Meine Siege auf Schnitzler« Raoul Auernheimer zwischen Huldigung und Travestie

Franz Blei charakterisierte in seinem großen Bestiarium der Literatur nicht nur Peter Altenberg, mit dem die vorliegende Abhandlung im ersten Kapitel einsetzte, sondern auch den österreichischen Schriftsteller und Redakteur der Neuen Freien Presse Raoul Auernheimer, und zwar folgendermaßen  : »AUERNHEIMER ist der Name eines Jockeis, 3 Achim Aurnhammer  : Verehrung, Parodie, Ablehnung. Das Verhältnis der Berliner Frühexpressionisten zu Hofmannsthal und der Wiener Moderne, in  : Cahiers d’Études Germaniques 24 (1993), S. 29–50. 4 Hans Flesch von Brunningen  : Die »Aktion« in Wien, in  : Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen. Hg. und mit Anmerkungen versehen von Paul Raabe. Olten, Freiburg 1965, S. 134 ff., hier S. 134.

»Meine Siege auf Schnitzler« 

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der am häufigsten den Schnitzler geritten hat. Derzeit gibt er Tips in der Neuen Freien Presse«.5 Die insinuierte poetische Abhängigkeit Auernheimers von Arthur Schnitzler verstärkte Blei dann noch einmal in den Quellenschriften des Bestiariums, die eine Bibliographie mit von Blei frei ausgedachter Primärliteratur zusammenstellen. Dort findet sich auch der fingierte Titel »Auernheimer, R. Meine Siege auf Schnitzler. Erinnerungen eines Achtzigjährigen. Wiener N.F.P. Nr. 2760ff«.6 Blei verbildlicht Schnitzler hier zu einem Jungwiener Pegasus für nachgeborene Autoren der Wiener Moderne. Zugleich macht er in seiner lakonischen Mythenreminiszenz deutlich, dass es sich bei diesem Auernheimer nicht um einen literarischen Hobbyreiter handelt, sondern um einen Berufsschriftsteller, der als poetischer »Jockei« symbolische Siege auf dem literarischen Feld mit seinem Schnitzler errungen hat und als literaturkritischer Buchmacher in der Neuen Freien Presse immer noch von seinen Kenntnissen und Erfahrungen finanziell profitiert. Während der Autor Auernheimer lange weitgehend in Vergessenheit geriet,7 war der promovierte Jurist seinerzeit ein einflussreicher Journalist und angesehener Theaterkritiker gewesen, erster Präsident (und danach Vizepräsident) des österreichischen PEN-Clubs von 1923 bis 1938. Als Randgestalt der Wiener Moderne und spät zum Jungen Wien Dazugestoßener war er aber auch literarisch engagiert.8 Auernheimer galt als Bewunderer Schnitzlers und wurde immer wieder, wie bei Blei, als leichtgewichtiger Schnitzler-Epigone abgetan. Der Großcousin Theodor Herzls wurde 1938 ins Konzen­ trationslager nach Dachau verschleppt, von wo er durch Intervention Emil Ludwigs und des amerikanischen Generalkonsuls 1939 über Triest ins Exil nach New York entkam.9 Er starb in den USA 1948 mit 71 Jahren. 5 Franz Blei  : Das große Bestiarium der Literatur. Berlin 1924, S. 18. 6 Ebd., S. 381. 7 Der 2019 verstorbene Donald G. Daviau hat als (Teil-)Nachlassverwalter über Jahrzehnte die Auernheimer-Forschung monopolisiert  ; vgl. Donald G. Daviau  : Raoul Auernheimer – in Memoriam, in  : Modern Austrian Literature 3 (1970), S. 7–21. Ders.: Literary and Personal Responses to the Political Events of the 1930s in Austria. Stefan Zweig, Raoul Auernheimer, and Felix Braun, in  : Austria in the Thirties. Hg. von Kenneth Segar und John Warren. Riverside 1991, S. 118–150. Ders.: Raoul Auernheimer’s Life and Works in Exile, in  : Lyrik, Kunstprosa, Exil. Festschrift für Klaus Weissenberger zum 65. Geburtstag. Hg. von Joseph P. Strelka. Tübingen 2004, S. 195–213. Ders.: »Schönheit war alles und Politik herzlich wenig«. The Role of Raoul Auernheimer in the Literary Scene of Vienna from 1918–1938, in  : »baustelle kultur«. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Hg. von Primus-Heinz Kucher. Bielefeld 2011, S. 475–492. 8 Die Festschrift zum 70. Geburtstag Ferdinand von Saars gruppiert 1903 Auernheimer erstmals zu den übrigen Autoren des Jungen Wien (hier vertreten durch Peter Altenberg, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Arthur Schnitzler und Paul Wertheimer)  ; vgl. Widmungen. Zur Feier des siebzigsten Geburtstages Ferdinand von Saar’s [sic]. Hg. von Richard Specht. Wien 1903. 9 Zur Exilzeit vgl. die Studien von Lennart Weiss  : In Wien kann man zwar nicht leben, aber anderswo kann man nicht leben. Kontinuität und Veränderung bei Raoul Auernheimer. Uppsala 2010. Donald G. Daviau  : Raoul Auernheimers Beitrag für Österreich im amerikanischen Exil und in der Zeit des Wiederaufbaus,

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Nachschriften

Franz Bleis Spott aus den 1920er Jahren über den Schnitzler-Imitator Auernheimer ist nicht originell, sondern repetiert seinerseits Zuschreibungen, mit denen Auernheimer sich seit seinem literarischen Debut auseinandersetzen musste. So hielt Arthur Schnitzler bereits 1905 in seinem Tagebuch fest  : O. [i. e. Olga Schnitzler] erzählte mir auf dem Spazierg., dass in der Woche eine Novellette von Auernheimer stehe, in der er sich – wie ihr vorkam offenbar über mich lustig mache  ; – durch innere Fälschung meines Wesens, bei Beibehaltung äußerer Kennzeichen. Die »Jungen« – und ich. – A. (der nicht ohne Begabung ist) gehört zu denen, die wüthend sind, dass sie als »unter meinem Einfluss stehend« betrachtet werden … Ich erinnere mich dass ich ihm vor ein paar Monaten schreiben wollte, es ginge jedem zu Beginn so – die ersten Kritiken über mich behandelten mich als Copist der Gyp. – Nun ist’s mir ganz lieb, dass ich ihm nicht geschrieben habe.10

Schnitzler liefert hier en passant eine Skizze zur allmählichen feuilletonistischen Erfindung und Emanzipation eines Originalschriftstellers aus dem literaturkritischen Vergleich heraus, präfiguriert Harold Blooms Literaturtheorie der Einflussangst,11 macht darauf aufmerksam, dass das Junge Wien keine einheitliche Gruppe gleichaltriger Autoren war, sondern generationell gestaffelt und in Konkurrenz zueinanderstehend und verweist zudem mit »der Gyp« auf eine bisher von der Forschung nicht beachtete internationale Traditionslinie für Schnitzlers Œuvre. Mit der unter dem Pseudonym »Gyp« schreibenden französischen Salonschriftstellerin Sibylle Gabrielle Riquetti de Mirabeau verbindet Schnitzlers Werk das Interesse an der Psychologie (etwa in Gyps Roman Ohé  ! … Les psychologues  ! [1889]) und das Thema der geheuchelten Liebe. Die Gyp wie auch Schnitzler haben ein ganzes Repertoire an zeitprägenden Figuren entwor-

in  : Echo des Exils. Das Werk emigrierter österreichischer Schriftsteller nach 1945. Hg. von Jörg Thunecke. Wuppertal 2006, S. 13–33. Ders.: Raoul Auernheimers Exillyrik – Die Dokumentation des Leidensweges eines exilierten Schriftstellers, in  : Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hg. von Jörg Thunecke. Amsterdam 1998, S.  141–156. Jeffrey  B. Berlin  : »War unsere [KZ] Gefangenschaft ein Einzelfall, etwas Monströs-Zufälliges oder war sie die natürliche Folge natürlicher Gegebenheiten  ?« The Unpublished Exile Correspondence between Heinrich Eduard Jacob and Raoul Auernheimer (1939–1943), in  : Germanisch-Romanische Monatsschrift 49 (1999), S. 209–239. Raoul Auernheimer  : Erzählen heißt, der Wahrheit verschworen sein. Kommentierte Edition der deutsch- und englischsprachigen Fassung des bisher unveröffentlichten KZ-Berichts »Die Zeit im Lager – Through Work to Freedom«. Hg. von Patricia Ann Andres. Frankfurt a. M. 2010. 10 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1903–1908. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1991, Tagebucheintrag vom 2. April 1905, S. 129. 11 Harold Bloom  : The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York 1997.

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fen, denen man im einen wie im anderen Fall auch Typenhaftigkeit vorgeworfen hat.12 Die vom Ehepaar Schnitzler inkriminierte »Novellette von Auernheimer« ist bisher unbekannt geblieben. Evelyne Polt-Heinzl und Carsten Tergast haben überlegt, in welchem literarischen Text sich Auernheimer wohl über Schnitzler lustig macht und fälschlicherweise auf Auernheimers Einakter Karriere (1904) und seine Novelle Lebemänner (1903) getippt.13 Dabei gibt Schnitzler in seinem Tagebuch sehr genau den Hinweis auf den Publikationsort von Auernheimers Erzählung Der Dichter, die in der Berliner Zeitschrift Die Woche am 1. April 1905 erschien,14 einen Tag bevor Olga Schnitzler ihren Mann beim Spaziergang auf den Text aufmerksam machte. Dieses Kapitel möchte im Folgenden das Verhältnis von Auernheimer zu S­ chnitzler beleuchten als eine ambivalente Dichter-Heroisierung und zeigen, wie Auernheimer Schnitzler im Feuilleton zum Vorbild einer österreichischen Schriftstellergeneration idealisiert. Diese Heroisierung ist keinesfalls selbstlos, sondern strategisch, denn mit der Genialisierung von Schnitzlers Schreiben attestiert sich Auernheimer indirekt gleichzeitig, ästhetisch auf das »richtige Pferd« gesetzt zu haben, denn seine frühen Novellen orientieren sich in der Tat in Sujets und narrativer Umsetzung am Frühwerk Schnitzlers  : So lässt sich etwa Auernheimers Leutnantsnovelle Ein Konjunktiv thematisch rückbeziehen auf Lieutenant Gustl.15 Auch formal finden sich Anknüpfungen, etwa wenn Auernheimer mit Tagebuchnovellen experimentiert, um wie Schnitzler (etwa in Der Andere. Aus dem Tagebuch eines Hinterbliebenen) das Erzählen zu subjektivieren, in der Erzählung Rosen, die wir nicht erreichen. (Aus dem Tagebuch eines Studenten).16 Man könnte hier umgangssprachlich vielleicht (wenn es nicht so despektierlich klänge) von einer ›schmarotzenden Heroisierung‹ sprechen, die den Anderen lobt, um 12 Dass die Gyp nicht nur Schnitzler, sondern auch Anatole France beeinflusst hat, zeigt Peter Stolz  : Transformationen der Lebenswelt – Metamorphosen der Romanwelt. Anatole Frances frühes Romanwerk (1879– 1895). Ein Beitrag zur intertextuellen Erzählforschung. Tübingen 1992, S. 149–153. 13 Vgl. Evelyne Polt-Heinzl  : Auernheimer, Raoul, in  : litkult1920er (abgerufen am 29.  Oktober 2019). Carsten Tergast  : Kritiker, Literat und Zeitgenosse  : Raoul Auernheimer, Multitalent der Wiener Moderne, in  : zvab.blog (abgerufen am 3. Mai 2016)  ; die Langversion des Textes von Tergast, in der er auf Auernheimers Lebemänner hinweist, ist online derzeit nicht verfügbar. Warum Polt-Heinzl auf die Idee kommt, ein Drama als möglichen Text zu benennen, obwohl im Tagebuch eindeutig von einer »Novellette Auernheimers« die Rede ist, erschließt sich mir nicht. Vgl. Raoul Auernheimer  : Lebemänner. Novelle. Wien, Leipzig 1903. Ders.: Karriere. Ein Zwischenspiel. in  : Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift 7, 1 (1904), S. 465–470. 14 Raoul Auernheimer  : Der Dichter. Skizze, in  : Die Woche 7, 13 (1905), 1. April 1905, S. 361 ff. Im Folgenden wird diese Erzählung mit eingeklammerten Seitenzahlen im Fließtext zitiert. 15 Raoul Auernheimer  : Ein Konjunktiv, in  : Ders.: Rosen, die wir nicht erreichen. Wien, Leipzig 1908, S. 171–190. 16 Raoul Auernheimer  : Rosen, die wir nicht erreichen. (Aus dem Tagebuch eines Studenten), in  : Ders.: Rosen, die wir nicht erreichen (Anm. 15), S. 17–36.

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selbst am Ruhm Anteil zu erhalten. So befördert Auernheimers Dichterlob auch die Ausweitung von Schnitzlers Individualstil zu einem narrativen Gruppenstil, an dem um die Jahrhundertwende neben Auernheimer auch Felix Salten partizipiert. Während Hugo von Hofmannsthals, Richard Beer-Hofmanns und Leopold von Andrians Erzählweisen in der Wiener Moderne eher anderen Vorbildern folgen, orientieren sich Salten und Auernheimer in ihren erzählerischen Anfängen oftmals an Schnitzler.17 Gleichzeitig fällt aber bei Auernheimer auch eine Diskrepanz zwischen feuilletonistischem Dichterlob und fiktionalen Distanzierungsbemühungen auf, und das soll hier exemplarisch gezeigt werden an jener kurzen Auernheimer-Erzählung Der Dichter (1905). Die Darstellung gliedert sich in drei Teile  : Zu Beginn werden Auernheimers lobende Schnitzler-Feuilletons gemustert und erläutert, wie der 14 Jahre jüngere Auernheimer sich literaturkritisch am Vorbild Schnitzler abarbeitet. Ein zweiter Teil fragt danach, inwiefern sich in diesen expositorischen Texten nicht auch immer wieder Misstöne finden, die Absetzungs- und Überwindungstendenzen erkennen lassen. Heroisierung verwandelt sich in Einflussangst und Ärger, dass die späteren Jungwiener »als unter [Schnitzlers] Einfluss stehend betrachtet werden«.18 In der Darstellung dieser Transformation von Bewunderung in Ablösung folgt die vorliegende Studie den methodischen Überlegungen Achim Aurnhammers zur Herausbildung eines expressionistischen Gruppenstils  : Dem Geschmackswechsel wurde dort durch imitatio- und aemulatio-Gebärden präludiert, bevor durch Parodie die Vorgängergeneration stilistisch überwunden wurde.19 Hier bei Auernheimer liegt allerdings das zeitliche Verhältnis von Spott und Lob anders  : Die fiktionale Travestie steht zu Beginn. Auernheimer versucht, sich fiktional verschlüsselt und literatursatirisch vom Vorbild freizuschreiben, während er faktual weiterhin Huldigungsgesten vollführt, die allerdings im Verlauf der Jahre immer halbherziger ausfallen. Der dritte Teil stellt Auernheimers Novellette vor, die hier sowohl als Personalsatire auf Schnitzler als auch als komische Travestie und intertextuelle Antwort auf Schnitzlers Erzählung Frau Bertha Garlan (1901) perspektiviert werden soll. a) Auernheimers Schnitzler-Feuilletons

Auernheimer hat als Redakteur und Theaterkritiker der Neuen Freien Presse die Literatur der Autoren des Jungen Wien seit 1906 journalistisch begleitet und einem größeren österreichischen, bildungsbürgerlichen Publikum sorgsam aufbereitet. Hofmannsthals 17 Zu Saltens Orientierung an Schnitzler vgl. Michael Gottstein  : Felix Salten (1869–1945). Ein Schriftsteller der Wiener Moderne. Würzburg 2007, S. 17–58. 18 Tagebucheintrag Schnitzlers vom 2. April 1905 (Anm. 10), S. 129. 19 Aurnhammer  : Verehrung, Parodie, Ablehnung (Anm. 3).

»Meine Siege auf Schnitzler« 

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Werken widmete er 22 Artikel,20 Arthur Schnitzler bedachte er zwischen 1908 und 1932 mit 24 Feuilletons. In dem huldigenden Essay zum 50.  Geburtstag Schnitzlers feiert Auernheimer den Jubilar als »bedeutende[n] Dramatiker und hervorragende[n] Erzähler«, »geradezu den repräsentativen Schriftsteller Oesterreichs«.21 Im Essay zum 60.  Geburtstag vergleicht er den Dramatiker Schnitzler mit Ibsen und den Erzähler Schnitzler mit Goethe und legitimiert diesen rühmenden Vergleich so  : »Goethe und Ibsen, das klingt fast vermessen. Aber wer so viel Geist besitzt wie Arthur Schnitzler, der weiß auch, daß es ein Verbundensein im Geistigen gibt, das mit Verbindung so wenig wie mit Verbindlichkeit zu tun hat«.22 Dieses Lob bleibt einigermaßen inhaltsleer, und man gewinnt den Eindruck, dass das Name-Dropping der Größten der Großen hier auch von der konkreten Argumentation entbinden soll. Was genau Schnitzlers Schreiben mit Ibsens Dramatik und Goethes Erzählwerk verknüpft, bleibt unausgesprochen und der Phantasie des Lesers überlassen. Auernheimer akzentuiert dann besonders die Herkunft des Dichters aus dem Mediziner-Milieu und benennt das Wartezimmer des Vaters als den eigentlichen Inspirationsraum des jungen Schnitzler  : »Der Vater war nicht nur Arzt, sondern Theaterarzt, und so wurde wahrscheinlich das noch schweifende Talent des Sohnes frühzeitig von der Bühne fixiert«.23 Tod und Krankheit als Themen von Schnitzlers Werk bindet Auernheimer dann aber nicht an den Arztberuf, sondern an die hypochondrische Disposition Schnitzlers zurück  : »Die Melancholie ist die Krankheit der großen Männer […], und Hypochondrie gibt es auch unter […] den Medizinern«.24 Schon früh erhofft sich Auernheimer von Schnitzler eine Erneuerung des deutschen Lustspiels und feiert dann Professor Bernhardi (1912) als »meisterhafte Komödie«, die nicht den Weg »vom Lachen zum Zorn, sondern erfreulicherweise vom Zorn zum Lachen« gewählt habe.25 Am Reigen begeistert ihn die Dialogführung.26 Dem gesamten Jungen Wien attestiert Auernheimer 1921 retrospektiv eine Nähe zu Flauberts sezierendem Erzählen  :

20 Aufgelistet bei Donald G. Daviau  : The Correspondence of Hugo von Hofmannsthal and Raoul Auernheimer, in  : Modern Austrian Literature 7, 3/4 (1974), S. 209–301, hier S. 229 f. 21 Auernheimer  : Arthur Schnitzler, in  : Neue Freie Presse vom 12. Mai 1912, S. 1 ff., hier S. 1. 22 Auernheimer  : Arthur Schnitzler zum sechzigsten Geburtstag, in  : Neue Freie Presse vom 14.  Mai 1922, S. 1 ff., hier S. 3. 23 Auernheimer  : Arthur Schnitzler (Anm. 21), S. 2. 24 Ebd., S. 3. 25 Auernheimer  : Professor Bernhardi. Erstaufführung am Deutschen Volkstheater, in  : Neue Freie Presse vom 24. Dezember 1918, S. 1 ff., hier S. 1. 26 Vgl. Auernheimer  : Schnitzlers »Reigen« auf der Bühne, in  : Neue Freie Presse vom 2. Februar 1921, S. 1 ff., hier S. 2.

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Nachschriften

Was man vor zwanzig Jahren die Wiener Schule nannte, und was sich seither daraus entfaltet hat, das ist zum nicht geringen Teile eine Ausstrahlung Flauberts. Die Häupter dieser Schule  : Hofmannsthal, Wassermann, Beer-Hoffmann [sic], der junge Schnitzler und so viele andere sind durch das Medium Flaubert hindurchgegangen, bevor sie zu sich selbst gelangten.27

Auernheimer betont in seinen Schnitzler-Artikeln immer wieder die intertextuelle Disposition von dessen Werk und stellt es in einen internationalen Kontext. Hier werden nun Auernheimers Textbeobachtungen präziser und vermögen vielleicht sogar, den heutigen Intertextualitätsforschungen zu Schnitzler noch Anregungen zu vermitteln.28 Auernheimers Hinweis auf das intertextuelle Schreiben Schnitzlers ist dabei nicht als Vorwurf der ästhetischen Abhängigkeit formuliert, sondern durchaus als Ausweis eines polyglotten und weltgewandten Kosmopolitismus jenseits einer rein österreichischen Tradition konzipiert  : So vergleicht Auernheimer die Romanexposition von Der Weg ins Freie (1908) mit dem Beginn von Alphonse Daudets Pariser Sittenroman Sappho (1884),29 misst die Protagonistin von Liebelei (1895) an Figurenkonzeptionen in Lafcadio Hearns Novelle Haru (1905, auf Deutsch), Rudyard Kiplings Erzählung Lispeth (1886) und Giacomo Puccinis Oper Madame Butterfly (1904),30 bindet Schnitzlers Komödie Fink und Fliederbusch (1917) dramenästhetisch zurück an Gustav Freytags Journalisten (1852) und Émile Augiers Les fils des Giboyer (1862) und bezieht den Handlungsablauf im Reigen (1900) transgenerisch zurück auf die Liaisons dangereuses (1782) von Choderlos de Laclos.31 Zum 60.  Geburtstag würdigt Auernheimer 1922 Schnitzlers Schriften der letzten zehn Jahre und hebt die Dichte der Evokationen Casanovas hervor, der nicht nur der titelgebende Antiheld der Novelle Casanovas Heimkehr (1918) ist, sondern auch den Liebhaber der Schwestern (1919) darstellt und modernisiert in der Figur des Schauspielers Herbot in der großen Szene (1915) wieder auftauche.32 Intratextuell führt Auernheimer diese Figur zurück auf das Frühwerk Schnitzlers, wenn er ausführt  : »Casanova, so wie ihn der reife Schnitzler auf verschiedenen Lebensstufen und in verschiedenen Verhüllungen sieht, ist nichts anderes als der ins Große stilisierte Anatol«.33 27 Auernheimer  : Ein Wort über Flaubert. Anläßlich seines hundertsten Geburtstages, in  : Neue Freie Presse vom 11. Dezember 1921, S. 1 ff., hier S. 1. 28 Vgl. hierzu Achim Aurnhammer  : Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin, Boston 2013. 29 Vgl. Auernheimer  : Der Weg ins Freie, in  : Neue Freie Presse vom 3. Juni 1908, S. 1 ff., hier S. 2. 30 Vgl. Auernheimer  : »Liebelei« und »Komtesse Mizzi«. (Zur Erstaufführung am Deutschen Volkstheater), in  : Neue Freie Presse vom 10. Januar 1909, S. 1 ff., hier S. 2. 31 Vgl. Auernheimer  : Arthur Schnitzlers neue Komödie, in  : Neue Freie Presse vom 15.  November 1917, S. 1 ff., hier S. 1. Ders.: Schnitzlers »Reigen« auf der Bühne (Anm. 26), S. 2. 32 Vgl. Auernheimer  : Arthur Schnitzler zum sechzigsten Geburtstag (Anm. 22), S. 2. 33 Ebd.

»Meine Siege auf Schnitzler« 

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b) Zweifelhaftes Lob und generöse Distanzierungen

Anlässlich der Verleihung des Grillparzer-Preises an Schnitzler im Jahr 1908 vergleicht Auernheimer (den bereits drei Mal mit dem Preis ausgezeichneten) Gerhart Hauptmann mit Schnitzler und kommt gelegentlich zu (für Schnitzler) nicht restlos schmeichelhaften Gegenüberstellungen, wenn er etwa wertet  : »Hauptmann ist zweifellos die größere Natur und Schnitzler der feinere Intellekt«.34 Zur Erstaufführung der Komtesse Mizzi (1908) am Deutschen Volkstheater 1909 blickt Auernheimer noch einmal zurück auf die Liebelei (1895) und kennzeichnet das Drama als »dieses schlanke, schmächtige, beim ersten Anschauen etwas dürftige Stück«.35 Zwar sind solche Aussagen gebettet zwischen warm würdigenden Worten, aber dennoch bleiben sie auffällig. Selbst in den huldigenden Essay zum 50.  Geburtstag schleichen sich 1912 völlig überflüssige Ausschlussmanöver aus der ersten Reihe der Weltliteratur  : »In die Schneeregion der zeit­ losen Literatur ragt sein vorderhand noch blonder Scheitel nicht hinein, aber ein großer Schriftsteller seiner eigenen Zeit zu sein, ist auch etwas, ist vielleicht alles, und diesen Ehrenplatz wird man Schnitzler nicht abstreiten können«.36 Litotische Verdrehungen und meiosische Pirouetten, correctio-Formeln und relativierende »Vielleichts« dokumentieren, wie schwer sich Auernheimer damit tut, uneingeschränkt zu loben. Ende der 1920er Jahre trägt Frieda Pollack Schnitzler die Verstimmung Auernheimers zu, immer noch als Epigone Schnitzlers zu gelten und von ihm persönlich vernachlässigt zu werden. Im Tagebuch notiert Schnitzler ziemlich ausführlich  : Kolap berichtet von Auernheimer, der sich gekränkt über mich äußert  ; er sei weiter mein Verehrer etc.; – aber nun sei er auch um 50  ; – man höre auf »Jünger« zu sein  ; – wenn einem Gefühl (oder dgl.) so wenig erwidert werde, werde man müd  ; immer melde er sich  ; nie riefe ich ihn u.s.w. u.s.w. Im wesentlichen stimmt es […]. Dass ich ihn in der letzten Zeit nicht zurückgeladen habe (nachdem ich bei ihm mit Tristan Bernard und mit Claude Farrère zusammen war), nimmt er mir gesellschaftlich mit Recht übel  ; aber das »Hausführen« ohne Hausfrau macht mir nun einmal wenig Spass.37

Schnitzler vermutet in diesem Tagebucheintrag auch, dass Auernheimer sich möglicherweise in Schnitzlers seltsamen Diagrammen (wahrscheinlich in der Figur des Literaten 34 35 36 37

Auernheimer  : Der Umschwung, in  : Neue Freie Presse vom 26. Januar 1908, S. 1 ff., hier S. 2. Auernheimer  : »Liebelei« und »Komtesse Mizzi« (Anm. 30), S. 2. Auernheimer  : Arthur Schnitzler (Anm. 21), S. 1. Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1927–1930. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1997, Tagebucheintrag vom 19. März 1927, S. 30 f.

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und/oder des Feuilletonisten) porträtiert gesehen hat.38 Auernheimers Enttäuschung, von Schnitzler gesellschaftlich links liegen gelassen worden zu sein, hat sich möglicherweise in dieser Zeit vertieft, und es scheint immerhin möglich, dass seine detaillierte und etwas mäkelige Rezension von Schnitzlers letztem Roman Therese (1928) ein Jahr später auch noch etwas mit diesem beleidigten Gefühl, zu Unrecht nicht beachtet zu werden, zu tun hat. Die Rezension der Therese schließt mit dem generösen und von oben herab formulierten Satz  : »Man kann das Thema des Gouvernantenromans nicht großmütiger umschreiben, als Schnitzler es in diesen Zeilen tut, und so scheidet man am Ende seiner ergreifenden Erzählung mit einem leisen Bedauern, daß der Dichter den Roman, den er umschreibt, nicht auch geschrieben hat«.39 Dieses Urteil, dass Schnitzler seinen (ihn so viel Mühe kostenden) Roman lediglich »um-«, aber nicht »geschrieben« habe, führte natürlich bei Schnitzler zu Missmut, den er auch in einem Brief an Auernheimer artikulierte, woraufhin Auernheimer wiederum wortreich erläuterte, wie er das denn nun so gemeint habe.40 Man vertrug sich wieder, aber Verstimmungen blieben doch auf beiden Seiten. Schließlich erinnerte sich Auernheimer in seinen im amerikanischen Exil verfassten autobiographischen Notizen noch einmal zurück an seine Begegnungen mit Arthur Schnitzler im Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Zwar schwärmt er dort noch ostentativ  : »Meine persönliche Beziehung zu Schnitzler gehört zum Besten, was mir das Leben vergönnt hat«,41 und zitiert auch sich selbst bestätigend einen alten Huldigungsbrief  : »Ich könnte nicht drei Schriftsteller nennen, denen ich so viel zu danken hätte wie Ihnen, und nicht einen, dem ich, was ich ihm verdanke, lieber verdanke«.42 Gleichzeitig mischt sich in die Erinnerung an die Jahrhundertwende aber ein intertextuell nur leicht

38 Vgl. auch den Brief von Auernheimer an Schnitzler vom 14.  Februar 1927 und die Antwort von Schnitzler tags darauf in  : The Correspondence of Arthur Schnitzler and Raoul Auernheimer. With Raoul Auernheimer’s Aphorisms. Hg. von Donald G. Daviau und Jorun B. Johns. Chapel Hill 1972, S. 64 ff. Zu diesen späten Diagrammen in Schnitzlers Der Geist im Wort und der Geist in der Tat vgl. Cristina Fossaluzza  : »O du mein Österreich«. Kritik an der Kulturkritik in Schnitzlers Komödien-Projekt, in  : Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938). Hg. von Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher. Heidelberg 2019, S. 143–160, hier S. 149–152. 39 Auernheimer  : Gouvernanten-Roman. »Therese« von Arthur Schnitzler. S. Fischer Verlag, in  : Neue Freie Presse vom 22. April 1928, S. 1 ff., hier S. 3. 40 Dokumentiert in  : The Correspondence of Arthur Schnitzler and Raoul Auernheimer (Anm. 38), S. 67–71. 41 Auernheimer  : Aus unserer verlorenen Zeit. Autobiographische Notizen 1890–1938. Mit einem Nachwort von Patricia Ann Andres. Wien 2004, S. 84. 42 Ebd. Auernheimer zitiert hier aus der Erinnerung nicht seinen Geburtstagsbrief an Schnitzler, sondern einen Brief vom 2. Oktober 1912, in  : The Correspondence of Arthur Schnitzler and Raoul Auernheimer (Anm. 38), S. 40 f.: »Ich wüßte keine drei Schriftsteller zu nennen, denen ich künstlerisch ebenso viel zu verdanken hätte wie Ihnen und keinen einzigen, dem ich, was ich zu danken habe, lieber verdanke«.

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camouflierter Spott. Auernheimer schildert Schnitzlers Äußeres in seiner Autobiographie wie folgt  : Schnitzler war, als ich ihn kennenlernte, etwas über vierzig Jahre alt. Aus dem ärztlichen Stand hervorgegangen, sah er, wie die meisten Ärzte jenes Zeitalters, weniger wie ein Arzt aus als wie ein Maler, und wenn Maler, dann Van Dyk. Seine Personenbeschreibung ist auf der ersten Seite von Wassermanns »Der goldene Spiegel« verbüchert, wo der große Erzähler die »Freunde« ziemlich porträtähnlich beschreibt. Ich war anwesend, als er den Anfang seines damals neuen Buches den »Freunden« vorlas und einen der Betroffenen mit den Worten kennzeichnete  : Er hatte – ich zitiere aus dem Gedächtnis – einen scharfen Malerblick, einen tabakblonden Spitzbart und war etwas unter mittelgroß, zur Beleibtheit neigend, »aber immerhin elegant«. »Warum immerhin  ?« unterbrach Arthur Schnitzler mit einem seiner lustigen Zwischenrufe die kaum erst begonnene Vorlesung.43

Auernheimer schützt hier wohl auch vor, »aus dem Gedächtnis« zu zitieren, weil Schnitzlers Schlüsselporträt in Wassermanns Erzählungssammlung Der goldene Spiegel (1911) noch sehr viel direkter Schnitzlers Embonpoint benennt und zudem seine Hypochondrie aufs Korn nimmt. Auernheimer funktionalisiert den Literaturverweis hier zu einem ausgelagerten Hieb. So bleibt die Autobiographie an der Oberfläche im Ton huldigend  ; wenn man sich aber die Mühe macht, Auernheimers peinlich genauem Hinweis auf »die erste Seite von Wassermanns ›Der goldene Spiegel‹« nachzugehen, wird das Dichterlob schon ambivalenter. Die bei Wassermann zu einem Rudolf Borsati fiktionalisierte literarische Figur war Arzt, mittelgroß von Figur, ziemlich fett, doch immerhin elegant in der Erscheinung, von Bart und Haar blond wie türkischer Tabak, von Gemütsart verträglich, schmiegsamen Geistes und in den Manieren von charaktervoller Liebenswürdigkeit. Die Klientel brachte ihm nur geringen Verdienst, er selbst war sein treuester Patient, denn er beobachtete mit aufmerksamer Hypochondrie die Entstehung und den Wechsel einer großen Zahl von Krankheiten in seinem eigenen Körper.44

Die von Auernheimer erwähnte Lesung aus dem goldenen Spiegel fand am 26.  Januar 1911 statt und es spricht für Schnitzler, dass er im Tagebuch nicht pikiert das spöttische Schlüsselporträt auf ihn selbst, sondern die ästhetische Qualität von Wassermanns Text insgesamt festhielt  : »Dann las W[assermann] bei Schmidls vor diesen, mir, O[lga 43 Auernheimer  : Aus unserer verlorenen Zeit (Anm. 41), S. 84. 44 Jakob Wassermann  : Der goldene Spiegel. Erzählungen in einem Rahmen. Berlin 1922, S. 1.

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Schnitzler], Auernheimer aus ›Der goldne Spiegel‹ vor. Außerordentlich. Konnte gewisse Erzählungen daraus nur mit Kleist vergleichen«.45 Diesem bibliographischen Umweg und intertextuellen Verweis von Auernheimer auf Wassermann wurde hier kurz nachgegangen, weil auch in Auernheimers Schlüsselnovelle Der Dichter die Körperfülle des anonymen Protagonisten eine Spur zur Identifizierung des komischen Helden legt. c) Auernheimers Schmähnovelle Der Dichter (1905)  : Eine Personalsatire auf Schnitzler und Travestie auf Frau Bertha Garlan (1901)

Auernheimers kurze Erzählung Der Dichter handelt von der missglückten Begegnung eines berühmten Wiener Schriftstellers mit einem weiblichen Fan aus der oberösterreichischen Provinz, der sich ihm brieflich zu nähern sucht. Fräulein Mathilde schreibt einem namenlos bleibenden Dichter schwärmerische Briefe, allerdings mehr aus Langeweile denn aus großen Gefühlen. Der geschmeichelte, eitle und stets an neuen erotischen Kontakten interessierte Dichter schreibt zurück. Es entspinnt sich eine tändelnde Korrespondenz. Als der Dichter um ein Bild der brünetten Mathilde bittet, legt diese die Fotografie einer verstorbenen blonden Freundin bei, worauf der Dichter amourös entbrennt und ein baldiges Treffen nach einer »Vorlesungstournee« (362) auf der Rückfahrt nach Wien zu arrangieren versucht. Mathilde steigt in Salzburg in den Zug, in dem der Dichter zu ihrem anberaumten Treffen in Attnang fährt, aber sie gibt sich ihm nicht zu erkennen (er erwartet ja eine Frau anderen Aussehens). Obwohl der Dichter zu dem Treffen mit der heiß ersehnten Brieffreundin unterwegs ist, spricht er ganz begeistert Fräulein Mathilde im Zug an und versucht, sie mit exakt den gleichen Geschichten und Komplimenten zu beeindrucken, die er bereits brieflich gegenüber Mathilde geäußert hatte. Während er epistolarisch der vermeintlich blonden Mathilde in einer rührseligen Geschichte erläuterte, dass er auch deshalb so von ihr affiziert sei, weil sie ihn an eine einstige Affäre mit einer blonden Geliebten vor zehn Jahren gemahne, versichert er im Zug mündlich seinem brünetten Gegenüber, dass es ihn an eine zehn Jahre zurückliegende Liebe auch wegen seiner Haarfarbe erinnere. Als in Attnang am Bahnhof nicht die erwartete (vermeintlich blonde) Brieffreundin zu sehen ist, bleibt der Dichter im Zug sitzen und intensiviert seine werbenden Bemühungen um die Brünette, macht sich über die »kleine Mamsell« (363) vom Land, die ihm schrieb, lustig und verärgert damit natürlich Mathilde nachdrücklich, die sich ihm weiterhin nicht zu erkennen gibt, aber an einer der nächsten Stationen aussteigt. Der 45 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1909–1912. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Maria Neyses, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1981, Tagebucheintrag vom 26. Januar 1911, S. 214.

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Dichter hört nichts mehr von seiner neuen Bahnbekanntschaft und schreibt wieder seiner Attnanger Korrespondenzpartnerin, die erst einmal nicht reagiert, aber schließlich »nach einigen Wochen« (363) ihre Briefe zurückverlangt, ohne den wahren Grund hierfür direkt zu nennen. Verschlüsselt allerdings gibt Mathilde dem Dichter Signale, dass es sich bei des Dichters Briefpartnerin in Personalunion auch um die Zugbekanntschaft handelt und der Dichter mithin einer kleinen Kabale aufgesessen ist. Während des Bahngeplauders hatte Mathilde geschwindelt, mit einem Buchhalter verheiratet zu sein, und sie stieg aus dem Zug in Linz aus. In ihrem Absagebrief, der »kurz und förmlich« ausfällt, erklärt sie dem Dichter kühl, sie heirate demnächst »einen Buchhalter in Linz« (363). Der Dichter reagiert postwendend  : »Tags drauf kam ein kleines Paket, und darauf stand nebst der Adresse  : ›Inhalt — Briefe. Wert — 0.‹ Der Dichter war beleidigt.« (363) So endet diese kurze Erzählung, der Auernheimer den gattungsästhetischen Untertitel »Skizze« gab, um den verspielten Entwurfscharakter zu betonen. Der namenlose Protagonist ist leicht als literarische Schnitzler-Karikatur zu erkennen, immer auf der Suche nach einem amourösen Abenteuer.46 Auernheimers Wiener Erfolgsschriftsteller wird auch phänotypisch an den im April 1905 gerade noch 42-jährigen Schnitzler angeglichen, »bei Beibehaltung der äußeren Kennzeichen«, wie Olga Schnitzler bemerkte, und Übertreibung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Der Dichter ist ein »Mann von vierzig Jahren« (363) mit Bart. Allerdings macht er in der Realität des Salzburger Bahnhofs bei weitem nicht den erwarteten Eindruck auf Mathilde, die den Dichter optisch von gestellten, schon ein wenig älteren Porträtfotografien her kennt. Mit spitzer Feder beschreibt Auernheimer Mathildes Erkennensmoment  : Im Speisesaal des Salzburger Bahnhofs, eine halbe Stunde vor Abgang des Zugs, erblickte sie denn auch zum erstenmal ihren Heros. Sie war sofort enttäuscht, wie man es immer ist, wenn man einer Berühmtheit zum erstenmal gegenübersteht. Zwar der Kopf mit dem fächerförmig gestutzten Bart, der ein wenig absichtlich an Daudet erinnerte, war der gleiche wie auf dem Bild — freilich um zehn Jahre älter. Aber Mathilde hatte sich zu diesem Kopf eine große, schlanke Männergestalt gedacht, und der Dichter war klein und dick. Er hatte sogar einen Bauch. Fräulein Mathilde war ganz erschrocken, daß dieser gefeierte Erotiker einen Bauch besaß. (362)

In seinem milden autobiographischen Rückblick wird Auernheimer Schnitzler als »etwas unter mittelgroß, zur Beleibtheit neigend« beschreiben,47 in der fiktionalen Perso46 Zur zeitgenössischen Bekanntheit von Schnitzlers erotischer Umtriebigkeit vgl. etwa Johannes Sachslehner  : Alle, alle will ich. Arthur Schnitzler und seine süßen Wiener Mädel. Wien 2015. 47 Auernheimer  : Aus unserer verlorenen Zeit (Anm. 41), S. 84.

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nalsatire von 1905 ist er dann doch etwas direkter und weniger euphemistisch, hier ist der Dichter schlicht »klein und dick. Er hatte sogar einen Bauch«. Das in die Jahre gekommene Foto schien noch einen etwas anderen Eindruck zu vermitteln. Die eitle Selbstinszenierung wird demaskiert als bloß kopierende Pose, wenn des Dichters Barttracht »ein wenig absichtlich an Daudet erinnerte«.48 Auernheimers Dichter wird wie Schnitzler für sein Frühwerk als »Erotiker« gleichermaßen gefeiert wie angefeindet. Feuilletonistisch hat Auernheimer später die erotischen Themen des frühen Schnitzler als altersgemäß verteidigt  : »Wohl ist Schnitzler, wie jeder, der sich an die Goethesche Maxime des Erlebnisses hält, in einem gewissen Alter vom erotischen Erlebnis als dem nächstliegenden ausgegangen. Aber er ist niemals darin untergegangen«.49 Der allwissende Erzähler charakterisiert seinen Dichter darüber hinaus als »gewissenhafte[n] Psy­chologe[n]« (362), der im Gespräch »wie ein Arzt fragt, wenn er seine Diagnose bildet« (363)  ; auch dies sind weitere überdeutliche Anspielungen auf die psychologische Schreibweise des Mediziners Schnitzler, der in einem berühmt gewordenen Zitat einmal geäußert haben soll  : »Meine Werke sind lauter Diagnosen«.50 Über das Lebensalter, den Beruf (gefeierter Wiener Schriftsteller), die Optik (Bart und Bauch) und das Werkprofil (psychologisches Interesse, medizinischer Stil und erotische Sujets) macht Auernheimer seinen namenlosen Protagonisten für den literaturkundigen Zeitgenossen so als komisches Zerrbild Schnitzlers erkennbar. Satirisch überzeichnet werden Eitelkeit, Gefallsucht und Selbstbewusstsein des Dichters  : So kann der Dichter »gegen Leute, die anbetend vor ihm im Staub lagen, leutselig sein […] wie Kaiser Franz Josef« (361) und er verfügt auch herrschergleich über einen »reichsunmittelbaren Dichterblick« (362). Als er sich Mathilde im Zug unter seinem richtigen Namen vorstellt, tut er dies »scheinbar nachlässig, aber mit einem lauernden Beobachterblick« (363), ob sie ihn denn auch kennt. Der Dichter lächelt »blasiert« (363) und nimmt die Begeisterung seines Fans »nachsichtig und geduldig entgegen« 48 Daudet scheint für Auernheimer nicht nur ein Modevorbild Schnitzlers, sondern er stellte auch Ähnlichkeiten vom ersten Kapitel von Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie zu Daudets Romanbeginn Sappho fest (vgl. Auernheimer  : Der Weg ins Freie [Anm.  29], S. 2). 49 Auernheimer  : Der Umschwung (Anm. 34), S. 3. 50 Dieses umher wandernde Zitat wird allerdings selten exakt belegt. Richard A. Bermann (alias Arnold Höllriegel) meinte sich an diesen Ausspruch Schnitzlers während des Ersten Weltkriegs zu erinnern und dokumentierte dies 1931 nach Schnitzlers Tod  : Arnold Höllriegel  : Erinnerungen an Schnitzler, in  : Berliner Tageblatt vom 24. Oktober 1931, Morgen-Ausgabe, Nr. 502, erstes Beiblatt. In seiner Autobiographie erinnerte Bermann/Höllriegel allerdings den Wortlaut etwas anders  : »›Alle Gestalten, die ich schildere, sind Fälle  ; und so möchte ich sie verstanden wissen  !‹ Nie habe ich diese ersten Worte vergessen, die er zu mir sagte, noch ihn, wie er damals vor mir stand« (Richard A. Bermann alias Arnold Höllriegel  : Die Fahrt auf dem Katarakt. Eine Autobiographie ohne einen Helden. Mit einem Beitrag von Brita Eckert hg. von Hans-Harald Müller. Wien 1998, S.  165). Für bibliographische Recherche in diesem Fall sei Ilon Jödicke und Hannah Schultes (B. A.) herzlich gedankt.

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(363). Der Erzähler macht sich über seinen Protagonisten lustig mit dem Seufzer  : »Was sagt ein Dichter nicht alles, wenn er einer schönen Blondine gefallen will« (362). Die umfangreiche Erfahrung des Dichters wird mehrfach angedeutet, so etwa, wenn die Sprache seiner Briefe gewürdigt wird als »diese weichen, warmen, gefährlichen Worte, die alle verschlungenen Wege kannten, die zum Herzen der Frauen führen und diese Wege wohl auch schon oft genug gegangen waren« (362). Das wird später noch einmal variierend wiederholt, wenn der Erzähler beschreibt, wie der Dichter Mathilde im Eisenbahncoupé den Hof macht, »diskret und vornehm, mit weichen, warmen, gefährlichen Worten, die so gut alle verschlungenen Wege kannten, die zum Herzen der Frauen führen, weil sie sie schon oft und oft gegangen waren« (363). Der eigentliche rezeptionsästhetische Reiz dieser kurzen Schmähnovelle entfaltet sich aber erst, wenn man sie nicht nur als Personalsatire auf den Autor Schnitzler betrachtet, sondern auch als Travestie und intertextuelle Antwort auf Schnitzlers lange Erzählung Frau Bertha Garlan (1901) versteht. Schnitzler vermittelte in diesem Text die Geschichte der verwitweten 32-jährigen Klavierlehrerin Bertha Garlan, die gelangweilt in der Provinz versucht, an eine frühere Beziehung mit einem ehemaligen Kommilitonen im Musikstudium, der jetzt ein gefeierter Geigenvirtuose geworden ist, anzuknüpfen. Sie schreibt diesem berühmten Musiker einen Brief, arrangiert ein Treffen in Wien und knüpft große Hoffnungen an die Wiederbegegnung. Er hingegen ist nach einer gemeinsamen Nacht nicht an einer engeren Beziehung mit Bertha interessiert. Bertha bleibt allein in der Provinz zurück. Auernheimer kannte Frau Bertha Garlan gut.51 Auf eine Parodie der auffälligen und innovativ subjektivierenden Erzählweise von Frau Bertha Garlan verzichtet Auernheimer  : Der Dichter ist traditionell auktorial erzählt und nullfokalisiert. Dass er sich im Dichter aber dennoch augenzwinkernd, zugleich imitierend und distanzierend, auf Frau Bertha Garlan bezog, hat Auernheimer vielfach markiert und sein intertextuelles Erzählen steht dabei wiederum in der Schuld von Schnitzlers Schreibverfahren. Der Dichter und Frau Bertha Garlan weisen in ihrer Exposition viele inhaltliche Paral­lelen auf und man kann mithin für den Erzählbeginn von Auernheimers Novellette von einer Travestie sprechen als einer »komisierenden Übernahme thematischer Elemente aus einem Einzelwerk«.52 In beiden Erzählungen geht es um das Zusammentreffen eines berühmten Künstlers aus der österreichischen Metropole mit einer kleinbürgerlichen Bewunderin aus der Provinz. Die weiblichen Figuren nehmen den Kontakt jeweils durch einen Brief auf. Zugfahrten spielen in beiden Texten eine wichtige Rolle  : 51 Vgl. etwa die Bezugnahmen auf Frau Bertha Garlan bei Auernheimer  : Der Weg ins Freie (Anm. 29), S. 1. Ders.: »Liebelei« und »Komtesse Mizzi« (Anm. 30), S. 3. 52 Theodor Verweyen, Gunther Witting  : Travestie, in  : Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jan-Dirk Müller. Bd. 3  : P–Z. Berlin 2007, S. 682 ff., hier S. 682.

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Während Schnitzler die Bahnfahrt aus der Hauptstadt zurück in die Provinz als Kulisse seiner (tag-)träumenden Protagonistin nutzt, macht Auernheimer das Eisenbahncoupé zum entscheidenden Handlungsort und die Zugreise zum novellistischen Wendepunkt. Beide männlichen Protagonisten sind beruflich erfolgreich, finanziell unabhängig und nicht an einer dauerhaften Beziehung, sondern an amourösen Abenteuern interessiert. Ihre Tourneen durch Europa haben in beiden Texten eine handlungstreibende Funktion und verbildlichen ihren großen künstlerischen Erfolg. Bei Schnitzler wird Bertha durch einen Zeitungsbericht über Lindbachs Europa-Tournee auf ihn wieder aufmerksam, und bei Auernheimer kommt es zur Begegnung zwischen dem Dichter und Mathilde auf dem Rückweg von einer »Vorlesungstournee durch Deutschland« (362). Die Frauen­ figuren hingegen fristen in der Provinz ein unzufriedenes und finanziell eingeschränktes Leben  : Bertha Garlan muss sich ihre Witwenpension durch Klavierlektionen aufbessern, und Mathilde verdient ihren Lebensunterhalt als Gouvernante. Mathilde und Bertha haben zudem jeweils beide eine äußerst attraktive Freundin  : Während Mathildes blonde Freundin zur Handlungszeit bereits verstorben ist, stirbt die Freundin Berthas, Anna Rupius, am Ende der Erzählung an den Folgen einer verpfuschten Abtreibung. Diese Freundinnen ermöglichen in unterschiedlicher Weise in beiden Texten indirekt die Begegnung mit dem Künstler. Beide Frauenfiguren langweilen sich in ihrem tristen Alltag und begreifen den initia­ tiven Briefkontakt auch als Maßnahme gegen die Langeweile  : »Freilich, mit diesem Hin und Her von Briefen, mit diesem zärtlich-koketten Versteckspiel zweier Herzen, die beide unbefriedigt waren und beide auf die Liebe warteten, war der langweilige Winter prächtig ausgefüllt« (362). Als der Dichter Mathilde auffordert, ihr Leben auf dem Land zu schildern, schreibt sie ihm  : »Ich spiele Ping-Pong, lese Novellen und warte auf die Liebe« (361), was in ähnlicher Weise auch auf Bertha Garlan zutrifft, deren Lektüre Gerstäcker’scher Trivialromane ebenfalls ihre Vorstellung vom Leben und der Liebe präformiert. Schnitzler betont in Frau Bertha Garlan die Gerstäcker-Lektüre, wenn es heißt, Bertha »setzte sich auf den Divan und blätterte in einem Roman von Gerstäcker, den sie schon zehnmal gelesen«.53 Über diese Ähnlichkeiten in Konfiguration und Handlung zu Beginn der Novellette stiftet Auernheimer narratorial einen intertextuellen Bezug und signalisiert dem zeitgenössischen Leser, dass hier auf einen bestimmten Erzähltext Schnitzlers angespielt wird.54 53 Arthur Schnitzler  : Frau Bertha Garlan. Hg. von Gerhard Hubmann und Isabella Schwentner unter Mitarbeit von Anna Lindner und Martin Anton Müller. Berlin, Boston 2015 (Werke in historisch-kritischen Ausgaben), S. 186. Im Folgenden wird Frau Bertha Garlan nach dieser Ausgabe im Fließtext mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert. 54 Janik Richter danke ich für den Hinweis auf eine auch möglicherweise druckgraphische Markierung der Intertextualität  : Der Dichter wird durch drei Asteriske als Pausenzeichen in zwei Kapitel geteilt, die geo-

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Diese intertextuellen Hinweise auf Frau Bertha Garlan verdichten sich noch und werden expliziter, wenn der Dichter vorgibt, derzeit »einen Provinzroman zu schreiben« (361) und die ledige 23-jährige Mathilde wiederum dem Dichter brieflich vorspielt, »eine nicht mehr ganz junge Witwe mit drei Kindern« (361) zu sein. Mit beiden Lügen wird die Textwelt Frau Bertha Garlans evoziert, die in der Gattung des Provinzromans das Kleinstadtleben einer 32-jährigen Witwe mit Kind porträtiert. Mit diesem gattungsästhetischen Hinweis auf den »Provinzroman« kennzeichnet Auernheimer seinen Dichter zudem als einen Schriftsteller, der den Sujets der Wiener Moderne verpflichtet ist, die sich mit Hermann Bahr seit der Jahrhundertwende auch der Entdeckung der Provinz (1899) zuwandte. Noch mit einem weiteren Motiv wird ein zentraler Themenkomplex von Frau Bertha Garlan aufgerufen  : Schnitzler ließ seine Protagonistin in der Provinz in Erinnerungen an ihre Jugend in Wien schwelgen und dabei ihre Vergangenheit zunehmend uminterpretieren. Erinnerungskorrekturen und Schönfärbereien prägen den intern fokalisierten Text.55 Auernheimer wiederum lässt bei seinem Dichter das Verliebtsein vorgeblich aus einer Erinnerung heraus entstehen  ; er heuchelt, sich in die vermeintlich blonde Briefpartnerin zu verlieben, weil sie ihn erinnere an eine Zeit »vor zehn Jahren, als ich noch arm und unbekannt in der Tiefe lebte, aber eine süße blonde Freundin mein nannte, die ich liebte – und die mich liebte  !« (362) Im Zug im Gespräch mit Mathilde greift er diese Formel wieder auf und erläutert nun der brünetten Mathilde, dass sie ihn erinnere, »an eine Frau, die mir vor zehn Jahren sehr, sehr nahestand. […] Sie hatte Ihr Haar« (362). Mathilde erwidert diesen Erinnerungsdusel lachend mit den Worten  : »Sie erinnert wohl schon jede Frau an eine andere  ?« (363), woraufhin der Dichter dies bestätigt (»Jawohl  !« [363]) und danach einräumt  : »Aber das macht nichts. Man liebt doppelt  : in der Gegenwart und in der Erinnerung« (363). Auf der Ebene des Figurenwissens ist diese sentimentale Beschwörung der Vergangenheit lediglich ein (grandios scheiternder) Flirt-Trick des Dichters. Intertextuell hingegen verweist Auernheimer so auch auf ein zentrales Thema in Frau Bertha Garlan und eine fundamentale Denkfigur im Werk Schnitzlers überhaupt, die auch als »Poetik der Erinnerung« von der Forschung beschrieben worden ist.56 Wie wichtig die Erinnerung für die Identitätskonstruktion von Schnitzlers Figuren ist, zeigt auch die Aussage des Vaters in Liebelei, der seiner Tochter Christine das Verhältnis zu Fritz gönnt, damit sie metrisch exakt gleich angeordnet sind wie die Kapitelunterteilungszeichen des Vorabdrucks von Frau Bertha Garlan in der Neuen Deutschen Rundschau 12, 1 (1901), S. 41–64, 181–206 und 237–272  : Es handelt sich dabei um ein durch drei Asteriske angedeutetes, auf der Spitze stehendes, stumpfwinkliges Dreieck. Das mag Zufall sein, ist aber auffällig, weil in der Zeitschrift Die Woche sonst Kapitelunterteilungen graphisch meist anders gehandhabt wurden. 55 Vgl. Michael Scheffel  : Arthur Schnitzler. Erzählungen und Romane. Berlin 2015, S. 56 ff. 56 Vgl. Konstanze Fliedl  : Arthur Schnitzler. Poetik der Erinnerung. Wien, Köln, Weimar 1997.

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sich im Alter daran erinnern könne  : »Sie können mir erzählen, was Sie wollen – die Erinnerungen sind doch das Beste, was sie von Ihrem Leben haben«.57 Zu einer dialogisch korrigierenden Antwort auf Frau Bertha Garlan avanciert Auern­ heimers Novellette Der Dichter, indem sie das Verhältnis zwischen männlichem Künstler und weiblichem Fan in der zweiten Hälfte des Textes gegenüber Schnitzlers Vorlage inhaltlich umkehrt. Hier verfährt Auernheimers intertextuelles Erzählen nicht mehr nach dem Modus der Travestie als einer inhaltlichen Imitation, sondern invertiert die Positionen von Mann und Frau. Während Bertha beim ersten Zusammentreffen mit ihrem Künstler begeistert von dessen blendender Erscheinung ist (»jung, schlank, vornehm, etwas blaß, mit einem Lächeln, das nicht ganz ohne Spott scheint« [199]), mustert Mathilde am Bahnhof ihren Dichter und ist bestürzt, dass er »zehn Jahre älter« (362) als gedacht und zudem »klein und dick« (362) ist. Das Aussehen von Berthas Künstler entspricht in etwa der Wunschvorstellung, die sich Mathilde von ihrem Dichter macht, die aber der Realität nicht standzuhalten vermag. In Frau Bertha Garlan bittet die Protagonistin nach der gemeinsamen Nacht um ein baldiges weiteres Treffen, das der viel beschäftigte Musiker lässig abzuwehren weiß. Der Dichter hingegen kommt erst gar nicht erotisch zum Zug, sondern wird vorab von Mathilde zurückgewiesen. Auch schon in der Korrespondenzphase ist der Dichter emotional engagierter als Mathilde, die an ihrem »kleinen Gouvernantenschreibtisch« in der Provinz die Situation realistisch und nüchtern reflektiert  : »Was die Zukunft dieser Beziehung anlangt, machte sie sich keine Sorgen. Derlei Beziehungen haben ja ohnehin keine Zukunft, dachte sie. ­Eines Tags wird ihm eine andere schreiben, deren Parfüm ihm neu ist, und deren Stil ihm besser gefällt« (362). Bemüht sich bei Schnitzler Bertha dann brieflich umsonst um ein zweites Rendezvous, so schreibt bei Auernheimer der Dichter vergeblich an Mathilde. Auch wenn die Schnitzler-Forschung gern betont, dass der Autor seiner kurzen Affäre mit der Jugendfreundin Fanny Lawner (der er ähnlich kühl eine Absage erteilte wie in der Fiktion sein Geigenvirtuose Bertha58) poetisch Gerechtigkeit widerfahren ließ, indem er ihrer beider Geschichte literarisch aus der weiblichen Perspektive einfing,59 so dominiert doch bei Schnitzler die Figurenkonstellation von entspannt souverän sich abwendendem Helden 57 Arthur Schnitzler  : Liebelei. Schauspiel in drei Akten, in  : Ders.: Die dramatischen Werke. Erster Band. Frankfurt a. M. 1962 (Gesammelte Werke), S. 244. 58 Schnitzlers viel zitierte, lapidare Tagebuchnotiz vom 27. Mai 1899 lautet  : »Fännchen abgeschrieben« (Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1893–1902. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Konstanze Fliedl, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1989, S. 307). 59 Vgl. etwa Elsbeth Dangel-Pelloquin  : Frau Berta Garlan. Unvermutete Gefühle – ratloses Staunen, in  : Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen. Hg. von Hee-Ju Kim und Günter Saße. Stuttgart 2007, S. 89– 100, hier S. 93.

»Meine Siege auf Schnitzler« 

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und zurückgewiesenem melancholisch enttäuschtem Provinzgroupie.60 Dieses Verhältnis dreht Auernheimer um  : Mathilde bewahrt in jedem Moment die Kontrolle über die Situation, die Bertha Garlan hingegen nie hatte. Während bei Schnitzler er geht und sie ›mit nassem Blick‹ zurückbleibt, gibt im Dichter die Frau dem Mann den Abschied  ; der Mann bleibt als Genarrter verschmäht und »beleidigt« (363) zurück. Beide Erzählungen erheben den Verliererpart jeweils zur titelgebenden Gestalt. Man könnte hier auch von einer korrigierenden Renarrativierung sprechen,61 die eine bekannte Geschichte umerzählt, und so in der Fiktion den symbolischen Kampf um literarisches Prestige innerhalb der Wiener Moderne mit den Mitteln der Personalsatire und Travestie auszufechten versucht. Das, was Frau Bertha Garlan zu einem ästhetisch avancierten heterodiegetischen Erzählexperiment macht (nämlich die fixierte interne Fokalisierung in Form der intensiv genutzten erlebten Rede), kappt Auernheimer und reduziert die Vorlage damit zu einer banalen Anekdote, deren satirische Umschrift ihre intertextuelle Komik aus den vertauschten Positionen von Mann und Frau am Ende der Erzählung erhält. Deutlich wird mit dieser Literatursatire, dass Auernheimers Schnitzler-Heroisierung ihre Grenzen hat und keinesfalls so ungebrochen war, wie es sich einigen entfernteren Zeitgenossen, wie etwa Franz Blei, und auch noch neueren Forschungen zu Randgestalten der Wiener Moderne darstellte.62 Die Spannung zwischen etabliertem Positionsinhaber (Schnitzler) und unruhig werdendem Positionsanwärter (Auernheimer) im literarischen Feld schlägt sich deutlich im intertextuellen Erzählen Auernheimers nieder, das in der Fiktion den Dichter-Heros vom Sockel holt. Während Auernheimer sich Zeit seines Lebens (von der frühen Schmähnovelle Der Dichter [1905] bis zu den autobiographischen Aufzeichnungen im amerikanischen Exil) so mühsam an Schnitzler als Vorbild in fiktionalen und faktualen Texten abarbeitete, stand umgekehrt Schnitzler dem jüngeren Kollegen Auernheimer sehr viel gleichgül­ tiger gegenüber. Er verzieh im Jahr 1905 dem 29-jährigen Auernheimer sein literartur­ 60 Dass Schnitzler die autobiographische Ausgangssituation literarisch umdeutete und Fanny Lawners Anhänglichkeit an Schnitzler à la longue weit weniger ausgeprägt war als in der Fiktion Bertha Garlans Verlangen nach ihrem Jugendfreund, zeigt die Analyse der Briefe von Lawner an Schnitzler bei Isabella Schwentner  : »Wenn er mich manchmal im Scherz ›Bertha Garlan‹ nennt«. Franziska Lawners Briefe an Arthur Schnitzler, in  : Aufgehoben  ? Speicherorte, -diskurse und -medien von Literatur. Hg. von Susanne Eichhorn, Bernhard Oberreither, Marina Rauchenbacher, Isabella Schwentner und Katharina Serles. Würzburg 2017, S. 143–163. 61 Vgl. Renarrativierung in der Vormoderne. Funktionen, Transformationen, Rezeptionen. Tagung des GRK 1767 (»Faktuales und fiktionales Erzählen«). Hg. von Thorsten Glückhardt. Baden-Baden 2019. 62 Evelyne Polt-Heinzl etwa bilanziert das Verhältnis der Beiden recht sonnig  : »Schnitzler gegenüber hegte Auernheimer aufrichtige Bewunderung. […] Eine kurze Verstimmung Auernheimers aus ihrer gemeinsamen Zeit beim PEN […] hat daran nichts Prinzipielles geändert« (Polt-Heinzl  : Auernheimer, Raoul [Anm. 13]).

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satirisches Aufbegehren gegen die ältere Generation rasch, denn er schätzte in den folgenden Jahren Auernheimer zunehmend als angenehmen Gesprächspartner  ; so bezeichnete Schnitzler Auernheimer 1908 etwa nachdrücklich als einen »wirklich sym­pa­ thische[n] Mensche[n]«,63 blieb aber skeptisch, ob er ihn als Freund betrachten sollte. Während Schnitzler 1909 noch im Tagebuch reflektiert, dass Auernheimer als Freund »trotz gelegentlicher Begegnungen nicht in Betracht« kommt, ist er 1926 milder geworden und schreibt an Auernheimer als einen »Freund«.64 Immer wieder trafen die Schnitzlers und Auernheimers nicht nur in Wien, sondern auch in der Sommerfrische in Altaussee oder in Seis am Schlern für mehrere Wochen zusammen. Im brieflichen Austausch fand Schnitzler auch öfter freundliche Worte für Auernheimers literarisches Werk, das er gut kannte.65 Was er aber eigentlich von den Erzählungen Auernheimers hielt, vertraute Schnitzler seinem Tagebuch an  : »Fein, fleißig, aber doch schmächtig«.66

2. Filiationen unzuverlässigen Erzählens Leo Perutz und Arthur Schnitzlers Novellensammlung Dämmerseelen (1907)

Arthur Schnitzler hat immer wieder mit unterschiedlichen Formen unzuverlässigen Erzählens experimentiert. Besonders in seiner mittleren Schaffensperiode, in der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende, verfasste er vermehrt Texte, bei denen der Leser sukzessiv Zweifel an der Kompetenz oder Glaubwürdigkeit ihrer Erzähler anmeldet, weil diese Novellen Widersprüche und Brüche aufweisen, die nicht auf einen Fehler des Autors oder Selbstironie des Erzählers zurückzuführen sind.67 In der älteren Forschung war 63 Tagebucheintrag Schnitzlers vom 2. März 1908, in  : Schnitzler  : Tagebuch 1903–1908 (Anm. 10), S. 320. 64 Vgl. Tagebucheintrag von Schnitzler vom 1. Januar 1909, in  : Schnitzler  : Tagebuch 1909–1912 (Anm. 45), S. 37. The Correspondence of Arthur Schnitzler and Raoul Auernheimer (Anm. 38), S. 62 f. Gleichwohl muss hier natürlich der Äußerungskontext berücksichtigt werden  : selbstreflexives Tagebuchnotat versus an Auernheimer adressierter und zudem verspäteter Geburtstagsbrief. 65 Gegen Ende etwas enerviert klingt jedoch der Auernheimer-Eintrag in Schnitzlers Leseliste  : »Auernheimer – Rosen / Dame mit der Maske / Dodo / Gesellschaft / gu Köni / Herrgott / u. s. w. (so zieml. alles)« (Achim Aurnhammer [Hg.]  : Arthur Schnitzlers Lektüren  : Leseliste und virtuelle Bibliothek. Würzburg 2013, S. 62). 66 Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1913–1916. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1983, Tagebucheintrag vom 5. September 1916, S. 312. Später findet sich im Tagebuch auch noch einmal ein verärgertes Notat über Auernheimers Einakter Das ältere Fach als »über Gebühr abhängig« von Schnitzlers Komtesse Mizzi (vgl. Arthur Schnitzler  : Tagebuch 1920–1922. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1993, Tagebucheintrag vom 5. Oktober 1921, S. 235). 67 In Anlehnung an die Bestimmung des unzuverlässigen Erzählens bei Fabienne Liptay, Yvonne Wolf  : Ein-

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bereits öfter von der Ambiguität von Schnitzlers Erzählweise oder vom verrätselten Erzählen die Rede und gelegentlich sind solche »voreingenommenen Erzähler« bei Schnitzler auch analysiert worden.68 Eine umfassende monographische Untersuchung zum unzuverlässigen Erzählen bei Schnitzler auf der Grundlage der neueren narratologischen Forschung fehlt allerdings bisher.69 Im Jahr 1907 erschien Schnitzlers Novellensammlung Dämmerseelen, die mit Andreas Thameyers letzter Brief (1902) und Die Weissagung (1905) unter anderem zwei Texte enthielt,70 die verschiedene Formen unzuverlässigen Erzählens erprobten  : Während die monoperspektivische Brieferzählung einen komplexbeladenen autodiegetischen Selbstmordkandidaten präsentiert, der den Ehebruch seiner Frau zu vertuschen und die dunkle Hautfarbe ihres Kindes vergeblich (mit einer tollen Geschichte vom ›Versehen‹ seiner Gattin) zu erklären sucht, setzt Die Weissagung mit einer überraschenden nachgetragenen Herausgeberfiktion drei verschiedene homodiegetische Erzähler multiperspektivisch gegeneinander an, deren sich vorgeblich bestätigende und doch sich gegenseitig relativierende Berichte den Leser rätselnd zurücklassen, ob die (titelgebende) Weissagung eines Zauberers in der erzählten Welt magisch in Erfüllung gegangen ist, oder ob hier nicht vielmehr der Glaube an den Okkultismus und dämonische Kräfte als wirklichkeitsstiftende Macht einer selbsterfüllenden Prophezeiung psychologisch kritisch vorgeführt wird.71 Während im Fall der monoperspektivischen Brieferzählung leitung. Film und Literatur im Dialog, in  : Dies. (Hg.)  : Was stimmt denn jetzt  ? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005, S. 12–18, hier S. 13. 68 Martin Swales  : Arthur Schnitzler. A Critical Study. London 1971. Michaela L. Perlmann  : Arthur Schnitzler. Stuttgart 1987, S. 126 f. 69 Seit den 2000er Jahren interessiert sich auch die germanistische Literaturwissenschaft, inspiriert durch die anglistische Narratologie (hier vor allem  : Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Literatur. Hg. von Ansgar Nünning. Trier 1998. Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives. Hg. von Vera Nünning. Berlin 2015), vermehrt für das unzuverlässige Erzählen  : Tom Kindt  : Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen 2008. Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel. Hg. von Elke D’hoker and Gunther Martens. Berlin, New York 2008. Markus Fleckinger  : Der unzuverlässige Erzähler bei Leo Perutz. Eine Strukturanalyse unzuverlässigen Erzählens. Saarbrücken 2009. Kristian Larsson  : Masken des Erzählens. Studien zur Theorie narrativer Unzuverlässigkeit und ihrer Praxis im Frühwerk Thomas Manns. Würzburg 2011. Lisa Volpp  : Zwischen Irrtum und Lüge. Unzuverlässiges Erzählen in der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur der 1990er Jahre. Freiburg 2016. Janina Jacke  : Systematik unzuverlässigen Erzählens. Analytische Aufarbeitung und Explikation einer problematischen Kategorie. Berlin, Boston 2020. Das Journal of Literary Theory widmete 2011 und 2018 je ein Heft dem unzuverlässigen Erzählen mit germanistischen Beiträgen. 70 Auch die übrigen Erzählungen der Dämmerseelen (Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg, Das neue Lied und Die Fremde) spielen in unterschiedlicher Weise mit verrätseltem Erzählen und imaginieren merkwürdige Begebenheiten, deren Realitätsstatus fraglich erscheint. 71 Vgl. Michaela L. Perlmann  : Der Traum in der literarischen Moderne. Zum Werk Arthur Schnitzlers. München 1987, S. 92 ff. Louis Gerrekens  : Arthur Schnitzlers »Die Weissagung« oder wie aus schlecht erzähl-

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der Leser die Indizien für die Unzuverlässigkeit des Erzählten aus dem Bericht des auto­ diegetischen Erzählers selbst ziehen muss, der sich unbeabsichtigt selbstentlarvend in Widersprüche verstrickt, entstehen bei der Weissagung die Zweifel an der Zuverlässigkeit des Erzählten rezeptionsästhetisch aus dem multiperspektivischen narrativen Arrangement.72 Da hier in dem einen wie in dem anderen Text eine privilegierte auktoriale Belehrung am Ende fehlt, was in der erzählten Welt nun definitiv der Fall ist, sind manche Schnitzler-Leser unzufrieden nach der Lektüre gewesen, weil sie sich nicht sicher waren, ob sie es mit phantastischer Literatur oder mit einer unzuverlässigen Erzählung zu tun hatten. Sigmund Freud ist wohl der berühmteste dieser unzufriedenen Schnitzler-Leser gewesen, der in seiner Abhandlung über Das Unheimliche (1919) in der Literatur seinen Unmut artikulierte, dass Schnitzler in der Weissagung unentschlossen zwischen phantastischem und realistischem Erzählentwurf changiere. Für Freud blieb beim Leser »ein Gefühl von Unbefriedigung, eine Art von Groll über die versuchte Täuschung, wie ich es besonders deutlich nach der Lektüre von Schnitzlers Erzählung ›Die Weissagung‹ und ähnlichem mit dem Wunderbaren liebäugelnden Produktionen verspürt habe«.73 Während die frühe Schnitzler-Forschung Freuds Unbehagen über diese vermeintliche erzählerische Unentschiedenheit gefolgt ist,74 hat schon sehr bald ein begeisterter Schnitzler-Leser diese Kippfigur von phantastischer und unzuverlässig erzählter Deutbarkeit registriert und als eigentliche ästhetische Leistung gewürdigt  : Der junge Leo Perutz (1882–1957) hat 1908 (anlässlich der Verleihung des Grillparzer-Preises an Schnitzler) den Novellenband Dämmerseelen rezensiert. Eigens erwähnt Perutz dort die Erzählungen Die Weissagung und Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg (1904), in der Schnitzler die Möglichkeit eines todbringenden Fluchs zur erzählerischen Disposition stellt. Ähnlich wie in der Weissagung lässt es auch diese Novelle scheinbar in der Schwebe, ob der Fluch einer Figur in der erzählten Welt wirkt und sich bewahrheitet, tem Theater eine spannende Novelle wird, in  : Theatralisches Erzählen um 1900. Narrative Inszenierungsweisen der Jahrhundertwende. Hg. von Achim Küpper. Heidelberg 2011, S. 89–102. 72 Zum Zusammenhang von multiperspektivischem und unzuverlässigem Erzählen vgl. Felicitas Menhard  : Conflicting Reports. Multiperspektivität und unzuverlässiges Erzählen im englischsprachigen Roman seit 1800. Trier 2009. Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Hg. von Ansgar und Vera Nünning. Trier 2000. 73 Sigmund Freud  : Das Unheimliche, in  : Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften 5/6 (1919), S. 297–324, hier S. 322. 74 So etwa Gottfried Just  : Ironie und Sentimentalität in den erzählenden Dichtungen Arthur Schnitzlers. Berlin 1968, S. 126. Michael Imboden  : Die surreale Komponente im erzählenden Werk Arthur Schnitzlers. Bern, Frankfurt a. M. 1971, S. 96. So aber auch noch Zechelová  : Prosa der Wiener Moderne (Anm. 1), S. 39.

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oder ob der Freiherr von Leisenbohg stirbt, weil er an die Wirkung dieses Fluchs glaubt.75 Leo Perutz bewunderte an der Weissagung die raffinierte Art der Leserlenkung und die späten und überraschenden ›Twists‹ in Form der nachgetragenen Herausgeberfiktion. Plötzlich sieht der Leser, daß die Geschichte zu Ende ist und er allein steht. Da ist zum Beispiel die Novelle »Die Weissagung«. Der Leser steht noch unter dem Banne eines seltsamen, dunklen Ereignisses, eines Rätsels, für das Schnitzler selbst keine Lösung weiß, und bräche der Dichter jetzt ab, so wäre man unbefriedigt. Aber Schnitzler beginnt nun, von einer gleichgültigen Jugenderinnerung zu sprechen, auf die ihn eine zufällige Namensgleichheit gebracht hat, und der Leser vergißt an die Dinge, die ihn so in Spannung hielten, und hört zu, und plötzlich ist die Geschichte aus, und der Leser hat es gar nicht bemerkt.76

An Schnitzler schätzte Perutz besonders die Kunst des novellistischen Endens, denn »die letzten drei Zeilen der letzten Seite, das ist das Problem, an welchem die meisten Novellisten scheitern«.77Ausgehend von Perutz’ Würdigung von Schnitzlers fintenreicher Erzählkunst soll Perutz’ Novelle Nur ein Druck auf den Knopf (1930) nun als eine späte Reverenz an Schnitzlers Novellenband Dämmerseelen im Allgemeinen und an seine monologische Brieferzählung Andreas Thameyers letzter Brief (1902) und die okkultismuskritische Weissagung (1905) im Besonderen gelesen werden. Vielleicht ist es auch aus dieser deutlichen literarischen Verbeugung von Perutz vor seinem schriftstellerischen Vorbild zu erklären, dass Leo Perutz im Jahr 1930 Arthur Schnitzler seinen Erzählungsband Herr, erbarme dich meiner  ! (in dem Nur ein Druck auf den Knopf enthalten ist) zugesandt hat, und Arthur Schnitzler Perutz für diese Büchergabe auch enthusiastisch dankte mit dem Bekenntnis  : »Ich hab an Ihren Novellen eine wirkliche Freude gehabt«.78 Da der junge Perutz sich mit seinen schriftstellerischen Anfängen um Hilfe suchend in Wien an Richard Beer-Hofmann wandte,79 wurden bereits vereinzelt intertextuelle Bezüge hergestellt zwischen Perutz’ frühen Novellen und den innovativen Erzähltechniken des Jungen Wien, ohne aber besonders auf seine spezifischen Aneignungen und Transformationen des unzuverlässigen Erzählens einzugehen.80 Der Perutz-Forscher 75 Vgl. hierzu Scheffel  : Arthur Schnitzler (Anm. 55), S. 72–80. 76 Leo Perutz  : Schnitzler, in  : Ders.: Mainacht in Wien. Romanfragmente, kleine Erzählprosa, Feuilletons. Aus dem Nachlaß hg. von Hans-Harald Müller. Wien 1996, S. 206–210, hier S. 209. 77 Ebd., S. 208 f. 78 Postkarte Arthur Schnitzlers an Leo Perutz vom 4. Juli 1930, abgedruckt in  : Leo Perutz 1882–1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Erstellt von Hans-Harald Müller und Brita Eckert unter Mitwirkung von Werner Berthold. Wien 1989, S. 28. 79 Vgl. Hans-Harald Müller  : Leo Perutz. München 1992, S. 21 ff. 80 Reinhard Lüth untersucht in diesem Zusammenhang Perutz’ Erzählung Der Tod des Messer Lorenzo

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Hans-Harald Müller hat verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Perutz’ Erzählen an Schnitzler anknüpft, und er hat auch Nur ein Druck auf den Knopf mit einer anderen Erzählung Schnitzlers aus der Schaffensperiode zwischen der Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg (Das Tagebuch der Redegonda [1911]) vergleichend interpretiert.81 Aber eine intertextuelle Analyse von Schnitzlers Dämmerseelen und Perutz’ Novelle fehlt bisher. Sie scheint aber nicht nur angebracht, weil Figurenkonstellation (Dreiecks­ geschichte) und Themen (Okkultes, Ehebruch, gewaltsamer Tod und Eifersucht) sich enorm ähneln, sondern vor allem weil Schnitzler und Perutz gleichermaßen die Kippfigur zwischen phantastischer und unzuverlässig erzählter Lesbarkeit für den genauen Leser wohl eher zugunsten des unzuverlässigen Erzählens entscheiden.82 Die folgende Darstellung verbindet dabei eine narratologisch-intertextuelle Analyse mit einem erzähl­geschichtlichen Interesse und möchte illustrieren, dass das die Perutz-Forschung und germanistische Narratologie beschäftigende Phänomen des unzuverlässigen Erzählens bei Perutz sich literarhistorisch auch zurückführen lässt auf Schnitzlers narrative Experimente kurz nach der Jahrhundertwende.83 Die Wiener Moderne erweist sich hier als ein Ausstrahlungsphänomen weit ins 20.  Jahrhundert hinein. Friedrich Torbergs häufig zitiertes erzählgeschichtliches Bonmot, der Romancier Leo Perutz »könnte ­einem Fehltritt Franz Kafkas mit Agatha Christie entsprossen sein«,84 ließe sich daher Bardi  ; vgl. Reinhard Lüth  : Leo Perutz und das Fin-de-Siècle. Zu den literarischen Anfängen des Romanautors Leo Perutz und ihren Wurzeln in der Wiener Literatur um 1900, in  : Modern Austrian Literature 23 (1990), S. 35–53. Ders.: Leo Perutz und das Wiener Fin de siècle. Zu den literarischen Anfängen des Romanautors Leo Perutz und seiner frühen Erzählung »Der Tod des Messer Lorenzo Bardi«, in  : Quarber Merkur 26 (1988), S. 3–14. Jean-Pierre Chassagne  : Leo Perutz et le scepticisme viennois. L’ébauche d’une éthique du désenchantement. Saint-Étienne 2012. 81 Hans-Harald Müller  : Formen und Funktionen des Fantastischen im Werk von Arthur Schnitzler und Leo Perutz, in  : Fremde Welten. Wege und Räume der Fantastik im 21.  Jahrhundert. Hg. von Astrid Böger, Hans-Harald Müller und Lars Schmeink. Berlin, Boston 2012, S. 355–362. 82 Zum Zusammenhang von unzuverlässigem Erzählen und Phantastik vgl. Simone Lang  : Fantastische Unzuverlässigkeit und unzuverlässige Fantastik. Ein Beitrag zur Diskussion um die Rolle des Erzählers in der literarischen Fantastik, in  : Weltentwürfe des Fantastischen. Erzählen – Schreiben – Spielen. Hg. von Laura Muth. Berlin 2014, S. 17–29. Zu Perutz’ Stellung zum phantastischen Erzählen vgl. Bernd Auerochs  : Leo Perutz – ein moderner Klassiker der phantastischen Literatur, in  : Zeitschrift für deutschsprachige Kultur & Literatur 25 (2016), S. 223–245. 83 Zum unzuverlässigen Erzählen bei Perutz vgl. etwa Fleckinger  : Der unzuverlässige Erzähler bei Leo Perutz (Anm. 69). Fotis Jannidis  : Leo Perutz  : »Der Meister des jüngsten Tages«, in  : Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung  ; mit einem Erstabdruck der Novelle »von den traurigen Abenteuern des Herrn Guidotto«. Hg. von Tom Kindt und Jan Christoph Meister. Tübingen 2007, S. 49–67. Tom Kindt  : »Wahrheitsliebende Einbildungskraft«. Geschichte und Geschichtsschreibung bei Leo Perutz, in  : Schwellenräume – Schwellenzeiten in den Werken von Irène Némirowsky, Leo Perutz und Bruno Schulz. Hg. von Paula Wojcik und Elisabeth Johanna Koehn. Heidelberg 2016, S. 69–79. 84 Friedrich Torberg  : Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. München 1975, S. 141 f.

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durchaus variieren und wenn man für Leo Perutz eine solche literarische ›Ahnenforschung‹ projektiert, sollte Arthur Schnitzler als zentrale erzählerische Vaterfigur eine wichtige Rolle spielen. a) Okkultismus am Pranger in Schnitzlers Erzählung Die Weissagung (1904) und Perutz’ Nur ein Druck auf den Knopf (1930)

Mit dem Mittel des unzuverlässigen Erzählens werden sowohl in Schnitzlers Weissagung als auch in Perutz’ Nur ein Druck auf den Knopf Spiritismus und Okkultismus als heikle Modererscheinungen der frühen Moderne vorgeführt und kritisiert. In Die Weissagung berichtet ein namenlos bleibender Schriftsteller als homodiegetischer Erzähler von seiner Begegnung mit dem Offizier Franz von Umprecht, der wiederum diesem Schriftsteller erzählt, dass ihn vor zehn Jahren ein zwielichtiger Zauberer, in einer Art Hypnose, zehn Jahre in die Zukunft habe blicken lassen und er sich in dieser Vision tot auf einer Bahre liegend, umringt von Frau und Kindern habe sehen können. Seitdem habe er mit aller Kraft versucht, Umstände, Vorbedingungen und Details dieser Vision zu verhindern, dennoch seien sie fast alle auf seltsame Weise eingetreten, jetzt aber sei er, Umprecht, beruhigt, da dieser geschaute Augenblick wohl die letzte Szene in dem Drama darstelle, welches der Schriftsteller für die Laienspielgruppe verfasst hatte, und in der Umprecht die Hauptrolle übernommen hat und morgen damit auf der Bühne stehen wird. Umprecht meint mithin, dass er lediglich seine schauspielerische Darstellung eines Theatertodes, nicht aber sein reales Sterben in einer Vision geschaut habe. Der Schriftsteller allerdings berichtet dann, seine Erzählung wiederaufnehmend, dass dennoch Franz von Umprecht in dieser letzten Szene während der Theateraufführung wirklich gestorben sei. Wichtig um zu beurteilen, ob man es in dieser Novelle mit dräuendem Schicksal und okkulten Phänomenen oder fragwürdigen Erzählakten zu tun hat,85 ist die Tatsache, dass Schnitzler Die Weissagung auf drei Erzählinstanzen verteilt. Zuerst berichtet der namenlose Schriftsteller von seiner Begegnung mit einem Freiherrn von Schottenegg im Jahr 1867 und der Wiederbegegnung auf dessen Landgut bei Bozen im Jahr darauf, als das besagte Theaterstück aufgeführt werden soll und es im Vorfeld der Premiere zu dem Gespräch mit dem adligen Laienschauspieler Franz von Umprecht kommt. Um85 Vgl. auch Marie Kolkenbrock  : Grenztilgung und Wundersinn. Okkultismus und Moderne in Arthur Schnitzlers Erzählungen, in  : Tradition in der Literatur der Wiener Moderne. Hg. von Wilhelm Hemecker, Cornelius Mitterer und David Österle unter Mitarbeit von Cornelia Nalepka und Gregor Schima. Berlin, Boston 2017, S. 261–288. Gerd K. Schneider  : Grenzüberschreitungen  : Energie, Wunder und Gesetze. Das Okkulte als Weltanschauung und seine Manifestationen im Werk Arthur Schnitzlers. Wien 2014, S. 129– 134.

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precht berichtet dann als autodiegetischer Binnenerzähler am 9. September 1868 von seinen letzten zehn Jahren nach der Weissagung des windigen Zauberers Marco Polo am 9. September 1858. Dass es sich bei dieser »Weissagung« allerdings eher um eine »Weis-Vision«, ein geschautes, stummes, lebendes Bild handelt, das keineswegs eine Sterbeszene darstellen muss und das verbal missinterpretiert werden kann, hat die Forschung verschiedentlich hervorgehoben.86 Die Sentenz des Binnenerzählers Franz von Umprecht, »Worte lassen sich immer in verschiedener Weise auslegen«,87 weist zudem schon auf die Mehrdeutigkeit des Erzählten metapoetisch hin. Nach dieser Binnenerzählung ergreift wieder der Schriftsteller das Wort, aber erst ganz am Ende der Erzählung stellt sich heraus, dass es eine weitere übergeordnete, also primäre, Erzählinstanz gibt, einen Herausgeber, der in einem Nachwort erläutert, wie er wiederum über den Nachlassverwalter des Schriftstellers an dessen Text gelangt ist, den er hiermit seinem Publikum präsentiert. So erfährt der Leser erst am Ende der Erzählung, dass neben dem tertiären Erzähler Umprecht auch der sekundäre Schriftsteller-Erzähler bereits verstorben ist, dass das fragliche Geschehen immer mehr in eine ungreifbare Vergangenheit entrückt und die Authentifizierung des Erzählten sich schwierig gestaltet. Gleichwohl bemüht sich der primäre Erzähler-Herausgeber um den Nachweis des Authentischen, berichtet davon, dass der Nachlassverwalter, ein Arzt, auch bei der Theateraufführung bei Bozen als Zuschauer zugegen war  ; zudem erinnert sich der primäre Erzähler, in seiner Jugend einen Zauberer namens Marco Polo plakatiert gesehen zu haben. Dieser fiktive Herausgeber wendet sich an den Leser, erläutert die Auffindung des präsentierten Textes, kommentiert die Erzählung und bemüht sich intensiv und leserlenkend, die Authentizität des Textes zu bezeugen.88 Dass er allerdings nur Nebensächlichkeiten »beweist«, die nichts mit der in Frage stehenden Weissagung und ihrer angeblich magischen Kraft zu tun haben, mag man als Leser erst einmal überlesen, weil man genug damit zu tun hat, die sich überraschend verschiebenden Erzählebenen zu (re-)hierarchisieren. Drei figuralisierte Erzähler werden hier nebeneinandergesetzt, der zuerst einsetzende anonyme Schriftsteller entpuppt sich als sekundärer Erzähler, der wiederum Umprecht als tertiärem Erzähler das Wort überlässt, bevor der übergeordnete primäre Erzähler erstmals das Wort 86 Robert Weigel  : Schnitzlers Schicksalserzählungen »Die Weissagung« und »Die dreifache Warnung«, in  : Die Seele … ist ein weites Land. Kritische Beiträge zum Werk Arthur Schnitzlers. Hg. von Joseph P. Strelka. Frankfurt a. M. 1996, S. 149–162, hier S. 162. 87 Arthur Schnitzler  : Die Weissagung, in  : Ders.: Die erzählenden Schriften. Erster Band. Frankfurt a.  M. 1970 (Gesammelte Werke), S. 598–619, hier S. 606. Im Folgenden wird Die Weissagung im fortlaufenden Text mit der Sigle »W« und eingeklammerten Seitenzahlen nach dieser Ausgabe zitiert. 88 Zu den verschiedenen Funktionen der Herausgeberfiktion vgl. Uwe Wirth  : Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800  : Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008.

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ergreift und nochmals die Zeitverhältnisse neu sortiert und Details des zuvor Präsentierten zu beglaubigen versucht. Der tertiäre Erzähler, Franz von Umprecht, erweist sich als ein psychisch destabili­ sierter Erzähler. Bereits bevor ihm geweissagt wurde, erläutert er seine Situation als eine gefährdete, in der er »fürchtete, verrückt zu werden« (W 603). Nach der Weissagung lässt er sein Leben davon bestimmen, die Weissagung zu verhindern. Aber in seiner Besessenheit befördert er manche Ereignisse, die er eigentlich torpedieren möchte. So lässt sich Umprechts Erzählung auch als Version einer selbsterfüllenden Prophezeiung konzeptualisieren,89 mit der Schnitzler möglicherweise die Macht des Glaubens an die Unausweichlichkeit eines Geschehens demonstrieren wollte, keinesfalls aber die Unausweichlichkeit eines solchen Geschehens selbst bekräftigte. In der Erzählung des sekundären Schriftsteller-Erzählers wiederum ergeben sich sympathielenkende Besonderheiten, die wiederum diese Version der Geschichte ins Zwielicht setzen, denn der bürgerliche Schriftsteller erweist sich als ein adelsadorierender Zeitgenosse, der sich zu Franz von Umprecht seltsam unkritisch und bewundernd verhält. Er stört sich nicht an den antisemitischen Ausfällen Umprechts, der Marco Polo als Sohn eines schmierigen »Branntweinjuden« (W 604) hinstellt und sich erinnernd ereifert über die mickrige Garnisonsstadt, die »stinkend und voll von Juden« (W 604) war.90 So ergeben sich für diese Novelle Schnitzlers mehrere Lesarten, die sich teils ausschließen und teils kombinierbar sind. Nimmt man an, dass Franz von Umprecht tatsächlich in die Zukunft gesehen habe, so hätten wir es hier in der Tat mit phantastischer Literatur zu tun, die in der erzählten Welt Dinge für wahr setzt, die in der außertextlichen Wirklichkeit sich so nicht zutragen können. Allerdings wird Umprecht zu deutlich als eine psychisch instabile und schicksalsgläubige Erzählerfigur eingeführt, die möglicherweise auch in vielfach korrigierenden Erinnerungsüberschreibungen sich ihr Wahnbild immer mehr an die Wirklichkeit anpasst. Der große zeitliche, zehnjährige Abstand zwischen erzählendem und erlebendem Ich führt dazu, dass Umprecht das Geschaute immer wieder neu re-imaginieren muss. Gleichzeitig wird aber auch die Rolle des sekundären Schriftsteller-Erzählers fragwürdig, der leichtgläubig und adelsbegeistert Franz von Umprecht und dessen Geschichte auf den Leim gegangen sein könnte. Schließlich wäre es aber auch möglich, dass der 89 So auch Wolfgang Lukas  : Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösung im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, S. 232. 90 Zum Antisemitismus des tertiären Erzählers Franz von Umprecht vgl. auch Michael Rohrwasser  : Arthur Schnitzlers Erzählung »Die Weissagung«. Ästhetizismus, Antisemitismus und Psychoanalyse, in  : Zeitschrift für deutsche Philologie 118 (1999), S. 60–79. Martin Brucke  : Magnetiseure. Die windige Karriere einer literarischen Figur. Freiburg 2002, S.  127. Marie Kolkenbrock  : Stereotype and Destiny in Arthur Schnitzlers’s Prose. Five Psycho-Sociological Readings. Bloomsbury 2018.

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zweite Schriftsteller-Erzähler den überraschenden Tod Umprechts in der Rea­lität des Theaterabends zum Anlass genommen hatte, um seine gesamte Geschichte (inklusive der eingelagerten Geschichte Umprechts) zu fingieren und damit sein Drama interessanter zu machen, denn dieser Schriftsteller scheint nicht besonders erfolgsverwöhnt zu sein.91 Er gilt zum Zeitpunkt seines Todes bereits als »so gut wie verschollen« (W 618). So ließe sich die Geschichte des Schriftsteller-Erzählers als literarische Werbekampagne in eigener Sache lesen. Diese Version ist vereinbar mit der nachgetragenen Herausgeberfiktion, in welcher der Herausgeber zwar die Faktualität des nachgelassenen und zuvor präsentierten Textes zu beweisen versucht, allerdings lediglich bezeugt, dass Umprecht bei der Theateraufführung gestorben ist. Gleichzeitig macht dieses Nachwort des Heraus­gebers noch einmal nachdrücklich darauf aufmerksam, dass er dem geneigten Leser ja ein »abgedruckte[s] Manuskript« (W  619) aus einem Schriftstellernachlass präsentiert. Je mehr sich dieser Herausgeber darauf versteift, dass es sich bei diesem Text um einen faktualen Bericht handelt,92 desto mehr weist er indirekt den Leser daraufhin, dass hier doch bereits auch fiktionalisierte Arabesken einer literarischen Arbeit des Schriftstellers vorliegen könnten. Schnitzlers Weissagung löst so die erzählerische Unzuverlässigkeit zwar nicht eindeutig auf,93 aber gibt dem Leser doch zumindest genug Indizien an die Hand, an der okkultistischen Lesart gehörig zu zweifeln. Zudem zeigt sich hier methodisch deutlich, dass es sich beim ›unzuverlässigen Erzählen‹ um eine Kategorie »zwischen Narratologie und Interpretationstheorie« handelt.94 Während Leo Perutz das narrative Arrangement einer nachgetragenen Herausgeber­ fiktion (die die mögliche Fiktionalität des zuvor vorgeblich faktual Berichteten aufdeckt) zu nutzen weiß für das multiperspektivische Spiel mit den unterschiedlichen 91 Vgl. auch Konstanze Fliedl  : Arthur Schnitzler. Stuttgart 2005, S. 169. 92 »Gern möchte ich dessen Inhalt für eine frei erfundene Erzählung halten, wenn nicht der Arzt, wie auch aus dem Bericht hervorgeht, der am Schluß geschilderten Theatervorstellung mit ihrem seltsamen Ausgang beigewohnt und den in so rätselhafter Weise verschwundenen Schriftsteller persönlich gekannt hätte« (W 619). 93 Silke Lahn und Jan Christoph Meister differenzieren narratologisch zwischen aufgelöster und nichtaufgelöster Unzuverlässigkeit und betonen, dass bei einer extremen Form der nichtaufgelösten erzählerischen Unzuverlässigkeit für den Leser gar keine Möglichkeit mehr besteht, »die Inkonsistenz aufzulösen und einen Gegenentwurf des Erzählers zu erstellen, um das fiktional wahre Geschehen zu rekonstruieren« (Silke Lahn und Jan Christoph Meister  : Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart, Weimar 22008, S. 186. Vgl. auch Matthias Aumüller  : Offenheit und Geschlossenheit des unzuverlässigen Erzählens. Mit Interpretationsbeispielen von Texten von Ernst Weiß, Paul Zech und Stefan Zweig, in  : Journal of Literary Theory 12, 1 [2018], S. 127–150. Aumüller spricht von einem »Ratlosigkeitseffekt«, der sich bei einem Leser offener, nicht aufgelöster Unzuverlässigkeit einstellen kann [ebd., S. 133]). 94 Tom Kindt  : »Erzählerische Unzuverlässigkeit« in Literatur und Film. Anmerkungen zu einem Begriff zwischen Narratologie und Interpretationstheorie, in  : Kleine Erzählungen und ihre Medien. Hg. von Herbert Hrachovec, Wolfgang Müller-Funk und Birgit Wagner. Wien 2004, S. 53–63.

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Erzählebenen in seinem Roman Der Meister des jüngsten Tages (1923),95 adaptiert er für Nur ein Druck auf den Knopf Schnitzlers Verfahren, mit dem Mittel des unzuverlässigen Erzählens den Glauben an den Okkultismus als prekäres Phänomen vorzuführen. In dieser kurzen Novelle von Perutz erzählt der Ungar Lukacz Aladar in New York einem ungarischen Bekannten nach dem Ersten Weltkrieg vom Tod des Dr. Maurus Keleti in Budapest. Aladar scheint damit zu hadern, dass er sich für den Tod von Keleti verantwortlich fühlt und bietet seinem Gegenüber, nachdem er auch die Option erwogen hat, dass Keleti an einem Gehirnschlag gestorben sein könnte, dafür zwei einander widersprechende Versionen. Zuerst präsentiert er die Behauptung, dass er, Lukasz Aladar, Keleti erschossen habe, als Gerücht, das in Budapest und eventuell auch bei den ungarischen Emigranten in New York kursieren könne. Aladar weist diese Behauptung letztlich aber von sich und präsentiert stattdessen eine obskure Geschichte, dass er in Budapest in einer spiritistischen Séance Keleti aus dem Leben gerufen habe und das quasi unabsichtlich, da er nicht gewusst habe, dass die Beschwörung eines Lebenden in einer spiritistischen Sitzung diesen töte. Nimmt man diese zweite Version für wahr an, hätten wir es mit phantastischer Literatur zu tun, in deren erzählter Welt spiritistische Sitzungen Tote erscheinen und sprechen lassen und lebende Menschen zum Tod befördern können. Allerdings bietet Aladars Erzählung in überreichem Maße Hinweise darauf, dass diese Version in der erzählten Welt eine absichtliche Lügengeschichte Aladars darstellt. Dass es sich bei dieser spiritistischen Erklärungsvariante um die Wunschgeschichte eines gehörnten Ehemanns handelt, wird dem Leser offensichtlich nahgelegt, denn unbeabsichtigt selbstentlarvend gibt Aladar Hinweise darauf, dass seine Frau und Dr. Maurus Keleti ein außereheliches Verhältnis hatten. Aladar präsentiert einen täuschenden unzuverlässigen Erzählakt.96 So neigt man in einer ersten Lektüre wahrscheinlich dazu, die abenteuerliche Geschichte von der unbeabsichtigten Tötung Keletis durch eine spiritistische Séance als juristische Schutzbehauptung zu lesen, mit der Aladar den Revolvermord aus Eifersucht zu vertuschen sucht. Die spiritistische Version schwächt immerhin strafrechtlich den Tod Keletis von einem Mord zu fahrlässiger Tötung. Hans-Harald Müller hat nun in einer subtilen Interpretation dieser Erzählung eine überzeugende Lektüre vorgeschlagen, auch die Revolvermordversion Aladars als wei95 Dies ist ein Verfahren unzuverlässigen Erzählens, das prominent auch Ian McEwan für seinen Roman Atonement (2001) zu variieren wusste. Zum unzuverlässigen Erzählen im Meister des jüngsten Tages vgl. Doren Wohlleben  : Die Gewalt der Gesichte. Zur Affinität von Kunst und Kriminalität am Beispiel von Leo Perutz’ »Der Meister des jüngsten Tages«, in  : (Be-)richten und erzählen. Literatur als gewaltfreier Diskurs  ? Hg. von Moritz Baßler und Cesare Giacobazzi. München 2011, S. 169–179. 96 Vgl. die Erläuterungen zu den Kategorien des täuschenden unzuverlässigen Erzählens, offenen unzuverlässigen Erzählens und axiologischen unzuverlässigen Erzählens bei Tilmann Köppe, Tom Kindt  : Erzähltheorie. Eine Einführung. Stuttgart 2014, S. 236–256.

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tere Wunschgeschichte des betrogenen Ehemanns zu nehmen, der fabulierend in seiner Phantasie das tut, was er in der Realität nicht wagte  : Den Nebenbuhler gleichsam doppelt umzubringen, der in Wahrheit an einem Gehirnschlag gestorben war.97 So handelt es sich bei Nur ein Druck auf den Knopf um einen unzuverlässig erzählten Text, in dem der autodiegetische Erzähler Lukacz Aladar einen Teil einer spiritistischen Sitzung erfindet, um sich in seiner Phantasie nachträglich in spektakulärer Weise zum Richter über Tod und Leben seines Gegenspielers aufschwingen zu können. Perutz’ Novelle spielt dabei auch souverän mit unterschiedlichen Genrekonventionen und balanciert die Leser­ erwartung aus zwischen phantastischer Literatur (die die spiritistische Séance in der erzählten Welt für real und todbringend halten mag), einer Kriminalnovelle (die den Revolvermord für die eigentliche Wahrheit und die Séance-Geschichte für eine Schutzbehauptung des Täters nimmt) und der unzuverlässigen Erzählung (die den Hahnrei als gequälten Geschichtenerfinder präsentiert, der sich in seiner Phantasie nachträglich an dem eines natürlichen Todes gestorbenen Gegenspieler rächt).98 Alle Widersprüche der Erzählung lassen sich nur mit der letzten Interpretationsversion lösen, die damit auch für den grübelnden Leser die wahrscheinlichste Deutung darstellt. Sowohl in Schnitzlers Weissagung als auch in der Novelle von Perutz sind okkulte Phänomene keine eindeutig verbürgten Tatsachen in der erzählten Welt, sondern argumentative Vehikel, gewagte Denkexperimente, intellektuelle Ermächtigungsphantasien, mit denen sich ihre Erzähler interessant und wichtigmachen wollen. Perutz macht es seinem Leser vielleicht noch ein wenig leichter als Schnitzler, die phantastische Lesart zugunsten der unzuverlässig erzählten zu verabschieden. Die Kippfigur zwischen phantastischer und unzuverlässig erzählter Deutungsoption, die Freud bei Schnitzler kritisierte und Perutz so faszinierte, wird von Perutz radikalisiert zu einer narrativen Strategie, die das unzuverlässige Erzählen nutzt, um die kritische Aufmerksamkeit des Lesers darauf zu lenken, wie sehr der Glaube an den Okkultismus von der Darstellungsgabe seiner Verfechter abhängt. In der Novelle von Perutz lässt der Erzähler seine Frau äußern  : »Okkultismus gehört auch zur Bildung«.99 Diese Aussage ist allerdings nur 97 Hans-Harald Müller  : Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme  ? Zur Erzählkonzeption von Leo Perutz – dargestellt an der Novelle »Nur ein Druck auf den Knopf«, in  : Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang. Hg. von Thomas Eicher unter Mitarbeit von Peter Sowa. Oberhausen 2001, S. 177–191. 98 Zu den unterschiedlichen Genrekonventionen und ihrer Bezogenheit aufeinander vgl. allgemein Sonja Klimek  : Unzuverlässiges Erzählen als werkübergreifende Kategorie. Personale und impersonale Erzählin­ stanzen im phantastischen Kriminalroman, in  : Journal of Literary Theory 12, 1 (2018), S. 29–54. 99 Leo Perutz  : Nur ein Druck auf den Knopf, in  : Ders.: Herr, erbarme Dich meiner. Erzählungen. Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller. Wien 1995, S. 163–172, hier S. 167. Im Folgenden wird diese Erzählung im Fließtext mit der Sigle »N« und eingeklammerten Seitenzahlen nach dieser Ausgabe zitiert.

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ein strategisches Argument, mit der Lukacz Aladars Frau ihren Gatten fortschickt zu einer ihn ›bildenden‹ okkultistischen Abendveranstaltung, um Zeit für ein Treffen mit ihrem Geliebten Dr. Maurus Keleti zu haben. So ironisiert Perutz den Okkultismus zur Talmi-Bildung und Scheinargumentation einer Moderne, die sich selbst bezweifelt. b) Eifersüchtiges Erzählen und Minderwertigkeitskomplexe in Nur ein Druck auf den Knopf und Schnitzlers Andreas Thameyers letzter Brief (1902)

Der autodiegetische Erzähler Lukacz Aladar in Nur ein Druck auf den Knopf und seine ruminierende Suada erinnern deutlich an den wirren Erzählermonolog in Arthur Schnitzlers Andreas Thameyers letztem Brief. Beide betrogenen Ehemänner sind als unzuverlässige Erzähler Getriebene und Gedemütigte, die den Ehebruch ihrer Frauen, ihre eigene Eifersucht und massiven Minderwertigkeitskomplexe vor dem Adressaten ihrer Erzählung zu verbergen suchen und gleichzeitig unfreiwillig offenbaren. Schnitzlers kurze Novelle, die um 1900 entstand und 1902 erstmals in der Zeitung Die Zeit erschien, präsentiert den Abschiedsbrief eines Selbstmörders, der in dieser Epistel seine Geschichte und den Grund für den geplanten Selbstmord erläutert. Die Erzählung spielt im Wien der Jahrhundertwende. Ein weiterer Erzähler, der etwa die genaueren Umstände von Andreas Thameyers Leben und Sterben erläutert, beglaubigt oder in Zweifel zieht, fehlt. Lediglich die Überschrift signalisiert, dass der Erzähler wohl mittlerweile verstorben ist. Andreas Thameyer stellt sich als kleinbürgerlicher Wiener 34-jähriger Sparkassenbeamter vor, der beabsichtigt sich umzubringen, um mit diesem Selbstmord die Treue seiner Frau zu beweisen. Ob und wie man mit einem Selbstmord ausgerechnet die Treue einer Frau beweisen kann, bleibt erst einmal unklar. Nur sehr mühsam, stockend, immer wieder abirrend, in einem steifleinenen Stil und in waghalsige semiwissenschaftliche Abweichungen mäandrierend, nähert er sich zögerlich der eigentlichen Geschichte, die sich wie folgt darstellt  : Thameyers Frau hat vor zwei Wochen ein Kind zur Welt gebracht, – und dieses Kind ist schwarz. Das sagt Thameyer freilich nicht sofort so direkt, er spricht erst einmal von einer »so eigentümlichen Hautfarbe«.100 Für diese bei den hellhäutigen Eltern doch verblüffende Hautfarbe hat Thameyer auch eine Erklärung parat, die er dem Leser präsentiert. Während er aber diese Erklärung erläutert, wird dem Leser gleichzeitig deutlich, dass das Kind gezeugt worden sein muss, als seine Frau im Wiener Tiergarten eine soge100 Arthur Schnitzler  : Andreas Thameyers letzter Brief, in  : Ders.: Die Erzählenden Schriften. Erster Band. Frankfurt a. M. 1961 (Gesammelte Werke), S. 514–520, hier S. 517. Im Folgenden wird die Erzählung mit der Sigle »A« und eingeklammerten Seitenzahlen nach dieser Ausgabe im Fließtext zitiert.

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nannte afrikanische »Völkerschau« besuchte. Diese heute in ihrer imperialistischkolo­­nialistischen Geste so befremdlichen Völkerschauen, die lebende Menschen wie Zootiere ausstellten, waren um die Jahrhundertwende en vogue und befriedigten die exotische Schaulust der europäischen Metropolen.101 Schnitzler vermag dabei auch auf aktuelles Erfahrungswissen seiner österreichischen Leser zu zählen, denn im Jahr 1896 lebten rund 70 Westafrikaner des Ashanti-Stammes für einige Sommermonate während einer solchen Völkerschau im Wiener Tiergarten am Schüttel.102 In einem künstlich errichteten Dorf ließen die Veranstalter die Ashanti ein pseudo-alltägliches Leben inszenieren zum Ergötzen der Wiener Bevölkerung. Es wurden tagsüber Tänze und Kampfspiele vor einem sensationsgierigen Publikum gegeben. Das öffentliche Interesse war riesig, und die Presse sprach von einem regelrechten Aschanti-Fieber.103 Peter Altenberg besuchte die Völkerschau nicht nur regelmäßig, sondern lebte selbst für mehrere Wochen in diesem Dorf und publizierte 1897 Prosaskizzen unter dem Titel Ashantee,104 in denen er dem geneigten Leser auch durchaus erotische Begegnungen zwischen seiner Wenigkeit und den weiblichen Dorfbewohnern andeutete. Arthur Schnitzler besuchte gemeinsam mit Felix Salten das freilichtmuseale Dorf im September 1896 und konnte

101 Vgl. Volker Mergenthaler  : Völkerschau – Kannibalismus – Fremdenlegion. Zur Ästhetik der Transgression (1897–1936). Tübingen 2005. Werner M. Schwarz  : Anthropologische Spektakel. Zur Schaustellung »exotischer« Menschen, Wien 1870–1910. Wien 2001, S. 187–203. 102 Vgl. Szilvia Ritz  : »Sir, wenn Ihr zu Uns nach Akkra kämet als Ausstellungsobjekte …«. Aschanti-Schau im Prater, in  : Wechselwirkungen. Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext  ; Beiträge der internationalen Konferenz des Germanistischen Instituts der Universität Pécs vom 9. bis 11. September 2010. Hg. von Zoltán Szendi. Bd. 1. Wien 2012, S. 291–301. Peter Schnyder  : Im Netz der Bedeutung. Arthur Schnitzlers Erzählung »Andreas Thameyers letzter Brief« in kulturwissenschaftlicher Perspektive, in  : Epochenbegriffe. Grenzen und Möglichkeiten. Hg. von Uwe Japp, John A. McCarthy und Marijan Bobinac. Bern 2002, S. 419–425. 103 Robert Franceschini  : Das Aschanti-Fieber, in  : Neues Wiener Tagblatt vom 7. Oktober 1896, S. 1 ff. Robert Horn  : Aus dem Thiergarten im Prater, in  : Wiener Neueste Nachrichten vom 14. September 1896, S.  1 ff. Vgl. Stephan Dietrich  : Der Wilde und die Großstadt. Literarische Exotismen von Altenberg bis Claire Goll, in  : Die »Großstadt« und das »Primitive«. Text – Politik – Repräsentation. Hg. von Kristin Kopp. Stuttgart, Weimar 2004, S. 201–220. 104 Peter Altenberg  : Ashantee. Berlin 1897. Vgl. hierzu Alexander Honold  : Peter Altenbergs »Ashantee«. Eine impressionistische cross-over-Phantasie im Kontext der exotischen Völkerschauen, in  : Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang. Hg. von Thomas Eicher. Oberhausen 2001, S.  135–156. Stephan Besser  : Schauspiele der Scham. Juli 1896. Peter Altenberg gesellt sich im Wiener Tiergarten zu den Aschanti, in  : Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit. Hg. von Alexander Honold und Klaus R. Scherpe. Stuttgart 2004, S. 200–208. Peter Henninger  : L’amour au zoo. »Ashantee« de Peter Altenberg, in  : Cahiers d’Études Germaniques 50 (2006), S.  19–37. Sander  L. Gilman  : Schwarze Sexualität und modernes Bewusstsein in Peter Altenbergs »Ashantee«, in  : Peter Altenberg  : Ashantee. Afrika und Wien um 1900. Hg. von Kristin Kopp. Wien 2008, S. 163–173.

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dort Peter Altenberg als touristischen Teilzeit-Dorfbewohner bestaunen.105 1897 wiederholte sich die Völkerschau im Tiergarten mit jetzt 120 Afrikanern und die Neue Freie Presse berichtete nun auch von den vielfachen Begegnungen der Wiener bei den Ashantis.106 Der Prater-Impresario Gabor Steiner empfand das Ashanti-Dorf als unangenehme Konkurrenz zu seinem eigenen benachbarten 1895 eröffneten Vergnügungspark »Venedig in Wien« und erinnerte sich später mit rassistischem Ressentiment an die Ashanti-Völkerschau von 1897 und den damit verbundenen Klatsch und Tratsch  : Im Jahre 1897 […] gab es eine ganz einfache Schaustellung, die Aschantis, im Tiergarten, welche ich zu sehen bekam. Mit der Kunststadt Venedig in Wien, […] konnte sich die Niederlassung des primitiven kleinen Negerdorfes im Tiergarten […] in keiner Weise messen. Trotzdem war das Auftreten der Aschanti in Wien ein großes Halloh  ! […] Für gewisse Frauen war jedoch die Eröffnung des Aschantidorfes ein Signal, um diesen Schwarzen nachzulaufen, als wären diese schmutzigen und abstoßenden Aschantimänner die Schönheit der Welt. Es waren nur weibliche Ausnahmen der Großstadt, die durch eigens bestellte Wächter von ihren hysterischen Liebesbezeigungen abgehalten werden mußten. Jawohl, das Polizeikommissariat Prater ordnete einen eigenen Ueberwachungsdienst an, um die schwarzen Männer vor den Belästigungen heimischer Frauen zu schützen. In ganz Wien wurden damals über die Aschantibuben, welche diese Aschantischau zurücklassen werde, Witze gemacht. […] Während sich die Herrenwelt für die »Aschanti-Weiberl« nicht zu interessieren schien, war ein Teil der Wienerinnen — gottlob nur ein kleiner Teil — geradezu toll nach den »schwarzen Gesellen«, die mit Geld und Geschenken von der Damenwelt überhäuft wurden. Man erzählte viel von den galanten Abenteuern der schwarzen Kavaliere, von denen ja vieles erfunden zu sein schien, aber einiges weiß ich aus positiver Quelle, nämlich von den Herren des Praterkommissariats. So hat man einmal eine Hofrätin in einer Seitenallee des Praters mit einem Neger in sehr verfänglicher Situation erwischt und die Aermste mußte dem Wachorgan auf das Kommissariat folgen. Man behauptet auch, daß »Schwarz-Weiß« im darauffolgenden Winter mancher Maid nachgewiesen worden sei  ! Aber gerade diese Aventiuren machten die Wiener neugierig und die Witzblätter sowie die Volkssänger trugen das Ihrige dazu bei, diese unappetitlichen übelriechenden Negerdandys interessant zu machen. Offen gestehe ich, daß ich mich über diese schwarze Invasion sehr geärgert habe.107 105 Schnitzler  : Tagebuch 1893–1902. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Konstanze Fliedl, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1989, Tagebucheintrag vom 17. September 1896, S. 218. 106 B. W.: Die Wiener bei den Ashantis, in  : Neue Freie Presse vom 23. Mai 1897, S. 6 f. 107 Gabor Steiner  : Als Wien frohe Feste feierte… Gründung und Glanzzeit der Vergnügungsstadt »Venedig in Wien«. Lebenserinnerungen, in  : Illustrierte Wochenpost vom 5. Dezember 1930, S. 5 f., hier S. 5.

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Auf diesen, von Gabor Steiner rassistisch erinnerten, Wiener Alltagsrumor setzt Schnitzler, wenn er seinen Erzähler Thameyer davon berichten lässt, dass seine Frau in der Wiener Völkerschau war, zwar ursprünglich gemeinsam mit ihrer Schwester, aber dass es doch zu einigen abendlichen Stunden kam, in der seine Frau dort unvorhergesehenerweise allein war. Der Leser kann spekulieren, was in diesen Stunden geschehen sein mag. Freilich bietet Thameyer nun aber eine ganz andere Erklärung für die Hautfarbe des Kindes an  : Es handelt sich nicht um Ehebruch, sondern, so schreibt er, seine Frau hat sich »versehen« (A 517). Unter einem ›Versehen‹ versteht man heute gemeinhin einen Irrtum. Konsultiert man den Brockhaus von 1898, so stößt man hingegen auf eine heute kaum noch geläufige Bedeutung von ›Versehen‹. Dort heißt es  : »Versehen der Schwangeren, die angebliche Einwirkung von Sinnes- insbesondere Gesichtseindrücken Schwangerer auf die Formbildung der Leibesfrucht«.108 Auf diesen Begriff von ›Versehen‹ rekurriert Andreas Thameyer, wenn er erläutert  : »Sie hat sich versehen, als sie im August mit ihrer Schwester unten im Tiergarten war, wo diese fremden Leute ihr Lager hatten, diese unheimlichen Schwarzen« (A 517). Thameyer bemüht sich, seine These wissenschaftlich zu beweisen. Er beruft sich auf medizinische Schriften, zuerst auf eine Studie von einem Hamberg über »rätselhafte Vorgänge der Natur« (A 515) und eine Arbeit von Limböck »›Über das Versehen der Frauen‹« (A 515), die er (wissenschaftliche Schreibverfahren imitierend) ganz exakt zitiert mit Erscheinungsort und Seitenzahl. Mit dieser exakten Zitation der medizinischen Texte versucht er die Beweiskraft für seinen eigenen Fall zu stärken, was aber nicht gelingt, sondern den unfreiwillig komischen Effekt nur noch steigert.109 Denn je vehementer Thameyer »seine Leser von seinen Ansichten zu überzeugen sucht, desto mehr fühlen sich die Leser gezwungen, die Prämissen und die Logik von Thameyers Argumenten zu hinterfragen«.110 Das von Thameyer Gesagte ist nicht das vom Text Gemeinte. Der Brief beweist nicht die Treue seiner Frau, sondern bestätigt gegen den Willen seines Schreibers die Gerüchte, gegen die sich Thameyer zu wehren versucht. Diese doppelte Botschaft macht den Reiz der Erzählung aus. Schnitzlers Text spielt virtuos mit dem uralten literarischen Motiv des gehörnten Ehemanns. Thameyer fährt eine beeindruckende Menge von Autoritäten der abendländischen Geschichte auf, um seine Versehenstheorie zu beweisen, verweist auf Malebranche und Luther und zitiert aus der Antike Heliodor, der für ihn besonders wichtig ist, weil Heliodor von einer schwarzen äthiopischen Königin berichtet, die ihrem Mann ein 108 Brockhaus’ Konversations-Lexikon. Revidierte Jubiläums-Ausgabe. 14. vollständig neubearbeitete Auflage Berlin, Wien 1898, Bd. 16, S. 280. 109 Zur unfreiwilligen Komik vgl. Bernard Dieterle  : »Keineswegs kann ich weiterleben«. Figurationen des Schreibens bei Arthur Schnitzler, in  : Modern Austrian Literature 30 (1997), S. 20–38. 110 Imke Meyer  : Männlichkeit und Melodram. Arthur Schnitzlers erzählende Schriften. Würzburg 2010, S. 85.

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weißes Kind gebar. Die Königin bei Heliodor erklärt die Hautfarbe des Kindes damit, dass sie im Moment der Zeugung, als sie »die Umarmungen ihres schwarzen Ehegemahls empfing« (A 515) den Blick auf weiße »Marmorstatuen griechischer Götter und Göttinnen« (A 515) gerichtet hatte. Der Autor Schnitzler hat nun diese Literaturverweise keineswegs alle erfunden  : Limböck und Hamberg sind zwar fiktiv, aber am Ende des Briefs beteuert Thameyer noch einmal  : »Ihr werdet einsehen, daß es solche Dinge gibt, wie sie Hamberg, Heliodor, Malebranche, Welsenburg, Preuß, Limböck und andere berichten« (A 519 f.). Welsenburg und Preuß sind keine Erfindungen Schnitzlers, sondern sie haben in den 1890er Jahren tatsächlich wissenschaftliche Studien zum Ver­ sehen verfasst, in denen wiederum Malebranches, Luthers und Heliodors Stellungnahmen zu diesem Phänomen zitiert und diskutiert werden.111 Welsenburg ist das Pseudo­ nym des Sexualforschers Iwan Bloch. Seine Schrift über Das Versehen der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart und die Anschauungen der Ärzte, Naturforscher und Philo­ sophen darüber (1899) befand sich in Arthur Schnitzlers Bibliothek und er hat sie für Andreas Thameyers letzter Brief als faktualen Prätext genutzt.112 Dass in Welsenburgs Studie literarische Fiktionen (wie Heliodors Roman ­Aithiopika) neben faktualen medizinischen Fallgeschichten stehen und gleichermaßen die Realität des Versehens verbürgen sollen, mag den heutigen Leser irritieren, bedeutet um die Jahrhundertwende aber keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal. Otto Weiningers Skandalbuch Geschlecht und Charakter (1903) enthält ein flammendes Plädoyer für die wissenschaftliche Beweisbarkeit des Versehens und operiert ebenfalls mit literarischen Beglaubigungsversuchen. Weininger streifte die Gefilde der Biologie, Medizin, Psychologie und Philosophie und entwarf mit universalem Deutungsanspruch eine sexualanthropologische Theorie. Weiningers Untersuchung entspringt dabei einem wissenschaftlichen Diskurs  : Geschlecht und Charakter ist die überarbeitete Fassung einer philosophisch-psychologischen Dissertation, die von ihren Gutachtern zwar problematisiert, aber schlussendlich doch angenommen und zum Druck freigegeben wurde.113 Wenn man Weiningers Vorstellung medizingeschichtlich kontextualisiert, zeigt sich, dass diese Vorstellung des Versehens um 1900 keineswegs als so unglaubhaft galt, wie sie heutigem Verständnis nach klingt. Auch Weininger zitiert Romane und Dramen, in denen das Versehen thematisiert wird, und er spricht diesen literarischen Texten (Goethes 111 Gerhard von Welsenburg [i. e. Iwan Bloch]  : Das Versehen der Frauen in Vergangenheit und die Anschauungen der Ärzte, Naturforscher und Philosophen darüber. Leipzig 1899. J[ulius] Preuss  : Vom Versehen der Schwangeren. Eine historisch-kritische Studie, in  : Berliner Klinik 5 (1892), S. 1–50. 112 Eine ausführliche intertextuelle Analyse unternimmt Aurnhammer  : Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen (Anm. 28), S. 120–129. 113 Zur Promotion und zur Veröffentlichungsgeschichte vgl. Jacques Le Rider  : Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Wien 1985, S. 30–58.

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Wahlverwandtschaften, Ibsens Die Frau am Meer und Zolas Madeleine Férat) gleichsam wissenschaftliche Beweiskraft zu.114 Im Bemühen, seine Theorie des Versehens zu beweisen, schaltet sich Weininger in einen Diskurs über das Versehen und die Telegonie ein,115 der erst seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts mehr und mehr verwissenschaftlicht wurde.116 Gegen die Physiologen Johannes Müller und Theodor Bischoff, den Züchtungstheoretiker Hermann Settegast und den Gynäkologen Max Runge, die das Versehen mehr oder weniger als Aberglauben ablehnen,117 argumentiert Weininger mit Gerhard von Welsenburgs Studie, die auch Thameyer in seiner Not heranzieht. Welsenburg lässt die Frage, ob das Versehen Aberglaube oder Tatsache sei, am Ende unbeantwortet, liefert aber Weininger und Schnitzler Hinweise auf zeitgenössische Fürsprecher des Versehens. Wenn der Arzt Arthur Schnitzler seinen fiktiven Erzähler Andreas Thameyer eine Theorie des Versehens als Beweis für die Treue seiner Frau heranziehen lässt, kann man diese Novellette auch als eine schmunzelnde Wissenschaftssatire lesen, eine »Wissenschaftskritik durch Parodie echter und falscher Autoritäten«.118 Schnitzler ridikülisiert so auch späte (pseudo-)wissenschaftliche Beweisbemühungen für das Versehen. Wie Die Weissagung den Okkultismus mit dem Mittel des unzuverlässigen Erzählens zum 114 Vgl. hierzu Barbara Beßlich  : Mütter im Visier. ›Versehen‹ und ›Telegonie‹ in Otto Weiningers »Geschlecht und Charakter« – mit einem Seitenblick auf Weiningers Anleihen bei Goethe, Ibsen und Zola  : in  : KulturPoetik 4 (2004), S. 19–36. 115 Während ›Versehen‹ meint, dass Blickkontakte von Schwangeren die Gestalt des Embryos beeinflussen können, geht die Vorstellung von der Telegonie noch weiter  : Unter Telegonie oder auch Fernzeugung wurde in der Zoologie die (um 1900 noch teils für wahr gehaltene) genetische Annahme verstanden, dass in der Tierwelt »ein rassereines Weibchen nach einmaliger Bastardierung mit einem rassefremdem Männchen so verändert wird, dass es bei weiteren Paarungen mit Männchen der eigenen Rasse keine rassereinen Nachkommen erzeugen kann« (Der große Brockhaus. Kompaktausgabe. Wiesbaden 181984, Bd. 21, S. 347). Weininger übertrug diese zoologische Diskussion auch auf Menschen  : »Weiße Frauen, die einst von einem Neger ein Kind gehabt haben, gebären später oft einem weißen Manne Nachkommen, die noch unverkennbare Merkmale der Negerrasse in sich tragen« (Otto Weininger  : Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Wien, Leipzig 1903, S. 300). 116 Zum wissenschaftlichen Diskurs vgl. Chandak Sengoopta  : Otto Weininger. Sex, Science, and Self in Imperial Vienna. Chicago 2000, S. 123–131. Zur literarischen Ausgestaltung von Versehen und Telegonie vgl. Franz K. Stanzel  : Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination. Wien, Köln, Weimar 2008. 117 Johannes Müller  : Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen. Bd.  2, Abt.  2. Koblenz 1838. Theodor Bischoff  : Entwicklungsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Missbildungen, in  : Handwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie. Braunschweig 1842, Bd. 1, S. 860–928. Hermann Settegast  : Die Tierzucht. Bd. 1  : Die Züchtungslehre. Breslau 41878. Max Runge  : Lehrbuch der Geburtshilfe. Berlin 61901, S. 82 f. 118 So Gotthart Wunberg  : Arthur Schnitzler  – oder über Kulturwissenschaften und Literaturwissenschaft, in  : Arthur Schnitzler im zwanzigsten Jahrhundert. Hg. von Konstanze Fliedl. Wien 2003, S. 13–35, hier S. 18  ; vgl. auch Aurnhammer  : Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen (Anm. 28), S. 130 f.

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Aberglauben degradierte, so nutzt Andreas Thameyers letzter Brief das unzuverlässige Erzählen, um vormoderne Vorstellungen von der Wirkungsmacht des männlichen Blicks auf den Embryo im Mutterleib beziehungsweise von der Telegonie als Volksaberglauben und mystifizierenden Humbug zu enttarnen. Schaltet sich Andreas Thameyers letzter Brief in den zeitgenössischen Diskurs über die Fernzeugung ein, der durch das unzuverlässige Erzählen ironisiert wird, so geht es in Nur ein Druck auf den Knopf um eine vermeintliche Ferntötung. In beiden Novellen soll die magisch-okkulte Geschichte ihre eifersüchtigen und gedemütigten Erzähler entlasten, in Thameyers Fall den Ehebruch wegerzählen und in Aladars Fall die ersponnene Rache für den Ehebruch auserzählen. Die narratologische Forschung hat betont, dass unzuverlässiges Erzählen als eine Interpretationsstrategie des Lesers historisch variabel ist,119 und mithin nicht für alle Zeiten und in allen Kulturräumen ein literarischer Text gleichermaßen als unzuverlässig erzählt wahrgenommen werden muss. So ließe sich um 1900 wissenschaftshistorisch durchaus ein zeitgenössischer Wiener Leser (etwa Otto Weininger) vorstellen, der noch an die Realität des Versehens glaubt. Dennoch würde wohl auch dieser Leser Thameyers Deutung des Geschehens nicht trauen und ihn als unglaubwürdigen Erzähler qualifizieren.120 Selbst wenn man annehmen würde, dass prinzipiell medizinisch ein solches ›Versehen‹ oder gar die Telegonie möglich wäre, nützt diese Hypothese in Thameyers Fall nichts, denn unbeabsichtigt teilt uns dieser Erzähler mit, was er eigentlich dementieren oder verschweigen möchte.121 Intentional will Thameyer seine Adressaten täuschen, aber es gelingt ihm nicht  : Andreas Thameyers letzter Brief gibt sich als ein ernst gemeintes Verteidigungsschreiben der Ehefrau und attackiert sie doch auch immer wieder indirekt. Thameyer stilisiert sich als rücksichtsvoller Gentleman, der sich mit seinem Tod für die Ehre seiner Frau opfert. Dass das aber wohl nicht die ganze Wahrheit ist, verrät seine Sprache. An seine Gattin adressiert bekennt Thameyer  : »Es ist nur aus Liebe zu dir, daß ich sterbe, denn 119 Vera Nünning  : Unreliable Narration und die historische Variabilität von Werten und Normen  : »The Vicar of Wakefield« als Testfall für eine kulturgeschichtliche Erzählforschung, in  : Unreliable Narration (Anm. 69), S. 257–285. Bruno Zerweck  : Historicizing Unreliable Narration. Unreliable und Cultural Discourse in Narrative Fiction, in  : Style 35, 1 (2001), S. 151–176. 120 Greta Olson differenziert überzeugend zwischen einem unglaubwürdigen (untrustworthy) und einem fehlbaren (fallible) Erzähler. Während der fallible narrator unbeabsichtigt Fehler begeht, sich vielleicht auch einfach nur irrt oder selbst einer Täuschung unterliegt, täuscht der untrustworthy narrator seinen Leser absichtsvoll (Greta Olson  : Reconsidering Unreliability  : Fallible and Untrustworthy Narrators, in  : Narrative 11, 1 [2003], S. 93–109). 121 Dass »unzuverlässiges Erzählen« in manchen Fällen nicht so sehr eine Interpretationsleistung des Lesers, sondern ein narratologisch eindeutig beschreibbares Textphänomen darstellt, betont Thomas Petraschka  : Warum die Aussage »Text T ist unzuverlässig erzählt« nicht immer interpretationsabhängig ist. Zwei Argumente, in  : Journal of Literary Theory 12, 1 (2018), S. 113–126.

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ich kann es nicht ertragen, daß die Leute höhnen, daß sie dich verlachen und mich  !« (A 515) Das nachgeschobene »und mich« offenbart den eigentlichen Grund für den Selbstmord. Thameyer erträgt den Spott der Leute nicht und flüchtet sich in den Selbstmord und lässt damit auch seine Frau, die er doch angeblich schützen möchte, allein zurück. Die Angst vor Hohn und Spott treibt ihn in einen regelrechten Verfolgungswahn. Überall meint er in feixende Fratzen zu sehen. Er listet zuerst die Reaktion seiner Familie und seiner unmittelbaren sozialen Umgebung auf,122 und diese Notate gesellschaft­ licher Beobachtung scheinen alle noch einigermaßen nachvollziehbar, hingegen die folgende Wahrnehmung nur noch bedingt  : Thameyer berichtet davon, dass im Stell­ wagen (also einem von Pferden gezogenen Fuhrwerk, als Vorläufer der elektrischen Straßenbahn) Unbekannte über ihn höhnten, und er macht diese Mutmaßung daran fest, dass er sie seinen Vornamen aussprechen hört. Andreas heißen nun aber mit Sicherheit nicht wenige Menschen um 1900 in Wien. Hier zeigt Schnitzler, wie die Angst vor den Sticheleien auch in Verfolgungswahn umschlagen kann. Angst vor Hohn und Spott ist auch das motivierende Moment für Aladars Flucht nach New York und die Imagination seiner spiritistischen Geschichte. Perutz legt die psychische Disposition seines Protagonisten ähnlich wie Schnitzler an. Regelrecht getrieben wirkt Aladar zu Beginn seiner Erzählung und versucht vehement zurückzuweisen, dass ihn möglicherweise Angst vor dem Gerede der Leute davon abhalte zurückzukehren nach Budapest  : Aber wenn du in der Fünften [Straße in Manhattan] einen Budapester triffst und er sagt dir  : Dieser Lukacz Aladar lebt jetzt hier, wagt sich nicht nach Ungarn zurück, hat Angst – Wovor soll ich Angst haben, sag einmal selbst. Vor gar nichts hab ich Angst. Ich bin hier, weil ich immer hab einmal nach New York wollen, das war immer meine Idee, und ich bleib hier, solange es mir paßt, und wenn es mir hier einmal nicht mehr gefallen wird, dann fahre ich nach Budapest zurück. Angst  ? Lächerlich. Ich möchte wissen, wovor ich Angst haben sollte. (N 164)

122 »Sogar Herr Gustav Rengelhofer, der Onkel meiner Frau, dem ich stets die größte Achtung erwiesen, hat in einer mich sehr verletzenden Weise mit den Augen gezwinkert, als er mein Kind zum ersten Mal sah, und meine eigene Mutter – sie hat mir die Hand gedrückt, in einer höchst sonderbaren Art, als bedürfe ich ihrer Teilnahme. Und meine Kollegen im Bureau haben miteinander geflüstert, als ich gestern eintrat, und der Hausmeister, dessen Kindern ich zu Weihnachten meine alte verdorbene Uhr geschenkt habe – immerhin, als Spielzeug tut solch ein Uhrgehäuse seine Dienste … der Hausmeister hat sich das Lachen verbissen, als ich gestern an ihm vorbeiging, und unsere Köchin macht ein Gesicht, so lustig, als wenn sie betrunken wäre, und der Spezereihändler an der Ecke hat mir nachgeschaut, schon drei- oder viermal … neulich ist er an der Türe stehen geblieben und sagte  : das ist er« (A 517).

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Thameyer treibt die Angst vor Hohn und Spott über den Ehebruch in den Selbstmord, Aladar flüchtet vom Ort des Geschehens nach Amerika,123 aber auch dort ist er weiterhin gequält von der Angst vor möglichen Mitwissern und Gerede. Leitmotivisch durchzieht der Begriff der »Angst« seine Erzählung, die nicht nur in der zitierten Passage allein fünf Mal auftaucht, sondern insgesamt mit sieben Nennungen seine Erzählerrede strukturiert.124 Ähnliche Funktionen haben in Thameyers Abschiedsbrief die Begriffe »höhnen« und »lachen«.125 Die Angst vor der Schande und dem Hohnlachen der Leute prägt beide Erzähler. Schnitzler wie Perutz lassen ihre betrogenen Ich-Erzähler ganz um sich selbst kreisen, obwohl Beide ihre Rede adressieren. Andreas Thameyer und Lukacz Aladar ähneln sich nicht nur in ihrem eifersüchtigen Ruminieren, sondern auch in ihrer sozial inferioren Stellung und ihrer Furcht vor den sich verbreitenden »Gerüchte[n]« (A 517)  : Andreas Thameyers letzter Brief ist eine chaotische Epistel mit unklarem Adressaten, die sich mal an seine Frau, mal an seine Mutter und seine Schwägerin, vor allem aber in der zweiten Person Plural an die Gesellschaft richtet  : »Nein, ihr Leute, nochmals, meine Frau ist treu, und das Kind, das sie geboren hat ist mein Kind  !« (A  519). Der subjektivierte und verwirrte präsentische Duktus ähnelt manchmal mehr einem inneren Monolog als einem Brief.126 Thameyers monoperspektivische Erzählung thematisiert und problematisiert zudem immer wieder ihre Schriftlichkeit und ihre unbeantworteten Fragen, wenn es etwa heißt  : »Daher frage ich laut  : (ich gebrauche diesen Ausdruck absichtlich, obwohl dies schriftliche Aufzeichnungen sind) – ich frage mit vernehmlicher Stimme  : Was soll ich tun  ?« (A 517) Diese eigentümliche Erzählsituation mit den ins Leere laufenden Fragen ihres psychisch instabilen Erzählers transformiert Perutz in narrativ ambitionierter Weise  : Denn Nur ein Druck auf den Knopf präsentiert genau genommen keinen Erzählermonolog, sondern einen gekappten, halbierten Dialog. Lukacz Aladar erzählt in einem Gespräch seine Geschichte einem ungarischen Bekannten in einem New Yorker Restaurant, aber die reichlich vorhandenen Nachfragen und ungläubigen Einwürfe seines Gegenübers werden dem Leser nicht direkt präsentiert, sondern immer, 123 Auch diese Flucht vor der Schande nach Amerika bei Perutz kann man als eine intertextuelle Verbeugung vor Schnitzler verstehen, der schon seinen Lieutenant Gustl eine solche Auswanderungsoption in die neue Welt als Alternative zum Selbstmord erwägen lässt. 124 Zum Angstkonzept bei Perutz vgl. Claudia Hillebrandt  : »Das grauenvolle Drommetenrot«. Zum Angstkonzept in Leo Perutz’ »Der Meister des jüngsten Tages«, in  : Emotionale Grenzgänge. Konzeptualisierungen von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur. Hg. von Lisanne Ebert. Würzburg 2011, S. 273–288. 125 Vgl. Aurnhammer  : Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen (Anm. 28), S. 114. 126 Vgl. hierzu bereits Swales  : Arthur Schnitzler (Anm. 68), S. 93–97. Maja D. Reid  : »Andreas Thameyers letzter Brief« and »Der letzte Brief eines Literaten«. Two Neglected Schnitzler Stories, in  : The German Quarterly 45 (1972), S. 443–460.

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wenn eine solche Antwort des Ungarn aus Kecskemet sich einfügen müsste, setzt die Erzählung einen Gedankenstrich, der hier als ein Auslassungszeichen fungiert. Perutz überträgt damit die Werther-Erzählsituation ins Mündliche  : Fehlen bei Goethes Leiden des jungen Werthers (1774) die Antwortbriefe Wilhelms, so tilgt Nur ein Druck auf den Knopf die mündlichen Reaktionen des »Maschinen-Ingenieur[s] von Kovacz und Laszlo« (N 163). Zudem erzeugt diese Aussparung der Gegenrede eine Zeitraffung, die die Hektik und Gehetztheit von Aladars Erzählung hervorhebt. In beiden Fällen, für Goethes Roman und Perutz’ Erzählung, entsteht so durch diese strukturelle Kürzung (aus den sozialen Situationen einer Briefkommunikation und einer Restaurantunterhaltung) für den Leser der Eindruck eines egomanen Selbstgesprächs.127 Dennoch ist es immer wieder möglich, aus den Reaktionen Aladars auf die Fragen und Aussagen seines Gegenübers rückzuschließen. Diese Aussagen und Nachfragen des Ingenieurs sind für den Leser zentral, um die erzählerische Unzuverlässigkeit Aladars zu erkennen. Sie bilden gleichsam eine maieutische Hilfestellung, Zweifel an Aladars Version des Geschehens gemeinsam mit Aladars Gegenüber anmelden zu können. Gleich zu Beginn erkundigt sich Aladar hektisch und ängstlich, seit wann der ungarische Bekannte »fort aus Budapest« (N 163) ist, und der Leser mag sich implizit ergänzen, und ob er damit von dem Skandal um den Ehebruch von Aladars Frau und um den Tod von Keleti wissen kann. Erst als Aladar erfährt, dass man sich nicht aus Budapest (dem Ort des Ehebruchs und skandalumwitterten Todes von Keleti), sondern aus Kecskemet kennt, wird er zutraulicher, wechselt unwillkürlich vom distanzierten »Sie« zum intimen »Du«, lädt den ungarischen Bekannten zum Plausch im Lokal ein und nennt ihn »mein Lieber« (N 164) und einen »alten Freund« (N 164). Als Aladar seinem Gegenüber probeweise die Geschichte auftischt, »daß ich den Doktor Keleti erschossen habe. Mit dem Revolver« (N 164), folgt unmittelbar nach einem Gedankenstrich Aladars empörte Aussage  : »da lachst du  !« (N 164). Das Lachen des Ingenieurs illustriert dessen überlegenen Unglauben gegenüber Aladars wilder Revolvergeschichte  ; er weiß es wohl besser und amüsiert sich über Aladars nachträgliche Ermächtigungsphantasie. Perutz spiegelt so in raffinierter Weise in den monoperspektivischen Redeschwall des Erzählers die distanzierende und korrigierende Fremdcharakterisierung durch eine andere Figur ein und gibt dem Leser Hinweise, wie er sich gegenüber Aladars Geschichte positionieren könnte.

127 Für Nur ein Druck auf den Knopf lässt diese Darstellungstechnik zudem auch noch die Deutungsoption zu, dass wir es hier mit einem psychisch gestörten, mit sich selbst brabbelnden »mad monologist« zu tun haben, der sich das Gespräch mit einem alten Bekannten aus Ungarn erfindet und in Manhattan in einem Diner ins Leere plappert.

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Das wird noch brisanter (und zentraler, um das unzuverlässige Erzählen zu erkennen) am Ende der Erzählung, als Aladar seinem Bekannten davon berichtet, wie er Dr. Maurus Keleti nach der spiritistischen Séance tot in dessen Wohnung aufgefunden hat  : Doktor Keleti saß in einem Fauteuil, ohne Rock und Weste, mit verzerrtem Mund, eine verkohlte Zigarre vor sich auf dem Tisch, der Kopf war ihm vornübergesunken. Gehirnschlag – sagte der Arzt. Und sie, sie lag ohnmächtig auf dem Sofa, mit aufgelöstem Haar –. Die Dame, die bei ihm war  ! Fortwährend unterbrichst du mich  ! Hab’ ich dir nicht gesagt, daß eine Dame bei ihm war  ? – Wer schreit  ? Ich schreie doch nicht. Und im übrigen – die Leute können herschauen, soviel es ihnen beliebt, mich stört das nicht. – Er hatte eine Dame bei sich – warum denn nicht  ? – Sie lag in Ohnmacht, wir mußten sie nach Hause bringen, und als sie erwachte, bekam sie Schreikrämpfe. (N 172)

Die narrativ ausgesparten und doch von Aladar kommentierten Reaktionen seines Bekannten aus Kecskemet haben hier transgenerisch die Funktion von »impliziten Regie­ anweisungen« und erlauben es dem Leser, den emotionalen Ausnahmezustand des sich verplappernden Aladar wahrzunehmen, der »schreit« und eine derartige Szene in dem Café hinlegt, dass die anderen Gäste erstaunt und neugierig »herschauen«. Die Information, dass Keleti in seinem Sterbezimmer nicht allein, sondern in weiblicher Begleitung aufgefunden wurde, unterläuft Aladar gleichsam unbeabsichtigt und provoziert sofort eine ungewollte Reaktion  : Die Nachfrage des Bekannten nach der seltsam namen­los bleibenden »Dame«, die bei Doktor Keleti ohnmächtig und »mit aufgelöstem Haar« zugegen war, initiiert oder dupliziert rezeptionsästhetisch die Überlegungen des Lesers, der ebenfalls nach der Identität der Dame fragt und gemeinsam mit dem ungarischen Maschineningenieur rätselt, ob hier nicht den Dr. Maurus Keleti der Schlag beim Têteà-Tête mit Aladars Gattin getroffen hat.128 Dieser Eindruck verfestigt sich beim Leser bei der Erkundigung des Maschineningenieurs über den jetzigen Verbleib von Aladars Frau, worauf dieser reagiert  : »Meine Frau  ? Nein, die ist nicht hier. Du wirst es ohnehin erfahren – wir leben nicht mehr miteinander« (N 172). Thameyer und Aladar sind gleichermaßen eifersüchtige Erzähler, die aber vor ihrem Hörer und Leser diese Eifersucht sorgsam zu verbergen versuchen, weil sie ja den Ehebruch ihrer Frauen vertuschen wollen. Beide bemühen sich, neutral und sachlich zu argumentieren, und doch bricht sich immer wieder Angst, Wut und Empörung Bahn, etwa wenn Aladar laut wird und anfängt zu schreien, sobald man ihn nach der Dame 128 Sollte es sich bei der Dame mit der derangierten Frisur nicht um Aladars Ehefrau handeln, wäre es wohl kaum plausibel, warum Aladar eine ihm unbekannte Dame gemeinsam mit dem Arzt zu ihr nach Hause brachte und solange bei ihr war, bis sie aufwachte und »Schreikrämpfe« bekam.

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im Sterbezimmer Keletis fragt. Dass Thameyer selbst nicht so ganz an die so mühsam und rhetorisch aufwendig explizierte Theorie des Versehens glaubt, zeigt ein Verschreiber, der rasch abgeändert wird. An die Nachlebenden adressiert schreibt er über »ihr Kind – unser Kind, das nun vierzehn Tage alt ist« (A 515). Spontan schreibt Thameyer von »ihrem Kind« und korrigiert sich nachträglich autosuggestiv zu »unser Kind«.129 Es bleibt bei Andreas Thameyers letzter Brief ambivalent und nicht ganz eindeutig entscheidbar, ob Thameyer die Untreue seiner Frau ganz bewusst erkannt hat und nur vor dem Leser dieses Wissen mit seiner Theorie des Versehens zu verstecken sucht oder ob Thameyer dieses Wissen im Akt des Schreibens zu verdrängen und auch vor sich selbst wieder zu verbergen versucht. Auffällig sind bei dieser Erzählung ohne strukturierende Absätze ihr konfuser Aufbau, ihre Abschweifungen und häufigen emphatischen Ausrufe, die die erzählerische Unzuverlässigkeit textuell markieren. Häufige Anredewechsel dokumentieren auch die Verwirrung des Briefschreibers, der permanent seine Glaubwürdigkeit und Normalität beteuert  : »Ich schreibe das alles so genau, damit man nicht etwa meint, ich sei wahnsinnig« (A 516).130 Sprachlich auffällig ist auch, dass Thameyer oft, wenn die logische Überzeugungskraft nicht mehr auszureichen scheint, in biblische Sprachmuster wechselt, von denen er sich größere Autorität und Persuasionsmöglichkeiten zu erhoffen scheint, etwa wenn er äußert  : »Siehe, du mußt es tun« (A 515) oder mit großer Gebärde erklärt  : »Aber ich sage euch« (A  516). Thameyer braucht sehr lange, bis er auf die Hautfarbe des Kindes zu sprechen kommt.131 Zuvor hat er bereits seitenlange Beispiele für eine Literaturgeschichte des Versehens gegeben, wobei dem Leser noch unklar bleiben muss, was eigentlich mit diesen Fällen bewiesen werden soll. Je näher Thameyer der Schilderung der Tiergarten-Episode kommt, desto syntaktisch nervöser wird er, muss immer wieder neu ansetzen, korrigiert sich. Graphisch dokumentiert sich diese Steigerung der inneren Erregung in der drastischen Zunahme der Auslassungspunkte, die das Unzusammenhängende und immer wieder neu Ansetzende der Erzählung markieren, aber auch das Aussparen des Eigentlichen auffällig signalisieren.

129 Zudem bleibt das Kind in Thameyers Erzählung namenlos, man erfährt nicht einmal sein Geschlecht. Auch dies sind weitere Zeichen dafür, dass Thameyer ein äußerst distanziertes Verhältnis zu dem Kind hat, von dem er insistent behauptet, dass es sein eigenes Neugeborenes ist. 130 Vgl. auch Bénédicte Abraham  : Discours de la folie raisonnante dans »Andreas Thameyers letzter Brief«, in  : Crises allemandes de l’identité. Hg. von Michel Vanoosthuyse. Montpellier 1998, S. 35–48. Zu solchen verwirrt-erregten unzuverlässigen Erzählern vgl. auch Gaby Allrath  : »But Why Will You Say that I Am Mad  ?« Textuelle Signale für die Ermittlung von »Unreliable Narration«, in  : Unreliable Narration (Anm. 69), S. 59–79. 131 Ähnlich lässt Perutz Aladar vorgehen, wenn der ausführlich und umständlich erst einmal seine metaphorische Geschichte vom »Druck auf den Knopf« erzählt, bevor er zum eigentlichen Bericht über den Sterbeabend Keletis kommt.

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Die Auslassungszeichen geben dem Leser den Assoziationsraum, um das Nichterzählte zu imaginieren.132 Bemerkenswert ist des Weiteren, dass Thameyer die Unmöglichkeit, die Treue seiner Frau zu beweisen, zu kompensieren versucht, indem er immer wieder Nebensächlichkeiten authentifiziert, die aber gar nichts mit dem eigentlichen Sachverhalt zu tun haben.133 Als sich Thameyer an die Schilderung der Vorgeschichte zur Tiergartenepisode an einem Mittwoch vorsichtig herantastet, heißt es etwa  : »Dienstag verbrachte meine Frau den ganzen Tag zu Hause, denn es regnete.  – Auch auf dem Lande, bei meinen Eltern, regnete es an diesem Tag, wie ich mich genau erinnern kann« (A 518). Dass es in Österreich, in Wien und auf dem Lande, an diesem Tag geregnet hat, ist damit nun beglaubigt, sonst aber auch gar nichts. Dass Schnitzler hier womöglich konkret auf den erstaunlich verregneten Sommer von 1897 referiert, wird nahegelegt bei der Lektüre von Gabor Steiners Erinnerungen, die berichten von verheerenden Unwettern und sommerlichem Dauerregen, die im Prater sein künstliches »Venedig in Wien« teils heftig (gleichwohl ortsgerecht) unter acqua alta setzten.134 Deutlich ist, dass Thameyers Brief mit unklarem Adressaten vor allem der verzweifelte Versuch einer Selbstüberzeugung ist, eine angestrengte Autosuggestion, das Experiment einer Emotionsregulation,135 das die angestaute Angst und Wut umzuleiten sucht in eine Neubewertung. Thameyer bemüht sich, die dunkle Hautfarbe des Kindes nicht als Folge eines Ehebruchs, sondern als Auswirkung eines Blickkontakts zu interpretieren und zu entschärfen. Das gelingt ihm aber nur bedingt. Dass die Regulation der Wut und Eifersucht nicht glückt, zeigt sich auch, wenn diese Eifersucht und Wut über die Untreue seiner eigenen Frau an unerwarteter Stelle und abgewandelt in diesem Brief wieder aufbricht, nämlich wenn Thameyer mit dem Verhalten seiner Schwägerin Fritzi hart ins Gericht geht. Fritzi, die Schwester von Thameyers Frau, ist, so berichtet es Thameyer, »verlobt mit einem sehr braven jungen Mann, der nun eine Stellung in Deutschland hat, und zwar in Bremen in einem großen Handlungshaus, und Fritzi soll ihm bald nachkommen, um seine Frau zu werden« (A 518). Die kurze Charakteristik von Fritzis Verlobtem ähnelt der Selbsteinschätzung Thameyers als aufrechtem Mann von Wort. Thameyers Frau Anna war mit ihrer Schwester Friederike, genannt Fritzi, in 132 Während Schnitzler mit Auslassungspunkten das unzuverlässige Erzählen Thameyers interpunktionell markiert, betont Perutz mit seinen Gedankenstrichen, die als Auslassungszeichen der Figurenrede des Ingenieurs fungieren, die Skepsis an der Zuverlässigkeit seines Erzählers Aladar. 133 Mit dieser Strategie, Nebensächliches zu beweisen, um vom Eigentlichen und Unbeweisbaren abzulenken, ähnelt Thameyer als unzuverlässiger Erzähler dem fiktiven Herausgeber in der Novelle Die Weis­ sagung. 134 Vgl. Steiner  : Als Wien frohe Feste feierte (Anm. 107), S. 5. 135 Zum psychologischen Konzept der Emotionsregulation vgl. Sven Barnow  : Emotionsregulation und Psychopathologie. Ein Überblick, in  : Psychologische Rundschau 63 (2012), S. 111–124.

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den Tiergarten zur Völkerschau aufgebrochen. Fritzi hatte Anna dann aber allein gelassen, um sich, so berichtet Thameyer, mit einem Geliebten zu treffen. In dem Tadel von Fritzis Verhalten vermag Thameyer dann indirekt auch mit dem Verhalten seiner Frau abzurechnen. Die Eifersucht wird projiziert von Anna auf Fritzi und zugleich erscheint hier das Versehen als Folge von Fritzis Fehlverhalten.136 Auch Aladars Erzählgebaren ist geprägt von Wut und Eifersucht, die er seinem Gegenüber zu verbergen sucht. Während sich Thameyers camouflierte Wut gegen seine Frau richtet, positioniert sich Aladar gegen den Nebenbuhler Dr. Maurus Keleti, den er in seiner Imagination und Wunschvorstellung aus dem Leben abberufen hat. Zuvor beteuert er in auffälliger Weise und Intensität, dass er Keleti völlig neutral gegenübersteht  : Aus dem Leben herausgerufen – das ist das richtige Wort. Aber wenn ich es getan hab, so tat ich es ohne eine Spur von Haß. Er hat mir nichts getan, gar nichts. Er war ein ruhiger Mensch, gebildet, gediegen, vielleicht hätte er etwas weniger mit seiner Bildung großtun sollen, aber das war auch das einzige, was ich gegen ihn einzuwenden hatte. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, daß er mein Freund war. Aber ein guter Bekannter war er, er ist fast täglich zu uns gekommen. Ohne jeden Haß, nur aus einem inneren Zwang, hab ich auf den Knopf gedrückt – und irgendwo in einem anderen Zimmer, in einem ganz anderen Stadtteil, ist der Doktor Keleti tot in seinen Lehnstuhl gefallen. (N 165)

Zwei Mal muss Aladar sich und seinem Gegenüber versichern, dass er Keleti »ohne eine Spur von Haß«, »ohne jeden Haß« aus dem Leben abberufen hat. Dass Keleti ihm nichts getan hat, wird durch die nachgesetzte Doppelung »gar nichts« noch einmal eigens hervorgehoben.137 Gleichzeitig wird man hellhörig, dass dieser lediglich »gute[] Bekannte[]« doch »fast täglich« bei Aladar vorbeischaute. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Besuche Keletis mehr Aladars Gattin als ihm selbst galten. Das einzige gegenüber Keleti distanzierende Moment, dass sich Aladar hier offiziell gestattet, ist das Bildungsgeprahle, das er bei Keleti konstatiert. Mit dem Stichwort »Bildung«, das in der kurzen Novelle allein sieben Mal auftaucht, ist der zentrale Grund für Aladars Minderwertigkeitskomplex gegenüber seiner Frau und Keleti benannt. Während Tha136 Vgl. bereits Richard Specht  : Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk. Eine Studie. Berlin 1922, S. 221. 137 Diese Überbetonung der eigenen Neutralität gegenüber Keleti steht in auffälliger Spannung zu der Fixierung, mit der Aladar sich später festbeißt an der Vorstellung, dass Keleti tot sein könnte. Dass hier der Wunsch Vater des Gedankens ist, wird leicht ersichtlich  : »Er war nicht tot, er lebte, aber ich sagte mir  : Wenn er tot wäre, das müßte doch eigenartig sein, mit seiner abgeschiedenen Seele zu sprechen. Er ist nicht tot, aber wenn er tot wäre –. Immer ging mir das durch den Kopf  : Wenn dieser Keleti tot wäre  ! Ich konnte von dem Gedanken nicht loskommen« (N 169).

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meyer sich in seinem körperlichen Selbstwertgefühl und seiner Männlichkeit von den afrikanischen »Riesenmenschen mit den glühenden Augen und den großen schwarzen Bärten« (A 519) bedroht fühlt,138 erklärt sich Aladars Inferioritätsbewusstsein aus einer sozialen und kulturellen Kluft, die er zwischen seiner eigenen Herkunft und Bildung auf der einen Seite und dem gesellschaftlichen Milieu des promovierten Juristen Keleti und dem Elternhaus seiner Frau auf der anderen Seite ausmacht. Aladar hat keine gediegene Schulausbildung genossen, sondern musste bereits »mit vierzehn Jahren ins Geschäft« (N  165), war im Ersten Weltkrieg »ganz gewöhnliche Ordonnanz« (N  165) beim Kriegshafenkommando in Pola und hat nach dem Krieg »geheiratet, das weißt du ja, die Tochter eines Hofrates, erstklassige Familie, hochgebildet« (N 166). Damit ist der Beginn seiner Selbststigmatisierung und nachgeholten Bildungs-Tour de force markiert. Denn Bildung ist das, was er nicht hat, und ihn ausschließt aus den Unterhaltungen und Kreisen, in denen seine Frau verkehrt  : Stundenlang konnte ich zuhören, wenn sie mit dem Doktor Keleti über Probleme sprach –, Renaissance, Atavismus, Kommunismus –, ganz klein kam ich mir vor, oft war ich wie vor den Kopf geschlagen, und da sagte meine Frau  : Du solltest doch, Aladar, versuchen, nachzuholen, was du versäumt hast, zu spät ist es nie. (N 166)

Zum stummen »Zuhören« verdammt und ausgeschlossen aus den Gesprächen, die Doktor Keleti mit seiner Frau führt, wird Aladar losgeschickt, um sich zu bilden. Diese Bildungsaneignung ist ein mühsamer Prozess für Aladar  : »die ganze Bildung hab ich mir erst in späteren Jahren erworben, schwer genug, das kannst du mir glauben« (N 165). Wenn Aladar seinem ungarischen Bekannten dann von seiner nachgeholten Bildung erzählt, erheitert er ihn und den Leser unfreiwillig in doppelter Hinsicht, denn einerseits finden Aladars von seiner Frau gewünschten Bildungsmaßnahmen auffälligerweise im138 Vgl. hierzu Michael Boehringer  : Fantasies of White Masculinity in Arthur Schnitzler’s »Andreas Thameyers letzter Brief«, in  : The German Quarterly 84 (2011), S. 80–96. Über biblische Verweise lässt sich auch die Vermutung plausibilisieren, dass Thameyer nur bedingt zeugungsfähig ist und somit wissen muss, dass seine Frau nicht sein Kind geboren hat  ; so die These von Reid (»Andreas Thameyers letzter Brief« and »Der letzte Brief eines Literaten« [Anm.  126])  : Thameyer erläutert, er habe seine »Frau sieben Jahre gekannt, ehe sie meine Gattin wurde« (A 516), und man mag da an Jakob denken, der in der Genesis sieben Jahre um Rahel warb und der dann aber von Laban betrogen wurde und Lea statt Rahel in der Hochzeitsnacht zur Frau erhielt. Als dann nach weiteren sieben Jahren schließlich die Ehe zwischen Jakob und Rahel gestiftet wird, überschattet zuerst die Unfruchtbarkeit Rahels diese Ehe. Mit diesen biblischen Assoziationen vermag der Leser von Schnitzlers Erzählung auch noch einmal anders auf die vierjährige kinderlose Ehe von Andreas und Anna Thameyer zu blicken. Warum die Ehe bis zu dem sonderbaren Vorfall im Tiergarten kinderlos blieb, wird nicht erzählt, aber die biblischen Allusionen (auf Betrug und Unfruchtbarkeit) verdichten noch einmal den Zweifel an Thameyers Version einer glücklichen und unproblematischen Ehe.

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Nachschriften

mer abends ohne die Teilnahme seiner Frau statt und verschaffen damit Keleti und seiner Frau »sturmfreie Bude«,139 während sich Aladar kulturell müht  ; und andererseits dokumentiert Aladars Bildungsbericht, dass er über das, was er erwerben sollte, in keiner Weise verfügt. Denn sein Redeschwall setzt unhierarchisiert und unverstanden nebeneinander »Shakespearedramen und die Stücke von Molnar und Trios und Kammermusik und Beethoven und Vorträge im Volksbildungshaus und Vorträge im wissenschaftlichen Klub« (N 166). Dass er die Standards und Codes, was denn zu einer durchschnittlichen abendländischen gymnasialen Schulbildung gehört, in keiner Weise internalisiert hat, zeigt sich, als er über Julius Cäsar und das Lateinische ausholt  : Komisch, ich habe mir Julius Cäsar immer mit einem Schnauzbart vorgestellt – du auch  ? Er war aber glattrasiert. Was er sagte, weiß ich nicht, er sprach Lateinisch – gehört, bitte schön, Lateinisch auch zur Bildung  ? Englisch, Französisch, meinetwegen sogar Rumänisch, man kann manchmal auch Rumänisch brauchen, aber bitte mit wem, bitte schön, soll ich Lateinisch sprechen  ? (N 167 f.)

Aladars Umgang mit seinen Bildungsschnipseln, die er im Gießkannenprinzip, schlagwortartig, asyndetisch unverbunden seinem Gegenüber ohne Erläuterung, gleichsam als unverstandene Fremdworte entgegenruft (»Astralleib, Seelenwanderung, Materialisation« [N 167]), ähnelt Thameyers Ingrimm, mit dem der seine Adressaten mit den abendländischen Autoritäten konfrontiert, die die Realität des Versehens bestätigen sollen. Aber so wenig die litaneiartige Zitation von Luther, »Hamberg, Heliodor, Malebranche, Welsenburg, Preuß, Limböck« (A 520) bezeugen kann, dass Thameyers Frau treu gewesen ist, so wenig erweist sich Aladars Bildung als fundiert, obzwar er seinem Gegenüber beteuert  : »du kannst mit mir, bitte sehr, über alles sprechen – Napoleon, Wagneropern, Botanik, Jahreszahlen, Schopenhauer, Rokoko – was du willst« (N 165). Das kleinbürgerlich tollpatschige Verhalten der beiden unzuverlässigen Erzähler hat einen komischen Effekt und führt in beiden Fällen sympathielenkend eher zu einem distanzierenden Verhalten des Lesers.140 Denn obwohl hier doch zwei Opfer eines Betrugs sich präsentieren, führt das nicht zu einem solidarisierend bindenden und mitleidigen Leserverhalten. Gleichzeitig sind diese Betrugsopfer ja auch Betrüger, die in täuschender Absicht ihren Lesern und Hörern Gegengeschichten auftischen, die aber für den Leser mehr oder weniger leicht durchschaubar als Lügengeschichten enttarnbar sind. Tha139 »Du solltest abends Vorträge besuchen, ins Theater und in die Oper gehen« (N 166), rät ihm seine Frau. 140 Mit James Phelan kann man narratologisch zwischen einem bindenden (»bonding«) und einem entfremdendem (»estranging«) Effekt des unzuverlässigen Erzählens differenzieren. Vgl. James Phelan  : Estranging Unreliability, Bonding Unreliability, and the Ethics of »Lolita«, in  : Narrative 15 (2007), S. 222–238.

Filiationen unzuverlässigen Erzählens 

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meyers Selbstmitleid und Aladars erfolglose Bildungsbesessenheit tun ein Übriges, um diese Selbst-Erzählungen zweier betrogener Betrüger als unfreiwillig komische wahrzunehmen.141 Sowohl Schnitzler wie Perutz nutzen in ihren unzuverlässigen Erzählungen in gleicher Weise die burleske Motivtradition des gehörnten Ehemanns, die es erlaubt, ihre Geschichten auch gattungshistorisch als komische Novellen in der Tradition Boccaccios zu lesen.

141 Zur Sympathielenkung in Andreas Thameyers letzter Brief vgl. Kathrin Fehlberg  : Gelenkte Gefühle. Literarische Strategien der Emotionalisierung und Sympathielenkung in den Erzählungen Arthur Schnitzlers. Marburg 2014, S. 225–230.

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Dank

Erste Ideen zu diesem Buch konnte ich während eines Fellowships des Marsilius-Kollegs, dem Institute of Advanced Studies der Universität Heidelberg, sammeln  : Bei meinem narratologischen Projekt zum unzuverlässigen Erzählen konzentrierte ich mich damals auf die Wiener Moderne. Die Gespräche in unserer interdisziplinären Arbeitsgruppe zu »Selbstbeschreibungen in der Moderne  : Narrative der Emotion und Kognition« waren für mich immer anregend, und ich danke dafür meinen Heidelberger Kolleginnen und Kollegen und hier vor allem Sven Barnow und Vera Nünning. Weiter gesponnen an diesem Thema habe ich während eines Forschungsaufenthalts in Weimar. Ich danke der Klassik Stiftung Weimar für die Gewährung eines Pogwisch-Haus-Stipendiums, das es mir ermöglichte, in außergewöhnlicher Umgebung und ganz in Ruhe zu forschen. Dem Heidelberg Centre for Transcultural Studies danke ich, dass ich gemeinsam mit Magdolna Orosz in einem Tandemfellowship in Heidelberg und Budapest mit Heidelberger Studierenden und Budapester Wissenschaftlern weiter über (Mittel-)Europakonzepte der Wiener Moderne nachdenken durfte. Besonders ertragreich war es, Teile der Studie im Kreis von Kolleginnen und Kollegen zur Diskussion zu stellen, so in Berlin bei einem Kolloquium zu »Jüdischen Intellektuellen im Ersten Weltkrieg« von Irmela von der Lühe und Richard Brittnacher, in Rom beim Projekt von Luca Crescenzi zu »Wissenschaft und Mystik um die Jahrhundertwende«, in Marburg beim DFG-Projekt von Eckart Conze und Jochen Strobel zu »Aristokratismus und Moderne«, immer wieder in Budapest bei Magdolna Orosz im Rahmen unserer vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderten Germanistischen Institutspartnerschaft (GIP), in Wolfenbüttel bei einer Tagung von Cord-Friedrich Berghahn, Dirk Niefanger und Gunnar Och über »Lessing und das Judentum«, in Bonn bei einem Workshop zur Weltanschauungsliteratur von Christian Meierhofer und Anna S. Brasch, in Szeged bei einer Tagung von Attila Bombitz, Roland Innerhofer und Szilvia Ritz zu Hugo von Hofmannsthal und in Venedig bei Cristina Fossaluzza, mit der ich viel über Kulturkritik des Jungen Wien gegrübelt habe. Es war daher wunderbar, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) den Aufbau einer Internationalen Kooperation zwischen unseren Universitäten großzügig unterstützt hat und wir an der Università Ca’Foscari zusammen ein Kolloquium zur »Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938)« veranstalten durften. Die Diskussionen dort in der

Dank 

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Sala Marino Berengo der Ca’Foscari mit Jan Andres, Hermann Dorowin, Kurt Ifkovits, Primus-Heinz Kucher, Dirk Niefanger, Paolo Panizzo, Maurizio Pirro, Elena Raponi, Gabriella Rovagnati, Gregor Streim, Jochen Strobel und Norbert Christian Wolf waren motivierend und haben mir geholfen, die Studie endlich zum Abschluss zu bringen. Auch die Ausrichtung der 19.  Internationalen Tagung der Hugo von HofmannsthalGesellschaft in Heidelberg (gemeinsam mit der Hofmannsthal-Gesellschaft, dem Freien Deutschen Hochstift, der Universität Mannheim und in Kooperation mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften) hat viel Freude gemacht und mir weitere wichtige Impulse vermittelt. Hier danke ich Elsbeth Dangel-Pelloquin, Konrad Heumann, Alexander Honold und Katja Kaluga für Anregungen im Gespräch über »Hofmannsthals Komödie des Scheiterns« und für organisatorische Unterstützung Franziska Feger und Anna-Katharina Gisbertz. In Heidelberg waren darüber hinaus auch Unterhaltungen innerhalb unseres komparatistischen Promotionskollegs (»Was ist Tradition  ?«) weiterführend. Wolfgang Braungart bin ich herzlich dankbar für seine engagierte Unterstützung im Vorfeld der Drucklegung. Für die Gewährung eines namhaften Druckkostenzuschusses bin ich der Stadt Wien und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften zu Dank verpflichtet. Verena M. Schirl sei für ihr beherztes Korrektorat gedankt. Den Teilnehmern meiner beiden Hauptseminare zum »Jungen Wien im Alter« danke ich für inspirierende Sitzungen und vor allem für die Bereitschaft, sich mit literaturhistorischem Furor mit manchmal doch recht seltsamen Texten jenseits des Kanons, wie etwa Peter Altenbergs Pròdrŏmŏs, auseinanderzusetzen. Für Gespräche, Kritik, Lektüre und Korrektur danke ich meinen Heidelberger Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ute Gradmann, Tillmann Heise, Sophie Lauster, Hannah Schultes, Bernhard Walcher und Larissa Wilwert. Heidelberg, im Februar 2021 Barbara Beßlich

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Personenregister Kursivierte Seitenzahlen verweisen auf Nennungen in Fußnoten.

Adler, Guido 104 Adorno, Theodor W. 10, 29, 54f. Aischylos 205 Albani, Antonio 37 Albani, Francesco 37 Altenberg, Peter 11, 14, 20f., 26, 30, 34f., 43, 45–66, 307ff., 338f. Andrian, Cäcilie von 306 Andrian, Leopold von 9, 11, 13ff., 17–20, 23–26, 43f., 46, 76f., 201, 290–306, 312 Angelus Silesius (i.e. Johann Scheffler) 185 Annunzio, Gabriele d’ 38f., 129, 137, 184, 295 Antropp, Theodor 100, 102 Aristophanes 105 Aristoteles 182, 247 Arndt, Ernst Moritz 125 Arronge, Adolphe L’ 101 Ascher, Leo 83 Augier, Émile 314 Augustinus 147, 192 Auernheimer, Raoul 11f., 14, 20, 24, 26, 31, 43, 104, 219, 221, 223, 227, 229–234, 282, 286f., 308–326 Bab, Julius 125, 127 Bachofen, Johann Jakob 282 Bahr, Alois 171, 180 Bahr, Hermann 9ff., 13f., 17, 19f., 23–26, 31f., 35f., 41–44, 47, 52, 56f., 77, 99, 104, 113, 117ff., 129f., 137–148, 157–198, 201, 203, 211, 213f., 221, 223, 227f., 255, 284, 297f., 309, 323 Bahr-Mildenburg, Anna 13f. Barrès, Maurice 25, 57ff., 173, 184, 194 Barrison, Gertrude 62 Batka, Richard 67, 103–108 Baudelaire, Charles 77, 137, 295 Baudrillard, Jean 277 Bauer, Julius 220, 223, 226 Bauernfeld, Eduard von 103, 106ff.

Baumann, Hans 146 Beer-Hofmann, Paula 26, 199 Beer-Hofmann, Richard 9, 11, 13ff., 19f., 21, 26, 31, 43, 68, 119, 198–218, 225, 298, 312, 314, 329f. Beethoven, Ludwig van 10, 29, 113f., 173, 352 Behne, Adolf 36 Benatzky, Ralph 69 Benedikt, Ernst 243f. Benedikt, Moriz 243, 246, 251 Benjamin, Walter 32 Benn, Gottfried 23, 60, 150, 184, 200, 244f. Berg, Alban 21, 49 Bergson, Henri 112, 172, 175 Berman, Richard A. (i.e. Arnold Höllriegel) 320 Bernard, Tristan 315 Berté, Heinrich 103 Bettauer, Hugo 280, 285 Bial, Rudolf 101 Birgel, Willy 104 Bischoff, Theodor 342 Bismarck, Otto von 114, 169 Blei, Franz 45f., 62, 177, 308ff., 325 Boccaccio, Giovanni 352 Bölsche, Wilhelm 255 Bolton, Guy 98 Bompard, Gabrielle 223 Bonus, Arthur 172 Borchardt, Rudolf 23, 32f., 149ff., 301 Bourget, Paul 9, 39, 137, 173 Brahm, Otto 221 Braun, Felix 309 Brecht, Bertolt 205, 226 Brecht, Walther 30, 246 Brentano, Clemens von 188f., 332 Brion, Friederike 103 Broch, Hermann 37f., 156 Bronnen, Arnolt 228f. Bruckmann, Hugo 251 Bruckmann-Cantacuzène, Elsa 251

Personenregister 

Brunetière, Ferdinand 175 Brunnemann, Anna 132 Bücher, Karl 176 Büttner, Hermann 185f. Buddha 39 Burckhardt, Carl Jacob 158, 246f., 250f. Burckhardt, Jakob 239 Burke, Edmund 104 Caesar, Gaius Iulius 147, 352 Calderón de la Barca, Pedro 19, 232f., 293, 295f. Carracci, Agostino 37 Carracci, Annibale 37 Casanova, Giacomo Girolamo 15, 89, 92, 261, 314 Charmatz, Richard 229 Charoux, Siegfried 235f. Choderlos de Laclos, Pierre-Ambroise-François 314 Christie, Agatha 330 Christine, Lucie 187f. Clemenceau, Georges 161 Cohen, Hermann 114 Colerus, Egmont 227 Corneille, Pierre 228 Coudenhove-Kalergi, Richard 18, 147, 156 Csokor, Franz 227 Cuvillier, Ch. 83 Czernin, Ottokar Graf 116 Daudet, Alphonse 314, 319f. David, Jakob Julius 73 Décsey, Ernst 116 Degenfeld, Ottonie Gräfin 246, 250 Dehmel, Richard 187, 202, 301 Denifle, Heinrich 192 Diederichs, Eugen 132, 154,175f., 184, 197 Dietzel, Heinrich 170, 176 Doczy, Ludwig 225 Döblin, Alfred 62, 271 Dörmann, Felix 11, 14, 16, 19–22, 26, 37, 43, 52, 67, 72–86, 96f., 137, 280, 284 Dostal, Nico 69 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 156 Dreyer, Max 83 Duhan, Hans 103 Dyck, Anthonis van 160, 317 Ebert, Friedrich 18 Ebner, Margarethe 190

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Eckhart (Meister Eckhart) 180, 182, 185ff., 190ff., 197 Ehrenstein, Albert 65f., 134, 159, 307 Ehrlich, Sigmund 223 Eichendorff, Joseph von 208 Elias, Norbert 272 Elßler, Fanny 104–108 Emmerick, Anna Katharina 188f. Engels, Friedrich 170 Epstein, Moritz 223 Ernst, Paul 39 Ettlinger, Karl 53 Eucken, Rudolf 172 Eugen Franz, Prinz von Savoyen-Carignan 110, 122 Euripides 242 Eysler, Edmund 69, 83 Fall, Leo 69, 103f. Farrère, Claude 315 Fels, Friedrich M. 181, 197 Fischer, Samuel 65, 227, 264, 268, 296 Flaischlen, Cäsar 29 Flaubert, Gustave 313f. Flesch von Brunningen, Hans 308 Fontane, Theodor 27f., 118, 268 Ford, Henry 284 France, Anatole 113, 155, 311 Franceschini, Robert 338 Franck, Hans 60f. Franckenstein, Clemens von 301 Frank, Paul 103 Franz I., Kaiser von Österreich 101 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich (König von Ungarn) 111, 115f., 236, 320 Franzos, Berta 154 Fregoli, Leopoldo 134 Freiligrath, Ferdinand 125 Freud, Sigmund 78, 176, 201, 206, 284, 328f., 336 Freytag, Gustav 314 Friedell, Egon 45, 66, 173f. Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römisches Reiches Deutscher Nation 147 Gabek, Leni 64 Galen, Augustinus Graf von 116 Ganghofer, Ludwig 129 Gauguin, Paul 192ff. Geibel, Emanuel 125

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Personenregister

Gentz, Friedrich von 103–106 George, Stefan 14, 20, 32, 57, 61, 136f., 290ff., 296, 298, 304 Gerstäcker, Friedrich 322 Gertrud von Helfta 190 Geyer, Siegfried 227 Gilbert, Jean 83 Giorgione (Giorgio di Castelfranco) 23 Girardi, Alexander 87, 99–102, 105 Goebbels, Joseph 228f. Goering, Reinhard 131 Goethe, Johann Wolfgang 29, 90, 103, 113f., 128, 151, 156, 190, 227f., 232, 313, 320, 325, 332, 341f., 346 Goldmann, Paul 14, 227 Goldsmith, Oliver 343 Goll, Claire 338 Grabbe, Christian Dietrich 226 Grabmann, Martin 190 Graedener, Hermann 134 Granichstaedten, Bruno 83 Gregor, Hans 87 Grillparzer, Franz 65, 224, 295, 315, 328 Grimmelshausen, Hans Jakob 268 Großmann, Stefan 174, 221 Grün, Lili 285 Grünewald, Matthias 189 Grun, Bernard 104 Guardini, Romano 187f. Günther, Johann Christian 24 Gundolf, Friedrich 128, 229 Gyp (i.e. Sibylle Gabrielle Riquetti de Mirabeau) 310 Haas, Willy 251 Habsburg, Otto 297 Haeckel, Ernst 187, 192, 255 Hainisch, Michael 170 Halbe, Max 255 Hamsun, Knut 184 Hannson, Ola 184 Harden, Maximilian 35, 148, 168, 221 Hartleben, Otto Erich 185f. Harvey, Lilian 104 Hauptmann, Gerhart 35, 221, 255, 259, 315 Hawthorne, Nathaniel 129 Hearn, Lafcadio 314, 153f. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 65, 114

Heine, Albert 199 Heine, Heinrich 108, 134, 230 Heine, Wolfgang 170 Heliodoros 90, 340f., 352 Heller, Leo 103 Herder, Johann Gottfried 151 Heredia, José Maria de 134 Herrmann-Neiße, Max 64f. Herterich, Franz 229 Herzer, Ludwig 103 Herzfeld, Marie 184 Herzl, Theodor 115, 230, 309 Hesse, Hermann 73 Heuberger, Richard 70 Hiller, Kurt 65 Hitler, Adolf 19, 138, 251f., 298, 306 Hörmann, Eugen 291 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 134, 332 Hoffmann, Joseph 13 Hofmannsthal, Christiane von 249f. Hofmannsthal, Hugo von 9ff., 13–26, 29–33, 36–44, 46, 53, 61, 67f., 70, 76f., 86, 92, 102, 104, 109, 115, 137ff., 148–159, 184, 199ff., 203, 206–211, 214ff., 218f., 225, 229–234, 237–252, 255, 260, 264, 278, 284, 290, 293, 295f., 298, 301, 307ff., 312ff. Holz, Arno 227 Horaz 136 Horn, Robert 338 Hugo, Victor 13 Humboldt, Wilhelm von 151 Humperdinck, Engelbert 92 Hung-Ming, Ku 154 Huysmans, Joris-Karl 173, 189, 196 Ibsen, Henrik 64, 90, 313, 342 Jacob, Heinrich Eduard 310 Jacobsen, Jens Peter 63 Jacobson, Leopold 67, 76–80 Jan van Ruysbroek 192ff., 198 Jatho, Carl 172 Jean Paul (i.e. Johann Paul Friedrich Richter) 332 Jenbach, Bela 103 Jeritza, Maria 241 Joël, Karl 114, 133f. Johann III. Sobieski 164 Johst, Hanns 131

Personenregister 

Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 222 Kafka, Franz 275, 330 Kafka, Rudolf 182 Kálmán, Emmerich 69 Kamare, Stephan 226 Kant, Immanuel 114, 227 Karczag, Wilhelm 100 Karg von Bebenburg, Edgar 37 Karl I., Kaiser von Österreich (als Karl IV. König von Ungarn) 116, 124, 297 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 147 Karpath, Ludwig 106 Kassner, Rudolf 23, 182, 184, 197, 251, 301 Kattnigg, Rudolf 69 Kaufmann, Arthur 261 Kautsky, Hans 220 Kavafis, Konstantinos 29 Keller, Gottfried 301 Kellermann, Bernhard 173 Kellermann, Hermann 112, 131 Kensik, Alphons Clemens 182 Kerr, Alfred 11f., 132, 221, 286 Keyserling, Eduard von 268 Kienzl, Hermann 176 Kipling, Rudyard 314 Klein, Carl August 292 Klein, Josua 172 Kleist, Heinrich von 113, 125, 134, 318 Klimt, Gustav 176 Klinenberger, Ludwig 100 Knepler, Paul 103 Knoblauch, Adolf 36 König, Eva 220, 222, 225, 229 Koffka, Friedrich 36 Komjathy, K. 83 Kosky, Barrie 69 Kottow, Hans 83 Kracauer, Siegfried 281 Kramář, Karel 170 Kraus, Karl 16, 22, 32, 43, 47, 69f., 74, 97, 104, 112, 115f., 147, 156, 159, 221ff., 225, 253 Kuh, Emil 224 Kutter, Hermann 172 Kvapil, Jaroslav 155

Lampedusa, Guiseppe Tomasi di 29 Landauer, Gustav 185ff. Langen, Albert 117 Langer, Anton 103 Lasky, Béla 103 Lawner, Fanny 324f. Lehár, Franz 68–73, 76, 78, 97, 100, 103, 105 Lenin, Wladimir Iljitsch 304 Lenz, Jakob Michael Reinhold 239 Lenz, Peter 193 Leopardi, Giacomo 38 Lesage, Alain-René 280 Lessing, Gotthold Ephraim 24, 218–236 Lessing, Theodor 290 Leybold, Hans 34, 62ff. Liebert, Max 122 Lirsky, W. 83 Löhner-Beda, Fritz 103 Loewenson, Erwin 61f. Löwy, Siegfried 229 Loos, Adolf 53, 56 Lothar, Ernst 277f. Lothar, Rudolph 83, 181f., 185 Ludwig, Emil 26, 309 Lueger, Karl 235f. Lukian 240ff., 245 Luther, Martin 230, 341, 352 Mach, Ernst 12, 214 Maeterlinck, Maurice 22, 63, 88, 112f., 129–134, 137, 182ff., 193ff., 198 Mager, Alois 189f. Mahler-Werfel, Alma 71 Malebranche, Nicolas 341, 352 Mallarmé, Stéphane 208 Mann, Heinrich 150f. Mann, Otto 229 Mann, Thomas 29, 33, 44, 51, 163, 230f., 249f., 267f., 270f., 278–281, 284, 302ff., 308, 327 Marco Polo 332ff. Maria Theresia, Erzherzogin von Österreich (Königin von Böhmen und Ungarn) 18 Marx, Karl 170 Mauclair, Camille 194 Maupassant, Guy de 63 Mauthner, Fritz 47, 175, 197, 214, 221 Max, Hans 103 McEwan, Ian 335

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Mechthild von Hackeborn 190 Mechthild von Magdeburg 190 Meisel, Samuel 218f., 234 Mendelssohn, Moses 219, 234 Messer, Max 182f., 197 Mestrozi, Paul 103 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 104–108 Metternich, Pauline von 116 Metzl, Ottilie 97, 115 Metzner, Franz 235 Meyer, Conrad Ferdinand 33, 63 Meyerbeer, Giacomo 26, 291 Millaud, Albert 69 Minor, Jakob 221, 223 Moeller-Bruck, Arthur 57 Molnar, Ferenc 352 Molo, Walter von 221 Mozart, Wolfgang Amadeus 103, 113 Mühsam, Erich 45, 60 Müller(-Einigen), Hans 73–76, 78ff. Müller, Johannes (Theologe) 172f. Müller, Johannes (Physiologe) 342 Müller, Robert 145 Müller-Reif, Willy 188 Münchhausen, Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von 89f., 92 Murri, Romolo 186f. Musil, Robert 11f., 33, 139f., 302 Mussolini, Benito 304 Nabl, Franz 74 Nabokov, Vladimir 352 Nadler, Josef 148 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 124, 133, 138, 147, 352 Naumann, Friedrich 17, 142, 144ff., 148f. Nestroy, Johann 65, 103 Neumair, Josef 125 Nietzsche, Friedrich 20f., 29, 36, 39, 169, 227, 237, 296, 304 Nikolaus Kempf von Straßburg 190 Nikolaus von Kues 182 Nordau, Max 221 Novalis (i.e. Friedrich von Hardenberg) 132, 147, 151, 159 Novarro, Ramón 96

Oberländer, L.G. 98, 106 Oesterreicher, Rudolf 103 Offenbach, Jacques 38, 69ff., 79, 84f., 239f., 245, 250 Olbrich, Joseph Maria 13 Ophüls, Max 88, 96 Oppeln-Brunikowski, Friedrich von 132 Oppenheimer, Franz 176 Oppenheimer, Max 62 Ostwald, Wilhelm 176 Paganini, Niccolò 103 Pannwitz, Rudolf 149, 154 Paracelsus (i.e. Theophrastus Bombast von Hohenheim) 191 Pascal, Blaise 193, 233 Pater, Walter 23 Péladan, Joséphin 181, 184, 190f. Pepöck, August 104 Peregrinus Proteus 240 Pernestorfer, Engelbert 170 Perutz, Leo 26, 308, 326–353 Pinthus, Kurt 64, 125f., 134 Platon 210, 247, 249 Plautus 92, 239 Plenge, Johann 168, 176 Plutarch 210 Pöhlmann, Robert von 245 Pohlner, Ludwig 229 Polgar, Alfred 45, 47, 53, 59, 202 Pollack, Frieda 315 Polybios 247f. Pompadour, Jeanne-Antoinette (Poisson) de 104 Porter, Cole 98 Preuss, Julius 341, 352 Puccini, Giacomo 314 Raabe, Wilhelm 27, 33 Radetzky von Radetz, Joseph Wenzel Graf 111, 120f., 165 Radler, Friedrich von 103 Raimund, Ferdinand 65, 99f. Redlich, Josef 157, 176, 251 Redlich, Oswald 235 Reich, Hermann 241 Reichert, Heinz 103 Reinhardt, Max 22, 198, 227 Reiterer, Ernst 103 Rembrandt, Harmenszoon van Rijn 29

Personenregister 

Reni, Guido 37 Rilke, Rainer Maria 23, 130f., 251, 284 Rockefeller, John 48, 56 Roda Roda, Alexander 83 Rodbertus, Johann Karl 170 Rohan, Karl Anton 18, 156f. Rolland, Romain 153 Roller, Alfred 203 Ronsard, Pierre de 40 Rosenfeld, Fritz 283, 287 Roth, Joseph 161 Rottonara, Franz Angelo 220 Rudolf von Ems 265 Rückert, Friedrich 124f., 134 Rundt, Arthur 280 Runge, Max 342 Saar, Ferdinand von 260, 309 Salten, Felix 9, 11f., 14f., 17f., 20, 22, 26, 31, 36, 43, 67–70, 72f., 96–102, 109–123, 133, 203, 218, 221, 223, 227f., 230, 309, 312, 338 Salus, Hugo 221 Saphir, Moritz Gottlieb 106 Sauer, August 104 Schaukal, Johann Wolfgang 31 Schaukal, Richard 11, 14, 17f., 20, 23ff., 31, 37f., 44, 47, 52f., 73, 124–137, 201, 219, 229, 233f. Scherer, Wilhelm 221 Scherr, Johannes 240f., 245 Schikaneder, Emanuel 103 Schiller, Friedrich 18, 113f., 151, 210, 219, 223, 227f., 232 Schlaf, Johannes 132f., 255 Schlegel, August Wilhelm 40, 128 Schlegel, Friedrich 189 Schlesinger, Hans 301 Schmidl, Hugo 317f. Schmidl, Paula 317f. Schmidt, Erich 221 Schmitt, Carl 19, 293 Schmoller, Gustav 169, 176 Schneider, Camillo Karl 145 Schnitzler, Arthur 9–14, 16ff., 20ff., 24ff., 29–34, 36f., 41–44, 47, 67f., 73f., 77, 86–97, 99, 104, 109, 113, 115–119, 122, 137, 174, 176, 200f., 218, 221, 224f., 234, 253–289, 307–353 Schnitzler, Heinrich 31 Schnitzler, Johann 13, 313

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Schnitzler, Olga 99, 261f., 310f., 317f., 326 Schönberg, Arnold 49, 202 Scholz, Wilhelm von 130, 185f., 221 Schopenhauer, Arthur 352 Schubert, Franz 103, 113f. Schumpeter, Joseph 176 Schwind, Moritz von 103, 106ff. Seiling, Max 90 Serner, Walter 65 Servaes, Franz 10f., 25, 68, 255, 290f. Settegast, Hermann 342 Seuse, Heinrich 180, 185 Shakespeare, William 244f., 352 Shaw, George Bernard 93, 113, 155 Silber, Boris 277 Simandt, Hermine 262 Simmel, Georg 152f., 176, 245 Simon, Ernst 234 Soergel, Albert 62f. Sombart, Werner 170, 175, 233 Soyka, Otto 307 Spann, Othmar 245, 247 Specht, Richard 309, 350 Spengler, Oswald 44, 179, 241, 243, 245, 249, 303, 305 Spiel, Hilde 76 Spoliansky, Mischa 22 Stalla, Oscar 104 Stauf von der March, Ottokar 106 Stefan, Paul 238 Stein, Lorenz von 169 Steiner, Gabor 339f., 349 Stifter, Adalbert 33, 65, 224 Stoessl, Otto 134 Stolz, Robert 69 Straus, Oscar 22, 43, 67–108, 112 Strauß, Johann (Vater) 67 Strauß, Johann (Sohn) 67, 69, 71, 96f., 104, 166 Strauß, Johann (Enkel) 67 Strauss, Richard 22, 67, 70f., 76, 86, 92f., 102, 238–241, 245 Strecker, Karl 277 Strindberg, August 22, 64, 88 Strobl, Karl Hans 73 Stucken, Eduard 308 Sudermann, Hermann 228 Suppè, Franz von 103 Swinburne, Algernon Charles 77, 137

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Tauler, Johannes 180 Tell, Wilhelm 18 Theresa von Ávila 188, 190 Thomas von Aquin 182 Tibbett, Lawrence 96 Tichauer, Grete 62 Tieck, Ludwig 35 Tizian (Tiziano Vecellio) 21, 203, 206–211, 214f. Tolstoi, Lew 153 Torberg, Friedrich 31, 330 Traub, Gottfried 172 Treumann, Louis 73, 100 Troeltsch, Ernst 174f. Unger, Erich 61 Verkade, Willibrord 192ff., 198 Verlaine, Paul 134 Veronese, Paolo 67 Verwey, Albert 296 Villers, Alexander von 224 Villiers de L’Isle-Adam, Auguste de 180 Vischer, Friedrich Theodor 197 Vollmoeller, Karl Gustav 308 Voltaire (François-Marie Arouet) 113 Vordtriede, Werner 201 Wagner, Adolph 169ff. Wagner, Richard 84ff., 173, 198f., 291, 352 Waldberg, Max von 188 Walden, Herwarth 34, 61f. Wallenstein (Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein) 66, 165 Wallner, Karl 100 Walser, Robert 275 Walzel, Oskar 291 Wassermann, Jacob 314, 317f. Weber, Max 167f., 174–179

Wedekind, Frank 221 Weininger, Otto 90, 341ff. Weiß, Ernst 134, 327, 334 Welsenburg, Gerhard von (i.e. Iwan Bloch) 90, 341f., 352 Wengraf, Edmund 33, 253 Wenter, Josef 104 Werfel, Franz 65 Wertheimer, Paul 11, 14, 20, 22, 37, 43, 67, 103– 108, 227f., 234, 309 Whitman, Walt 57 Wieland, Christoph Martin 332 Wiesner, Julius 176 Wilde, Oscar 63 Wilhelm II., Deutscher Kaiser 114 Wilhelm, Julius 103 Wille, Bruno 255 Willner, Alfred Maria 103 Wilson, Woodrow 146 Wittner, Victor 278, 284 Wodehouse, P.G. 98 Wohlmuth, Leonhard 103 Wolf-Ferrari, Ermanno 76 Wolff, Kurt 65 Wolfskehl, Karl 296 Wurmfeld, Richard 103 Wyler, Lea 116 Zech, Paul 334 Zelnik, Friedrich 104 Zemlinsky, Alexander 92, 104 Zifferer, Paul 23, 252 Zola, Émile 90, 342 Zuckerkandl, Berta 184 Zuckerkandl, Viktor 278, 282, 287 Zweig, Arnold 200, 213, 215f. Zweig, Stefan 42, 159f., 228, 253, 284, 287, 289, 297, 307ff., 334