Das Jahrhundert der Marsianer : Der Planet Mars in der Science Fiction bis zur Landung der Viking-Sonden 1976 3453310225

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Das Jahrhundert der Marsianer : Der Planet Mars in der Science Fiction bis zur Landung der Viking-Sonden 1976
 3453310225

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BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR

Helga Abret & Lucian Boia

SF-Sachbuch

HE^NE BUCHER

BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR Herausgegeben von Wolfgang Jeschke

HELGA ABRET & LUCIAN BOIA

DAS JAHRHUNDERT DER MARSIANER Der Planet Mars in der Science Fiction bis zur Landung der Viking-Sonden 1976

Ein Science Fiction-Sachbuch

Originalausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

HEYNE-BUCH Nr. 06/32 im Wilhelm Heyne Verlag, München

Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1984 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co, KG, München Umschlagbild: Chesley Bonestell Bildvorlagen (sofern nicht anders angegeben) Archiv Helga Abret & Lucian Boia Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber/Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-31022-5

Edith Brauner und Fulvia lonescu gewidmet, die jeden Planeten bewohnbar gemacht hätten

INHALT

Vorwort ..................................................................................

11

Ein seltsames Völkchen.........................................................

13

I. DIE VORGESCHICHTE DER MARSIANER ....................

15

Ein wenig vertrauenerweckender Planet ..........................

16

Die ersten Marsbewohner ..................................................

21

Die Astronomen schauen sich den Mars genauer an

24

...

Die Hypothese von der Vielheit der bewohnten Welten

26

Die Marsianer betreten die literarische Bühne ................

35

II. MARSMONDE, MARSKANÄLE UND DIE FOLGEN ..

41

Marsmonde und Marskanäle ..............................................

42

Ein Leben für den Mars - Percival Lowell ........................

45

Der Streit um die Kanäle

....................................................

55

»Wissenschaftliche« Spekulationen über das Leben auf dem Mars ........................................................................

57

Das Problem der Kommunikation: durch Geister oder drahtlose Telegraphie? ......................

60

III. DAS GOLDENE ZEITALTER DER MARSIANER ..........

71

Die Blütezeit der Marsliteratur

..........................................

72

Ein verbesserter Kapitalismus ..............................................

74

Percy Greg, Across the Zodiac, 1880

Der Mann vom Mars

..........................................................

77

Guy de Maupassant, L’Homme de Mars, 1889

Reinkarnation als Reisemittel ..............................................

80

Camille Flammarions Marsromane 7

Der Planet des Krieges ........................................................

86

Georges Le Faure und Henri de Graffigny, Les aventures extraordinaires d'un savant russe, 1889-1896

Blaue und rote Marsianer

..................................................

94

Hugh McColl, Mr. Stranger’s Sealed Packet, 1889

Ein vorsichtiger Russe ..........................................................

97

Konstantin E. Ciolkovskij

Eine Marsfrau ergreift die Initiative

.................................. 100

Georges Du Maurier, The Martian, 1897

Invasion mit den allerbesten Absichten ............................ 103 Kurd Laßwitz, Auf zwei Planeten, 1897

Die Monster sind unter uns ................................................ 109 Herbert Georg Wells, The War of the Worlds, 1897/98

Noch einmal H.G. Wells und Kurd Laßwitz .................... 120 Genozid auf dem Mars

...................................................... 123

Garret Putman Serviss, Edison’s Conquest of Mars, 1898

Um tausend Jahre voraus .................................................... 129 Die Marsromane von Oscar Hoffmann und Paul Oswald Köhler, 1905

Häßlicher Mars - schöne Erde

.......................................... 133

Arnould Galopin, Le Docteur Omega, 1906

Dekadente Marsriesen - zahnlos und unbehaart ............ 143 Waldemar Schillings Marsromane, 1907 und 1913

Kapitalistische Seehunde

.................................................... 149

Emilio Salgari, Le meraviglie del duemila, 1907

Der rote Mars ist wirklich rot

............................................

151

Aleksandr Bogdanov, Krasnaja zvezda, 1908

Sterbende Marsmumien ...................................................... 154 H. Gayar, Aventures merveilleuses de Serge Myrandhal, 1908

Vampirismus auf dem Mars ................................................ 158 Gustave Le Rouge, Le Prisonnier de la planète Mars, 1908, und La Guerre des Vampires, 1909

Sieben Schwaben im Mars-Eldorado

................................ 165

Albert Daiber, Die Weltensegler, 1910

Der letzte Marsianer ............................................................ 173 Friedrich Wilhelm Mader, Wunderwelten, 1911

Ein skeptischer Abbé ............................................................

177

Théophile Moreux, Le miroir sombre, 1911

Supermann auf dem Mars .................................................. Edgar Rice Burroughs’ Marszyklus, 1912-1964 8

179

Die Marsianer in rumänischer Vision ................................ 187 Hut ab vor den Leistungen der Marsmenschen .............. 195 Max Heinrichka, Ein Flug auf den Marsplaneten, 1918

Einheit in der Vielfalt: Die Bilanz des goldenen Zeitalters 200 Der Planet .............................................................................. 201 Und wie sieht ein Marsianer aus? ...................................... 202 Wie klug sind die Marsianer? ............................................ 206

Die technischen Errungenschaften der Marsianer .......... 207 Die Marsgesellschaft

............................................................ 210

Der Kontakt mit unseren kosmischen Nachbarn ............ 212

IV. SCHWERE ZEITEN FÜR DIEMARSIANER .................. 217

Einleitung

.............................................................................. 218

Homo homini Martianus

.............................................. 226

Octave Jonquel & Theo Varlet, L’Epopée Martienne, 1921/22

Nichteinmischungspolitik der Marsianer .......................... 229 Constantin Redzich d. i. Egon Falkenhyn, Ein Besuch auf dem Mars im Jahre 3000,1922, und Hans Rosenstengl, Vom Mars zur Erde, 1931

Christus wird auf dem Mars erwartet ................................ 235 Pierre Nothomb, La rédemption de Mars, 1922

Die zweite Oktoberrevolution

.......................................... 239

Aleksej Nikolajewitsch Tolstoj, Aëlita, 1922

Kosmische Liebe

.................................................................. 242

J. H. Rosny Aîné, Les navigateurs de l'infini, 1925

Mörderische Marswolken

.................................................. 249

Olaf Stapledon, Last and First Man, 1930

Ein straußenähnlicher Marsianer ........................................ 253 Stanley G. Weinbaum, A Martian Odyssey, 1934

Ein Marsianer sehnt sich nach der Erde ............................ 257 Raymond Z. Gallun, Old Faithful, 1934

Medusa auf dem Mars ........................................................ 259 Catherine Lucile Moore, Shambleau, 1933

Mit den Marsianern vereint gegen die gelbe (und rote) Gefahr .................................................................................... 262 Titus Taeschner, Der Mars greift ein, 1934 9

Eine frankophile »roboterisierte« Diktatur

........................ 269

R. M. Nizerolles, Les aventuries du ciel, 1936

Thulkandra unter Quarantäne ............................................ 275 Clive Staples Lewis, Out of the Silent Planet, 1938

Die Marsianer greifen Amerika an .................................... 280 Orson Welles’ Funkbearbeitung von H. G. Wells’ The War of the Worlds, 1938

Ein Appell an Menschlichkeit - mitten im Krieg

............ 290

Jacques Spitz, Les signaux du soleil, 1943

Bilanz der Zwischenkriegszeit

............................................ 294

V. TOD UND AUFERSTEHUNG DER MARSIANER ....... 299 Der letzte Kampf der Optimisten ...................................... 300

Tendenzen der Marsliteratur nach 1945 .......................... 310 Überlebende des Goldenen Zeitalters .............................. 312 Zwei Marsmoral-Lektionen.................................................. 321 Ray Bradbury und Robert A. Heinlein

Von der Satire zur Allegorie

.............................................. 330

Emigranten unserer Erde - Pioniere auf dem Mars: die »neuen« Marsianer ........................................................ 339 Zum Schluß

.......................................................................... 354

Bibliographische Anmerkungen

........................................ 357

Bildnachweis .......................................................................... 359

Personen- und Titelverzeichnis .......................................... 363

10

VORWORT

Wir unternehmen im Jahrhundert der Marsianer den Versuch aufzuzeigen, wie sich aus dem Zusammenwirken von Natur­ wissenschaften, Astronomie und Literatur ein moderner My­ thos entwickelt hat, der Mythos vom Mars und den Marsianern. Unsere Absicht ist es nicht, einen exhaustiven Überblick über die Marsliteratur zu geben. Wir haben aus der Fülle des Mate­ rials eine Reihe von Romanen und Erzählungen ausgewählt, die wir dem Leser vorstellen. Aus Gründen der Kompetenz be­ schränken wir uns auf die europäische und amerikanische Marsliteratur, doch haben wir von Anfang an diese verengende Perspektive bedauert. Erst wenn auch die Marsliteratur anderer Kontinente und anderer Zivilisationen untersucht worden ist, wird es möglich sein, ein vollständiges Bild von der Entwicklung dieses modernen Mythos zu geben, von seiner Entstehung, sei­ ner Entfaltung und seinen Metamorphosen. Wir stellen in diesem Buch die Marsliteratur Ende des 19. Jahr­ hunderts bis zum Ersten Weltkrieg besonders ausführlich dar, weil es sich um den Zeitraum handelt, in dem der Marsmythos Gestalt angenommen hat und in dem man wirklich von der Exi­ stenz unserer kosmischen Nachbarn überzeugt war. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg werden die Werke in chronologischer Folge behandelt. Nach dem Zweiten Welt­ krieg hat die belletristische Literatur über den Mars derartige Dimensionen angenommen, daß eine eingehende Analyse einzelner Werke nicht mehr sinnvoll erscheint. So haben wir uns damit begnügt, für die Marsliteratur nach 1945 nur noch die wichtigsten Tendenzen zu analysieren. Wir danken all denen, die uns bei der oft mühseligen und zeitraubenden Materialbeschaffung behilflich waren, nämlich René Guise (Université de Nancy II), Keith Hitchins (University of Illinois at Urbana-Champaign), Rebecca Kellogg (University Library, Tucson, Arizona), 11

Manfred Nagl (Fachhochschule für Bibliothekswesen, Stuttgart) und Darko Suvin (McGill University, Montreal). Ganz besonderen Dank aber schulden wir Wolfgang Jeschke, der unser »Marsprojekt« von Anfang an wohlwollend aufge­ nommen und uns mit Rat und Tat unterstützt hat.

12

EIN SELTSAMES VÖLKCHEN ...

Die Marsianer sind das seltsamste Völkchen, das es je gegeben hat. Und das hat mindestens zwei Gründe. Zunächst ist ihre Er­ scheinungsform von einer unglaublichen Vielfalt, die sich in keiner Weise mit den Verschiedenheiten der menschlichen Rassen, ja nicht einmal mit denen der übrigen irdischen Lebe­ wesen vergleichen läßt. Es gibt Marsianer, die uns so ähnlich sind, daß sich eigentlich gar kein Unterschied feststellen läßt. Es gibt aber auch fliegende Marsianer, zarte, ätherische Geschöp­ fe, es gibt Marsianer, die gräßliche, blutdürstige Ungeheuer sind, und andere, die als körperlose Energieformen unseren Blicken unsichtbar bleiben. Man kann sich kaum vorstellen, daß es sich um die Bewohner ein- und desselben Planeten han­ delt. Der zweite Grund ist noch seltsamer. Man sagt, daß die Men­ schen die Erde seit einer Million Jahren bewohnen, vielleicht schon etwas länger, vielleicht auch noch nicht ganz so lange. Es kommt darauf an, wie man den Menschen definiert. Und die menschliche Rasse wird hoffentlich noch ein paar Jahrmillio­ nen vor sich haben, oder auch Jahrmilliarden, wenn man mit dem Schema einverstanden ist, das Olaf Stapledon in seinem Roman Last and First Man * (1930) vorgeschlagen hat. Aber die Marsianer? Sie haben im Grunde genommen nur ein Jahrhun­ dert gelebt, mit kosmischen Maßstäben gemessen ein absoluter Rekord der Kurzlebigkeit. Sieht man von einigen rein imagi­ nären Versuchen ab, so dachte vor Mitte des 19. Jahrhunderts niemand an sie. Und es waren noch nicht hundert Jahre ver­ gangen, da hatte sich der Kreis geschlossen und die Marsianer waren wieder aus der Welt der »Lebenden« ausgeschlossen. Als am 20. Juli 1976 der Landeteil von Viking I auf der Oberflä* Deutsch: Die Letzten und die Ersten Menschen in der BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR, Band 21 (HEYNE-BUCH Nr. 06/21). 13

ehe des roten Planeten aufsetzte, ist kein Marsianer aufge­ taucht, um diese ersten Botschafter der Erde zu empfangen. Die Analysen der Marsoberfläche haben gezeigt, daß es kein orga­ nisches Leben gibt. Zwar sind die Untersuchungsergebnisse und Meßdaten noch nicht endgültig, aber selbst wenn man als Optimist - annimmt, daß es Leben auf dem Mars gibt, so würde es sich um höchst primitive Lebensformen handeln. Es besteht kein Zweifel: die Marsianer sind tot! Sie sind von der geschichtlichen Bühne abgetreten. So bleibt uns also ein knappes Jahrhundert Marsgeschichte, aber ein sehr bewegtes Jahrhundert, in dem sich die ganze Vita­ lität einer Gattung konzentriert, die zu wissen schien, daß ihre Zeit knapp bemessen ist. Wir wollen die Geschichte der Mar­ sianer jetzt, wo sie zu Ende gegangen ist, erzählen. Zu Ende ge­ gangen ... auch das läßt sich bezweifeln. Aber wir wollen nicht vorgreifen, sondern der Reihe nach berichten.

14

Die Vorgeschichte der Marsianer

Ein wenig vertrauenerweckender Planet Warum der Planet Mars? Was die Lebensbedingungen auf ihm betraf, so schien es sich zunächst um einen wenig vertrauen­ erweckenden Himmelskörper zu handeln. Schon in der Antike hatte man in ihm, vor allen Dingen wegen seiner rötlichen Far­ be, ein Symbol des Krieges gesehen, und der Krieg brachte Mordtaten, Blutvergießen und allerlei Plagen mit sich. In der Vorstellung der Astrologen war der Mars ein unheilbringender Planet, und das hat lange Zeit seinem Prestige geschadet. Der Jesuitenpater Athanasius Kircher (1601-1680) beschreibt uns in seiner ekstatischen Reise Itinerarium exstaticum coeleste (1656) einen Mars, der fast der Hölle gleicht: ein arsenikreicher Boden, Pech- und Schwefelseen, rauchende Vulkane, Lavaströ­ me und eine faulige, pestschwangere Atmosphäre. 1686 veröffentlicht der Franzose Bernard Le Bovier de Fon­ tenelle (1657-1757) seine berühmten, später in fast alle euro­ päischen Sprachen übersetzten Entretiens sur la pluralité des mondes (deutsch: Gespräche von mehr als einer Welt, 1726), in denen er versucht, das astronomische Weltbild seiner Zeit zu popularisieren, und zwar in leicht romancierter Form. Ein Ge­ lehrter erklärt einer wissensdurstigen Marquise, daß unsere Nachbarplaneten wahrscheinlich bewohnt seien. Dem Mars wird unter den Planeten unseres Sonnensystems nur ein be­ scheidener Platz eingeräumt. Seine Beschreibung kontrastiert zwar mit den dantesken Bildern Kirchers, drückt aber eine ähn­ liche Verachtung aus: »Über den Mars läßt sich nichts Besonde­ res sagen; seine Tage sind ungefähr eine halbe Stunde länger als die unsrigen, und ein Jahr ist doppelt so lang wie ein Erdenjahr. Mars ist fünfmal kleiner als die Erde, die Sonne ist für ihn ent­ fernter und kälter; kurz gesagt, dieser Planet verdient es kaum, daß man bei ihm verweilt. Wie schön ist dagegen Jupiter mit seinen vier Monden oder Satelliten!« Zu dieser Zeit wußte man noch nichts von den zwei kleinen Marsmonden, die erst 1877 von Asaph Hall entdeckt wurden, und Fontenelle ist höchst betrübt darüber, daß der Mars nicht der Zierde eines Nachtgestirns teilhaftig ist. Um diesem Mangel abzuhelfen, stellt er einige zwar ausgefallene aber »ästhetische« 16

Illustration zu Fontenelles Gesprächen ... Man beobachtet unteranderem Jupiter und Saturn mit ihren Satelliten, die Erde mit dem Mondtrabanten. Ganz unten, von allen anderen Planeten isoliert, befindet sich der von Fontenelle so stiefmütterlich behandelte Mars.

17

Hypothesen auf: »Vielleicht gibt es auf dem Planeten hohe Fel­ sen aus natürlichem Phosphor, die während des Tages das Licht absorbieren und es dann in der Nacht ausstrahlen. Man kann nicht leugnen, daß es ein höchst ergötzliches Schauspiel wäre zu sehen, wie all diese Felsen, sobald die Sonne untergegangen ist, zu schimmern beginnen und auf diese Weise eine Beleuch­ tung liefern, die noch dazu den Vorteil hat, nicht durch ihre Wärmeausstrahlung lästig zu fallen. Auch weiß man in Amerika von Vögeln zu berichten, die in der Dunkelheit so viel Licht ver­ breiten, daß man dabei lesen kann. Vielleicht besitzt Mars also eine Vielzahl solcher Vögel, die, wenn es dunkel wird, in alle Richtungen ausschwärmen und so die Nacht zu einem neuen Tag werden lassen.« In der Tat, eine interessante Welt. Aber wo sind ihre Bewoh­ ner? In Fontenelles Lichtparadies und in Kirchers Schwefelhölle fehlen sie. Und doch spricht Fontenelle von Venusianern und Merkurianern, vertritt also die These von der Bewohnbarkeit der Planeten. Die Tatsache, daß Mars im 17. Jahrhundert fast sy­ stematisch aus der Gruppe der bewohnten oder bewohnbaren Planeten ausgeschlossen wird, erklärt sich wahrscheinlich durch den schlechten Ruf, der seiner Farbe zuzuschreiben ist, und der alle beeinflußte, die über ihn schrieben. Aber auch das Fehlen eines Mondes wird im allgemeinen als Argument seiner »Minderwertigkeit« angeführt. Die Einstellung zum Mars ändert sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum. In den Planetenromanen, die in dieser Zeit in der Nachfolge von Cyrano de Bergerac und Francis Godwin geschrieben wurden, ist der Mond in erster Linie das Reiseziel, und die Schriftsteller siedeln ihre Idealstaaten auf unserem allernächsten Nachbarn an. Nur Voltaire (1694-1778) erweitert in seinem Micromegas (1752) den Handlungsraum, sogar über unser Sonnensystem hinaus, aber auch er wird dem Mars nur geringe Aufmerksamkeit schenken. Micromegas, der Held des Romans, ist ein junger geistvoller Mann, dessen Hei­ mat ein Himmelskörper ist, der um den Sirius kreist. Er nützt seine Kenntnisse der Schwerkraft aus, um mit Hilfe von Son­ nenstrahlen und Kometen durch das Weltall zu reisen. Der erste Planet, den er besucht, ist Saturn, den Geschöpfe bewoh18

Planetenrad mit Mars als Kriegsgott

19

nen, die im Vergleich zu ihm zwergenähnlich erscheinen, die aber neben einem Erdenbewohner Riesen sind. Micromegas erfährt also, wie schon sein Name andeutet, daß jeder gleich­ zeitig groß und klein ist, daß alle Maßstäbe im Kosmos demzu­ folge relativ sind. Er findet auf dem Saturn einen Gefährten, mit dem er die Reise in Richtung Erde fortsetzt. Aber bevor sie diese erreichen, »kamen beide an dem Planeten Mars vorbei, der, wie man weiß, fünfmal kleiner als unser Erdball ist; sie sahen zwei Monde, die diesen Planeten beleuchten und die bis jetzt den Blicken unserer Astronomen entgangen waren. Ich weiß sehr wohl, daß der Abbe Castel mit einem gewissen Vergnügen zur Feder greifen wird, um die Existenz dieser beiden Monde zu bestreiten; aber ich halte mich zu denen, die durch Analo­ gieschlüsse räsonnieren. Diese guten Philosophen wissen, daß es für Mars, der so weit von der Sonne entfernt ist, schwierig wäre, ohne weniger als zwei Monde auszukommen. Aber wie dem auch sei, unsere beiden Freunde fanden alles so winzig, daß sie fürchteten, nicht genug Platz für ein Nachtlager zu ha­ ben, und so zogen sie ihres Weges, wie zwei Reisende, die eine üble Dorfspelunke mit Verachtung strafen und lieber zur be­ nachbarten Stadt Weiterreisen.« Interessant ist in diesen wenigen, dem Mars gewidmeten Zeilen Voltaires die Idee von den zwei Marsmonden. Sie ist das Ergebnis einer einfachen empirischen Rechnung: wenn die Erde das Recht auf einen Mond hat und Jupiter auf vier Monde (die damals bereits bekannt waren), so müssen dem dazwi­ schenliegenden Planeten im Interesse eines harmonischen Weltbildes zwei Monde zukommen. Der Gerechtigkeit halber müssen wir aber hinzufügen, daß Johannes Kepler (1571-1630) bereits 1611 die Existenz zweier Marsmonde für wahrscheinlich hielt, und daß Jonathan Swift (1667-1754), dreißig Jahre vor Vol­ taire, im 3. Teil von Gullivers Reisen (Travels of Lemuel Gulliver, 1726) von zwei Marstrabanten berichtet, wobei sich seine An­ gaben über Größe und Umlauf der Monde später als überra­ schend genau erwiesen.

20

Die ersten Marsbewohner Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts finden die Marsianer zö­ gernd Eingang in die utopische oder philosophisch-spekulative Literatur. Einer der ersten, der sich mit ihnen beschäftigt, der schwedische Gelehrte und Theosoph Emanuel Swedenborg (1688-1772) weiß sogar nur Gutes über sie zu berichten. In sei­ nem achtbändigen theosophischen Hauptwerk Arcana coelestia (zwischen 1749 und 1756 in London erschienen) berichteter unter anderem von den Kontakten, die er mit den Geistern an­ derer Planeten hatte. Seine Visionen haben ihm fast menschlich aussehende Marsianer gezeigt, deren untere Gesichtshälfte al­ lerdings schwarz ist, kohlrabenschwarz, und diese Schwärze zieht sich bis zu den Ohren hinauf. Die obere Gesichtshälfte hingegen ist von gelblicher Farbe. Swedenborg hat sogar eine instruktive Unterhaltung mit ei­ nem Marsgeist gehabt und dabei erfahren, daß sich die Bewoh­ ner des roten Planeten hauptsächlich von Gemüsen und Früch­ ten ernähren, also Vegetarier sind. Ihre langen Gewänder wer­ den aus Fasern bestimmter Baumrinden hergestellt, auch ver­ stehen sie sich darauf, eine Art flüssiges Feuer zu erzeugen, mit dem sie ihren Planeten erhellen - wir sehen, das fehlende Mondlicht hat auch Swedenborg Kopfzerbrechen bereitet. Swedenborgs Marsianer drücken ihre Gedanken nicht durch Laute, sondern durch psychische Ströme aus-sie sind also Tele­ pathen. Diese weisen Marsvegetarier sind in geistiger Hinsicht nicht nur den Erdenbürgern überlegen sondern sie sind, wenn wir Swedenborg Glauben schenken, überhaupt die trefflichsten Geschöpfe unseres Sonnensystems. Innerhalb der zunächst noch spärlichen Marsliteratur wollen wir eine kosmische Reise erwähnen, die zwar nicht zum Mars, aber in seine unmittelbare Nähe, nämlich auf einen Marssatel­ liten führt. Es handelt sich um Eberhard Christian Kindermanns Die geschwinde Reise auf dem Luftschiff in die obere Welt aus dem Jahre 1744 (ein Faksimilenachdruck ohne Orts- und Jah­ resangabe folgte 1774). Darin unternimmt ein Erzähler, Fama, zusammen mit fünf Personen, die übrigens auf lateinisch die 21

Namen der fünf Sinne tragen, eine Reise in die »obere« Welt. Als Transportmittel verwendet er ein »Luftschiff«, das sogar ei­ nen Mast, Segel und Ruder besitzt, denn er nimmt an, daß man sich in der Luft ähnlich wie im Wasser fortbewegen könne. Nach Verlassen der Atmosphäre wird die Luft immer sauerstoff­ ärmer, angeblich brauchen die Reisenden deshalb weniger Nahrung, was sich bei der langen Reise als höchst praktisch er­ weist. Allerdings muß Wasser mitgeführt werden, denn um at­ men zu können, halten sich die »Luftschiffer« einen feuchten Schwamm vor den Mund. Auf dem Marssatelliten angekom­ men, werden zwei »Einheimische« - sozusagen zur Begrüßung - mit Pistolenschüssen niedergestreckt. Damit scheint zunächst die Überlegenheit der Erdenbewohner bewiesen zu sein. Daß es damit allerdings nicht allzu weit her ist, zeigt dann die Besich­ tigung des Planeten. Überall bewundert man prächtige Paläste, die »natürlich« gewachsen sind, denn die bestehen aus Riesen­ bäumen und Hecken. Alle »Menschen« des Planeten sind gleich, man kennt nicht unsere irdischen hierarchischen Unter­ schiede. Übeltäter wurden in der Vergangenheit stets auf der Stelle getötet und sind auf diese Weise allmählich ausgestor­ ben. Die Religion entpuppt sich als eine Art Christentum, das sich auf zwei Gebote, Gottesfurcht und Nächstenliebe, redu­ ziert. Die Existenz der Erde ist diesen Wesen bekannt, sie wissen sogar, daß Gott bei uns wenig Achtung genießt, ja daß wir es nötig hatten, seine Gebote schriftlich zu fixieren, um uns an sie zu erinnern. Bei seiner Rückkehr zur Erde erleidet das Luftschiff unserer Weltensegler beinahe Schiffbruch - ein Kunstgriff, den die Autoren bei kosmischen Reisen immer wieder verwenden, wenn sie die etwas langweilige Fahrt durch den Weltraum dra­ matisieren wollen. Auf der Erde angelangt, stellt sich heraus, daß die Fahrt dreitausend Tage, also ungefähr acht Jahre ge­ dauert hat, eine Überraschung für die Reisenden, die den Eindruck hatten, nur kurze Zeit unterwegs gewesen zu sein. Kindermanns Roman ist erwähnenswert, nicht nur weil es sich um den ersten Marsflug in der Literatur handelt, sondern auch wegen der technischen Einzelheiten der Reise und eini­ gen wissenschaftlichen Hypothesen. Er kann ohne Übertrei22

bung als Vorläufer des »wissenschaftlichen Romans« bezeichnet werden. Fast gleichzeitig tauchen auch in einem französischen Werk Marsianer auf. Der 1765 erschienene Roman einer interplane­ tarischen Reise von Madame Robert (veröffentlicht unter ih­ rem Mädchennamen Marie-Anne de Roumier) Voyages de Milord Céton dans les sept planètes (Reise des Milord Ceton auf sieben Planeten) enthält auch eine Marsepisode, allerdings mit recht konventionellen Marsianern. Ihre einzige Tätigkeit besteht darin, Krieg zu führen, so wie die Venusianer sich vor­ nehmlich mit den Angelegenheiten der Liebe beschäftigen. Das sind Klischees, die immer noch der antiken Vorstellung von Mars als dem Planeten des Krieges und der Venus als dem der Liebe entsprechen. Sie zeigen, daß das klassisch-astrologische Weltbild der Verfasserin kaum von zeitgenössischen naturwis­ senschaftlichen Forschungen getrübt worden ist. Mars ist in dem Roman der Madame Robert kein astronomischer, son­ dern nur ein allegorischer Ort. Übrigens wird die interplaneta­ rische Reise des Milord durch einen Geist ermöglicht. 1790 erscheint der erste deutsche Roman, der wirklich auf dem Mars spielt, nämlich die Reise eines Erdbewohners in den Mars (1790) von Carl Ignaz Geiger (1756-1791). Die Reise wird dort mittels einem Ballon unternommen, einem »zeitgemäßen« Vehikel, denn 1783 hatten die Brüder Montgolfier ihre ersten mit erhitzter Luft gefüllten Stoffballons aufsteigen lassen. Die Erdbewohner, die den Mars besuchen, finden Menschen, die ihnen gleichen und nur eine andere Sprache sprechen. Doch gelingt bald die Verständigung in einer Art Küchenlatein. Tech­ nische Wunder setzen unsere Reisenden in Erstaunen: bei den Mahlzeiten kommt ein mit Speisen beladener Tisch direkt aus dem Boden, um nach vollendetem Mahl wieder im Boden zu versinken. Auch besitzen die Marsleute fahrbare Häuschen, mit denen sie problemlos ihren Wohnsitz wechseln können. Aber im Grunde genommen bringt uns auch Geigers Roman dem Problem der »wirklichen« Marsianer nicht näher. Denn es handelt sich letzten Endes um eine Utopie, die ausnahmsweise nicht auf dem Mond, sondern auf dem Mars angesiedelt ist. Zunächst beschreibt der Autor auf satirische Weise drei Mars23

Staaten und nimmt dabei die deutschen Fürstentümer und ihren despotischen Militarismus aufs Korn. Dann wird in einem vierten Marsstaat das liberal-demokratische Gedankengut, wie es gerade in Amerika seine Heimstatt gefunden hatte, verherr­ licht.

Die Astronomen schauen sich den Mars genauer an Mars als allegorischer Ort, Mars als imaginäres Reich, in dem man einen Idealstaat ansiedelt, Mars als Objekt philosophischer Spekulationen - das alles hat mit dem wirklichen Mars wenig zu tun. Mit diesem beschäftigen sich die Astronomen, und so ist die Geschichte der Marsianer aufs engste mit der Geschichte der Astronomie verbunden. Um 1610 gelang es dem Italiener Galileo Galilei (1564-1642), Teleskope zu bauen, die erheblich stärker waren als die seiner Vorgänger. Zwischen 1636 und 1638 fertigte sein Landsmann Francesco Fontana die ersten Zeichnungen des Planeten an. 1666 entdeckte Dominico Cassini (1625-1712) weitere Details, u.a. die Polkappen. Der Niederländer Christiaan Huygens (1629-1695) stellte fest, daß die Marstage und Marsnächte fast genauso lang sind wie die irdischen. Seine Messungen wurden von Cassini verbessert, der berechnen konnte, daß die Umdre­ hungszeit des Mars vierzig Minuten mehr als die der Erde be­ trägt (der Marstag also 24 Stunden und vierzig Minuten dauert). Aber die entscheidenden Fortschritte in der Marsbeobachtung wurden erst Ende des 18. Jahrhunderts gemacht, vor allen Din­ gen durch den großen englischen Astronomen deutscher Her­ kunft, William Herschel (1738-1822), mit dessen Namen eine Reihe wichtiger astronomischer Entdeckungen verbunden sind, so z. B. die des Planeten Uranus und seiner Monde oder der beiden Saturnmonde. Herschel gelangen bei den günsti­ gen Marsannäherungen von 1777,1779,1781 und 1784 genaue Beobachtungen, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Mars besitzt einen Tag-Nachtrhythmus, der fast dem irdi24

sehen gleicht. Auch seine Jahreszeiten sind den unsrigen ähn­ lich, nur doppelt so lang. Die Marspole sind mit Schnee- und Eismassen bedeckt, die während des Frühlings und des Som­ mers teilweise schmelzen, was ihre Veränderungen erklärt. Herschel nimmt an, daß sich die Marsatmosphäre von der irdi­ schen nicht erheblich unterscheidet. Er schließt aus all dem, daß die Ähnlichkeit von Mars und Erde sicher die auffälligste in unserem Sonnensystem ist und »daß sich die Marsianer wahr­ scheinlich Lebensbedingungen erfreuen, die in mancher Hin­ sicht mit den unsrigen identisch sind«. Kurz gesagt, Herschel entdeckt in Mars einen nahen Verwandten der Erde. Herschels Arbeiten setzt der deutsche Astronom Johann Hie­ ronymus Schröter (1745-1816) fort, der sich in Lilienthal eine Privatsternwarte eingerichtet hatte. Schröter beschäftigt sich vor allen Dingen zwischen 1785 und 1803 mit dem Mars. Seine Studien über die physische Beschaffenheit des Planeten sind entscheidend gewesen, auch wenn sie vollständig erst viel spä­ ter in der Sammlung Beiträge zur genauem Kenntnis und Be­ urteilung des Planeten Mars (Leiden 1882) herausgegeben wurden. Die kartographischen Arbeiten der Deutschen Wilhelm Beer (1797-1850) und Johann Heinrich Mädler (1794-1874) leiten eine neue Etappe ein. Beer (Bruder des Komponisten Meyerbeer) war Bankier, aber nebenbei ein leidenschaftlicher Ama­ teurastronom. Er richtete sich auf seiner Villa im Berliner Tier­ garten eine Sternwarte ein und beobachtete zusammen mit dem Astronomen Mädler den Mars. Die Ergebnisse dieser Be­ obachtungen veröffentlichten beide Männer in einem Werk Physische Beobachtung des Mars in der Erdnähe (Berlin 1830). Gemeinsam zeichneten sie auch eine klassisch gewordene Mondkarte (1834-1836) und eine Marskarte (1840), die ein Vier­ teljahrhundert lang die einzige kartographische Darstellung des Planeten blieb. Camille Flammarion bezeichnete später die Arbeit von Beer und Mädler als den ersten »methodischen Ver­ such einer Marsgeographie«. Auf dieser Marskarte erscheinen Kontinente, Meere und andere geographische Formen, die de­ nen der Erde vergleichbar sind. Wiederum wird auf eine frap­ pierende Ähnlichkeit von Mars und Erde geschlossen. 25

Ein italienischer Astronom, Angelo Secchi (1818-1878), beob­ achtet dann im Jahr 1858 nicht nur Kontinente und Meere auf dem Mars, sondern auch die ersten »Kanäle«, aber erst zwanzig Jahre später sollen diese »Kanäle« zu einem der umstrittensten Probleme in der Geschichte der Astronomie werden. 1865 veröffentlicht der Engländer Richard Anthony Proctor (1837-1888), indem er die Beobachtungen und Skizzen seines Landsmannes W. R. Dames verwendet, die erste Marskarte mit einer genauen Nomenklatur der Oberfläche: Kontinente, Meere, Ozeane und Inseln tragen nun Namen, aber es sind bri­ tische Namen, und das wird in den anderen europäischen Län­ dern recht kritisch betrachtet. Es sieht so aus, als würden die Engländer sich nicht mit ihrem irdischen Imperium zufrieden geben, sondern sich anschicken, es auch auf diesen fernen Himmelskörper auszudehnen. Weitere Beobachtungen verstärken den Eindruck, daß der Mars der Planet des Sonnensystems ist, der die größte Ähnlich­ keit mit unserem Heimatplaneten aufweist: die Spektralanaly­ sen von William Huggins (1824-1910) und Hermann Karl Vogel (1842-1917) führen zu dem Ergebnis, daß die Himmelskörper aus den gleichen Elementen bestehen, die wir aus unserer irdi­ schen Umgebung kennen, Friedrich Wöhlers Harnstoffsynthe­ se zeigt, daß es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen organischen und anorganischen chemischen Verbindungen gibt. Charles Darwin (1809-1882) versucht in seinem Werk über die Entstehung der Arten (On the Origin ofSpecies by Means of Natural Selection, 1859) zu erklären, daß es zwischen den Lebe­ wesen nur graduelle, aber keine fundamentalen Unterschiede gibt. All diese Entdeckungen und Theorien werden auf die Ent­ wicklung des Lebens auf anderen Planeten übertragen.

Die Hypothese von der Vielheit der bewohnten Welten Wir befinden uns in der Ära des Positivismus, einer Epoche des wissenschaftlichen Optimismus, des unbegrenzten Glaubens an den Fortschritt. Man ist überzeugt davon, daß die Wissen26

schäft alles erklären und auf jedem Wissensgebiet genaue Ge­ setze aufstellen kann. In diesem Kontext wird die Idee von der Vielfalt der bewohnten Welten im Universum wieder aktuell, die schon im 16. Jahrhundert die Gemüter erhitzt hatte, als Giordano Bruno (1548-1600) in seinem Werk Dell' infinito universo e mondi (1584; deutsch: Vom unendlichen All und den Welten) die Hypothese aussprach, auch andere Himmelskör­ per könnten von menschenähnlichen Wesen bewohnt sein. Eine Popularisierung erfuhr dann diese Idee durch Fontenelles bereits genannte Gespräche von mehr als einer Welt, die das am weitesten verbreitete Werk jener Zeit zu diesem Thema wa­ ren. Das Buch lag bald nach seinem Erscheinen in zahlreichen Ausgaben und in französischer, englischer, deutscher, schwe­ discher, dänischer, polnischer und griechischer Übersetzung vor. Es ist ein Bestseller des 18. Jahrhunderts geworden; allein die deutsche Ausgabe in der Übersetzung von J. E. Bode hat zwischen 1777 und 1823 vier Ausgaben erfahren. An zweiter Stelle steht, was Bedeutung und Popularität in Hinblick auf das Problem der Vielfalt der bewohnten und bewohnbaren Welten betrifft, das Buch von Christiaan Huygens Cosmotheoros, sive de terris coelestibus earumque ornatu conjecturae (Den Haag, 1698), das ins Englische, Französische und ins Deutsche über­ setzt wurde (deutsch: Cosmotheoros oder weltbetrachtende Muthmassungen von denen himmlischen Erdkugeln, Leipzig 1703). Huygens war der Meinung, daß die Menschen auf den anderen Himmelskörpern uns gleichen, ein ähnliches Leben führen und ähnlichen Beschäftigungen nachgehen wie wir. In der Diskussion um das Problem des Lebens auf anderen Planeten versucht der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) durch Spekulation wissenschaftliche und philoso­ phische Gesetze aufzustellen. In seiner Allgemeinen Naturge­ schichte und Theorie des Himmels (1755) kommt er, indem er die Weltentstehung als mechanischen Vorgang, beruhend auf Anziehungs- und Abstoßungskräften erklärt, zu dem Schluß, daß der Vollkommenheitsgrad der Materie und der Wesen proportional mit der Entfernung der Planeten von der Sonne wächst. Die Venusianer können demzufolge nur eine sehr be­ grenzte Intelligenz haben, Marsianer und Erdenbewohner 27

seien in eine moralische Mitte gerückt, weder absolut roh, noch absolut vergeistigt, die wirkliche moralische Überlegen­ heit beginne aber erst bei den Bewohnern des Jupiter. Die Hy­ pothesen des Königsberger Philosophen sind dann von dem Astronomen Johann Elert Bode (1747-1826) weiterentwickelt worden. In England war bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts eine heftige Diskussion um das Problem der Bewohnbar­ keit anderer Himmelskörper entbrannt. Verteidiger und Geg­ ner erschöpften in diesem Streit alle wissenschaftlichen und theologischen Argumente. Als der Engländer William Whewell (1794-1866) in seinem Werk Ofthe Plurality Worlds (1853) kate­ gorisch erklärte, es gebe außerhalb der Erde keine höheren Lebensformen, widersprachen ihm eine Reihe von Wissen­ schaftlern in zum Teil sehr umfangreichen Werken, so sein Landsmann David Brewster (1781-1868) in seinem More Worlds than One (1855), das in England große Popularität genoß. Brew­ ster schließt sein Werk mit der Feststellung, es sei die Überzeu­ gung des Philosophen und die Hoffnung des Christen, daß es mehr als eine Welt gebe. Die Debatte wurde auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts fortgesetzt, und die Bewohner anderer Planeten fin­ den ihren eifrigsten Verteidiger in der Person des französischen Astronomen Camille Flammarion (1842-1925), dessen Schriften nicht nur in seinem Heimatland, sondern in ganz Europa und in der Neuen Welt ein erstaunliches Echo weckten. Flammarion versuchte, diese Debatte, die bis jetzt eine spekulativ-theolo­ gische Phase durchlaufen hatte, mit wissenschaftlichen Argu­ menten weiterzuführen. Sein Erfolg erklärt sich wohl dadurch, daß er es verstand, in seinen Werken Weltanschauliches mit den Gegebenheiten der exakten Wissenschaften auf unterhalt­ same Weise zu verbinden. Bis dahin hatten sich die Astrono­ men darauf beschränkt, die Planeten zu beobachten und ihre Beobachtungen in einer prosaischen Sprache niederzuschrei­ ben. Die Philosophen hingegen hatten über die Himmelskör­ per und über ihre eventuellen Bewohner spekuliert, ohne ge­ naue astronomische oder naturwissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen. Das wissenschaftliche (heute müßte man sagen pseu-

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Ein eifriger Verteidiger unserer kosmischen Brüder: der französische Astronom Camille Flammarion (1842-1925)

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dowissenschaftliche) Skelett verleiht Flammarions Büchern Ende des 19. Jahrhunderts eine Glaubwürdigkeit, die bis dahin keine der ausgesprochenen Hypothesen erreicht hatte. Dazu gesellt sich eine mystisch-spekulative Neigung, ein Hang zum Okkultismus, der breite Leserschichten ansprach und, nicht zu vergessen, ein gefälliger, flüssiger Stil. Flammarion war knapp zwanzig Jahre alt, als er 1862 sein erstes Buch, La pluralité des mondes habités,veröffentlichte, das 1890 seine 34. Ausgabe er­ lebte (deutsch: Die Mehrheit bewohnter Welten, Leipzig 1865). In allen folgenden Büchern entwickelt er im Grunde genom­ men nur die dort ausgesprochenen Ideen weiter. Flammarion beginnt zunächst mit einem kritischen Überblick über alle vor ihm geschriebenen Abhandlungen dieses Thema betreffend, um dann seine eigenen Theorien darzustellen. Er nimmt an, daß Lebensformen, wahrscheinlich sogar hochorganisierte Le­ bensformen, auf den anderen Planeten unseres Sonnensystems existieren. Aber diese Hypothese begründet er mehr auf phi­ losophische und theologische als auf wissenschaftliche Weise. Er weigert sich, an die Existenz »nutzloser« Planeten zu glauben, seiner Meinung nach ist das Leben der eigentliche Zweck des Universums. Selbst der Mond habe »ein anderes Schicksal als das, einsam um unseren Erdball zu kreisen. Entweder ist er be­ wohnt, oder er war bewohnt, oder er wird eines Tages bewohnt werden.« Flammarion gibt allerdings zu, daß die Lebensbedin­ gungen auf den anderen Planeten von den unsrigen sehr ver­ schieden sein können, was wiederum eine Verschiedenheit der dortigen Lebewesen zur Folge hat: »Der Anthropomorphismus ist unsere große Illusion, alles ist relativ... Die Bewohner ande­ rer Welten unterscheiden sich von uns sowohl durch ihre in­ nere Organisation als auch durch ihre äußere Erscheinung ...« Aber diese zugestandene Mannigfaltigkeit geht bei Flamma­ rion nicht weit, sie betrifft nur die physische Entwicklung der außerirdischen Intelligenzen (und auch diese nur in einem eng gefaßten Rahmen) auf keinen Fall ihre moralische Entwicklung. Großzügig versieht Flammarion seine Außerirdischen mit den intellektuellen und moralischen Werten der Menschheit, bes­ ser gesagt mit ihren Idealen. Er verteidigt die Idee, daß die »gei­ stige Einheit des Universums ebenso wirklich und notwendig ist 30

wie die physische Einheit« und daß »diese geistige Einheit aus den großen, absoluten Prinzipien des Schönen, Wahren und Guten besteht«. Von hier aus wäre es dann nur noch ein Schritt bis zu der Feststellung, daß auch die Marsianer vor den Gemäl­ den eines Manet oder bei der Musik von Jacques Offenbach ästhetischen Genuß empfinden würden, denn, wie Flamma­ rion sagt, »wir sind alle Brüder: das wirkliche Vaterland des Menschen ist das unendliche Universum ...« Übrigens spricht Flammarion immer nur von »Menschen« und »Menschheit«, wenn er die vernunftbegabten Wesen anderer Planeten er­ wähnt, obgleich er behauptet, keine genaue Vorstellung von dem möglichen Aussehen unserer zahlreichen kosmischen Brüder zu haben. Den Marsianern räumt Flammarion einen privilegierten Platz im Universum ein, denn alles scheint darauf hinzuweisen, daß ihre Lebensbedingungen den unsrigen auffallend gleichen. Diese Idee vertritt er auch in seinem zweiten Buch Les mondes imaginaires et les mondes réels (1865): »Das Vernünftigste und Wahrscheinlichste, was sich über die Marsianer sagen läßt, ist, daß sie uns ähnlicher sind als die Bewohner anderer Planeten.« Im gleichen Jahr läßt uns Flammarion in seinem Buch Les merveilles célestes an einem kleinen Ausflug auf den roten Pla­ neten teilnehmen. Dort gleicht die Welt so sehr der irdischen, daß es uns, falls wir uns eines Tages dorthin verirrten, schier un­ möglich wäre zu erkennen, wo nun wirklich unsere Heimat ist. Wir könnten seelenruhig auf dem Mars herumspazieren meint Flammarion - in der festen Überzeugung, in Europa oder in sonst irgendeinem Winkel unseres Erdballs zu sein. Flammarions Betrachtungen über das Leben in unserem Son­ nensystem und insbesondere auf dem Mars konkretisieren sich in seinem 1877 erschienenen Buch Les terres du del (Die Er­ den des Himmels). Auf zweihundert Seiten beschäftigt er sich dort mit dem roten Planeten und versucht, seine Lebensbedin­ gungen und Lebensformen zu systematisieren. Nur einige der Hypothesen sollen hier genannt werden: die Marsflora und -fauna ist der irdischen sehr ähnlich, wahrscheinlich sind aber Tiere und Pflanzen wegen der geringeren Schwerkraft (nur 37% der irdischen) größer. Laut Flammarion haben demzu31

Marskarte von Camille Flammarion vor der Entdeckung der Kanäle aber bereits mit Meeren und Ozeanen

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folge die höherentwickelten Wirbeltiergattungen und die Marsmeschen »das beneidenswerte Vorrecht errungen, sich der Luftbewegung zu erfreuen«. Ein alter Traum der Mensch­ heit scheint sich auf dem Mars verwirklicht zu haben. Anson­ sten dürften sich ihre verschiedenen Sinnesorgane von den unsrigen kaum unterscheiden. In geistiger Hinsicht haben un­ sere kosmischen Brüder wahrscheinlich eine höhere Entwick­ lungsstufe erreicht. Diese Vermutung liegt für Flammarion nahe, denn nach der Evolutionstheorie ist der Mars älter als die Erde, und das Leben auf ihm hat eine längere Entwicklung hin­ ter sich, die aber ähnliche Etappen durchlaufen hat wie die irdi­ sche. Das gilt auch für die Fortschritte in Wissenschaft und Technik. Flammarion nimmt an, daß die Marsianer in Gemein­ schaften vom Typus unserer Familie leben, daß sie größere Siedlungen gebaut und sich zu Staaten zusammengeschlossen haben. Wer diese Hypothesen bestreitet, wie z. B. Whewell, wird von Flammarion mit Verachtung gestraft, hingegen sind die Verteidiger dieser Idee, wie der schon genannte David Brewster oder R. A. Proctor, der in seinem Buch Other Worlds than Ours (London 1870) Flammarion nahestehende Hypo­ thesen vertritt, seines Lobes sicher. Der deutsche Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919), der eifrigste Verfechter der Darwinschen Evolutionstheorie in Deutschland, kommt zu ähnlichen Folgerungen. In seinem Buch Die Welt­ rätsel (1899), in dem er alle naturwissenschaftlichen Ideen, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bewegten, sammelte, zieht er unter anderem den Schluß, daß wahrscheinlich auf ei­ nigen Planeten unseres Sonnensystems die biogenetischen Prozesse den irdischen ähnlich sind. Er beruft sich dabei auf Flammarion, obgleich er ihn wegen seiner mangelhaften biolo­ gischen Kenntnisse tadelt. Haeckel nimmt an, daß die Entwick­ lung der Pflanzen- und Tierwelt ähnlich wie bei uns verlaufen sei, daß sie aber für die höherentwickelten Lebensformen wahrscheinlich andere Wege eingeschlagen habe. So sei es kaum anzunehmen, daß auf anderen Planeten Wirbeltiergat­ tungen existieren oder daß sich im Laufe von Jahrmillionen Säugetiere oder sogar Menschen entwickelt hätten. Es sei aber durchaus möglich, daß Lebensformen entstanden seien, die 34

höherentwickelter und intelligenter als der Mensch seien. Doch schließt Haeckel, im Gegensatz zu vielen seiner Zeitge­ nossen, einen direkten Kontakt mit den Bewohnern anderer Planeten aus. Er gibt als Argument die großen Entfernungen zwischen den Planeten und das Fehlen einer Atmosphäre an. Aber alles in allem vertritt Ernst Haeckel durchaus Flammarionsche Ideen, allerdings ohne dessen spiritistischen Einschlag, denn Haeckel ist überzeugter Materialist. Die Vorstellung, daß der Mensch nicht allein im Weltraum ist, daß zumindest unser Nachbarplanet von intelligenten Lebe­ wesen bewohnt wird, ist im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten verbreitet gewe­ sen, und zwar in allen Schichten der Bevölkerung. Die Bücher Flammarions, die man wohl ohne Übertreibung als »Massen­ literatur« bezeichnen kann, haben entscheidend zur Propagie­ rung dieser Idee beigetragen. Gerade seinem Interesse für den Mars ist es auch zu verdanken, daß die Marsianer - »leichter« und »beflügelter« als wir, erfahrener und weiser, aber alles in allem uns doch sehr ähnlich - nach und nach die anderen kos­ mischen Brüder verdrängen sollten.

Die Marsianer betreten die literarische Bühne Und die Literatur? Wir sind noch weit entfernt von der Marsliteratur-Inflation Ende des 19. Jahrhunderts, aber vorsichtig und zögernd betre­ ten die Marsianer die literarische Bühne. Die neuen Beobach­ tungen und Hypothesen Mars betreffend finden allmählich Eingang in die Literatur. Es entsteht eine Reihe von kosmisch orientierten Romanen mit astronomischen Themen, die den wissenschaftlichen Optimismus ihrer Zeit widerspiegeln. Was die Vorstellung überdas Leben im Universum betrifft, so stehen diese »astronomischen« Romane unter dem Einfluß Flamma­ rions. Ihre Erzähltechnik hingegen ist oft Jules Verne (1828 bis 1905) abgeschaut, der 1863 mit seinem Roman Cinq semaines en ballon (deutsch: Fünf Wochen im Ballon) die erste seiner 35

»außerordentlichen Reisen« (»voyages extraordinaires«) ge­ schrieben hatte. In diesem, wie in allen folgenden wissenschaft­ lichen Romanen versucht Verne ein gewisses Gleichgewicht zu halten zwischen den technischen und wissenschaftlichen Ge­ gebenheiten seiner Zeit und der dichterischen Fiktion, dem Abenteuer. Der Idee von der Vielheit der bewohnten Welten stand Jules Verne allerdings, im Gegensatz zu den meisten sei­ ner Zeitgenossen, skeptisch gegenüber. 1865 ist in der Geschichte des astronomischen Romans ein wichtiges Datum, denn in diesem Jahr erscheinen allein in Frankreich drei Romane dieses Genres. Der bis heute bekann­ teste von ihnen ist Jules Vernes De la Terre à la Lune (deutsch: Von der Erde zum Mond). Der zweite Roman berichtet über eine Reise zur Venus, ein Planet, der damals noch dem Mars Konkurrenz machte. Es han­ delt sich um Achille Eyrauds Voyage dans la planète Vénus (deutsch: Reise zur Venus), wobei die Fahrt übrigens in einer Rakete zurückgelegt wird - ein entschiedener Fortschritt, wenn man an die bisherigen Transportmittel wie Sonnenstrahlen, Ko­ meten, Vögel oder Ballons denkt. Aber es ist der dritte Roman, Un habitant de la planète Mars (Ein Bewohner des Planeten Mars) von Henri de Parville (1838 bis 1909), der uns hier vor allen Dingen interessiert. Sein Inhalt soll kurz zusammengefaßt werden: Der Erzähler findet regelmäßig beim Erwachen auf seinem Nachttisch Briefe aus Amerika vor, in denen von einer außer­ gewöhnlichen Entdeckung die Rede ist. Einige Meilen vom Pic James entfernt hat ein gewisser Mister Pexton bei Erdölbohrun­ gen einen Aerolithen entdeckt, in dem eine seltsame Mumie eingeschlossen ist: »Rasch gelang es, eine authentische Mumie freizulegen, die bewundernswert gut erhalten, obgleich an manchen Stellen verkohlt war. Die sehr kurzen Füße konnten nur beschädigt herausgelöst werden, hingegen war der Kopf fast unversehrt; kein Haarwuchs, eine glatte, lederartige Haut, ein dreieckiges Gehirn, ein scharfgeschnittenes Gesicht, statt der Nase ein von der Stirn ausgehender Rüssel, ein winziger Mund mit wenigen Zähnen, zwei Augenhöhlen, deren Aug­ äpfel man sicher herausgenommen hatte, denn in den Höhlen 36

Henri de Parvilles »Marsmumie«

hatte sich Kalk abgelagert, sehr lange Arme, die über die Schen­ kel hinausreichten, fünf Finger, von denen der vierte erheblich kürzer als die anderen war... die fast überall verkohlte Haut dürfte ursprünglich von rotgelber Farbe gewesen sein ...« Ne­ ben der Mumie findet man Amphoren und eine kleine Metall­ scheibe mit verschiedenen Skizzen und einem Schema des Sonnensystems, das vermuten läßt, daß es sich bei der Mumie um einen Marsianer handelt. Parville erklärt die »Reise« der Mumie folgendermaßen: ein Meteorit hat vor Jahrmillionen die Marsoberfläche gestreift, d. h. den Gipfel eines Marsgebir­ ges, wobei er einen Teil des Gebirges mit sich riß. Wahrschein­ lich befand sich in den Höhen dieses Gebirges das Grab des Marsianers. Viel später drang der gleiche Meteorit in unsere Atmosphäre ein, und Splitter von ihm sind in Amerika aufge­ schlagen. Auch über die Person der Mumie werden Vermutun­ gen angestellt. Vielleicht handelt es sich um eine hohe Persön­ lichkeit, die man fern von den anderen Sterblichen auf dem Gipfel eines Marsgebirges beisetzte, damit sie noch nach ihrem Tod über die anderen herrsche. - So sehen auch die Schlußfol­ gerungen einer wissenschaftlichen Kommission aus, die sich versammelt hat, um die Entdeckung zu diskutieren. Die Kom­ plexität der Diskussion wird durch die Zusammensetzung die­ ser wirklich interdisziplinären Kommission deutlich, an der unter anderem Astronomen, Geologen, Zoologen, Paläonto­ logen und Ethnologen teilnehmen. Die Handlung des Romans ist dürftig. Große Teile des Buches bestehen aus den langen Debatten der Gelehrten, die ihre Idee über den Stand der Astronomie, der Physik, der Biologie und anderer Wissenschaftszweige ihrer Zeit darlegen. Die oft fruchtlosen oder lächerlichen Zwistigkeiten dieser Leuchten der Wissenschaft werden von Parville teils mit Humor, teils mit Ironie beschrieben. Es ist schwer zu entscheiden, ob es sich bei Parvilles Buch um Literatur auf wissenschaftlicher Grundlage oder um eine romancierte Darstellung naturwissenschaftlicher Probleme handelt. Übrigens war Parville von Haus aus kein Schriftsteller, sondern ein populärer Sachbuchautor, Spezialist vor allen Dingen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften. Was die wichtigsten Probleme des Buches betrifft, so erweist sich 38

Parville in erster Linie als Adept Flammarions, wenn er schreibt: »Daß die Planeten wirklich bewohnt sind, das steht wohl außer Zweifel... Noch dazu ist es wissenschaftlich bewiesen, daß das Milieu die Arten hervorbringt. Die biologischen Bedingungen auf dem Mars sind denen der Erde ähnlich, man findet Gebirge, Meere, Kontinente und Polkappen. Folglich ist auf diesem Pla­ neten die Existenz von Menschen, die uns sehr ähnlich sind, anzunehmen.« Parville greift auch die von Flammarion vertei­ digte Hypothese von der geistigen und technischen Überle­ genheit der Marsianer auf. Allerdings schließt er dann seinen Roman mit einer geschickten Pirouette: Die Amerikaner wol­ len großmütig ihre Marsmumie dem »Institut de France« über­ lassen, sie schicken die Mumie ab, die aber nie ihr Ziel erreicht. Nun suchen Zweifel den Erzähler heim. Hat er selbst vielleicht all diese amerikanischen Briefe in der Nacht geschrieben, um sie dann am Morgen auf seinem Nachttisch vorzufinden? Um sicher zu gehen, möchte er wenigstens in Erfahrung bringen, ob nicht irgendwo auf unserer Erde eine Mumie in einem Meteoriten gefunden wurde. Und all die namhaften Wissen­ schaftler, die Helden seines Romans, sollten auch sie pure Er­ findung sein? »Felix qui potuit rerum cognoscere causae« - mit diesen gelehrten Worten schließt Parville seinen Roman und notiert auch das Datum: 1. April 1865! Ein Scherz also? Ja und nein - und eher nein. Natürlich konn­ te Parville seinen Lesern nicht mit einer wirklichen Marsmumie aufwarten, obgleich sein Roman immerhin ihre Illustration ent­ hält. Aber er hat in seinem Roman eine Reihe von Theorien ent­ wickelt, die er für möglich, wenn auch nicht für bewiesen hielt. Und durch Parville finden die Marsianer - oder besser gesagt ei­ ner ihrer Vorfahren - Eingang in den modernen wissenschaft­ lichen Roman und werden ein wenig später eine glänzende Laufbahn antreten.

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II

Marsmonde, Marskanäle und die Folgen

Marsmonde und Marskanäle Das Interesse für den Mars nimmt seit 1850 rasch zu. Das zeigen einige statistische Angaben, die wir nach der Bibliographie gé­ nérale de l’astronomie von J.C. Houzeau und A. Lancaster (Band 2, Brüssel 1882) berechnet haben. Zwischen 1856 und 1860 hat man diesem Planeten 1,4% sämtlicher astronomischer Artikel gewidmet. Zwischen 1861 und 18701,7%, zwischen 1871 und 1880 aber bereits 3,5%. Das zeigt, daß die relative Propor­ tion der Marsstudien in zwei Jahrzehnten um mehr als das Dop­ pelte gewachsen ist. Im Jahre 1877 stellen die Artikel über den Mars sogar 7,4% sämtlicher astronomischer Beiträge dar - kein Wunder, denn dieses Jahr ist entscheidend in der Geschichte des Mars und der Marsianer. 1877 ist die Entfernung zu unserem Nachbarn relativ gering - immerhin noch 56 Millionen Kilometer, aber die Maxi­ malentfernung beträgt 399 Millionen Kilometer. Die Größe des Mars durch die Teleskope der Erde variiert also erheblich, je nach seiner Entfernung von uns, und das erklärt den etwas ab­ gehackten, sporadischen Rhythmus der Marsstudien, die immer dann einen neuen Aufschwung nehmen, wenn die Op­ position günstig ist. Die Opposition von 1877 ermöglicht nun eine Reihe sensa­ tioneller Beobachtungen, die nicht nur Astronomen und Fach­ wissenschaftler, sondern Laien aller Schichten der Bevölkerung begeistern. Im August 1877 entdeckt zunächst der Amerikaner Asaph Hall (1829-1907), der als Astronom am US Naval Observatory in Washington über das größte Fernrohr seiner Zeit verfügte endlich! - die schon mehrmals prophezeiten Marsmonde. Nicht gerade optimistisch bezeichnet er sie als Deimos und Phobos, »Schrecken« und »Furcht«, also mit den Namen der Be­ gleiter des Kriegsgottes Mars. Aber die Namen sind hier nur Nebensache, wichtig ist, daß der Mars nun endlich seine zwei Monde besitzt, über deren Fehlen man sich zwei Jahrhunderte lang den Kopf zerbrochen hatte. Zu den vielen Ähnlichkeiten des roten Planeten mit der Erde gesellt sich also eine neue. Zwar wußte man, daß die Monde eigentlich nur Möndchen waren. 42

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aber es waren zwei und sie verliehen auf diese Weise den Mars­ nächten einen ganz besonderen Charme. Die zweite Entdeckung des Jahres 1877 ist bei weitem spek­ takulärer und folgenreicher. Sie wurde von dem italienischen Astronomen Giovanni Virginio Schiaparelli (1835-1910) ge­ macht, einem ehemaligen Schüler von Johann Franz Encke (1791-1866), dem Direktor der Berliner Sternwarte. Schiaparelli, der die Mailänder Sternwarte leitete, entdeckte bei dieser gün­ stigen Marsopposition ein Netz feiner Linien, das die Marsober­ fläche bedeckte. Er bezeichnete sie mit »canali«, was im Italie­ nischen nur »Rillen« bedeutet, aber in die anderen europäi­ schen Sprachen mit dem Wort »Kanäle« übersetzt wurde, ein für den Laien irreführender Begriff, weil er in den Gebilden Kunstbauten vermuten läßt. Einige dieser »Kanäle« waren schon 1830 von John Herschel (1792-1871) entdeckt worden, andere 1858 von Schiaparellis Landsmann Pietro Angelo Secchi, aber erst Schiaparelli hat die Beobachtungen auf den ganzen Plane­ ten ausgedehnt. 1878 veröffentlichte er eine Marstopographie (Osservazioni astronomiche e fisiche sull' ässe die rotazione e sulla topografía del pianeta Marte) und mehrere Marskarten, wobei er eine neue Nomenklatur verwendet, also nicht die patriotisch-nationalistische des Engländers R. A. Proctor. Wäh­ rend seiner ersten Beobachtungen hat Schiaparelli auf dem Mars Kontinente, Meere und Ozeane, vor allen Dingen aber Flüsse und »Kanäle« gesehen, die die Wassermassen miteinan­ der verbinden. Was die Marslandschaft betrifft, so ist die Vision des Italieners optimistisch und poetisch zugleich: »Bäche, in denen goldfarbene Kiesel glitzern, Flüsse, die weite Ebenen bewässern und sich in Kaskaden in die Täler ergießen, Ströme, die majestätisch durch das Land zum Meer fließen.« Später wird Schiaparelli einige seiner Ideen berichtigen. So verzichtet er auf die Vorstellung wirklicher Meere und spricht von Sümpfen oder seichten Wasserflächen. 1879, in der Folge neuer Beobachtungen, wartet er mit weiteren Kanälen auf und bedeckt 1881 den ganzen Planeten mit einem höchst kompli­ zierten Liniennetz. Er notiert auch, daß einige dieser Kanäle sich von Zeit zu Zeit verdoppeln. Schiaparelli - dieser Kolumbus einer neuen Welt, als den ich 44

Percival Lowell später bezeichnete, hat - wie der große Seefah­ rer - seine Entdeckung nicht wirklich erforschen können. Er hat es anderen überlassen, diese Welt zu kolonisieren, und die Konquistadoren haben nicht lange auf sich warten lassen. Obgleich Schiaparellis Kanaltheorie von Anfang an nicht nur auf Zustimmung,sondern auch auf Kritik stieß, war sie einfach zu schön, um nicht wahr zu sein. Ein alter Traum der Mensch­ heit schien nun endlich Wirklichkeit zu werden, und so über­ hörte man geflissentlich skeptische Stimmen. Unter dem Einfluß der Kanaltheorie wurden die wissen­ schaftlichen Marsstudien immer intensiver. 1892 machte der amerikanische Astronom William Henry Pickering (1858-1938) eine wichtige Entdeckung, die Schiaparellis Arbeiten ergänzte, ihnen aber auch eine neue Dimension verlieh. Er fand nämlich an den Schnittpunkten bestimmter Linien Flächen, die er »Seen« nannte. Im gleichen Jahr veröffentlichte Flammarion sein großes Buch La planète Mars et ses condition d'habitabilité (deutsch: Der Planet Mars und seine Lebensbedingungen), in dem er die jüngsten Entdeckungen diskutierte. Er stellte die verschiedenen, oft widersprüchlichen Informationen zusam­ men und konstruierte daraus eine kohärente Theorie.

Ein Leben für den Mars Percival Lowell Ein Mann aber - der Amerikaner Percival Lowell (1855-1916) machte aus dieser Theorie sein Lebenswerk. In Boston geboren, hatte Lowell in Harvard studiert und war dann in das Geschäft seines Großvaters, der mit Baumwolle handelte, eingetreten. 1883 fuhr er nach Japan, um die Sprache und die Sitten dieses Landes zu studieren, wurde dann Sekretär und Berater der ersten amerikanischen Mission in Korea und bereiste wiederum den Fernen Osten, über den er mehrere Bücher geschrieben hat, von denen The Soul of the Far Est (1888), in dem er u. a. versucht, die orientalische Mentalität zu definieren, das bekannteste ist. Dann beschloß Lowell, nur noch seiner großen Leidenschaft, 45

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Marskarte von G.V. Schiaparelli

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der Astronomie, zu leben. Den Ort, um seine Privatsternwarte zu errichten, fand er in seinem Heimatland, im Bundesstaat Ari­ zona. Dort errichtete er in der Nähe des Dorfes Flagstaff in über 2000 Metern Höhe in einer von atmosphärischen Störungen fast freien Gegend sein Observatorium, das seine Tätigkeit im Mai 1894 aufnahm und bald in der ganzen Welt berühmt wur­ de. Lowell war davon überzeugt, daß die atmosphärischen Be­ dingungen bei den Beobachtungen eine weit größere Rolle spielen als die Beobachtungsgeräte selbst. Wenn ihm also in den folgenden Jahren Gegner vorwarfen, er arbeite mit zu schwachen Linsen, wandte er ein, daß es ihm dank der in Flag­ staff außergewöhnlich günstigen Atmosphäre möglich sei, mit seinen mittelmäßigen Teleskopen mehr Details zu sehen als die meisten anderen Sternwarten. Lowell hat im Lauf seines Lebens mit zwei Mitarbeitergrup­ pen gearbeitet. Zu seiner ersten Arbeitsgruppe gehörten W. H. Pickering, der allerdings nicht lange in Flagstaff blieb, und An­ drew Ellicot Douglass (1867-1962), dem Lowell zahlreiche Be­ obachtungen verdankt. Douglass arbeitete bis 1901 mit Lowell zusammen und wurde dann von diesem sozusagen vor die Tür gesetzt, wahrscheinlich, weil er der Kanalhypothese gegenüber eine immer skeptischere Haltung einnahm. Nach 1901 bildete sich eine zweite Arbeitsgruppe, die, mit einigen Änderungen in der Zusammensetzung der Mitarbeiter, kontinuierlich bis nach dem 2. Weltkrieg arbeitete. Der bedeutendste Wissenschaftler dieser Gruppe war Vesto Melvin Slipher (1875-1969), der nach Lowells Tod bis 1954 das Observatorium leitete und einer der bedeutendsten astronomischen Persönlichkeiten unseres Jahr­ hunderts ist. Er half Lowell vor allen Dingen bei den Arbeiten, in denen es darum ging, Sauerstoff in der Marsatmosphäre nach­ zuweisen. Ein weiterer bedeutender Mitarbeiter des zweiten Teams war Carl Otto Lampland (1873-1951), der die Technik der astronomischen Fotografie perfektionierte und die ersten wirklich guten Marsaufnahmen machte. 1905 teilte das Flagstaf­ fer Observatorium mit, daß es Lampland gelungen sei, die Ka­ näle zu fotografieren und damit den entscheidenden Beweis ihrer Existenz zu erbringen. 48

Ein Leben für den Mars: der amerikanische Astronom Percival Lowell (1855-1916) 49

Während der Opposition von 1907, in dem die Marsfurore ihren Höhepunkt erreichte, wurden in Flagstaff von Lampland ca. 3000 Fotografien angefertigt. Gleichzeitig hatte Lowell eine astronomische Expedition nach Chili unter der Leitung von David Todd (1855-1939) organisiert, an der auch Sliphers Bruder Earl C. Slipher teilnahm und ca. 13000 Aufnahmen machte. Trotz dieser Unmenge an Fotografien gelang es Lowell nicht, seine Gegner von der Existenz der Kanäle zu überzeugen. Die Astronomie verdankt Lowell eine Reihe von Beobach­ tungen, Entdeckungen und Theorien. Er hat beispielsweise ver­ sucht, eine neue Wissenschaft, die Planetologie, zu begründen, und vertrat die Ansicht, daß alle Planeten bis zu ihrem endgül­ tigen Absterben sechs Stadien der allmählichen Abkühlung durchlaufen. Die Erde hat das vierte Stadium erreicht, und es läßt sich bereits eine fortschreitende Austrocknung feststellen. Mars befindet sich im fünften Stadium, d. h. seine Meere sind verschwunden. Ein Beispiel für einen Planeten im sechsten Sta­ dium bietet nach ihm der Mond. Doch bleibt Lowells Name vor allen Dingen mit der Ge­ schichte des Mars und der Marsianer verbunden. Er hat auf Grund seiner Beobachtungen und seiner Deduktionen drei Bücher über den Mars verfaßt, Mars (1895), Mars andIt’s Canals (1906) und Mars asa Abode ofLife (1908), in denen die Lamarckschen und Darwinschen Theorien mit seinen eigenen Ideen verbunden werden. Die Ergebnisse dieser Bücher sollen hier kurz zusammengefaßt werden: 1. Das Leben auf dem Mars: Vom wissenschaftlichen Stand­ punkt bestehen für Lowell keine Gründe, die es rechtfertigen, die Idee vom Leben auf dem Mars von der Hand zu weisen. Kälte, Wassermangel und eine dünnere Atmosphäre können die Entwicklung des Lebens nur erschweren, aber nicht verhin­ dern, ist es doch auch auf den Gipfeln unserer irdischen Gebir­ ge zu finden. Im Durchschnitt sind die Temperaturen auf dem Mars niedriger als auf der Erde, sie liegen aber meist über dem Gefrierpunkt. Da die Jahreszeiten doppelt so lang sind, wird die Wärme während der Sommermonate gespeichert. Außerdem herrscht auf dem Planeten wegen der dünnen Atmosphäre fast immer schönes Wetter. Für Lowell sind also die Lebensbedin50

Mars mit Kanälen nach Lowells Beobachtungen

gungen auf dem Mars zwar hart, aber für den menschlichen Organismus durchaus erträglich und zumutbar. 2. Die Oberfläche des Planeten: Nachdem Lowells Assistent A. E. Douglass festgestellt hatte, daß die sogenannten Kanäle nicht nur Kontinente, sondern auch die Meere durchqueren, zieht Lowell den Schluß, daß es gar keine Meere gibt, sondern daß es sich um Vegetationsgebiete handelt, was auch die blau­ grüne Farbe und die leichten Farbveränderungen erklären würde. Die rötlichen Gebiete hingegen seien Wüsten, die sich allmählich über den ganzen Planeten ausbreiten werden (bis jetzt bedecken sie 3/5 der Oberfläche). Ein Schicksal, das - so 51

meint Lowell - auch unsere Erde in einer fernen Zukunft erwar­ tet. 3. Die Kanäle und ihre Erbauer: Schiaparelli hatte 79 Kanäle gezählt, in Flagstaff zählte man 1894 bereits 183 Kanäle, von denen 116 nicht auf Schiaparellis Karten verzeichnet waren. Mit den Jahren stieg die Zahl der von Lowell und seinen Mitarbei­ tern entdeckten Kanäle bis auf 700 an! Ihre Länge ist beein­ druckend - oft 300, manchmal sogar 500 km, die Breite kann zwischen 5 bis 30 km erreichen. In seinem Marsbuch von 1906die Zahl »seiner« Kanäle betrug damals 400 - sprach Lowell auch von 186 Oasen und von 51 verdoppelten Kanälen. Laut Lowell schließt der geometrische Charakter der Kanäle aus, daß es sich um Flüsse handelt. Die Kanäle und Oasen sind künstlich erschaffen worden und gehören zu einem System, dessen Zweck es ist, das Wasser der Polkappen bei der Schnee­ schmelze zu sammeln und über den Planeten zu verteilen. Lo­ well errechnet sogar die Geschwindigkeit, mit der sich die Was­ sermassen fortbewegen: 80 km pro Tag. Was unser Auge er­ blickt, sind allerdings nicht die Kanäle, sondern Vegetations­ streifen, die sich bilden, wenn das Wasser von den Polen in die Kanäle geleitet wird. Die von Schiaparelli beobachtete Verdop­ pelung erklärt sich durch die Existenz paralleler Kanäle, die das Wasser leiten und zurückführen. Für Lowell besteht kein Zwei­ fel daran, daß die Kanäle das Werk vernunftbegabter Wesen sind, ein wahrhaft gigantisches Unternehmen, an dem die Be­ wohner eines ganzen Planeten mitwirken. »Die größten irdi­ schen Unternehmungen erscheinen daneben als unbedeu­ tende, harmlose Lokalangelegenheiten.« Durch das System der Kanäle bleibt das Leben, trotz der sich ständig verschlechternden physikalischen Bedingungen, auf dem Planeten möglich. Und Lowell stellt sich selbstverständlich die Frage nach den moralischen Eigenschaften der Wesen, die dieses bemerkenswerte System erdacht und errichtet haben. Er kann nicht umhin, ihre intelligente und pazifistische Natur zu bewundern und die Art, in der sie ihren Planeten auf so solida­ rische Weise verwalten. In einer alternden Welt, deren Lebens­ bedingungen sich ständig verschlechtern, müssen die Lebewe­ sen immer intelligenter werden, um zu überleben. Lowell 52

meint, daß diese hochintelligenten und hochmoralischen Marsianer die Zukunft unserer eigenen Rasse widerspiegeln. Er stellt sogar einige Vermutungen über soziale Aspekte der Marsgesellschaft an. In einer Konferenz über den Mars mit dem Titel Two Stars, die er 1911 vor Bergarbeitern hielt, sprach er von einer Marsgesellschaft, die eine Oligarchie der intellektuellen Elite ist. Jeder kennt den Platz, der ihm zukommt, ohne das Ur­ teil seines Vorgesetzten in Frage zu stellen. Also Einheit, Ord­ nung und eine elitäre Führungsschicht auf dem Mars! Lowell ist vorsichtiger, was den äußeren Aspekt der Marsia­ ner betrifft. Sie könnten - so meint er - wegen der dreimal ge­ ringeren Schwerkraft, dreimal so groß wie die Menschen sein, aber er fügt hinzu, daß es sich dabei nur um eine Möglichkeit handelt. Lowells Beweisführung ist spannend und überzeugend, und seine Marsgeographie und Marstopographie sind so detailliert, daß kein Geographiebuch unserer Erde genauere Auskünfte geben könnte. Der Leser hat den Eindruck, Lowell habe in ei­ gener Person den roten Planeten besucht, und wahrscheinlich hat er das auch getan - zumindest in seiner Phantasie. Interessant ist, daß Lowells Begeisterung auch auf Astrono­ men wie Schiaparelli überspringt, der jahrelang die Kanäle als geologische Erscheinungen gedeutet und sich nur für ihren geometrischen Aspekt interessiert hatte. 1896 veröffentlichte Schiaparelli in Mailand eine Broschüre über das Leben auf dem Mars (La vita sulpianete Marte), in der er sich zu Spekulationen hinreißen läßt, die seinen früheren Werken fremd waren. Er gibt zunächst zu, daß es sich bei den Kanälen um natürliche Risse handelt, die durch den Fleiß und die Ausdauer der Mars­ menschen ausgebaut wurden, verliert sich dann aber in allerlei Vermutungen über die Institutionen auf dem Mars. Das Kanal­ system scheint ihm der Beweis für eine universale Solidarität, einen kollektiven Sozialismus zu sein, ja er spricht sogar vom Mars als einem »Paradies der Sozialisten«. »Man kann sich eine große Föderation der Menschheit vorstellen, in der jedes Tal einen unabhängigen Staat darstellt. Die Interessen des Einzel­ nen unterscheiden sich nicht von denen der Gemeinschaft. Wissenschaften wie die Mathematik, die Physik, die Hydrogra53

phie haben sicher einen hohen Grad der Perfektion erreicht. Internationale Zwistigkeiten und Kriege sind unbekannt. Alle intellektuellen Anstrengungen, die sich bei den unvernünfti­ gen Bewohnern der Nachbarwelt aufheben, weil man versucht, sich gegenseitig zu schaden, werden hier in Eintracht dazu ver­ wendet, den gemeinsamen Feind, d. h. die Schwierigkeiten, die eine karge Natur bei jedem Schritt mit sich bringt, zu bekämp­ fen.« Allerdings hat Schiaparelli später wieder eine skeptischere Haltung eingenommen. 1907 gibt er in seinem Brief an seinen Landsmann Cerulli (der die Kanäle für optische Täuschungen hielt) zu, daß es durchaus möglich sei, daß bei einer Verbesse­ rung der optischen Geräte die Kanäle durch andere Bilder er­ setzt würden, die der Wahrheit näherkämen. Er vergleicht das Problem der Marsbeobachtungen mit einem offenen Buch, das dem menschlichen Auge immer näher rückt. Erst entdeckt man nur graue Flächen, dann Linien, dann Flecken und schließlich Buchstaben. Doch hat Schiaparelli seiner Skepsis nie öffentlich Ausdruck verliehen und demzufolge der Verbreitung der Lowellschen Ideen kein Hindernis in den Weg gestellt. Fest steht, daß Lowell mit seiner Theorie von den Marsianern, deren Intelligenz und deren Moral die unsrige bei weitem übertrifft, die Einbildungskraft seiner Zeitgenossen sehr stark angeregt hat. Was bedeutete dagegen die Tatsache, daß nur wenige Astronomen die Kanäle sahen, daß viele die Existenz dieser zahlreichen Linien leugneten, und daß zu den Gegnern der Theorie so namhafte Astronomen wie die beiden Ameri­ kaner Edward S. Holden (1846-1914) und William W. Campbell (1862-1938) von der Sternwarte in Lick oder der Engländer Ed­ ward Walter Maunder (1851-1928) gehörten. Lowells gefühl­ volle und populäre Ideen beflügelten die Phantasie - und die menschliche Phantasie machte sich augenblicklich daran, das Leben auf unserem Nachbarplaneten und seine gesellschaftli­ chen Organisationen zu erschaffen.

54

Der Streit um die Kanäle Die wissenschaftlichen Marsstudien nehmen Ende des 19. Jahr­ hunderts einen unglaublichen Aufschwung, was hauptsächlich auf die günstigen Oppositionen von 1892 und 1894 zurückzu­ führen ist. Hatte Camille Flammarion in seinem ersten Mars­ band noch auf sechshundert Seiten alle Arbeiten über den roten Planeten von den Anfängen bis zu Beginn des Jahres1892 sichten können, so war es ihm in seinem zweiten Band (La Planéte Mars, Band II, Paris 1909), der den gleichen Umfang hat, nur noch möglich, die wissenschaftliche Literatur zwischen 1892 und 1901 zu erfassen. Auch in diesem zweiten Marsband nimmt Flammarion die Existenz der Kanäle weiterhin als sicher an, allerdings ist er in seinen Formulierungen vorsichtiger geworden. So sagt er in seinen Schlußbetrachtungen: »Es ergibt sich aus der Gesamtheit der Beobachtungen, daß die dunklen Linien, die man als Kanäle bezeichnet, mit Sicherheit existieren, ohne daß es uns bis jetzt möglich ist zu sagen, ob sie aus Wasser oder aus Wasserinfiltra­ tionen bestehen, oder ob es sich um Vegetationsstreifen etwas auf der Erde noch Unbekannten handelt. Auf alle Fälle ver­ mischt sich aber die Flüssigkeit, die bei der Schneeschmelze entsteht, je nach der Jahreszeit mit diesen Linien.« Über ein Jahrzehnt lang wurde die Hypothese von der Exi­ stenz der Kanäle im allgemeinen in Astronomenkreisen akzep­ tiert. Bis 1890 hatten nur der englische Astronom William Henry Christie (1845-1922) vom Observatorium in Greenwich und sein Assistent E. W. Maunder die Verdoppelung der Kanäle bestrit­ ten. Gegen die Existenz der Kanäle hatte sich energisch nur R. W. Proctor ausgesprochen. Ende des 19. Jahrhunderts steigt die Zahl der Kanaltheorie­ gegner langsam, aber stetig. 1894 erklärt der amerikanische Astronom Edward Emerson Barnard (1857-1923) nur »unregel­ mäßige Details und Schattierungen aber keine klaren Linien zu sehen«. Im gleichen Jahr schreibt E. W. Maunder, daß für ihn die Kanäle nichts anderes seien als die Summe einer Vielfalt von Details. Einige Jahre später (1903) macht Maunder ein Experi­ ment: Er gibt einigen Nichteingeweihten Zeichnungen mit 55

Flecken und Punkten, die sie aus einiger Entfernung abzeich­ nen sollten. Er stellt fest, daß fast immer die unregelmäßigen Details durch Linien miteinander verbunden werden. Einen ähnlichen Versuch mit vergleichbaren Ergebnissen führt 1907 der große amerikanische Astronom Simon Newcomb (1835 bis 1909) durch. Einige Jahre später vertritt der italienische Astronom Vincen­ zo Cerulli (1859-1927) in seinem Buch Marte nel 7896-97eben­ falls die Idee, daß es sich bei den Kanälen um optische Täu­ schungen handle. Er behauptet, daß man mit einem schwachen Instrument sogar auf dem Mond Kanäle entdecken könne! Douglass, der als Lowells Mitarbeiter in Flagstaff selbst eine Reihe von Kanälen entdeckt und gezeichnet hatte, wird 1907 der Kanaltheorie endgültig abtrünnig und spricht von der »Ka­ nalillusion«. Alfred Rüssel Wallace (1823-1913) - nach Darwin der pro­ minenteste Befürworter der Evolutionstheorie - hat sich bereits in seinem Buch Man's Place in the Universe (1903) als ein erklär­ ter Gegner der Theorie von der Vielfalt der bewohnten Him­ melskörper herausgestellt. Er schreibt unter anderem: »Außer der Erde ist kein anderer Planet unseres Sonnensystems be­ wohnt oder bewohnbar. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß auch kein anderes Sonnensystem bewohnte Planeten be­ sitzt.« 1907 widmet A. R. Wallace der Bewohnbarkeit des Mars ein ganzes Buch (/s Mars Habitable?, London 1907). Seiner Mei­ nung nach ist der Planet zu klein, um eine Atmosphäre oder Wasserdampf zu besitzen, auch ist er zu kalt, und darüber hin­ aus bestehen die Polkappen wahrscheinlich gar nicht aus Was­ ser, sondern aus Kohlendioxid (bei dieser letzten Hypothese stützt er sich auf die Arbeiten seines Landsmannes J. Johnstone Stoney). Was nun unsere Kanäle betrifft, so hält sie Wallace für natür­ liche geologische Formationen. Er schließt sein Buch sehr kate­ gorisch: »Mars ist daher nicht nur nicht von intelligenten We­ sen, wie sie Lowell postuliert, bewohnt, sondern absolut unbe­ wohnbar.« Selbstverständlich hat Lowell versucht, seine Hypothesen zu 56

verteidigen, vor allen Dingen mit Hilfe seiner Marsfotografien, aber die fotografischen Linsen erwiesen sich letzten Endes als nicht schärfer als das menschliche Auge. Das Hauptproblem blieb auch weiterhin die Vergrößerungsstärke der Teleskope. Das größte Teleskop befand sich damals im Observatorium von Yerkes (Chicago). Der Direktor dieser Sternwarte, E. B. Frost (1866-1930), den man 1909 nach seiner Meinung über die Ka­ näle befragte, erklärte mit einigem Humor, das Teleskop von Yerkes sei zu stark, als daß man damit Kanäle sehen könne! Überhaupt war das Jahr 1909 kein gutes Jahr für die Verteidi­ ger der Kanäle. Da die günstige Opposition es ermöglichte, mit inzwischen verbesserten Geräten den Mars zu beobachten, ohne daß man nennenswerte Ergebnisse erzielte, wurden nun auch einige alte Anhänger der Kanaltheorie abtrünnig, so der Franzose E. M. Antoniadi (1859-1929), der in diesem Jahr auf der Sternwarte von Meudon mit dem größten französischen Tele­ skop vielerlei Details auf dem Mars entdeckte - nur eben keine Kanäle. Lowell war im Laufe der Jahre zu einigen Zugeständnissen bereit gewesen; so gab er in seinem letzten Marsbuch Marsasa Abode of Life zu, daß sich die Marsorganismen vielleicht wegen der geringeren Schwerkraft und der siebenmal dünneren At­ mosphäre von den irdischen Organismen wesentlich unter­ scheiden. Den Kanälen aber ist Lowell bis zum Lebensende treu geblieben.

»Wissenschaftliche« Spekulationen über das Leben auf dem Mars Abgesehen von den Streitigkeiten um die Marskanäle verviel­ fältigen sich nach 1900 auch die Theorien über die Entwicklung des Lebens und der Lebensbedingungen auf dem Mars. Aus der fast unüberschaubaren Fülle des Materials wollen wir nur einige, in deutscher Sprache erschienene Arbeiten nennen, die erkennen lassen, welch verschiedene Wege die Marsforschung einschlug. Die Arbeit von Otto Dross, Mars. Eine Welt im Kampf ums Dasein (Wien-Pest-Leipzig 1901), ist typisch für die Haltung vie57

ler Forscher. Es handelt sich um eine Mischung von wissen­ schaftlichen Fakten und höchst subjektiven Ableitungen, bei denen dem Mann der Wissenschaft allzu oft die Phantasie durchgeht. Dross gibt zunächst exakte Angaben über die Mars­ oberfläche und die physikalischen Bedingungen auf dem Pla­ neten. Er beschreibt das Kanalnetz und sieht in diesem den Be­ weis einer fortgeschrittenen Zivilisation. Dann aber läßt er sei­ ner Einbildungskraft die Zügel schießen: Die Marsianer sind keine exotischen Wesen, weder Zyklopen noch Vogelflügler, sondern sie sind Menschen, und ihre Denkgesetze stimmen mit den unsrigen überein. In ihrer wissenschaftlichen Entwicklung sind sie weiter als wir, aber sie sind uns auch moralisch überle­ gen. Der harte Kampf ums Dasein hat die Marsvölker geeint, die Probleme des Krieges sind gelöst worden, es herrscht ein ewiger Weltfriede. Und Dross schließt sein Buch, indem er die Streitigkeiten des Bismarckreiches mit seinen Jesuitengesetzen und seinem Zollkrieg zutiefst bedauert. Interessantere Ideen vertritt Ludwig Kann in seiner Arbeit Neue Theorie über die Entstehung der Steinkohlen und Lösung des Mars (Heidelberg 1901). Für ihn ist der Mars erheblich jün­ ger als die Erde, und die Temperaturen auf ihm liegen höher. Ein glatter, kaum wellenbewegter Ozean bedeckt den Plane­ ten, auf ihm schwimmen riesige Algenteppiche, die von der Erde aus, je nach ihrer Dichte, als Kontinente, Inseln oder Seen gedeutet werden. Auf dieser Pflanzendecke ziehen Meeres­ strömungen ihre Bahn, das sind die sogenannten Kanäle. Die Gegenströmungen, die sich zur Zeit der Schneeschmelze an den Polen entwickeln, erklären ihre »Verdoppelung«. Laut Kann befindet sich der Mars im gleichen Stadium, wie die Erde im Steinkohlenzeitalter: es gibt also weder Säugetiere noch Reptilien oder Vögel, aber Meerestiere und riesige Pflanzen. Allmählich werden sich die Algenschichten in Torf verwandeln und in die Tiefe des Ozeans sinken. In der Folge einer langen Entwicklung, die derjenigen der Erde gleicht, wird auf dem Mars der Mensch auftauchen, und er wird diese versunkenen Torfschichten, die zu Steinkohle geworden sind, heraufholen und damit seine Häuser heizen und seine Fabriken arbeiten lassen! 58

Die Idee, daß der Mars jünger sei als die Erde, verteidigt auch E. P. Merian in seiner Schrift Mars und Erde. Eine vergleichende planetographische Studie (Basel 1908). Allerdings will die Arbeit in erster Linie die topographische Analogie von Mars und Erde beweisen, und Merians Demonstration kommt zu dem Ergeb­ nis, »daß wir im Bild des Mars die getreue Rekonstruktion der Erde in einer früheren Epoche vor uns haben«. Seiner Meinung nach haben beide Planeten auf der entsprechenden Entwick­ lungsstufe die gleiche Oberflächenbildung. Die Verdoppelung der Kanäle wird von Merian als optische Täuschung bezeich­ net, die Marskanäle hingegen existieren und sind wahrschein­ lich natürlicher Herkunft. Allerdings müßte dann, damit seine Analogietheorie stimmt, die Erde in einem früheren Stadium das gleiche Kanalsystem aufgewiesen haben. Die Bewohner des Mars, falls es sie gibt (in dieser Hinsicht ist Merian vorsichtig), müßten auf alle Fälle in ihrer Entwicklung hinter denen der Erde zurückstehen. 1909 veröffentlichte der Astronom Adrian Baumann in Zürich sein Buch Die Erklärung der Oberfläche des Planeten Mars. Sein Marsbild ist originell und hat wenig mit den vorherge­ nannten Vorstellungen zu tun. Nach Baumanns Meinung hat der Mars beinah ebenso viel Wasser wie die Erde, das aber fast immer gefroren ist. Die Inseln und hellen Stellen, die wir von der Erde aus auf der Planetenoberfläche zu entdecken glauben, sind gefrorene Meere, in denen sich aktive Vulkane befinden. Wenn diese Vulkane ausbrechen, haben wir den Eindruck, »gelbe Wolken« zu sehen. Die Kanäle sind höchstwahrschein­ lich Risse in den Eismeeren, die dunklen Flecken hingegen Land. Das Vorhandensein von Lebewesen in dieser vereisten Welt hält Baumann für ausgeschlossen. Erwähnenswert ist vielleicht, daß Baumanns Hypothesen noch einmal in der Zwischenkriegszeit in Hanns Hörbigers Welteislehre« aktualisiert werden. Hörbiger glaubt sich dank dieser Hypothese in der Lage, das Rätsel des roten Sterns end­ gültig zu lösen: »Der Mars ist ein uferloser Eisozean. Und er ist es seit Jahrmillionen.« (zit. nach Hanns Fischer, Der Mars und Hörbigers Welteislehre, Leipzig, 2. Auflage 1937, S. 78). Aber all die Probleme, über die man sich in Fachkreisen den 59

Kopf zerbrach - die Herkunft der Kanäle, das Alter des Planeten und die Lebensbedingungen auf ihm - hinderten die breite Öffentlichkeit nicht daran, auch weiterhin an die Existenz ihrer kosmischen Nachbarn zu glauben. Im Grunde genommen konnten diese ja auch ohne Kanäle leben und sich ihres Daseins freuen. Und selbst wenn der Mars vielleicht eine vereiste Welt war oder zum großen Teil von Meeren bedeckt, so schloß das doch noch lange nicht intelligentes Leben auf ihm aus. Und dieser Glaube der Menschen an vernunftbegabte Wesen auf dem Mars wurde von einer üppig wuchernden Marsliteratur kräftig unterstützt.

Das Problem der Kommunikation: durch Geister oder durch drahtlose Telegraphie? Nachdem zahlreiche Wissenschaftler und ein großer Teil der öffentlichen Meinung die Existenz von intelligenten und uns überlegenen Marsianern für sicher annahmen, stellt sich eine verständliche Frage: Wie können wir mit diesen außerirdischen Intelligenzen in Verbindung treten? In großen Zügen lassen sich, was das Problem der Kommuni­ kation mit unserem Nachbarplaneten betrifft, zwei Richtungen unterscheiden, eine wissenschaftliche und eine spiritistische. Das kann zunächst verwundern, aber vergessen wir nicht, daß die Zeit Marconis, in der die Kommunikationstechniken rasche Fortschritte machen, eine Blütezeit des Spiritismus und der ver­ schiedensten parapsychologischen Experimente ist, zu denen auch die Versuche gehören, mit den Bewohnern anderer Pla­ neten in Kontakt zu treten. Flammarion selbst war an dieser Annektion des Mars durch die Spiritisten nicht ganz unschuldig gewesen. Diese beiden Richtungen eines Kontakt- und Kom­ munikationsversuches mit anderen Planeten scheinen auf den ersten Blick unvereinbar zu sein, sie inspirieren sich aber beide an der Versuchung, hinter der greifbaren Realität eine unsicht­ bare Welt zu entdecken. Schauen wir uns zunächst die spiritistischen Kontaktversuche etwas näher an. Ein interessanter spiritistischer Fall, der in di60

Marsstadt in den Visionen des Mediums Helene Smith

rektem Zusammenhang mit der Marsproblematik steht, wird von dem Genfer Psychologieprofessor Th. Flournoy in seinem 1899 veröffentlichten Buch Des Indes ä la planete Mars (Von Indien bis zum Mars) vorgestellt, das ein beachtlicher Erfolg wurde. (Das Buch wurde 1983 im Pariser Verlag »Le Sevil« neu aufgelegt.) Flournoy hatte mehreren spiritistischen Seancen beigewohnt, deren Medium eine junge Frau war, die er Helene Smith nennt. In diesem spiritistischen Kreis war der Mars ein beliebtes Diskussionsthema. Seine Mitglieder kannten sowohl Flammarion als auch die in der Presse geführten Diskussionen um den roten Planeten und waren überzeugt davon, daß es möglich sei, mit den Bewohnern fremder Planeten in Kontakt zu treten. Was die Kommunikationsmittel betraf, so nahmen sie an, die Qual der Wahl zu haben: Intuition, Hellsehen, Telepa­ thie oder momentanes Verlassen des Körpers. Am 25. November 1894 hat Helene Smith ihre erste Marsvi­ sion. Die Visionen gehen nach einer kurzen Unterbrechung in

den folgenden Jahren weiter, und aus ihnen entsteht allmählich eine kohärente Welt, die durch Zeichnungen, die Mrs. Smith ihren verbalen Erklärungen beifügt, konkretisiert wird. Sie er­ blickt auf dem Mars Menschen, die uns ähnlich sind. Allerdings tragen Männer und Frauen die gleiche Kleidung, d. h. weite Hosen und einen losen Kittel. Auf den flachen Dächern orien­ talisch anmutender Häuser sprudeln Fontänen, und auf den Straßen erblickt man radlose Wagen, die funkensprühend dahingleiten. Die Landschaft unterscheidet sich nur wenig von der irdischen: die grüne Farbe ist durch die rote ersetzt worden, und man erblickt rote oder violette Bäume und rötliche Hügel­ züge. Das kurioseste Tier auf dem Planeten ist ungefähr sechzig Zentimeter lang, hat sechs Beinpaare und einen flachen Schwanz. Sein krautähnlicher Kopf ist von zahlreichen Ohren umgeben, besitzt aber nur ein einziges grünes Auge. Die Hauptperson aller Marsvisionen nennt sich Astane und ist, wie Mrs. Smith erfährt, die Reinkarnation eines indischen Fakirs. Astane fliegt mit einem kleinen praktischen Flugapparat auf dem Mars herum, d. h. er hält in jeder Hand ein kleines later­ nenförmiges Instrument, das ihn, wenn er einen Knopf betätigt, in die Lüfte aufsteigen läßt. Mrs. Smith äußert sich weder zum Problem der Kanäle noch berichtet sie uns etwas über das soziale Leben der Marsianer, hingegen überrascht sie uns mit Marssprache-Lektionen, wobei sie bei der Wiedergabe der Marssprache ein Marsalpha­ bet benutzt! Ob man nun ihren Berichten Glauben schenkt oder nicht, fest steht, daß die von ihr wiedergegebene Sprache stark von allen bekannten Sprachen abweicht und eine klare grammatikalische Struktur und einen ziemlich reichen Wort­ schatz besitzt. Diese Sprache - die einzige, sozusagen komplette Marsspra­ che, die man bis heute kennt! - hat die Gelehrten intrigiert. Th. Flournoy versucht, sie in seinem Buch zu analysieren und muß, obgleich er der ganzen Angelegenheit skeptisch gegenüber­ steht, zugeben, daß sie logisch konstruiert ist. Seiner Meinung nach handelt es sich um einen medizinischen Fall von Somnam­ bulismus, verbunden mit einer Glossolalie, um einen Fall also, der zwar überaus interessant ist, aber in keinerlei Beziehung 62

Astane und sein Flugapparat in den Visionen des Mediums Helene Smith 63

i>i irv. i > ic c tt-ia. ir nie v-c&ra-6 e^feir flntersiderale< wird dann den Auftakt zur »Internationalen« geben.«

70

III

Das Goldene Zeitalter der Marsianer

Die Blütezeit der Marsliteratur Im Gefolge der genannten wissenschaftlichen Entdeckungen und Hypothesen floriert im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges eine üppige Marsliteratur. Diese Begeisterung für den Mars erfaßt sowohl die europäische als auch die amerikanische Literatur, wobei sich geringfügige zeitliche Verschiebungen durch historische, ökonomische und soziologische Faktoren erklären lassen. Die­ se Marsliteratur ist aber von der Thematik, der literarischen Technik und der Ideologie her sehr unterschiedlich angelegt. Was den Inhalt betrifft, so gehen die Schriftsteller im allge­ meinen von der Vorstellung aus, daß vernunftbegabte Wesen den roten Planeten bevölkern, das schien u. a. durch die Bücher Flammarions und Lowells bewiesen zu sein. Im übrigen aber kann sich die Phantasie eines jeden frei entfalten, da man über die Entwicklung dieses Lebens und seine Organisation nichts Genaues wußte. Was die literarische Methode betrifft, so fällt zunächst auf, daß sehr oft in der ersten Person erzählt wird, wobei der Erzäh­ ler Zeuge oder Betroffener der Ereignisse ist. Das dient, wie auch die beliebte Manuskriptfiktion, dazu, die Glaubwürdig­ keit des Erzählten zu erhöhen. Ansonsten weisen die Romane die verschiedensten Tendenzen auf. Wir finden Werke, die in erster Linie wissenschaftliche Erkenntnisse popularisieren wol­ len und die man als wissenschaftliche Unterhaltungsromane (Scientific Romances, romans scientifiques) bezeichnen könn­ te. Die eigentliche Handlung wird in diesen Romanen auf ein Minimum reduziert und soll nur dazu dienen, die wissenschaft­ lichen Informationen lesbarer zu machen. Andere Autoren, die sich Jules Verne zum Vorbild nehmen, versuchen in ihren Wer­ ken mit mehr oder weniger Geschick zwischen Fiktion und Faktizität zu jonglieren. Oft wird auch das reine Abenteuer, die spannende Handlung in den Vordergrund gestellt, und wissen­ schaftliche und astronomische Gegebenheiten sind nur Ver­ satzstücke, Requisiten, die einer literarischen Mode ihren Tri­ but zollen. Manchmal werden die astronomischen Entdeckun­ gen und Hypothesen auch zur Demonstration philosophischer 72

Ideen oder sozialer Utopien verwendet. In diesem Fall sind Mars und die Marsianer selten mehr als ein Vorwand, der dazu dient, den Erdenbürgern ihren gegenwärtigen Zustand kritisch klarzumachen, Vermutungen über ihre Zukunft anzustellen und ihnen eine prinzipiell realisierbare, bessere Welt zu zeigen. Mars wird dann für die Schriftsteller das, was Utopia für Morus war. Aber die genannten Tendenzen verquicken sich meist mit­ einander, und wir haben fast immer ein Konglomerat von wis­ senschaftlichen, utopischen und philosophischen Elementen vor uns. Und letzten Endes steht man oft recht ratlos vor der Frage: Was ist noch (für den Autor zeitgenössische) Wissen­ schaft, was ist schon Fiktion? Die in den Marsromanen vertretene Ideologie weist eine ähnliche Komplexität auf. Im Grunde genommen spiegeln die­ se Romane die politischen Tendenzen und ideologischen Widersprüche ihrer Epoche wider. Es dominieren kolonialistische und imperialistische Bestrebungen. Das darf nicht verwun­ dern, denn die Romane entstanden zu einer Zeit, als die euro­ päischen Großmächte dabei waren, den Planeten Erde zu kolonialisieren und unter sich aufzuteilen. Aber der irdische Expan­ sionsraum erschöpfte sich allmählich, und die Eroberungslust richtete sich auf unsere Nachbarplaneten. Der Romanheld, der auf dem Mars landet, ist oft weniger Entdecker als Eroberer, eine Art »Supermann«, dem es, nachdem er tausend Gefahren überstanden hat, meist gelingt, sich dort seinen Platz zu sichern, umgeben von einer Natur, die zwar exotisch ist, aber nicht zu sehr, inmitten von Geschöpfen, die, obgleich andersgeartet, ihm doch ähnlich sind. Oft stößt der kosmische Reisende auf dem Mars auch auf verschiedene Rassen, deren intellektuelles und kulturelles Niveau ähnliche Unterschiede aufweist wiedas der irdischen. Man denkt also, wenn man an den Mars denkt, in den rassischen und kolonialistischen Begriffen, die Ende des 19. Jahrhunderts an der Tagesordnung waren. Wie hätte man auch anders denken können? Andrerseits vergißt man nicht, daß die Kräfteverhältnisse nicht unbedingt so sein müssen. Die Eroberer könnten an einer überlegeneren Marszivilisation scheitern und ihrerseits kolonialisiert werden, z. B. mit Hilfe einer perfektionierteren Kriegs73

maschinerie. Meist wird diese Möglichkeit nur angedeutet, Wells hat dieses Raisonnement in seinem Roman The War of the Worlds (1898; deutsch: Krieg der Welten, 1901) logisch zu Ende geführt. Aber das Fin de siècle kennt auch Strömungen, die sich dem imperialistischen Expansionstrieb entgegenstellen. Liberale und pazifistische Gruppen in allen europäischen Ländern bau­ en auf den guten Willen der Menschen, auf den technischen Fortschritt, der eine ethnische Vervollkommnung des Men­ schen verspricht. Auch diese Vorstellungen vom Edlen, Guten und Friedfertigen der menschlichen Natur werden wiederum auf den Mars projiziert, und so finden wir Romane mit Marsianern, die so gut, klug und friedfertig sind, wie wir es zu sein wünschen. Das sind nur einige Beispiele, die auf die unerschöpfliche Vielfalt der thematischen, strukturellen und ideologischen Kombinationsmöglichkeiten hinweisen sollen, die wir in der Marsliteratur um die Jahrhundertwende finden. Vielleicht hat diese Literatur gerade deshalb einen solchen Aufschwung er­ lebt, eine solche Blüte erreicht, weil der Planet gewissermaßen Neuland war, auf dem man einfach alles erbauen konnte, tau­ send mögliche Welten, wenn man nur seiner Einbildungskraft freien Lauf ließ.

Ein verbesserter Kapitalismus: Percy Greg, Across the Zodiac, 1880

Was die Chronologie der Marsliteratur betrifft, so müssen wir zum ersten Mal 1880 halt machen. In diesem Jahr veröffentlich­ te der Engländer Percy Greg (1836-1898) einen zweibändigen Roman Across the Zodiac. The Story of a Wrecket Record, den man bereits zwei Jahre später ins Deutsche übersetzte (jenseits des Zodiacus. Bericht einer Reise nach dem Mars, 1882). Es han­ delt sich in großen Zügen um einen technisch-utopischen Ro­ man, wobei allerdings die utopische Komponente überwiegt und die wissenschaftlichen und astronomischen Fakten nur eine sekundäre Rolle spielen. 74

Die Handlung wird auf indirekte Weise als Manuskriptfiktion dargestellt. In diesem Manuskript, das in einem Boliden auf die Erde gelangt, berichtet ein Weltraumfahrer von seiner Mars­ reise, die er im Jahre 1830 während einer günstigen Opposition Mars-Erde unternommen hat. Der Astronaut erreicht den Mars in einem Raumschiff, das von einer »Apergy« genannten Ener­ gie, einer Art Anti-Schwerkraft, angetrieben wird. Präzis hat er alle Einzelheiten dieser Reise notiert: Uhrzeit, Geschwindig­ keit, Entfernung, astronomische Beobachtungen. Die minu­ tiösen Beschreibungen werden auch auf dem Mars fortgesetzt. Der Luftdruck dort entspricht dem irdischen in ungefähr fünf­ tausend Metern Höhe, der Sauerstoffgehalt der Luft ist erhöht, die Temperaturen schwankend, aber alles in allem sind die Lebensbedingungen den irdischen doch recht ähnlich. In der Pflanzenwelt dominiert, wie es sich für den Planeten gehört, die rote Farbe. Kein Wunder, daß bei diesen fast analogen Lebensbedingun­ gen die vernunftbegabten Wesen dieses Planeten den Men­ schen sehr ähnlich sind. Der Mars wird von einer einzigen Rasse bewohnt, die nur eine Sprache kennt. Die Marsianer sind etwas kleiner geraten als wir, d. h. sie sind ungefähr vier Fuß hoch. Ihre Beine sind auffallend kurz und ihr Brustkorb kräftig ent­ wickelt. Der Erzähler vermutet, daß sie arischer Herkunft sind, zumindest erinnern sie ihn mit ihrem blonden Haar an Schwe­ den oder Germanen (!). Ihre Kleidung besteht aus einem wei­ ten Hemd und einer kurzen Hose,die aus einem handgeweb­ ten, knallroten Stoff angefertigt sind. Eine turbanartige Kopf­ bedeckung schützt sie vor den Sonnenstrahlen. Wir sehen also, daß Greg bei der Beschreibung der Marsianer und ihrer Klei­ dung nicht viel eingefallen ist. Auch die Marszivilisation unter­ scheidet sich kaum von der irdischen, d. h. der europäischen, die Häuser sind ähnlich eingerichtet, es gibt Straßen und Städte wie auf der Erde. Der Leser erhält dann eine kleine Einführung in die Marsspra­ che mit allerlei grammatikalischen Einzelheiten. Aber im allge­ meinen wird auf dem Mars weniger gesprochen als auf der Erde. Man redet nur miteinander, wenn man sich etwas wirk­ lich Wichtiges zu sagen hat! Es gibt zwei Methoden der schrift75

liehen Fixierung: entweder bedient man sich einer Abkür­ zungsschrift, die der Stenographie gleicht, oder man verwendet eine Maschine, die das gesprochene Wort sofort graphisch wiedergibt. Danach folgt eine Vorlesung über die Marsgeschichte: Vor 13 218 Jahren haben sich alle Rassen und Staaten des Planeten in einen einzigen Staat mit einer einzigen Sprache vereinigt - von diesem Zeitpunkt an datiert auch die Marsgeschichte. Nach diesem Zusammenschluß existierten noch große soziale Unter­ schiede: weniger als 400000 »Großgrundbesitzer« hielten die politische Macht des Planeten in ihren Händen. Allmählich »demokratisierte« sich das soziale Leben. Im Jahr 3278 wurde das allgemeine Wahlrecht für alle Männer und Frauen über 12 Jah­ ren eingeführt. (Vergessen wir nicht, daß ein Marsjahr zwei Er­ denjahren entspricht!) Bald darauf (im Jahre 3412 - der Erzähler besteht auf genauen Jahreszahlen) errichtete man auf dem Mars eine Art Universalkommunismus. Sämtliche Produktions­ mittel gehörten fortan der Gemeinschaft, nur Nahrungsmittel und Kleidung blieben noch in Privatbesitz. Diese Veränderung hat aber nicht für alle, wie man annahm, Zufriedenheit und Glück mit sich gebracht, sondern - nach den Erfahrungen der Marsianer! - nur Armut und Despotismus. So gelangten all­ mählich Privatinitiative und Privateigentum wieder zu ihrem Recht. Im 39. Jahrhundert herrschen Ordnung und ein verbes­ serter Kapitalismus auf dem Planeten. Die sozialen Klassen be­ stehen wieder, aber die Armut ist verschwunden und damit die soziale Unzufriedenheit. Der Planet zählt ungefähr 200 Millio­ nen Marsianer (die Erde zur gleichen Zeit ca. 1,5 Milliarden), und die Bevölkerungszahl wächst nur langsam. Der Autor spricht auch von einigen städtebaulichen Problemen und vom Finanzsystem des Marsstaates. Die Religion spielt in der Mars­ gesellschaft keine Rolle mehr. Eine Zeitlang haben die Mar­ sianer die völlige Gleichberechtigung der Geschlechter prak­ tiziert, aber dieses Experiment hat, wie das kommunistische Sy­ stem, wenig Erfolg gehabt. Greg entwickelt hier die nicht un­ originelle Idee, daß die »gleichberechtigte« Frau im Grunde genommen schlechter dran ist als die »emanzipierte«. Und die Marsianerinnen sind allmählich zu emanzipierten Frauen 76

geworden, sie haben zwar wieder ihre traditionelle Rolle über­ nommen, genießen aber eine Reihe von Freiheiten. So haben sie z. B. das Recht, sich nach zwei Jahren von ihrem Mann zu trennen, wenn die Ehe nicht ihren Erwartungen entspricht. Der verschmähte Ehemann muß ihnen sogar eine Pension zahlen, um ihnen ökonomische Unabhängigkeit zu garantieren. Die Kinder werden im allgemeinen vom Staat erzogen, dürfen aber auch in den Familien bleiben. Gregs Marsroman ist also zeitgemäßer als es auf den ersten Blick erscheint. Zwei große Probleme stehen im Mittelpunkt die Gleichberechtigung der Frau und der Kommunismus -, Pro­ bleme, die Ende des 19. Jahrhunderts die Gemüter erhitzten. Greg vertritt die Meinung, daß die Gleichberechtigung der Frau und der Kommunismus notwendige Etappen der mensch­ lichen Entwicklung sind, die aber überwunden werden müs­ sen. Die Überwindung besteht bei ihm in einer Rückkehr zu den alten Verhältnissen, die allerdings, gemäß der gemachten Erfahrungen, verbessert werden, jenseits des Zodiacus ist letz­ ten Endes eine soziale Utopie, die ein Gesellschaftssystem schil­ dert, das, nachdem es einige »Kinderkrankheiten« überwunden hat, perfektionierter und annehmbarer ist als die bürgerliche Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts, aber doch über einen »verbesserten« Kapitalismus nicht hinausgeht.

Der Mann vom Mars: Guy de Maupassant, L'Homme de Mars, 1889

1889 widerfährt den Marsianern eine große Ehre. Zum ersten Mal beschäftigt sich ein bedeutender Schriftsteller mit ihnen, nämlich der Franzose Guy de Maupassant (1840-1893) in einer kleinen Erzählung L’Hommede Mars (deutsch: Der Mann vom Mars). Ein Unbekannter stattet dem Erzähler einen Besuch ab und behauptet, er habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen, fürchte aber, man könne ihn für wahnsinnig halten. So stellt er zunächst dem Erzähler eine Frage: »- Glauben Sie, daß die anderen Planeten bewohnt sind? 77

Ich antwortete ohne Zögern und ohne irgendeine Überra­ schung zu zeigen: - Ja, natürlich glaube ich das. Eine heftige Freude erfaßte ihn, er sprang auf, setzte sich wie­ der, hatte offensichtlich Lust, mich zu umarmen und rief dann: - Ah, was für ein Glück ... ich bin erleichtert. Wie habe ich an Ihnen zweifeln können. Ein Mensch, der nicht an die Be­ wohnbarkeit anderer Welten glaubt, kann unmöglich intelli­ gent sein ...« Und dann entwickelt der geheimnisvolle Besucher seine Idee auf höchst verworrene Weise weiter: nur Dummköpfe bil­ deten sich ein, daß die Milliarden Planeten zu ihrem Vergnü­ gen im Weltall kreisen. Ermutigt durch die zustimmenden Be­ merkungen des Erzählers wendet er sich dann unserem roten Nachbarn zu: »Ich will Ihnen zunächst beweisen, daß der Mars bewohnt ist. Er bietet unseren Augen ungefähr das gleiche Bild, das die Erde Beobachtern vom Mars bietet. Allerdings sind auf dem Mars die Ozeane seltener und liegen über den Planeten ver­ streut. Man erkennt sie an ihrer dunklen Farbe, denn be­ kanntlich absorbiert das Wasser das Licht, während es die Kontinente reflektieren.« Nachdem er einige Präzisionen über die Temperaturen auf dem Mars, die Polkappen, den Wechsel der Jahreszeiten und die Länge eines Marsjahres gegeben hat, zitiert er Schiaparelli und die von ihm entdeckten Kanäle als Beweis dafür, daß man auf unserem Nachbarplaneten »denkt, arbeitet und uns beob­ achtet«. Als sich sein Gegenüber ob der gigantischen Ausmaße dieses Bewässerungssystems wundert, muß er sich belehren lassen, daß die Arbeit auf dem Mars wegen der geringen Schwerkraft ein Kinderspiel sei. Die Schwerkraft erkläre übri­ gens auch, warum auf dem Planeten die beflügelten Rassen dominieren: »Also mein Herr, denken Sie sich einen Planeten mit Pflan­ zen, Bäumen und Tieren, von deren vielfältigen Formen wir uns keine Vorstellung machen können, einen Planeten, den große geflügelte Wesen bevölkern, die so ähnlich aussehen, 78

wie man uns die Engel beschrieben hat. Ich sehe, wie diese Wesen in der goldenen Marsluft über das flache Land und die Städte fliegen. Früher hat man angenommen, die Mars­ atmosphäre sei rot, aber sie ist gelb, von schöner, goldgelber Farbe. Und sie sind erstaunt darüber, daß diese Geschöpfe es fertig­ gebracht haben, hundert Kilometer breite Gräben auszuhe­ ben? Denken Sie nur daran, was die Wissenschaft bei uns seit einem Jahrhundert ... seit einem Jahrhundert ... geleistet hat, und stellen Sie sich dann vor, daß die Marsianer uns viel­ leicht überlegen sind ...« Endlich kommt der Unbekannte zum eigentlichen Grund seines Besuches. Als er eines Nachts am Meer auf einem Fels­ vorsprung saß, um die Sternschnuppenschwärme zu beobach­ ten, die in diesem Jahr besonders zahlreich sind, weil ein Komet die Erde gestreift hat, sah er plötzlich eine leuchtende, durch­ sichtige, mit Flügeln versehene Kugel ins Meer stürzen: »Man hätte gesagt, ein kristallener Riesenballon voller zap­ pelnder Wesen, die man kaum erkennen konnte, und die aufgeregt waren wie die Mannschaft eines sinkenden Schif­ fes, das steuerlos auf den Wogen treibt. Und dieser seltsame Ballon stürzte, nachdem er einen großen Bogen beschrieben hatte, ins Meer, und ich hörte das Geräusch dieses Falls wie einen Kanonenschuß dröhnen. Übrigens wurde der Aufprall im ganzen Land gehört und für einen Donnerschlag gehal­ ten. Ich allein habe gesehen ... ich habe gesehen ... Wären sie über dem Festland abgestürzt, hätten wir die Bewohner des Mars kennengelernt.« Der verwirrte »Augenzeuge« nimmt also an, daß es sich um ein Raumschiff der Marsianer handelte, um das »erste siderale Luftschiff, das denkende Wesen in die Unendlichkeit des Rau­ mes gesandt haben«. Im Grunde genommen ist Maupassants kleine Erklärung kaum erwähnenswert, es sei denn als Beweis dafür, daß Mars und die Marsianer Ende des 19. Jahrhunderts niemanden mehr gleichgültig ließen und sogar einen Schriftsteller vom Rang ei­ nes Maupassant interessierten, der das Problem allerdings mit einer gewissen Skepsis behandelt. 79

Reinkarnation als Reisemittel: Camille Flammarions Marsromane

Camille Flammarion, dessen populärwissenschaftliche Bücher und ihre Bedeutung für die Verbreitung der Idee von der Viel­ heit der bewohnten Welten wir schon mehrmals erwähnt ha­ ben, hat auch versucht, seine astronomischen Kenntnisse und seine weltanschauliche Überzeugung in ein literarisches Ge­ wand zu kleiden. So veröffentlicht er 1889 den Roman Uranie (deutsch: Urania, 1894), der mehr sein will als eine simple Fik­ tion. Zwei Liebende - der Wissenschaftler und Astronom Georges Spero und seine Freundin Icléa - kommen bei einem Unfall ums Leben und reinkarnieren sich auf dem Mars, wobei sie übrigens ihr Geschlecht vertauschen, was ihnen die Möglich­ keit neuer Erfahrungen gibt. Reinkarnation ist also hier das Mit­ tel, um den Mars zu erreichen, denn Flammarion, der auch ei­ nige »wissenschaftliche« Abhandlungen über die Seelenwan­ derung geschrieben hat, war der Meinung, daß der menschli­ che Körper unmöglich die Strapazen einer Reise durch das Weltall ertragen könne. Die Gabe der Reinkarnation ist aber nicht jedem beschieden, sondern nur, wie wir in Uranie er­ fahren, wenigen Auserwählten, die in ihrem irdischen Leben aufrichtig nach Erkenntnis gestrebt haben. Der Erzähler des Romans, der wie Flammarion auf der Stern­ warte von Juvisy arbeitet, tritt bei einer hypnotischen Séance mit seinem verstorbenen Freund Spero in Verbindung, macht dann im Schlaf eine Reise auf den Mars und wird schließlich so­ gar vom Geist seines Freundes zu nächtlicher Stunde besucht. Auf diese Weise erfährt er viel Interessantes über das Leben auf dem Mars und über seine Bewohner. Daß die Welt dort raffi­ nierter, vergeistigter, vielleicht auch dekadenter ist als bei uns, erklärt sich zum Teil durch die physikalischen Bedingungen, vor allen Dingen aber durch das hohe Alter des Planeten. Die Marsianer haben alle Etappen der menschlichen Entwicklung längst hinter sich gelassen, und Wissenschaft und Technik ha­ ben ein für uns unvorstellbares Niveau erreicht. So besitzen sie 80

Zeitvertreib auf dem Mars: man schaut sich auf einer Riesenleinwand Sze­ nen des irdischen Lebens an

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z. B. einen »Telefotografen«, der alle Ereignisse unserer Erd­ geschichte aufgezeichnet hat. In aller Ruhe kann man also der Entdeckung Amerikas durch Columbus beiwohnen oder sich Bilder aus dem Paris zur Zeit der französischen Revolution an­ schauen. Auf dem Mars sind, wegen der geringen Schwerkraft, die Or­ ganismen leicht und zart und die höherentwickelten Wesen meist beflügelt. Das weibliche Geschlecht herrscht souverän über das männliche (- und jetzt verstehen wir auch, warum der männliche Partner auf dem Mars so bereitwillig sein Geschlecht wechselte!). Das gilt auch für das Tierreich, wo sich stets das Weibchen durch Schönheit und Stärke auszeichnet. Die ätheri­ schen Marsgeschöpfe haben unseren groben Materialismus längst überwunden und leben nur »durch den Geist und für den Geist«. Alle körperlichen Arbeiten verrichten Maschinen, die von abgerichteten Tieren (deren Intelligenz ungefähr der unsrigen gleicht) bedient werden. Auch mit der Nahrungsbe­ schaffung, die uns Menschen einen Teil unserer Zeit kostet, brauchen sich die Marsianer nicht mehr zu beschäftigen: »Auf dem Mars ißt man nicht, hat man nie gegessen und wird nie essen.« Man ernährt sich, wie die Pflanzen, atmend. Ja, unsere seelische »Grobheit« wird sogar zum großen Teil unserem Ver­ dauungsapparat zugeschrieben und der »bestialischen« Art un­ serer Nahrungsbeschaffung. »Ihr seid alle mehr oder weniger Metzger«, erklärt Spero seinem Freund. »Eure Hände sind blut­ besudelt.« - Aber tröstlich verweist er auch auf den nicht auf­ zuhaltenden Fortschritt: »Es besteht kein Grund dazu, gänzlich zu verzweifeln. Der Fortschritt wird auch euch mitreißen. Eines Tages werdet ihr wissen, was es bedeutet, Bürger des Himmels zu sein. Dann werdet ihr im Licht leben, wissend sein, in der wirklichen Welt des Geistes zu Hause sein.« Flammarion wollte mit Uranie einen unterhaltsamen Roman auf wissenschaftlicher Basis schreiben, doch fehlt auch die uto­ pische Komponente nicht, denn der Autor versucht, eine ideale Gesellschaft darzustellen, die friedlicher, intelligenter und kultivierter ist als die Gesellschaft seiner Zeit. Als intelligente und gleichzeitig hilfsbereite Wesen stellt uns Flammarion die Marsianer auch in einer Episode seines 1894 er82

schienenen Romans La Fin du Monde (deutsch: Das Ende der Welt, 18%) dar. Ein Komet nähert sich der Erde, und die Men­ schen sehen mit Entsetzen dem nahen Ende entgegen. Da grei­ fen die Marsianer ein und senden auf »photophonische« Weise der Erde eine Botschaft: »Die Astronomen der Äquatorialstadt des Mars teilen den Be­ wohnern der Erde mit, daß ein Komet mit einer Geschwindig­ keit, die fast das Doppelte der Umlaufgeschwindigkeit des Mars beträgt, direkt auf sie zukommt. Die Bewegung setzt sich in Wärme und die Wärme in Elektrizität um. Starke magnetische Gewitter. Italien räumen.« Diese erste Marsdepesche stößt auf einige Skepsis der Ge­ lehrten, die zunächst an einen billigen Scherz glauben, denn, so äußert sich einer von ihnen: »Man wird mich nicht glauben machen, daß die Marsianer - angenommen sie existieren und schicken uns wirklich Nachrichten - Italien dem Namen nach kennen. Ich glaube nicht, daß einer von ihnen Cäsars Kom­ mentare oder die Geschichte der Päpste gelesen hat ...« Bald folgt aber eine zweite Depesche in Form einer graphi­ schen Darstellung, auf welcher der italienische Stiefel deutlich

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zu erkennen ist. Die Voraussagen treffen dann tatsächlich ein. Italien wird besonders von dem Zusammenstoß betroffen, was Flammarion ermöglicht, eine kleine Rache am Papsttum zu nehmen, wobei er allerdings vergißt, daß auch Schiaparelli und andere astronomische Kollegen die Halbinsel bewohnen. Der kosmische Unfall erweist sich als weniger dramatisch als ver­ mutet, es kommen »nur« 2,5% der europäischen Bevölkerung ums Leben. Flammarion zieht aus dieser Marsepisode die lako­ nische Schlußfolgerung: »Die Marsianer sind uns auf dem Ge­ biet der Wissenschaft überlegen; kein Wunder, sind sie doch älter als wir, so daß sich der Fortschritt bei ihnen viele Jahrhun­ derte lang stetig weiterentwickeln konnte.« Fast ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen von Llranie veröf­ fentlicht Flammarion 1897 noch einmal einen Marsroman, Stel­ la, auf den wir an dieser Stelle ebenfalls kurz eingehen wollen. In bezug auf die Handlung und auf die Ideen besteht kein großer Unterschied zwischen diesem Roman und Uranie. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte zwischen einem Astro­ nomen, Raphael Dargilan, und einem jungen Mädchen mit dem für einen astronomischen Roman so passenden Namen Stella. Doch es wird wenig über Liebe und viel über Astronomie gesprochen. Ja, es wird unter anderem sogar eine Theorie des wissenschaftlichen Unterhaltungsromans entwickelt, der, so er­ klärt Flammarion, ein korrektes wissenschaftliches Gerüst be­ sitzen müsse, um das sich dann die Handlung rankt, die dazu bestimmt sei, den didaktischen Gehalt dem Leser schmackhaf­ ter zu machen. Das wissenschaftliche Gerüst von Stella liefert wiederum der rote Planet, der 1897 in aller Munde ist: »Schaut euch die Zeitungen an, auch diejenigen, die überhaupt nichts mit Wissenschaft zu tun haben«, heißt es in Stella, »man spricht auch dort immer öfter vom Mars, als handle es sich um ein Land, das alle Welt interessiert, wie Tongking oder Madagas­ kar.« Dargilan hält seiner Stella (und gleichzeitig dem Leser) allerlei wissenschaftliche Vorträge über den Mars, wobei auch die Ka­ näle nicht vergessen werden, die in immer stärkerem Maß die Öffentlichkeit begeistern. Hier einige Zitate aus Dargilans di­ daktischen Ergüssen: »Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß 84

unsere Fauna und Flora nicht auch auf dem Mars zu finden sind (...) Die Temperaturen dort sind wahrscheinlich ungefähr wie die unsrigen, doch gibt es auch einige Unterschiede. Es regnet fast nie auf dem Mars, auch sonstige Niederschläge fehlen, und es gibt weder Quellen noch Flüsse. Nur die Kanäle verteilen das Wasser. (...) All das läßt uns Wesen vermuten, die, was ihre Or­ ganisation und ihre Intelligenz betrifft, unvergleichlich höher­ entwickelt sind als wir. Unter den Planeten unseres Sonnensy­ stems scheinen augenblicklich nur die Venus, der Mars und die Erde bewohnt zu sein. Venus steht in ihrer Entwicklung hinter der Erde zurück, Mars ist uns voraus. Wie schade, daß wir unsere so unvollkommene Welt nicht verlassen können, um uns auf dem Mars niederzulassen.« Aber Flammarion ist in diesem Punkt kategorisch: die kosmischen Reisen sind nicht realisierbar, »der interplanetarische Raum ist für unseren irdischen Körper unüberwindlich«. Es gibt also nur eine einzige Möglichkeit, dieselbe wie in Uranie: Reinkarnation! Nach Jahren irdischen Glücks machen Stella und Dargilan eine Reise nach Tirol, um dort von einem Gebirge aus besser die Sternschnuppenschwärme zu bewundern, die sich in Folge der Desintegration eines Kometen gebildet haben. Bei diesem Abenteuer müssen sie ihr Leben lassen, allerdings nur ihr irdi­ sches Leben, denn Flammarion verkündet, daß wir auch einen »Astralleib« besitzen, »der sich vom irdischen Körper lösen kann« und daß »die sichtbare Welt bei weitem nicht die reale Welt bedeutet«. Der Komet erweist dem Liebespaar einen großen Dienst, in­ dem er ihrer beider Seelen mit sich führt. Bestimmungsort ist selbstverständlich der Mars. Dort können Stella und Dargilan sich reinkarnieren, um die wohlbekannten Flammarionschen Marslandschaften zu bewundern und die leichten Wohnsitze der ätherischen Geschöpfe, die sich in den Lüften tummeln.

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Der Planet des Krieges: Georges Le Faure und Henri de Graffigny, Les aventures extraordinaires d’un savant russe, 1889-18%

Kehren wir aber ins Jahr 1889 zurück, in dem Flammarions Ro­ man Uranie erschien. In diesem Jahr beginnen zwei Franzosen, Georges Le Faure (1858-1953) und Henri de Graffigny (1863 bis 1942), mit der Veröffentlichung eines Fortsetzungsromans Les Aventures extraordinaires d’un savant russe (Die außerge­ wöhnlichen Abenteuer eines russischen Gelehrten). In dieser vierbändigen astronomischen Saga versuchen die Autoren, ähnlich wie Jules Verne, die wissenschaftlichen Fakten, die sie vermitteln wollen, durch eine spannende Handlung schmack­ haft zu machen. Sie stützen sich, was den wissenschaftlichen Gehalt ihres Romans betrifft, hauptsächlich auf die astronomi­ schen Veröffentlichungen Flammarions, der auch das Vorwort zu den Abenteuern ... verfaßt hat und sie als einen »wissen­ schaftlichen Roman, der ganz und gar auf der Astronomie auf­ gebaut ist«, empfiehlt. Die Mannschaft, die an diesem interplanetarischen Aben­ teuer teilnimmt, ist von internationaler Zusammensetzung. Sie besteht aus dem russischen Gelehrten Ossipoff, seiner Tochter, die den hübschen »astronomischen« Namen Selena trägt, ei­ nem Amerikaner, Jonathan Farenheit, und zwei Franzosen, nämlich dem jungen Diplomaten Gontran de Flammermont und dem phantasiebegabten Ingenieur Alcide Fricoulet. Im er­ sten Band, La Lune (Der Mond) wird zunächst der Mond be­ sucht, auf den das Geschoß durch die Kraft eines gerade aus­ brechenden Vulkans präzis befördert wird. In einem zweiten Teil, Les soleils et les petites planétes (Die Sonne und die Klei­ nen Planeten), geht die Reise weiter zur Venus und zum Mer­ kur, wobei man ein Fahrzeug verwendet, das mit Sonnenener­ gie funktioniert. Dann kommt, ähnlich wie in Jules Vernes Ro­ man Hector Servadac (1877), ein Komet gerade zur rechten Zeit. Er reißt auf seiner Bahn ein Stück vom Merkur mit, selbstver­ ständlich gerade das Stück, auf dem sich unsere Weltraumrei­ senden befinden. Auf diese Weise gelangen sie zum Mars, besser gesagt: auf 86

den kleinen Marsmond Phobos, den Asaph Hall einige Jahre vorher entdeckt hatte und der auf diese Weise seinen Eingang in die Literatur findet. Phobos ist von einem Riesenmetallnetz eingehüllt, in dem sich die Reisenden verfangen und dann ihre erste Bekanntschaft mit recht grotesken Wesen machen, die sie für Marsianer halten. Zunächst werden sie durch furchterre­ gende Krallen fasziniert. »Diese Krallen befanden sich an den membranartigen Enden von Flügeln, die ihrerseits zu einem behaarten Körper gehörten, auf dem ein langer Hals saß und ein wohlproportionierter, aber kahler Kopf. Grünliche Augen belebten das Gesicht und glänzten zwischen wimpernlosen Li­ dern; die Nase war sehr lang und beweglich wie der Rüssel eines Tapirs, der runde, dicklippige Mund öffnete sich zwi­ schen zwei mächtigen Kiefern.« Glücklicherweise stellt sich heraus, daß diese Wesen nur eine Art Vorhut sind. Bald tauchen die »wirklichen« Marsianer in einem gigantischen zylindrischen Ballon mit Sonnensegeln auf und nehmen die Menschen an Bord. Diese beobachten im Maschinensaal allerlei »unverständ­ liche Apparate«, die ohne Wärme und ohne jedes Geräusch Elektrizität produzieren. All das läßt vermuten, daß es sich bei den Marsianern um hochintelligente Geschöpfe handelt. Und dann werden sie genauer beschrieben: »Es gab einen beträcht­ lichen Unterschied zwischen den Schwerarbeitern auf Phobos, jenen abscheulichen, halb vogel- und halb reptilähnlichen Ge­ schöpfen (...) und den Wesen, die nun vor ihnen standen und deren bewunderungswürdige Intelligenz sich in ihren Blicken, ihrer stolzen Haltung und in ihrem edlen Gang widerspiegelte. Sie waren etwas mehr als zwei Meter groß. Ihr runder Kopf saß auf einem kräftigen Hals. Ihre ungewöhnlich großen Augen glänzten lebhaft, und man konnte ihrem Blick nicht lange standhalten. Der zahnlose Kiefer war schnabelförmig vorge­ schoben. (...) Ihre Glieder waren lang und machten, obgleich sie dünn waren, einen kräftigen Eindruck. Eine Membran wie die der Fledermäuse verband sie miteinander. Fricoulet erklär­ te, daß diese Membran gleichzeitig zum Fliegen dient und wie ein Fallschirm benutzt werden kann. Sie ersetzt auch ein ganzes Kleidungsstück, denn im Ruhezustand hüllen sich die Marsia­ ner, nicht ohne Anmut, darin wie in eine Toga ein.« 87

Bald stellen die Reisenden fest, daß der erste Eindruck an Bord des Marsflugzeuges nicht täuschte, die Marsianer stehen tatsächlich auf einer Zivilisationsstufe, die wir erst nach einigen Jahrhunderten erreichen werden. Farenheit, der Amerikaner, fühlt sich noch aus einem ande­ ren Grund gedemütigt. Seine typisch amerikanische Geschäf­ tigkeit wird von derjenigen der Marsianer weit übertroffen. »Time is money« gilt auch auf dem Mars, aber die Marsianer schlagen Farenheit um einige Längen. Sie ruhen sich so gut wie nie aus. Um die Zeit, die bei den Mahlzeiten verlorengeht, ein­ zusparen, ernähren sie sich nur von flüssigen Substanzen; selbst ihre Sprache ist in gewisser Weise »stenographisch« geworden und besteht nur noch aus einsilbigen Wörtern. Aber alles in allem fühlen sich unsere Reisenden nicht gar zu fremd in dieser Welt. Die Natur gleicht der irdischen, abgese­ hen von geringfügigen Unterschieden. So sind z. B. die Pflan­ zen des Planeten von rötlicher Farbe. Die Topographie inspi-

riert sich an Schiaparellis Marskarten: Kontinente,Meere,Seen, Kanäle. Straßen sind auf dem Mars überflüssig. Entweder flie­ gen die Marsianer - es gibt eine Reihe perfektionierter Flug­ apparate, oder sie benützen für größere Entfernungen die Ka­ näle, auf denen schnelle Schiffe wie Schlitten auf dem Eis dahin­ gleiten. Man wohnt auch dem Bau eines Kanals bei. Die riesi­ gen Erdmassen, die dabei ausgehoben werden, transportiert man in Ballons auf Phobos, der also zu einer Art Abladeplatz wird. Ein hubschrauberähnliches Flugzeug bringt dann die Reisen­ den in die Hauptstadt - die »Stadt des Lichts«. Erstaunt beobach­ ten sie, daß die Häuser keine Türen haben. Aber die Erklärung dafür ist einfach: die Marsianer fliegen durch die Fenster aus und ein. Allerdings müssen die Erdbewohner auch erfahren, daß alle technischen Errungenschaften, denen man auf dem Mars auf Schritt und Tritt begegnet, es nicht fertiggebracht haben, den Krieg zu beseitigen. Vielleicht haben Graffigny und Le Faure auch aus diesem Grund ihre Marsepisode La planète guerrière (Der kriegerische Planet) genannt. Ein Zugeständnis an die Marstradition und an die Astrologie? Wohl nicht ganz, denn es wird versucht, auf rationalistische Weise die Paradoxie des Krieges in einer Gesellschaft zu erklä­ ren, die eine hohe intellektuelle und technische Entwicklungs­ stufe erreicht hat. Der Führer der Reisenden, der Marsianer Aotaha, erklärt die Mechanismen des Krieges folgenderma­ ßen: der Krieg ist nicht ein Überbleibsel aus barbarischen Zei­ ten, sondern das fatale, unvermeidliche Produkt einer über­ züchteten Zivilisation. Einige Jahrhunderte früher hatte man versucht, den Krieg endgültig zu beseitigen, indem man ein in­ ternationales Tribunal schuf, das damit beauftragt wurde, alle entstehenden Zwistigkeiten auf friedlichem Weg zu regeln. So lebte man lange Zeit in einer Ära des Friedens und des Wohl­ standes, aber die Folgen hatte man nicht vorausgesehen. Unglücklicherweise wurde, dank dieses vollzogenen Fort­ schritts, die Medizin so mächtig, daß alle Krankheiten und alle Seuchen, die früher auf dem Planeten schreckliche, aber not­ wendige Verheerungen anrichteten, beseitigt wurden: daraus 89

Geflügelte Marsianer beim Bau der Kanäle. Riesenballons befördern die ausgehobenen Erdmassen auf Phobos.

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ergab sich ein unglaublicher Bevölkerungsüberschuß. Die Kontinente waren zu klein und konnten die Bewohner des Pla­ neten nicht mehrernähren. Man errichtete Unterwasserstädte, »Luftstädte«, man erfand künstliche Nahrungsmittel (...) Aber bald erwiesen sich all diese Notlösungen als unzureichend, und das Unglück, das früher die Kriege mit sich gebracht hatten, er­ schien unbedeutend neben den entsetzlichen Folgen der Hungersnöte. Wiederum schickten also die Nationen ihre Vertreter in die »Stadt des Lichts« und beschlossen einstimmig die Wiederein­ führung des Krieges. (...) Viermal in einem Jahrhundert wurden zwei Nationen von ei­ nem internationalen Gremium im voraus dazu bestimmt, ge­ geneinander zum Kampf anzutreten. Auf diese Weise gelang es, die Marsbevölkerung zahlenmäßig in den Grenzen zu hal­ ten, die mit der Fläche des Planeten in Einklang standen.« So­ bald in einem dieser geplanten Kriege die Zahl der notwendi­ gen Opfer erreicht ist, lebt man wieder einträchtig nebenein­ ander und pflegt Wissenschaft und Künste, bis der Kongreß sich gezwungen sieht, einen neuen Krieg zu beschließen. Ein solcher Krieg bricht dann auch während des Aufenthaltes unserer Helden auf dem Mars aus. Ein »zivilisierter« Krieg, ohne Haß, der mit den perfektioniertesten und wirksamsten techni­ schen Mitteln geführt wird, beispielsweise mit Wasserstoffka­ nonen und elektrizitätsgeladenen Wolken, die ihrerseits einen meteorologischen Kataklysmus mit Orkanen und verheeren­ den Stumfluten hervorrufen. Aber die Marsianer sind an diese Katastrophen gewöhnt, und ihre Häuser haben einen wasser­ dichten, beweglichen Unterbau, der es ihnen erlaubt, bei Überschwemmungen einfach davonzuschwimmen. Die Marsepisode des zweiten Bandes endet mit einem sol­ chen Kataklysmus. Sie wird im dritten Teil der Abenteuer eines russischen Gelehrten - Les planètes géantes et les comètes (Die Großen Planeten und die Kometen, Paris 1891) - fortgesetzt. Die Reisenden befinden sich auf der Schneeinsel, als diese überschwemmt und ein Stück von ihr vom Ozean mitgerissen wird (wieder eine Vernesche Lösung!). Die Tatsache, daß die Felsen einfach davonschwimmen, wird durch die geringere 91

Schwerkraft und die geringere Dichte aller Körper auf dem Mars erklärt. Dem Leser wird ein kleiner Vortrag über die Mars­ geographie gehalten (auch eine Karte wird abgebildet) und dann erfährt er, daß die schwimmende Insel an Land getrieben wird. Die Reisenden dürfen eine der schwebenden Marsstädte, eine »Luftstadt« besichtigen. Bei ihrem Bau werden riesige Me­ tallbehälter mit einem Gas, das leichter als Luft ist, gefüllt. Doch die Reisenden haben nun genug der Wunder gesehen und äußern den Wunsch, zur Erde zurückzukehren. Mit Hilfe der Marsianer wird ein Fahrzeug gebaut, das die Rückreise er­ möglichen soll. Daß diese dann doch nicht so prompt erfolgt, zeigt die Fortsetzung des Romans. Die Marsepisode in den Abenteuern eines russischen Ge­ lehrten ist eine der interessantesten und phantasiereichsten Episoden innerhalb der Marsliteratur des 19. Jahrhunderts. Wir erfahren zahlreiche Einzelheiten über die technischen Errun­ genschaften der Marsianer, leider nur wenige über die Rolle der Familie, der Frau oder über die soziale Organisation der Marsstaaten. Die wichtigste Frage aber, die das Marsabenteuer stellt, ist folgende: Ist der Krieg ein notwendiges Übel der Marsgesell­ schaft? Und das bedeutet natürlich: Ist er ein notwendiges Übel der menschlichen Gesellschaft? Die Frage wird durch den Roman affirmativ beantwortet. Den Marsianern ist es nur gelungen, das unausweichliche Phä­ nomen zu kontrollieren und in akzeptierbaren Grenzen zu hal­ ten, namentlich durch die Gründung einer Weltorganisation (einer Art »Vereinten Nationen«), die aber paradoxerweise nicht damit beauftragt ist, über den Frieden zu wachen, sondern über den Krieg - allerdings übereinen organisierten, »vernünftigen« Krieg, der von vornherein die Zahl der Opfer festlegt, die offen­ bar hoch ist, obgleich die Autoren auf genauere Angaben ver­ zichten. Fast hundert Jahre später hat unsere Welt in wissenschaftli­ cher und technischer Hinsicht die hier vorgeführte Gesellschaft überholt. Aber die Frage, ob der Krieg ein notwendiges Übel der menschlichen Gesellschaft sei, ist immer noch aktuell. Die Lösung, die die »Weisen« des roten Planeten gefunden haben, 92

Eine der fliegenden Marsstädte

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könnte also nachdenklich stimmen. Andrerseits bieten sich heute dem demographischen Problem, das die Zeitgenossen von Le Faure und Graffigny beunruhigte, andere Lösungen an, wie z. B. die der Geburtenkontrolle - eine Idee, die den Marsianern des 19. Jahrhunderts noch fremd war.

Blaue und rote Marsianer: Hugh McColl, Mr. Stranger's Sealed Packet, 1889

Zur wissenschaftlichen Unterhaltungsliteratur, die didaktische Abhandlungen und Einschübe mit einer interessanten Hand­ lung kombiniert, gehört auch der Roman Mr. Stranger's Sealed Packet des englischen Mathematikersund Schriftstellers Hugh McColl (1837-1909), der 1889 in London veröffentlicht wurde. Eine deutsche Bearbeitung von Friedrich Meister, bei der die Namen der Helden und die Schauplätze der Handlung deut­ schen Verhältnissen angepaßt worden sind, erschien 1897/1898 in dem unterhaltenden naturwissenschaftlich-technischen Jahrbuch Das Neue Universum unter dem Titel: Die Weltfahr­ ten und Abenteuer der »Sternschnuppe«. Wir stützen uns im folgenden auf diese deutsche Fassung, die 1980 in einem Hey­ ne-Sammelband (Als der Welt Kohle und Eisen ausging) von Susanne Päch neu herausgegeben wurde. * Lucius, der Erzähler dieser Marsreise, berichtet in der ersten Person von seinen Erlebnissen. Sein Vater, ein Maschinenbauer und Elektrotechniker hatte ihm eine Erfindung hinterlassen, die es ermöglichte, bei einem sehr harten, unbekannten Metall die Anziehungskraft in eine Abstoßungskraft zu verwandeln und auf diese Weise einen Körper von der Erde wegzuschleudern. Lucius setzt diese nur auf dem Papier entwickelte Erfindung in die Praxis um und baut sich eine sieben Meter lange zigarren­ förmige Flugmaschine, der er den Namen »Sternschnuppe« gibt. Nachdem er sie für eine sechsmonatige Reise mit kompri* Hans Dominik u.a., Als der Welt Kohle und Eisen ausging (HEYNEBUCH Nr. 06/3754). - Der grammatikalisch unkorrekte Titel folgt dem des Originals.

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miertem Sauerstoff, Nahrungsmitteln und Munition ausgestat­ tet hat, geht die Fahrt los. Wohin? »Diese Frage war längst ent­ schieden. Ich wollte den Mars besuchen, jenen Planeten, der in seinem ganzen Wesen von allen andern am meisten der Erde ähnlich ist, von dem ich daher wohl annehmen konnte, daß er mich gastfreundlich empfangen würde.« (op. cit., S. 105) Dem Leser wird nicht nur der Anblick der Erde von der Flug­ maschine aus beschrieben, sondern er erhält auch zahlreiche didaktische Erklärungen über die Oberflächenbeschaffenheit des Mars, über seine Entfernung von der Sonne, seine Umlauf­ bahn und die atmosphärischen Bedingungen. Vor der Landung überfliegt Lucius den gesamten Planeten und beobachtet Wäl­ der, hohe Gebirge, Wasserläufe und Meere. Das alles spricht für einen Planeten, der noch auf dem Höhepunkt seiner Ent­ wicklung steht. Nach der Landung erweist sich die Atmosphäre als durchaus atembar, nur an die geringere Schwerkraft muß sich der Besucher allmählich gewöhnen. Der Mars wird von zwei Rassen bewohnt, den Grensumins und den Dergdunins. Die Grensumins sind eine wohlgeformte, schöne, hochkultivierte Rasse, »veritable« Menschen, wenn man von ihrer bläulichen Hautfarbe absieht. Die Dergdunins sind ein wildes Wandervolk von dunkelroter Hautfarbe, das noch auf einer primitiven Entwicklungsstufe steht und von der Jagd lebt. Beide Rassen stammen, wie Lucius später erfahren wird, von der Erde. Vor undenklichen Zeiten sind nämlich Be­ wohner der Erde bei einer kosmischen Katastrophe, deren Ur­ sache eine erloschene Sonne war, auf den Mars hinübergeris­ sen worden. Beide Rassen sprechen verschiedene Sprachen und bekriegen sich ständig. Unser Reisender sympathisiert selbstverständlich mit den zivilisierten blauen Marsianern. Übrigens nimmt auch seine Haut bald eine bläuliche Färbung an. Ob diese Verfärbung auf die etwas monotone Nahrung, die nur aus einem bestimmten Kuchen und roter Flüssigkeit be­ steht, zurückzuführen ist, oder andere Gründe hat, erfährt der Leser nicht. Lucius wird in eine Marsfamilie aufgenommen und erlernt dort die Sprache der blauen Marsianer. Seine Gastgeber erzählen ihm allerlei Wissenswertes über die Marsianer und über ihre Sitten und Gebräuche. Lucius interessiert z. B. das 95

Problem der Kanäle, und man erklärt ihm, daß die Kanäle zwar existieren, daß es sich aber um riesige flache Spalten handelt, die bei der Abkühlung des Planeten entstanden sind, und deren regelmäßige Form sich durch den eigentümlichen Cha­ rakter des schieferartigen Gesteins erklärt. Der Kampf ums Dasein existiert auf dem Mars nicht mehr, weil die Nahrung synthetisch aus den chemischen Bestandtei­ len der Atmosphäre hergestellt wird. Auf dem Mars herrscht eine sozialistische Regierungsform, was Lucius einigermaßen in Erstaunen setzt: »Die Regierungs­ form war die sozialistische, und ich fand zu meiner Verwunde­ rung, daß man sich unter derselben sehr wohl fühlte. Freilich war jener Sozialismus sehr verschieden von dem, der auf unse­ rer Erde angestrebt wird; hier wird derselbe erst möglich sein, wenn es unserer Wissenschaft gelungen sein wird, Lebensun­ terhalt und Behaglichkeit allen Erdenbewohnern ohne Unter­ schied gleichmäßig zugängig zu machen.« (S. 130) Zwischen Lucius und der Tochter seines Gastgebers entspinnt sich eine Liebesgeschichte, die zunächst glücklich aus­ zugehen scheint. Das junge Paar erhält die Erlaubnis, seine Hochzeitsreise in Richtung Erde zu unternehmen, allerdings ist ihnen das Versprechen abgenommen worden, den Fuß nicht auf die Erde zu setzen. Doch werden sie durch widrige Umstän­ de eines Nachts zur Landung gezwungen. Dieser kurze Aufent­ halt genügt, um die Katastrophe herbeizuführen. Die junge Frau beginnt zu fiebern und stirbt. Wahrscheinlich sind ihr die irdischen Mikroben verhängnisvoll geworden. Denn die Marsianer kennen keine Krankheit außer der des Alters. Lucius bringt die sterbliche Hülle seiner Gattin auf den Mars zurück. Bevor er wieder in seine Heimat zurückkehrt, verraten ihm die Marsianer das Geheimnis der synthetischen Nahrungsherstel­ lung; sie nehmen ihm dafür das Versprechen ab, keinem Er­ denbürger das Geheimnis der Konstruktion seines Flugappa­ rates zu verraten, denn sie fürchten eine Invasion ihres Plane­ ten. Als aber Lucius wieder auf die Erde gelangt, verschwindet durch einen absurden Zufall sein Fahrzeug und mit ihm die Aufzeichnungen. Er selbst wird schwer krank und verliert sein Vermögen. Nach seiner Genesung versucht er verzweifelt, 96

noch einmal genug Geld zu sparen, um eine zweite »Stern­ schnuppe« zu bauen. McColls Roman ist in mancher Hinsicht interessant. In den di­ daktischen Einschüben stützt sich der Autor zwar auf die wis­ senschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit, bewahrt sich aber auch eine gewisse Originalität, so z. B., wenn er von der natürlichen Herkunft der Kanäle spricht, während fast alle Schriftsteller, noch Jahrzehnte nach ihm, die Kanäle als gigantische Leistun­ gen der Marsianer loben. Originell ist auch seine - wissen­ schaftlich freilich nicht haltbare - Idee von der irdischen Her­ kunft der Marsianer, die allerdings für den Roman selbst nur eine marginale Bedeutung hat, da die Marsianer für den Rei­ senden zunächst fremde Wesen sind. Zum ersten Mal steht in einem Marsroman das rassische Pro­ blem im Mittelpunkt der Handlung. Die roten Marsianer sind in mancher Hinsicht den Indianern gleichzusetzen. Sie werden als primitive Wilde geschildert, die es auszurotten gilt. Und der »zivilisierte« irdische Besucher ist gern bereit, seinen »zivilisier­ ten« Brüdern auf dem Mars bei dieser Ausrottung behilflich zu sein. Allerdings bleiben dann auch die höherentwickelten Ras­ sen nicht von Kolonisationsangst verschont. In McColls Roman sind es die blauen Marsianer, die eine Invasion von der Erde fürchten und sich dagegen zu schützen versuchen.

Ein vorsichtiger Russe: Konstantin E. Ciolkovskij

Der russische Wissenschaftler und Schriftsteller Konstantin E. Ciolkovskij (1857-1935) beschäftigte sich schon in jungen Jahren mit dem Problem der Raumfahrt, aber viele seiner Schriften wurden erst Jahrzehnte nach ihrem Entstehen herausgegeben. Das gilt beispielsweise für seine Arbeit Die Erforschung des Weltraums durch Rückstoßapparate, die 1886 geschrieben, aber erst 1903 veröffentlicht wurde, und in der zum ersten Mal das Schema einer Flüssigkeitsrakete entwickelt wird. Ciolkov­ skij hat versucht, durch seine literarischen Veröffentlichungen eine breitere Leserschicht für das Problem der Weltraumfahrt, 97

das ihm am Herzen lag, zu begeistern. In einer Sammlung, Crezy o zem/e i nebe i effekty vsemirnogo tjagotenija (1895; Träume über Himmel und Erde und die Wirkungen der univer­ salen Schwerkraft) erzählt er auch von einem Weltraumreisen­ den, der den Mars erforscht. Dieser stellt fest, daß der Mars ein erkaltender Planet ist, auf dem es nur noch einige bereits verei­ ste Meere gibt. In den Gebieten um den Äquator schmilzt der Schnee im Sommer, und es bilden sich kleine Flüsse, die aber nachts wieder zufrieren. Die Gletscher und Eismeere werden von den Bewohnern des Planeten als Verkehrswege benutzt. Die Marsianer haben sich dieser kalten Welt angepaßt, d. h. sie sind »unterkühlt«, während die Bewohner des Merkur und der Venus, wie der Weltraumreisende feststellen konnte, heißblü­ tiger sind als wir. Anfangs nähern sich die Marsianer dem irdi­ schen Gast nur vorsichtig aus Angst, sich an ihm zu verbrennen. Das ändert sich aber bald: »Während man mich auf dem Mer­ kur und der Venus als eine Art Kühlschrank verwendete, so diente ich hier als wärmender Ofen. Man war äußerst zuvor­ kommend mit mir, denn ich brachte ein wenig Wärme in jedes Haus.« Während des Marssommers, in dem es immer noch käl­ ter ist als bei uns im kältesten Winter, »schwitzen und stöhnen die Marsianer wegen der unglaublichen >Hitze««. Ciolkovskij hat auch einen astronomischen Roman verfaßt, Vne Zemli, der bereits 18% begonnen, aber erst 1920 vollständig in Buchform veröffentlicht wurde (deutsch: Außerhalb der Erde, 1977 *). Dieser Roman spielt im Jahr 2017, zu einer Zeit, als auf unserer Erde fast das Paradies herrscht. Es gibt nur eine Re­ gierung, Kriege finden nicht mehr statt, weil alle Konflikte auf friedlichem Wege gelöst werden. Ein einziges Problem bereitet Sorgen: die Überbevölkerung dieser idealen Welt. Man denkt also an die Eroberung des Weltraums, aber weniger an die Be­ siedlung der Planeten selbst, sondern eher an die Schaffung künstlicher Raumstationen und »Ätherkolonien«. Eine Gruppe von Wissenschaftlern von internationaler Zusammensetzung, * Außerhalb der Erde, aus dem Russischen übersetzt und mit kommen­ tierenden Anmerkungen versehen herausgegeben von Winfried Petri (HEYNE-BUCH Nr. 06/3554). 98

ein Russe, ein Deutscher, ein Engländer, ein Franzose, ein Ita­ liener und ein Amerikaner, leistet dabei Pionierarbeit. Diese Wissenschaftler, die alle »sagenhaft reich« sind, haben sich in die Höhen des Himalaya zurückgezogen, um dort nur der Wis­ senschaft zu leben. Bei ihren Forschungsarbeiten ist es ihnen gelungen, ein Raumschiff mit Raketenantrieb zu konstruieren. Mit ihm gehen sie auf Erkundungsfahrt. Zunächst besichtigen sie den Mond, dann wird die Reise fortgesetzt. Man nähert sich dem Mars, ohne auf ihm zu landen, aber es gelingt,die Kanäle zu beobachten: »Er [der Mars] erschien als siebenmal kleiner als unser Mond von der Erde aus. Im Fernrohr waren seine «Kanäle« und «Mee­ re« großartig zu sehen, von denen man nicht weiß, womit sie angefüllt sind, und auch Berge, Täler sowie das «Eis« und «Schnee«-Gebiete an den Polen, deren Zusammensetzung un­ bekannt ist. »Näher wollen wir nicht an den Mars heranfliegen«, bemerk­ te Newton. »Eine Landung auf dem Planeten ist äußerst gefähr­ lich. Wir sind alle erschöpft und, was die Hauptsache ist, wir müssen möglichst bald die Erde von unseren wichtigen Ent­ deckungen unterrichten.« Einige protestierten; aber die anderen freuten sich, die Hei­ mat bald wiederzusehen. »Der Mars läuft uns nicht davon. Mit einer zweiten Expedi­ tion werden wir schon bis zu ihm hinkommen«, bemerkte Ivanov. (op. cit., S. 172) Vergleicht man Ciolkovskij mit Flammarion oder anderen zeitgenössischen Schriftstellern, so fällt auf, wie vorsichtig die­ ser Russe bei der Beschreibung der Marstopographie ist. Er ver­ meidet es, eindeutig vom Wasser der Kanäle oder dem Schnee an den Polkappen zu sprechen, sondern setzt diese Wörter in Anführungszeichen. Wir können es natürlich nachträglich nur bedauern, daß Ciolkovskij in seinem Roman die Marsexpedition vertagt und uns auf diese Weise sicher interessante Einzelheiten des Mars­ lebens vorenthalten hat.

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Eine Marsfrau ergreift die Initiative: Georges Du Maurier, The Martian, 1897

Bis jetzt haben die kosmischen Reisen nur in Richtung ErdeMars stattgefunden, wenn man von Henri de Parvilles Marsianer absieht, der lange nach seinem Tod und ganz unfreiwillig auf unserem Planeten gelandet ist. Das ändert sich Ende des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt 1897, dem Jahr, in dem die Mar­ sianer massiv die Initiative ergreifen, vor allen Dingen in zwei bedeutenden Werken, in H. G. Wells’ The War of the Worlds und in Kurd Laßwitz’ Auf zwei Planeten. Bevor wir auf diese bei­ den in mancher Hinsicht monumentalen Romane eingehen, soll eine ebenfalls 1897 erschienene englische Erzählung er­ wähnt werden, in der die Fahrt ebenfalls in Richtung Mars-Erde stattfindet, wobei man diese Reise allerdings nicht als Invasion bezeichnen kann. Es handelt sich um The Martian von George Du Maurier (1834-1896), einem englischen Schriftsteller und Zeichner französischer Herkunft. Diese kurz nach Du Mauriers Tod veröffentlichte Erzählung steht in der Tradition der Gothic Novel, was gleichzeitig zeigt, daß die Marsianer inzwischen nicht nur im Grenzgebiet des wissenschaftlichen Romans, sondern allgemein in der Literatur ihren Platz gefunden haben. In einem zunächst realistisch anmutenden Rahmen wird die Geschichte des Schriftstellers Barty Josselin erzählt, der behaup­ tet - und wir können ihm Glauben schenken oder nicht, diese Unschlüssigkeit verleiht der Geschichte ihren phantastischen Charakter -, daß ihm seine Werke, die großen Erfolg haben, in nächtlicher Stunde von einer Marsianerin inspiriert und diktiert wurden, die sich in eine seiner Töchter reinkarniert hat. Es wird also wieder die gute alte Flammarionsche Methode der Seelen­ wanderung verwendet, um die Weiten des Weltenraums zu überwinden. Die Heldin des Romans heißt Martia, und durch sie erfahren wir einiges über das Leben auf dem Mars. So herrscht dort z. B. eisige Kälte, und alles Leben hat sich in die äquatorialen Zonen und ins Meer geflüchtet. Und wie sehen die Marsianer aus? »Die Marsianer sind von den Menschen sehr verschieden. Sie 100

sind amphibienhafte Geschöpfe und stammen nicht vom Affen ab, sondern von Wesen, die mit einem Seehund bzw. mit ei­ nem Seelöwen Ähnlichkeit haben.« Neben unseren fünf Sin­ nesorganen besitzen diese Wesen noch einen sechsten Sinn, mit dem sie magnetische Ströme auffangen können, die auf dem Mars stärker als auf der Erde sind. Ihre Beziehungen un­ tereinander sind ungewöhnlich intensiv und komplex. In völli­ ger Dunkelheit und mit geschlossenen Augen wird zwar ihr Farbempfinden unterbrochen, im übrigen sind sie aber noch genauer über alles, was um sie herum vorgeht, informiert. Sie sind sich nicht nur der körperlichen Gegenstände bewußt, son­ dern kennen auch genau die Gedanken der anderen Lebe­ wesen. Deshalb besteht ihre Sprache auch nicht aus Wörtern, die überflüssig sind wegen dieser telepathischen Verbindung. Die Marsianer sind überzeugt davon, daß alles, was man sehen und berühren kann, auch durch Laute auszudrücken ist, und die Übertragung ihrer Eindrücke durch im Wind schwingende Metalldrähte oder sonore Strukturen und Flächen ist eine Hauptbeschäftigung dieser feinfühligen Geschöpfe, wobei man noch hinzufügen muß, daß die Marsatmosphäre geeig­ neter als die irdische zur Übertragung phonischer Vibrationen ist. Die Marsianer tragen keine Kleider, sondern begnügen sich mit dem schönen, glänzenden Fell, das ihnen die Natur verlie­ hen hat. Sie nähren sich von Seepflanzen und haben einige Vögel und Fische gezähmt. Im übrigen aber haben sie auf dem Mars alle Lebensformen zerstört, die nutzlos oder gar schädlich sind. Für irdische Begriffe ist also die Marsfauna und Marsflora sehr dürftig anzusehen. Die Marsianer sind große Ingenieure und Bauleute und verbringen wahre Wunder in der Bearbei­ tung von Metallen, Marmor und Edelsteinen. Die Grotten, in denen sie leben und die durch unterirdische Gänge miteinan­ der in Verbindung stehen, sind mit raffinierten und märchen­ haft-schönen Bildhauerarbeiten ausgeschmückt. Die Moral dieser intelligenten Geschöpfe ist höherentwikkelt als die unsrige; im Vergleich zu ihnen sind die Besten unter uns Ungeheuer an Egoismus, Grausamkeit und Korruption. Das psychische Leben hat sich in einer anderen Richtung hin ent101

wickelt. Wegen ihrer telepathischen Fähigkeiten gibt es für die Marsianer kein Privatleben und überhaupt kein isoliertes Leben und Denken, es sei denn, ein Marsianer würde sich in großer Entfernung von den anderen isolieren. Nie sind also, zumindest in unserem irdischen Sinne, die Gedanken der Marsianer »frei«. Und doch existiert eine wirkliche Freiheit des Denkens, die unsere Vorstellungskraft übersteigt, eine absolute Freiheit bei gleichzeitig absolutem Respekt aller Gesetze. Das Leben auf dem Mars ist schön - schöner und erstrebens­ werter aber ist der Tod. Sozusagen der Höhepunkt des Lebens! Die Toten werden verbrannt, ihre Asche in alle Winde ver­ streut, aber die Seelen leben weiter und haben nach dem physi­ schen Tod die Möglichkeit, sich auf anderen Planeten zu reinkarnieren. Und auf diese Weise ist auch Martia auf die Erde gelangt. Sie hat zunächst die Gestalt von Tieren - Insekten, Fischen und Vö­ geln - angenommen, um auf diese Weise Erfahrungen zu sam­ meln und die irdische Welt aus den verschiedensten Perspek­ tiven kennenzulernen. Dann hat sie am Werk des Schriftstellers Berty Josselin mitgearbeitet, indem sie sich, wie wir schon sag­ ten, in eine seiner Töchter reinkarnierte. Aber diese Tochter stirbt jung, und auch Josselin stirbt, und auf diese Weise endet die Novelle - die ja irgendwie zu Ende gehen mußte. Sie läßt den Leser etwas betroffen zurück. Dieser weiß nicht recht, ob die Marsianer und ihre Seelenwanderung nun wirk­ lich existieren oder ob sie nur das Produkt der lebhaften Ein­ bildungskraft des Schriftstellers Josselin sind. Auf alle Fälle aber ist es Georges Du Maurier gelungen, mit seiner Erzählung The Martian eine glaubwürdige und kohären­ te Marswelt zu schaffen. Wiederum ist es eine Welt, die der unsrigen überlegen ist, sich aber von den bis jetzt beschriebe­ nen Marswelten durch ihre phantastisch-poetischen Aspekte auszeichnet und in vielem an die später so berühmt geworde­ nen Mars-Chroniken von Ray Bradbury erinnert. Am interes­ santesten aber ist die Tatsache, daß G. Du Maurier in seiner Er­ zählung zum ersten Mal mit dem Anthropomorphismus in der Marsliteratur bricht und für seine Marsianer eine zoomorphe Form wählt. Originell ist auch seine leider nicht weiter ausge102

führte Idee, daß auf die gleiche Weise wie Martia schon viele andere Marsianer auf unseren Planeten gelangt sind, ja daß die Besten und Klügsten unter uns vielleicht in einem früheren Le­ ben Marsianer waren. Diese Idee, daß die irdische geistige Elite möglicherweise »Marsseelen« in ihrer Brust beherbergt, wird in den Marsgeschichten des 20. Jahrhunderts immer wieder auf­ gegriffen und variiert werden.

Invasion mit den allerbesten Absichten: Kurd Laßwitz, Auf zwei Planeten, 1897

Bei George Du Maurier kommen die Marsianer nur vereinzelt und als körperlose Erscheinungsformen zu uns; durch ihre ver­ stohlene Infiltration entstehen keinerlei Konflikte. Wie gefähr­ lich es sein kann, wenn sie uns auf »organisierte« Weise und »leibhaftig« besuchen - und sei es auch mit den allerbesten Ab­ sichten -das zeigt der Marsroman Auf zwei Planeten von Kurd Laßwitz (1848-1910). Kurd Laßwitz, in Breslau geboren, hatte in Berlin Mathematik und Naturwissenschaften studiert und sich schon in jungen Jah­ ren für die Astronomie begeistert. Er war bis kurz vor seinem Tod als Gymnasiallehrer in Breslau, Ratibor und Gotha tätig und hat zahlreiche wissenschaftliche Essays und eine Reihe von Sachbüchern verfaßt. Laßwitz schrieb aber auch naturwissen­ schaftlich-philosophische bzw. utopische Erzählungen und Märchen. Der Nachwelt bekannt wurde er vor allen Dingen durch seinen umfangreichen, fast tausend Seiten umfassenden Marsroman Auf zwei Planeten (1897). Dieser Roman, der nach dem Zweiten Weltkrieg nur in gekürzten oder bearbeiteten Fassungen vorlag, ist 1979 wieder als vollständiger Neudruck (nach der Erstausgabe von 1897) herausgegeben und mit einem ausführlichen Nachwort und detaillierten bibliographischen Angaben versehen worden. * 1981 hat der Moewig-Verlag auch * Verlag Zweitausendundeins, mit Anmerkungen, Nachwort, Werkge­ schichte und Bibliographie von Rudi Schweikert. Die folgenden Zitate sind dieser Ausgabe entnommen.

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einen umfangreichen Taschenbuchband herausgebracht (Traumkristalle), der fast alles enthält, was Laßwitz an utopi­ schen oder phantastischen Erzählungen veröffentlicht hat. * Es fällt auf, daß Laßwitz das Marsthema, abgesehen von sei­ nem Roman Auf zwei Planeten, sonst kaum literarisch verwen­ det hat. Sehr originelle Marsianer werden beiläufig in seiner 1878 erschienenen Erzählung Gegen das Weltgesetz vorgestellt. Es heißt dort von ihnen: »Der Bau der Marsbewohner ist be­ kanntlich siebenstrahlig, über die Organisation ihrer Sinne ist man jedoch noch nicht im klaren, und es wird sehr wahrschein­ lich, daß, wenn sie überhaupt eine Raumanschauung haben, dieselbe eine solche von sieben Dimensionen ist. Dies dürfte allerdings die Verständigung bedeutend erschweren.« (Traum­ kristalle, op. cit., S. 297) Die kleine Erzählung Die entflohene Blume (1910) spielt auf dem Mars, dessen Fauna und Flora einen höheren Entwick­ lungsstand als die irdische erreicht haben. Die Marsmenschen wissen, daß die Pflanzen beseelte und fühlende Geschöpfe sind und verstehen sogar die Pflanzensprache. In dieser, im übrigen recht anspruchslosen Erzählung wird der Einfluß Gustav Theo­ dor Fechners (1801-1887), über den Laßwitz ein Buch geschrie­ ben hat, deutlich, vor allen Dingen seiner naturphilosophi­ schen Schriften über die Allbeseeltheit der Natur und das See­ lenleben der Pflanzen. Aber die kurze Erwähnung der Marsianer in diesen beiden Erzählungen hat wenig mit dem Riesenfresko zu tun, das Laß­ witz vom Mars und seinen Bewohnern in seinem Roman Auf zwei Planeten entwirft. Zu Beginn des Romans versuchen drei deutsche Gelehrte der Astronom Grunthe, der Naturforscher Saltner und Hugo Torrn, der Leiter der Abteilung für wissenschaftliche Luftschiff­ fahrt - den Nordpol in einem Ballon zu überfliegen. Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird also der Bezug zum Tages­ geschehen deutlich, denn im gleichen Jahr, in dem Laßwitz’ * Eine Auswahl aus Kurd Laßwitz' Werk, herausgegeben von Franz Rottensteiner, ist für die BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR im Heyne Verlag in Vorbereitung. 104

Roman erschien, hatte der Schwede Salomon Andrée mit sei­ nen Begleitern versucht, den Nordpol auf dem Luftweg zu er­ reichen. Sein Ballon verunglückte, und die Leichen der Expedi­ tionsteilnehmer wurden erst Jahrzehnte später gefunden. Auch der Expedition in Laßwitz’ Roman scheint zunächst ein un­ glücklicher Ausgang beschieden zu sein. Gerade als die drei In­ sassen des Ballons auf die gelungene Überquerung des Pols mit Champagner anstoßen wollen, verlieren sie die Kontrolle über ihr Fahrzeug, ein Sog zieht sie nach oben, dann stürzen sie ab. Bald findet dieses seltsame Phänomen eine Erklärung. Schon seit Jahren besuchen die Marsianer, ohne Wissen der Men­ schen, die Erde. Sie haben über dem Nordpol eine künstliche, ringförmige Raumstation, einen »Marsbahnhof«, errichtet, der in einer Höhe von 6356 km frei in der Luft schwebt. Am Nordpol selbst wurde eine künstliche Insel geschaffen, ein schwimmen­ des Riesenfloß, auf dem sich die ihren Schwereverhältnissen angepaßten Wohn- und Arbeitsräume befinden. Auf diese In­ sel werden nun Grunthe und Saltner in einen Raum mit Erden­ schwere gebracht. Torrn ist zunächst bei dem Unfall verschol­ len. Bald bekommen unsere Gelehrten ihre ersten Marsianer zu Gesicht, aber die Überraschung ist nicht groß. Wenn man vom stärkeren Glanz ihrer Augen und der höheren Blutwärme absieht, so sind es Menschen wie wir. Laßwitz beschreibt uns ausführlich die Marsschöne La, die Saltner bei seinem Erwachen begrüßt. Zwischen La und Saltner wird sich bald eine zarte Liebesgeschichte entspinnen. Die Verständigung stößt zunächst auf einige Probleme, die aber rasch behoben werden, denn die Marsianer erweisen sich als sprachbegabt und verfügen auch über allerlei technische Hilfsmittel, wie z. B. »Magnétophone«, die das Erlernen einer Fremdsprache erleichtern. Aber auch Saltner und Grunthe ler­ nen »Manisch«, das gewisse Ähnlichkeit mit der Eskimosprache aufweist. Ähnlich wie Greg gibt uns Laßwitz eine kleine Einfüh­ rung in diese auf der Erde noch unbekannte Sprache. Mit der Zeit erfahren unsere beiden Gelehrten, daß die Mar­ sianer (d. h. die Nume, wie sie sich nennen) auch am Südpol eine kleinere Station errichtet haben, daß sie schon seit gerau­ mer Zeit »Luft und Sonne, die niemand gehören« auf den Mars 105

exportieren, daß sie aber den Baten (den Menschen) nichts Böses wollen und auf Ba (d. h. die Erde) als »Lehrer« und »Kultur­ bringer« gekommen sind: »Was uns aber nun veranlaßt, die Menschen selbst aufzusu­ chen, das sind Beweggründe rein idealen Charakters. Es ist nicht möglich, sie Ihnen, als Menschen, hier in Kürze zum Verständ­ nis zu bringen. Wir sind Nume. Wir sind die Träger der Kultur des Sonnensystems. Es ist uns eine heilige Pflicht, das Resultat unserer hunderttausendjährigen Kulturarbeit, den Segen der Numenheit, auch den Menschen zugänglich zu machen.« (op. cit., S. 274) Ihre ethischen Prinzipien weisen die Numen, die zwischen Pflicht und Neigung unterscheiden, als überzeugte Kantianer aus. Auf ihrem Planeten ist die freie Selbstbestimmung der Per­ sönlichkeit die oberste Richtschnur. Das leuchtet den Erden­ bürgern nicht immer ein. So kommt es beispielsweise zwischen Saltner und La zum Konflikt, als Saltner eifersüchtige Regungen zeigt und La ihm erklärt, daß Liebe nie unfrei machen dürfe, daß sie niemanden etwas angehe als den, der liebt. Um ethische Grundfragen geht es auch, als die Marsianer Grunthe und Salt­ ner auf den Mars mitnehmen wollen, diese sich aber dagegen sträuben. Sie werden dann zwar »gezwungen«, die Reise zu un­ ternehmen. Doch handelt es sich für die Nume dabei keines­ falls um Gewalt, die sie ja prinzipiell ablehnen. Nur haben Grunthe und Saltner ihrer Meinung nach einfach keine be­ rechtigten ethischen Motive zur Ablehnung und müssen sich in diesem Fall dem stärkeren Willen beugen. Grunthe und Saltner besuchen also den Mars. Sie erfahren, daß auf diesem Planeten verschiedene Regierungsformen friedlich nebeneinander bestehen und sich zu einem Staaten­ bund mit einer Zentralregierung zusammengeschlossen ha­ ben. Die Bürger entscheiden über die ihnen gemäße Regie­ rungsform. Politisches Interesse des Einzelnen ist auf dem Mars Pflicht, und jeder Marsbürger wird dazu angehalten, täglich mindestens zwei Zeitungen - davon ein Oppositionsblatt (!) zu lesen. Die irdischen Gelehrten entdecken auf dem Mars eine hoch­ entwickelte Technologie, die wegen der sich ständig ver106

schlechternden Lebensbedingungen absolut notwendig ist. Zu den technischen Wunderwerken gehört auch das weitver­ zweigte Kanalnetz, das die Wüstengebiete durchzieht und sie fruchtbar macht. Auf einer viermal so kleinen Fläche wie der Erde müssen doppelt so viel Menschen leben. Gerade dieser Punkt stimmt die irdischen Besucher nachdenklich. Sind die Marsianer wirklich an der Erde so desinteressiert, wie sie be­ haupten? Aber wie dem auch sei, die menschenfreundlichen und ide­ ellen Absichten der Numen werden bald durchkreuzt. Durch die Schuld der englischen Marine kommt es zu militärischen Zwischenfällen, und die Marsianer sehen sich gezwungen, ihre auf der Erde noch unbekannten Waffen sprechen zu lassen, d. h. Telelytrevolver, die die Nervenkraft der Angreifer lähmen, und Repulsitgeschütze. Aber diese militärischen Zwischenfälle entzweien auch die Marsianer miteinander. Auf dem Mars ent­ steht eine Philobaten- und eine Antibatenpartei und, wie lll, ein Nume, es ausdrückt: »Es scheint, daß die Berührung mitdiesem wilden Geschlecht uns in die Barbarei zurückwirft.« (S. 385) Verhandlungen mit der Erde scheitern an der unerbittlichen Haltung der Engländer, auf die Laßwitz in seinem Roman über­ haupt sehr schlecht zu sprechen ist. Auf dem Mars gewinnt die Antibatenpartei die Übermacht, ihre Anhänger erklären, »die Menschen hätten durch ihr Verhalten bewiesen, daß sie dem Begriff der Numenheit noch nicht zugänglich seien. Sie seien nicht als freie Persönlichkeiten zu behandeln und nicht würdig des Weltfriedens. Man sollte sie im Gegenteil ruhig unterein­ ander wüten lassen, aber die ganze Erde und ihre Bewohner als Eigentum der Marsstaaten erklären. Die einzelnen Gebiete seien unter die einzelnen Marsstaaten aufzuteilen, um die Ein­ künfte derselben zu vermehren. Die Menschen seien aus­ drücklich als unfrei und Nicht-Nume zu bezeichnen und die Erde durch vom Zentralrat eingesetzte Gouverneure zu beauf­ sichtigen.« (S. 465 f.) Es kommt zum Krieg zwischen den beiden Planeten, und die Marsethik wird wider Erwarten gut mit diesem Problem fertig, indem sie den Krieg durch die sittliche Minderwertigkeit der Menschen rechtfertigt. Übrigens hat dieser Krieg wegen der 107

technischen Überlegenheit der Marsianer verheerende Folgen für die Erde. Die englische Flotte wird vernichtet, die englischen Kolonien werden befreit und von den Marsianern als souverä­ ne, neutrale Staaten anerkannt. Das geschwächte England stört aber das europäische Kräfteverhältnis, und es kommt überall zu Aufständen. Die Marsianer entmachten die irdischen Regie­ rungen und errichten ein Protektorat über die europäischen Länder. Nur Rußland wird zunächst verschont (»Die Gründe dafür wußte man nicht«, S. 657), schließlich wird aber auch der russische Zar ein Vasall der Marsianer. Die Menschen werden zum Besuch von Umerziehungskursen gezwungen, die Kaser­ nen in Fortbildungsschulen umgewandelt, in jeder Hauptstadt waltet ein »Resident« der Marsstaaten und ein »Kultor«. Aber auch im täglichen Leben erweist sich der Umgang mit den Marsianern als kompliziert. Diese werden immer nervöser und aggressiver, weil sie weder die irdische Schwerkraft noch das irdische Klima (vor allen Dingen den Regen) vertragen. Zur großen Empörung der Menschen schaffen sie die Pferde, ge­ gen die sie eine starke Abneigung haben, ab und ersetzen in den Städten die Pferdebahnen durch elektrische Wagen. Aber die Tiere sind ihnen überhaupt ein Greuel und der Umgang der Menschen mit ihnen ein Zeichen der Barbarei. So richtet ihr Widerwille sich u.a. gegen die Hunde, die ihnen allerdings ebenfalls keine Sympathie entgegenbringen und sie überall mit wütendem Gebell verfolgen. Bald stellt sich heraus, daß die Marsianer die Menschen doch falsch eingeschätzt haben. Diese verhalten sich nämlich ange­ sichts der Unterdrückung zunehmend solidarisch - vielleicht etwas zu rasch, so daß der Leser diese Solidarität etwas skeptisch betrachtet. Sie gründen einen »Menschenbund«, dem sogar die Engländer, nachdem sie ihre Flotte und ihre Kolonien verloren haben, beitreten. Dieser Menschenbund ist zwar bereit, die Ethik der Marsianer anzuerkennen, aber er beharrt auf der Un­ abhängigkeit der Menschen und verlangt für die Erde eine »Numenheit ohne Nume«. Zunächst geht aber der Krieg weiter. Die Amerikaner haben die militärische Führung übernommen. Ihre Ingenieure haben der Marstechnik allerlei abgeschaut und nutzen nun die neugewonnenen Kenntnisse, um das Kriegs108

material zu perfektionieren. Es gelingt schließlich durch eine militärische List, die Marsianer bis zum Nordpol zurückzudrän­ gen. Ein Waffenstillstand wird geschlossen, dem schließlich ein Friedensvertrag folgt. Die Marsianer heben das Protektorat über der Erde auf und erkennen das Recht der Menschen auf Freiheit der Person an. So ist also in diesem Roman der Kontakt zwischen zwei Zivi­ lisationen, die verschiedene Entwicklungsstufen erreicht ha­ ben, noch einmal glimpflich abgelaufen. Zwar stirbt am Ende des Romans Eli, der Halbmarsianer und Halbdeutsche, der zwi­ schen den beiden Planeten die Vermittlerrolle gespielt hat, aber die Liebe zwischen La und Saltner triumphiert. Die Marsia­ ner finden wieder zu ihren ursprünglichen ethischen Prinzi­ pien zurück, und der Kontakt mit den Numen hat die Völker Europas in dem gemeinsamen Bewußtsein vereint, »daß sie als Kinder der Erde zusammengehören und ihre häuslichen Strei­ tigkeiten zu begraben haben, um die Kräfte des Planeten zu­ sammenzufassen«. Kurd Laßwitz war um die Jahrhundertwende ein vielgelese­ ner Autor, und sein Roman Auf zwei Planeten, der bald nach seinem Erscheinen in mehrere europäische Sprachen übersetzt wurde, kann fast als ein Bestseller bezeichnet werden. Aber das Werk hat nicht wirklich ins 20. Jahrhundert hineingewirkt, viel­ leicht ist es zu lehrhaft-didaktisch geschrieben und zu wenig auf Spannung und Abenteuer angelegt, so daß es seinem Autor nicht, wie H.G. Wells, gelang, noch Jahrzehnte später breite Leserschichten anzusprechen.

Die Monster sind unter uns: Herbert George Wells, The War of the Worlds, 1897/98

Herbert George Wells’ (1866-1946) Roman The War of the Worlds (deutsch: Der Krieg der Welten, Wien 1901 und zahl­ reiche weitere Ausgaben), der 1897 als Zeitschriftenabdruck und 1898 in Buchform erschien, ist der einzige Marsroman des 19. Jahrhunderts, der internationalen Ruhm erreicht und seine 109

Zeit überlebt hat, und dem es gelungen ist, in das Bewußtsein der Menschen einzudringen. Ähnlich wie Laßwitz hat Wells, abgesehen von diesem Mars­ roman, dem roten Planeten in seinen zahlreichen Erzählungen und Romanen nur wenig Beachtung geschenkt. Gleichzeitig mit dem Krieg der Welten veröffentlichte er 1897, ebenfalls in einer Zeitschrift, die Erzählung The Crystal Egg (deutsch: Das Kristall-Ei), die 1899 in die Sammlung Tales of Space and Time aufgenommen wurde. Ähnlich wie der Roman beginnt die kleine Erzählung in einem vertrauenerweckenden Roman, hier dem Antiquitätengeschäft von Mr. Cave, unter dessen Raritä­ ten sich auch ein Kristallei befindet. In diesem Ei beobachtet Mr. Cave heimlich Bilder, die mit der Zeit immer deutlicher werden: von rötlichen Felsen eingeschlossene Ebenen, seltsam geformte Bäume und Pflanzen am Ufer von Kanälen, fliegende Lebewesen, langgestreckte Fassaden großer Bauwerke. Sein Freund Mr. Wace, mit dem er sein Geheimnis teilt, erblickt hin­ gegen nur Lichtflecken und einen verschwommenen Nebel. Mr. Caves Aufmerksamkeit richtet sich vor allen Dingen auf die vogelähnlichen Geschöpfe, die in dieser Welt zahlreich sind. Erst hält er sie für Fledermäuse, dann für Engel: »Ihre Köpfe waren rund und sonderbar menschlich, hatten breite, silbrige Flügel ohne Federn und nicht wie Vogel- oder Fledermausflü­ gel geformt. Der Körper war klein, doch mit zwei Bündeln zum Greifen geeigneter Organe ausgestattet, ähnlich langen Füh­ lern, die unmittelbar unter dem Mund saßen.« * Ihnen scheinen die großen Gebäude und die wunderbaren Parkanlagen zu ge­ hören, und sie fliegen in die kreisförmigen Fenster dieser Ge­ bäude, die keine Türen besitzen, aus und ein. Mr. Cave beob­ achtet auch aufrechtgehende Zweifüßler, die entfernt an weiße Affen erinnern. Auf den Gebäuden selbst befinden sich Ma­ sten, an deren Enden sich kleine glänzende Objekte, seinem Kristallei gleich, befinden. Mr. Wace notiert all diese Beobach­ tungen, die ihm der Antiquar beschreibt, und er kommt zu dem Schluß, daß es sich in der Kristallkugel nur um eine Land* Zitiert nach Das Kristall-Ei, in der H.G. Wells Edition des Paul Zsolnay Verlags, Wien-Hamburg 1979, S. 96 f. 110

Foto von H. G. Wells aus dem Jahr 1895

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schäft des Planeten Mars handeln kann. Die Konstellation der Sterne ist die gleiche wie auf der Erde, die Sonne erscheint et­ was kleiner, vor allen Dingen aber gibt es zwei Monde! Damit sind die letzten Zweifel beseitigt. Mr. Cave sieht, wenn er in sein Kristallei blickt, tatsächlich den Planeten Mars und seine Be­ wohner, und es läßt sich annehmen, daß seine Kristallkugel ir­ gendwie mit einer ebensolchen Kugel auf dem Mars in Verbin­ dung steht, was die Übertragung der Bilder erklären würde. Aber als die Angelegenheit wirklich interessant wird, findet sie ein jähes Ende. Mr. Cave stirbt unerwartet, und seine Witwe verkauft das Kristallei. Mr. Wace, der erst nach einigen Tagen vom Tod seines Freundes erfährt, gelingt es nicht, das Ei wieder­ zufinden. So bleiben also nur die Aufzeichnungen übrig, die er sorgfältig nach den Bescheibungen von Mr. Cave angefertigt hat. Die Schlußfolgerung der Erzählung ist, daß das Kristallei von den Marsianern vor langer Zeit auf die Erde geschickt wurde, um uns zu beobachten und »den Marsbewohnern ein Bild von den Verhältnissen auf unserer Erde zu ermöglichen«. (S. 101 f.) Aber sicher wurde nicht nur ein einziges Ei geschickt, man kann annehmen, daß alle Kristalleier, die Mr. Cave auf dem Mars sah, ihre irdische Entsprechung haben, und das wäre doch, auch wenn es Wells nicht direkt ausspricht, eine höchst unheimliche Angelegenheit. Wie viele solcher Marseier befinden sich auf unserem Planeten? Wie viele Augen belauern uns? Und war­ um? Wahrscheinlich doch, um eine Invasion unseres Planeten vorzu bereiten. Eine solche Invasion findet dann in Wells’ Roman The War of the Worlds statt. Und die Marsianer kommen nicht, wie bei Laßwitz, als gütige Lehrer, sondern als grausame, unerbittliche Eroberer. Die technischen Probleme dieser Reise interessieren Wells wenig. Wenn man die hohe Intelligenz der Marsianer in Be­ tracht zieht, ist ihre Reisemethode im Krieg der Welten eher erstaunlich primitiv. Sie lassen sich einfach durch eine Kanonealso nach der alten von Jules Verne empfohlenen Methode abschießen. Freilich handelt es sich um eine Riesenkanone, denn selbst von der Erde aus hat man die Explosion der Ab112

Der berühmteste aller Marsianer: das Wells’sche Monster 113

schösse beobachten können. Diese Kanone befördert, im Ab­ stand von je einer Nacht, zehn zylinderförmige Flugkörper auf eine Bahn zur Erde, mit Kurs auf England, genau in die Graf­ schaft Surrey. Im Innern dieser Geschosse befinden sich die Er­ oberer, die einen absterbenden, erkaltenden Planeten zu ver­ lassen im Begriff sind, um die Erde, auf der es noch Luft und Wasser in Überfluß gibt, in Besitz zu nehmen. In Wells’ Roman wird diese Invasion von einem Journalisten erzählt, der die schreckliche Ankunft und die Ereignisse, die England heim­ suchten, aus nächster Nähe erlebt hat. Wie sehen Wells’ Marsianer aus? Der Schriftsteller hat, ähn­ lich wie Georges Du Maurier, für seine Invasoren einezoomorphe Form gewählt, wobei er verschiedene abstoßende Elemen­ te miteinander kombiniert. Der Journalist beschreibt diese We­ sen, deren Anblick bei ihm »Abscheu und Grauen« erweckt, folgendermaßen: »Ein großer, grauer, gedrungener Körper, ungefähr von der Größe eines Bären, erhob sich langsam und schwerfällig aus dem Zylinder. (...) Wer nie einen lebenden Marsbewohner gesehen hat, wird sich die grauenvolle Häßlich­ keit seiner Erscheinung kaum vorstellen können. Der seltsame V-förmige Mund mit seiner zugespitzten Oberlippe, die feh­ lenden Augenbrauen, das fehlende Kinn unter der keilförmi­ gen Unterlippe, das unaufhörliche Zittern des Mundes, die gorgonenartige Gruppe der Fühler, das geräuschvolle Atmen der Lungen in dieser fremden Atmosphäre, die augenfällige Schwerfälligkeit und Mühseligkeit der Bewegungen (ohne Zweifel eine Folge der größeren Anziehungskraft der Erde), vor allem aber die außergewöhnliche Intensität ihrer ungeheuren Augen - das alles zusammen verursachte eine Übelkeit, als ob man seekrank würde. Es war etwas Schwammiges in ihrer öligen braunen Haut, und in der plumpen Bedächtigkeit ihrer schwer­ fälligen Bewegungen lag etwas unbeschreiblich Erschrecken­ * des.« Diese Geschöpfe besitzen keine Eingeweide, sie essen auch

* Zitiert nach H.G. Wells, Der Krieg der Welten, Diogenes Verlag 1974, S. 21. 114

In den Klauen der Marsianer

nicht, sondern führen das Blut anderer Lebewesen direkt in ihre Adern ein. Sie haben sich zunächst ihren Proviant auf die Erde mitge­ bracht, der - wie entsetzlich! - aus ungefähr sechs Fuß großen Zweifüßlern besteht, die sich von den Menschen nicht wesent­ lich unterscheiden. Und tatsächlich bedienen sich dann die Monster, als ihre Vorräte aufgebraucht sind, skrupellos der Menschen als Nahrungsmittel. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, sieht sich also plötzlich in die Rolle eines zukünfti­ gen Schlachtviehs versetzt, gerade gut genug, um mit seinem Blut die neuen Herren des Planeten zu ernähren. Eine traurige Perspektive, aber, so räsonniert Wells, vielleicht würden einem vernunftbegabten Kaninchen unsere fleischfressenden Ge­ wohnheiten ebenso entsetzlich erscheinen. Wells’ Invasoren weichen in ihrer Lebensweise auch sonst von der unsrigen ab. Sie brauchen kaum Schlaf und können also unermüdlich tätig sein. Sie sind geschlechtslos und »daher von allen den heftigen Erregungen frei, die aus diesem Unterschie­ de zwischen den Menschen entspringen«. (S. 121) Während der Invasion wird ein kleiner Marsianer geboren, d.h. er knospet sich ab, »genauso wie kleine Lilienzwiebeln abknospen oder 115

die Jungen eines Süßwasserpolypen«. (S. 121) Es besteht Unklar­ heit darüber, wie die Marsianer untereinander kommunizie­ ren, der Erzähler des Romans vertritt aber die Meinung, daß sie »ohne physische Vermittlung ihre Gedanken austauschen«, also Telepathen sind. Obgleich die Marswesen zunächst wie Geschöpfe aussehen, die allen irdischen Begriffen Hohn sprechen, vertritt Wells doch die Hypothese, daß sie sich, gemäß der Evolutionstheorie, aus Wesen entwickelt haben, die uns sehr ähnlich waren: »Es scheint mir ganz glaubwürdig, daß die Marsleute von Wesen abstammen mögen, die uns nicht unähnlich waren, und zwar durch die allmähliche Weiterentwicklung ihrer Gehirn­ teile und Hände (die letzteren nahmen endlich die Gestalt je­ ner zwei Büschel zarter Fühlfäden an) auf Kosten des übrigen Körpers.« (S. 122) Ohne den Körper ist das Gehirn allmählich zu einer abstrahierenden, egoistischen Intelligenz geworden. Ver­ folgt man diese Hypothese zu Ende, so kommt man zu dem Schluß, daß wir in einigen Jahrmillionen diesen Ungeheuern gleichen werden, es sei denn, sie hätten unterdessen ihren Ap­ petit an unserem Blut gestillt. Wells’ hochintelligente Marsianer verfügen über zahlreiche technische Hilfsmittel, mit denen sie ihren Körper »verlängern«. Bei ihrer Invasion verwenden sie furchteinflößende Kriegsma­ schinen, dreifüßige Stahlgerüste (tripods), die höher als ein mehrstöckiges Haus sind. Der Dreifuß trägt eine Art Metallkör­ per mit Greifarmen, der ein Monster beherbergt, das die Ma­ schine kontrolliert. Als »totale Waffe« verwenden die Marsianer Hitzestrahlen (heat rays), die alles, was sich auf ihrer Bahn fin­ det, vernichten, und später auch Giftgas (black smoke), einen schwarzen erstrickenden Qualm, mit dem die Menschen wie Ungeziefer ausgeräuchert werden. Die perfektionierte Kriegsmaschinerie der Eroberer macht jeglichen Widerstand sinnlos. Systematisch besetzen die Mar­ sianer einen Teil Englands und vernichten London. Ihre Todes­ stählen lassen nur verwüstete, ausgestorbene Landstriche zu­ rück. Die Menschen ergreifen die Flucht. Aber wohin fliehen? Es wird nicht lange dauern, und die ganze Erde wird den Erobe­ rern gehören. Und das Schicksal, das die Erdbewohner erwar116

Die Marsianer säen Tod und Vernichtung 117

Das Ende der Marsinvasion

tet, ist schlimmer als der Tod, nämlich Sklaverei. Man wird sie zu Herden zusammentreiben, und sie werden die Sieger ernäh­ ren. Als die Verzweiflung ihren Höhepunkt erreicht, kommt un­ erwartet die Wende. Die Marsianer sterben. Auf dem Mars gibt es nämlich keine Mikroorganismen, und da sie demzufolge ge­ gen die irdischen keine Immunität besitzen, haben diese - hier ein harmloses Grippevirus - leichtes Spiel. So ist also die Menschheit noch einmal, wenn auch ohne ihr Zutun, mit dem Schrecken (und hohen Verlusten) davonge­ kommen. Und auch sie hat, ähnlich wie bei Laßwitz, eine Lehre aus den Geschehnissen in der Zeit der Invasion gezogen. »Es mag sein, daß nach den gewaltigeren Plänen des Weltalls dieser Einfall vom Mars nicht ohne einen schließlichen Segen für die Menschheit stattgefunden hat. Er hat uns jener heiteren Vertrauensseligkeit in die Zukunft, welche die furchtbarste Quelle des Verfalls ist, beraubt.« (S. 175) Wie wir bereits feststellten, hat der Roman von H.G. Wells einen anhaltenden Erfolg gehabt, dessen Gründe komplex sind 118

und hier nicht näher analysiert werden können. Sicher sind sie wenigstens teilweise in der Art und Weise zu suchen, in der Wells das Marsthema behandelt. Der Leser ist eher geneigt, sich von einer Schauergeschichte fesseln zu lassen, die an seine ge­ heimsten Ängste rührt, als immer wieder von guten, intelligen­ ten Marsianern zu lesen, von tüchtigen Ingenieuren, die un­ ermüdlich ihre Kanäle graben. Hinzu kommt Wells’erzähleri­ sches Talent. Neben Wissenschaftlern wie H. de Parville und C. Flammarion, die ihre wissenschaftlichen Hypothesen nur in ein spärliches literarisches Gewand kleiden, neben den volks­ tümlichen Autoren der Abenteuerromane, selbst neben Laßwitz, dessen Marsroman zwar interessant und ideenreich, aber doch viel zu langatmig ist, steht Wells als einziger Vollblut­ schriftsteller da. Die Menschen sterben, die Wissenschaft än­ dert sich, die Ideen auch, nur die Kunstwerke überdauern die Jahrhunderte. Flammarion heute zu lesen, wenn man nicht mehr, wie einige Zeitgenossen, an die Existenz der Marsianer glaubt, ist mühsam. Aber Wells kann man sehr wohl und mit Genuß lesen, auch wenn man weiß, daß die Ungeheuer, wie er sie beschreibt, nicht existieren. Daß H.G. Wells mit seinen Horrorgeschöpfen die Einbil­ dungskraft auf lange Zeit frappierte, zeigt unter anderem die Tatsache, daß eine Reihe von Schriftstellern bis in unsere Zeit hinein versucht haben, Fortsetzungen zu dem Roman zu schreiben oder diesen zu parodieren, wie vor kurzem etwa Christopher Priest. * Die aufschlußreichste und außergewöhn­ lichste Variante ist aber ganz bestimmt die Rundfunkbearbei­ tung durch Orson Welles, die am 30. Oktober 1938 von einer amerikanischen Station gesendet wurde und von der später noch die Rede sein soll. Sie hat keinen Zweifel daran gelassen, daß vierzig Jahre nach dem Erscheinen von The War of the Worlds das Bild der Marsianer, wie es Wells geschaffen hatte, fest im Unterbewußtsein der Menschen verankert war. Die Marsianer von Wells waren gewissermaßen selbst zum Mythos geworden. * Christopher Priest, The Space Machine, 1976; deutsch: Sir Williams Maschine, 1977 (HEYNE-BUCH Nr. 06/3540). Siehe dazu unten S. 336 ff. 119

Noch einmal H. G. Wells und Kurd Laßwitz Die Romane Auf zwei Planeten und The War of theWorlds stel­ len beide in ihrer Art einen Höhepunkt in der Marsliteratur des 19. Jahrhunderts dar. Zu diesem Zeitpunkt waren die Marsianer, vor allen Dingen durch die Romane und Erzählungen über den roten Planeten, in denen die astronomischen Entdeckun­ gen verwendet und ausgesponnen wurden, in das Bewußtsein vieler Menschen gedrungen. Sowohl Laßwitz als auch Wells ge­ hen von der verbreiteten Annahme aus, daß der Mars bewohnt sei, und zwar von uns überlegenen Wesen. Waren es aber in den Romanen, die ihnen vorausgingen, die Menschen, die es nach dem Mars zog und die dort eine mehr oder weniger ver­ traute Welt entdeckten oder ihre utopischen Träume ansiedel­ ten, so kommen nun 1897 zwei Schriftsteller auf den Gedanken - der sich wegen der vermutlichen Überlegenheit der Marsianer geradezu aufdrängte -, daß die Reise auch in umgekehrter Richtung stattfinden könnte. Die Romane von Wells und Laßwitz sind Invasionsromane, auch wenn es sich bei Laßwitz zunächst um eine friedliche In­ vasion handelt, die erst nach allerlei Mißverständnissen zu Kon­ flikten führt, während bei Wells von vornherein die Invasion als Vernichtungsaktion geplant ist. Beide Romane sind vielschichtig und erlauben mehrere Les­ arten. So kann man Auf zwei Planeten als technischen Zu­ kunftsroman, als philosophische Utopie und mit einiger Ge­ duld sogar als Liebesroman lesen. Bei Wells dominieren philo­ sophische, soziale und politische Probleme, die antizipierbaren technischen Wunder interessieren ihn nur insofern, als er sie für die Demonstration seiner Ideen braucht. Beide Romane sind aber auch zeitkritische Werke, die sich ernsthaft mit der europäischen Kolonialpolitik auseinandersetzen - kein Wun­ der zur Zeit der Faschodakrise und der Burenkriege. Allerdings ziehen Laßwitz und Wells eine »umgekehrte« Ko­ lonisierung in Erwägung und lassen die Europäer Opfer der Methoden werden, die sie selbst bei der Aufteilung des Erdballs skrupellos angewandt hatten. Wells spielt die Idee durch, daß nun England seinerseits das Schicksal einer Kolonie erleidet. Bei 120

Laßwitz muß sogar ganz Europa daran glauben. Wie wir gese­ hen haben, kommen die Marsianer bei Laßwitz mit den besten Absichten zu uns, als »Kulturträger« und »Lehrer«, man möchte fast sagen als »Entwicklungshelfer«. Zu Recht können wir Paral­ lelen zur Erde ziehen, wo die zivilisierten Nationen die »barbari­ schen« erziehen und ihnen eine höhere Zivilisation aufdrängen oder aufzwingen wollen. Im Unterschied zu den Kolonisatoren von Wells sind aber die Marsianer von Laßwitz Wesen mit einer Zivilisation nach unseren Normen. Man kann sich also mit ih­ nen notfalls verständigen, und der Roman endet dann auch nach allen Mißverständnissen und kriegerischen Auseinander­ setzungen mit der Hoffnung auf Gedanken- und Erfahrungs­ austausch. Wells geht weiter als Laßwitz. Mit seinen Kreaturen ist jede Möglichkeit eines Kompromisses oder einer Verständigung ausgeschlossen. Auch bei ihnen ist, wie bei den Numen, die In­ telligenz höher entwickelt, die Technologie perfektionierter, aber sie sind dadurch nicht »menschlicher« geworden, sondern in ihrem gegenwärtigen Stadium nur noch kühle, berechnende Intelligenzen. Im Grunde genommen wagt man es nicht ein­ mal, sie als »böse« zu bezeichnen, denn es gibt für sie kein Gut und Böse mehr. Und so, wie es den Menschen nicht zusteht, die Nume zu verurteilen, so dürfen sie im Grunde genommen auch nicht diese Ungeheuer verurteilen, deren Heimatplanet abzusterben droht. Sie ziehen also auf Eroberung aus und wol­ len sich die Menschen unterwerfen, die für sie eine unterent­ wickelte, minderwertige Rasse darstellen. Entspricht die Gleich­ gültigkeit der hochentwickelten Marsianer gegenüber den tief unter ihnen stehenden Engländern nicht auch der Haltung der Europäer den kolonialisierten Völkern gegenüber? Man kann sich schließlich sogar fragen, ob zwischen den ethisch hochstehenden Marsianern von Laßwitz und den blut­ gierigen Ungeheuern von Wells ein größerer Unterschied be­ steht als zwischen zwei extremen Beispielen irdischer d. h. bri­ tischer Kolonisation: dem Protektorat, wie es in Ägypten er­ richtet wurde, und der radikalen Ausrottung eines Volkes, die man in Tasmanien durchführte. Grundsätzlich unterscheiden sich aber die Romane von Laß121

witz und Wells durch ihre Einstellung zum Menschen und zur zukünftigen menschlichen Entwicklung. Trotz aller zeitkriti­ schen Elemente zeugt der Roman Auf zwei Planeten vom un­ erschütterlichen Glauben seines Autors an den Menschen und seine Möglichkeiten. Zwar stellen sich der menschlichen Ver­ vollkommnung vor allen Dingen zwei Hindernisse entgegen, nämlich die menschlichen Leidenschaften und die Befriedi­ gung der natürlichen Bedürfnisse, aber der erste Faktor kann durch eine »Erziehung des Menschengeschlechts« und der zweite durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik beseitigt werden. Laßwitz entwirft also ein optimistisches Bild des homo futurus, das sich an der Schillerschen Ethik orientiert. Die sozialen Strukturen haben dabei, wie wir schon sagten, eine untergeordnete Bedeutung, im Mittelpunkt steht der einzelne und seine Vervollkommnung ist wichtig, denn sie wird sich, so meint Laßwitz, auf das Gemeinwohl positiv auswirken. Für Laß­ witz personifizieren die Nume das Ideal einer zukünftigen Menschheit. Als Grunthe und Saltner den Mars und seine Wunder besichtigen, fühlen sie sich »in der beneidenswerten Lage von Menschen, die ein mächtiger Zauberer der Gegen­ wart entrückt und in eine ferne Zukunft geführt hat, in wel­ cher die Menschheit eine höhere Kulturstufe erklommen hat.« (S. 147 f.) Wells hingegen mißtraut nicht nur den sozialen Strukturen (das zeigt die Tatsache, daß sie sich sofort nach der Invasion auf­ lösen), sondern auch der biologischen und ethischen Entwick­ lung des Menschen. Eine der wichtigsten Ideen des Romans be­ steht darin, daß sich Intelligenz und eine hochentwickelte Zi­ vilisation einerseits und Brutalität und Grausamkeit andererseits keineswegs ausschließen, daß Gewalt und Unbarmherzigkeit zur menschlichen Natur gehören und nicht zu ändern sind, daß der Mensch im Laufe der Entwicklung vielleicht intelligenter, aber damit auch »unmenschlicher« wird. Diese pessimistische Auffassung vom Menschen und seiner Evolution ist typisch für die Romane Wells’bis zur Jahrhundertwende. Innerhalb der Marsliteratur des 19. Jahrhunderts ist The War of the Worlds der erste fundamental pessimistische Roman, selbst wenn die Invasion schließlich noch ein glimpfliches Ende 122

nimmt. Gerade dieser Pessimismus ist es aber auch, der Wells Roman heute noch modern erscheinen läßt. Dieser Engländer hat früher und intensiver als viele andere Schriftsteller die Krise des Abendlandes und der abendländischen Kultur gespürt. Im Grunde genommen kündet dieser Roman bereits das Ende der »Belle Epoque« an, einer Zeit, die fest und ohne Vorbehalt an den Fortschritt der Wissenschaft und an die ethische Vervoll­ kommnung des Menschen geglaubt hat. Durch den Roman von Wells wird eine breite Leserschaft zum ersten Mal mit dem Bild der bösen, alles vernichtenden Außerirdischen bekannt gemacht. Allerdings ist dieses Bild in­ nerhalb der Literatur, die unseren kosmischen Nachbarn ge­ widmet ist, noch lange Zeit eine Ausnahme geblieben, auch wenn sich nach 1900 das Marsleben erstaunlich vervielfältigt. Mars wird um die Jahrhundertwende und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Experimentierfeld, das es er­ möglicht, allen denkbaren Phantasmen Gestalt zu verleihen.

Genozid auf dem Mars: Garret Putman Serviss, Edison's Conquest of Mars, 1898

Es wäre falsch zu sagen, daß der Zeitraum von 1898 bis 1914 sich grundlegend von der vorhergehenden Periode unterscheidet, aber einiges hat sich doch in den Beziehungen Mars-Erde ge­ ändert. Zunächst ist es nun endgültig mit der irdischen Passivität vorbei. Der irdische Held offenbart in dieser fernen Welt in immer stärkerem Maße seine Qualitäten und zwingt ihr nicht selten seine Gesetze auf. Viele Schriftsteller sind nicht mehr be­ reit, die Hypothesen der Wissenschaftler zu akzeptieren, nach denen die Marswelt höherentwickelt als die irdische ist. Sie set­ zen lieber ihr Vertrauen in die Vertreter ihrer eigenen Rasse. Und selbst wenn sie die Idee von den höherentwickelten Marsianern akzeptieren, so stellen sie doch diese oft als Wesen dar, denen unsere jugendliche Kraft und Vitalität fehlen, denen es an Energie und Tatkraft gebricht. Nicht selten wird die irdische Aggressivität in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in die Literatur transportiert, wobei diese 123

Aggressivität ein seltsames Gemisch aus Überheblichkeit und Angst ist. Die Angst vor der »gelben Gefahr«, die immer wieder zu Beginn unseres Jahrhunderts ausgemalt wird, ist gar nicht so weit entfernt von der Haltung, die man den Marsianern gegen­ über einnimmt, die ja auch von der europäischen Rasse sehr verschieden sein können, und die es notfalls zu besiegen und zu beherrschen gilt. Es ist also nicht verwunderlich, daß die Marsinvasionsromane von Laßwitz und Wells fast sofort durch eine irdische Strafex­ pedition erwidert werden, wie sie sich der Amerikaner Garret Putman Serviss (1851-1929) ausgedacht hat. G. P. Serviss hat fünf große Romane geschrieben, er war aber vor allen Dingen ein bedeutender wissenschaftlicher Popularisator, Verfasser zahlreicher Sachbücher, unter denen sich mehrere astronomische Werke befinden. Zwischen dem 12. Ja­ nuar und dem 10. Februar 1898 erschien in einer amerikani­ schen Zeitung, dem New York Evening Journal, ein illustrierter Fortsetzungsroman von ihm unter dem Titel Edisons Conquest of Mars (Neuausgabe Los Angeles, 1947). Dieser Roman knüpft an The War of the Worlds von H.G. Wellsan und beginnt damit, daß nach einer mißglückten Invasion der Marsianer (die durch ein Virus eliminiert wurden) von der Erde aus Vorbereitungen für eine neue Invasion beobachtet werden. Angesichts der dro­ henden Gefahr vergessen die Erdenbürger ihre Zwistigkeiten und erklären sich solidarisch. Ein internationaler Kongreß fin­ det in Washington statt, auf dem Gegenmaßnahmen beschlos­ sen werden sollen. Zwei geniale Erfindungen von Edison lassen die Menschheit Mut schöpfen: zunächst ein Raumschiff (ship of space), das dank einer aus Elektrizität gewonnenen Anti­ schwerkraft kosmische Reisen möglich macht, und dann ein Desintegrator (disintegrator), eine Art »Wunderwaffe«, die auf der Vibrationskraft beruht und jeden Körper atomisieren kann, wenn man die Frequenz der Schwingungen auf ihn einstellt. Alle Nationen der Erde beteiligen sich unter Führung der Ame­ rikaner am Bau einer Flotte von hundert elektrischen Raum­ schiffen, die mit Desintegrationswaffen ausgerüstet werden. Zweitausend Männer aus aller Welt (von Frauen ist nicht die Rede!) nehmen an der Expedition teil, d. h. zwanzig pro Raum124

schiff. Interessant ist die Tatsache, daß die Expeditionsmitglie­ der mit Raumanzügen ausgerüstet werden, die es ihnen erlau­ ben, sich in der Leere des Weltraums zu bewegen und von ei­ nem Raumschiff zum anderen überzuwechseln. Zu den Expe­ ditionsteilnehmern gehört auch der Erzähler des Romans, der in der ersten Person geschrieben ist. Eine Zwischenlandung findet auf dem Mond statt, einem nunmehr toten Himmelskörper, auf dem man aber die Über­ reste einer alten Zivilisation entdeckt, d.h. Ruinen ehemaliger 125

Städte und sogar den Schädel eines »Menschen«, der wahr­ scheinlich sehr intelligent und von hünenhafter Gestalt war. Dann geht die Reise weiter. Der erste Kampf mit einem Marsianer findet auf einem Asteroiden in der Nähe des Mars statt, der ganz aus Gold ist und den Goldvorrat der Marsianer darstellt, der von der Zentralregierung aufs schärfste bewacht wird. Bei dem gefangenen Marsianer handelt es sich um einen Piraten, der an einem organisierten Diebstahl teilnahm. Er ist von men­ schenähnlichem Aussehen, nur ca. fünfzehn Fuß, also fünf Me­ ter groß und von karikaturalem Aussehen. Später erfahren wir, daß die männlichen Gehirne auf dem Mars einer Spezialbe­ handlung unterzogen werden, um bestimmte Fähigkeiten maximal zu entwickeln. So entstehen hochgradige Spezialisten, aber unter der Beeinflussung des Intellekts leidet bedauerli­ cherweise auch das Äußere. So sehen die Marsianer, je nach ihrer Spezialisierung, ganz verschieden und meist grotesk aus. Ihre Frauen hingegen, deren Gehirn man im »normalen« Zu­ stand läßt, sind wohlgestaltet und schön. Der Planet selbst ist älter als die Erde und es gibt kaum noch Gebirge, hingegen aber Meere und Ozeane. Die Kanäle und ein kompliziertes System von Schleusen erlauben es, die Was­ sermassen, die bei der Schneeschmelze entstehen, zu kontrol­ lieren und Überschwemmungen zu verhindern. Nach dem Scharmützel auf dem Marsasteroiden wagt die ir­ dische Expedition einen Frontalangriff auf den Mars, der aber mißglückt, denn die Marsianer verfügen über zahlreiche Flug­ apparate, verwenden ausgiebig ihre Todesstrahlen und schüt­ zen den Planeten, indem sie ihn in eine Rauchwolke hüllen. Mit hohen Verlusten ziehen sich die Menschen auf Daimos zu­ rück. Von dort aus unternimmt eine kleine Gruppe eine Erkun­ dungsfahrt auf den Mars. Man findet in einem Armeedepot hochkonzentrierte Nahrungsmittel und - zur großen Überra­ schung aller - ein schönes Erdenmädchen! Ein Heidelberger Sprachwissenschaftler, der an der Expedition teilnimmt, stellt fest, daß die Schöne ein unverfälschtes Indo-Europäisch spricht. Man erfährt von ihr, daß unsere Vorfahren in den Tälern des Kaschmirgebirges lebten - was die Theorien deutscher Wissen­ schaftler bestätigt, und daß die Marsianer bereits vor neuntau126

send Jahren zum ersten Mal die Erde besuchten. Nachdem sie aus den Kaschmirtälern einige Sklaven mit sich genommen hat­ ten, ließen sie sich in Ägypten nieder, wo sie unter anderem die Pyramiden erbauten und, nach dem Bild ihres Chefs, die Sphinx hinterließen. Aber als sie eine Epidemie heimsuchte, verließen sie flucht­ artig die Erde und führten nur einige dieser »indoeuropäischen« Sklaven mit sich. Leider ist das schöne Mädchen, Aina genannt, die letzte Überlebende dieser Spezimen. Die anderen sind von den Marsianern aus Angst davor, daß sie sich mit den irdischen Angreifern verbünden könnten, getötet worden. Man erhält weitere Informationen über das Leben auf dem Mars. Die Krie­ gerkaste kontrolliert dort den gesamten Planeten. Der Herr­ scher des Planeten gibt sich für unsterblich aus und läßt seine Untertanen glauben, daß er bereits diese erste Expedition an­ geführt habe. Aina erklärt der Gruppe die vitale Bedeutung der Schleusen und ihr Funktionieren. So bricht eine zweite Gruppe unter Führung Edisons auf, an der auch der Erzähler des Romans teil­ nimmt, und zerstört mit Hilfe der Desintegrationswaffen die Schleusen. Die Folge ist eine gigantische Überschwemmung des Planeten, in der fast alle seine Bewohner umkommen, nur wenige Überlebende retten sich in ein etwas höhergelegenes Gebiet, darunter auch der Herrscher, der aber schließlich im Kampf getötet wird. Der Leser erfährt nicht, ob diese letzten Marsianer überleben werden, denn die irdische Expedition zerstört vor ihrer Abreise noch den größten Teil der Nahrungs­ mittelvorräte. Die »Guten« werden also mit den »Bösen« zu­ grundegehen. Aber der Erzähler (und die Mannschaft) haben keine Zeit, diesen erbarmungslosen Kriegern des Sonnensy­ stems nachzutrauern. Man bemitleidet nur eine Sklavin der Marsianer, eine Frau von Ceres, einem Asteroiden, der eben­ falls von den Marsianern verwüstet wurde. Sie war von außer­ gewöhnlicher Schönheit, wenn auch vierzig Fuß, also dreizehn bis vierzehn Meter groß, denn Serviss vermutet, daß die Größe der Lebewesen proportional mit der abnehmbaren Schwer­ kraft wächst. Die siegreiche Expedition kehrt also zur Erde zurück und 127

wird dort begeistert von allen Nationen empfangen. Aina hei­ ratet ein Mitglied der Expedition. Ende gut, alles gut - zumin­ dest für unsere Erde! Serviss’ Roman ist manchmal als eine Fortsetzung von Wells’ Krieg der Welten bezeichnet worden, so in der großen SF-Enzyklopädie von Pierre Versins oder in der Histoire de la sciencefiction moderne von Jacques Sadoul. Zu unrecht, denn im Grunde genommen übernimmt Serviss von Wells nur die Idee, daß die Marsianer auf der Erde nicht von den Menschen, wohl aber von einer Epidemie besiegt werden. Im Unterschied zu Wells finden wir aber in dem Roman von Serviss anthropomor­ phe Marsianer, wie auch die übrigen Bewohner des Sonnen­ systems bei ihm alle menschenähnlich sind. Auch die wirt­ schaftlichen und politischen Strukturen auf seinem Mars (die Verwendung des Goldes, eine Militärdiktatur usw.) sind dem Leser vertraut. Interessant ist hingegen Serviss’ Idee, daß Außerirdische un­ sere Erde besucht und Spuren, wie z. B. die Pyramiden, hinter­ lassen haben, eine Idee, die in zahlreichen Varianten bis zum heutigen Tag immer wiederauftauchen wird und die, wenn wir uns nicht irren, Serviss zum ersten Mal entwickelt hat. Edison’s Conquest of Mars preist, ähnlich wie andere kosmische Roma­ ne um die Jahrhundertwende, die internationale Solidarität an­ gesichts der drohenden Gefahr aus dem Weltraum. Gleichzei­ tig ist der Roman aber eine Apologie Amerikas und des ameri­ kanischen Erfindungsgeistes. Dem amerikanischen Genie (hier verkörpert in der Gestalt Edisons) ist nichts unmöglich, auch wenn die Marsianer zunächst einen Vorsprung von mehreren Jahrmillionen haben!

Bildlegenden zum folgenden Farbteil:

I

Illustration von Jon Petagno für Bradburys »Mars-Chroniken«

II + III

Illustrationen von Michael Whelan für die Neuausgabe der Marsromane von Edgar Rice Burroughs im Ballantine Verlag, New York

IV

Die Schöne« und das Tier (Marsprinzessin ä la Burroughs)

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Gegen dieses Loblied auf die irdische Solidarität und gegen die Apologie des amerikanischen Erfindungsgeistes ist nichts einzuwenden. Was aber an dem Roman befremdet und beun­ ruhigt, ist die eindeutige Verteidigung des »totalen Krieges«. Die Menschen kommen in diesem Roman als destruktive Kon­ quistadoren auf den Mars, und was sie dort anrichten, ist ein perfekter Genozid. Der Autor bemüht sich nicht einmal darum, zu beweisen, daß alle Marsianer schlecht sind und dieses Schicksal verdienen. Im Krieg muß der Gegner erbarmungslos vernichtet werden, dieses Räsonnement genügt ihm. Eine Mentalität, die schon vieles von dem ankündigt, was im 20. Jahr­ hundert Wirklichkeit werden sollte.

Um tausend Jahre voraus: Die Marsromane von Oscar Hoffmann und Paul Oswald Köhler, 1905

Nach Serviss’ kriegerischer Marsexpedition, die mit der fast völ­ ligen Vernichtung unserer Nachbarn endet, mutet die Mars­ reise, die ein junger Student der Physik und Astronomie in der Erzählung Unter Marsmenschen (1905) von Oscar Hoffmann (geb. 1866) unternimmt, harmlos an. Modern und ungewöhn­ lich ist allerdings sein Reisemittel. Norbert Lormier hat in sei­ nem Wiener Studierzimmer, das gleichzeitig »Experimentier­ zimmer« ist, entdeckt, daß man jeden Körper »mittelst enorm hochgespannter elektrischer Ströme in seine Atome zerlegen und wiederum diese, mittels der Lichtstrahlen, nach jedem von ihm gewählten Ort versenden könnte«. Dort angekommen, setzen sich die Atome dann wieder zusammen. Unser junger Student träumt von Reisen in den Weltraum, vor allen Dingen aber auf den Planeten Mars. Eines Tages gelangt Lormier zu­ fällig in seinen angeschalteten Beobachtungskasten, von dem aus er gerade eine Katze auf den Mars expedieren will. Aber die­ se entwischt ihm, und so tritt er an ihrer Stelle unfreiwillig die Reise an, die übrigens, da er mit Lichtgeschwindigkeit durch das Universum reist, nur zwanzig Minuten dauert. Dann erwachter auf dem roten Planeten, umgeben von Marsmenschen, die uns 129

auffallend ähneln, nur rosiger und zufriedener aussehen und, wie wir später erfahren, auch etwas intelligenter sind als wir. Der erste Kontakt erweist sich als schwierig. Lormier versteht die scharf artikulierte, konsonantenreiche Marssprache nicht (die ihm Ähnlichkeit mit dem Polnischen zu haben scheint!). Seine Versuche, sich auf deutsch, französisch, englisch und schließlich auf griechisch und lateinisch zu verständigen, blei­ ben ebenfalls fruchtlos. So macht man sich zunächst durch Zeichnungen verständlich und fertigt für Lormier eine Art Bild­ wörterbuch an, bevor dieser die Marssprache erlernt. Bei einer dreiwöchigen Reise über den ganzen Planeten bemerkt Lor­ mier, daß auf dem Mars alles ähnlich wie auf der Erde ist, nur eben besser und vollkommener, so wie es bei uns vielleicht in tausend Jahren sein wird. Die Marsianer sprechen nur noch ei­ ne einzige Sprache, und vielleicht ist das einer der Gründe da­ für, daß man keine internationalen Zwistigkeiten mehr kennt. Der Planet ist in gleichgroße Bezirke geteilt, jeder Bezirk hat an seiner Spitze einen Präsidenten, aber das ist keine bezahlte, sondern eine ehrenamtliche Tätigkeit, die jedermann, der dazu bestimmt wird, einige Jahre lang ausüben muß. Auf dem Mars gibt es etwa tausend Städte, die aber jeweils nur zehntausend Einwohner haben. Jede Stadt ist in einem bestimmten Indu­ striezweig spezialisiert. Die Marsianer nutzen in hohem Grade alle Naturkräfte, vor allen Dingen aber die Elektrizität in Form von gigantischen Akkumulatoren. Zu ihren technischen Errun­ genschaften gehören schnelle Verkehrsmittel zu Wasser, zu Lande und in der Luft, die Möglichkeit, durch elektrische Ent­ ladungen das Wetter zu regulieren, und natürlich das Kanal­ netz, das den ganzen Planeten überzieht. Den Höhepunkt der Reise bildet der Besuch des Marsinneren, der eher an Tausend und eine Nacht als an einen wissenschaftlichen Roman denken läßt, denn der Marskern besteht aus einer strahlenden Grotte, welche die Fundstätte riesiger Edelsteine ist. Um wieder in seine Heimat zurückkehren zu können, konstruiert Lormier mit Hilfe der Marsianer einen ähnlichen Apparat wie den, der in seiner Wiener Studierstube zurückgeblieben ist. Ein neugieriger Marsastronom will dieses Mittel verwenden, um die Erde zu be­ suchen. Lormier und er landen, weit voneinander entfernt, in 130

Alaska. Lormiers Erfindung hat nämlich den Nachteil, daß man den Ankunftsort dem Zufall überlassen muß. Der Marsastro­ nom hält es freilich nicht lange auf unserer noch unvollkom­ menen Erde aus. Noch einmal wird das fragwürdige Transport­ mittel verwendet, um ihn auf den Mars zurückzubefördern. Dann werden kosmische Reisen auf weiteres wegen der Män­ gel des Apparates eingestellt. Aber Lormier gelingt es, eine op­ tische Verbindung mit dem Mars herzustellen. Diese längere Erzählung von O. Hoffmann ist recht harmlos, nicht spannend genug, um als Abenteuerroman zu fesseln, nicht interessant genug in den technischen Details, um als wis­ senschaftlicher Roman zu interessieren. Ähnlich wie Geiger, Laßwitz und viele andere Schriftsteller setzt Hoffmann die Tra­ dition fort, die darin besteht, utopische Vorstellungen von einer besseren Welt auf den Mars zu transponieren. Man ist uns ein­ fach auf dem Mars, wie der Roman immer wieder betont, in moralischer, wissenschaftlicher und technischer Hinsicht »um tausend Jahre voraus«. In Zusammenhang mit Hoffmanns Marserzählung kann man auch den »Roman« (man zögert, die Bezeichnung zu verwen­ den, so handlungsarm ist das Buch) Passyrion über Deutsch­ land. Beobachtungen und Kritiken eines Marsbewohners er­ wähnen, das Paul Oswald Köhler (Lebensdaten nicht festzu­ stellen) unter dem Pseudonym Intrus im gleichen Jahr veröf­ fentlicht hat. Das Buch besteht aus drei langatmigen Vorlesungen des Marsprofessors Passyrion über die Zustände in Deutschland, denn die Bewohner von Siontra (das ist der Mars, auch Sios ge­ nannt) haben Zooris (d. i. die Erde) besucht, vor allen Dingen das wilhelminische Deutschland. Die Reise wird in einem »Ätherschiff« gemacht, das »Gravitationsimpulse« verwendet und vierunddreißig Tage lang unterwegs ist. Dieser Besuch, der viereinhalb Jahre dauert, ist von uns unbeachtet geblieben, da die Marsianer, abgesehen von ihrem stärker entwickelten Brustkorb, wie wir aussehen, die landesübliche Kleidung tragen und rasch die deutsche Sprache lernen. Die Vorlesungen des Professors sind in erster Linie eine 131

spießbürgerlich und pedantisch anmutende Kritik der deut­ schen Vorkriegsverhältnisse, die uns heute eher durch ihre unfreiwillige Komik amüsiert, obgleich sie von ihrem Autor si­ cher sehr ernst gemeint war. Angegriffen werden die moderne Industriegesellschaft, die Großstädte mit ihren Elendsvierteln (»Ameisenhaufen«, »Menschenwüsten«), die ungesunden hy­ gienischen Verhältnisse in den Mietskasernen, die Prostitution, die Uniformität der Mode und vieles andere mehr. So z. B. die falsche Ernährung, die Verwendung der Margarine als »Volks­ nahrungsmittel«, die Maßlosigkeit im Essen. Der Marsprofessor doziert z. B.: »Es wird auf Zooris, speziell auch in Deutschland, zu viel gegessen und zu viel getrunken. Daher gibt es zahl­ reiche Leute, die eine gewisse Ähnlichkeit mit spazierenge­ henden Kugeln oder vollgestopften Getreidesäcken haben.« (S. 53) Passyrion geht aber auch auf Details ein, die vom Mars aus eigentlich unbedeutend erscheinen müßten, so verteidigt er z. B. die deutsche Groß- und Kleinschreibung (»Dieses Sy­ stem vermindert die Eintönigkeit der Schrift und macht die Sät­ ze charakteristischer«, S. 94) und ergreift im Streit um Fraktur­ schrift und Antiqua Partei für die Frakturschrift. In allen Vorle­ sungen bezieht sich der Marsprofessor immer wieder auf Schil­ ler (die Vorlesungen werden ja auch im hundertsten Todesjahr des »großen Denkers« gehalten, wie er einleitend betont). Der Dichter wird nicht nur ausgiebig zitiert, sondern seine ideali­ stische Philosophie wird als wegweisend in eine bessere Zu­ kunft hingestellt. Nietzsche verkörpert hingegen für ihn den Beelzebub, wie überhaupt unsere europäische Philosophie ab­ wertend als »Nietzsche-Philophastra-Zivilisation« bezeichnet wird. Über den Mars erfährt der Leser nicht viel, d. h. eigentlich nur wenig und durch Gegenüberstellung mit der Erde. Wird unser Planet als eine Welt dargestellt, die dabei ist, den verkehrten Weg einzuschlagen, so deutet Passyrion an, daß man auf dem Mars eine ideale Gesellschaft geschaffen habe, in der die Dinge auf praktisch-materiellem wie auf moralisch-ästhetischem Ge­ biet besser liegen als bei uns. Die Technik hat nicht nur einen höheren Stand erreicht, sondern wird auch auf »vernünftige« Weise verwendet, d. h. nicht mehr, um Kriege zu führen, son132

dem um die Bedingungen des täglichen Lebens zu verbessern. Die Sonnenenergie wird direkt in Elektrizität umgewandelt; man kann das Wetter genau vorherbestimmen; man versteht es, Nahrungsmittel, vor allen Dingen Fleisch, künstlich herzu­ stellen (so ist auch auf dem Mars das Töten von Tieren gesetz­ lich verboten). Die Möglichkeit, durch Aufhebung der Schwer­ kraft kosmische Reisen zu unternehmen, benutzen die Marsianer nur zu friedlichen Zwecken, indem sie das Leben auf den Nachbarplaneten beobachten, ohne in irgendeiner Weiseein­ zugreifen. Während bei O. Hoffmann die Beschreibung der idealen Marsgesellschaft im Mittelpunkt steht, konzentriert sich P.O. Köhlers Roman auf eine Kritik der irdischen, bzw. der deut­ schen Verhältnisse. Die Marsgesellschaft wird nur flüchtig in Analogie zu dieser dekadenten Welt als Alternative skizziert. Aber ähnlich wie Hoffmann deutet auch Köhler immer wieder an, daß dieses Ideal einer besseren Gesellschaft, das im Grunde genommen in einem Rückzug auf Schillersche Ideale besteht, in absehbarer Zeit verwirklicht werden kann. Optimistisch er­ klärt der Marsprofessor: »So wie es jetzt auf Zooris ist, kann’s ja nicht ewig bleiben. Die Zahl derjenigen, die das Ideal der Menschheit volkstümlich und zugleich ästhetisch erfassen jetzt noch verschwindend klein -, wird mit der Zeit wachsen, weil das Leben der dortigen Menschheit sonst keinen eigent­ lichen Fortschritt mehr aufweisen würde.« (S. 157)

Häßlicher Mars - schöne Erde: Arnould Galopin, Le Docteur Omega, 1906

Während bei den deutschen Marserzählungen vor dem Ersten Weltkrieg Abenteuer und Spannung meist recht schlecht weg­ kommen und gesellschaftskritische oder utopisch-didaktische Absichten, oft schwerfällig und pedantisch vorgetragen, domi­ nieren, lassen die französischen Autoren dieser Zeit in ihren Marsgeschichten einer überschäumenden Phantasie die Zügel schießen und stellen das reine Abenteuer in den Vordergrund. 133

Zu diesen französischen Marsabenteuerromanen gehört bei­ spielsweise Doktor Omega von Arnould Galopin (1863-1934), dessen erste Fassung 1906 unter dem Titel Le docteuer Omega. Aventures fantastiques de trois Français dans la planète Mars erschienen ist (eine 2.fassung wurde 1908/1909 unter dem Titel Les chercheurs d’inconnu. Aventures fantastiques d’un jeune Parisien herausgegeben). Drei Franzosen, der Erzähler Denis Borel, ein etwas exzentri­ scher Gelehrter, nämlich Doktor Omega und sein hünenhafter Gehilfe Fred nützen eine günstige Marsopposition, um sich auf die Reise zu unserem roten Nachbarn zu begeben. Doktor Omega hat ein schwerkraftabstoßendes Material, das »Repulsit«, entdeckt und läßt in den Creusot-Werken ein Raumschiff konstruieren, das in mancherlei Hinsicht dem Jules Vernschen Mondflugschiff nachgebildet ist, allerdings gibt es eine Reihe von Verbesserungen. So kann die »Kosmos« auch zu einem U-Boot oder zu einem Landfahrzeug umfunktioniert werden. Auf der Reise zum Mars müssen unsere Abenteurer allerlei Gefahren überstehen, die bei kosmischen Reisen sozusagen dazugehören. So droht der Zusammenstoß mit einem riesigen Meteoriten, der haarscharf an dem Raumschiff vorbeizieht. Danach führt eine Unvorsichtigkeit Freds dazu, daß die Sauer­ stoffvorräte rapid abnehmen. Am Ende der Reise »landet« das Fahrzeug in einem der Marsmeere und verwandelt sich sofort in ein Unterwasserboot. In den Tiefen des Meeres entdecken die Reisenden eine unheimliche Fauna: Fische mit dreieckigen Köpfen, bräunliche Riesenschlangen und Riesenwale. Unter­ wasserbauten, auf die man stößt, lassen intelligentes Leben ver­ muten. Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis ein Unterwassermarsianer auftaucht, ein scheußliches Monster, das mit sei­ nen hervorquellenden Augen durch die Bullaugen des Schiffes glotzt: »Es handelt sich um einen Menschen, aber einen absto­ ßend häßlichen Menschen, hundertmal häßlicher als es die in Stein gemeißelten Dämonen über unseren Kirchenportalen sind ... Sein Gesicht war von tiefblauer, fast violetter Farbe und erinnerte entfernt an das eines Pavians; er hatte eine flache, flie­ hende Stirn und eine plattgedrückte Nase. An Stelle der Ohren sah man zwei rötlich-blutige Löcher, die Ähnlichkeit mit Kie134

Unterwassermarsianer

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men hatten ... Sein riesiger Mund besaß vier Reihen scharfer Zähne. Grüne Schuppen bedeckten die Brust und den Leib. Die roten Hände und Füße wurden an den Extremitäten dunk­ ler.« Mit großer Not entgeht die »Kosmos« einem Angriff der Unterwassermarsianer, aber als das Boot endlich das Festland erreicht, kommen die Reisenden vom Regen in die Traufe. Eine wimmelnde Gnomenmenge bedrängt das Fahrzeug. Auch diese Marsbewohner machen eher einen abstoßenden Ein­ druck: »In der Tat waren auch diese Marsianer nicht gerade das, was man sich unter schönen Spezimen einer Rasse vorstellt. Sie waren höchstens fünfzig Zentimeter groß, und ihr Körper wurde von gebrechlichen Heuschreckenbeinchen getragen. Ihr riesiger, runder Kopf war kugelförmig, zwei grüne, glotzen­ de Augen leuchteten rotumrandet in dem bleichen Gesicht... An Stelle der Nase bewegte sich ein kleiner gekrümmter Rüssel, der lippenlose Mund war rhombusförmig. Tentakeln, die sich mit pfeifendem Geräusch zusammenringeln konnten, ersetz­ ten die Arme. Ihr Körper erschien durchsichtig und glänzte wie eine mit Fett eingeschmierte Blase.« Allerdings sind diese kleinen leichten Wesen nicht gefähr­ lich, das zeigt sich, als nach nutzlosem Parlamentieren unsere Reisenden den Kampf mit ihnen aufnehmen müssen und »Hunderte von Leichen« zurücklassen. Nachträglich kommen dem Doktor dann doch einige Skrupel ob dieses Massakers: »Wie kommt es, daß diese Wesen, die sicher intelligent sind, nicht Mittel und Wege gefunden haben, sich zu verteidigen ... Vielleicht haben sie es einfach noch nie nötig gehabt... Konn­ ten sie ahnen, daß eines Tages diese miserablen Erdenbewoh­ ner auftauchen würden, um sie zu massakrieren.« Nachdem man die »Kosmos« in ein Landfahrzeug verwandelt hat, wird die Exkursion fortgesetzt. Die Repulsithülle versteckt man vorsorglich in einer Grotte. Bei der Fahrt begegnet man allerlei Ungeheuern, und einmal müssen die drei Reisenden so­ gar einen Kampf mit Tausenden von Riesenschlangen beste­ hen. Beobachtungen über die Marsvegetation werden aufge­ stellt. Auf dem Mars schießen die Pflanzen während des Mars­ tages mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Boden - man 136

Der Kampf mit den Marsgnomen

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hört tatsächlich »die Bäume wachsen«, sie sterben aber in den kalten Nächten wieder ab. Es handelt sich also um »Eintagspflan­ zen« und »Eintagsbäume«. Dann stößt man wieder auf eine neue Marsrasse - die dritte! Es sind vampirähnliche Wesen, »Fledermausmenschen«, die ihre Wohnsitze in den Bäumen errichtet haben. Später stellt sich allerdings heraus, daß ihre Flügel künstlich angefertigt werden. Sie haben es den einst auf dem Boden lebenden We­ sen erlaubt, sich vor den Riesenschlangen zu retten. Fred hat auf den ersten Blick festgestellt, daß es sich um die intelligentesten Bewohner des Planeten handelt: »Wir sind jetzt in zivilisierteren Gegenden«, sagte der Doktor. »Das habe ich schon längst bemerkt«, rief Fred ... »Du ... »Ja ... Ist das so erstaunlich? Wenn ich auch dumm bin, so ist mir doch aufgefallen, daß diese häßlichen Fledermäuse ein wie soll ich sagen? - ein menschliches Benehmen haben. Diese Individuen haben eine Art, einen anzublicken, die ungewöhn­ lich ist... Die Unterwassermarsianer sahen idiotisch aus... die kleinen Gnomen an der Küste waren einfach dumm... aber die hier sind gerissen ... und der Beweis - sehen Sie, die rauchen ihre Pfeife wie Sie und ich ...« Das stimmte ... Wir sahen zwei oder drei Fledermäuse, die vor ihren Hütten saßen und mit offensichtlichem Behagen Rauch aus einem gebogenen Rohr inhalierten. »Ich würde gern wissen, welchen Tabak die Kerle rauchen«, sagte Fred. Weiter geht die Reise, und man nähert sich, wie die rauchen­ den Schlote und die betriebsamen Geräusche erkennen lassen, einer hochindustrialisierten Gegend. Unsere Gruppe wird von zwergenähnlichen Wesen gefangengenommen, die sich aber von den Gnomen so deutlich unterscheiden, daß man von ei­ ner vierten Marsrassesprechen kann. Ihre Führer zeichnen sich durch besonders große Köpfe aus. Die Gefangenen werden in die Stadt geführt, die »Kosmos« wird vernichtet, um eine even­ tuelle Flucht zu verhindern. Das Schicksal der Menschen scheint darin zu bestehen, als exotische Spezimen auf dem 138

Fledermausmarsianer

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Mars herumgezeigt zu werden. Der Erzähler gibt sich folgen­ den traurigen Betrachtungen hin, die der Ironie nicht entbeh­ ren: »Sicher wird man uns wie gelehrte Tiere herumzeigen ... wir werden von Stadt zu Stadt ziehen müssen, angekettet und mit einem Maulkorb versehen wie die Bären, die man bei uns herumführt, und die magere Nahrung, die man uns gibt, wer­ den wir uns durch Unterwürfigkeit und Gehorsam unseren Herren gegenüber verdienen müssen. Auf der Erde, auf dieser so sehnsüchtig bedauerten Erde, an die ich nicht denken kann, ohne daß meine Augen feucht wer­ den, hatten wir uns - vor allem der Doktor - über die gewöhn­ lichen Sterblichen erhoben; hier wird unsere Intelligenz wahr­ scheinlich keine Gelegenheit finden sich zu bestätigen; wir werden, allem Anschein nach, als seltsame Spezimen einer lä­ cherlichen Rasse betrachtet werden. Wahrscheinlich werden wir Material zu zahlreichen wissenschaftlichen Abhandlungen liefern, und es ist durchaus möglich, daß ein Marsianer, der neugieriger als die anderen ist, einer dieser kaltblütigen Wis­ senschaftler, für die das Leben anderer ohne Wert ist, auf die Idee kommt, einen von uns zu töten, um ihn zu sezieren, zu examinieren und um zu verstehen, wie unsere Organe funk­ tionieren und ob sich Analogien zu den Organen seiner Art­ genossen feststellen lassen.« In der Gefangenschaft erlernen die Franzosen die Marsspra­ che, die aus gutturalen Silben besteht. Die Worte haben je nach der Intonation eine andere Bedeutung, das Wort ghö heißt z. B. sowohl »Baum« als auch »Nase«, »Auge« und »Knie«. Borel, der sehr musikalisch ist (seine Stradivari hat ihn auch auf den Mars begleitet), lernt am schnellsten die Marssprache und drückt sich in zwei Monaten fließend darin aus. Man benutzt die Sprach­ kenntnisse, um sich genauer über die Marsgesellschaft zu in­ formieren. Die Marsianer leben etwa 300 Jahre lang. Sie kennen keine Kindheit und Jugend, sondern zwei Lebenszeitalter. In den ersten zweihundert Lebensjahren sind sie aktiv (Vizadös), dann werden sie »Gagäyou«, d. h. zu Wesen, die für die Ge­ meinschaft überflüssig sind. Wenn ihre Fähigkeiten allzusehr nachlassen, werden sie in Reservaten zusammengepfercht, wo 140

sie dem Ende entgegensehen, betreut von den »Noussai« (Skla­ ven mit kleinem Verstand). Bei dieser letzten Marsrasse unterscheidet man vier soziale Kategorien: die Wissenschaftler und Ingenieure, die Arbeiter, die Bauern und die Schmarotzer, d. h. die unnützen Mitglieder der Gesellschaft. Die Wissenschaftler haben Erfindungen ge­ macht, die alle auf der Erde gemachten übertreffen, doch ist ih­ nen das Rad unbekannt. Man findet auf dem Mars eine Vielzahl fliegender Transportmittel, daneben bewegt man sich aber auch auf Fließbändern fort. Ein System von Fertighäusern er­ laubt es, ganze Städte zu transportieren. Eine praktische Ein­ richtung, denn wenn im Sommer in manchen Gegenden die Hitze unerträglich wird, ziehen die Städte einfach in den Nor­ den um! Auch Galopins Marsianer verlieren nicht viel Zeit mit der Nahrungsaufnahme. Sie stellen Nährkügelchen aus einem »ro­ ten Gras«, das unserem Korn gleicht, her. Bei einem Besuch, den die Menschen dem König und der Königin abstatten, erfahren sie, daß diese intelligenten Mar­ sianer schon seit Jahren versuchen, durch Feuersignale mit der Erde in Kontakt zu treten. Trotz der fortgeschrittenen Entwicklung kennt der Planet aber noch Kriege, und die Erdbewohner wohnen einem sol­ chen bei, in dem auch »Marsstrahlen« eingesetzt werden, die in einem Umkreis von hundert Metern alles vernichten. Mit Hilfe der Marsianer gelingt es Doktor Omega endlich, eine zweite »Kosmos« zu bauen, die in mancher Hinsicht sogar perfekter als die erste ist, denn die Marsianer sind geborene Mechaniker, sie haben sozusagen die »Mechanik im Blut«. Aber die Rückreise scheint kompromittiert zu sein, als man entdeckt, daß die Repulsithülle verschwunden ist. Glücklicherweise kann Dr. Omega mittels drahtloser Telegraphie eine Verbindung zur Erde herstellen. Von dort kommt dann Hilfe in Gestalt des Dok­ tor Helvetius, der mit einem Fahrzeug landet, das zu aller Er­ staunen der »Kosmos« aufs Haar gleicht. Wie Dr. Helvetius zu diesem Fahrzeug gekommen ist, will uns der Autor nicht ver­ raten; er spart sich diese Enthüllungen für eine Fortsetzung des Romans auf. 141

Um eventuellen irdischen Skeptikern einen handgreiflichen Beweis der Marsreise vorführen zu können, werden drei Marsianer mit auf die Erde genommen. Die irdischen Regierungen interessieren sich sehr für die Marsexpedition und nehmen sofort ein Projekt in Angriff, das eine regelmäßige Verbindung zwischen der Erde und dem Mars vorsieht. Bis die Marslinie eröffnet wird, leben Monsieur Borel, Doktor Omega und der getreue Fred zurückgezogen auf ihrem Land­ sitz. Zwei Marsianer haben sie dem Naturwissenschaftlichen Museum überlassen, den dritten aber selbst behalten. Mit eini­ gen traurigen Bemerkungen über das Schicksal dieses kleinen Marsmannes schließt der Roman: »Aber der arme kleine Mann paßt sich nur schwer der irdi­ schen Lebensart an, und ich sehe mit Bedauern, wie er von Tag zu Tag mehr dahinsiecht ... Wenn er gar zu traurig ist, nehme ich meine Stradivari und spiele ihm ein paar Melodien vor; das scheint ihm sehr zu ge­ fallen, kann aber verständlicherweise nicht ganz sein Heimweh heilen ... Ich habe ihm versprochen, ihn und seine Landsleute wieder auf den Mars zurückzubringen, aber ich fürchte sehr, daß er den kommenden Juli nicht mehr erleben wird, den Zeitpunkt, an dem die große Linie Erde-Mars in Betrieb tre­ ten soll ...« So viel zu Galopins Marsroman, in dem sich allerlei Anleihen bei seinen Vorgängern feststellen lassen. Aber das Buch ist in mancher Hinsicht interessant, weil in ihm konsequent einer »schönen« Erde ein »häßlicher« Mars gegenübergestellt wird. Das ist unleugbar eine rassistische Haltung, und die Marsianer werden auch wie »Wilde« beschrieben, allerdings mit Nuancen, wie wir gesehen haben. Denn es gibt die primitiven Wilden (für die man damals noch die Neger hielt), aber auch die begabten Wilden (man dachte an die asiatischen Rassen). Diese zwar häß­ lichen (also »minderwertigen«), aber klugen Marsianer könnten für den Menschen eine potentielle Gefahr darstellen, und wahrscheinlich hat Galopin hier auf die »gelbe Gefahr« anspie­ len wollen, die zu seiner Zeit sehr diskutiert wurde. Galopins Roman ist typisch für die Tendenz vieler Marsro­ mane vor dem Ersten Weltkrieg. Im Gegensatz zur antikolonia142

listischen Haltung eines Wells oder Laßwitz wird hier der Mars (mit einigen vorsichtig ausgedrückten Skrupeln) als eine zu­ künftige Kolonie angesehen, und die Eroberung wird nicht durch die Primitivität der Bewohner gerechtfertigt, sondern durch ihre »Häßlichkeit«.

Dekadente Marsriesen - zahnlos und unbehaart: Waldemar Schillings Marsromane Von der Erde zum Mars, 1907, und fünf ¡ahre auf dem Mars, 1913

1907 veröffentlichte Waldemar Schilling (Lebensdaten nicht festzustellen) unter dem Pseudonym Ferdinand Kringel einen Marsroman, der mit so viel Humor geschrieben ist, daß man ihn auch heute noch mit großem Vergnügen lesen kann (Ferdi­ nand Kringel, Von der Erde zum Mars. Phantastisch-naturwis­ senschaftlicher Roman nach eigenen Erlebnissen in acht Kapi­ teln, Berlin-Leipzig 1907): In rechtsgültiger Form macht eine reiche französische Milliardärin, Madame Sermont, im Jahr 1900 ein Testament, das rund 3000 Millionen Franken demjenigen Franzosen oder Ausländer vermacht, der »Beziehungen zwi­ schen der Erde und dem Stern Mars anbahnt«. Für die Verbrei­ tung des Testaments wird auf sehr originelle Weise gesorgt: man bestellt nämlich bei Krupp in Essen 3000 Stück zylindri­ scher Gußstahlkapseln von fünfzig Zentimetern Länge mit ei­ nem Durchmesser von dreißig Zentimetern. Die Testamentsab­ schriften werden in viertausend lebenden und toten Sprachen und auch im Morsealphabet auf weißen Seidenstoff gedruckt. Dann umgibt man die Gußstahlkapseln mit einer Asbesthülle und verteilt sie über den ganzen Erdball. Schon im Jahre 1907 gelangt eine dieser Kapseln durch einen »glücklichen« Umstand auf den Mars, als nämlich der Komet Marchetti die Erde streift, ein Stück der Erdoberfläche (selbst­ verständlich mit einer Gußstahlkapsel!) mit sich reißt und die Kapsel dann mit einigen Meteorsteinen auf den Mars nieder­ gehen läßt, als er an diesem vorbeizieht. Ein junger Marsinge­ nieur mit dem nicht gerade originellen Namen Carolus Martius findet die Kapsel. Nachdem das Testament entziffert ist, will er 143

nun alles daran setzen, um die versprochene Summe zu gewin­ nen, denn auch auf dem Mars ist die finanzielle Lage eines jun­ gen Gelehrten nicht gerade rosig. Mit dem Geld könnte er also sich und seiner Verlobten Sabina ein »liebes Heim« schaffen. Aber auch auf der Erde beschäftigt man sich mit abenteuer­ lichen Projekten, um den Siegespreis zu gewinnen: »Unterneh­ mende französische Artillerieoffiziere gingen ernstlich mit dem Gedanken um, sich vom Kriegsminister für längere Zeit beur­ lauben zu lassen, um in Ausführung eines Gedankens von Jules Verne sich in einer großen Kanonenkugel nach dem Mars em­ porzuschießen.« (S. 46) Am intensivsten interessiert sich aber in Berlin ein alter Pro­ fessor der Mathematik für das Projekt, eben jener Ferdinand Kringel, der als fiktiver Herausgeber des Romans fungiert. Seine Leidenschaft für den Mars hat ihn schon vor Jahren seine Stel­ lung gekostet, aber er beobachtet ihn auch weiterhin allnächt­ lich, so »daß ihn seine Gattin Tusnelda und seine jetzt 19jährige Tochter Leopoldine eigentlich schon seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekamen; denn am Tage schlief er übermüdet in sei­ nem kleinen Laboratorium, das er sich oben im Dachgiebel des Wohnhauses eingerichtet hatte, und in der Nacht wiederum, wenn er zu leben begann, lagen seine Frau und Tochter in Morpheus Armen!« (S. 47) Es gelingt ihm, seinen Plan auszu­ führen und auf dem Tempelhofer Feld riesige Buchstaben aus­ zulegen, die mit dichtgesetzten elektrischen Bogenlampen nachgezogen werden. Aber Monate vergehen, und dieMarsianer antworten nicht. Dann entdeckt der Professor eines Tages Striche und Punkte auf dem Mars, die sich abwechseln, aber er versteht ihre Bedeutung nicht. Auf dem Mars ist Carolus Martius nicht untätig geblieben. Er hat das Morsealphabet entziffert und benutzt nun die Kanäle, die er ebenfalls mit riesigen Bogenlampen beleuchtet, um in Zeichen und Punktschrift den lateinischen Satz »HicMars, quis istic« in jeder Erdennacht, wenn die Marshälfte der Erde zuge­ wandt ist, zu senden. Auch er ist bald enttäuscht, denn seine Zeichen laufen schon vier Wochen, ohne daß eine Reaktion er­ folgt. Aber eines Tages entdeckt auf der Erde Professor Kringels Tochter Leopoldine bei einer Freundin, die Telegraphistin ist, 144

das Morsealphabet, und nun kann ihr Vater endlich die ge­ heimnisvollen Zeichen entziffern und selbst eine Depesche in Morseschrift auf den Mars senden »Hic Erde salve te Hurrah«, Bald folgt eine lange Marsdepesche des Carolus Martius, der nun Anspruch auf seine 3000 Millionen Francs erhebt. Nach reiflichen Überlegungen schlägt Professor Kringel vor, die Summe zu teilen. Die Zustimmung erfolgt, aber wie soll das Geld ausgezahlt werden? Dr. Martius möchte die Summe in Kilowatt umgewandelt sehen, die man ihm auf den Mars expe­ dieren soll, dort will er sich die Elektrizitätsmenge von den gro­ ßen Gesellschaften in Gold auszahlen lassen. Auch dieses Pro­ blem wird schließlich gelöst. Die Niagarafälle werden als Ener­ giequelle dienen, allerdings wird die Lieferung in Raten erfol­ gen und hin und wieder aussetzen, wenn der Abstand zwi­ schen den beiden Planeten zu groß ist. Weitere technische De­ tails dieses ungewöhnlichen Energietransports verschweigt der Erzähler wohlweislich. Das Buch endet damit, daß Professor Kringel und Doktor Martius beschließen, auf beiden Planeten eine Telegraphenstation einzurichten, die für eine Wortgebühr von fünfzig Mark von jedermann benutzt werden kann. So tre­ ten Industrielle und Großkaufleute beider Planeten in Verbin­ dung und sondieren zukünftige Absatzgebiete, obgleich noch keine Möglichkeit einer Marsreise besteht. W. Schillings Roman Von der Erde zum Mars steht in derTradition des »naturwissenschaftlichen Romans«, denn er enthält eine Reihe von Informationen über den Mars, die durchaus dem Wissensstand um die Jahrhundertwende entsprechen. Wie es in den naturwissenschaftlichen Romanen üblich ist, hält ein gut informierter Spezialist (hier der Astronom Dr. Martius) einem wissensdurstigen Laien (seiner Verlobten Sabina) kleine populärwissenschaftliche Vorträge, die auch den Leser instru­ ieren sollen. Der Mars, über dessen Umlaufbahn und Ober­ fläche man genau unterrichtet wird, ist ein Planet, der im Ab­ kühlen begriffen ist, deshalb können seine Bewohner nur noch in den Äquatorialzonen leben. Der Wasserverknappung wird durch Irrigationskanäle abge­ holfen, bei deren Konstruktion natürliche Spalten und Risse ausgenutzt werden, die sich bei der Erstarrung der Oberfläche 145

bildeten. Martius ist überzeugt davon, daß ein ähnliches Schicksal auch der Erde bevorsteht. Sobald also eine Verbin­ dung mit dem Nachbarplaneten hergestellt ist, will erden Men­ schen raten, sofort mit dem Bau großer Kanäle zu beginnen, um einige Überlebenschancen zu haben. Die Marsianer sind fortgeschrittener in Wissenschaft und Technik als die Menschen, so wird z. B. ihr hochentwickelter Flugverkehr genannt, der die zaghaften Versuche des Grafen Zeppelin wie ein Kinderspiel erscheinen läßt. Die chemische Nahrungsmittelindustrie hat die Ernährungsprobleme gelöst. Die Menschen nehmen in Form von zehn bis zwölf Nahrungs­ pillen täglich die erforderlichen Mengen an Stickstoff, Kohlen­ stoff, Eiweiß und Fett zu sich. Die Marsianer sind kurzlebig, selten wird jemand älter als fünfunddreißig Jahre. Sie sind, verglichen mit uns, von riesen­ hafter Gestalt, d. h. sechs Meter groß, und haben wegen der dünnen Luft einen stark entwickelten Brustkorb. Sie sind völlig unbehaart und zahnlos. Martius erklärt seiner Braut, daß die Menschen in vielem noch an den Affen erinnern. So haben sie auf dem Kopf eine »zottige Behaarung« und die Männer »Haar­ zotteln im Gesichte - besonders um den Mund und die Nase und das Kinn herum« (S. 27), sie haben ein »kräftiges Gebiß« und gehören zu den »Leichenessern«. Und im Vergleich zu den Marsianern sind sie zwergenhaft klein. Sabina graust es vor diesem Wesen:»... wenn ich mir ausmal­ te, daß du im Munde auch nur einen der Zähne hättest, wovon der Erdbewohner sogar 32 Stück hat, so würde ich mich nie überwinden können, dir auf diesen raubtierartigen Mund auch nur einen süßen Liebeskuß zu schenken. Vollends aber bei der Vorstellung, dein zierlicher Mund wäre in einer Menge zottiger Haare und Strähnen versteckt, erfaßt mich ein namen­ loses Grauen; wie können meine Schwestern auf dem Erden­ ball es nur über sich gewinnen, einen solchen Mann zu küs­ sen.« (S. 28) Am Ende des Romans wird allerdings angedeutet, daß trotz der körperlichen Verschiedenheit Liebe (zumindest platoni­ sche) zwischen den Bewohnern der beiden Planeten nicht aus­ geschlossen ist. Leopoldine, die die irdische Marsdepeschen146

Station bedient, und ein junger Marsianer, der das gleiche Amt auf seinem Planeten versieht, verlieben sich nämlich »auf Ent­ fernung« ineinander, und der Antrag des jungen Marsmannes wird von Leopoldine mit einem »freudigen Ja« beantwortet. Ihr Vater ist weniger begeistert; vor allen Dingen, seit er eine Fern­ photographie des jungen Mannes gesehen hat: »Der Professor konnte dem völlig haarlosen Kopfe ohne Spur auch eines Bar­ tes am Kinn, ferner dem zahnlosen Munde des Famulus keinen Geschmack abgewinnen; auch daß sein Schwiegersohn in spe, wie er in einer Depesche einst angegeben hatte, 6 m groß war, schien ihm ganz ungeheuerlich!« (S. 80) Doch da sich über den Geschmack eines jungen Mädchens von neunzehn Jahren nicht streiten läßt, gibt der Professor schließlich seine Zustim­ mung. Seine Gattin, Frau Tusnelda, reagiert bösartiger. Sie sieht in dem Antrag einen Versuch des dekadenten Marsgeschlechts, sein Blut zu regenerieren: »Dem degenerierten Marsge­ schlecht mochte eine Auffrischung des Blutes durch Einheiratung einer frischen Erdenmaid wohl frommen.« (S. 80) Das Ende des Romans von der Erde zum Mars ist offen und läßt den Leser auf eine Fortsetzung hoffen, in der die Reise von der Erde zum Mars Wirklichkeit wird. Tatsächlich veröffentlicht Schilling 1913 einen weiteren Marsroman: Fünf ]ahre auf dem Mars - diesmal ohne sich hinter einem Peudonym zu verstekken. Wie bei O. Hoffmann handelt es sich um eine »individuel­ le«, unfreiwillige Reise. Ein Astronom und Naturforscher Dr. phil. Ing. Julius de Terra wird durch die Kraft von drei Kilo Ra­ dium, die ihm die österreichische Regierung leihweise für Ex­ perimente zur Verfügung stellte, auf den Mars geschleudert. Am Ende des Romans wird freilich der ganze Marsaufenthalt als Fieberdelirium dargestellt, und der Gelehrte erwacht nach lan­ ger Krankheit in seinem Bett! W. Schilling ist also vorsichtig ge­ blieben, was eine interplanetarische Reise betrifft. Übrigens trägt dieser Marsroman den Untertitel »ein phantastischer Ro­ man«, das Beiwort »naturwissenschaftlich«, das den Roman von 1907 noch charakterisierte, ist weggefallen. Die Verhältnisse auf dem Mars, wie sie Schilling in dem Ro­ man von 1913 beschreibt, unterscheiden sich von denen in sei­ nem Roman Von der Erde zum Mars - allerdings nicht in den 147

wichtigsten Punkten. War der Mars in dem ersten Roman eine allmählich erkaltende Welt, so haben wir nun, sechs Jahre spä­ ter, einen toten, fast völlig vereisten Planeten vor uns. »Grabesstimmung! Eiseskälte! So weit das Auge reicht, nichts als Eisschollen und Felder im schneeglitzernden, wilden Chaos; die ganze Natur eine romantische Eiswüste.« (S. 27) Die üppige Vegetation des Planeten ist verschwunden, es gibt nicht einmal mehr Flechten und Moose. Die Fauna beschränkt sich auf eini­ ge fleischfressende Tiere, wie man sie in unseren Polargegenden findet. Die einst so blühenden Städte liegen in Ruinen und sind von ewigem Schnee bedeckt, übriggeblieben sind nur noch ungefähr zehntausend Marsriesen, und diese zehren von den »Geistesfrüchten ihrer Ureltern, die auf allen Gebieten des praktischen Lebens sowie auch der Theorie und Wissenschaft auf höchster Kulturstufe gestanden haben«. (S. 47 f.) So besitzen die Marsianer eine hochentwickelte Luftschiff­ fahrt, verwenden das Helium und das Radium als Energiequel­ len und verfügen über ein Observatorium, das so perfektioniert ist, daß der Erzähler beobachten kann, wie seine Mutter in ihrer Berliner Villa die Familienbibel liest! Die Marsianer gleichen denen in Schillings erstem Roman, sie sind nur um einen Meter gewachsen, also jetzt sieben Meter groß, ansonsten unbehaart und wegen der Nahrungspillen, die sie schon seit Jahrtausenden schlucken, zahnlos. Ein Novum: ihre Nase ist schwarz. Das verhindert, wie der irdische Astro­ nom bald bemerkt, daß sie in der gleißenden Schneewüste schneeblind werden. Nach einiger Zeit sieht er sich gezwun­ gen, sich der Umwelt anzupassen. Er schwärzt sich also jeden Morgen seine Nase mit Schuhcreme! Auch dieser Roman ist mit leichter Feder geschrieben. Es kommt zu allerlei komischen Situationen. So scheint zunächst das Problem der Ernährung unseres Erdenbürgers unlösbar zu sein. Die kartoffelgroßen Nahrungspillen der Marsianer sind für ihn wegen ihrer Härte ungenießbar. Drei Tage nimmt er nur den köstlichen Marswein zu sich (»den die Nahrungschemiker ohne Zutun von Trauben vorzüglich zu keltern verstanden«), am vierten Tag bricht er ermattet zu Füßen der Riesen zusam­ men. Aber man findet eine Lösung, eine »jugendfrische, üppige 148

Riesin« wird ihn täglich an ihre Brust legen. Bald hat aber unser Gelehrter von dieser etwas eintönigen Ammennahrung genug, und auch die Liebesgeschichte mit einer Marszwergin kann ihn nicht mit dem Leben auf dem Mars versöhnen. So beschließt er, auf seinen Heimatplaneten zurückzukehren und findet sich, wir sagten es schon, plötzlich in seinem Bett wieder!

Kapitalistische Seehunde: Emilio Salgari, Le meraviglie del duemila, 1907

Der Italiener Emilio Salgari (1862-1911) veröffentlichte 1907 ei­ nen wissenschaftlich-utopischen Roman Le meraviglie del duemila (Die Wunder des Jahres zweitausend). Die Zeitreise, die dort zwei junge Leute, ein Arzt und sein reicher amerikani­ scher Freund, unternehmen, erfolgt nicht wie bei H.G. Wells mit einer Zeitmaschine, auch nicht, wie in Edward Bellamys so­ zialutopischem Roman Looking Backward 2000-1887 durch magnetischen Tiefschlaf, sondern mittels eines Hibernations­ serums, das die beiden Freunde im Jahre 1900 in einen Kälte­ schlaf versetzt. Über ein Jahrhundert später werden sie dann von einem Nachfahren des Arztes aus ihrem Kälteschlaf geholt. So werden sie Zeugen all der technischen Wunder, die um das Jahr zweitausend auf unserem Planeten keinen mehr in Erstau­ nen setzen. Riesenteleskope erlauben es z. B., den Mond bis auf einen Meter (!!!) und den Mars auf dreihundert Meter Entfer­ nung unserem Auge nahezubringen, so daß man von der Erde aus die geringsten Details auf diesen Himmelskörpern beob­ achten kann. Die Freunde erfahren, daß man bereits 1940 von der Erde aus Feuerstreifen auf dem Mars beobachtet hat, die man als Signale vernunftbegabter Wesen interpretierte. Die Menschen versuchten sie zu beantworten, indem sie zwei­ hunderttausend Fackelträger so aufstellten, daß der Buchstabe J geformt wurde, genau das Zeichen, das man auf dem Mars be­ obachtet hatte. Allmählich entwickelt sich zwischen den Pla­ neten ein komplizierter Informationsaustausch. Auf der Erde errichtet man einen vierhundert Meter hohen stählernen 149

Turm, der als Telegraphiestation dienen soll. (Vergessen wir nicht, daß Italien nicht nur die Heimat Schiaparellis sondern auch Marconis ist!) Mit einem Spezialalphabet, das die Erdbe­ wohner ausgearbeitet haben und das die Marsianer nach zwei Jahren völlig beherrschen, kann man zwischen den beiden Pla­ neten durch Radiowellen alle wichtigen Informationen aus­ tauschen. Auf diese Weise ist man über das Marsleben aufs ge­ nauste unterrichtet. Das Leben auf dem Planeten ist so ähnlich, wie es Schiaparelli und Lowell beschrieben haben, was die Weitsicht dieser Astronomen zu bestätigen scheint! Mars ist ein absterbender, erkaltender Planet, auf dem das Wasser knapp wird. Die Meere bedecken weniger als die Hälfte der Oberflä­ che, aber das Problem der Wasserversorgung ist zunächst durch die Kanäle, von denen manche über hundert Kilometer lang sind, gelöst worden. Bei der äußerlichen Beschreibung der Marsianer scheint Georges Du Maurier Pate gestanden zu ha­ ben. Sie sind nämlich Amphibien, die Seehunden gleichen. Ihre kurzen Armstummel enden in sechs Fingern, und sie be­ sitzen flossenförmige Füße. Der Kopf dieser Wesen ist viermal größer als ein menschlicher Kopf, sie haben also aller Voraus­ sicht nach ein stark entwickeltes Gehirn und demzufolge eine hohe Intelligenz. Die physischen Besonderheiten ändern allerdings nichts dar­ an, daß diese intelligenten Marsseehunde sozial ähnlich wie die Zeitreisenden aus dem Jahre 1900 in einer kapitalistischen Ge­ sellschaft leben, in der es Lohnarbeiter und Arbeitgeber wie auf der Erde gibt. Ja, die Ähnlichkeit geht noch weiter. So wohnt der Leser z. B. einem Direktgespräch zwischen einem Mars­ fischhändler und einem Erdenbürger bei, in dem der Marsianer die Qualität seiner in den Kanälen gefangenen Marsaale lobt! Die Wissenschaftler beider Planeten haben sich ernsthaft mit dem Problem interplanetarischer Reisen beschäftigt. Daß Salgaris Roman in der Reihe der Marsgeschichten steht, in denen der irdische Expansionstrieb auf den Mars ausgedehnt wird, zeigt die Tatsache, daß die Menschen eine Einwanderung auf den schwachbesiedelten Mars in Betracht ziehen, denn die Erde mit ihren 2,2 Milliarden Bewohnern (die Hälfte der heuti­ gen Bevölkerung) erscheint ihnen übervölkert. Dem Leser wird 150

nur nicht recht klar, welches Interesse die Marsianer an einer solchen irdischen Immigrationswelle haben könnten.

Der rote Mars ist wirklich rot: Aleksandr Bogdanov, Krasnaja zvezda, 1908

Handelt es sich bei Salgari um eine konservative Utopie, so kann man den ein Jahr später erschienen Roman Krasnaja zvez­ da des Russen Aleksandr Bogdanov (eigentlich Aleksandr Malinovskij, 1873-1928) als revolutionäre Utopie bezeichnen (deutsch: Der rote Stern, 1972 *). Bogdanov war von Lenin, den er persönlich gekannt hatte und mit dem er sogar Lowells Marstheorien diskutiert haben soll, zur Niederschrift seines Romans ermutigt worden. Lenin hatte sehr richtig erkannt, daß sich utopische Romane hervorragend zur Propagierung kom­ munistischer Ideen eignen. Daß Lenin den Roman dann nach seinem Erscheinen sehr kritisch beurteilte, lag wohl daran, daß Bogdanov ihn eben nicht »linientreu« verfaßt hatte. Die Handlung des Roten Sterns wird in Form von Aufzeich­ nungen eines unmittelbaren Zeugen des Geschehens, Leonid, dargestellt, die später durch Mittelspersonen zur Veröffentli­ chung gelangen. Handlungsschauplatz ist zum Teil Rußland, zum Teil der Mars. Die Marsianer schicken in einem durch Atomkernspaltung angetriebenen »Aetheroneff« den Inge­ nieur mit einer Mannschaft auf die Erde. Er soll dort mit den re­ volutionären Kräften Verbindung aufnehmen. Der russische Intellektuelle Leonid wird dann von Menni auf den Mars mit­ genommen, damit er sich dort eine vorbildliche sozialistische Gesellschaft ansehen kann. Während der Reise erlernt er die Marssprache und liest ein Werk über die Geschichte des Mars und seiner Bewohner, die ihm problemloser erscheint als die irdische Geschichte: »Die Sklavenhalterei hatten die Marsbe­ wohner überhaupt nie gekannt, ihre Feudalzeit war im gerin­ gen Maßstab militaristisch gewesen, ihr Kapitalismus befreite

* Taschenbuchausgabe als HEYNE-BUCH Nr. 06/3403.

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sich frühzeitig vom nationalistisch-imperialistischen Charak­ * ter!« (S. 39) So erfolgten die Übergänge von einem System zum anderen auf friedliche Weise. Die Macht der Großgrundbesit ­ zer wurde gebrochen, indem man ihren Boden nationalisierte; als man die Produktionsmittel sozialisierte, wuchs der Kapita­ lismus ohne Klassenkämpfe in den Sozialismus hinüber. Die verschiedenen Dialekte der Marsbevölkerung verschmolzen allmählich zu einer einfachen, klaren Sprache, in der die gram­ matischen Regeln keine Ausnahmen mehr kennen! Die kleine Oberfläche des Planeten und das Fehlen von hohen Gebir­ ** gen und Ozeanen hat sich positiv auf die Vereinigung aller Marsbewohner ausgewirkt. »Die Natur hat zwischen unseren Völkern weit weniger Mauern und Scheidewände aufgerichtet als bei Euch«, erklärt Menni z. B. Leonid. (op. cit., S. 40) Auf dem Mars angelangt, fällt Leonid zunächst die rote Farbe der Marsvegetation auf. Als man ihm vorschlägt, gegen diese rote Pracht zunächst eine Schutzbrille zu tragen, lehnt Leonid das Anerbieten energisch ab: »Diese Farbe trägt auch unsere sozialistische Fahne. Ich muß daher mit ihrer sozialistischen Natur vertraut werden.« (S. 45) Leonid kann sich auch davon überzeugen, daß die Marska­ näle existieren, sie sind aber keineswegs so gigantisch, wie Lo­ well und andere Astronomen es angenommen haben. Was von der Erde aus als Kanäle erscheint, sind die riesigen Waldstreifen, die sie säumen und die das Verdunsten des Wassers verhindern sollen. Leonid unternimmt eine Reise über den Planeten, die ihm zeigen soll, wie dieser sozialistische Marsstaat, der sich durch eine hochentwickelte Technologie auszeichnet (Ver­ wendung der Atomenergie, verstärkte Automatisation) funk­ tioniert. Die Marsmenschen arbeiten im Durchschnitt nur zwei bis drei Stunden pro Tag, freiwillig kann man allerdings auch

* Zitiert nach der Heyne-Taschenbuchausgabe. ** Erst Satellitenaufnahmen, vor allem durch Mariner 9 im Jahre 1971/72, zeigten, daß der Mars sehr wohl über hohe Gebirge verfügt. Es finden sich dort sogar die höchsten bisher entdeckten Erhebungen im Sonnensy­ stem, wie der Vulkan Olympus Mars mit ca. 25000 Metern Höhe. Siehe dazu weiter unten S. 305. 152

länger arbeiten. Ist jemand mit seiner Arbeit nicht zufrieden, so darf er eine andere Berufsausbildung beginnen. Bei der Besich­ tigung eines Krankenhauses ist Leonid erstaunt, daß es auch ei­ nen Saal gibt, in dem Selbstmordkandidaten das Sterben erleich­ tert wird. Auf seine Frage, ob es auf dem Mars viele Selbstmör­ der gebe, antwortet ihm der Arzt Netti: »Ja, besonders unter al­ ten Leuten. Wenn sich das Gefühl des Lebens abstumpft und schwächer wird, ziehen es viele vor, nicht das natürliche Ende abzuwarten.« (S. 71) Später, als Leonid auf eigene Faust Nachforschungen anstellt, merkt er, daß auch auf dem Mars nicht alles so ideal ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. So war in den letzten Jahren die Erde Zankapfel zweier Marsparteien. Auf dem Mars ist nämlich das radioaktive Material, das die Marstechnik verwendet, im­ mer knapper geworden, und ein Teil derMarsianer hatte eine Kolonisation der Erde in Erwägung gezogen. Sterni, der Führer der radikalen Anhänger dieser Kolonisationspolitik, forderte so­ gar die völlige Ausrottung der Menschen, die seiner Meinung nach ihren Planeten nicht freiwillig hergeben würden. Diese Ausrottung beträfe dann auch die sozialistische Avantgarde, denn Kompromisse sind immer gefährliche Halbheiten. Aber die gegnerische Marspartei, die auf brüderliche Zusammenar­ beit mit den Menschen hofft, hat schließlich die Überhand gewonnen. Allerdings wollen ihre Anhänger die Menschen zu­ nächst auf diesen Bund vorbereiten. Mennis Reise zur Erde und Leonids Besuch auf dem Mars gehören zu dieser vorbereiten­ den Arbeit. Doch ist Leonid so entsetzt über Sternis Pläne, daß er diesen tötet. Daraufhin schicken ihn dieMarsianeraufdieErdezurück. Dort angekommen, beobachtet Leonid zunächst weiter die revolutionären Kämpfe seiner Landsleute und versucht dann, ungeduldig geworden, durch einen Putsch den Sieg des Pro­ letariats zu beschleunigen, wobei er schwer verwundet wird. Da taucht plötzlich seine Marsfreundin auf, und beide ver­ schwinden spurlos. Die letzten Kapitel von Bogdanovs Roman, die wieder auf der Erde spielen, sind etwas verworren und erlauben es sogar, die ganze Marsreise Leonids vom Schluß her als Halluzination eines 153

kranken Menschen zu deuten. Aber wenn Bogdanovs Roman, der ja unter anderem zur Propagierung der kommunistischen Ideologie geschrieben wurde, von seinen Gesinnungsgenossen recht mißtrauisch betrachtet wurde, so lag das wohl weniger an diesem unklaren Schluß, sondern eher an Bogdanovs nicht ge­ rade orthodoxer Ideologie. Sein Ideal von einem friedlichen Hineinwachsen in den Kommunismus, das er auf den Mars ver­ legt, mußte am Klassenkampf orientierten Kommunisten ver­ dächtig erscheinen. Noch verdächtiger war ihnen dann die Fortsetzung des Roten Sterns, die Bogdanov 1913 unter dem Titel Inzener Menni (Ingenieur Menni) veröffentlichte. In die­ sem Roman entfernt sich Bogdanov noch weiter von den Theo­ rien des revolutionären Marxismus, indem er eine sozialistische Gesellschaft beschreibt, die auf der Erde entstanden ist, in der aber nicht, wie erwartet, die Gewalt in den Händen des Prole­ tariats liegt, sondern von einer progressiven Technokratie aus­ geübt wird.

Sterbende Marsmumien: H. Gayar, Aventures merveilleuses de Serge Myrandhal, 1908

Im Jahre 1908 erscheinen in Frankreich gleich zwei große Mars­ romane. Noch dazu zwei Romane, die sich auf verdächtige Weise gleichen, ohne daß es den Literaturwissenschaftlern bis jetzt gelungen ist festzustellen, welcher Schriftsteller bei seinem Kollegen Anleihen gemacht hat: Aventures merveilleuses de Serge Myrandhal (Die wunderbaren Abenteuer des Serge My­ randhal), Band 1 : Sur la planète Mars, Band 2: Les Robinsons de la planète Mars von H. Gayar (gest. 1937) sind nur zwei Wo­ chen vor dem Roman von Gustave Le Rouge erschienen, auf den wir im folgenden Kapitel eingehen werden. Was Gayars Roman betrifft, so sind die Helden ein französi­ scher Ingenieur, Serge Myrandhal, die amerikanische Journali­ stin Annabella Carpenter (später seine Ehefrau) und ein Eng­ länder, der »excentric-man« Sir Washington Pickman. Myrand­ hal ist es gelungen, psychische Energie in mechanische Kraft zu 154

verwandeln. Er will die von menschlichen »Batterien« gelieferte Energie speichern und dann für eine interplanetarische Reise verwenden. Das Reiseziel ist selbstverständlich unser roter Nachbar. Die Idee, psychische Kräfte für kosmische Reisen zu verwen­ den, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts gar nicht so abwegig. Bereits Flammarion hatte immer wieder versucht, von der ma­ teriellen Realität zur spirituellen »Realität« überzugehen, von der er annahm, daß auch sie sich eines Tages wissenschaftlich feststellen ließe. Im gleichen Jahr, in dem Gayars Roman er­ schien, schlug ein anderer Franzose, Jean de La Hire (1877 bis 1956), in einem interplanetarischen Roman La roue fulgurante (Das feurige Rad) die schon von Flammarion propagierte Me­ thode der Seelenwanderung als Reisemittel vor. Serge Myrandhal baut sich also ein Fahrzeug, das mit menschlicher Energie funktioniert, den »Psychoscaphe«, d. h. vorsichtigerweise baut er gleich zwei Modelle, Velox I und Ve­ lox II. Um die Apparate aufzuladen, reist er nach Indien, denn dort besitzen die Fakire noch die Gabe geistiger Konzentration, die uns Europäern abhanden gekommen ist. Ein Maharadscha bietet sich freundlicherweise an, ihm eine Armee von Fakiren zur Verfügung zu stellen. Die Handlung kompliziert sich, als sich der Sohn des Maharadschas in Annabella verliebt, die My­ randhal nicht nur aus journalistischem, sondern auch aus pri­ vatem Interesse nachgereist ist. Sir Washington Pickman ist ebenfalls den Spuren des französischen Ingenieurs gefolgt, denn er hat allerlei ehrgeizige Pläne mit dem Mars. Zwischen ihm und Myrandhal entspinnt sich folgendes Gespräch: »Wenn Sie einmal oben sind, wem wird dann der Planet ge­ hören? Ihnen oder dem Maharadscha?« »Mein Gott«, sagte Serge und lächelte, »daran haben wir bis jetzt noch gar nicht gedacht. Übrigens wird der Mars wahr­ scheinlich bewohnt sein. Die Frage ist also belanglos.« »Überhaupt nicht!« schrie Sir Pickman zornig. »Sie irren sich, zum Teufel! Bewohnt oder nicht, Mars ist eine Kolonie, die man sich nicht entgehen lassen darf. Und wir Engländer, wir sind da, um die Sache in die Hand zu nehmen.« Und dann macht unser britischer Patriot konkretere Vor155

Schläge. Das Land soll Frankreich gehören, die Kanäle aber und die angrenzenden Gebiete der britischen Krone! Auch der Maharadscha hat seinen »Marsehrgeiz«. Besser ge­ sagt: er hat missionarische Absichten, denn er will seine eigene Religion und Zivilisation auf den Mars verpflanzen und »eine neue, verjüngte Rasse schaffen, die unsterblich ist, frei von Krankheit, Laster und Haß«. Als Myrandhal und Annabella hei­ raten und beschließen, ihre Hochzeitsreise auf den Mars zu machen, schreitet der Inder zur Tat und expediert Serge in der Hochzeitsnacht allein, ein geschlossen in der Velox I, in den Weltraum. Die beklagenswerte junge Amerikanerin ist also »Jungfrau und Witwe« zugleich, und der Sohn des Maharad­ schas glaubt, leichtes Spiel mit ihr zu haben. Doch muß er bald bemerken, daß er ihre typisch amerikanische Energie unter­ schätzt hat, denn es gelingt Annabella, den zweiten Apparat zu entwenden und zusammen mit Sir Pickman den Mars zu errei­ chen, wo sie ihren frischgebackenen Ehemann endlich in die Arme schließen kann. Mit diesem rührenden Wiedersehen schließt der erste Teil des Romans; im zweiten werden uns dann die Abenteuer der drei »Robinsone« auf dem roten Pla­ neten erzählt. Sie passen sich rasch den neuen Lebensbedingungen an. Die Luft ist atembar, die Temperaturen zwar niedriger als auf der Erde, aber durchaus erträglich. Die ausgedehnten Wüstenge­ genden mit einer spärlichen roten Vegetation lassen zunächst kein höherentwickeltes Leben vermuten. Aber bald stellt sich heraus, daß doch Leben existiert, allerdings verborgen in den Tiefen des Marsbodens. Eines Tages hat Sir Pickman nämlich ei­ nen Unfall, er und sein Hund werden buchstäblich »vom Boden verschluckt«. Glücklicherweise kann er durch ein Spezialtele­ phon, das ebenfalls mit psychischer Energie aufgeladen ist, mit seinen Freunden in Verbindung treten und ihnen mitteilen, daß er Gefangener eines unterirdischen Völkchens von häßli­ chem Aussehen und primitiver Intelligenz ist. Diese unterirdi­ schen Marsianer, die Houä, haben keine artikulierte Sprache, sondern verständigen sich wie die Affen durch Schreie. Sir Pick­ man entkommt ihnen und kehrt nicht nur mit seinem Hund zu­ rück, sondern wird von einem dieser unterirdischen Marsianer 156

begleitet, der sein Diener geworden ist: »Ein grotesker Zwerg mit riesigem Kopf und ebenso riesigen Füßen, eine Art Anthro­ poid, dessen Körper mit rötlich-gekräuseltem Haar bedeckt war und der um seine Lenden eine noch blutige Fischhaut trägt.« Beachten wir, daß selbst dieser primitive Marsianer »an­ ständig« gekleidet ist! Pickman hat in Erfahrung bringen können, daß es neben den Wüstengebieten auch fruchtbare Oasen mit einer üppigen Ve­ getation gibt und daß in fernen Zeiten die Houä von einer hö­ herentwickelten, geflügelten Rasse besiegt und unter die Erde vertrieben wurden. Die Reise wird auf dem Wasserweg fortge­ setzt, und nachdem man eine riesige Meerschlange, die fast das Schiff zerstört hätte, getötet hat, entdeckt man eine paradiesi­ sche Gegend: eine tropische Natur, Riesenbäume mit rotem und gelbem Blattwerk, Tausende von Vögeln, die unsere Rei­ senden mit ihrem Gesang bezaubern. In dieser feenhaften Ge­ gend erhebt sich eine prächtige Stadt aus Marmor und Edelstei­ nen, die aber leer und verödet scheint. In einem Mausoleum entdecken die drei Abenteurer riesige Kristalleier, in denen menschenähnliche Körper eingeschlossen sind, die fast leben­ dig aussehen. Es handelt sich um die Mumien der Zoa, einer hochentwickelten Marsrasse, die kaum etwas mit der primiti­ ven Rasse der Houä zu tun hat: »Die Marsmumien waren etwas größer als Menschen, die Stirn hochgewölbt, die Züge regel­ mäßig. Die Feinheit ihrer Gliedmaßen bewies, daß es sich um eine hochintelligente, raffinierte Rasse handelte, die längst das Stadium einer früheren Bestialität überwunden hat.« Aber diese Mumien sind nur die ersten Exemplare dieser sich stetig ver­ feinernden Rasse. Das Mausoleum erweist sich gleichzeitig als eine Art »Naturkundemuseum«, und beim Durchschreiten der Säle wohnen die Besucher der Entwicklung der Marsrasse durch die Jahrtausende bei. Die Körper werden immer länger und zarter, die Gehirne immer größer. Die letzten Vertreter dieser Rasse sind von übermenschlicher, fast unkörperlicher Schönheit und sehen lebendiger aus als die anderen Mumien. Und tatsächlich erwachen diese engelhaften Geschöpfe am Ende des Romans, und die Fortsetzung der Marsabenteuer soll in dem folgenden Band beschrieben werden. Allerdings wird 157

der neugierige Leser dann doch betrogen, denn H. Gayar hat seinen dritten Band nie verfaßt. Er hat nur versucht, den zwei­ ten Band 1927 für eine Neuausgabe umzuschreiben, indem er die letzten Zoa sterben und die drei Robinsone auf die Erde zu­ rückkehren läßt. Für diesen etwas abrupten Schluß hat es sich natürlich nicht gelohnt, die Marsmumien 1908 aufzuwecken!

Vampirismus auf dem Mars: Gustave Le Rouge, Le Prisonnier de la planete Mars, 1908, und La Guerre des Vampires, 1909

Der bereits erwähnte Roman von Gustave Le Rouge (1867-1938) besteht ebenfalls aus zwei Teilen. Der erste Teil, Le Prisonnier de la planete Mars (Der Gefangene des Planeten Mars) erschien 1908, die Fortsetzung, La Guerre des Vampires, (Der Krieg der Vampire) wurde 1909 herausgegeben. Übrigenserschienen die beiden Bände 1976 in Frankreich in einer preiswerten Taschen­ buchausgabe. Die Parallelen mit dem Roman von H. Gayar sind besonders auffällig im ersten Teil, vor der eigentlichen Marslandung. Bei der Beschreibung des Marslebens erweist sich Le Rouge als ein­ fallsreicher und phantasievoller als sein Landsmann, abgesehen davon, daß er auch der bessere Schriftsteller ist. Wir wollen also dem ersten Teil weniger Aufmerksamkeit widmen und uns auch nicht auf die Debatte einlassen, wer sich bei wem inspiriert hat (die Ähnlichkeit ist zu groß, als daß es sich um einen bloßen Zufall handeln könnte). Der französische Ingenieur Robert Darvel, Freund des Zoo­ logen und Präparators Ralph Pitcher und Verlobter von Alberte Teramond, der Tochter eines Milliardärs, hat einen Apparat er­ funden, der die menschliche Willenskraft konzentrieren und speichern kann. Er nimmt Kontakt mit dem Brahmanen Ardavenna, dem Vorsteher eines indischen Klosters, auf und folgt dessen Einladung. Aber der »böse« Inder will den Apparat sei­ nen Plänen dienstbar machen, sperrt den jungen Mann, ohne ihn um seine Meinung zu fragen, in die »eiserne Olive« ein und 158

Titelblatt zu Gustave Le Rouges Titelblatt zu Gustave Le Rouges Der Gefangene des Planeten Mars Der Krieg der Vampire

schickt ihn mit Hilfe der Fakir-Energie auf den Mars. Er hat sogar die Geschwindigkeit des Apparates genau berechnet: zwar rei­ sen die Gedanken nur halb so schnell wie das Licht, legen aber immerhin noch 150000 km pro Sekunde zurück! Und dann beginnt der zweite, interessantere Teil des Ro­ mans. Während Gayar uns nur zwei Arten von Marslebewesen vorgestellt hat, noch dazu recht konventionelle Arten, erleben wir bei Le Rouge geradezu eine biologische Explosion. Alle sei­ ne Phantasmen finden auf dem Mars ihren Platz, und man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß kein anderer Schriftsteller vor ihm bei der Erschaffung der Marswelt so viel Phantasie hat walten lassen. Zunächst findet Robert Darvel auf dem Mars eine Welt vor, die der irdischen ähnlich sieht: Meere, Festland, Wälder (nur von roter oder gelber Farbe), Tiere und Vögel. Erst als die bei­ den Monde aufgehen, versteht er, daß er sich auf dem Mars be­ findet. Dann entdeckt er ein Marsdorf, dessen Bewohner zwar etwas primitiv, aber doch menschenähnlich aussehen. Diese 159

Ankunft auf dem Mars: die Kanäle

Der Kampf mit den Erloors

»Lagunenmarsianer« sind klein, haben ein plattes Gesicht und einen vorstehenden Bauch. Sie befinden sich auf einer so nied­ rigen Entwicklungsstufe, daß ihnen der Gebrauch des Feuers noch unbekannt ist. Der Franzose »zivilisiert« sie mit einiger Ge­ duld und bringt ihnen sogar bei, Fleisch auf dem Feuer zu bra­ ten. Dieses harmlose Völkchen wird von einer höherentwickel­ ten Rasse terrorisiert, den Erloors, geflügelten Vampiren von halbmenschlichem Aussehen, die Darvel mit Hilfe des Feuers vertreibt, und von einer sechsfüßigen Reptilienart, den Roomboos, die scharfe Krallen und Stoßzähne haben und sowohl im Wasser als auch unter der Erde leben können, wo sie mit ihren Hauern tiefe Gräben schürfen. Nach verschiedenen Reisen auf den Marskanälen - es wird nicht gesagt, wer sie erbaut hat - wird Darvel von den geflügel­ ten Vampiren, den Erloors, gefangengenommen und in eine Grotte eingesperrt, aber seine kleinen Freunde, die Lagunen­ marsianer, befreien ihn, indem sie sich des Feuers bedienen. Auch die Roomboos, die den Erloors nicht wohlgesonnen sind, 160

beteiligen sich an dem Befreiungsversuch und graben einen Gang bis zu dem Gefangenen. Dann geht die Reise weiter, und man kommt in ein Gebiet, das von den Aerophyten, d. h. intel­ ligenten Pflanzenvampiren, beherrscht wird. Diese überfallen die Expedition und töten alle Mitglieder, indem sie ihnen das Blut aussaugen. Nur Darvel überlebt, d. h. er verliert das Be­ wußtsein und erwacht erst wieder in einem seltsamen Glas­ turm, der aus einer Vielzahl von wabenähnlichen Zellen be­ steht, in denen jeweils ein Gefäß mit Blut steht. Mehrere sol­ cher Glastürme erheben sich im Meer, sie sind untereinander durch gläserne Gänge verbunden. Von diesen Gängen aus kann Darvel die Meereswelt beobachten, vor allen Dingen die Unterwassermarsianer, die uns recht ähnlich sehen. Sie haben unter Wasser Häuser gebaut, beackern den Meeresboden und halten sich Haustiere. Aber die große Entdeckung unseres Hel­ den ist ein Opalhelm, der beim Aufsetzen gewisse Strahlen sichtbar macht. Nun kann Darvel endlich die Bewohner der Türme sehen, die dem normalen Blick verborgen bleiben. Es sind »leicht phosphoreszierende Wesen mit einem unförmi­ gen, abscheulichen Kopf zwischen zwei schmutziggrauen Flü­ geln«. Ihr Körper besteht aus einem Gewirr von Fangarmen und Saugnäpfen. Sie ernähren sich wahrscheinlich vom Blut der Erloors und der Lagunenmarsianer und besitzen keine artikulier­ te Sprache, sondern sind Telepathen. Ihre starke Willenskraft, die mit der beträchtlichen Größe ihres Gehirns zusammen­ hängt, verleiht ihnen hypnotische Fähigkeiten. Aber auch diese Lebewesen sind nicht die wirklichen Herren des Planeten, sie müssen einmal monatlich ihren Blutzoll ent­ richten gehen. Eine geheimnisvolle Kraft, die stärker als ihr Wille ist, zieht sie zur »Insel des Todes«, zu der auch Darvel, von Neugier getrieben, kommt. Er erblickt zunächst ein kreisförmi­ ges Gebirge, so hoch wie unser irdischer Mont Blanc,aber un­ gefähr dreimal so breit. Bald muß er feststellen, daß es sich um ein gigantisches, von einer opalenen Kruste umgebenes Gehirn handelt, das ständig mit dem Phosphor aus den Hirnen der ver­ schlungenen Vampire gespeist wird und mit der Elektrizität, die ein ganzer Wald von »Blitzableitern« an sich zieht. Dieses Riesenhirn ist der wahre Herr des Planeten, und es 161

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Der wahre Herr des Mars: Le Rouges Marshirn mit seinen gigantischen Blitzableitern

kann - auch auf große Entfernung - jedem seinen Willen auf­ zwingen. Darvel versucht, diese überdimensionale Intelligenz zu vernichten, indem er die Anschlüsse, die von den Blitzablei­ tern zum Gehirn führen, zerstört. Die dabei freiwerdende Elek­ trizität verwendet er, um Morsezeichen zur Erde zu senden. Sein Freund, der polnische Astronom Bolinski, empfängt sie und erfährt auf diese Weise von den Marsabenteuern seines Freundes. Aber Darvel hat die Fähigkeit des Marshirnes unter­ schätzt. Es kann nämlich auch ohne Elektrizität arbeiten und zerstört zunächst Darvels Anlage, dann befreit es den Planeten von dem »Fremdkörper«, indem es die Vampire zwingt, den jungen Mann in eine Raumkapsel einzuschließen und in einen gerade ausbrechenden Vulkan zu werfen. Dieser Vulkan leistet die gleiche Präzisionsarbeit, die schon ein Vulkan bei Georges Le Faure und Henri de Graffigny leistete. Er befördert Darvel nicht nur auf die Erde zurück, sondern läßt ihn direkt in der Villa seiner Verlobten Alberte landen, die dort allerlei wissenschaft­ liche Größen versammelt hat, die Darvel zu Hilfe kommen sol­ len. Die Raumkapsel tötet unglücklicherweise Bolinski und ei162

nen anderen Gast der Villa, aber Darvel ist gerettet und kann nun seine Marsabenteuer erzählen und seine Forschungen fortsetzen. Bald stellt sich heraus, daß mit ihm auch fünfzehn unsicht­ bare Vampire (ohne genaue Angabe ihres Transportmittels) auf die Erde gekommen sind. Ja, sie entführen sogar Darvels Ver­ lobte und wollen ihn durch diese »Geiselnahme« zwingen, ih­ nen in ihrem Befreiungskampf gegen das Marshirn beizuste­ hen. Doch kommen die Vampire dann bei einem Brand ums Leben, und das junge Paar kann nun endlich seinen Bund fürs Leben vor dem Altar besiegeln. Allerdings endet das Buch nicht mit diesem Happy-End, sondern mit einigen zweifelnden Fra­ gen: Sind wirklich alle Vampire bei dem Brand ums Leben ge­ kommen? Wird sich eventuell Nachschub einstellen? Werden nicht eines Tages die unsichtbaren Wesen von einem anderen Planeten zu einer ernsten Gefahr für die Erde werden? Das wäre in großen Zügen die Handlung des Romans, die bis zum Ende spannend und dramatisch abläuft. Bei der Beschrei­ bung des Marslebens überrascht die bunte Vielfalt. Zwar erfin­ det Le Rouge, wenn man von den unsichtbaren Vampiren ab­ sieht, keine biologisch von uns völlig verschiedenen Lebens­ formen. Darvel stellt fest: »Die Natur weist in ihrem Plan eine gewisse Einförmigkeit auf. Die unendlichen Variationen ihrer Schöpfungen sind fast alle auf ein- und demselben Thema auf­ gebaut.« In der Art aber, wie Le Rouge die verschiedenen Ele­ mente kombiniert, sucht er seinesgleichen. Geschickt ist auch seine Methode, nie wirklich genaue Beschreibungen zu liefern, sondern es der Phantasie des Lesers zu überlassen, sich aus eini­ gen Elementen und Allusionen ein eigenes Bild zu schaffen. Desgleichen werden verschiedene Geheimnisse des Marsle­ bens nie wirklich gelüftet. Interessant ist auch die Tatsache, daß der Leser die Abenteuer nicht direkt auf dem Mars miterlebt, sondern sie indirekt aus dem Munde Darvels erfährt, als dieser wieder auf die Erde zurückgekehrt ist. Die Hauptidee des Romans aber bleibt der Einfall, daß ein gigantisches Hirn mit seinem Willen das gesamte Leben auf dem Planeten leitet und bestimmt. Dieses Thema von der Kraft des Willens durchzieht übrigens das ganze Marsabenteuer bei 163

Le Rouge, beginnend mit den Fakiren, deren Energie den Flug­ apparat auflädt, über die Vampire mit ihren hochentwickelten Gehirnen, die kraft ihres Willens die verschiedensten Helden­ taten vollbringen können, bis hin zu dem Herren des Planeten, dem Riesenhirn, von dem man annehmen kann, daß es sich um ein Amalgam der verschiedenen Vampirhirne handelt, das sich im Laufe einer langen Entwicklung gebildet hat. Wahrscheinlich hat. H.G. Wells mit seinen Ungeheuern, die fast ausschließlich Gehirne sind und sich vom Blut fremder We­ sen nähren, einen gewissen Einfluß auf Le Rouge ausgeübt. Beide Autoren beschäftigt das Problem, das sich aus einer fort­ schreitenden Entwicklung des Hirns ergibt, die von einer Ver­ kümmerung der übrigen Organe begleitet ist. Aber Le Rouge geht weiter als sein britischer Kollege, indem er es wagt, ein Gehirn zu erfinden, das so groß wie ein Gebirge ist und einem ganzen Planeten seinen Willen aufzwingt. Als 1909 der zweite Marsroman von Le Rouge erschien, wur­ de gleichzeitig ein neuer Roman von ihm angekündigt, L’Avenir du Cerveau (Die Zukunft des Cehirns). Leider ist dieser Ro­ man mit dem vielversprechenden Titel nie erschienen. Die Tradition des französischen Marsabenteuerromans wird in den folgenden Jahren kontinuierlich fortgesetzt, so z. B. in dem Marsroman Le mystere des XV (1911, Das Geheimnis der XV) von Jean de La Hire (1877-1956). La Hire hatte bereits 1908 einen ausgezeichneten kosmischen Abenteuerroman veröffentlicht La Roue fulgurante (Das feurige Rad), in dem eine ganze Samm­ lung extraterrestrischer Wesen zu finden ist: Saturnianer, Merkurianer, Venusianer - aber leider keine Marsianer! Diese Lücke wird nun durch einen Marsroman geschlossen. Bis jetzt überfielen entweder die Marsianer die Erde, oder die Menschen unternahmen kurze, meist individuelle Streifzüge auf den roten Planeten. Die große Marsexpedition, die G. P. Serviss schildert, kehrt nach vollendeter Mission sofort wieder auf die Erde zurück. La Hire entwickelt nun in seinem Roman die Idee einer systematischen Kolonisierung des Planeten, und diese Idee macht den sonst recht mittelmäßigen Text interes­ sant. 164

Natürlich geschieht in diesem Roman alles zum Ruhme Frankreichs! Wir schreiben das Jahr 1911, in dem die deutsch­ französischen Kolonialstreitigkeiten mit der Marokkokrise ihren Höhepunkt erreicht haben. Fast kann man sich fragen, ob es ein Zufall ist, daß J. de la Hires Roman noch einmal in einer veränderten Neuausgabe erschien - unter dem Titel: Le Secret des XII (Das Geheimnis der XII), und zwar im Jahre 1954, zu einem Zeitpunkt, als das französische Kolonialreich auseinan­ derbröckelte. Obgleich sich inzwischen die Vorstellungen von unserem roten Nachbarn erheblich geändert hatten, ist der Mars in La Hires Neufassung weiterhin ein Planet von irdischem Gepräge und erfüllt damit die wichtigste Bedingung für eine Kolonisation. Der Marsroman von J. de La Hire mit seiner ras­ sistischen und kolonialistischen Ideologie ist aufschlußreich für eine Haltung, die 1911 gang und gäbe war und auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch existierte. Zwischen den beiden Daten erstreckt sich eine Ära der Eroberungslust und der Verachtung des »anderen«.

Sieben Schwaben im Mars-Eldorado: Albert Daiber, Die Weltensegler. Drei )ahre auf dem Mars, 1910

Wenden wir uns nach diesen französischen Marsabenteuerro­ manen, die sich noch heute mit Vergnügen lesen lassen, wieder der deutschen Marsliteratur zu. Die humorvollen, manchmal sogar parodistisch anmutenden Marsromane von Waldemar Schilling sind innerhalb der deutschen Tradition eher eine Aus­ nahme als die Regel. Sehr seriös behandelt das Marsthema z. B. Carl G. Grunert (geb. 1865) in seiner Erzählung Der Marsspion (1908), in der sogar Percival Lowell und sein Assistent Lampland höchstpersönlich auftreten. Sie haben einen neuen Fotografen engagiert, der ihnen durch das Tragen einer schwarzen Stirn­ binde und Gummihandschuhen allmählich verdächtig wird. Auch sein Verhalten ist seltsam, und als Mr. Lampland dem kuriosen Mann eines Nachts nachstellt, entdeckt er sein wahres Gesicht: »Und dieses Gesicht zeigte, von keiner schwarzen 165

Stirnbinde mehr bedeckt, ein auf Erden nie geschautes Phäno­ men: er besaß - drei Augen, zwei, wie andere Menschenau­ gen, und das dritte, ein Scheitelauge, mitten auf der Stirn! Und jetzt, da tiefes Dunkel wieder den großen Raum erfüllte, leuch­ tete das dritte Auge in grünem Phosphoreszenzlichte.« Nach dieser Entdeckung verschwindet Mr. Ferrum spurlos, seine zu­ rückgelassenen Gummihandschuhe weisen einen 5. ausge­ stopften Finger auf! Auf der Sternwarte hat man jetzt alles ver­ standen: ein Marsspion wurde ausgeschickt, um die Tätigkeit Lowells zu überwachen und seine Arbeit zu sabotieren. Aber diese Erkenntnis kommt zu spät. Durch die Teleskope beobach­ tet man einen riesenhaften Schatten: ein gigantisches Flugzeug nähert sich unserer Erde! Und mit dieser aus dem Weltall auf uns zukommenden Bedrohung endet Grunerts Marserzäh­ lung. Ein anderer deutscher Schriftsteller, Albert Daiber, hat eine Reihe von Marsromanen geschrieben. Wir wählen einen dieser Romane. Die Weltensegler. Drei jahre auf dem Mars (Stuttgart, 1910) aus, um an ihm zu demonstrieren, wie Laßwitz’sches Ge­ dankengut in der deutschen Tradition des utopisch-naturwis­ senschaftlichen Romans, wenn auch verwässert und simplifi­ ziert, im 20. Jahrhundert weiterlebt. Daibers Roman ist auch aus einem anderen Grund interessant, nämlich als Beispiel für den deutschen »Regionalismus«. Während sich viele europäische Autoren darum bemühen, in ihren Marsromanen irdische So­ lidarität zu empfehlen (selbst wenn sich dann herausstellt, daß bei den Unternehmungen die Nation des Autors meist die füh­ rende Rolle spielt), so ist Daibers Roman nicht einfach ein Hohelied auf den deutschen Unternehmungsgeist, sondern auf den schwäbischen! Im Angesicht der Weiten des Weltalls er­ scheint das in jeder Hinsicht naiv. Aber diese Naivität verleiht dem Roman heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, ei­ nen gewissen Charme. Der Marsroman Die Weltensegler beginnt also auf schwäbi­ schem Boden. Ein Astronom, Professor Stiller, hat sich auf der Stuttgarter Bopserhöhe eine Privatsternwarte gebaut, um sei­ nen »alten, rötlich strahlenden Freund«, den Mars, zu beob­ achten. Die Fortschritte der Astronomie und die günstige Ent166

fernung Erde-Mars (nur 58 Millionen Kilometer), lassen ihn hoffen, seinen langgehegten Plan einer Marsreise verwirkli­ chen zu können. Das Vorhandensein der Kanäle ist ihm Garan­ tie dafür, daß ihn auf dem Mars intelligente Wesen empfangen werden. Subventionen der Tübinger Universität (!) ermögli­ chen den Bau eines Luftschiffes, das ein wenig antiquiert an­ mutet. Allerdings wird es elektrisch gesteuert, bei seiner Kon­ struktion wurde ein neues Metall, das Suevit verwendet, und der Ballon mit einem geheimnisvollen Gas, dem Argonauton, gefüllt. Die geplante Reise macht die Schwaben also zu den »wichtigsten und dank ihrer Intelligenz als Erbauer auch ange­ sehensten Persönlichkeiten nicht allein Groß-Stuttgarts, son­ dern der gesamten Welt«. (S. 20) Das Luftschiff startet auf dem Cannstätter Wasen und erhebt sich »unter den rauschenden Klängen des Stuttgarter Stadtmarsches« (S. 27) in die Luft. In der Gondel befinden sich sieben Schwaben, Vertreter der wichtig­ sten Wissenschaftszweige: neben Professor Stiller, dem Vater des Unternehmens, finden wir also einen Juristen, einen Philo­ sophen, einen Philologen, einen Nationalökonomen, einen Mediziner und einen Theologen. Nachdem die tote Mondlandschaft überflogen wurde, gerät der »Weltensegler« (das ist der Name des Luftschiffes) durch ei­ nen vorbeiziehenden Kometen in eine gefährliche - aus der Marsliteratur ja allzu bekannte - Situation. Dann nähert man sich dem Mars, und schon vom Luftschiff aus versetzt der Planet unsere Gelehrten in Begeisterung: »Richtig, da unten, nur wenige Kilometer vom Weltensegler entfernt, hob sich scharf und deutlich eine breite mächtige Wasserstraße ab, eine dunkelgrüne, subtropische Vegetation umrahmte den Flußlauf. Dazwischen eingestreut zeigten sich, vom warmen Sonnenschein übergossen, wohlbebaute Felder und Gärten. Eigenartige, von weitem blendend weiß erschei­ nende Bauten, bewiesen die Nähe belebter Wesen.« (S. 53) Kaum hat man die Strickleiter aus der Gondel herabgelassen, da werden die sieben Schwaben schon von Marsianern, besser gesagt von Marsmenschen, umringt: Professor Stiller begann nun, die ihn und seine Genossen umgebenden Menschen zu mustern. In der Tat, das waren 167

Menschen von Fleisch und Blut, die hier herumstanden und mit freundlichem Lächeln die Erdensöhne betrachteten. »Sauberer, größer und schöner als wir sind sie entschieden. Oder sollten wir am Ende gar zu den Göttern des Olymps und nicht nach dem Mars gekommen sein?« bemerkte Professor Hämmerle, nachdem er seine Brillengläser geputzt und die Brille auf die Nase gesetzt hatte. »Warum das?« fragte Professor Dubelmeier. »Eine Gesellschaft von Göttern scheinen mir diese Wesen hier zu sein. Sehen Sie nur einmal diese geradezu klassisch schönen Gesichter, diese prachtvollen Körperformen und die sie nur schwachwerhüllenden antiken Gewänder!« (S. 55) An Laßnitz erinnern auch die auffallend schönen Augen der Marsmenschen, die stark gegen Größe und Glanz der unsrigen abstechen: »Ein merkwürdiges Leuchten geht aus diesen Spie­ geln der Seele bei unsern Marsleuten hervor.« (S. 72) Die Verständigung scheitert zunächst daran, daß die Marsianer keine der modernen europäischen Sprachen und auch kein Griechisch oder Latein verstehen. Aber unsere irdischen Wissenschaftler erlernen allmählich »marsianisch«, was ihnen ermöglicht, die moralische Vollkommenheit ihrer Gastgeber in ihrem ganzen Ausmaß zu würdigen. »In dem Maße, wie die Herren im Verstehen ihrer Umge­ bung vorwärts schritten, wuchs auch ihre Bewunderung und Wertschätzung dieser in jeder Beziehung so hochstehenden Menschen. Immer mehr drängte sich ihnen die Überzeugung auf, daß die Masse der Marsbewohner, wenigstens die, deren Gäste sie waren, in idealster Weise als Menschen das erfüllte, was auf der Erde nur die Besten und Edelsten, also immer nur vereinzelte Individuen, leisteten. Was sie selbst vom Schönen, Wahren und Guten unten auf der Erde geträumt hatten, hier oben fanden siealles in die Wirk­ lichkeit umgesetzt; denn überall und in allem offenbarte sich ihnen die wunderbarste Harmonie, alles atmete Schönheit, Güte und Wahrhaftigkeit, und das ganze Leben trug den Stem­ pel vornehmer, ruhiger Tätigkeit.« (S. 79) Der Planet hat etwa 250 Millionen Einwohner, die um den Äquator herum angesiedelt sind. In diesem Gebiet findet sich 168

»Menschen von Fleisch und Blut.« Albert Daibers Marsmenschen 169

eine üppige Vegetation, die durch das Kanalnetz erhalten bleibt. Giftige Pflanzen oder gefährliche Tiere sind auf dem Mars unbekannt, »es war ein Eldorado, in das die Erdensöhne geraten waren«. Die Organisation der Marsgesellschaft wird von Daiber de­ tailliert beschrieben. Der Marsstaat ist ein großangelegtes, de­ mokratisches Gemeinwesen, »das nicht auf die Gewalt gestützt war, sondern ausschließlich durch den freien Willen des Volkes und durch das Band gemeinschaftlicher Interessen zusammen­ gehalten wurde« (S. 86). In diesem Staat gibt es weder Arme noch Reiche, das Geld als Zahlungsmittel ist verschwunden, die Lebensbedingungen sind für alle gleich. Die Gesetzgebung hat sich mit zunehmender Bildung und Urteilsfähigkeit vereinfacht und ist schließlich in dem fundamentalen Satz zusammenge­ faßt worden: »Tue nicht, was du nicht willst, daß dir getan wer­ de.« (S. 117) Die Bevölkerung des Mars scheidet sich in sieben Stämme, nämlich den Stamm der Weisen (Hüter des Gesetzes), der Hei­ tern (Maler, Bildhäüer, Komponisten), der Ernsten (Gelehrte aller Richtungen), der Frohmütigen (Musiker, Schauspieler), der Sorgenden (Acker- und Gartenbauer und Dienende), der Flinken (Vertreter von Handel und Verkehr) und den Stamm der Findigen (Industrielle). Die Zulassung zu einem Stamm er­ folgt allein durch Neigung und Nachweis der Fähigkeiten. Übertritte von einem Stamm zum anderen können auf Grund einer Prüfung jederzeit erfolgen. Allerdings besitzt auch diese ideale Gesellschaft ihre Außen­ seiter. Bei Streifzügen über den Planeten stoßen die irdischen Gelehrten auf kleine Kolonien von »Vergessenen«. So nennt man auf dem Mars die »Gesetzesübertreter« (das Wort »Verbre­ cher« existiert nicht). Sie werden vorübergehend oder dauernd von den Tafeln der Marsstämme gestrichen. Ihre Aufgabe ist unter anderem die Instandhaltung der Kanäle. Nachdem die Erdenbürger mit dem Marsleben vertraut ge­ macht worden sind, bittet man sie darum, den »Marsiten« Vor­ träge über ihren Heimatplaneten zu halten. Um Offenheit be­ müht, verschweigen die irdischen Wissenschaftler nicht die trü­ ben Erscheinungen auf der Erde, die ihnen in dieser idealen 170

Welt besonders deutlich geworden sind. Als aber die Mars­ menschen erfahren, daß auf der Erde »jeder Fortschritt, auch der kleinste, durch ein Meer von Tränen, von Blut und zertrüm­ merten Existenzen führt« (S. 99), beschließen sie, die wackeren Schwaben in ihre Heimat zurückzuschicken, damit sie sich dort dem »erhabenen Werke der Vervollkommnungsarbeit« wid­ men. Sie aber wollen von nun an jeglichen Verkehr mit den Bewohnern anderer Planeten verhindern: »Ihr seid die ersten und zugleich die letzten fremden Wesen, die von einem der fernen Kinder des Lichts zu uns gelangen durften (...). Im Inter­ esse unseres Volkes lehnen wir weitern Verkehr ab (...), denn wir haben keine Garantie dafür, daß nicht auch einmal Fremde zu uns gelangen könnten, die nicht auf der Höhe der Anschau­ ung stehen wie ihr und deren Benehmen bei längerem Aufent­ halte wahrscheinlich dann nur zu unerquicklichen Auseinan­ dersetzungen und schließlich zu einer gewaltsamen Entfer­ nung von hier führen müßte. Das wollen wir uns aber sparen.« (S. 100 f.) So naht also die Stunde des Abschieds. Als das Luftschiff start­ bereit ist, stellt sich heraus, daß Frommherz, der Theologe, ab­ trünnig wird. Er bringt es nicht über sich, das Marsparadies zu verlassen und in die engen, unaufrichtigen irdischen Verhält­ nisse zurückzukehren. Er will sich aber auf dem Mars nützlich machen und ein Wörterbuch verfertigen, daß es dem Mars­ menschen erlaubt, die »hervorragendsten heimischen Dichter und Denker« in der Originalsprache zu lesen. Nach einer sechsmonatigen, erschöpfenden Reise geht der »Weltensegler« auf einer Südseeinsel nieder, allerdings nicht auf einer beliebigen I nsel, sondern auf Matupi, einer deutschen Kolonie! Dort werden sie vom kaiserlichen Bezirkshauptmann, einem waschechten Schwaben, in Empfang genommen. Dann treten unsere Freunde die Rückreise in die Heimat an. In Stutt­ gart wird den würdigen Söhnen Schwabens ein triumphaler Empfang bereitet. Bei einem Bankett preist Professor Stiller in einer Rede die Vollkommenheiten des Marslebens. Er schließt seine Lobeshyme folgendermaßen: »Wie ein Märchen voll Schönheit, voll Zauber und strahlen­ den Lichtes wird jener Aufenthalt auf dem Planeten in unserer 171

Erinnerung weiterleben, solange wir atmen, und gäbe es eine Seelenwanderung nach fernen Sternen, so würde ich nichts sehnlicher wünschen, als dort oben wieder erwachen zu dür­ fen, wenn ich hienieden nicht mehr bin.« (S. 148) Allerdings hat diese Rede bei seinen schwäbischen Landsleu­ ten nicht den gewünschten Erfolg. Die meinen, daß es sich auch auf der Erde ganz gut leben lasse. Wozu also nach dem Mars rei­ sen? »Eine Fahrt wie die der sieben Schwaben sollte keine Nach­ ahmung mehr finden. Die früher so heitern Männer waren als offenkundige Menschenfeinde zurückgekehrt. Sie wären so­ mit besser im Lande geblieben. Das war die Ansicht vieler, die in später Nachtstunde von dem Bankette nach Hause gingen.« (S. 148) Ähnlich wie Laßwitz vertritt Daiber in seinem Roman die Idee, daß der rohe Kampf ums Dasein, der vielen für die Ent­ wicklung des Menschengeschlechts notwendig erscheint, nur ein Zeichen unserer Selbstsucht ist. Die wirkliche Vervoll­ kommnung des Menschen kann seiner Meinung nach nur auf einer »natürlichen« Moral beruhen, auf Nächstenliebe und Wahrheit. Seine Marsianer, die in physischer und ethischer Harmonie leben, sollen idealistisch-positives Vorbild sein. Seine Marsgesellschaft versinnbildlicht das, was er sich von einer zu­ künftigen irdischen Gesellschaft erhofft: »Mars bietet entschie­ den heute schon das, was den Geschlechtern auf der Erde viel­ leicht erst im Laufe der kommenden Jahrhunderte zuteil wer­ den wird.« (S. 91) Daiber zeigt in seinem Roman, daß die Marsianer den Erden­ bürgern bei dieser »Vervollkommnungsarbeit« nicht behilflich sein können und wollen. Deshalb finden wir auch in den letz­ ten Sätzen des Romans dieses leicht ironisch formulierte Plä­ doyer für ein »Bleibe im Lande und nähre dich redlich«. Auch diese Vorstellung, daß jede »Menschheit« ihren eigenen Weg gehen muß, finden wir bereits bei Laßwitz, aber Daiber spricht sie mit einer rührenden Naivität aus, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg noch problematischer geworden ist, als Laßwitz’ Optimismus Ende des 19. Jahrhunderts.

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Der letzte Marsianer: Friedrich Wilhelm Mader, Wunderwelten, 1911

Friedrich Wilhelm Mader (1866-1947) ist vor allen Dingen als Reiseschriftsteller (u. a. durch seine Afrikabücher) bekannt ge­ worden. Er hat aber auch naturwissenschaftlich-phantastische Literatur geschrieben, so z. B. den Roman Wunderwelten. Wie Lord Flitmore eine seltsame Reise zu den Planeten unternimmt und durch einen Kometen in die Fixsternwelt entführt wird (Stuttgart 1911). * Ähnlich wie in den Abenteuern eines russischen Gelehrten von Henri de Graffigny und Georges Le Faure ist in Maders Ro­ man der Aufenthalt auf dem Mars nur eine Station im Rahmen einer interplanetarischen Reise, die dann weiter zum Jupiter und Saturn führt und später, als ein Komet das Raumschiff er­ faßt, über unser Sonnensystem hinaus auf einen unbekannten, paradiesischen Planeten, der »Eden« genannt wird. Die Expe­ dition kehrt dann glücklich über die Sonne, am Merkur vorbei, zur Erde zurück. Diese interplanetarische Reise ist möglich ge­ worden, weil der Engländer Lord Flitmore entdeckt hat, daß es nicht nur eine Anziehungs-, sondern auch eine Abstoßungs­ kraft, die »Fliehkraft«, gibt. Lädt man einen Körper mit dieser durch Elektrizität erzeugten Kraft auf, so erhebt er sich in die Luft und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Lord Flitmore hat ein kugelförmiges »Weltschiff«, die »Sannah«, bauen lassen, mit der er eine Expedition in unser Sonnensystem wagen will. An seiner Expedition nehmen seine Gattin Mietje (eine gebür­ tige Burin), sein Diener John und drei Deutsche teil, darunter ein Astronom, Professor Schultze, dem vor allen Dingen die Aufgabe zukommt, belehrende astronomische Vorträge zu halten, die den unwissenden Diener John (und gleichzeitig den Leser) instruieren sollen. Zur Besatzung gehören auch drei Schimpansen! Die armen Tiere werden vor allen Dingen mitge* Eine Neuauflage des Romans bereitet derzeit der Heyne-Verlag vor: Friedrich Wilhelm Mader, Wunderwelten, mit einem Nachwort heraus­ gegeben von Dieter Hasseiblatt, BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LI­ TERATUR. 173

führt, um in ihren Drehkäfigen durch Rotation Elektrizität zu erzeugen. Hin und wieder verwendet man sie auch als »Ver­ suchskaninchen«, z. B. wenn es darum geht zu erkunden, ob die Atmosphäre eines Planeten atembar ist. Als die »Sannah« sich dem Mars nähert, fällt allen auf, daß keine Spur von den berühmten, umstrittenen Kanälen zu er­ blicken ist. Professor Schultze ist zutiefst enttäuscht: »Da hört sich ja alle Wissenschaft auf!« war das erste, was Schultze über­ rascht und enttäuscht ausrief: »Soll das wirklich der Mars sein? Wo sind denn die Kanäle, meine geliebten Kanäle, die ich so fleißig beobachtet und mit solcher Zärtlichkeit studiert habe, das Wunder, das Rätsel des Mars?« (S. 43) Der Lord hingegen triumphiert, denn er hat nie an die Exi­ stenz der Kanäle geglaubt, vor allen Dingen nicht wegen ihrer unvernünftigen Größenverhältnisse. Im übrigen entspricht aber die Marsoberfläche in manchem den Erwartungen der Reisenden: der Planet ist reliefarm, grö­ ßere Gebirge fehlen, um den Äquator herum erscheint das Land rötlichgelb, am Nordpol schimmern weiß die Eis- und Schneefelder, große Gebiete sind von Sümpfen bedeckt. Weniger vertraut mutet die Fauna des Planeten an. In der Nacht nach der Landung wird die Expedition von ungefähr drei Meter langen, armdicken Ringelwürmern überfallen. Als der Kampf mit dem weichen Gewimmel aussichtslos erscheint, tau­ chen als Retter in höchster Not reptilienartige, an urzeitliche Flugsaurier erinnernde Riesenvögel auf, die mit Mordgier unter dem Gewürm wüten. Bei einer Entdeckungsreise über den Planeten stellt sich her­ aus, daß die Vögel vierbeinig, die Säugetiere dreibeinig und die Insekten zweibeinig sind! Und die gesamte Fauna ist von Rie­ senformat. Die Bäume sind astlos, ihr Blattwerk entsprießt di­ rekt dem Stamm. Nach seiner Enttäuschung mit den Kanälen hat Professor Schultze auch seinen Glauben an die Existenz der Marsmen­ schen verloren. Aber bald wird er eines Besseren belehrt. Die Expedition gelangt nämlich in eine Totenstadt, wo in hohen, dreieckigen Türmen Marsmumien aufbewahrt werden. Diese Marsmenschen unterscheiden sich nicht wesentlich von ihren 174

irdischen Brüdern. Sie sind kleiner, schlanker und zierlicher. Der Hauptunterschied besteht in der seltsamen Form ihres Schädels. Über der Stirn befindet sich eine zweite Schädelkam­ mer, die ein »zweistöckiges« Gehirn vermuten läßt. Schließlich erblickt man, vor einem Haus sitzend, auch einen lebenden Marsbewohner, allerdings ein steinaltes Männlein. Trotz seines hohen Alters scheint der Marsgreis noch einen ausgezeichne­ ten Blick zu haben, denn er kann, wie die Reisenden feststellen, mit bloßem Auge die Erde erkennen! Wenn er genau einen Gegenstand fixiert, treten seine Augen aus ihren Höhlen her­ aus. Aber leider ist er, wie er durch Berühren seiner Ohren und trauriges Kopfschütteln auf alle Fragen zu verstehen gibt, stock­ taub. Mühsam verständigt man sich durch Zeichensprache und erfährt, daß der Alte der letzte Vertreter seines Volkes ist. Der Mars wird nämlich häufig von Katastrophen heimgesucht, die in verheerenden Erdbeben und riesigen Überschwemmungen bestehen, bei denen große Landstriche plötzlich vom Meer verschlungen werden. Bei dem letzten Ausbruch der Elemente sind außer dem Marsgreis alle anderen Marsianer ums Leben gekommen. Der »letzte Marsianer« warnt die Menschen vor ei­ ner neuen Katastrophe, lehnt es aber ab, mit ihnen zu fliehen. Lord Flitmore hält wenigstens mit seinem Fotoapparat das Bild dieses letzten Zeugen einer ausgestorbenen »Menschheit« fest, dann haben die Reisenden gerade noch Zeit, sich in ihr Raum­ schiff zu retten, bevor ein neues Erdbeben den Planeten heim­ sucht. Fluchtartig wird diese, dem Untergang geweihte Welt verlassen: »Flitmore schloß die Türe und ließ den Zentrifugal­ strom durch das Weltschiff strömen. Die Sannah erhob sich mit wachsender Geschwindigkeit, und, wie unsere Freunde sahen, gerade zu rechter Zeit; denn unter ihnen geriet das monderhellte Land auf einmal wieder in Bewegung. Ein besonders heftiger Erdstoß mußte es erschüttert haben; denn plötzlich kam von fernher eine haushohe, dunkle Woge: das Meer brauste heran und verschlang das schwanken­ de Land, so weit man sehen konnte, und mit ihm zweifellos den letzten Bewohner des Mars.« (S. 78) Den weiteren Reiseerlebnissen der Expedition wollen wir keine Aufmerksamkeit mehr schenken, wir begnügen uns mit 175

der Marsepisode, die uns einen Mars gezeigt hat, der ein Stief­ kind des Sonnensystems zu sein scheint, denn alle Naturgewal­ ten haben sich gegen ihn verschworen. Mader gibt im Anhang zu seinem Roman eine Bibliographie der verwendeten naturwissenschaftlichen und astronomischen Arbeiten und Artikel, unter anderem auch (wie er in seinem Vorwort schreibt), um sich vor den Kritikern zu verteidigen, die ihm zu viel Phantasie vorwerfen könnten: »Sollte einem oder dem anderen Kritiker einiges über die Grenzen des Wahr­ scheinlichen (natürlich nicht des »Möglichen«) hinauszugehen scheinen, so möge er sich aus den Nachweisen überzeugen, ob nicht die Wissenschaft selber die Phantasie stützt.« (S. VII) Neben Grunert, Mader und Schilling hat auch der deutsche Altmeister der Science Fiction, Hans Dominik (1872-1945), eine kleine Erzählung, Die Reise zum Mars im Jahrbuch Das Neue Universum (Bd. 29, 1912) veröffentlicht. * Sie soll hier nur ge­ nannt werden, weil Dominiks umfangreiche und thematisch weitgefächerte Zukunftsromane und populärwissenschaftliche Sachbücher selten Weltraumreisen zum Thema haben. Die ge­ nannte Marserzählung bringt nichts Neues, besser gesagt, sie liegt unter dem zeitgenössischen Niveau. Der Autor interessiert sich vor allen Dingen für das Problem des Transports, das bei ihm durch die in der Marsliteratur schon unzählige Male ver­ wendete Erfindung eines schwerkraftüberwindenden Mate­ rials gelöst wird. Die Beschreibung der Marswelt spricht dem damaligen Forschungsstand geradezu Hohn. Die Forscher lan­ den in einer gebirgigen Gegend mit Moosen, Farnen, Pilzen, Blumen und Bäumen und haben den Eindruck, einen »Nach­ mittag im Berner Oberland zu verbringen«. Nachdem sie einen Strauß marsianischer Gebirgsblumen gepflückt haben und ei­ nem Bären begegnet sind, treten sie die Rückreise an. Die Marspioniere sind keinem Marsianer begegnet, und das ist gut so, denn schon bei Beginn der Reise stand fest, daß die überbevölkerte Erde (wir sind im Jahr 2108) neue Kolonien im Weltraum braucht, und so ist ein unbewohnter, aber im übri* Sie liegt in Neuausgabe vor in: H. Dominik, Ein neues Paradies, 1977, hrsg. von Susanne Päch (HEYNE-BUCH Nr. 06/3562).

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gen mit der Erde identischer Mars das ideale Kolonisationsob­ jekt. Und nach der Erkundungsfahrt wird dann auch bald eine regelmäßige Erde-Mars-Linie eingerichtet. Die Kolonisation des Mars kann beginnen.

Ein skeptischer Abbé: Théophile Moreux, Le miroir sombre, 1911

Wenden wir uns wieder Frankreich zu. Im gleichen Jahr, in dem La Hires Marsabenteuerroman erscheint, veröffentlicht der Abbé Théophile Moreux (1867-1954), ein Astronom und wis­ senschaftlicher Popularisator, einen Marsroman unter dem Titel Le miroir sombre. L’énigme martienne (Der dunkle Spie­ gel. Das Rätsel des Mars). Die Abenteuer des Journalisten Julius Snow, die er dort erzählt, sollten in weiteren Bänden fortgesetzt werden, aber es erschien nur dieser erste Band. Man kann Th. Moreux nicht mit H. Gayar, Gustave Le Rouge oder Jean de La Hire vergleichen. Er ist in erster Linie ein Mann der Wissenschaft, der in seinen theoretischen Schriften der Hy­ pothese von einem höherentwickelten Marsleben eher skep­ tisch gegenüberstand. Zwar ist er in seinen Romanen etwas optimistischer und macht gewisse Zugeständnisse an die Erwar­ tung seiner potentiellen Leser, die damals nicht bereit waren, auf die Idee eines intelligenten Marslebens zu verzichten. Aber vorsichtigerweise schickt Moreux seine Helden nicht auf den Mars, sondern läßt sie den Planeten nur von der Erde aus beob­ achten. Kommen wir aber zur Geschichte des Dunklen Spiegels: Ein Franzose, Monsieur Algol, der in Amerika Millionär geworden ist, kauft eine Insel in den Antillen und baut dort ein Riesen­ teleskop, das in einen Felsen eingelassen wird (ähnlich wie Jules Verne es mit seiner Mondkanone machte). Der Journalist Julius Snow gewinnt das Vertrauen des Millionärs (wobei er allerdings seine journalistische Tätigkeit verschweigt) und wird auf der Insel angestellt. Auf diese Weise verschafft er sich alle Informa­ tionen über die geplanten Experimente. Mit Algols Teleskop ist 177

es möglich, auch die winzigsten Details auf unserem Nachbar­ planeten zu beobachten und zu fotografieren. Man sieht Ge­ birge und riesige Täler, aber keine Spur von Wasserläufen oder Kanälen. Die dünne Atmosphäre und die eisige Kälte hat die Entwicklung von Leben in den Höhen der Gebirge unmöglich gemacht, aber in den Tälern, die einst von Meeren bedeckt waren, bevor die klimatischen Veränderungen eintraten, hat sich eine Vegetation entwickelt, und dort haben die Marsianer auch Städte errichtet. Kurz vor Sonnenunterang hüllen dichte Nebelschwaden die Siedlungen in den Niederungen ein, und Algol vermutet, daß sie künstlicher Herkunft sind, d.h. daß es sich um einen Gasmantel handelt, der die Wärme bis zum nächsten Tag speichert. Algol hat auch einen Chemiker ange­ stellt, der mit seinem Spektroskop die dunklen Flecken analy­ siert, die über den ganzen Planeten verteilt sind. Er findet in ihnen reichlich Sauerstoff und vermutet, daß die Luftmassen wahrscheinlich aus riesigen Luftschächten aufsteigen, daß also auch unterirdische Städte, die mit künstlich hergestelltem Sauerstoff gespeist werden, auf dem Mars existieren. Aber die Helden des Romans geben sich nicht damit zufrie­ den, den Nachbarplaneten zu beobachten, sie versuchen auch, direkten Kontakt mit seinen Bewohnern aufzunehmen. Dem Chemiker Arensen gelingt es, ein neues Metall, das Martium, zu isolieren, das die magnetischen Wellen filtert, wenn man elek­ trischen Strom hindurchführt. So wird ein Apparat konstruiert, eben der »dunkle Spiegel«, der einem Radioteleskop gleicht und der die Nachrichten vom Mars auffangen soll. Tatsächlich werden Linien aufgezeichnet, die denen eines Seismographen ähneln. Allem Anschein nach wollen die Marsianer die Erde vor einem bevorstehenden großen Erdbeben warnen. Dieses Erd­ beben soll mit der Sonnenaktivität in Verbindung stehen, eine Idee, die unser Abbé Moreux auch in seinen theoretischen Schriften vertritt und nun durch die Marsianer zu popularisie­ ren versucht. Aber dramatische Ereignisse unterbrechen die Kontakte. Algol stirbt, ein Erdbeben verheert die Erde, die Insel, die vulkanischen Ursprungs ist, explodiert und wird von den Fluten überspült (wieder wird man an Jules Vernes »geheimnis­ volle Insel« in dem Roman L’lle mystérieuse erinnert). Julius 178

Snow kommt natürlich mit heiler Haut davon, denn wer sollte sonst all die Ereignisse erzählen? Der Leser aber fühlt sich am Ende des Romans etwas frustriert, denn er hat im Grunde ge­ nommen wenig über das Marsleben erfahren. Théophile Moreux hat versucht, in dem Roman Der dunkle Spiegel seine Skepsis in bezug auf die Lebensbedingungen auf dem Mars mit der Existenz höherentwickelter Lebensformen in Einklang zu bringen - damit letzten Endes doch Marsianer exi­ stieren. Daher seine »Überlebensvorschläge«: unterirdische Städte, künstlich erzeugter Sauerstoff, Gase, die Wärme spei­ chern. Wir sind weit entfernt von der phantastischen Marswelt eines Gustave Le Rouge oder eines H. Gayar mit ihren Wäldern, ihren Meeren, ihrer selbst für Menschen atembaren Atmo­ sphäre. Wahrscheinlich liegt die Schwäche des Dunklen Spie­ gels in der Tatsache, daß der Astronom Moreux es dem Schrift­ steller Moreux nicht erlaubt hat, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, sondern ihn zwang, sich an die vernünftigen Hypothe­ sen seiner Zeit zu halten.

Supermann auf dem Mars: Edgar Rice Burroughs’ Marszyklus, 1912-1964

Im allgemeinen kann man in den Jahren vor dem Ersten Welt­ krieg eine zunehmende Popularisierung des Marsthemas fest­ stellen, wobei die Marsromane in immer stärkerem Maße auf wissenschaftliche Glaubwürdigkeit verzichten und zu reinen Abenteuergeschichten werden. Die Hypothesen von Camille Flammarion und Percival Lowell haben sich mit den Jahren als verdächtig bzw. hinfällig erwiesen, auf diese Weise konnte sich aber die Phantasie wieder freier entfalten. H. Gayar und Gu­ stave Le Rouge haben bei den Abenteuerromanen den Ton an­ gegeben, der Amerikaner Edgar Rice Burroughs (1875-1950), heute vor allen Dingen bekannt als Vater des legendären Dschungelhelden Tarzan, hat ihre Tendenz fortgeführt und gleichzeitig eine Art Höhepunkt erreicht. Während die Fran­ zosen noch versuchen, ihren Romanen zumindest einen An179

strich von Wissenschaftlichkeit zu verleihen, verzichtet Bur­ roughs auch darauf. Er geht nur davon aus, daß der Mars ein be­ wohnter, allerdings im Absterben begriffener Planet ist, auf dem die Atmosphäre und das Wasser knapp geworden sind. Damit erschöpfen sich seine wissenschaftlichen Ansprüche,der Rest ist reines Abenteuer. Wir verdanken Burroughs, der seine Science Fiction-Romane zunächst unter dem Pseudonym Norman Bean veröffentlichte, einen elfbändigen Marszyklus, der sich fast über ein halbes Jahrhundert erstreckt, denn der letzte Band der Serie wurde erst 1964 posthum veröffentlicht. Der erste Band des Zyklus erschien 1912 im amerikanischen All Story Magazine unter dem Titel Under the Moons of Mars und wurde 1917 in veränderter und erweiterter Fassung unter dem Titel A Princess of Mars in Buchform herausgegeben (deutsch: Die Prinzessin vom Mars, 1972). * Wir wollen nur diesen ersten Band zusammenfassen, der zu den interessantesten des Zyklus gehört und gleichzeitig reprä­ sentativ für die folgenden Bände ist. In Under the Moons of Mars wird ein Captain John Carter von Rothäuten verfolgt (wir befinden uns im Amerika im Jahre 1866) und findet Zuflucht in einer Grotte, in deren Umkreis sich die Indianer nicht wagen. Dort verliert er das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kommt, bietet sich ihm ein unerwartetes Schauspiel. Er sieht nämlich im Mondlicht den eigenen Körper zu seinen Füßen liegen, und dieser, sein Astralleib, wird dann die Reise zum Mars machen, der sein Lieblingsplanet ist, das »Symbol des kühnen Kriegers«. Während also Gayar und Le Rouge für die Marsreise eine etwas windige pseudowissenschaftliche Erklärung liefern, handelt es sich bei Burroughs um eine reine Mystifikation. Carter behaup­ tet einfach, daß ihn der Mars anzieht wie ein Magnet den Eisen­ staub. Dieser Kraft zu widerstehen, wäre über seinen Willen gegangen. So schließt er einfach die Augen und streckt die Arme dem Symbol seiner Berufung entgegen. Ein Gefühl der Kälte und der vollkommenen Dunkelheit - das ist alles! Und * Die ersten vier Bände des Zyklus erschienen in einer deutschen Aus­ gabe 1972/73 im Williams Verlag, Alsdorf.

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dann erwacht Carter auf dem Mars - besser gesagt: auf Barsoom, denn das ist der eigentliche Name des Planeten. Er befin­ det sich in der Nähe eines von einer hohen Mauer umgebenen Gebäudes, das eine Art »Inkubationsbehälter« ist, denn in ihm werden die Eier der Marsianer ausgebrütet. Carter hat Gele­ genheit, einige der kleinen Kreaturen, die gerade ausschlüp­ fen, zu beobachten. Sie sind grün (endlich haben wir unsere grünen Männchen vom Mars!!), besitzen einen unförmigen Kopf, der auf einem langen Hals sitzt, und neben den Armen und Beinen noch ein drittes Gliedmaßenpaar. Die Augen be­ finden sich zu beiden Seiten des Kopfes, so daß diese extrava­ ganten Wesen, ohne den Kopf zu drehen, in verschiedene Richtungen schauen können. Anstelle der Ohren haben die kleinen grünen Marskinder winzige Antennen, statt der Nase nur einen länglichen Spalt, und Stoßzähneersetzen die Schnei­ dezähne. Dann kommen die erwachsenen Marsianer, um die ausgeschlüpften Kleinen in Empfang zu nehmen. Auch sie sind von grüner Farbe, fast fünf Meter groß und reiten, mit Lanzen bewaffnet, auf drei Meter hohen Tieren, die an jeder Seite vier Beine haben. Die Vielheit der Gliedmaßen scheint also typisch für das Marsleben zu sein. Carter wird von diesen Hünen ge­ fangengenommen und hat Zeit und Muße, den Planeten und seine Bewohner zu studieren. Die Marsfrauen haben hellere Haut als die Männer, ihre Stoßzähne sind länger, dafür sind sie aber »nur« drei oder vier Meter groß. Alte Marsianer kann Car­ ter zunächst nicht entdecken. Später erfährt er, daß diese, wenn sie ihr tausendstes Lebensjahr erreicht haben, eine Pilgerfahrt zu dem geheimnisvollen Fluß Iss unternehmen, von der noch niemand zurückgekehrt ist. Aber das Problem ist noch kom­ plexer. Denn von tausend Marsianern stirbt nur einer an einer Krankheit, ungefähr zwanzig verschwinden bei der mysteriö­ sen Pilgerreise, die übrigen 979 aber sterben eines gewaltsamen Todes bei Jagdunfällen, im Duell oder in einem der Kriege, die den Planeten immer wieder heimsuchen. Die meisten Opfer fordert die Kindersterblichkeit, denn viele Kinder werden von großen weißen Affen getötet, die die Bewohner des Planeten terrorisieren. So beträgt also die durchschnittliche Lebensdauer eines Marsianers »nur« 300 Jahre. 181

Familienbindungen bestehen nur in loser Form. Die nach fünf Jahren Inkubationszeit aus den Eiern schlüpfenden Mars­ kinder gehören der Gemeinschaft, und jede Frau, die Nach­ wuchs haben möchte, muß sich auf gut Glück ein Kleines ein­ fangen, was nicht immer einfach ist. Darauf kümmert sie sich aber wie eine leibhaftige Mutter um seine Erziehung. Kranke oder nicht normale Marskinder werden getötet - ein grausa­ mer Akt, der aber auf einem absterbenden Planeten mit schwierigen Lebensbedingungen für notwendig erachtet wird. Carter entdeckt auch, daß sich die Marsianer untereinander telepathisch verständigen und auf diese Weise auch ihre Be­ fehle auf die Tiere übertragen. Die telepathischen Fähigkeiten erklären, warum die artikulierte Marssprache nur rudimentär entwickelt ist. John Carter kommt mit diesen furchterregenden Marsriesen ganz gut zurecht. Es stellt sich nämlich heraus, daß er, wegen der geringen Schwerkraft auf dem Mars, viel stärker ist als sie. So bleibt er zwar weiterhin ihr Gefangener, wird aber als eine Art Chef anerkannt. Er hat sogar eine kleine, getreue Gefolgschaft: Sola, eine junge und schöne (?!) Marsjungfrau und eine Art Marshund - allerdings von der Größe eines Maultiers und dem Aussehen einer Kröte, der es aber an Treue und Anhänglichkeit mit jedem irdischen Hund aufnehmen kann. Carter erlebt eine der kriegerischen Auseinandersetzungen der Eingeborenen. Flugzeuge überfliegen die Stadt, die grünen Marsianer schießen ein Flugzeug ab, dessen Insassen bis auf eine Frau umkommen. Sie ist, zu Carters größtem Erstaunen, nicht größer als die irdischen Frauen und mit ihrem raben­ schwarzen, schulterlangen Haar und der leicht rötlichen Haut­ tönung von vollkommener Schönheit. Dieses Marsmädchen heißt Dejah Thoris und gehört der Rasse der roten Marsianer an, der höchst entwickelten Rasse des Planeten. Sie ist die Toch­ ter des Regenten von Helium, die der Erbprinz des Landes Zodanga, mit dem Helium Krieg führt, geraubt hat. Nach allerlei Abenteuern in der Gefangenschaft gelingt es Carter mit Dejah und der getreuen Sola zu fliehen, doch wer­ den sie auf der Flucht wieder getrennt. Carter färbt sich die Haut rot - ein einfacher, aber wirkungsvoller Trick, der ihm 182

unter anderem erlaubt, allerlei Einzelheiten über die Kultur der roten Marsianer in Erfahrung zu bringen. Dieser hochent­ wickelten Rasse verdankt man nicht nur den Bau der Kanäle, sondern auch die wichtigste Einrichtung, nämlich eine mittels Radium funktionierende automatische Fabrik, in der die Luft hergestellt wird, ohne die das Leben auf dem Planeten über­ haupt nicht mehr möglich wäre. Jeder rote Marsianer lernt in seiner Kindheit das Prinzip der Produktion von Atmosphäre, aber nur zwei Männer kennen jeweils die Losung, die Zugang zu dem Hauptgebäude der »Luftfabrik« verschafft. Die roten Marsianer besitzen auch eine hochentwickelte Luftschiffahrt. Die Antriebskraft für die Flugzeugmotoren wird durch einen besonderen Strahl, den »achten Marsstrahl« gelie­ fert, der ihnen auch eine Reihe anderer, komplizierter Erfin­ dungen ermöglicht hat. So besitzen die Marsianer z. B. perfekte optische Geräte, mit denen sie das Leben auf der Erde und auf anderen Planeten beobachten können. Etwas befremdend mutet es an, daß diese hochzivilisierte Rasse, die fast im Atom­ zeitalter lebt, ihre mittelalterlichen Sitten beibehalten hat, im­ mer noch in Stammesgemeinschaften lebt und sich auf primi­ tive Weise untereinander und die anderen Marsrassen be­ kriegt. Einer der Kriege zwischen Helium, dem Land, das Dejahs Vater regiert, und Zodanga, dessen Erbprinz das junge Mäd­ chen entführt hat, endet mit dem Sieg von Helium. Der Prinz von Zodanga wird getötet, Dajah wird Carters Frau, und beide leben neun Jahre lang glücklich zusammen. Aber das Buch en­ det nicht mit diesem Happy-End, sondern mit einer schreck­ lichen Nachricht: die »Luftfabrik« hat zu funktionieren aufge­ hört, ihre Wächter sind getötet worden. Die vorhandene Luft reicht nur noch für drei Tage. Die Marsianer sehen ihrem Ende mit stoischer Ruhe entgegen und nehmen voneinander Ab­ schied, um in Würde zu sterben. Carter versucht verzweifelt, die Losung zu finden, die ihm die Tore der »Luftfabrik« öffnen würde, aber bei diesen Versuchen verliert er das Bewußtsein und befindet sich plötzlich wieder in der Grotte, auf unserer Erde, von der aus seine Marsreise begann. In den folgenden Jahren seines Erdenlebens quält er sich mit 183

der Frage: Ist es den Marsianern gelungen, bis zu den Maschi­ nenräumen vorzudringen? Lebt seine geliebte Dejah noch oder ist sie längst mit den anderen Marsbewohnern elend ums Leben gekommen? Ein unbestimmtes Gefühl sagt ihm, daß er auf dem Mars immer noch erwartet wird. Und selbstverständ­ lich trügt ihn seine Ahnung nicht. Zwar »stirbt« Carter, und damit müßte seine Geschichte eigentlich zu Ende sein. Aber vorsorglich hat er in seinem Testament bestimmt, daß sich sein Sarg und die Gruft von innen öffnen lassen. Sein Tod erweist sich als Scheintod, und nach zehn Jahren Abwesenheit kommt Carter wieder nach Barsoom und findet seine Dejah wieder. Diese zweite Reise erzählt Burroughs im folgenden Roman The God of Mars (1918; deutsch: Göttin des Mars, 1972), der nach dem großen Erfolg der Buchausgabe seines ersten Mars­ romans (1917) veröffentlicht wurde. Die Serie wird fortgesetzt mit The Warlord of Mars (1913-1914); deutsch: Der Kriegsherr des Mars, 1972, The Maid of Mars (1916); deutsch: Thuvia, das Mädchen vom Mars, 1973, The Chessmen of Mars (1922), The Master Mind of Mars (1927), A Fighting Man of Mars (1930), Swords of Mars (1934-1935), Synthetic Men ofMars (1939), L/ana of Cathol (1948) und mit dem posthum veröffentlichten Roman John Carter of Mars (1964). Es hat wenig Sinn, auf die weiteren Romane des Marszyklus näher einzugehen. Sie variieren nur das Schema des ersten Ro­ mans: in einer Welt von mehr oder weniger furchterregenden Ungeheuern gerät eine außerirdische Schöne leicht in gefähr­ liche Situationen, und Supermann John Carter erscheint immer gerade noch rechtzeitig, um sie aus höchster Gefahr zu retten. Liebe, Trennung und die erneute Zusammenführung des Paa­ res treiben die Handlung voran. Wir wollen aber den Versuch unternehmen, die Marslebewesen, die sich durch den Zyklus hindurch auf dem roten Planeten tummeln, etwas systemati­ scher vorzustellen. Man kann bei diesen Lebewesen drei Kate­ gorien unterscheiden: 1. die »Marsmenschen«, die uns im großen und ganzen ähn­ lich sind. Da sind zunächst die bereits erwähnten roten Marsianer, die am weitesten entwickelte Rasse des Planeten. In The Warlords of Mars tauchen zum ersten Mal auch gelbe Marsia184

ner auf, die in den kalten Regionen des Planeten in überdach­ ten Städten, die riesigen Treibhäusern gleichen, leben. In The God of Mars machen wir die Bekanntschaft wohlgestalteter, ebenholzfarbener Marsianer, deren Augen eine schwarze Iris und weiße Pupillen haben. Diese »schwarzen Piraten« von Barsoom sind Kannibalen und wegen ihrer Grausamkeit gefürch­ tet. 2. Die »Marshybriden«, das heißt halbtierische oder halb­ pflanzliche Geschöpfe, die aber von ihrer Intelligenz her dem Menschen nahestehen. Dazu gehören die schon genannten grünen Marsianer und die »Pflanzenmenschen« (Plant men of Barsoom), die erstmals in The God ofMars auftauchen. Siesind zehn bis zwölf Fuß, also drei bis vier Meter, groß und haben kurze, rüsselförmige Arme. Ihr unbehaarter Körper ist von blauer Farbe, nur um ihr einziges Zyklopenauge zieht sich ein weißer Streifen. In ihrem »Gesicht« wird die Nase durch ein run­ des Loch ersetzt, der »Mund« befindet sich in den Handflächen. Der Körper und die Beine gleichen denen eines Menschen, nur sind sie von riesenhaften Ausmaßen. Ihr zwei Meter langer, am Ende abgeflachter und messerscharfer Schwanz ist eine ge­ fürchtete Waffe. Sie sind zweigeschlechtlich und vermehren sich, wie die Pflanzen, durch Knospung. Ihre »Ableger« wach­ sen direkt unter ihren Armen. 3. Eine dritte Gruppe von Lebewesen bilden die Marstiere. Zu ihnen gehören unter anderem die fünf Meter großen, auf­ rechtgehenden weißen Affen. Wie die grünen Marsianer haben sie ein drittes Gliedmaßenpaar. Ihr Kopf ähnelt dem eines Go­ rillas. Sie sind die grausamsten Lebewesen des Planeten. Eine geheimnisvolle »Zusammenarbeit« verbindet sie mit den »Pflanzenmarsianern«. Wir erfahren nämlich, daß die uralten Marsia­ ner, die eine Pilgerreise zu dem Fluß Iss unternehmen, von der noch nie jemand zurückgekehrt ist, in Wirklichkeit von den Pflanzenmarsianern überfallen werden, die ihnen das Blut aus­ saugen und dann die Reste den weißen Affen überlassen. Zu der Marsfauna gehört auch der »Calot«, eine Art Mars­ hund, von dem wir schon sprachen, der »Thoat«, ein drei Meter großes grünes Marspferd, das an jeder Seite vier Beine hat, der »Apt«, ein arktisches Ungeheuer mit weißem Pelz, das vier 185

Beine zum Laufen hat und zwei weitere Gliedmaßen, die von der Schulter ausgehen und zum Greifen dienen. Wir finden auch einen zehnbeinigen Marslöwen (Banth) und eine Art Marsmaikäfer (»Sith«) von den Ausmaßen eines Stieres. Man kann sagen, daß kein anderer Schriftsteller in seinem Versuch, eine globale Marszoologie zu schaffen, so weit ge­ gangen ist wie Burroughs. Seine Marsfauna ist vielfältig und gleichzeitig kohärent, allerdings ist sie von der irdischen nicht radikal verschieden, sondern stellt nur eine Variante dar. Ty­ pisch für sie ist z. B. die Vervielfältigung der Gliedmaßen und die, mit irdischen Maßstäben gemessene, anormale Größe der Lebewesen. Burroughs’ Marszyklus hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die neuere Science Fiction, vor allen Dingen auf die amerikanische Science Fantasy, ausgeübt und zahlreiche Nach­ ahmer gefunden. Barsoom - der Mars von Burroughs - ist ein imaginärer Ort, der die exotischsten Abenteuer möglich macht, die man früher in die noch unerforschten Regionen unseres Erdballs verlegte und in phantastischen Reisebeschreibungen ausmalte. Im Mit­ telpunkt der Marsromane stehen die Abenteuer des Helden John Carter, die oft ganz unwahrscheinlich erscheinen und nicht selten unzusammenhängend aneinandergereiht werden. Zwar wird hin und wieder auf wissenschaftliche Erfindungen angespielt, aber es handelt sich eigentlich immer um Versatz­ stücke, um austauschbare Requisiten. Die ersten Romane von Burroughs' Marszyklus sind in vieler Hinsicht ihrer Zeit, d. h. den Jahren vor und während des Ersten Weltkrieges, verbunden. So behandelt Burroughs beispiels­ weise in romancierter Form die rassischen Konflikte, die in seinem Vaterland noch akuter als in Europa waren. Wir finden in seinem Roman nicht nur die roten Marsianer, die den »zi­ vilisierten« Amerikanern oder Europäern noch am nächsten stehen, sondern wir treffen auch allerlei »minderwertige« Ras­ sen an. Die Ungleichheit und die ständigen Konflikte dieser ro­ ten, grünen, gelben und schwarzen Marsianer spiegeln teil­ weise die Rassenideologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts wi­ der. Und auch der kriegerische Geist von Burroughs Marsia186

nern, der fast irrational anmutet und nichts mehr mit den pazi­ fistisch-astronomischen Illusionen eines Camille Flammarion oder eines Percival Lowell oder den philosophisch-utopischen Ideen eines Kurd Laßwitz zu tun hat, ist charakteristisch für den chauvinistischen Geist, der sich weiter Kreise Europas und Amerikas vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges bemächtigt hatte.

Die Marsianer in rumänischer Vision Die Tradition des wissenschaftlichen Unterhaltungsromans in Rumänien kann nicht mit der angelsächsischen, auch nicht mit der französischen und deutschen Tradition verglichen werden, was sich durch historische, ökonomische und soziologische Faktoren erklären ließe, denn eine moderne Wirtschafts- und Industriestruktur entwickelte sich in Rumänien erst relativ spät. Doch wurden am Vorabend des Ersten Weltkrieges in Rumä­ nien einige »astronomische« Romane und Erzählungen veröf­ fentlicht, die zeigen, daß die Marsianer ä la Lowell noch nicht tot sind. Entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der kos­ misch orientierten Zukunftsliteratur in Rumänien hat der Schriftsteller und Publizist Victor Anestin (1875-1918) ausgeübt, der so etwas wie ein rumänischer Flammarion ist. Zwischen 1907 und 1912 gab er eine populärwissenschaftliche Zeitschrift Orion - heraus, die ausschließlich der populärwissenschaftli­ chen Astronomie gewidmet war und in der er sich auch ausgie­ big mit dem roten Planeten beschäftigte, denn Anestin war ein begeisterter Anhänger der Marsianer. In einer 1910 veröffent­ lichten wissenschaftlichen Broschüre Planeta Marte este ea locuita? (Ist der Planet Mars bewohnt?) kommt Anestin zu sehr optimistischen Vorstellungen über unsere Nachbarn: »Bei ih­ nen [den Marsianern] ist nicht mehr von Unterschieden zwi­ schen Völkern, Rassen und Religionen die Rede. Sie brauchen keine Armeen, wahrscheinlich auch keine Beamten mehr (...) Die Gefahr hat sie alle vereint (...) Es wäre interessant, eines Ta­ ges in Erfahrung zu bringen, ob die Marsmenschheit auch die 187

verschiedenen Stadien durchlaufen hat, die wir auf der Erde hinter uns haben, ob sie einst auch Kriege, Mord und Totschlag und andere irdische Zeitvertreibe gekannt hat. Noch interes­ santer wäre es, Einzelheiten über die Organisation des gegen­ wärtigen Marsstaates zu kennen, denn dieser Staat könnte uns für unsere Zukunft als Beispiel dienen.« Das Interesse für den Mars hat in Rumänien nicht nur wissen­ schaftliche Arbeiten sondern auch eine Reihe von belletristi­ schen Werken hervorgebracht. So veröffentlichte der Schrift­ steller Victor Eftimiu (1889-1972) 1913 eine Erzählung Pamlntula vorbit! (Die Erde hat gesprochen!), in der uns die Marsgesell­ schaft nicht auf ihrem Höhepunkt dargestellt wird, sondern in einer Phase der Auflösung und des Untergangs. Die Bewohner des roten Planeten haben sich in ihr Schicksal ergeben und sind gegen alle Ereignisse gleichgültig geworden. Tausend Jahre frü­ her hatten sie noch einen gigantischen Leuchtturm gebaut, der optische Signale zur Erde ausstrahlte, denn der Kontakt mit den Bewohnern anderer Planeten gehörte einst zu ihren Idealen. Aber als nun endlich Signale von der Erde den Mars erreichen, sind dessen Bewohner zu resigniert, um sich noch dafür zu in­ teressieren. Auch die anderen rumänischen Schriftsteller sind sich dar­ über einig, daß der Mars eine absterbende Welt ist. Aber wie werden die Bewohner dieses Planeten zugrundegehen? Resi­ gniert, wie bei Eftimiu, oder nach einem verzweifelten Kampf, in dem sie versuchen, zu überleben, um ihre wissenschaftli­ chen und moralischen Errungenschaften noch eine Weile zu erhalten oder eventuell anderen Planeten zu übermitteln? Zwei rumänische Marsromane, die beide 1914 veröffentlicht wurden, versuchen, Antwort auf diese Frage zu geben: Henri Stahl (1877-1942), der Verfasser des einen Romans, war eine interessante und originelle Persönlichkeit. Deutsch-fran­ zösischer Herkunft, aber in Bukarest geboren und rumänisch assimiliert, war er nicht nur Schriftsteller, sondern auch Gra­ phologe, Stenograph im rumänischen Parlament und Mitarbei­ ter des großen rumänischen Historikers lorga. Sein Roman Un romän in lunä (Ein Rumäne auf dem Mond) ist 1913 als Vorab­ druck in einer Zeitschrift und 1914 als Buch erschienen. Er gilt als 188

UN ROMÁN ÎN LUNA

Titelblatt zu Henri Stahls Ein Rumäne auf dem Mond

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der beste rumänische Zukunftsroman vor dem Ersten Welt­ krieg. Der Roman erzählt, wie ein Rumäne eine Mondreise unter­ nimmt, und zwar in einem Raumschiff, das aus einem schwere­ losen Material, dem Asbestoid, konstruiert ist - einer Variante der verschiedenen schwerelosen Stoffe, die in zahlreichen an­ deren Marsromanen die kosmischen Reisen ermöglichten. Auf dem Mond trifft der rumänische Raumfahrer auf einen Marsianer, der seinen Planeten verlassen hat, der »kleiner und älter als die Erde ist und weiter von der Sonne entfernt, mit Erosions­ gebirgen, seltenen Meeren und zu großen Landflächen, mit einer ständig sich verdünnenden Atmosphäre und immer knapper werdendem Wasser. Er war als Bote ausgesandt wor­ den, um nach einem wirtlicheren Planeten zu suchen, denn das Leben auf dem Mars war schwierig und traurig geworden.« Das Raumschiff des Marsianers, das ebenfalls aus einer schwerelosen Substanz besteht, sollte in Richtung Erde fliegen und diese erkunden, es wurde aber bei einer Zwischenlandung auf dem Mond beschädigt, so daß der Marsianer seine Mission nicht erfüllen konnte. Der Marsianer und der Rumäne freunden sich an. Der Mar­ sianer erlernt die rumänische Sprache, allerdings hat er Schwie­ rigkeiten, die Vokale auszusprechen - für den Erzähler ein Be­ weis für das kalte Klima auf dem Mars -, denn, so behauptet er, je weiter man nach Norden vorstoße, desto konsonantenrei­ cher würden die Sprachen. Der Rumäne sieht sich vor die Wahl gestellt, entweder allein auf die Erde zurückzukehren (sein Raumschiff bietet nur einer Person Platz), oder mit seinem neuen Freund auf dem Mond zu bleiben. Er entscheidet sich für die zweite Lösung, d. h. sein Raumschiff kehrt ohne ihn, aber mit einem detaillierten Bericht der Reise auf die Erde zu­ rück, gleichzeitig bitten die beiden »Weltraumschiffbrüchigen« um Hilfe. Stahl verzichtet also auf eine Lösung, und der Schluß des Romans bleibt offen und verlangt sozusagen nach einer Fortsetzung. Stahls Marsianer ist ein Humanoide, allerdings drei Meter groß. Mit seinem birnenförmigen Kopf und seinem kleinen fast lippenlosen Mund entspricht er zwar nicht unserem Schön190

Ein Rumäne und ein Marsianer erforschen den Mond

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heitsideal, ist aber auch nicht abstoßend oder monströs. Er ist intelligent, selbstverständlich Telepath und mit einer überna­ türlichen Intuition begabt. Allerdings fällt dem Rumänen eine gewisse Traurigkeit und Humorlosigkeit auf - auf dem Mars hat man das Lachen schon lange verlernt. Mars - oder Siri, wie der Marsianer seine Heimat nennt - ist eine technologisch hochentwickelte Welt. Zu den erstaunli­ chen Errungenschaften der Marsianer gehören natürlich die Kanäle, aber auch ein Hibernationsimpfstoff, »der die Marsia­ ner beim Nahen der großen Kälte in einen tiefen Schlaf versetzt und alle Lebensäußerungen während des langen Winters, der doppelt so lange wie der unsrige dauert, zum Stillstand bringt«. Zu ihren Erfindungen gehört auch eine Maschine, die das ge­ sprochene Wort sofort in Schriftzeichen umsetzt (wir fanden sie schon bei Laßwitz). Die Marsianer ernähren sich durch Pillen, die Kohlenextrakte, Azote und alle lebensnotwendigen Salze enthalten. Dank des Fortschritts sind Krankheiten und Alters­ erscheinungen zum großen Teil von dem Planeten verschwun­ den. Übrigens geht auch bei Stahl, ähnlich wie bei Laßwitz, die hochentwickelte Technologie Hand in Hand mit einer hohen Moral: »Auf dem Mars war der Haß auf den Nächsten ver­ schwunden, auch die Grenzen existierten nicht mehr, und seit undenklichen Zeiten war die Liebe zum Vaterland durch Men­ schenliebe und Seelenverbrüderung ersetzt worden.« Aus die­ sem Grund betrachtet der Marsianer auch etwas skeptisch den Patriotismus seines rumänischen Freundes, der die Fahne seines Landes auf dem Mars aufpflanzt. Aber diese vollkommene Marswelt ist durch das Absterben des Planeten bedroht, und während viele Marsianer dieser Entwicklung mit stoischer Er­ gebung zuschauen, rebellieren andere und suchen einen Aus­ weg, nämlich einen Planeten mit günstigeren Lebensbedin­ gungen, den sie besiedeln könnten. Stahls Roman, der vom literarischen Standpunkt aus in seiner didaktisch-belehrenden Art kein erzählerisches Meisterwerk ist, besitzt doch eine gewisse Originalität in der Art, wie die an sich abgenutzten astronomischen Themen neu miteinander verknüpft werden. Wenn es um die Begegnung mit außerirdischen Zivilisatio192

nen geht, haben die Schriftsteller meistens zwei Möglichkeiten, um dieses Treffen zu »arrangieren«. Entweder kommen die Außerirdischen zu uns, und das bedeutet Bedrohung und In­ vasion. Oder wir kommen zu ihnen, und das bedeutet Ent­ deckung einer fremden Welt, die oft mit deren Eroberung und Kolonisation endet. In beiden Fällen ist die Konsequenz dieses Zusammentreffens ein mehr oder weniger dramatischer Kon­ flikt. Stahl findet nun eine dritte Möglichkeit, nämlich die Be­ gegnung an einem neutralen Ort, das heißt hier auf dem Mond. Aber bei genauerem Hinsehen ist auch Stahls idyllischer Schluß problematisch. Man darf nicht vergessen, daß die Marsianer auf der Suche nach einem bewohnbaren Planeten sind, und sie denken dabei in erster Linie an unsere Erde. Wenn uns also nach den Wells'schen Ungeheuern und den schönen Marsianern von Laßwitz diese an sich friedfertigen Riesen mit ihrem birnenförmigen Kopf besuchen, wie würde dann der Kontakt aussehen? Stahl denkt diese Frage nicht zu Ende bzw. weicht ihr absicht­ lich aus, indem er die Begegnung auf zwei Individuen reduziert und in das Niemandsland des Mondes verlegt. So verläuft die­ ser »first contact«, beschrieben am Vorabend des Ersten Welt­ krieges, bei ihm aggressionsfrei, ja er steht sogar im Zeichen einer humanen Solidarität.

Der zweite rumänische Roman, der ebenfalls 1914 erschien, ist Victor Anestins O tragedie cereascä (Eine Himmelstragödie). Während die Handlung von Stahls Roman in einer unmittel­ baren Zukunft spielt, die Mondreise könnte sozusagen von heute auf morgen stattfinden, siedelt Anestin seine Himmels­ tragödie im Jahre 3000 an und untersucht die Wirkung, die eine kosmische Katastrophe auf drei Planeten (Erde, Mars und Ve­ nus) haben könnte, die alle von intelligenten Wesen bewohnt werden. Die Katastrophe besteht darin, daß ein Dunkelstem in unser Sonnensystem eindringt. Die Erde wird aus ihrer Bahn ge­ drängt, Mars aus dem Sonnensystem geschleudert, am wenig­ sten betroffen wird die Venus von diesen kosmischen Verän­ derungen. 193

Die Bewohner dieser drei Planeten ähneln einander, sie ha­ ben aber, entsprechend der Evolutionstheorie, verschiedene Entwicklungsstufen erreicht. Die Marsianer sind, sowohl vom technologischen als auch vom ethischen Standpunkt aus, die am weitesten entwickelte Rasse. Die technischen Errungen­ schaften der Erdbewohner übertreffen zwar diejenigen der Venusianer, die Erdbewohner stehen aber in ihrer politischen und sozialen Entwicklung hinter ihnen zurück, denn auf der Erde gibt es noch die Aufteilung in Staaten, das öffentliche Le­ ben wird von der Politik beherrscht, und die Welt wird von Kriegen heimgesucht. Auf der Venus hingegen sind die Staats­ grenzen verschwunden, somit auch die militärischen Konflikte, und die Führung der Menschheit liegt in den Händen der Wis­ senschaftler. Die Zahl der Marsianer beträgt, wegen der schlechten Le­ bensbedingungen auf ihrem Planeten, nur noch eine Million. Was ihr Äußeres betrifft, so wird in Anestins Beschreibung der Einfluß Flammarions spürbar. Die Marsianer sind klein, haben aber einen großen Kopf und einen schlanken Insektenleib. Flügel ermöglichen ihnen das Fliegen. Sie sprechen selten und verständigen sich vor allen Dingen telepathisch. Mars ist eine Welt des Schweigens. Die Marsianer sind lärmempfindlich und überhaupt von außergewöhnlicher Sensibilität. Obgleich sie von der Katastrophe wissen, reagieren sie anders als die Men­ schen. Sie fürchten das Ende nicht, erwarten es mit Stoizismus, beweisen aber kosmische Solidarität, indem sie versuchen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse den Bewohnern der Nachbar­ planeten durch ein System drahtloser Telegraphie zu übermit­ teln. Die dramatischsten Szenen spielen sich auf der Erde ab. Die Panik vor der Katastrophe führt zu Massenpsychosen und schließlich zur völligen Auflösung sämtlicher sozialen Struk­ turen. Ein großer Teil der Bevölkerung geht noch vor der End­ katastrophe zugrunde. »Die Menschheit war auf die tiefste Stufe gesunken, noch bevor der Planet wirklich von der Katastrophe betroffen wurde. Der Terror hatte über den Verstand triumphiert, der Revolte folgte eine völlige Abstumpfung.« Natürliche Katastrophen be­ gleiten das Nahen des Dunkelsterns: Erdrutsche, Erdbeben, Or­ 194

kane. Am Ende bedeckt die ganze Erde »eine ungeheure Was­ serwüste. Nur hie und da ragen wie spitze weiße Inseln die Gipfel der höchsten Berge mit ihrem ewigen Schnee auf.« So ist also das Leben auf zwei Planeten ausgelöscht worden. Doch besteht eine Art kosmischer Solidarität, denn die unei­ gennützigen Marsianer haben die Errungenschaften ihrer Zi­ vilisation teilweise den Venusianern übermittelt. Der Autor geht in seinen Vermutungen sogar noch weiter. Vielleicht - so meditiert er - wird die Erde eines Tages, wenn sie als toter Planet durch das Universum treibt, von Jupiter angezogen werden, und es wird sich auf ihr, in der Folge einer langen Evolution, wieder eine Art Leben entwickeln. Dann wird möglicherweise in fernen Zeiten eine neue Menschheit entstehen, die die Reste der alten Menschheit und einer höheren Zivilisation als der ihrigen wiederentdecken wird. Diese neuen Menschen wer­ den Hypothesen aufstellen und Theorien entwickeln, aber nie werden sie glauben können, daß ihre Erde einst der dritte Pla­ net des Sonnensystems war, beleuchtet von einer mächtigen Sonne, bewohnt von einer Menschheit, die stolz auf ihr Wissen und ihre Wissenschaft blickte. Anestins Roman, der in mancher Hinsicht aktueller als der von Stahl wirkt, stellt also einer Erde, deren Bewohner ange­ sichts der Katastrophe den Kopf verlieren und alle ethischen Werte über Bord werfen, den Mars mit seinen weisen, in kos­ mischen Dimensionen denkenden Bewohnern gegenüber. Beide Romane aber sind Hymnen auf die Solidarität und die Brüderlichkeit, sind Versuche, an Vernunft und Toleranz zu ap­ pellieren, und das in einem Augenblick, da auf der Erde ein internationaler Konflikt unmittelbar bevorstand.

Hut ab vor den Leistungen der Marsmenschen: Max Heinrichka, Ein Flug auf den Marsplaneten, 1918

Max Heinrichka (Lebensdaten nicht festzustellen) schrieb sei­ nen Roman Ein Flug auf den Marsplaneten und eine Reise um den Mars. Die Wunderwelt und das Leben auf dem Marspla195

rieten (Berlin 1918) während des Ersten Weltkriegs. Es ist nun zu spät, um, wie in den rumänischen Marsromanen, an Solidarität und Brüderlichkeit unter den Menschen zu appellieren. Doch steht auch Heinrichkas Roman in unmittelbarer Beziehung zum Tagesgeschehen. Der Autor weiß 1917, als er den Roman ver­ faßt, daß der Krieg mit einer Niederlage Deutschlands enden wird, er ahnt, daß die Nachkriegsjahre sein Land mit zahlrei­ chen Problemen konfrontieren werden. So versucht er, wie er in seinem Vorwort andeutet, die arbeitssame Marsgesellschaft seines Romans (alles steht bei unseren kosmischen Nachbarn unter der Devise »Arbeit ist gesund und macht gesund«) dem deutschen Volk als erstrebenswertes Ideal vorzustellen: »Wenn aus der Schilderung der Marswelt deutlich zu entneh­ men ist, daß die Lebensbedingungen der Marsmenschheit wohl wesentlich ungünstiger sind wie unsere Lebensbedin­ gungen auf der Erde, so kann das gerade jetzt dem deutschen Volke einen Trost und gleichzeitig einen verheißenden Aus­ blick gewähren.« Daneben formuliert Heinrichka aber auch die naturwissenschaftliche Ader seines Romans: »Das vorliegende Buch will nach freier Phantasie, jedoch unter annähernder Be­ rücksichtigung der durch die astronomischen Forschungser­ gebnisse gezogenen Richtlinien, eine Lösung der Frage suchen, wie die ferne Welt des Marsplaneten wohl aussehen mag.« (op. cit., S. 6) Die beiden Marsreisenden des Romans, der Icherzähler und sein Freund Heidrich, finden auf dem Mars, wie es die Utopie erfordert, menschenähnliche Wesen vor. Allerdings sind die Marsianer doppelt so groß wie wir, haben sechs Finger und sechs Zehen und die vielleicht nützliche Gabe, ihren fast vier­ eckigen Kopf in alle Richtungen drehen zu können. Ein hornähnliches Gewächs auf der Stirn ist der Sitz des sechsten Sinnes, des »Orientierungssinnes«. Später erfahren wir, daß sich auch die Organe der Marsianer der Umwelt angepaßt haben. Ihr Herz ist schwerer als das unsrige, sie besitzen zwei Lungen und wegen der vorwiegend vegetabilischen Nahrung einen Vorma­ gen. Die beiden Erdenbürger werden systematisch von ihren Gastgebern auf eine Reise über den Planeten vorbereitet. Zu196

nächst müssen sie in einer Marshochschule die Landessprache lernen. Es handelt sich um eine internationale Einheitssprache, die von einem Gelehrten, Tifu, erfunden wurde, weil die zahl­ reichen Sprachen des Planeten immer wieder zu Mißverständ­ nissen geführt hatten. Als die beiden Freunde ausreichende Sprachkenntnisse erworben haben, hält man ihnen eine ein­ führende Vorlesung über das Leben auf dem Mars: der Mars ist (ähnlich wie in Friedrich Wilhelm Maders Roman) ein Stiefkind unter den Planeten unseres Sonnensystems. Immer wieder zer­ stören die Naturkräfte, was »Marsmenschenhand« aufgebaut hat. Ohne die unermüdliche Arbeit seiner Bewohner hätte schon längst das Chaos auf dem Planeten die Oberhand ge­ wonnen: »Denn wehe dem Marsmenschen, wenn er einhalten wollte mit seiner bezwingerischen Arbeit gegen die Naturgewalten: der Marsboden würde sich in ein wüstes Chaos verwandeln, und der Marsmensch würde in diesem Chaos zu einem Spiel­ ball der wilden Naturkräfte werden, er würde in das verderben­ bringende Chaos hineingezogen, immer weiter zurückge­ drängt und zuletzt ganz vertilgt werden. Die Menschheit auf dem Mars gleicht also einer Pioniertruppe, die sich jeden Tag, den sie lebt, selbst erkämpfen muß, durch Arbeit des Geistes, durch Arbeit geschickter Hände, durch Arbeit im Schweiße des Angesichts.« (S. 29 f.) Auf dem Mars überwiegen die Land-gegenüber den Wasser­ flächen. Der Marsboden ist vulkanischer Natur, der Marskern selbst ist hohl. Die Bedeutung dieses hohlen Marskerns erklärt Heinrichka auf »wissenschaftliche« Weise: »Mit dem Frühling beginnt nämlich die saugende Wirkung des hohlen Marskernes auf die Marsmeere; das Wasser dieser Meere sinkt in die Bo­ dentiefe, es sickert in den Marshohlkern hinein. Durch die hier herrschende große Hitze wird es in Wasserdampf umgeformt, und dieser wird wieder durch die großen, aus den Tiefen des Marskerns an die Oberfläche führenden Eruptionsöffnungen der Marskrater am Nord- und Südpol, in die Marsatmosphäre geblasen, wo er sich ringsum weit auf dem Marsball hinein, verteilt und auf dem Marsboden als Nebel, als Tauwasser, nie­ derschlägt. Nur dadurch wird im Sommer und im Herbst 197

Feuchtigkeit auf dem Marsboden verteilt, und das Leben ist möglich, soweit sich nicht Wüste ausbreitet.« (S. 32) Die Marsatmosphäre ist dünn, so dünn wie auf der Erde in 8000 Metern Höhe, und mit Schwefel- und Salpeterdämpfen vermischt. Die Fauna und Flora sind spärlicher als bei uns, die dadurch auftretenden Ernährungsprobleme wurden aber mit Hilfe einer Pilzart gelöst, die man zur Herstellung eines Nähr­ breis verwendet. Wissenschaft und Technik, Gewerbe und In­ dustrie befinden sich auf einem hohen Entwicklungsstand. Das Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität, das die Marsianer schon vor dreitausend Jahren kannten, ist durch das Zeitalter der Magnetotechnik (die ausführlich erklärt wird), ersetzt wor­ den. Diese Magnetotechnik, die »Nosümalik«, wie es in der Tifusprache heißt, wird in der Industrie, bei der Bodenkultur und auch bei der Witterungsregelung verwendet. In der Urzeit suchte der Marsmann Arbeitskräfte, indem er sich mehrere Frauen nahm. Die Zahl seiner Gefährtinnen war damals unbe­ schränkt. Das änderte sich mit zunehmender Entwicklung, und allmählich wurde die Zweizahl der Frauen zur Regel, die, so meint der Autor, zu einem besonders glücklichen Familien­ leben geführt hat und gleichzeitig Dienstboten entbehrlich machte, da sich beide Frauen die Arbeit teilen! Trotz der Einheitssprache bestehen auf dem Planeten noch verschiedene Staatsformen. Es überwiegen die Republiken, »nur ganz wenige Völker auf dem Marsplaneten werden jetzt noch von Monarchen regiert: wo dies aber noch der Fall ist, da ist die Mitwirkung und Kontrolle des Volkes an der Regierung so weitgehend, daß der Wille des Monarchen nicht mehr ent­ scheidet.« (S. 49) Das Problem des Krieges ist auf dem Mars auf eine etwas be­ fremdende Weise geregelt worden. Die Staaten können unter­ einander nur Krieg führen, wenn ein »internationales Friedens­ komitee«, dem Abgeordnete aller Staaten angehören, dazu seine Zustimmung gibt und einen »Kriegskredit« gewährt. Nach diesem ausführlichen und aufklärenden Vortrag dür­ fen die beiden Besucher nun endlich ihre Reise um den Mars antreten und seine Wunder besichtigen. Sie überfliegen Wü­ stengebiete, die teilweise durch künstlichen Humusboden

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fruchtbar gemacht werden. Im Gebirge beobachten sie die Marsianer beim Flugsport. Sie besichtigen eine Sechsmillionen­ stadt mit dreißig- oder vierzigstöckigen Wolkenkratzern, die noch von langen Eisenstäben mit kapselförmigen Empfängern überragt werden, welche die magnetische Kraft sammeln und weiterleiten. Das größte Wunderwerk des Planeten aber ist ein künstlich erschaffener Katarakt, der 75 Kilometer breit ist und sich in einen ebenso breiten Kanal ergießt. Seine herabstürzenden Wassermassen treiben Turbinen an, die einen gewaltigen Elek­ trizitätsstrom erzeugen. Das Wasser stammt aus der Schneeund Eisschmelze am Nordpol. Die Besucher dürfen auch die riesigen Staubecken besichtigen, aus denen das Wasser wäh­ rend der trockenen Jahreszeit in die Kanäle fließt. Als die beiden Freunde schließlich wieder ihren Flugapparat hervorholen, um auf die Erde zurückzukehren, können sie zum Abschied nur sagen: »Hut ab vor den Leistungen der Marsmen­ schen!« Schade, daß Heinrichka am Ende diese arbeitssame Marswelt als Traum zurücknimmt: »Am Morgen erwachte ich von mei­ nem Schlummer im Lehnstuhl. Ich rieb mir die Augen: Hatte ich nur geträumt oder war es Wahrheit?« (S. 90) Max Heinrichka hat versucht, seinen Kurzroman, der 1917 geschrieben, aber erst 1918 veröffentlicht wurde, in einem An­ hang Der Weltkrieg auf dem Mars und seine Friedensergeb­ nisse zu aktualisieren bzw. zu politisieren. Er denkt dabei na­ türlich wieder an Deutschland und an die Situation, in der sich sein Vaterland bei etwaigen Friedensverhandlungen befinden wird, und er vertritt die These, daß zu harte Friedensbedin­ gungen unklug wären und eine Gefahr für die Zukunft Europas darstellen könnten. Er will seinen Anhang, wie er selbst sagt, »als Anregung zu einem auch für Deutschland ehrenvollen Frie­ den« verstanden wissen. Dieser Anhang geht von einem fiktiven Krieg aus, der auf dem Mars zwischen zwei Staaten ausbrach und in den allmäh­ lich die übrigen Staaten hineingezogen wurden. Er dauerte fünf Jahre und wurde mit den furchtbarsten Vernichtungswaffen geführt. Keine der beiden Parteien ging aus ihm als überlege199

ner Sieger hervor. Um dieses unnütze Blutvergießen für immer zu vermeiden, strebte man bei den Friedensverhandlungen ei­ nen Dauerfrieden an. Die Bedingungen dafür sind in einem Schriftstück niedergelegt worden, dessen Paragraphen den internationalen Verkehr zu Wasser und zu Lande, den Handel und den Geldverkehr regeln. Ein internationales Gremium soll über die Anwendung dieses Vertrages wachen. Natürlich blieb dieser Anhang reine Fiktion und hat in keiner Weise, trotz Heinrichkas naiven Erwartungen, die Friedensver­ handlungen beeinflussen können. Max Heinrichkas Roman Ein Flug auf den Marsplaneten scheint die naturwissenschaftlich-utopische Tendenz, die in Deutschland von Laßwitz ausgehend auf den Mars übertragen wurde, fortzusetzen. Allerdings sind seine Ideen, wenn man sie genauer untersucht, von der humanistischen Botschaft eines Laßwitz oder Daiber weit entfernt. Für Heinrichka ist das Leben auf jedem Planeten ein unerbittliches Ringen mit den feindli­ chen Elementen, ein Kampf ums Dasein, und so ist sein Roman kein Hohelied auf Nächstenliebe und Toleranz, sondern eine Verteidigung des Selbsterhaltungstriebes.

Einheit in der Vielfalt: Die Bilanz des Goldenen Zeitalters Wir wollen versuchen, etwas Ordnung in diese verwirrende Vielfalt zu bringen, in der sich das Leben auf dem Mars für die Astronomen, die Philosophen, vor allen Dingen aber für die Schriftsteller manifestiert. Eines ist sicher: es gibt nicht einen Mars, sondern jeder glaubt das Recht auf seinen Mars zu ha­ ben, jede Ideologie erschafft sich ihre eigene Marsgesellschaft. Ende des 19. Jahrhunderts und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ist der Mars zu einem Tummelplatz für die Träume und Wunschvorstellungen, aber auch für die Ängste und Phan­ tasmen der Menschen geworden. Und doch läßt sich aus der anscheinend heterokliten Mars­ literatur eine Art Marsmodell skizzieren, wenn auch mit zahl­ reichen Varianten und Ausnahmen. 200

»Irdische« Marslandschaft

Der Planet Was ihn betrifft, so stimmt man mit der Mehrzahl der Astro­ nomen überein, die Mars für den der Erde am ähnlichsten Pla­ neten des Sonnensystems halten, der aber älter und folglich sei­ nem Ende näher ist. Aber wie nahe? Viele Schriftsteller inspi­ rieren sich bei Flammarion oder Lowell und beschreiben uns einen Mars, dessen Atmosphäre zwar dünn, aber noch atembar ist, auf dem das Wasser zwar immer knapper wird, aber noch in Form von Eis an den Polkappen existiert und bei der Schnee­ schmelze durch das Kanalsystem über den Planeten verteilt wird. In zahlreichen Romanen wird ausdrücklich gesagt, daß das Leben wegen der fortschreitenden Abkühlung nur noch in 201

Marslandschaft mit Kanälen

den Äquatorialzonen möglich ist. Andere Schriftsteller gehen noch weiter und zeigen uns einen Mars, der nur noch eine er­ starrte Eiswüste ist. Aber ohne Ausnahme stellt man den Mars als eine Welt dar, auf der höheres Leben möglich ist, die man also kolonisieren könnte, so wie man ja auch die unwirtlichen Gegenden unseres Erdballs in Besitz genommen hat. Und wie sieht ein Marsianer aus? Was das Äußere unserer kosmischen Nachbarn betrifft, so herrscht nicht ohne Grund auf den ersten Blick ein buntes Durcheinander. Alle Welt spricht von den Marsianern, aber 202

»Arktische« Marslandschaft

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niemand hat sie zu Gesicht bekommen. Also kann man seiner Phantasie die Zügel schießen lassen und nach Herzenslust fa­ bulieren. Schaut man sich aber die Marsianer näher an, so stellt man nach einer summarischen Statistik fest, daß der mensch­ lichen Vorstellungskraft doch recht enge Grenzen gesetzt sind, denn diese imaginären Wesen sehen mehr oder weniger menschlich aus. In den Romanen, in denen die utopische Komponente do­ miniert und die Marswelt Spiegel der irdischen Welt sein soll, unterscheiden sich ihre Bewohner äußerlich gar nicht oder nur geringfügig (z. B. durch das stärkere Leuchten ihrer Augen) von uns. In diesem Fall ist es ihnen sogar möglich, wenn sie sich den irdischen Sitten und Gebräuchen anpassen, unerkannt auf der Erde herumzuspazieren. Aber auch in den Abenteuererzählungen oder in den eher technisch-wissenschaftlich ausgerichteten Romanen sehen die vernunftbegabten Wesen, die den Mars bevölkern, nicht we­ sentlich anders aus als wir. Oft sind unsere kosmischen Brüder kleiner, was dem irdischen Besucher von vornherein zumindest eine körperliche Superiorität verleiht. Man findet aber auch Marsriesen, deren Größe zwischen 2,5 und 7 Metern variiert. Auch in diesem Fall stellt sich nach dem ersten Schrecken bei der Konfrontation bald heraus, daß die körperliche Überlegen­ heit des Menschen nicht in Frage gestellt wird, denn die gerin­ gere Schwerkraft auf dem Mars verleiht ihm »Riesenkräfte«. Ansonsten kann bei den Marsianern die Zahl der Gliedma­ ßen variieren oder die Zahl der Finger und Zehen (vier oder sechs). Es gibt Marsianer ohne Körperbehaarung (ein Zeichen ihrer Evolution, die endlich alles »Tierische« abgestreift hat) und ohne Zähne (eine Folge der synthetischen Nahrungsmittel). Es gibt auch Marsianer, die organisch von uns abweichen, also eine zweite Lunge oder einen Vormagen haben; diese Muta­ tionen werden durch die Anpassung an ihre Umwelt erklärt. Seltener wird den Marsianern auch ein sechster Sinn zugespro­ chen. Oft trifft man in den Marsromanen auf geflügelte und dem­ zufolge fliegende Marsianer. Ihre Existenz scheint vom wissen­ schaftlichen Standpunkt aus wegen der geringeren Schwerkraft 204

gerechtfertigt zu sein. Schon Flammarion hatte die Vermutung ausgesprochen, daß sich auf dem roten Planeten »der Mensch und die höheren Wirbeltiergattungen der Luftbewegung er­ freuen«. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Mars ist, wie wir gesehen haben, der ideale Ort zur Verwirklichung mensch­ licher Wunschvorstellungen, und der alte Traum der Mensch­ heit, fliegen zu können, wird in den Romanen mit Hilfe der Marsianer konkretisiert. Sind die Marsianer beflügelt, so ist ihr Körper meist schmaler und dem Flug angepaßt, was aber auf keinen Fall Anthropomorphismus ausschließt - im Gegenteil, dieser ist sogar bei den geflügelten Marsianern besonders aus­ geprägt. Oft besteht der wesentliche Unterschied zwischen den Men­ schen (besser gesagt den Europäern) und den Marsianern in der Hautfarbe. Wir finden blaue, grüne, gelbe, rote und sogar schwarze Marsianer, wobei die grünen Marsianer aber höchst selten sind. Die Romane mit »farbigen« Marsianern sind es auch, die am deutlichsten die Vorurteile der europäischen Zi­ vilisation in bezug auf die »rote« oder »gelbe« Gefahr zum Aus­ druck bringen. Gelingt es hin und wieder einem Autor bei der Beschreibung der Marsianer, den Anthropomorphismus zu überwinden, dann werden tierische und menschliche Formen miteinander kombiniert oder zoomorphe Formen gewählt. Selbst Wells’ Marsmonster, die sich auf den ersten Blick am weitesten vom Anthropomorphismus zu entfernen scheinen, sind eigentlich nur, wie der Autor selbst betont, eine konse­ quente Weiterentwicklung des Menschen durch eine allmäh­ liche Atrophie der meisten Körperteile und Organe und eine Hypertrophie des Gehirns. Abgesehen von Le Rouges marsianischem Superhirn, das eine Art überindividuelles Bewußtsein darstellt, findet man in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kein Beispiel, das die Mar­ sianer als biologisch radikal andersgeartete Formen zeigt. Das gilt selbstverständlich auch für die Pflanzen- und Tierwelt des Planeten, die der irdischen Fauna und Flora verwandt ist. Kurd Laßwitz meint in einem kleinen theoretischen Artikel (Linser Recht auf Bewohner anderer Welten, 1910), daß es 205

ästhetische Rücksichten sind, die den Dichter dazu zwingen, den Bewohnern fremder Planeten menschliche Gestalt und menschliche Sinne zu geben. Seiner Meinung nach muß die Dichtung anthropomorphisieren, damit Persönlichkeiten und Charaktere dem Leser verständlich bleiben. Diese Erklärungen mögen z.T. gerechtfertigt sein, aber man muß ganz gewiß für den Anthropomorphismus, den die Marsliteratur vor dem Ersten Weltkrieg reflektiert, noch andere Gründe suchen. Wenn es den Schriftstellern der »Belle Epoque« nicht gelingt, sich Marsianer (und im allgemeinen außerirdische Intelligen­ zen) vorzustellen, die von ihnen radikal verschieden sind, so liegt das wohl auch daran, daß der angeborene Anthropozen­ trismus des Menschen im 19. Jahrhundert durch die evolutio­ nistischen Theorien unterstützt und gerechtfertigt wurde. Aber man kann vielleicht noch weitergehen und sagen, daß Anthro­ pomorphismus und Anthropozentrismus charakteristisch sind für die Selbstzufriedenheit der europäischen Zivilisation, die sich ihrer Werte noch sicher war und annahm, daß diese Werte­ welt für das ganze Universum Gültigkeit besitze.

Wie klug sind die Marsianer? Eine vollständige Statistik anhand der Marsliteratur vor dem Er­ sten Weltkrieg ergäbe einen überraschend hohen Prozentsatz an Marsianern, die den Menschen in intellektueller Hinsicht überlegen sind. Das gilt sowohl für die braven, fleißigen Mar­ sianer, deren Vorbild in den astronomischen Schriften eines Flammarion oder Lowell zu suchen ist, als auch für die Wells'schen Horrorgeschöpfe, aber ebenfalls für die kriegeri­ schen Spezimen bei Serviss, Graffigny und Le Fjftjre oder die Seehund-Marsianer bei Du Maurier und Salgari. Daneben be­ sitzen die Marsianer oft eine außergewöhnliche Intuition. Schon Emanuel von Swedenborg hatte behauptet, daß die Be­ wohner des roten Planeten telepathische Fähigkeiten besäßen, diese Eigenschaft wird ihnen dann in der Marsliteratur immer häufiger zugesprochen. Wiederum wird ein Ideal der Mensch­ heit, nämlich das einer direkten Verständigung von Geist zu Geist, auf die Marsianer projiziert. Die Gefahren der Telepathie und des Gedankenlesens, auf die in der modernen Science Fic206

tion häufig angespielt wird, die ja beispielsweise u.a. auch einen Verlust der geistigen Privatsphäre bedeuten würde, sind den Autoren um die Jahrhundertwende noch nicht bewußt. Aber jede Regel hat ihre Ausnahmen, und wenn man in der »wissenschaftlich« ausgerichteten Marsliteratur selten primi­ tiven Marsianern begegnet, so trifft man sie doch nicht selten in den Abenteuerromanen an. Dort geben sie dem menschlichen Helden Gelegenheit, seine Tapferkeit und seinen Einfallsreich­ tum unter Beweis zu stellen. Aber selbst in diesem Fall muß der irdische Eroberer bald feststellen, daß neben diesen primitiven Spezimen auf dem Planeten höhere Entwicklungsformen exi­ stieren. Das sind beispielsweise bei Gayar die »Zoas«, bei Burroughs die roten Marsianer und bei Le Rouge das große Mars­ hirn. So kann man wohl behaupten, daß der Mars in der Litera­ tur vor dem Ersten Weltkrieg ausnahmslos von vernunftbegab­ ten Wesen bevölkert wird, die dem Menschen fast immer über­ legen sind. Die utopisch ausgerichteten Marsromane gehen noch weiter, denn sie stellen ihre humanoiden Marsianer als ein Modell für den »homo superior« vor.

Die technischen Errungenschaften der Marsianer Da unsere kosmischen Nachbarn als uns überlegene Geschöp­ fe dargestellt werden, ist es nur zu verständlich, daß ihre tech­ nischen Erfindungen die unsrigen bei weitem übertreffen. Al­ lerdings wird in den auf Spannung angelegten Abenteuerro­ manen auf die technischen Neuerungen weniger Wert gelegt als in den wissenschaftlich-utopischen Romanen, in denen es oft von technischen Daten und Maßen nur so wimmelt. Eine Aufstellung sämtlicher Innovationen (viele davon waren Antizipationen), die in den Marsromanen genannt oder detail­ liert beschrieben werden, ergäben einen recht eindrucksvollen Katalog, der im Grunde genommen den wissenschaftlichen Optimismus um die Jahrhundertwende widerspiegelt. Alles, was wir uns von der Zukunft an technischen Wunderdingen er­ hoffen können, besitzen die Marsianer bereits. Im Bewußtsein der Menschen vor dem Ersten Weltkrieg bleiben sie in erster Li­ nie die Erbauer der Kanäle, also Wesen, denen es gelungen ist, kraft des wissenschaftlichen Fortschritts eine feindliche Umwelt 207

zu besiegen. Aber daneben ist von zahlreichen Erfindungen die Rede, die sich aus der Anwendungsmöglichkeit der Elektrizität, der Sonnenenergie oder der Atomkraft ergeben, manchmal auch aus der Verwendung mysteriöser Energieformen wie einer Anti-Schwerkraft, der Magnetotechnik oder diverser, nicht genau definierter Marsstrahlen, die Tod und Verderben säen, aber auch zu friedlichen Zwecken verwendet werden können. Oft ist es sogar der Wissenschaft gelungen, das ge­ samte Leben zu verändern und Krankheit, Alter und Tod zu be­ siegen - wiederum ein schöner Traum, dessen Erfüllung die Marsianer vortäuschen sollen. Wir sagten schon, daß es wenig Sinn hat, die zahlreichen Er­ findungen der Marsianer wie Fühlkinos, Gleitbänder, transpor­ table Häuser, superschnelle Transportmittel usw. aufzuzählen. Untersucht man sie nämlich genauer, so stellt sich heraus, daß es sich selten um Innovationen handelt, sondern daß diese Neuerungen auf dem Stand der zeitgenössischen Technik ba­ sieren und nur bereits vorhandene Trends verlängern. Wieder­ um erscheint Wells innerhalb der Marsliteratur seiner Zeit als Ausnahme, denn er hat zumindest versucht, eine technische Zivilisation zu beschreiben, in der die Erfindung des Rades nicht gemacht wurde und die demzufolge andere Wege gegangen ist. Es fällt auf, daß der Schwerpunkt bei den technischen Neue­ rungen auf dem Problem einer zukünftigen Energieversorgung liegt, denn schon Ende des 19. Jahrhunderts waren sich die Wis­ senschaftler darüber einig, daß die Rohstoffknappheit eines Tages der Menschheit verhängnisvoll werden könnte. Ein anderes Problem, mit dem sich fast alle Schriftsteller auseinan­ dersetzen, betrifft die Ernährung. Sieht man von der unrealisti­ schen Lösung Flammarions ab, der seine Marsianer überhaupt nicht mehr essen läßt, so sind die übrigen Schriftsteller fast immer der Meinung, daß nur eine synthetische Nahrungsmit­ telindustrie das Problem auf lange Frist zufriedenstellend re­ geln könne. Die zukünftige Ernährung der Menschen durch synthetischen »Ersatz« wird allgemein als Fortschritt angesehen. Zum einen entfernt sich der Mensch auf diese Weise noch ei­ nen Schritt mehr von seiner »bestialischen« Natur (hier klingen 208

Eine Marsflotte

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Flammarionsche Ideen an), zum anderen aber wird auf diese Weise der Hunger aus der Welt geschafft, das aber ist eine der Voraussetzungen für die Realisierung des Ideals einer glückli­ chen und zufriedenen Menschheit.

Die Marsgesellschaft Zwei Auffassungen stehen sich gegenüber. Zunächst das tradi­ tionelle, von der Astrologie beeinflußte Bild des Mars als eines kriegerischen Planeten, das wissenschaftlich zwar nicht mehr glaubwürdig, aber trotzdem noch gegenwärtig ist. Wir finden es vornehmlich in den Abenteuerromanen, in denen es einen dramatischen Handlungsablauf garantiert. Hin und wieder drücken die Schriftsteller durch das Thema vom kriegerischen Mars den um die Jahrhundertwende nicht gerade populären Verdacht aus, daß der wissenschaftliche und technische Fort­ schritt den Menschen nicht unbedingt besser machen müsse, daß er ihn sogar korrumpieren könne, indem er ihm immer perfektere Vernichtungsmittel in die Hand gibt, mit deren Hilfe seiner Eroberungslust und seinem »Willen zur Macht« keine Grenzen mehr gesetzt sind. Dem gegenüber steht die moderne Vision einer pazifisti­ schen, solidarischen Marsgesellschaft. Sie ist sehr verbreitet und entspricht der optimistischen Vorstellung dieser Zeit, daß der technische Fortschritt mit dem moralischen Hand in Hand geht. Die Kanäle scheinen diese Annahme zu unterstützen. Die Marsianer, die so ein gigantisches Unternehmen zu einem guten Ende gebracht haben, können keine Kriege mehr führen, son­ dern leben in Frieden und Harmonie und kennen Begriffe wie Nation und Patriotismus nicht mehr. Mars wird also am Vor­ abend des Ersten Weltkrieges ein Modell für die irdischen Pazi­ fisten, für die Partisanen einer humanen, brüderlichen Welt. Der Leser erfährt erstaunlich wenig über das Privatleben der Marsianer, über ihre familiären oder sexuellen Probleme. Auch wenn man sonst allerlei körperliche Besonderheiten nennt, werden Informationen über das »Intimleben« verschwiegen. Hin und wieder gesteht ein Autor seinen Marsmännern eine zweite Ehefrau zu, ab und zu wird die Erziehung der Kinder außerhalb der Familie erwähnt, aber damit erschöpft sich meist 210

die Einbildungskraft der Schriftsteller auf einem Gebiet, auf dem man eigentlich eine Menge hätte erfinden können. Wie­ derum können wir nur Wells mit seinen geschlechtslosen Marsianern als eine Ausnahme nennen. Erstaunlich diskret sind die Autoren auch in bezug auf die so­ zialen und politischen Strukturen ihrer entweder friedlichen oder aber kriegerischen Marsgesellschaften, und das selbst in den Romanen, in denen die utopische Komponente dominiert und der Leser eine eingehendere Beschreibung der gesell­ schaftlichen Mechanismen erwartet. Bei G. P. Serviss herrscht auf dem Mars eine Militärdiktatur, bei P. Greg und E. Salgari eine verbesserte kapitalistische Ge­ sellschaft, bei A. Bogdanov eine kommunistische Gemein­ schaft, aber diese klaren Stellungnahmen sind eher die Aus­ nahme als die Regel. Im allgemeinen sind die alternativen Ge­ sellschaftssysteme verschwommen. Die als positiv und nachah­ menswert dargestellten Marsgesellschaften haben in der Mehr­ zahl entfernte Ähnlichkeit mit einer sozialistischen Gesell­ schaftsform, d. h. es handelt sich um demokratische Gemein­ wesen, in denen alles im Zeichen der Solidarität steht. Der ein­ zelne ist sich seiner Verantwortung für die Allgemeinheit be­ wußt, und die sozialen Fragen, die das 19. Jahrhundert beweg­ ten, sind meist durch den technischen Fortschritt gelöst worden. Da es an genauen Erklärungen über das Zustande­ kommen dieser Gesellschaft fehlt, kann der Leser nur anneh­ men, daß man aus dem Kapitalismus allmählich auf friedliche Weise in diese neue, bessere Welt hineingewachsen ist. Selten ist in den Romanen von Marsmonarchien die Rede, werden sie aber erwähnt, so existieren sie neben demokratischen Staats­ formen, und der Autor weist ausdrücklich darauf hin, daß auch in der Monarchie der Einfluß des Volkes bei allen Entscheidun­ gen von großer Bedeutung ist. In der Regel zeigen die Marsromane, daß man sich von der Zukunft vornehmlich den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt erhoffte, durch den sich dann allmählich auch die sozialen Unterschiede verringern würden. Eine radikale Neu­ ordnung der zukünftigen Gesellschaft ziehen die Schriftsteller nicht in Betracht, wahrscheinlich weil sie annehmen, daß sie 211

sich von der europäischen Gesellschaft ihrer Zeit nicht grund­ legend unterscheiden würde. So ist also auch die ideologische Botschaft der Marsromane von der bürgerlichen Wertewelt ge­ prägt. Der Mensch wird immer intelligenter, mächtiger und vielleicht auch besser werden - aber im Rahmen der bestehen­ den sozialen Ordnung. Der Kontakt mit unseren kosmischen Nachbarn Oft ist in den Marsromanen um die Jahrhundertwende die Rede davon, daß zunächst versucht wird, »auf Entfernung« Kon­ takt aufzunehmen, so durch optische Signale oder Radiowel­ len. Manchmal wird die Hypothese aufgestellt, daß die Marsianer schon seit langem mittels starker optischer Geräte unseren Planeten beobachten. Vielleicht haben sie sogar, da sie älter sind als wir, die gesamte geologische Entwicklung der Erde auf­ gezeichnet. Wie faszinierend wäre es dann für uns, ihre Archive benützen zu dürfen, um endlich das Geheimnis unserer Ver­ gangenheit zu lüften! Meist begnügt man sich aber nicht mit einem Informations­ austausch über den Weltraum hinweg, sondern versucht, dem Nachbarplaneten einen Besuch abzustatten. Von der mehrmals genannten Methode der Seelenwanderung abgesehen, die den Vorteil hat, vom Stand der Technik unabhängig zu sein, gibt es noch einige andere, eher unseriöse Mittel, die eine Reise möglich machen sollen, so Kometen, die Eruptionskraft eines Vulkans oder die psychische Energie. Daneben besitzen die Schriftsteller aber auch ein ganzes Arsenal glaubwürdigerer Transportmittel, wie z. B. Flugkörper aus schwerelosem Mate­ rial und, in seltenen Fällen, auch Raumschiffe mit Raketenan­ trieb. Die interplanetarischen Reisen finden meist in Richtung Erde-Mars statt und nicht umgekehrt. Das ist nicht ganz ein­ leuchtend, denn wegen der vielgepriesenen technischen Überlegenheit der Marsianer dürfte man annehmen, daß auch sie das Problem der Raumfahrt gelöst haben. Vom Standpunkt des Lesers ist diese Reiserichtung freilich legitimiert, denn sie erlaubt es ihm, eine fremde Welt zu entdecken. Gleichzeitig verbindet sich die menschliche Entdeckerfreude mit einer ge212

wissen Aggressivität, die typisch für die Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts ist. Wir dürfen nicht passiv die Ankunft der Außerirdischen abwarten, es ist vorteilhafter, als erste die Reise zu unternehmen und eventuell den Angriff zu wagen. In einigen Romanen handelt es sich um eine »individuelle Reises die ein Wissenschaftler oder ein Abenteurer, nicht im­ mer ganz freiwillig, antritt. Häufiger sind allerdings »Gruppen­ reisen« zum Mars, aber die Weltraumpioniere sind im allgemei­ nen nicht zahlreich; selten hat eine Gruppe (oft von internatio­ naler Zusammensetzung) mehr als fünf Mitglieder. Hin und wieder nehmen Frauen an den kosmischen Reisen teil, wenn das der Fall ist, dann entspinnt sich (zumindest in den franzö­ sischen Romanen!) zwischen dem weiblichen Mitglied der Ex­ pedition und einem männlichen Teilnehmer eine Liebesge­ schichte. Das ist wichtig, wenn die Schriftsteller, wie es bei den französischen Abenteuerromanen der Fall war, auch ein weib­ liches Publikum gewinnen wollen. Innerhalb der Marsliteratur vor dem Ersten Weltkrieg ist die großangelegte, als Racheakt geplante Marsexpedition in Edisons Conquest of Mars von G. P. Serviss, an der alle Völker der Erde teilnehmen, eine Aus­ nahme. Auf dem Mars angekommen, stellt sich den irdischen Reisen­ den zunächst das Problem der verbalen Kommunikation. Sel­ ten erlauben es sich die Schriftsteller um die Jahrhundert­ wende, das Problem ganz zu ignorieren indem sie die Mars­ leute einfach in der Sprache der Ankömmlinge reden lassen. Das Schema des sprachlichen Erstkontakts sieht fast immer gleich aus. Zunächst versuchen es die Menschen mit den be­ kanntesten lebenden und toten Sprachen, die einem gebilde­ ten Europäer geläufig sind, natürlich ohne Erfolg. Dann erreicht man eine notdürftige Verständigung durch Zeichen und Ge­ sten. Auf die Dauer ergeben sich vor allem zwei Möglichkeiten: Entweder erlernen die Marsianer ein irdisches Idiom, und das geht dann wegen ihrer hohen Intelligenz meist sehr schnell, oder aber die Besucher erlernen die Marssprache, und das ge­ schieht in den meisten Romanen. Oft stellt sich dann heraus, daß auf dem Mars die verschiedenen Sprachen im Laufe der Entwicklung durch eine einzige (manchmal künstliche) Univer213

salsprache ersetzt worden sind, was auch erklärt, warum es auf dem roten Planeten leichter ist, internationale Zwistigkeiten zu schlichten. In manchen Romanen bedient man sich beim Erler­ nen der Marssprache noch »primitiver« Methoden, die zum Beispiel darin bestehen, daß Gegenstände gezeigt und benannt werden. Manchmal führt der Autor aber auch allerlei techni­ sche Hilfsmittel vor, die das Erlernen der Sprache erleichtern und beschleunigen. Schwieriger wird es, wenn die Sprache fast nur auf Intonationen aufgebaut ist und ein hochmusikalisches Ohr bei dem Schüler voraussetzt. Einige Schriftsteller haben ihren Spaß daran, dem Leser die Marssprache, ihren Wort­ schatz und ihre grammatikalischen Eigenheiten genauer zu er­ klären. Telepathie als totale Kommunikation, als Verständigung von Hirn zu Hirn, von Geist zu Geist, wird zwischen Marsianern und Menschen in der Literatur vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht verwendet, wahrscheinlich weil man annahm, daß der niedri­ gere Entwicklungsstand der Menschheit einen ungehinderten Gedankenaustausch verhindert. Aber im übrigen hält man, wie wir gesehen haben, die Sprachbarrieren, die zwischen den Be­ wohnern zweier Planeten bestehen, für durchaus überwindlich. Nur Wells ist pessimistischer als seine Zeitgenossen, in seinem Krieg der Welten erscheint jeder Versuch einer Kom­ munikation mit den Eroberern von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Und welche Folgen ergeben sich aus dem Kontakt mit den Bewohnern unseres Nachbarplaneten? Wenn man davon ausgeht, daß die Marsianer im allgemei­ nen eine intelligente, uns technisch überlegene und sittlich höherstehende Rasse sind, so könnte der Kontakt mit ihnen den Menschen eigentlich nur zum Vorteil gereichen. Aber nur »eigentlich«, denn das Aufeinandertreffen zweier Zivilisatio­ nen, die verschiedene Entwicklungsstufen erreicht haben, ver­ läuft nicht ohne Konflikte, selbst wenn beide Teile zunächst guten Willens sind. Das hat Laßwitz in seinem Roman Auf zwei Planeten besonders deutlich demonstriert. Die Haltung der Menschen ist also nicht eindeutig. Sie schwankt zwischen Mißtrauen und Kontaktfreude hin und her. 214

Einerseits möchte man an die Existenz der Marsianer glauben, auf diese Weise wäre man nicht mehr allein im Universum. Man möchte auch an ihre technische und moralische Perfektion glauben, die dem Menschen seine eigene Zukunft in rosigem Licht erscheinen läßt. Andrerseits scheint aber Mißtrauen durchaus angebracht zu sein. Ein Besuch oder ei ne Invasion der Marsianer auf unserem Planeten könnte zu allerlei Komplika­ tionen, ja sogar zu einer Katastrophe führen. Vergessen wir nicht, daß ihr Planet im Erkalten begriffen ist, daß ihre Wasser­ vorräte knapper werden. Wenn wir im geheimen davon träu­ men, den Mars wie einen neuen irdischen Kontinent zu an­ nektieren, warum sollten die Marsianer nicht ihrerseits daran denken, die Erde zu kolonisieren, auf der die Sonne noch warm scheint, auf der das Wasser noch im Überfluß vorhanden ist, die ihnen also wie ein paradiesischer Planet vorkommen muß. Letztlich läuft also der Kontakt mit den Marsianern auf ein Kräftemessen hinaus. Entweder werden wir kolonisiert, oder wir treten als Eroberer auf, oder aber man unternimmt den Versuch einer friedlichen Koexistenz. So spiegelt das Marspro­ blem die Hoffnungen und gleichzeitig die Ängste einer Epoche wider. Mit Hilfe des Mars und der Marsianer verlegt der Mensch seine irdischen Konflikte in den kosmischen Raum. In diesem Sinne ist es wohl erlaubt, von einem »Marsmythos« zu sprechen, einem Mythos, der sich im letzten Drittel des 19. Jahr­ hunderts entwickelt und in den Jahren vor dem Ersten Welt­ krieg seinen Höhepunkt erreicht hat. An seiner Entstehung und Propagierung haben sowohl die Astronomie und die Naturwis­ senschaft als auch die Philosophie, vor allen Dingen aber die Literatur mitgearbeitet. Dieser Mythos rührt an politische und soziale aber auch an ethische und moralische Probleme. Die Geschichte der Marsianer wird auf unsere eigene Geschichte bezogen, wenn wir von diesen fernen kosmischen Brüdern sprechen, dann sprechen wir im Grunde genommen von uns, und das verleiht der Marsliteratur vor dem Ersten Weltkrieg, trotz aller Vielfalt, eine gewisse Einheit.

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IV

Schwere Zeiten für die Marsianer Die Marsliteratur zwischen den zwei Weltkriegen

Einleitung Nach dem Ersten Weltkrieg beginnen für unsere Marsianer schwere Zeiten. Die Wissenschaftler bezweifeln in immer stär­ kerem Maße ihre Existenz, und die von Kriegen, Revolutionen und Wirtschaftskrisen heimgesuchte Menschheit begeistert sich immer weniger für ihre fernen Brüder im All. Die Gesell­ schaft der »Belle Epoque« war eine relativ stabile Gesellschaft gewesen, und wenn man um die Jahrhundertwende Sehnsucht nach einem Kulissenwechsel hatte, dann wandte man sich un­ serem Nachbarplaneten zu. Inzwischen sind in Europa die ver­ trauten Kulissen wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. Die bürgerliche Gesellschaft mußte erkennen, daß alle Werte, an deren Gültigkeit und Verläßlichkeit sie geglaubt hatte, in Frage gestellt wurden, wenn sie nicht einfach hinfällig geworden wa­ ren. Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918 bis 1922) ist eine Bestandsaufnahme dieser Krise. Spengler räumt unnachsichtig mit Humanismus und Idealismus auf. Für ihn ent­ stehen und vergehen Kulturen wie organische Wesen, und die europäisch-amerikanische Zivilisation hat, seiner Meinung nach, ihr Endstadium erreicht. In diesem politischen und sozialen Kontext wird den Marsianern das Leben nicht leicht gemacht. Die Literatur vor dem Er­ sten Weltkrieg hatte uns gezeigt, daß ihre Geschichte im Grun­ de genommen die menschliche Geschichte widerspiegelt. Aber die Marsianer werden nicht nur Opfer der politischen Verhältnisse, sondern vor allen Dingen der neuesten wissen­ schaftlichen Forschungsergebnisse. Percival Lowell war 1916 gestorben, Camille Flammarion starb 1925, und niemand setzte ihr Werk in ihrem Sinne fort - aus ver­ ständlichen Gründen. Waren doch schon in den Jahren, als sie auf dem Gipfel ihres Ruhmes standen, die meisten ihrer astro­ nomischen Fachkollegen skeptisch geworden. Wir hatten schon erwähnt, daß Asaph Hall, der Entdecker der Marssatel­ liten, E. E. Barnard, E. W. Maunder und viele andere seit gerau­ mer Zeit die Existenz der Kanäle geleugnet und sie als optische Täuschungen bezeichnet hatten. Aber die enthusiastischen Spekulationen eines Lowell sagten den Menschen mehr zu, 218

weil sie ihren ureigensten Wünschen und einer gewissen Sen­ sationslust entgegenkamen. Das Interesse der breiten Öffent­ lichkeit an den Marsproblemen hatte sich allerdings auf die Forschung selbst eher ungünstig ausgewirkt, weil vielen Wis­ senschaftlern ihre »Objektivität« verlorengegangen war. Jetzt aber war Lowell tot, der Krieg mit all seinen Schrecken hatte den Mars und seine hypothetischen Bewohner in den Hinter­ grund treten lassen, und die Wissenschaftler fanden die Sach­ lichkeit wieder, die ihnen in den heftigen Debatten um die Ka­ näle abhanden gekommen war. Die Astronomen greifen jetzt nicht nur die Kanalhypothese an (bzw. die künstliche Entstehung der Kanäle) - das wäre nicht weiter schlimm, denn die Existenz der Marsianer ist ja nicht un­ bedingt von den Kanälen abhängig, sondern sie examinieren die Lebensbedingungen auf dem Mars genauer, und ihre Be­ obachtungen bremsen ganz entschieden den Optimismus, der in dieser Hinsicht mehrere Jahrzehnte lang geherrscht hatte. Man verfügt jetzt über perfektere und präzisere Instrumente, die z. B. fähig sind, die Temperaturen auf der Marsoberfläche zu messen. Die amerikanischen Astronomen William Weber Coblentz (1876-1962) und Carl Otto Lampland (1873-1951) kommen zu dem Schluß, daß die Minimaltemperaturen sehr niedrig liegen müssen und vor allen Dingen in den Nächten bis auf minus hundert Grad sinken. Wasser kann also in flüssiger Form nur in den äquatorialen Gebieten vorhanden sein, wo die Temperaturen über Null und manchmal bis zu 25° Celsius an­ steigen. Ihre Messungen bestätigen auch eine äußerst geringe Dichte der Marsatmosphäre, die demzufolge nicht, wie die ir­ dische Atmosphäre, fähig ist, den Planeten vor den Einwirkun­ gen schädlicher Strahlungen zu schützen. Die Forschungen von Coblentz und Lampland ergeben das Bild eines kalten, wasser­ armen Planeten, der darüber hinaus von Strahlen bombardiert wird, die für höhere Organismen tödlich sind. Das legt die Ver­ mutung nahe, daß Lebensformen vom irdischen Typus nicht vorhanden sein dürften. Wiederum wollen wir aus der Vielzahl der astronomischen Schriften nach dem Ersten Weltkrieg, die einer ähnlichen Skep­ sis das Wort reden, nur einige Beispiele nennen. 219

Typisch für die zunehmend vorsichtigere Haltung dem Mars­ leben gegenüber sind die Schriften des Abbé Théophile Moreux. In seinem Roman Der dunkle Spiegel, in dem sich der Astronom als Schriftsteller versucht, hatte Moreux angedeutet, daß auf dem Mars die Existenz vernunftbegabter Wesen trotz der erschwerten Lebensbedingungen nicht ausgeschlossen sei. Aber der Wissenschaftler Moreux hatte bereits zu dem Zeit­ punkt, als er den Roman verfaßte, die Lowellsche Kanalhypo­ these bestritten. In den zwanziger Jahren hat er auch zwei astro­ nomische Werke veröffentlicht, die für unser Marsproblem von einiger Bedeutung sind. Es handelt sich um Les autres mondes sont-ils habités? (1923, Sind die anderen Welten bewohnt?) und La vie sur Mars (1924, Das Leben auf dem Mars). In dem letzt­ genannten Buch verwendet Moreux auch die Beobachtungen, die bei der Marsannäherung von 1924, der günstigsten unseres Jahrhunderts (die Erdentfernung betrug 55,8 Millionen km) ge­ macht wurden. In beiden Büchern wird ausgiebig die Kanalhy­ pothese kritisiert, die nach der Meinung von Moreux auch die Vorliebe der Zeit für alles Starre, Lineare ausdrückt. Der größte Unterschied zwischen dem Mars und der Erde besteht in der Zusammensetzung der Atmosphäre. Nach den Berechnungen von Moreux dürfte der atmosphärische Druck auf der Oberflä­ che nur 65 mm betragen (760 mm auf der Erde), das entspräche einem Luftdruck in 20000 Meter Höhe. Man kann also auf kei­ nen Fall, wie man es bis jetzt getan hat, den Luftdruck auf dem Mars mit dem hochgelegener irdischer Gebirge vergleichen. Selbst die tibetanischen Völker in den Höhen des Himalaya le­ ben noch unter einem Luftdruck von 380 mm. Die niedrigen Temperaturen (Moreux nennt einen Durchschnitt von minus 37 Grad Celsius) haben sich wahrscheinlich weniger hemmend auf die Entwicklung von Leben ausgewirkt als der Luftmangel und der niedrige Atmosphärendruck. Man kann also hoffen, auf dem Mars eine primitive Vegetation (Flechten, Moose und Pilze) und vielleicht niedere Tiergattungen anzutreffen, auf kei­ nen Fall aber Säugetiere und menschenähnliche Wesen. Die Schlußfolgerung des französischen Abbé lautet: »Mars steht in seinem Entwicklungsstadium zwischen dem Mond und der Erde, und die Phänomene, die wir aus der Ferne beobachten, 220

sind wahrscheinlich die letzten Manifestationen eines erlö­ schenden Lebens.« Diese Feststellung läßt allerdings der menschlichen Vorstellungskraft eine Tür offen, die zwar nicht in die Zukunft, wohl aber in die Vergangenheit führt. Mars ist nicht mehr bewohnbar, aber vielleicht war der Planet vor Jahr­ millionen bewohnt, und wir werden eines Tages, wenn wir den Planeten besuchen, auf Spuren einer verschwundenen Zivili­ sation stoßen. Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung kommt auch der ameri­ kanische Astronom Forest L. Moulton in seinem Buch Consider (he Heavens (New York 1935), der zunächst sagt, daß bis jetzt nichts die Theorien Lowells beweise und nichts ihnen wirklich widerspreche. Dann fügt er aber hinzu: »Es ist nicht auszu­ schließen, daß auf diesem Planeten Leben existiert.« Der deutsche Astronom Robert Henseling räsonniert in sei­ nem 1925 veröffentlichten Büchlein Mars. Seine Rätsel und sei­ ne Geschichte ebenfalls ähnlich wie der Abbe Moreux: »Unbe­ stimmte Vermutungen sind alles, was wir über die Oberflä­ chenbeschaffenheit des Mars und über die Möglichkeit von Leben auf seiner Oberfläche bis auf weiteres wissen können. 221

trotz der ungeheuren Fülle von Fleiß und Scharfsinn, die von Berufenen (und leider auch Unberufenen) an die Erforschung der Marsrätsel schon gewendet worden ist.« (S. 6) Der Siebenbürger Professor Hermann Oberth (geb. 1894), ei­ ner der Wegbereiter und Begründer der Raumfahrt, bekennt in seinem 1923 erschienen Buch Die Rakete zu den Planetenräu­ men noch offener die Unwissenheit der Forscher bezüglich ei­ nes höherentwickelten Marslebens. Während Henseling das Problem einer eventuellen Marsreise in seinem Buch nur kurz streift, weil sie ihm noch für lange Zeit unrealisierbar erscheint, sieht Oberth das Problem optimistischer. Kein Wunder - hatte er doch in der Rakete zu den Planetenräumen, dem ersten Standardwerk der Raumfahrttechnik, das Prinzip der Flüssig­ keitsrakete entwickelt, das die Raumfahrt möglich machen soll­ te. Oberth skizziert in diesem Buch auch das Projekt einer be­ mannten Marsexpedition. Er erwägt sogar die Möglichkeit, auf dem Mars durch Destillation der Marsatmosphäre Sauerstoff herzustellen und den Brennstoff für die Rückreiseebenfallsan Ort und Stelle zu gewinnen. Er macht sich auch Gedanken über die Verantwortung der Menschen, die den Marsboden eines Tages betreten werden. Falls diese dort keine Lebensformen antreffen, so käme der ersten Expedition die Aufgabe zu, auf dem Planeten Ansiedlungsversuche mit Organismen aus ähnli­ chen irdischen Klimagebieten zu machen. Beherberge der Mars aber Leben, so sei es die Aufgabe der Menschen, seine Lebewelt zu schonen und unverändert zu erhalten. Ihre Erfor­ schung würde für die biologische Wissenschaft von geradezu epochemachender Bedeutung werden. Henseling, Moreux und Oberth - das sind nur wenige Bei­ spiele, die stellvertretend stehen für eine Reihe namhafter Astronomen, die zu der Erkenntnis gekommen sind, daß die Frage nach der Existenz vernunftbegabter Wesen im All (und auf dem Mars) nicht theoretisch lösbar sei und daß sich dem­ zufolge, beim gegenwärtigen Forschungsstand, nichts Be­ stimmtes über die Lebensformen auf anderen Planeten aussa­ gen lasse. Daneben gibt es aber immer noch Astronomen, die weiterhin versuchen, für ein höherentwickeltes Marsleben zu plädieren. Zu ihnen gehört beispielsweise ein Veteran der Mars222

Beobachtungen, E. M. Antoniadi, der zwar seit seinen Beobach­ tungen im Jahre 1909 die Realität der Kanäle bestritt, aber in seinem 1930 erschienenen, gut fundiertem Buch über den Mars (La planéte Mars) an der Hoffnung festhält, der Mars möge nicht nur primitives pflanzliches Leben, sondern auch tierisches Leben, vielleicht sogar vernunftbegabte Wesen, beherbergen. Seine Überlegung ist folgende: Es ist kalt auf dem Mars? Gut, aber in Sibirien hat sich der Mensch Temperaturen von minus siebzig Grad anpassen können. Die Atmosphäre ist dünn? Aber auch in Tibet leben Menschen, obgleich die Luft, die sie atmen, doppelt so dünn wie die unsrige ist. Antoniadi ist überzeugt da­ von, daß die dunklen, sich ständig verändernden Flecken mit Vegetation bedeckt sind, aber seine Argumente machen deut­ lich, daß er vom Mars mehr verlangt als das Vorhandensein pflanzlicher Lebensformen. Spätestens 1924 war die Hoffnung, in Kürze Genaueres über ein eventuelles Marsleben zu erfahren, enttäuscht worden. Bei dieser ungewöhnlich günstigen Marsopposition hatten die fotografischen Aufnahmen, die man schon seit Beginn des Jahr­ hunderts bei der Planetenerforschung verwendete, nichts Neu­ es gebracht. Auch die spektralanalytischen Untersuchungen der Marsatmosphäre ergaben nur widersprüchliche Resultate. Und der Versuch, in diesem Jahr einen Funkkontakt mit un­ serem Nachbarn herzustellen, ein Versuch, der in allen Tages­ zeitungen ausgiebig besprochen wurde, blieb ebenfalls ohne Erfolg. Marconi selbst hatte hier einige Erwartungen geschürt, nachdem er mehrmals angedeutet hatte, nicht identifizierte Radiozeichen könnten außerirdischer Herkunft sein, und es bestehe vielleicht die Möglichkeit, durch funktelegraphische Signale eine kosmische Kommunikation zustandezubringen. So wurde das Jahr 1924, von dem sich die Astronomen so viel erwartet hatten, eine große Enttäuschung. Wenn aber auf dem Mars keine Lebewesen zu erwarten sind, die den irdischen Geschöpfen gleichen, so ist es doch erlaubt, an ein Leben von ganz andersartiger Organisation zu denken. Das ist eine interessante Idee, an die vor dem Ersten Weltkrieg kaum jemand dachte, und die sich jetzt, wenn auch vorsichtig und zögernd, ihren Weg bahnt. Ein völlig anders organisiertes 223

Leben war - vom wissenschaftlichen Standpunkt aus - die ein­ zige Chance, die Marsianer zu retten. Wenn man annimmt, daß die Marsianer nicht wie wir atmen, dann wird auch der atmo­ sphärische Druck auf dem Planeten, der Moreux so viel Kopf­ zerbrechen bereitete, unwichtig. Vielleicht können diese fremdartigen Lebensformen sogar ohne Luft und ohne Wasser leben! Die wissenschaftlichen Argumente zugunsten uns total frem­ der Lebensformen werden indirekt von einer neuen ideologi­ schen Haltung unterstützt. Die europäische Gesellschaft ist sich nach dem Ersten Weltkrieg ihrer Wertewelt nicht mehr sicher und deshalb eher geneigt zuzugeben, daß es möglich ist, nach anderen Verhaltensmustern als denen der weißen Rasse und anderen Normen als denen der bürgerlich-kapitalistischen Ge­ sellschaft zu leben. Seltsamerweise wird ein alter Bekannter von uns, nämlich Henri de Graffigny, der in seinen Abenteuern eines russischen Gelehrten den Anthropomorphismus auf das ganze Weltall ausgedehnt hatte, plötzlich zu einem Propagator dieser ent­ gegengesetzten Richtung. Man lese, um sich davon zu über­ zeugen, sein wissenschaftliches Werk Irons-nous dans la Lune? (1925, Werden wir auf den Mond reisen?). Er kritisiert dort (ohne allerdings seinen Namen zu nennen) alle diejenigen, die außerirdische Lebensformen erfunden haben, indem sie sich am menschlichen Prototyp inspirierten. »Es genügt, sich eine Er­ nährungsweise vorzustellen, die von der irdischen völlig ver­ schieden ist, und es würden daraus Lebensformen resultieren, die sich ebenfalls von den uns bekannten grundlegend unter­ scheiden. Das gilt auch für eine anders zusammengesetzte At­ mosphäre für andere Schwerkraftverhältnisse...«In diesem Fall würde der Mensch, meint de Graffigny, der auf einem Planeten landet, seine kosmischen Brüder nicht erkennen und unfähig sein, auf dieser fremden Welt mit den Vertretern einer intelli­ genten Rasse Kontakt aufzunehmen. Selbst wenn der Mensch aus der Ferne den Pulsschlag fremder Welten und fremder We­ sen vernimmt, so wäre er doch nicht in der Lage, mit ihnen zu kommunizieren, wenn ihr Äußeres, ihr Intellekt und ihre Le­ bensformen von den uns bekannten radikal abweichen. 224

Es lebe der Unterschied! Die Marsianer sind gerettet! Soweit zum wissenschaftlichen Kontext. Nun wollen wir uns der literarischen Fiktion zuwenden. Die Zeit zwischen den zwei Weltkriegen ist, und das betrifft nicht nur die Marsliteratur, eine Übergangszeit. Vergessen wir nicht, daß sie nur einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten umfaßt. In der Marsliteratur zeichnen sich in diesen zirka zwanzig Jahren zwei Tendenzen ab. Zu­ nächst leben die »traditionellen« Marsianer, allen wissenschaft­ lichen Argumenten zum Trotz, weiter. Daneben betreten aber auch »moderne« Marsianer die literarische Bühne, und allmäh­ lich entwickelt sich eine neue Marsrasse, die den zeitgenössi­ schen wissenschaftlichen Forschungsstand respektiert. Die traditionellen Marsianer stehen in der Nachfolge von Burroughs (der weiterhin einen Marsroman nach dem anderen veröffentlicht). Die mehr oder weniger humanoiden Kreaturen dieser traditionellen Marsromane haben die Aufgabe, den Leser mit ihren Abenteuern zu unterhalten, die in einem un­ gewöhnlicheren und exotischeren Rahmen stattfinden als ihn die Erde zu bieten hat. Wissenschaftliche oder philosophische Ansprüche stellen sie nicht. Es handelt sich im Grunde genom­ men um Space Operas, deren wissenschaftlicher Gehalt bedeu­ tungslos ist, bzw. sich auf einige pseudowissenschaftliche Ac­ cessoires beschränkt. Die zweite Tendenz ist - zumindest vom intellektuellen Standpunkt aus - interessanter. Im Rahmen einer literarischen Fiktion versucht man dort Marsianer zu erfinden, die sich radi­ kal von uns unterscheiden; man analysiert die Schwierigkeiten der Kommunikationsversuche und die Gefahren, die ein sol­ cher Kontakt mit sich bringen könnte. Damit eröffnen sich der dichterischen Einbildungskraft neue Dimensionen und uner­ forschte Territorien. Aber wir dürfen nicht zu sehr vereinfachen und schemati­ sieren. Neben diesen beiden Richtungen bleibt der Mars, wie schon in der Vergangenheit, ein idealer Ort für Utopien, ein Ort, auf dem man seine Träume, seine Illusionen und Phantas­ men ansiedeln kann. Und gleich die ersten Marsromane, die wir uns näher anschauen wollen, setzen diese aus der Marsli­ teratur nur allzubekannte utopische Richtung fort. 225

Homo homini Martianus: Octave Jonquel & Theo Varlet, L’Epopée Martienne 1921/22

Die französischen Schriftsteller Octave Jonquel (Lebensdaten nicht festzustellen) und Theo Varlet (1878-1938) veröffentlichten einen langen und effektvollen Marsroman (L'Epopée Martien­ ne) in zwei Bänden, die unter den Titeln Les Titans du ciel (1921, Die Titanen des Himmels) und L’Agonie de la Terre (1922, Die Agonie der Erde) erschienen sind. Diese Romane können den Einfluß des klassischen Mars­ erbes der Vorkriegszeit nicht verleugnen. Die brutale Invasion der Marsianer, die hier geschildert wird, läßt an H.G. Wells denken, die Methode der Seelenwanderung an Camille Flam­ marion, während das Äußere der Marsianer auf die geflügelten Vampire in Gustave Le Rouges Marsromanen hinzuweisen scheint. Octave Jonquel und Theo Varlet stellen sich einen Marsianer folgendermaßen vor: »Er hatte seine Fledermausflü­ gel aus einem rötlichen, gummiartigen Stoff auf dem Rücken zusammengefaltet, die leuchtenden Fühler auf seiner Stirn pul­ sierten, streckten sich im Rhythmus der Gedanken aus oder zogen sich wieder zusammen. Seine goldgelben Augen mit den Pupillenschlitzen glichen denen einer Katze.« Trotz einer Reihe von Klischees handelt es sich aber um eine sehr zeitgemäße Marsgeschichte, die davon zeugt, daß ihre Autoren die Greuel des Ersten Weltkrieges noch unmittelbar in Erinnerung haben und sich bewußt sind, daß die unruhigen Zeiten, in denen sie leben, durchaus geeignet sein könnten, noch fürchterlichere Greuel hervorzubringen. Im Grunde ge­ nommen kombinieren die beiden Autoren hier eine Marsin­ vasion mit einer sogenannten Dommsday-Erzählung, wobei die Vernichtung der Welt durch einen totalen, erbarmungslosen Krieg erfolgt, der wiederum die Folge einer mißbrauchten technischen Entwicklung ist, mit der die moralische Perfektio­ nierung des Menschen nicht Schritt gehalten hat. Die Handlung beginnt 1978. Der Zweite Weltkrieg hat nicht stattgefunden, die Menschheit hat sich in einen Einheitsstaat zusammengeschlossen, dessen Hauptstadt Paris ist (die Autoren sind eben Franzosen). Dank der Fortschritte in Wissenschaft 226

und Technik ist es gelungen, telegraphische Kontakte mit dem Jupiter herzustellen. Seine Bewohner sind mächtig und gut, während die Bewohner des Mars mächtig und böse sind. 1979 greifen die Marsianer die Erde an und bombardieren erbar­ mungslos. Paris, Lyon, Nizza, Rom, London, Chicago, Boston und viele andere Städte werden zerstört. Die Angriffe rufen panische Angst, Massenhysterie und Anarchie hervor. Alle ge­ sellschaftlichen Institutionen brechen zusammen. Eine kleine geistige Elite, zu der auch der Held des Romans, der Journalist Léon Rudeau, gehört, läßt sich in der französischen Stadt Amiens nieder. Warum Amiens? Wahrscheinlich, um die Stadt, in der dieser Roman veröffentlicht wurde, zu Ehren kommen zu lassen. Als auch diese Stadt vernichtet wird, fliehen die Über­ lebenden auf die Höhen des Mont Blanc-Massivs. Jetzt greifen die Jovianer ein. Zwei Jahre lang haben sie ihre Sonnenbatterien und Sonnenakkumulatoren aufgeladen, nun richten sie in der Nacht vom 21. zum 22. Juni 1980 die gespei­ cherte Energie durch einen Riesenprojektionsapparat auf den verbrecherischen Planeten und vernichten alles Leben auf sei­ ner Oberfläche. Aber ein Raumschiff ist entkommen und er­ reicht die Erde. Es landet in der Nähe von Kairo, nicht weit von den Pyramiden. Die Menschen werden mit Hilfe eines geheim­ nisvollen Parfüms und hypnotischer Maschinen von den Mars­ zauberern angezogen. Erst jetzt stellt sich heraus, daß der ganze Horror der Marsinvasion nur der erste Akt der Tragödie war. Die Marsmagier sind nämlich nicht allein auf die Erde gekom­ men, die Katastrophe auf dem Mars hat ein ganzes Heer marsianischer Seelen freigesetzt, die dem Raumschiff auf die Erde gefolgt sind. Die Marsseelen ergreifen nun von menschlichen Körpern Besitz. Bald existieren die letzten Menschen nur noch in Form von körperlosen Geistern (zu denen auch Rudeau und seine Frau gehören) und müssen ohnmächtig zuschauen, wie sich die Marsianer ihrer Körper bedienen. Wie läßt sich das alles erklären? »Die grausame Religion der Marsianer sieht in der Sonne die höchste Vollendung der Seelenwanderung. Die Marszauberer berichten, daß die Marsseelen auf dem Saturn ihren Ursprung gehabt und sich dort zum ersten Mal reinkarniert haben. Über 227

den Jupiter sind sie dann zum Mars gekommen. Ihr nächstes Ziel war die Erde. Und wie wir gesehen haben, sind ihre Seelen - von einem fanatischen Glauben getrieben - tatsächlich bis zu uns gekommen. Bis jetzt war die Bevölkerung des Mars den Menschen zahlenmäßig weit unterlegen gewesen, und die Marsseelen konnten sich problemlos in unseren Neugebore­ nen reinkarnieren. Sie bildeten unter den Menschen eine Min­ derheit von Gewalttätern und Verbrechern.« Aber jetzt, nach­ dem sie alle ihre Planeten auf einmal verlassen mußten, fehlt es den Marsianern auf der entvölkerten Erde an Körpern, und sie sehen sich gezwungen, auch mit Affen und schließlich mit allen möglichen Organismen (Fliegen und Ratten zum Beispiel) vor­ lieb zu nehmen. Die Menschen, in denen jetzt Marsseelen le­ ben, bieten einen traurigen Anblick: »Sie haben das Lächeln verlernt und kennen nur noch ein tierisches Lachen. Deshalb ist es unwichtig, ob sie äußerlich Menschen oder Affen gleichen, denn die Marsgesichter können nur tierische Leidenschaften ausdrücken.« Die Marsianer verschlingen ohne Unterschied alles, was ih­ nen über den Weg läuft, Elefanten, Krokodile, Hunde usw., sie verschonen nur die Fledermäuse, weil sie ihnen ähnlich sind. Sie besitzen ein außergewöhnlich hochentwickeltes techni­ sches Wissen und schicken sich an, die Erde zu zerstören, bevor sie ihren Weg zur Venus fortsetzen, der nächsten Etappe auf ihrem Weg zur Sonne. Glücklicherweise gelingt es Rudeaus Seele, durch eine List wieder in den Besitz seines Körpers zu gelangen und die Zer­ störung der Erde zu verhindern. Ja, er schafft es sogar, die 2000 Zylinder mit ihren Insassen, die eigentlich auf die Venus aus­ wandern wollten, von ihrer Bahn abzulenken und direkt zur Sonne zu expedieren. Damit kommt die zerstörerische Seelen­ wanderung der Marsianer zu einem raschen Ende. Rudeau stößt dann in den Anden auf die »letzten Menschen«, eine klei­ ne Gruppe, die dem »Körperraub« der Marsianer entgangen war: »Durch sie wird die Menschheit eine Zukunft haben. Aber wie wird diese Zukunft aussehen? Welchen Platz wird die Tech­ nologie in dieser Zivilisation einnehmen, die eines Tages wie­ der entstehen wird. Sicher einen geringeren als vor der Mars­ 228

katastrophe, das steht fest. Denn diese hat zu deutlich gezeigt, wie gefährlich eine übertriebene Industrialisierung ist und daß die Zukunft unserer Nachfahren nur durch eine Rückkehr zu einem einfachen natürlichen Leben garantiert wird.« Mit dieser ökologisch klingenden Note endet der Roman, der, in Marsgewand gehüllt, vor allen Dingen zum Nachden­ ken über die irdischen Verhältnisse und die Zukunft des Men­ schen anregen will, wobei er vor den Gefahren einer miß­ brauchten Technologie, eines primitiven Materialismus und der damit verbundenen Gefahr eines Krieges warnt. Darüber hinaus ist der Roman ein Plädoyer für die wesentlichen Werte, die das Menschentum ausmachen. Die Absichten der Autoren sind eindeutig. Sie zeigen in Ge­ stalt der mächtigen und gleichzeitig moralisch monströsen Marsianer wie die zukünftigen Bewohner der Erde - ohne jede Invasion - aussehen könnten, wenn sie nicht rechtzeitig Fort­ schritt und Ethik in Einklang bringen. Marsianer mit Menschen­ gesichtern oder Menschen mit Marsseelen - im Grunde ge­ nommen gibt es zwischen den beiden Spezies keinen Unter­ schied. Obgleich die verbrecherischen Eroberer hier die Mar­ sianer sind, ist die Parabel leicht zu entschlüsseln, weil die Au­ toren selbst den Schlüssel liefern, wenn sie am Ende ausrufen: »Ihr elenden armen Menschlein! Ihr braucht keine Marsianer, um einander umzubringen. Ihr tragt sie in euch, ihr seid zuein­ ander schlimmer als Marsianer. Homo homini Martianus!«

Nichteinmischungspolitik der Marsianer: Constantin Redzich, Ein Besuch auf dem Mars im Jahre 3000,1922, und Hans Rosenstengl, Vom Mars zur Erde, 1931

Sieht man von einigen Anspielungen auf die Lage Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg ab, so könnte der Roman von Con­ stantin Redzich (d. i. Egon Falkenhayn, Lebensdaten nicht fest­ zustellen) Ein Besuch auf dem Mars im Jahre 3000 (Stuttgart 1922) ebensogut vordem Krieg entstanden sein. Es handelt sich wiederum, wie schon bei Kurd Laßwitz, Albert Daiber oder Max Heinrichka, um einen technisch-utopischen Roman, wo229

bei sich aber das Marsbild nicht den neuen astronomischen Hypothesen angepaßt hat und demzufolge antiquiert wirkt. Seit dem Jahr 2940 sind »kosmokratische« Beziehungen zwi­ schen dem Mars und der Erde hergestellt worden, d. h. beide Planeten tauschen durch Zeichenübertragung mittels atmo­ sphärischer Elektrizität Erfahrungen und Informationen aus. Den Marsianern liegt nichts an einem Besuch auf der Erde. Überheblich teilen sie den Menschen auf eine diesbezügliche Anfrage hin mit: »Wir kennen Eure Zustände zur Genüge, um auf einen näheren Verkehr mit uns geistig bedeutend unter­ legenen Geschöpfen dankend verzichten zu können.« (S. 11) Trotz dieser unverschämten Formulierung ist die Neugier der Menschen größer als ihr Stolz. So bauen sie nach den Anwei­ sungen der Marsianer ein Raumschiff und machen sich auf die Reise. Die Fahrt in Richtung Mars dauert mehrere Monate und folgt dem allbekannten Schema: Überfliegen des Mondes und kurzer Exkurs eines mitreisenden Professors über die Ergeb­ nisse der Mondforschung. Passage eines Kometen mit Vortrag über die Kometen im allgemeinen und über die Zusammenset­ zung eines Kometenkerns. Kleine »tragische« Zwischenfälle, die aber letztlich doch gut ausgehen. Am Ende erfolgt ein Zusam­ menstoß mit einem Meteoriten, und unsere Marsreisenden er­ wachen im Marslazarett, umgeben von Wesen, die eine Mi­ schung von Laßwitzschen und Schillingschen Marsianern sind: fünf Meter große Riesen mit »edelgeformten Zügen« und »tief­ blauen, seltsam glitzernden Augen«, die Ausdruck ihres hohen intellektuellen und ethischen Niveaus sind. Die Marsianer wei­ sen eine Besonderheit auf, der wir bis jetzt in der Marsliteratur noch nicht begegnet sind. BeideGehirnhälften haben sich selb­ ständig entwickelt und können unabhängig voneinander funk­ tionieren. So ist es einem Marsianer möglich, in aller Ruhe zu lesen und gleichzeitig komplizierte Berechnungen durchzu­ führen. Ein unglaublicher Zeitgewinn! Die irdischen Besucher erlernen die Marssprache und be­ sichtigen dann den Mars. Fauna und Flora des Planeten zeich­ nen sich durch Riesenwuchs aus. Die Bewässerung des Plane­ ten erfolgt durch die Kanäle. In Industrie und Gewerbe ver­ wendet man hauptsächlich die elektromagnetische Kraft. In ei­ 230

nem Marsluftschiff überfliegt man ausgedehnte Ackerflächen, deren Produkte sofort an Ort und Stelle in automatischen Be­ trieben weiterverarbeitet werden. So hat der Landwirt auf dem Mars ein bequemes Leben: im Liegestuhl sitzend, braucht er nur Hebel, Knöpfe und Schalter zu bedienen, und nach der »Arbeit« hört er Musik oder liest, denn auf dem Mars ist ein je­ der »Dichter, Denker, Gelehrter, Schaffensmutiger, Streber und gleichzeitig Idealist«. Den Menschen wird auf Schritt und Tritt die irdische Unvollkommenheit bewußt: »Was bedeuten die gesamten Kulturerrungenschaften auf der Erde gegenüber die­ ser einzigartigen Vervollkommnung großzügigster Pläne?« (S. 114) Nachdem die Menschen diesen idealen Planeten mit seinen idealen Bewohnern besucht haben, werden sie wieder auf die Erde zurückgeschickt. Aber die Marsianer sind vorsichtig. Sie verlangen, daß das Marsschiff beim Eindringen in die Erdatmo­ sphäre von einem irdischen Flugkörper abgeholt wird. Das ge­ schieht auch, aber kaum haben alle Mitglieder der Expedition das irdische Raumschiff betreten, da schrumpft das Marsschiff wie Papier, das ohne Flammen brennt, zusammen. Auch die rührende Liebesgeschichte zwischen einem besonders hünen­ haften irdischen Expeditionsmitglied und einer besonders win­ zigen Marsianerin nimmt auf diese Weise ein tragisches Ende, denn die Marsbraut befand sich noch in dem Marsschiff, als dieses vernichtet wurde. Der Professor zieht enttäuscht die Bilanz dieses ersten Kon­ takts: »Meine Ahnung, meine Befürchtung, daß die Marsleute ihre Kunstwerke eher zerstören als den Erdenmenschen auslie­ fern würden, hat sich bestätigt. Sie wollen einfach keine Ge­ meinschaft mit uns und suchen uns dies auch auf die schauder­ hafteste Art und Weise klarzumachen.« (S. 181) Immerhin hegt der Professor noch die Hoffnung, zu Hause in Ruhe die philo­ sophischen Schriften der Marsianer, die er mitgenommen hat, zu studieren. Aber als er die Kiste mit den Aufzeichnungen öff­ net, findet er nur noch ein Häufchen Asche: »Also auch das«, sprach der alte Herr tief bewegt; »sie haben also buchstäblich jegliche Verbindung mit unserer Welt auflösen wollen.« (S. 182) Als technischer Zukunftsroman bringt Redzichs Ein Besuch 231

auf dem Mars im Jahre 3000 nichts Neues. Ein kleines Zuge­ ständnis an die neueren Forschungsergebnisse zeigt sich allein in der Tatsache, daß seine irdischen Besucher sich in der Mars­ atmosphäre nur mit Hilfe von Apparaten und Pillen bewegen können. Bei den astronomischen Exkursen kommt es Redzich wohl weniger darauf an, das astronomische Weltbild seinerzeit zu popularisieren, als seine eigene Weltanschauung in ein astronomisches Gewand zu hüllen. So scheint Redzich z. B. von der Bewohnbarkeit und Bewohntheit sämtlicher Himmelskör­ per überzeugt zu sein. Sein Professor verkündet der Mann­ schaft des Marsschiffes, daß auf dem Mond »wie überall auf allen nur irgendwie denkbaren Himmelskörpern lebende Ge­ schöpfe existieren«. Allerdings handelt es sich um krüppelhafte Wesen, die nur noch an Nahrungssuche denken. Eine Hypo­ these, die sich 1922 wissenschaftlich nicht mehr vertreten läßt. Auch um die utopische Komponente des Romans ist es nicht besser bestellt. Zwar möchte der Autor, daß die Marswelt der irdischen Welt Vorbild wird. So heißt es beispielsweise im Ro­ man: »Bis in ihre Träume hinein verfolgten die Erdenmenschen allerlei Hirngespinste von einem irdischen Zukunftsstaat, in dem sie, als im Mittelpunkt stehend, die Veranlassung zu dieser Umwandlung durch genaue Schilderung der Marsverhältnisse werden sollten.« (S. 105) Aber da der Leser nicht das geringste über das Entstehen und Funktionieren dieser idealen Gesell­ schaft erfährt, ist nicht recht einzusehen, inwiefern sie Vorbild für die irdische Gesellschaft sein könnte. Am interessantesten erscheint uns der pessimistische Aus­ gang des Romans, der sich auf das Verhältnis Mensch - außer­ irdische Intelligenz bezieht. Redzichs Marsianer betreiben eine Art isolationistische »Nichteinmischungspolitik«. Sie lehnen von vornherein - und auf hochmütig-überlegenere Art als in Albert Daibers Marsromanen - jegliches Eingreifen in irdische Ange­ legenheiten ab. Vielleicht offenbart sich gerade darin ihre In­ telligenz? Im Zusammenhang mit Redzichs Marsroman gilt es das kleine Büchlein von Hans Rosenstengl, Vom Mars zur Erde, zu erwäh­ nen, das, obgleich fast ein Jahrzehnt später erschienen (1931), 232

sich kaum in Inhalt und Form von Redzichs Roman unterschei­ det. Der Mars und eine irdische (deutsche) Funkstation kommu­ nizieren über den Weltraum hinweg mittels drahtloser Tele­ graphie. Auch hier steht von vornherein die Überlegenheit der Marsianer fest: »In der Entwicklung ihrer geistigen Erfindungen mußten sie ja die Erdenmenschen längst überholt haben, da ihr Planet der Erde in seiner Entwicklung auch weit um Jahrmillio­ nen voraus war.« (S. 9) Es erfolgt hier nicht, wie bei Redzich, eine Aufforderung an die Erdenbürger, dem Mars einen Besuch abzustatten, sondern umgekehrt beschließen die Marsmenschen, eine günstige Marsopposition, bei der nur 60 Millionen Kilometer die beiden Planeten trennen, auszunützen, um der Erde eine »Antrittsvi­ site« zu machen. Viel erwarten sie sich von diesem Besuch nicht, mußten sie doch, um überhaupt mit diesem »unterentwickel­ ten« Planeten in Verbindung zu treten, auf so archaische Me­ thoden wie die Radiowellen zurückgreifen, und überhaupt »ist diesem Raubgesindel, das noch in den Kinderschuhen der Mord- und Brandmethode steht, nicht zu trauen«. (S. 13) Die Marsianer betrachten diese Reise vor allen Dingen als wissenschaftliche Aufgabe, deshalb bleiben sie nicht in Deutschland, sondern bereisen den gesamten Erdball. Die Er­ gebnisse dieser Erkundungen sind erschütternd. Die Menschen interessieren sich im Grunde genommen nur für das Gold, das sie zufällig in dem Marsschiff entdeckten, und das die Marsia­ ner bei einer Zwischenlandung auf dem Eros als Gesteinsprobe mitgenommen hatten. Ein wahres Goldfieber packt die Erdbe­ wohner. Sie versuchen sogar, gewaltsam das Raumschiff in ihren Besitz zu bringen, so daß den Marsianern nichts übrig bleibt, als Hals über Kopf die Erde zu verlassen. Sie haben im Grunde genommen nur einen Menschen gefunden, der für diese Begegnung reif war, nämlich den deutschen Ingenieur Biller. Er war es auch, der die Funkrufe der Marsianer entziffert und ihnen einen Landeplatz in der Lüneburger Heide vorbe­ reitet hatte. Die Marsianer nehmen Biller auf ihren Planeten mit. Dieser funkt nur noch einmal zur Erde zurück, daß er gut angekommen sei und daß er nie wieder zur Erde zurück wolle, 233

»der Marspräsident habe beschlossen, frühestens nach 1000 Jahren der Erde einen zweiten Besuch abzustatten, denn der Eindruck, den die vier Gesandten von den Erdenmenschen er­ halten hätten, habe tief verstimmt und bei den geistig so hoch­ stehenden Marsmenschen heftigen Abscheu hervorgerufen«. (S. 62) Der wissenschaftlich-technische Hintergrund bei Rosenstengl ist kaum interessanter als bei Redzich. Der Tradition des wissenschaftlichen Romans folgend, bringt Rosenstengl einige informative Daten über den Mars, seine Jahreszeiten, seine Umlaufzeit, die Entfernung von anderen Planeten usw. Bei den technischen Neuerungen wird vor allen Dingen auf die An­ wendung der Atomkraft Wert gelegt, so ist das Raumschiff der Marsianer z. B. mit einer Atombatterie versehen. Es gibt auch einige »Gadgets«, wie die Atmungshelme der Marsianer oder die praktische »Temperaturkleidung«, die vor Hitze und Kälte schützt. Wie Redzich hält auch Rosenstengl an der Kanaltheo­ rie fest. Dieses riesige Bewässerungsnetz konnte entstehen, weil es auf dem Mars nur noch einen einzigen Staat gibt. Und damit sind wir bei der utopischen Komponente des Romans: Mars ist ein Einheitsstaat, an dessen Spitze ein »weiser« Präsident steht. Arme und Reiche gibt es nicht mehr, die sozialen Unterschiede sind aufgehoben. Alle Bürger sind Staatsbeamte, unter denen das Einkommen gleichmäßig verteilt wird. Um dieses Privileg zu erhalten, müssen sich die Menschen allerdings einer gründli­ chen Untersuchung unterziehen: »Wenn ein junger Mensch zur Mitarbeit zugelassen wurde, mußte er sich einer Gehirnund Seelendiagnose unterziehen. Seine besonderen Eigen­ schaften, seine verborgenen Talente und seine Neigungen, alles kam dann auf feinen, empfindlichen Platten zum Vor­ schein. Hierauf beschloß dann eine besondere Kommission, in welchem Verwaltungszweige er als Mitarbeiter im Staate tätig sein sollte. Ruhig und friedvoll floß so das Leben dahin.« (S. 19) Gegen Außenseiter schützt sich der Staat, indem er sie in seine Gefangenenzentrale expediert, die sich auf Phobos be­ findet. Auch für Daimos hat man Verwendung gefunden, dort­ hin fliegt man nämlich die sterbliche Hülle der Marsianer, und der Satellit wird als heilige Totengruft verehrt. 234

Daß es zwischen Redzich und Rosenstengl trotz aller Ge­ meinsamkeiten doch einen Unterschied gibt, wird gerade in den utopischen Beschreibungen deutlich. Während man bei Redzichs naiven Vorstellungen vom Marsbauern, der Musik hörend die Maschinen seinen Acker bestellen sieht, noch lä­ cheln konnte, läuft es einem, wenn Rosenstengl das »fried­ volle« Marsleben lobt, kalt über den Rücken. Diese Welt, in der die Bürger zunächst vom Staat »durchleuchtet« werden, bevor sie in seine Dienste treten dürfen, in der jeder, der von der Norm abweicht, deportiert wird, und in der sogar die Toten kei­ nen Platz mehr haben, sondern auf einen anderen Himmels­ körper »abgeschoben« werden - diese Welt mochte wohl auch manchem Zeitgenossen von Rosenstengl nicht sehr erstrebens­ wert erscheinen. Wenn also Rosenstengls Vom Mars zur Erde ähnlich pessimi­ stisch ausgeht wie Redzichs Ein Besuch auf dem Mars im Jahre 3000, nämlich mit der Feststellung, daß die hochentwickelten Marsianer uns bei der Lösung unserer irdischen Probleme nicht helfen können, weil »bei einem Verkehr zweier Welten mitein­ ander für beide Teile nichts Gutes herauskommen würde« (S. 41), so wird der Leser diese Feststellung eher erleichtert als betrübt zur Kenntnis nehmen.

Christus wird auf dem Mars erwartet: Pierre Nothomb, Le rédemption de Mars, 1922

In der 1922 erschienenen mystischen Utopie des Belgiers Pierre Nothomb (1887-1966) La rédemption de Mars (Die Erlösung des Mars) geht es ebenfalls um die Konsequenzen der Einmischung in die Angelegenheiten eines fremden Planeten. Im Mittel­ punkt des Romans steht allerdings ein theologisches Problem, das noch bis Anfang des 18. Jahrhunderts die Gemüter erhitzt hatte und dann allmählich bei der Diskussion um die Vielheit der bewohnten Welten in den Hintergrund getreten war, näm­ lich die Frage, in welchem Verhältnis die Bewohner anderer Welten zum Christentum stehen. Schon der italienische Theologe und Philosoph Thomas Campanella (1568-1639) hatte in seiner Apologia pro Galileo 235

(1622) versucht, die Hypothese von der Vielzahl der bewohnten Welten im Universum mit der katholischen Theologie in Ein­ klang zu bringen. Seiner Meinung nach war der Mond entwe­ der von nichtmenschlichen Kreaturen bewohnt oder aber von Menschen, die in diesem Fall auch die Erbsünde und vielleicht die Erlösung durch Christus gekannt haben. Auch in dem Ro­ man The Man in the Moone (1638) des englischen Schriftstellers Francis Godwin (1526-1633) sind die Mondbewohner Christen. Daß dieses Problem auch heutzutage noch hin und wieder in theologischen Kreisen diskutiert wird, zeigen die Dialogues avec Monsieur Pouget sur la pluralité des Mondes, le Christ des Evangiles et /'Avenir de notre espèce des Franzosen Jean Guitton, ein Werk das 1954 veröffentlicht wurde. In Pierre Nothombs Roman geht es um die Fragen: Wie steht Gott zu den intelligenten Kreaturen auf anderen Himmelskör­ pern? Haben diese Wesen auch einen Sündenfall gekannt? Gilt dann Gottes Heilbotschaft auch für sie? Zwei Freunde, der Rationalist und Atheist Reverchamp und der Erzähler, ein gläubiger Katholik mit einer mystischen Ader, reisen auf den Mars, und zwar in zwei kleinen Raumfahrzeu­ gen, auf deren nähere Beschreibung Nothomb verzichtet. Da sie an verschiedenen Orten landen, entdeckt jeder den Plane­ ten auf seine Art. Der Rationalist bereist den Mars, beobachtet das Leben seiner Bewohner und macht sich dabei eifrig Auf­ zeichnungen. Er bewundert die Anstrengungen des Marsvol­ kes auf dieser absterbenden Welt. Sauerstoff und Wasser sind knapp geworden, nur im Frühling wird der Planet bei der Schneeschmelze noch mit genügend Wasser versorgt. Stellen­ weise ist es den Marsianern gelungen, durch eine künstliche Lufthülle kleine Oasen zu schaffen. Warme Gase aus dem Marsinnern werden in Kristalltürmen gespeichert. Mit einer gewis­ sen Befriedigung stellt Reverchamp fest, daß die Marsoberflä­ che in großen Zügen den Darstellungen auf Schiaparellis Kar­ ten entspricht. Sein Freund hingegen hat gleich bei seiner Ankunft die Be­ kanntschaft eines jungen, schönen Marsmädchens gemacht, das mit seinen Gefährtinnen eine der zauberhaften Oasen be­ wohnt, in denen die Mädchen bis zu ihrer Heirat zusammen236

leben. Während sein Freund den Planeten bereist, verläßt der Erzähler die Oase nicht und genießt sein Liebesglück mit louzi. Aber als dann die beiden Freunde Zusammentreffen und ihre Erfahrungen austauschen, stellt sich heraus, daß der Erzähler mehr weiß als Reverchamp. Reverchamp preist das perfekte Glück der Marsgesellschaft, der Erzähler aber hat verstanden, daß sich hinter dem schönen Schein eine traurige Wahrheit verbirgt, die auch die Melancholie des Marsvolkes erklärt. Von louzi hat er erfahren, daß die Marsianer nicht glücklich sind, weil sie noch der Erlösung durch den Gottessohn harren. Auch ihre Überlieferung berichtet von einem Schöpfer des Univer­ sums, vom Sündenfall zweier Menschen, von der Vertreibung aus dem Paradies und der Verheißung eines Erlösers. Vor zehn Jahren haben die Marsianer sogar versucht, mit der Erde in Kon­ takt zu treten, indem sie auf einem Gebirgsplateau ein riesiges Kreuz aufzeichneten, das an die Erde die Frage richtete: Ist der Erlöser schon zu euch gekommen? Als Reverchamp vor der Versammlung der Marsianer Gott und die Erlösung der Menschheit durch Christus leugnet und erklärt: »Kein Gott, kein Gottessohn ist gekommen, um die Erde zu erlösen« (S. 87), fühlt sich der Erzähler verpflichtet, seinen Glauben zu verkünden. Ja, so bekennt er der harrenden Men­ ge, ich komme von einem Planeten, der schon erlöst wurde, und Christus wird auf den Mars kommen, so wie er auf die Erde gekommen ist, denn Gott hat seine Ankunft verheißen. Aber während er von Jesus, von seinem Leben, seinem Leidensweg und seinem Tod spricht, unterbricht ihn Reverchamp immer wieder, um den Marsianern klarzumachen, daß die Menschen der Erde nicht glücklich sind, daß sie einander betrügen, be­ kriegen und töten, und daß er nur hier, auf dem Mars, das wahre Glück kennengelernt hat. Aber der Erzähler läßt sich in seiner Predigt nicht beirren. Es gibt viel Leid auf der Erde, das ist richtig, aber oft leiden die Menschen freiwillig, denn im Leiden fühlen sie sich Gott näher. Die Worte seiner Predigt haben eine unbeabsichtigte Wir­ kung auf die Menge. Die Marsianer glauben nun endlich zu verstehen, warum Gott sich ihrer bis jetzt nicht erbarmt hat. Sie lebten zu glücklich, um seiner Gnade bedürftig zu sein. So be­ 237

ginnen sie, sich selbst Leid zuzufügen. Sie fasten, sie geißeln sich, sie entsagen den Freuden der Liebe und der Gemeinschaft und ziehen sich in die Einsamkeit zurück. Selbst louzi, die in­ zwischen die Frau des Erzählers geworden ist und mit ihm in vollkommener Liebe und Eintracht lebte, beginnt ihrer Jung­ fräulichkeit nachzutrauern. Vor den Augen der Freunde löst sich die einst so harmoni­ sche, wenn auch melancholische Welt nach und nach auf. Der Wurm ist in der Frucht! Bald haben die beiden nur noch einen Gedanken: Flucht von diesem Planeten, dessen Harmonie sie zerstört haben. Als sich herausstellt, daß nur noch ein Raum­ fahrzeug funktionsfähig ist, schießt sich Reverchamp, nachdem er seinem Freund die wissenschaftlichen Aufzeichnungen übergeben hat, eine Kugel durch den Kopf und ermöglicht ihm in dem Fahrzeug die Rückkehr zur Erde. In mancher Hinsicht erinnert Nothombs Roman an die später so berühmt gewordenen Mars-Chroniken von Ray Bradbury. Der Mars, den die beiden Freunde vorfinden, ist eine märchen­ haft-poetische Fiktion, eine Zauberwelt mit Fabeltieren und elfenhaften Wesen, die nachts, begleitet von traurigem Gesang, in einem duftigen, unwirklichen Dekor tanzen. Selbst die Spra­ che der Marsianer ist weich und fließend, und das, was man als »Soziales Leben« bezeichnen könnte, von vollkommener Har­ monie. Aber auch die gesamte Zivilisation, die, wie der Autor andeutet, auf einer hochentwickelten Technologie beruht, ist ästhetisiert worden. Die Marsianer wohnen nicht nur in kristal­ lenen Palästen, sondern in Kristalltürmen werden auch die Gase aus dem Erdinnern gespeichert. Die Ankömmlinge finden auf dem Mars noch ein »goldenes Zeitalter« der Unschuld vor, eine Welt von vollkommener Schönheit, aber ihre Ankunft be­ deutet bereits das Ende dieser Welt. Nothombs Roman schließt mit einem Epilog, in dem der Er­ zähler sagt, daß die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Mars­ reise wenig Bedeutung hätten, wichtig sei hingegen, den Men­ schen mitzuteilen, daß der Mars eine brüderliche Welt ist, auf der Wesen, die uns gleichen, noch der Erlösung durch Christus harrten. Was soll also dieser nicht eindeutige Epilog bedeuten? Doch 238

wohl nicht, daß es nun die Aufgabe der Erde wäre, Missionare auszuschicken, die den Marsianern mit geistigen Unterweisun­ gen die Wartezeit verkürzen und sie auf die Ankunft Christi vorbereiten sollten? Der Roman zeigt ja gerade, wie das Eingrei­ fen der zwei unfreiwilligen »Missionare« diese in Unschuld und melancholischem Glück lebende Welt verdorben hat. Und daß es in unserer »erlösten« Welt nicht gerade zum Besten steht, wissen sowohl die beiden Freunde als auch der Leser. Also wie­ derum, wie bei Redzich, ein Plädoyer für eine gewisse »Nicht­ einmischungspolitik«, nur in einem anderen, subtileren und christlicheren Kontext?

Die zweite Oktoberrevolution: Aleksej Nikolajewitsch Tolstoj, Aelita, 1922

Der ebenfalls erschienene Marsroman Aelita (deutsch: Aelita, ein Marsroman, München 1924 *) von Aleksej Nikolajewitsch Tolstoj (1883-1945) exportiert wiederum eine Botschaft auf den Mars, diesmal allerdings keine religiöse, sondern eine revolu­ tionäre. Tolstoj, der 1919 die Sowjetunion verlassen hatte und nach Paris gegangen war, kehrte 1922 in seine Heimat zurück und stellte seine Feder in den Dienst der neuen Regierung. Sein Marsroman, der übrigens 1924 von Yakov verfilmt wurde, läßt dieses politische Engagement deutlich erkennen. Der Roman erzählt die Geschichte des russischen Ingenieurs Los', der in Petrograd, nach der Revolution und mit der finan­ ziellen Unterstützung der Sowjetregierung, ein Raumschiff mit Raketenantrieb baut. Los’ begegnet einem alten Kampfgefähr­ ten, dem Rotarmisten Gusev, einem überzeugten Revolutio­ när. Mit ihm begibt er sich auf die Reise in Richtung Mars. Die Fahrt dauert nur knapp zehn Stunden, denn nachdem die Ra­ kete die Erdatmosphäre durchstoßen hat, fliegt sie mit Lichtge­ schwindigkeit auf den roten Planeten zu. Auf dem Mars landen die beiden auf einer orangefarbenen Ebene, die von hohen Kakteen bewachsen ist. Tolstojs Marswelt ist recht konventio­ * Inzwischen als Ullstein-Taschenbuch Nr. 31065 erschienen, Frankfurt/ M. - Berlin-Wien 1983. 239

nell, Geomorphismus, Zoomorphismus und Anthropomor­ phismus sind charakteristisch für ihre Beschreibung. Die Marsianer selbst unterscheiden sich kaum von den Menschen, kein Wunder, denn sie sind Abkömmlinge der sagenhaften Bewoh­ ner von Atlantis. Tolstoj hat in seinem Roman sehr geschickt zwei Mythen, nämlich den alten Atlantismythos mit dem mo­ dernen Marsmythos, verknüpft. Als Atlantis bei einem kosmi­ schen Kataklysmus in den Fluten versank, gelang es einigen Bewohnern mit Hilfe einer mysteriösen Energieform, die sich im Samen bestimmter Pflanzen befindet, den Mars zu errei­ chen. Die Atlantiden selbst sind das Ergebnis der Verschmel­ zung aller irdischen Rassen. Auch auf dem Mars verbinden sie sich ohne Zögern mit den einheimischen orangefarbenen Marsianern, und es entsteht auf diese Weise eine neue Marsrasse von bläulicher Hautfarbe. Tolstoj löst also die rassischen Probleme auf einfache und gleichzeitig originelle Weise. Im Mittelpunkt stehen bei ihm nicht (wie beispielsweise bei Burroughs) die Konflikte der ver­ schiedenen Rassen untereinander, sondern ihre endgültige Verschmelzung. Das entspricht, wie wir noch sehen werden, seiner revolutionären Botschaft, die sich international und uni­ versal verstanden wissen möchte. Diese »neuen« Marsianer haben jahrtausendelang die Ge­ schichte und die technischen Errungenschaften ihrer Vorfah­ ren vergessen und sie erst allmählich wiederentdeckt. Als die beiden Russen den Mars betreten, besitzen dessen Bewohner wieder eine relativ hochentwickelte Technik. Sie verfügen Bildlegenden zum folgenden Farbteil:

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Illustration zur amerikanischen Originalausgabe von »Warlord of Mars« von Edgar Rice Burroughs VI Marswüste: Illustration von Karel Thole zu Stanley G. Wein­ baums »Mars-Odyssee« VII oben Verbrecherjagd im Jahr 2000' VII unten H.G. Wells’ Marsianer in der Sicht David Hardys: Illustration zu »Krieg der Welten« VIII oben Die ersten Menschen auf dem Mars: Illustration von Chesley Bonestell zu Wernher von Brauns Marsprojekt VIII unten Marswirklichkeit: Eine Aufnahme des Viking 1-Landeteils vom Juli 1976. Foto: NASA

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unter anderem über komplizierte individuelle Flugapparate, die direkt dem Körper angepaßt werden, und über ein ausge­ dehntes Fernsehsystem. Aber in ihrer bürgerlich-kapitalisti­ schen Gesellschaft schwelen ständig Konflikte zwischen einer kleinen Schicht von Privilegierten und dem Proletariat, das un­ ter drückenden Bedingungen arbeiten muß. Diese allgemeine Unzufriedenheit kommt allerdings nicht offen zum Ausbruch, denn die Marsianer sind ein eher apathisches und fatalistisches Volk. Der Führer der Volkspartei, ein gewisser Gor, hat nicht den Mut, den Kampf gegen den Tyrannen Tuskub aufzuneh­ men, obgleich dieser beabsichtigt, die Hauptstadt zu zerstören und damit einen sozialen Unruheherd aus der Welt zu schaf­ fen. Tuskub möchte auch die beiden irdischen Bewohner, von denen er sich nichts Gutes erwartet, beseitigen. Aber er hat nicht mit seiner Tochter, der schönen Aelita gerechnet, die sich in Los’ verliebt. Während sich zwischen den beiden eine zarte Liebesgeschichte entspinnt, hält es Gusev, dessen Beruf und Berufung die Revolution ist, für seine Pflicht, einzugreifen. Er stellt sich an die Spitze der unzufriedenen Arbeiter und kriti­ siert die »Marsgenossen«, weil es ihnen an Unternehmungsgeist und Zivilcourage mangelt. Durch seine Botschaft von der irdi­ schen Oktoberrevolution und ihrem überwältigenden Erfolg werden die Massen elektrisiert und folgen ihm mit einem ein­ zigen Schrei: »Ai-ai-ai!« blindlings in den Kampf. Gusevs Absichten sind eindeutig: Er will Los’zum Volkskom­ missar ernennen und den Mars zu einer Sowjetrepublik ma­ chen. Aber aus der Marsrevolution wird keine zweite Oktober­ revolution. Das Unternehmen konnte nicht genügend vorbe­ reitet werden. Das Marsproletariat erweist sich als zu wenig klassenbewußt und kämpferisch, ihr Führer als zu unschlüssig. Noch bevor es Gusev gelingt, nach Moskau zu telegraphieren und um Verstärkung zu bitten, ist der Aufstand bereits nieder­ geschlagen worden. Aelita wird brutal von Los’ getrennt, und Gusev gelingt es, in letzter Minute mit seinem schwerverwun­ deten Freund zu fliehen. Während er auf der Erde den Mißer­ folg seiner Revolution bedauert und versucht, eine neue Mars­ expedition zusammenzutrommeln, trauert Los' melancholisch seiner fernen Marsliebe nach. 241

Tolstojs Roman zeichnet sich durch eine gewisse Typisierung der Helden aus, die in Zusammenhang mit der übermittelten politischen Botschaft steht: Tuskup ist der Vertreter der herr­ schenden Klasse, den es zu beseitigen gilt. Gor vertritt das noch unreife, zögernde Marsproletariat. Los’ und Aëlita sind bürger­ liche Sympathisanten, denen das private Glück über das Ge­ meinwohl geht. Nur Gusev ist als wirklich »positiver Held« an­ gelegt, nämlich als der mitreißende, uneigennützige Revolu­ tionär. Die revolutionäre Mission endet in Aëlita mit einem vorläu­ figen Mißerfolg, aber im Gegensatz zu den Protagonisten von Nothombs Roman werden die »Missionare« von keinerlei Zwei­ feln heimgesucht. Gusev bleibt auch weiterhin von der Richtig­ keit seiner Ideen überzeugt. Es sieht so aus, als wollte Aleksej Tolstoj in einer Zeit sozialer und politischer Krisen durch seinen Helden eine Lösung Vor­ schlägen, die ungefähr so lautet: »Proletarier aller Länder - und des Universums - vereinigt euch! Unter Führung der Sowjet­ union.« Diese Lösung projiziert er auf den Mars. So leben die kolonialistischen Tendenzen, die einen Teil der Marsliteratur vor dem ersten Weltkrieg kennzeichneten, auch nach dem Krieg weiter - freilich in anderem ideologischen Gewand, und diese Tendenzen verhärten sich sogar. Gusev ist sich seines Wissens absolut sicher, und seine Wahrheit ist keine lokal oder historisch begrenzte Wahrheit mehr, sondern eine universelle Wahrheit, die für alle zu gelten hat - auch für die Marsianer, falls diese existieren.

Kosmische Liebe: J. H. Rosny, Aîné, Les navigateurs de l’infini, 1925, Les Astronautes, 1960

Der 1925 erschienene Roman Les navigateurs de l’infini (Die Seefahrer des Unendlichen) * von J.H. Rosny Aîné (1865-1940) hat mit den vorhergehenden Romanen wenig zu tun. Rosny, ein gebürtiger Belgier, dessen eigentlicher Name Joseph Henri * Eine deutsche Ausgabe des Werks ist für die BIBLIOTHEK DER SCIEN­ CE-FICTION LITERATUR in Vorbereitung. 242

Boex war, lebte und veröffentlichte vor allen Dingen in Frank­ reich. Obgleich man ihn als einen der Begründer der moder­ nen Science Fiction bezeichnen kann, sind seine oft sehr ori­ ginellen Erzählungen und Romane leider nie so bekannt geworden wie die Werke von Jules Verne oder H.G. Wells. Rosny ist unseres Erachtens der erste Schriftsteller, dem es ge­ lingt, Abstand vom 19. Jahrhundert zu gewinnen und ein Mars­ leben mit völlig fremden Lebensformen zu entwerfen. Die Hy­ pothese, daß außerirdisches Leben vom irdischen Leben radi­ kal verschieden sein könnte, hat Rosny übrigens schon in sei­ nen ersten Werken vertreten, so in der Erzählung Les Xipehuz (1887; deutsch: Die Xipehuz *), die in der Frühgeschichte der Menschheit spielt und in der mineralische intelligente Wesen geschildert werden, die der Vernichtung anheimfallen, weil die Menschen mit ihnen keine Verständigungsbasis finden. In dem Roman La Mort de la Terre (1910, Der Tod der Erde) sind die Menschen durch geologische Umwälzungen zum Untergang verurteilt und von »ferromagnetischen« Lebensformen allmäh­ lich verdrängt worden. Der Roman Die Seefahrer des Unendlichen setzt diese Ten­ denz fort. Das Raumschiff »Stellarium« landet mit seiner drei­ köpfigen Besatzung auf dem Mars,und zwar in einem wüsten­ ähnlichen, zunächst unbewohnt scheinenden Gebiet. Die Er­ gebnisse der ersten Analysen zeigen, wie verschieden der Pla­ net von der Erde ist. Zwar sind die Temperaturen in den äquato­ rialen Gebieten für den Menschen erträglich, aber der atmo­ sphärische Druck liegt unter 90 mm (das stimmt ungefähr mit den Berechnungen des Abbe Moreux überein), und die Astro­ nauten müssen, um atmen zu können, Apparate bei sich tra­ gen, die diese für menschliche Lungen zu dünne Atmosphäre komprimieren. Der Sauerstoffgehalt der Luft ist erheblich hö­ her als auf der Erde, Kohlenstoff und Stickstoff sind in Form von Isotopen vorhanden, daneben entdeckt man Spuren eines auf der Erde unbekannten Gases. Auch das Wasser ist vom irdi* Abgedruckt in Polaris 4, hrsg. von Franz Rottensteiner, Frankfurt/M. 1978 S. 72-103 (Suhrkamp-TB Nr. 460); neuerdings in: Science Fiction Er­ zählungen des 79. lahrhunderts, hrsg. von Isaac Asimov, München 1983, S. 227-256 (HEYNE-BUCH Nr. 06/4022). 243

sehen Wasser verschieden. Es hat eine geringere Dichte und kann erst nach einer chemischen Aufbereitung als Trinkwasser verwendet werden. Mars ist also eine von der Erde so verschiedene Welt, daß das Überleben nur mit Hilfe der Technik möglich ist. Und es ist ver­ ständlich, daß sich hier Lebensformen entwickelt haben, die sich grundsätzlich von den irdischen unterscheiden. Denn trotz des ersten Eindrucks birgt auch dieser Planet Leben. Die Forscher stoßen auf drei völlig verschiedene Lebensfor­ men. Da gibt es zunächst die »Zoomorphen« (les Zoomorphes), flache, protoplasmische Organismen, von denen manche win­ zig klein und andere bis zu hundert Meter lang sind. Sie krie­ chen am Boden dahin und sehen wie lebende Mineralien aus. Notfalls könnte man sie auch mit völlig plattgedrückten Poly­ pen vergleichen, deren Fangarme in Dreiergruppen gebündelt sind. Diese Wesen nehmen die Nahrung mit ihrem schwam­ migen Körper durch Osmose auf. Als man sie seziert, stellt man fest, daß ihr Körper keine Spur von Flüssigkeit enthält und daß ihr gesamter Metabolismus ausschließlich solider Natur ist. Die Zoomorphen leben nicht in Gruppen oder Gemeinschaften, sondern jeder für sich. Und doch kriechen sie, scheinbar ohne Plan und Ziel, stetig vorwärts, erobern sich immer neue Gebiete und lassen einen völlig ausgelaugten'Boden hinter sich. Unter den höherentwickelten Zoomorphen gibt es auch fleischfres­ sende Spezimen, die aber ihre Opfer nicht töten, sondern ih­ nen nur die für sie selbst lebensnotwendigen Stoffe entziehen. Wenn die Zoomorphen sich bedroht fühlen, hüllen sie sich in einen fluoreszierenden Nebel, der beim Feind ein seltsames Gefühl der Kälte und Beklemmung hervorruft und sogar töd­ lich sein kann, wenn es sich um große Zoomorphen handelt. Sind diese Wesen intelligent? Das ist schwer zu sagen, weil sie jeden Kontaktversuch ablehnen. Aber eines ist sicher: ihnen wird die Zukunft gehören. Langsam aber sicher werden sie den ganzen Planeten erobern, so wie die ferromagnetischen Wesen unerbittlich die Erde erobert haben. Eine andere, noch seltsamere Lebensform, auf die die Mars­ forscher stoßen, sind die »Ätherischen« (les Etheraux). Es han­ delt sich um phosphoreszierende schräge, senk- oder waage244

rechte Lichtsäulen, deren Farben vom Gelblichen bis ins Vio­ lette spielen. In ihrem Innern bewegen sich andere Lichtgebil­ de, und die Säulen sind untereinander durch Strahlenbündel verbunden,die ein komplexes Netzwerk bilden. In den Mars­ nächten erscheinen die harmonischen Bewegungen dieses leuchtenden Geflechts den Menschen wie eine farbenpräch­ tige Lichtsymphonie. Die Verständigung mit diesen geschlechts­ losen Wesen, deren Intelligenz eher auf Intuition beruht, er­ weist sich als möglich. Wenn man Strahlen von sehr hoher Fre­ quenz verwendet (der Lebensrhythmus dieser Wesen ist um ein tausendfaches rascher als der unsrige), kann man eine gemein­ same »Sprache« finden. Ein Vergleich der »Ätherischen« mit den Menschen und ihrer Lebens- und Denkweise erscheint aber fast unmöglich zu sein. Sie kennen die Welt nur durch Aus­ strahlungen, die von jeder Materie ausgehen. Auf diese Weise machen sie keinen Unterschied zwischen der organischen und der anorganischen Welt. Raum und Zeit sind ihnen unbekann­ te Begriffe, und so wissen sie auch nichts über ihre eigene Ver­ gangenheit. Hingegen haben sie eine weit gründlichere Kennt­ nis der Materie als die Menschen. Diese Lichtgebilde leben in Gruppen, ohne daß die Freiheit der einzelnen Lichtsäule mit dem Leben in der Gemeinschaft in Widerspruch steht. Ihre »Körper« sind unsterblich, neue Ätherwesen entstehen nur ganz selten, wenn mehrere Lichtsäulen miteinander ver­ schmelzen. Rosny hat also die neuesten wissenschaftlichen Ent­ deckungen seiner Zeit, die die Materie und das Universum als eine Gesamtheit von Wellen- und Teilchenstrahlung definie­ ren, bei der Darstellung seines Marslebens verwendet. Sicher hätte es sich Max Planck, der seine Quantentheorie 1900 for­ mulierte, nicht träumen lassen, daß er mit ihr zur Bereicherung des Marslebens beitragen würde. Schließlich gibt es neben den Zoomorphen und den Ätheri­ schen auf dem Mars noch eine dritte Lebensform, die dem Menschen nähersteht als die vorher genannten. Das sind die Dreifüßler (les Tripedes), deren Gestalt der ternären Symmetrie unterliegt. Sie haben drei Füße und »Arme«, an deren muschel­ förmigen Enden neun Auswüchse sitzen, die den menschlichen Fingern entsprechen. Die sechs Augen in dem ohren- und 245

nasenlosen Kopf sind von außergewöhnlicher Schönheit und Lebhaftigkeit, neben der die menschlichen Augen matt und ausdruckslos erscheinen. Ihre Kleidung besteht aus einem wei­ chen pflanzlichen Gewebe, das sich dem Körper anschmiegt. Die Dreifüßler haben einst den ganzen Planeten beherrscht und sind dann wegen der sich verschlechternden Lebensbe­ dingungen und wegen des Wassermangels dezimiert und all­ mählich von den Zoomorphen verdrängt worden. Jetzt bevöl­ kern sie nur noch ein Zehntel der Planetenoberfläche. Die zahl­ reichen Ruinen, die riesigen romanischen Kirchen gleichen, beweisen, daß die Dreifüßler einst eine blühende Kultur und Zivilisation besaßen, vergleichbar der irdischen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Kunst ist visueller Art, ohne statisch zu sein wie unsere irdische Malerei oder Bildhauerkunst. Die Kunstwerke sind »dynamisch« und in ständiger harmonischer Bewegung, und Lichteffekte ersetzen den Ton. Diese sanftmü­ tigen, friedlichen Wesen wissen, daß ihr Lebenszyklus zu Ende geht. So leben sie zurückgezogen in den Ruinen oder in unter­ irdischen Grotten und Siedlungen, die von einem radioaktiven Stoff erleuchtet werden. Es ist ihnen nicht gelungen, sich den veränderten Lebensbedingungen anzupassen, weil ihr Schöp­ fergeist und ihre Erfindungsgabe nachgelassen haben. Resi­ gniert haben sie nur einen Wunsch, nämlich den Vormarsch der Zoomorphen noch eine Weile aufzuhalten, damit ihre Rasse nicht gewaltsam ausgerottet wird, sondern friedlich zu­ grundegehen kann. Im übrigen sind sie nicht unglücklich, son­ dern erwarten mit stoischem Gleichmut ihr Ende. Die drei For­ scher und die Dreifüßler befreunden sich und erfinden eine Zeichensprache, mit der man kommuniziert, denn diese We­ sen verfügen über kein Gehör und demnach auch über keine artikulierte Sprache; sie leben in einer Welt absoluten Schwei­ gens. Dank ihrer technischen Kenntnisse bauen die Menschen ei­ nen Apparat, mit dem sich der Vormarsch der Zoomorphen für eine Weile aufhalten läßt. Aber das Unternehmen wird erst wirklich von Erfolg gekrönt, als es gelingt, auch eine Gruppe der Ätherischen dafür zu gewinnen, mit ihrem unermeßlichen Wissen auf dem Gebiet der Strahlenkunde den Dreifüßlern in 246

ihrem Verteidigungskampf beizustehen. So wird zwischen dem Reich der Zoomorphen und der Dreifüßler eine unüberwind­ liche Grenze errichtet. Ein schönes Beispiel kosmischer Soli­ darität zwischen so verschiedenen Rassen, wie es die Ätheri­ schen, die Dreifüßler und die Menschen sind. Trotzdem denkt keiner daran, die von den Zoomorphen eroberten Territorien wieder zurückzugewinnen, denn die Entwicklung läßt sich auf die Dauer nicht aufhalten. Rosnys Roman hat eine Fortsetzung, die 1960, also erst zwan­ zig Jahre nach seinem Tod, unter dem Titel Les Astronautes (Die Astronauten) veröffentlicht wurde. Dort wird die Liebesge­ schichte, die sich zwischen einem der Forscher, Jacques Laverande (der in der Ich-Form von der Expedition erzählt), und ei­ ner schönen Dreifüßlerin schon im ersten Teil entsponnen hatte, weitererzählt. Die weiblichen Dreifüßler unterscheiden sich von den männlichen weit mehr als die irdischen Frauen von den Männern. Sie sind anmutige, fast blumenhaft wirken­ de Geschöpfe, die auf die Forscher eine unerklärliche Anzie­ hungskraft ausüben, was zeigt, daß es durchaus möglich ist, Schönheit wahrzunehmen und zu genießen, die mit unserem Milieu und unserer Entwicklung nichts zu tun hat. Die ur­ sprünglichen Anomalien sind nur anfänglich schockierend und werden allmählich vertraut: »Bizarrerie der Gewöhnung! Ich gewöhnte mich an diese flachen Gesichter, wo das im Grunde genommen so häßliche Fleischstück fehlte, durch das wir atmen und Gerüche wahrnehmen; ich gewöhnte mich an die von der unsrigen so verschiedene Haut, an diese seltsamen Ver­ ästelungen, die unsere Hände ersetzten. Ich fühlte, daß mir mit der Zeit all das normal erscheinen würde.« Allerdings gelingt es den Forschern nicht zu begreifen, was Liebe auf dem Mars bedeutet, denn die Marsliebe hat wenig mit der irdischen körperlichen Liebe zu tun. Der Leidenschaft der Marsianer haftet nichts Materielles an, und doch ver­ schmilzt ihr ganzes Wesen beim Liebesakt miteinander. Soziale Bindungen, wie die irdische Ehe, sind den Dreifüßlern fremd, sie kennen keine moralischen Zwänge und keine Eifersucht. Ein Liebesverhältnis zwischen mehreren Partnern ist möglich, ohne daß es dabei zu den auf der Erde nur allzubekannten tragischen 247

Spannungen kommt. Die Fortpflanzung erfolgt durch eine Art sympathetische Parthenogenese, und der Akt des Gebärens ist ein ästhetisches Schauspiel für den Beobachter: »Die Geburt ei­ nes Kindes gleicht einem Poem. Die Mutter hüllt sich zunächst in eine leuchtende Aura ein, die sich auf ihrer Brust zu einem flammenden Nebel verdichtet. Dann hängt sie eine reizende Muschel an ihre Schulter, eine Art große bleiche Blume, in der sich das Kind aus dem schimmernden Nebel bildet, allmählich die Formen seiner Artgenossen annimmt und heranwächst. Seine Nahrung ist in der ersten Zeit eine unsichtbare Ausdün­ stung der Mutter.« Zwischen Jacques Laverande und seiner anmutigen Marsianerin entsteht allmählich ein komplexes Liebesverhältnis. Alles, was sich zwischen ihnen abspielt, erscheint dem irdischen Mann unvergleichlich und einzigartig, obgleich sexuelle Bezie­ hungen wegen der körperlichen Verschiedenheit ausgeschlos­ sen sind. Die Marsianerin folgt dem Astronauten auf die Erde, nach deren Ozeanen und Flüssen, Seen und Bächen sie sich schon lange gesehnt hat. Auf der Erde bringt sie auf marsianische Weise ein Kind zur Welt. Zwar heiratet der Astronaut eine irdische Frau, die ihm ebenfalls ein Kind schenkt, aber das än­ dert nichts an der Idylle. Jacques Laverande liebt seine irdische Frau und seine Marsfrau gleichermaßen, und zwischen den beiden Frauen entstehen, wegen ihrer zu großen Verschieden­ heit, keine eifersüchtigen Gefühle. Für die irdische Ehefrau ist die Marsianerin eine schöne, anmutige und intelligente Blume. Rosny hat in den Astronauten das heikle Thema einer Ehe zu dritt (zu der sich noch die beiden Kinder gesellen) mit viel Takt behandelt und auf glaubwürdige Weise erzählt. Selbstverständlich enthält der Roman auch einige uns schon bekannte Klischees. Rosnys Mars ist eine alte, absterbende Welt, deren Entwicklung den zukünftigen Niedergang der Erde vorwegnimmt. Wie in zahlreichen anderen Marsromanen ak­ zeptieren seine Marsianer fatalistisch ihr Ende, während sich die noch junge irdische Welt durch Tatkraft, Unternehmungsgeist und Erfindungsgabe auszeichnet. Auch durch Brutalität und Er­ oberungslust, wie alle jungen Rassen. Der Roman deutet an, daß eine irdische Kolonisation, die zum Glück wegen der Le248

bensbedingungen auf dem Mars schwierig ist, die erbarmungs­ lose Ausrottung der Dreifüßler oder im günstigsten Fall ihre Versklavung zur Folge haben würde. Aber von diesen traditionellen Bezügen abgesehen, sind beide Teile des Romans bemerkenswert neu und originell. Noch nie ist es vor Rosny der Phantasie eines Schriftstellers gelungen, eine derart komplexe Marswelt mit so radikal ver­ schiedenen Lebensformen zu erschaffen. Noch nie hat sich der Kontakt zwischen den irdischen Weltraumreisenden und den außerirdischen Intelligenzen als so schwierig erwiesen. Noch nie ist es den Astronauten, diesen »Seefahrern des Unendli­ chen« so deutlich zu Bewußtsein gekommen, daß sie nicht die Krone der Schöpfung sind, sondern nur eine intelligente Le­ bensform neben vielen anderen. Und noch nie hat das Hohe­ lied einer Harmonie im Universum auf so überzeugende Weise geklungen.

Mörderische Marswolken: Olaf Stapledon, Last arid First Man, 1930

Der britische Schriftsteller und Philosoph Olaf Stapledon (18861950) geht in seinem monumentalen Werk Last arid First Man. A Story of the Near and Far Future (deutsch: Die Letzten und die Ersten Menschen *), das 1930 in den Vereinigten Staaten veröf­ fentlicht wurde, noch weiter als Rosny. In dieser spekulativen kosmischen Saga will Stapledon visionär die zukünftige menschliche Entwicklung darstellen. Er beginnt in der Gegen­ wart (das kann man fast bedauern, denn nichts von dem, was sich der Autor vorstellte, ist eingetroffen) und führt uns dann in eine immer fernere Zukunft. Im Verlauf von zwei Milliarden Jahren entstehen achtzehn verschiedene Menschenrassen, eine von ihnen (die zweite Menschheit, die körperlich und mo­ ralisch auf einer höheren Entwicklungsstufe als wir steht) wird in

* Die Letzten und die Ersten Menschen, München 1983, BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR, Band 21 (HEYNE-BUCH Nr. 06/21). 249

zehn bis fünfzehn Millionen Jahren - Stapledon hat es nicht eilig - mit einer Marsinvasion konfrontiert werden. Das Leben auf dem Mars hat einst dem irdischen Leben ge­ glichen, bis die physikalischen Bedingungen diese Evolution zum Stillstand brachten und dann völlig neue Lebensformen entstehen ließen. Diese Lebensformen entwickelten sich aus mikroskopisch-kleinen subvitalen Einheiten, die noch winziger als Viren oder Bakterien sind. Sie leben in der Luft, wo sie bestimmte chemische Substanzen und Feuchtigkeit absorbie­ ren. So entstehen kleine Wölkchen, die untereinander Funk­ verbindung halten. Diese Wölkchen, die die neue Existenzform der Marsianer sind, können sich aber auch zu einer Riesenwol­ ke zusammenschließen und damit zu einem Superorganismus werden. Dieser einheitliche Organismus kann in drei ver­ schiedenen Varianten auftauchen: zunächst als aufgelöste, lockere Wolke, dann als kompakte Formation und schließlich als ein hochkonzentriertes, gelatinöses Gebilde, das über unge­ heure Kräfte verfügt. Diese verschiedenen Wolkenformatio­ nen erfüllen diverse Funktionen. Eine neue Wolke entsteht durch die Teilung einer solchen Formation. Das Leben auf dem Mars besteht also aus einer Armee gutorganisierter, speziali­ sierter Einheiten, die ein Super-Geist dirigiert. Die einzelnen »Marsianer« sind quasi identisch, und der kollektive Verstand des Superorganismus ist nichts weiter als die Summe vieler gleicher Anschauungen, er unterscheidet sich also nur durch die Quantität, nicht aber durch die Qualität von den einzelnen Wölkchen. In dieser Uniformität der einzelnen Glieder besteht auch die Schwäche dieser »Gesellschaft«, die keine Möglichkeit mehr hat, sich weiterzuentwickeln. Es ist merkwürdig, daß Stapledon, obgleich er uns ein so fremdes und interessantes Marsleben schildert, doch hin und wieder dem üblichen Anthropozentrismus verfällt. Sein origi­ nelles und bedeutendes Werk enthält eine Reihe naiv anmu­ tender Passagen. So läßt er z. B. seine Wölkchen Ackerbau und sogar Gymnastik treiben! Auch haben die »Marsianer« ihr gesamtes Wissen auf Riesenpapierrollen, die aus einem pflanz­ lichen Material hergestellt werden, aufgezeichnet und bewah­ ren diese Rollen in Bibliotheken auf. Zu Rosnys Ehre muß ge­ 250

sagt werden, daß er uns in seinen Seefahrern des Unendlichen den Nonsens einer Marsbibliothek erspart hat! Stapledons Marswölkchen sind auch große Bauleute, die einen Teil der Planetenoberfläche mit leichten Bauwerken bedeckt haben, die ihnen als Lagerschuppen und Werkstätten und in den arkti­ schen Gebieten auch als Wohnräume dienen. Eines Tages entdecken die Wölkchen ein physikalisches Ge­ setz, nach dem die einzelnen Partikel, wenn sie den Strahlen­ druck des Sonnenlichts benutzen, frei durch den kosmischen Raum reisen können. Auf diese Weise wird es ihnen möglich, wenn sie sich wieder in mikroskopische Teilchen auflösen, ihren Planeten zu verlassen. Und so begeben sich die Marsianer auf die Reise in Richtung Erde, in der Hoffnung, dort Wasser und Pflanzen zu finden, die für ihre Ernährung notwendig sind. Neben diesen rein materialistischen Gründen haben sie aber auch einen idealistischen Beweggrund, der die Invasion recht­ fertigt. Sie wollen nämlich die »Retter« der irdischen Diamanten sein, denn diese kostbaren Edelsteine werden auf ihrem Plane­ ten als Götter verehrt und angebetet. Auf der Erde angelangt, halten die Marsianer die Menschen für primitive Zweifüßler, die Sklaven der Maschinen sind. Es kommt zu keinerlei Kommunikation. Sie eignen sich, ohne Umstände zu machen, die irdischen Wasservorräte an und transportieren sie auf den Mars, desgleichen fallen sie wie Heu­ schreckenschwärme über die Felder und Äcker her, auf denen sie keinen Halm lassen. Wenn sie sich zu den furchterregenden gelatinösen Wolken formieren, zerstören sie ganze Städte und massakrieren erbarmungslos die Menschen. Der Kampf ist un­ erbittlich. Zunächst gelingt es den Menschen, eine erste Invasion mit Hilfe elektrischer Ströme abzuwehren, aber fünf­ zigtausend Jahre lang tauchen die Marsianer in unregelmäßi­ gen Abständen immer wieder auf der Erde auf. Sie verwüsten weite Landstriche, rotten die Bewohner aus und vergiften sogar die irdische Atmosphäre, die immer mehr abgestorbene Marseinheiten enthält, die für den menschlichen Organismus außergewöhnlich schädlich sind. Schließlich lassen sich zahl­ reiche Marsianer endgültig auf der Erde nieder, so in den ark­ tischen Gebieten, in Australien und Südafrika. Diese auf der 251

Erde lebenden Marsianer entwickeln sich geistig weiter, indem sie individualistischer werden und versuchen, den menschli­ chen Geist zu verstehen. Aber ihrem Superhirn gelingt es immer wieder, die individualistischen Tendenzen zu unter­ drücken. Dieser Konflikt zwischen den eigentlichen Marsianern und den Kolonisatoren dauert ebenfalls schon Jahrtausen­ de. Inzwischen verfällt die menschliche Gesellschaft immer mehr, und die Marsianer bereiten, auf Anraten des Superhirns, die »Endlösung« vor. Aber da gelingt es schließlich einem irdi­ schen Bakteriologen, ein Virus zu entdecken, der gefährlich und ungewöhnlich ansteckend ist. Er wird eingesetzt, und alle Marsianer kommen um, allerdings auch die Menschen, d. h. fast alle. Aus den Überlebenden entwickelt sich eine neue menschliche Gattung, die Dritten Menschen. Stapledons Chronik einer zukünftigen Geschichte der Menschheit enthält zahlreiche philosophische, religiöse und mystische Ideen, denen eine solche Inhaltsangabe nicht ge­ recht wird. Allerdings weist der Roman auch eine Reihe kom­ positorischer Schwächen auf, zu denen vor allen Dingen seine Langatmigkeit gehört. Ein »normaler« Leser muß schon einige Geduld aufbringen, um sich durch diese »kosmische Philoso­ phie« hindurchzulesen, wird aber durch eine Fülle bizarrer Ideen und phantastischer Details belohnt. In mancher Hinsicht stehen übrigens Stapledons Marsianer den Wells’schen näher, als es zunächst den Anschein hat. Zwar sind sie äußerlich von ihnen verschieden, aber beide britische Schriftsteller zeigen sie als Eroberer, die es auf die Reichtümer der Erde abgesehen haben, als allesvernichtende, geschlechts­ lose Wesen, als leidenschaftslose Intelligenzen, für die der Mensch nur ein primitives Tier ist. Stapledons Marsepisode ist wie H. G. Wells’ Krieg der Welten die Variante einer konflikt­ reichen interplanetarischen Begegnung, bei der es um Leben und Tod geht, nicht die Variante, die kosmische Solidarität und friedliche Koexistenz preist. Für H. G. Wells wie für Olaf Stapledon könnte eine solche Begegnung das Ende der Menschheit bedeuten.

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Ein straußenähnlicher Marsianer: Stanley G. Weinbaum, A Martian Odyssey, 1934

Der dritte Text, der nach Rosny und Stapledon die Existenz vernunftbegabter, aber von uns völlig verschiedener Lebens­ formen auf dem Mars in Betracht zieht, ist die Novelle A Martian Odyssey des Amerikaners Stanley Crauman Wein­ baum (1900-1935), die 1934 in der Juliausgabe der Zeitschrift Wonder-Stories veröffentlicht wurde (deutsch: Mars-Odysse, *). 1970 Bald nach dem Erscheinen der Novelle wurde Wein­ baums Versuch, originelle Lebensformen mit einer anderen Werteordnung als der menschlichen darzustellen, von der ame­ rikanischen Kritik überschwenglich gelobt und als etwas ganz Neues und Sensationelles hingestellt, wobei man allerdings über europäische Versuche dieser Art etwas zu leichtfertig hin­ wegsah. Im amerikanischen Kontext aber war diese Novelle tat­ sächlich ungewöhnlich und folgenreich. Die Mars-Odyssee erzählt die erste irdische Marsexpedition, die durch die Verbesserung des »atomaren Antriebs« möglich geworden ist. Einer der vier Expeditionsteilnehmer, der Chemiker Dick Jarvis, hat bei einem Erkundungsflug über den Planeten eine Panne und ist gezwungen, nach einer Notlan­ dung in der Wüste Thyle, zu Fuß zur Basis zurückzukehren. Dieser lange Marsch wird für ihn zu einer wahren Odyssee, bei der er die seltsamsten Begegnungen macht, die er dann, nachdem er zur Basis zurückgefunden hat, in Rückblenden sei­ nen Kameraden erzählt. Zunächst stößt er bei seiner Wanderung auf »wanderndes Gras«, das bei jedem Schritt vor ihm zurückweicht, und er er­ kennt, daß es sich um Biopedien handelt. Dann wird Jarvis von einem straußenähnlichen Wesen aus den Fangarmen einer Tentakelpflanze gerettet. Er nennt das Wesen wegen der selt-

* Titelgeschichte der Collection Mars-Odyssee, München 1970 (HEYNEBUCH Nr. 06/3168). Eine Neuausgabe für die BIBLIOTHEK DER SCIENCE FICTION LITERATUR befindet sich in Vorbereitung.

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samen Laute, die es ausstößt, Tweel: »Der Marsbewohner war eigentlich kein Vogel. Er war nicht mal vogelähnlich, außer auf den ersten Blick. Er hatte zwar einen Schnabel und ein paar fe­ derbesetzte Anhängsel, aber der Schnabel war in Wirklichkeit keiner. Er war flexibel (...); es war eine Kreuzung zwischen einem Schnabel und einem Rüssel. Das Ding hatte vierzehige Füße und vierfingrige - Hände, muß man wohl sagen, und einen kleinen rundlichen Körper, auf dem ein langer Hals mit einem winzigen Kopf saß.« (op. eit., S. 17) Später stellt sich heraus, daß sich Tweels Gehirn nicht in dem kleinen Kopf, son­ dern in seinem Bauch befindet! Tweel ist ein vernunftbegabtes Wesen, darüber besteht kein Zweifel. Er versteht es, Feuer zu machen, ergänzt eine Zeich­ nung des Sonnensystems durch die zwei Marsmonde und den Erdmond und geht auch auf Jarvis sprachliche Kommunika­ tionsversuche ein, deren Erfolg allerdings gering ist. Immerhin lernt Tweel einige Wörter (sechs an der Zahl), und es gelingt ihm, mit diesem spärlichen Wortschatz Jarvis alle notwendigen Erklärungen zu geben. Ein Beweis für seine Intelligenz! Jarvis setzt in Begleitung des Marsbewohners die Reise fort, wobei Tweels Begleitung eher als ein Akt der Freundschaft zu werten ist, denn allein - er kann mit einem Satz mehr als 50 Me­ ter weit springen - käme er entschieden schneller voran. Beide überqueren das Mare Chronium und gelangen in die Wüste Xanthus. Dort entdeckt Jarvis eine neue Lebensform, einen »Py­ ramidenbauer«. Er gleicht einem mit Schuppen gepanzerten Faß, an dem lange, silbriggraue Arme sitzen. Am einen Ende dieses Fasses befindet sich eine Öffnung, am anderen ein steifer spitzer Schwanz. Der »Pyramidenbauer« ist nicht wie die Biopodien, Tweel oder die irdischen Besucher auf Kohlenstoff­ basis aufgebaut, sondern er besteht aus Silikat, ist also »kiesel­ saures Leben«. Er ernährt sich durch die dem Boden entzoge­ nen Silikate, und die Abfallprodukte seines »Stoffwechsels« sind Ziegelsteine, die er zu Pyramiden aufschichtet, deren endlose Reihe die Wüste durchzieht. Ein seltsames Wesen - »blind, taub, nervenlos, gehirnlos - nur ein Mechanismus, und doch unsterblich!« (S. 29) Aber auf dem Mars gibt es noch andere Überraschungen. 254

Man begegnet einer Kreatur, die »gefährlicher und heimtücki­ scher als der Mensch« (S. 29) ist. Jarvis nennt dieses Wesen die »Traum-Bestie«. Es handelt sich um ein schwarzes, seilarmiges Ungeheuer, das fähig ist, die Sehnsüchte und Phantasmen seines Opfers zu projizieren und es damit anzulocken. Jarvis wäre fast einem solchen mörderischen Hypnotiseur in die Falle gegangen, der ihm urplötzlich seine letzte New Yorker Freundin vor die Nase zauberte, aber Tweel rettet ihn, indem er das Trugbild mit seiner gläsernen Waffe niederschießt und damit das Monster verletzt. Die seltsamsten Abenteuer erleben die beiden Freunde am Ende ihrer Odyssee. Sie kommen in eine Stadt aus hügeligen Lehmhaufen, die am Rand eines Kanals erbaut ist. Phantastische Wesen, die einem Faß auf vier Beinen gleichen, bewohnen sie. Diese »Faßwesen« haben keinen Kopf, die Augen sind um das Faß herum gruppiert, und vier weitere Gliedmaßen dienen als Greiforgane. Unaufhörlich hasten diese Kreaturen, leere Karren schiebend, an ihnen vorbei. Tweel erklärt Jarvis, daß es sich ebenfalls um denkende Wesen handelt, aber mit einer so anders strukturierten Denkweise, daß eine Verständigung aus­ geschlossen ist. Als sich Jarvis einem der Wesen in den Weg stellt und den Satz »Wir sind Freunde« ausspricht, begrüßen ihn danach alle vorbeilaufenden Kreaturen auf diese Weise, was ihn auf den Gedanken bringt, daß sie in ständiger Kommunika­ tion untereinander stehen und vielleicht Teile eines zentralen Organismus’ sind. Beide Freunde folgen den Faßwesen in einen Bergwerksstollen, der elektrisch (!) beleuchtet ist. Der Stollen erweist sich als Labyrinth, in dem Tweel und Jarvis erst nach langer Zeit und vielen Mühen den Ausgang finden. Kaum haben sie den Stollen verlassen, werden sie von den Faßwesen angegriffen. Als die Situation wirklich brenzlig wird, taucht plötzlich einer der zurückgebliebenen Astronauten in seinem Flugzeug auf und rettet Jarvis. Tweel entkommt in großen Sprüngen den Faßwesen, und es gelingt Jarvis zu seinem großen Kummer nicht, seinen straußenähnlichen Freund und Begleiter wiederzufinden. Im Mittelpunkt dieser phantasie- und ideenreichen Novelle steht das Problem einer möglichen oder unmöglichen Kom255

munikation mit den vernunftbegabten Wesen anderer Welten. Weinbaum geht von der Hypothese aus, daß es auf unserem Nachbarplaneten intelligente Lebensformen gibt, die uns even­ tuell sogar überlegen sind, deren anders strukturierte Logik aber eine Verständigung erschwert oder gar unmöglich macht. Die Mars-Odyssee demonstriert diese Kommunikationspro­ bleme in verschiedenen Abstufungen. Tweel und Jarvis ver­ bindet ein Gefühl, das man als Sympathie, vielleicht sogar als Freundschaft bezeichnen könnte. Durch Tweels Intelligenz ist ein rudimentärer Informationsaustausch möglich. Aber fast al­ les in Tweels Verhalten bleibt Jarvis unverständlich, der Leser hat sogar den Eindruck, daß es Tweel leichter ist, Jarvis zu verstehen, als umgekehrt. Die Verständigung mit dem Py­ ramidenbauer oder den Faßwesen wird von vornherein als un­ möglich erklärt. Wenn man davon ausgeht, daß es im Weltall Lebensformen gibt, die mit den irdischen nicht das geringste zu tun haben, dann sind Weinbaums Schlußfolgerungen wichtig und folgen­ schwer. Die interplanetarische Begegnung, die bis dahin entweder Zusammenarbeit bzw. Freundschaft mit sich brachte oder aber Konflikte und Feindschaft, könnte einfach das Zusammentreffen zweier Rassen bedeuten, die so verschieden voneinander sind, daß sie sich nichts mehr zu sagen hätten, die sich weder miteinander streiten noch voneinander lernen könnten. Im besten Fall würden sie sich ignorieren. Wells Marsianer waren, trotz ihres monströsen Aussehens, mit ihrer Eroberungslust und ihrer Grausamkeit »menschlicher« als der liebenswürdige Tweel, dessen Denken, trotz aller Sympathie, die er erweckt, vom menschlichen Denken radikal verschieden ist. Gerade darin besteht aber auch die Originalität Weinbaums und weniger im äußeren Aspekt seiner Marsle­ bewesen, der sich an zoomorphen Formen inspiriert und relativ traditionell bleibt, zumindest wenn man ihn mit den von J.H. Rosny oder Olaf Stapledon erdachten Lebensformen ver­ gleicht. Hingegen sind Stapledons Marswolken und Rosnys Dreifüßler als »Intelligenzen« und »Mentalitäten« dem Men­ schen verwandter als Weinbaums Marsbewohner. Weinbaums Versuch, mental total verschiedene Denkstrukturen darzustel­ 256

len, bleibt vom philosophischen Standpunkt aus noch heute höchst interessant und aktuell.

Ein Marsianer sehnt sich nach der Erde: Raymond Z. Gallun, Old Faithful, 1934

Im gleichen Jahr wie Weinbaums Mars-Odyssee erschien in einer anderen amerikanischen Zeitschrift, in den Astounding Stories, eine Erzählung von Raymond Zinke Gallun (geb. 1910) mit dem Titel Old Faithful. Ihr Erfolg bewegte den Autor dann zur Niederschrift zweier Novellen, die direkte Fortsetzungen der ersten Geschichte sind, nämlich: The Son of Old Faithful (1935) und Child of the Stars (1936). Gallun schildert den Mars als eine absterbende Welt, auf der das Wasser und die Nahrung knapp geworden sind. Die Mar­ sianer leben vorwiegend unter der Oberfläche des Planeten und besitzen eine Reihe komplizierter Maschinen und men­ schenähnlicher Roboter. Der Held der Geschichte ist Nummer 774, ein Astronom, dem es gelungen ist, von seinem Observa­ torium aus mit der Erde Kontakt aufzunehmen. Neun Jahre lang hat er bereits mit den irdischen Astronomen Lichtsignale und Informationen ausgetauscht. Dieser Informationsaustausch erweckt zunächst den Eindruck, als sei der Marsastronom ein »Schüler« und seine irdischen Partner die »Lehrer«, aber in Wirklichkeit ist der Marsianer den Menschen vom intellektuel­ len Standpunkt aus überlegen, weil nur er fähig ist zu lernen. Eines Tages bekommt nun Nr. 774 den Befehl, sich das Leben zu nehmen, denn wegen der schwierigen Lebensbedingungen hat kein Marsianer, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat, das Recht zu leben, es sei denn, er bringe mit seiner Arbeit der Allgemeinheit irgendeinen Nutzen. Sonst nimmt ein junger tüchtiger Marsianer den Platz des älteren und schwächeren ein. Der astronomischen Tätigkeit von Nr. 774 und seinen Kommu­ nikationsversuchen mit dem Nachbarplaneten wird aber jegli­ cher Nutzen für das Gemeinwohl abgesprochen. Im allgemeinen sind die Marsianer daran gewöhnt, jeden Be257

fehl bedingungslos auszuführen; unser Marsastronom aber un­ terscheidet sich von seinen Landsleuten. Er beschließt auf he­ roische Weise zu sterben und dabei gleichzeitig seine wissen­ schaftliche Neugier zu befriedigen. Sein ganzes Leben lang hat er sich nach der Erde gesehnt, nun bietet sich ihm eine günstige Gelegenheit, den Wunschtraum in Erfüllung gehen zu lassen. Ein Komet zieht nämlich in Marsnähe vorbei, und Old Faithful (so wird der Marsastronom von seinen irdischen Korrespon­ denten genannt) läßt sich in seinem Flugapparat, den er heim­ lich konstruiert hat, von dem Kometenschweif in Richtung Erde mitführen. (Eine uns nur zu bekannte Art, durch den Weltraum zu reisen, die freilich 1934 etwas befremdend und altmodisch wirkt.) Auf der Erde, wo er seine Ankunft angekündigt hat, erwarten ihn der Astronomieprofessor Walters und seine Mitarbeiter mit einigem Mißtrauen. Als Old Faithful endlich landet, bekom­ men die ihn erwartenden Menschen zunächst nur seine Ma­ schine zu Gesicht, einen fünf Meter hohen zylindrischen Kör­ per mit spinnenartigen Beinen und hebelartigen Gliedern, die auffallend an die Kriegsmaschinen erinnert, in denen sich Wells’ Marsmonster auf der Erde bewegten. Auch der eigent­ liche Körper, den die Menschen aus der Maschine holen, erin­ nert an die Morphologie der Wells'schen Ungeheuer. Old Faithful - der Marsastronom, das ist nichts anderes als eine graue, schwammige Masse von der Größe eines Regenschirms, eine Art Schlammfladen, von dem Tentakeln wie Arme eines Seesterns ausgehen. An zweien der Fangarme sitzen große Augen, die fähig sind, auch infrarote und ultraviolette Strahlun­ gen zu erkennen, eine Fähigkeit, die das fehlende Gehör er­ setzt. Gallun will aber mit seiner monströsen Kreatur keine Angst und keinen Ekel einflößen, wie es die Absicht von Wells war. Im Gegenteil, er will zeigen, daß ein Wesen mit einem wenig ver­ trauenerweckenden bzw. abstoßenden Äußeren doch zahl­ reiche Gemeinsamkeiten mit den Menschen aufweisen kann. Eine Zusammenarbeit mit Old Faithful und seinesgleichen ist nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert, eben weil die Marsianer in vielerlei Hinsicht den Menschen überlegen 258

sind. Aber diese Zusammenarbeit scheitert zunächst, denn Old Faithful ist bereits schwerverwundet auf der Erde angekom­ men, und keiner kann dem Sterbenden helfen. Immerhin ge­ lingt es ihm noch, den Menschen Aufzeichnungen über den Mars und Pläne für den Bau einer Rakete zu überreichen, dann stirbt er, glücklich darüber, daß es ihm vergönnt war, seinen Traum zu erfüllen. Verglichen mit den genannten Werken von J. H. Rosny, Olaf Stapledon und Stanley G. Weinbaum erscheint Galluns Novelle konventionell, obgleich auch hier versucht wird, über den Anthropomorphismus hinauszukommen - was lobenswert ist, denn immer noch sind in den Marsgeschichten humanoide Marsianer die Regel. Allerdings ist das Aussehen von Galluns Marsianern nicht wirklich originell; er greift, wie wir gesehen haben, auf die Wells’schen Ungeheuer zurück. Traditionell und wenig zeitgemäß erscheint aber vor allen Dingen Galluns Optimismus, was eine Verständigung mit den Bewohnern anderer Planeten betrifft. Die humanistische und pazifistische Botschaft seiner Old Faithful-Erzählungen erinnert an manche Marsromane der Vorkriegszeit, und sie hätte Camille Flammarion oder Percival Lowell gewiß nicht mißfal­ len. Fest steht, daß 1934 für die amerikanische Science Fiction ein entscheidendes Jahr ist, weil sich von diesem Zeitpunkt an eine Richtung entwickelt, die interessanter und komplexer ist als die zahlreichen Marsabenteuerromane, die in der Nachfolge von Edgar Rice Burroughs florierten.

Medusa auf dem Mars: Catherine Lucile Moore, Shambleau, 1933

Das bedeutet aber keinesfalls, daß die amerikanische und die europäische Science Fiction den alten anthropomorphen Visio­ nen untreu werden. Gerade wenn es auf spannende Abenteuer ankommt - und an ihnen war ja das Lesepublikum interessiert-, konnte man schwerlich auf »Marsmenschen« verzichten. Was 259

wir schon für Burroughs Marsromane sagten, gilt nun für einen ganzen Zweig der Marsabenteuerliteratur: Mars wird zu einer exotischen, farbenprächtigen Welt, in der sich allerlei myste­ riöse Abenteuer abspielen. Die Erzählung Shambleau der amerikanischen Schriftstellerin Catherine Lucile Moore (geb. 1911), die 1933 in Weird Fiction veröffentlicht wurde, (deutsch: Shambleau 1982 *) zeigt, wie Burroughs Marsromane in den dreißiger Jahren imitiert und variiert wurden. Shambleau leitet eine Reihe von Erzählungen ein, deren Helden der kaltblütige Amerikaner Northwest Smith (eine Art John Carter) und sein venusianischer Freund Yarol sind. Ihre abenteuerlichen Geschäfte außerhalb der Legalität führen sie unter anderem auf den Mars und die Venus. Der Mars ist ein etwas heruntergekommener Planet, in dessen Raumhafen Lakkdanol sich verdächtige Existenzen der ganzen Galaxis ein Stelldichein geben. Im übrigen mutet die Marsnatur mit ihren erstarrten Lavaströmen, den rötlichen Staubwolken und der purpurfarbenen Vegetation recht konventionell an. Der Planet ist, einer alten astronomischen Tradition folgend, im Absterben begriffen, zwei einheimische Rassen bewohnen ihn noch, nämlich die »Kanalmarsianer« und die »TrockenlandMarsianer«, die auf eine alte, nun längst untergegangene Kultur zurückblicken, und auf eine Religion, für die nur noch die Ruinen der Tempel Zeugnis ablegen. Aber diese Präzisionen erhält der Leser nur nebenbei, denn der Mars ist nichts weiter als die farbige Folie, auf der sich die Phantasmen der Autorin entfalten. Shambleau ist ein mädchenhaftes grünäugiges Geschöpf, das Nortwest Smith in Lakkdanol vor einer Meute von Verfolgern, die es lynchen wollen, rettet. Erst nach der Rettung hat er Gelegenheit, sie sich näher anzuschauen: »Sie war geräuschlos aufgestanden. Er wandte sich um und sah sie an, steckte seine Pistole wieder ein und blickte dann erst * Shambleau in: Heyne Science Fiction jahresband 1982, hrsg. von Wolf­ gang Jeschke, München 1982, S. 37-80 (HEYNE-BUCH Nr. 06/3870), sowie C. L. Moore, Der Kuß des schwarzen Gottes, München 1982, S. 15-49 (HEYNE-BUCH Nr. 06/3874).

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neugierig, dann mit der völligen, freimütigen Offenheit, mit der die Menschen das betrachten, was nicht ganz menschlich ist, auf sie. Denn sie war kein Mensch. Er erkannte es auf den ersten Blick, obwohl der braune, anmutige Körper die Form eines Frauenleibes hatte (...) Er erkannte es in dem Moment, als er in ihre Augen blickte, und ein unbehagliches Frösteln über­ lief ihn dabei. Die Augen waren so eindeutig grün wie junges Gras, mit schlitzartigen Katzenpupillen, die unaufhörlich pul­ sierten, und in ihren Tiefen war ein Ausdruck von dunkler, tieri­ scher Weisheit - der Ausdruck des Tieres, das mehr sieht als der Mensch.« (Heyne Science Fiction Jahresband 1982, S. 44) Dann entdeckt er auch ihre klauenbesetzten Zehen und Finger, die sich zurückziehen können wie bei einer Katze. Smith fühlt sich von dem Tierhaften in Shambleau gleichzei­ tig angeekelt und fasziniert, aber die Faszination siegt, und er nimmt sie in sein Zimmer mit. Als Smith in der Nacht erwacht, sieht er, wie sich Shambleau von ihrem Lager, das er ihr in einer Zimmerecke bereitet hat, erhebt. Die Vorahnung von etwas Entsetzlichem regt sich in ihm, als er sieht, wie sie ihren Turban löst. Dicke Locken fallen wie Würmer über ihre Schultern, schlängeln sich mit widerlichem Eigenleben, werden zu einem Nest von blinden, ruhelosen roten Schlangen. Smith kann den Blick nicht von diesem Geringei wenden, erstarrt und hypnoti­ siert liegt er da und versinkt dann in einen »blinden Schlund der Unterwerfung«, »und die grünen Augen, die die seinen gefangenhielten, waren klar und brannten wie das Innere eines Edelsteins, und hinter den pulsierenden, dunklen Schlitzen starrte er in eine noch tiefere Dunkelheit, die alles enthielt (...) alle Schönheit und allen Schrecken, alles Entsetzen und alles Entzücken, in der unendlichen Dunkelheit, auf die hinaus sich ihre Augen wie Fenster öffneten, wie Fenster mit Scheiben aus smaragdfarbenem Glas.« Doch bevor das rote Geringei Smith den Lebenssaft ausge­ saugt hat, erscheint sein Freund Yarol und tötet Shambleau, indem er, wie Perseus, als er die Medusa tötete, über ihr Spie­ gelbild visiert, denn auch er kann dem bannenden Blick der grünen Augen nicht widerstehen. Von Yarol erfährt Smith dann auch, daß die »Shambleau« eine Rasse unbekannter Herkunft 261

sind, niemand hat bisher in Erfahrung bringen können, von welchem Planeten diese gefährlichen, vampirhaften Schönhei­ ten stammen, von denen man sogar annimmt, daß es sich bei ihrer menschlichen Gestalt nur um eine Illusion handelt. Der Medusamythos legt Zeugnis davon ab, daß auch die Griechen von diesem verderbenbringenden Geschöpf wußten. Entwe­ der ist eine Shambleau vor mehr als 3000 Jahren auf irgendeine Weise nach Griechenland gelangt, oder aber die Menschen haben in fernen Zeiten bereits kosmische Reisen unternom­ men und von einer solchen Fahrt ein Spezimen dieser seltsa­ men Rasse mitgebracht. - Am Ende der Erzählung nimmt Yarol seinem Freund das Versprechen ab, jede Shambleau, die ihm über den Weg laufen sollte, zu töten. Catherine Lucile Moores Erzählung ist nicht nur auf Span­ nung angelegt, sondern zeichnet sich auch durch sprachliche Qualitäten aus. Von der ersten Zeile an gelingt es der Autorin, eine beklemmende, unheimliche Atmosphäre zu schaffen, die den Leser gefangennimmt. Auch das seltsame Mischgefühl von Ekel und Lust, das Smith an Shambleau fesselt und das seine kühl-berechnende Persönlichkeit von Grund auf erschüttert, ist überzeugend dargestellt. C. L. Moore hat die Abenteuer von Smith und Yarol in zahlreichen anderen Erzählungen fortge­ setzt. Shambleau bleibt aber innerhalb dieses Zyklus ein Mei­ sterwerk, das allerdings für die Untersuchung des Marspro­ blems wenig ergiebig ist, weil C.L. Moores Mars ein reines Phantasieprodukt ist, das weder etwas mit dem wirklichen Mars noch mit den wissenschaftlichen Marsforschungen zu tun hat.

Mit den Marsianern vereint gegen die gelbe (und rote) Gefahr: Titus Taeschner, Der Mars greift ein, 1934

Wieder wenden wir uns einem deutschen Marsroman zu, und wieder finden wir, der deutschen Tradition entsprechend, auf dem Mars keine exotische Welt vor, wie beispielsweise in C. L. Moores Shambleau, sondern eine zweite Erde. Die deutschen Schriftsteller setzen also konsequent die von Kurd Laßwitz be­ 262

gonnene Tradition des technisch-utopischen Marsromansfort, ohne allerdings diese Tradition in irgendeiner Weise zu be­ reichern oder gar zu erneuern. Titus Taeschners (es handelt sich dabei wahrscheinlich um ein Pseudonym; nähere Angaben über den Autor oder Lebens­ daten konnten nicht gefunden werden) Roman Der Mars greift ein (Leipzig 1934) spielt nicht in einer fernen Zukunft, sondern in der Gegenwart, d. h. im Deutschland der dreißiger Jahre, in den Jahren des unaufhaltsamen Aufstiegs von Hitler und seinen Genossen. Zwar wird der »Führer« nicht namentlich genannt, aber wenn es heißt: »Im Jahre 1933, als eine kraftvolle, zielbe­ wußte Persönlichkeit die Zügel in dem heruntergewirtschafte­ ten Deutschland ergriffen hatte ...«(S. 8 f.) weiß der Leser, von wem die Rede ist, und wie der Autor über diese »zielbewußte Persönlichkeit« denkt. Der Roman ist eine seltsame Mischung: Spannungselemente eines Spionageromans, in dem »heimtückische Asiaten« die Hauptrolle spielen, werden mit einer Liebesgeschichte ver­ knüpft, daneben enthält der Roman aber auch viele utopisch­ wissenschaftliche Elemente und ein komplettes außenpoliti­ sches Programm - und das alles wird mit dem Mars und den Marsianern in Verbindung gebracht. Dem bekanntesten Marsforscher der Welt, dem deutschen Professor Sieger (nomen est omen!) ist es gelungen, Signale vom Mars (die man auf der Erde fälschlicherweise als Nordlich­ ter deutete) zu entziffern. Da dieser eminente Wissenschaftler auch gleichzeitig hinter das Geheimnis der Atomspaltung ge­ kommen ist, steht einer Reise zum Mars nichts mehr im Wege. Der Professor, der nebenbei auch noch unermeßlich reich ist, hat in seinen »Marswerken« in Berlin, die durch Betonmauern und Stacheldraht vor neugierigen Eindringlingen abgeschirmt werden, ein Raumschiff bauen lassen und mit diesem schon mehrmals den Mars besucht. Er braucht aber einen kompe­ tenten Privatsekretär und Mitarbeiter, mit dem er die Last des Geheimnisses und der Verantwortung tragen kann. Durch eine Zeitungsannonce engagiert er für diesen Posten Dr. Dietrich Krafft (noch ein bedeutungsträchtiger Name!), einen Elektro­ techniker und Maschinenbauingenieur, der gleichzeitig ein 263

tüchtiger Astronom und Marsforscher ist, aber in den Jahren der Wirtschaftskrise als Vertreter kümmerlich sein Dasein fristen mußte. Die beiden Männer sind sich sofort zutiefst sym­ pathisch, und Krafft erfüllt in geradezu vollkommener Weise alle Bedingungen, die der Professor an seinen Mitarbeiter stellte. Bis auf eine: er ist verheiratet - eine Tatsache, die er bei seiner Einstellung verschweigt, denn Sieger wünschte einen unverheirateten Mann. Diese Lüge ist dann daran schuld, daß sich der Professor in Kraffts Gattin (die er ja frei wähnt) verliebt. Aber diese Liebesgeschichte spielt hier nur eine nebensäch­ liche Rolle, mag sie auch noch so tragisch für den Professor enden. Es geht in Taeschners Roman um Wichtigeres, nämlich um Deutschlands Schmach, um die gelbe Gefahr, um den Welt­ frieden und vieles andere mehr. Gleich nachdem Krafft seinen Dienst angetreten hat, nimmt ihn der Professor auf den Mars mit, um ihn dort in alle ge­ heimen Pläne, die er mit seinem Vaterland hat, einzuweihen. Nach einer zwanzigstündigen Fahrt in dem von Atomenergie angetriebenen Raumschiff erholt sich Krafft zunächst in einem Raum, der den irdischen Schwereverhältnissen und der irdischen Atmosphäre angepaßt ist. Dann zeigt man ihm den Planeten, wobei er sich während der ersten Tage noch eines Sauerstoffapparats bedienen muß, bevor sich der Körper an die dünnere Atmosphäre gewöhnt. Den Mars bewohnen Menschen wie wir, »nur vollkommener und den Verhältnissen ihres Weltkörpers angepaßt, d. h. in den kalten Zonen gleicht ihre Haut einem sammetartigen Fell, in den heißen Zonen ist sie lederartig und porenreicher«. Und noch eine Kleinigkeit fällt Krafft auf: »Charakteristisch ist ihr stark ausgeprägter Hinterkopf, als Merkmal geistig hochent­ wickelter Wesen und eminenter Denker!« (S. 59) Der Planet ist der Erde in jeder Hinsicht um 200000 Jahre vor­ aus, was bedeutet, daß die Lebensbedingungen schwieriger ge­ worden sind, daß aber eine höherentwickelte Technik das Überleben garantiert. Dem Wassermangel wird, wie eh und je, mit dem Kanalsystem abgeholfen, allerdings haben die Kanäle nicht die gigantischen Ausmaße, die man von der Erde aus vermutete: »Diese Marsbewässerung stellt eigentlich weiter 264

nichts als eine ins riesenhaft ausgebaute Rieselfeldanlage dar, nur mit dem Unterschied, daß hierbei das Wasser die Lände­ reien direkt überflutet. Für uns auf der Erde schrumpfen diese Rieselfelder, die Breiten von 20 bis 250 Kilometer aufweisen, im Fernrohr zu dünnen Linien zusammen, weshalb wir sie als Ka­ näle bezeichnen.« (S. 84) Die dunklen Flecken, die man von der Erde aus an den Hauptknotenpunkten entdeckte, sind Reser­ voire, deren Aufgabe es ist, die höhergelegenen Plateaus mit Wasser zu versorgen. Auf der Nordhälfte des Planeten sinken die Temperaturen bis auf minus 120 Grad ab, deshalb spielt sich dort das Leben »untermarsisch« ab. Der Verkehr erfolgt entwe­ der in der Luft oder aber unter der Planetenoberfläche durch »Vakuumbahnen«, die nach dem Prinzip der Rohrpostanlagen funktionieren. Es gibt auf dem Planeten nur noch einen »Einheitsstaat« mit einer Sprache. Dieser Staat ist aber in Bezirke eingeteilt, an deren Spitze jeweils ein Generalingenieur steht, dem zwei Chefingenieure assistieren. Der Staat wird von einem Konsor­ tium, bestehend aus sieben Ingenieuren, regiert. Die erste Pflicht eines jeden gesunden Marsbürgers ist - die Arbeit. Nur wer eine bestimmte Zahl von Arbeitseinheiten leistet, hat das Anrecht auf sein Quantum komprimierter Nährstoffe, auf die »Normalkleidung« usw. Das Privileg, nicht zu arbeiten, wird nur der Weiblichkeit zugestanden. Ihr obliegt die zweitwichtigste Aufgabe, nämlich das Gebären des Nachwuchses. Obgleich Taeschner seine utopische Gesellschaft mit ihrer »spartanisch-eisernen Zucht« (in der man übrigens auch die Hand zum Marsgruß erhebt!) sicher positiv verstanden haben wollte, ist die Wirkung - ähnlich wie in Rosenstengls Mars­ roman - eher eine gegenteilige, zumindest auf den heutigen Leser. Aber selbst Krafft kann, als er in den Straßen herumspa­ ziert, auf denen es weder Lärm, noch Schaufenster noch Restaurants gibt, umgeben von Menschen in »Normaltracht«, nicht umhin zuzugeben, daß sich das Leben auf dem Mars zwar »kompakt, praktisch, aber höchst eintönig« (S. 70) abspiele. Im Gegensatz zu Rosenstengls Marsianern haben aber Taeschners Marsleute beschlossen, in die Angelegenheiten der Erde einzugreifen. Anlaß dazu sind verschiedene Vorträge, die 265

Professor Sieger dem Marsvolk gehalten hat, und in denen er ihnen von den Problemen sprach, die sein friedliebendes Volk, umgeben von Neidern und Feinden, hat: »Er erzählte ihnen [den Marsianern] von den Wiederaufbau­ bestrebungen Deutschlands, von seinen friedfertigen Bemü­ hungen, die alte Gleichberechtigung mit den anderen Staaten wieder zu erlangen, von dem Neid und den Anfeindungen anmaßender Nachbarländer, die keine Ruhe gaben. Er schil­ derte ihnen die Gefahren, die aus dem Westen von Amerika und aus dem Osten von Panasien Europa und seinem Vater­ lande drohen, sprach von der gelben Flut aus Asien, herbeige­ führt durch Japans Intrigen, die Europa ersäufen würden, be­ schrieb, wie alle Staaten Europas, ja der ganzen Welt, in Waffen starrten, während auf Grund des seinerzeit verlorenen Welt­ krieges Deutschland allein unbewaffnet bleiben mußte ...« (S. 155) Kein Wunder, daß diese Reden die edelmütigen Marsianer rühren. Sie beschließen also, diesem geprüften Volk die Mittel in die Hand zu geben, die es ihnen erlauben, sich den Wider­ sachern entgegenzustellen und den Weltfrieden zu erzwingen. Sie setzen Krafft als Bevollmächtigten des Mars auf der Erde ein, und er erhält ein so gut wie unbesiegbares Luftschiff, das mit Atomkraft ausgerüstet ist, und jeden Feind zu Wasser, zu Lande und in der Luft neutralisieren oder vernichten kann. Allerdings darf Krafft diese Waffe, die ihn zum »Herrn der Welt« macht, nicht frevelhaft gebrauchen. Kaum sind die beiden Wissenschaftler auf die Erde zurück­ gekehrt, wird Krafft von den Japanern entführt. Die japanischen Diplomaten stehen nämlich schon seit geraumer Zeit mit der deutschen Regierung in Verhandlungen. Sie sind bereit, Deutschland zu einer Vormachtstellung in Europa zu verhel­ fen, wollen aber damit indirekt ihren Einfluß auf diesen Kon­ tinent verstärken. Das Treiben in den Marswerken des Profes­ sor Sieger haben sie schon lange von ihren eingeschmuggelten Agenten beobachten lassen, und sie befürchten nun, daß Krafft ihre Pläne durchkreuzen könnte. Doch für Professor Sieger ist es ein Kinderspiel, mit Hilfe seines Wunderflugzeuges Krafft aus den Händen der Japaner zu befreien. Nun aber gilt es rasch zu 266

handeln. Krafft erhält eine Audienz beim Reichspräsidenten und kann diesen und die Regierung, nach einer Demonstration seiner Wunderwaffe, zum Bau weiterer Luftschiffe überreden. Denn die gelbe Gefahr wird immer offensichtlicher. In den rus­ sischen Häfen finden Flottenmanöver der Japaner statt, in den Flughäfen an der deutschen Grenze liegen 500 asiatische Kampfflugzeuge startklar. Deutschland ruft die Botschafterder europäischen Länder zu einer Beratung zusammen und ver­ sucht ihnen klarzumachen, daß die Einzelstaaten nicht mehr an ihrer Sonderpolitik festhalten dürfen, denn es gehe jetzt um Europas Zukunft im Angesicht der drohenden gelben Gefahr. Die deutsche Regierung schlägt also einen Abwehrbund sämt­ licher Europastaaten vor, um Asien, das hinter dem »russischen Moloch« steht, zuvorzukommen: »Finden wir uns zu einem Schutz- und Trutzbündnis zusammen! Dann können wir dem gelben und roten Riesen die Zähne zeigen. Deutschland bietet Ihnen seine Hand dazu« (S. 199) - mit dieser Aufforderung endet die Rede des deutschen Vertreters. Aberder Erfolg bleibt ihr zunächst versagt. Die übrigen europäischen Staaten nehmen die Warnungen nicht ernst und befürchten auch, daß entscheidende Schritte den Ausbruch eines zweiten Weltkriegs zur Folge haben könnten. Sie werden aber bald eines Besseren belehrt. Zunächst kommt es zu Übergriffen der Japaner an der deutschen Ostseegrenze. Da stellt die Marsregierung der Sowjetunion und Asien ein Ultimatum: die asiatischen Kampf­ flugzeuge und Schiffe sollen sich zurückziehen, die Festungen entlang der deutschen Ostgrenze sollen geschliffen werden, vor allen Dingen aber soll das Kriegsmaterial vernichtet und das Heer auf ein Minimum reduziert werden, das zur Erhaltung der inneren Ordnung notwendig ist. Natürlich hält man dieses Ul­ timatum für einen Bluff und geht zum Angriff über. Die russi­ schen Schiffe nähern sich der Danziger Bucht, Swinemünde wird bombardiert. Aber Krafft setzt sein Flugzeug, den »Status Mars«, ein und vernichtet sowohl die russischen Bombenflug­ zeuge als auch die Panzerflotte. Man hat jetzt gesehen, über welche allesvernichtende Waffe Deutschland verfügt. Das Luft­ schiff soll Eigentum der deutschen Regierung werden, die damit ein Mittel besitzt, das den Weltfrieden, zumindest für 267

einige Zeit, garantiert. Krafft, der seine heroische Aufgabe er­ füllt hat, darf sich ins Privatleben zurückziehen und sich wieder um seine etwas vernachlässigte Gattin kümmern. Professor Sieger exiliert sich, weil es für seine unglückliche Liebe keinen Ausweg gibt, auf den Mars, nicht ohne vorher sein Vermögen und sein wissenschaftliches Werk in die Hände der Familie Krafft gelegt zu haben. Wie wir schon einleitend sagten, ist Taeschners Roman Der Mars greift ein eine seltsame Mischung und ein geschicktes Machwerk, das für jeden oder fast jeden Geschmack etwas bieten möchte und ideologisch allzu penetrant seiner Zeit ver­ haftet ist. So finden wir eine rührende Liebesgeschichte mit Treue, Versuchung und Entsagung, aber auch ein Spionage­ roman mit allem Drum und Dran, mit versteckten Mikrofonen, Gänge grabenden oder giftmischenden russischen Agenten und heimtückischen Asiaten, die vor nichts zurückschrecken und sogar bereit sind, aus lauter Rachsucht sich selbst mit dem Feind in die Luft zu sprengen. Abgesehen von den wissen­ schaftlichen und technischen Details, die vor allen Dingen die Verwendung der Atomkraft als Energiequelle der Zukunft prei­ sen, ist der Roman auch eine Utopie, die allerdings wenig mit den liberalen oder sozialdemokratischen Utopien vor dem Ersten Weltkrieg zu tun hat. Wenn wir bereits bei Rosenstengl festgestellt hatten, daß seine straff organisierte Marsgesellschaft eher beängstigend als erstrebenswert erscheint, so gilt das in verstärktem Maß für Taeschners technokratische Diktatur, in der der Einzelne nur noch ein Rädchen in einer großen Maschi­ nerie ist. Taeschner hat in seinem Werk, ohne sich dessen be­ wußt zu sein, den Schritt von der Utopie zur Gegenutopie voll­ zogen. Das wichtigste Anliegen des Autors war aber höchstwahr­ scheinlich, eine politische Botschaft und ein außenpolitisches Programm mit Hilfe dieses Marsromans zu propagieren, das man kurz folgendermaßen zusammenfassen könnte: Völker Europas vereinigt euch im Kampf gegen die gelbe und rote Gefahr! Die Marsianer werden euch in diesem Kampf zur Seite stehen! Und damit vollzieht Taeschner noch einen weiteren Schritt: vom Schriftsteller zum Propagandisten. 268

Eine frankophile »roboterisierte« Diktatur: R. M. Nizerolles, Les aventuries du ciel, 1936

Ganz in der Tradition des französischen Abenteuerromans steht der umfangreiche Tintin-Zyklus (insgesamt mehr als 3000 Seiten!) des populären französischen Schriftstellers Marcel Priollet (geb. 1884), den dieser zwischen 1933 und 1938 un­ ter dem Pseudonym R. M. Nizerolles als Fortsetzungsroman veröffentlichte. Innerhalb dieser abenteuerlichen Saga befin­ det sich auch ein astronomischer Zyklus, Les aventuries du del, voyages extraordinaires d'un petit Parisien dans la stratosphère, la Lune et les planètes (Die Weltraumabenteurer - außerge­ wöhnliche Reisen eines jungen Parisers in die Stratosphäre, auf den Mond und die Planeten), der von 1936 an erschien und ca. 1000 Seiten umfaßt. Eine gekürzte Neuausgabe dieser astrono­ mischen Abenteuer, auf die wir uns im folgenden stützen und der wir auch unsere Zitate entnehmen, erschien 1950. Literarische oder philosophische Qualitäten wird man bei Nizerolles vergeblich suchen. Seine abenteuerlichen Geschich­ ten sind in zweifelhaftem Stil heruntergeschriebene Massen­ literatur, ausschließlich zum alsbaldigen Konsum bestimmt. Aber es wimmelt in ihnen von Ideen und Einfällen, abgesehen davon, daß die Marsepisode auch ein Kompendium aller wis­ senschaftlichen Hypothesen ist, die je über den Mars ausge­ sprochen oder niedergeschrieben wurden. Außerdem spie­ geln die Marsabenteuer alle Ängste wider, die die Menschen in den Jahren kurz vor dem Zweiten Weltkrieg bewegten, angefangen von der Angst vor den Robotern bis hin zur Angst vor der Vernichtung durch eine »Wunderwaffe«, die der Atom­ bombe gleicht. Im Mittelpunkt der Abenteuer stehen zwei Franzosen, nämlich der Pilot Justin Blanchard, alias Tintin, eine echte Pariser Pflanze, witzig, schlagfertig, großmütig, und der Astro­ nom Saint Marc, Direktor der Sternwarte von Paris. Ansonsten sind an dem interplanetarischen Abenteuer noch beteiligt: der deutsche Kapitän Rinhoff, Geheimagent und ränkespinnender Bösewicht, der allerdings im Verlauf des kosmischen Aben­ teuers »menschlicher« und »solidarischer« wird, und Timmi 269

Ropp, der berühmte Reporter des Daily Mail, ein leider unver­ besserlicher Trunkenbold. (Man sieht also, die Franzosen haben die besseren Rollen erwischt! Überhaupt sind Nizerolles’ interplanetarische Abenteuer recht patriotisch angehaucht, kein Wunder bei der politisch gespannten Atmosphäre vor dem Zweiten Weltkrieg.) Das Raumschiff, die »Bolid«, ist selbstverständlich von einem Franzosen, Germain Landry, konstruiert worden. Es funktio­ niert nach dem Raketenprinzip mit Atomkraft. Die Reise be­ ginnt, wie oft in den interplanetarischen Abenteuerromanen, auf unfreiwillige Weise, durch einen »Unfall«. Zunächst landet man auf dem Mond und besichtigt die uns abgewandte Hemi­ sphäre, wo man eine prähistorische Fauna, eine der irdischen ähnlichen Vegetation und eine atembare Atmosphäre vorfin­ det. Aber die Reisenden verlassen, wiederum auf unfreiwillige Weise, den Mond zu schnell, um ihn wirklich erforschen zu können. Nächster Halt: der Mars. Germain Landry hatte seine »Bolid« vor allen Dingen im Hin­ blick auf eine Marsreise gebaut. Schon seit Jahrzehnten, genauer gesagt: seit der günstigen Marsopposition von 1892, versuchen die Marsianer mit der Erde durch Lichtsignale in Ver­ bindung zu treten. Alles, was auf der Erde geschieht, beobach­ ten sie aufs genaueste, und so werden unsere Reisenden zu ihrer allergrößten Überraschung auf einen Landeplatz ma­ növriert und von einer vieltausendköpfigen Menge begrüßt. Und wie sehen die Marsianer aus? »Man stelle sich ein Wesen von der Größe eines sechsjähri­ gen Kindes vor mit einem riesigen Kopf, vergleichbar den großen Pappköpfen, die man manchmal bei den Karnevals­ umzügen sieht. Aber es war ein lebendiger menschlicher Kopf mit einer weitausladenden Stirn, spärlichem Haarwuchs, klei­ nen schwarzen, ausdrucksvollen Augen, die tief in den Höhlen lagen und einer Art Nasenembryo. Der Mund war ungefähr normal, das Kinn fliehend. Das ganze Gesicht wirkte greisenhaft faltig. Aber das Seltsamste war, das zu diesem hypertrophierten Wasserkopf ein gebrechlicher Körper mit unendlich zarten Gliedmaßen gehörte.« 270

Und doch stammen diese grotesken Karikaturen von Men­ schen ab. Wenn durch die Fortschritte in Wissenschaft und Technik die körperliche Arbeit überflüssig wird - so räsonniert Nizerolles und so haben bereits H.G. Wells und Gustave Le Rouge vor ihm räsonniert dann werden im Laufe einer langen Evolution die Muskeln verkümmern, während sich der Schädel und das Gehirn übermäßig entwickeln. Der Riesenkopf ist Zeichen der hohen Intelligenz der Marsianer, und diese sind sich ihrer Überlegenheit bewußt, denn sie raten den vier Besu­ chern gleich zu Beginn: »Behaltet eure Nerven und euren Ver­ stand, denn euer armes Gehirn hat noch nicht einen solchen Grad der Vervollkommnung erreicht wie das unsrige ...« Der Planet hat eine lange Evolution hinter sich und ist im Ab­ sterben begriffen. Fauna und Flora sind fast ganz verschwun­ den, so daß sich die Marsianer von synthetisch hergestellten Pillen ernähren müssen. Die Natur ist durch Kunstbauten er­ setzt worden, und die irdischen Reisenden bewundern vor allen Dingen die gigantischen Stahlkonstruktionen, deren Mo­ numentalität die Bewohner noch winziger erscheinen läßt. Die verschiedenen nationalen Staaten haben sich schon längst zu einem Einheitsstaat zusammengeschlossen. In der Hauptstadt Laboratopolis (!) sitzt das oberste Gremium der Re­ gierung, der »Rat der Hirne«, der aus sechs Wissenschaftlern besteht, denn in diesem Staat sind die Gelehrten Könige. Nur hohe Intelligenz garantiert in der Marsgesellschaft eine rasche Karriere. Der technokratische »Rat der Hirne« herrscht bereits auf autoritäre Weise, aber während des Aufenthalts der Men­ schen kommt es zu einem Staatsstreich, bei dem ein einziger Gelehrter die Macht ergreift und eine Diktatur errichtet. Zahlreiche Erfindungen bezeugen die Intelligenz dar Marsia­ ner. So benutzen diese z. B. einen »Terravisor«, d. h. einen Apparat, mit dem sie sich unseren Planeten bis auf einen Meter (!) Entfernung vor die Linse holen können. Sie sind also über das, was bei uns geschieht, in allen Einzelheiten informiert. Auf dem Planeten gibt es auch die verschiedensten Flugappa­ rate, und jeder Marsianer besitzt ein kleines elektrisch betrie­ benes Privatflugzeug. Der originellste Luftapparat erlaubt es, in der Luft unsichtbar zu werden, allerdings steht dieses Wunder­ 271

ding jetzt im Museum (wo Tintin es später entwendet), weil sei­ ne Unsichtbarkeit zu viele Unfälle verursacht hat. Eine andere, kuriose Erfindung ist eine silbrigglänzende Mixtur, das »Protektrix«. Statt Kleider zu tragen, reiben sich die Marsianer damit ein, weil es eine wärmeregulierende Wirkung hat. Aber die nützlichste Marserfindung sind äußerst perfektionierte Roboter, die »Slavoks«, die alle schmutzigen, gefährlichen oder körperlich schweren Arbeiten erledigen. Die Marsianer denken - die Slavoks arbeiten! Die Slavoks machen zunächst einen furchterregenden Ein­ druck. Es sind kubische, zwei Meter hohe Blöcke, die aus über­ einandergestapelten Würfeln zu bestehen scheinen. Die Men­ schen wohnen sogar einer Revolte der Slavoks bei, die ein wahnsinniger Wissenschaftler angezettelt hat, und die in ein entsetzliches Gemetzel ausartet und zu furchtbaren Zerstörun­ gen führt. Und wie steht es mit dem Rätsel der Kanäle? Hier findet Nizerolles eine ziemlich absurde Lösung: Nicht umsonst hat man Mars den Planeten des Krieges genannt. Vor der Schaffung des Einheitsstaates wurde der Planet nur allzuoft von blutigen und verlustreichen Kriegen heimgesucht. Das ist erstaunlich, wenn man sich erinnert, daß Nizerolles seine Marsianer zu­ nächst als höchst zivilisierte, pazifistische Wesen schildert, de­ nen leidenschaftliche Gefühle abzugehen scheinen. Aber er hat eine Erklärung parat: Jedes Jahr wechselt die Sonne zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre Farbe, und unter der Einwir­ kung dieser wärmeren Strahlen erhitzen sich die Hirne, und ein kriegerischer Geist bemächtigt sich der Marsianer, der jedesmal zu Auseinandersetzungen führte. Schließlich haben die ver­ schiedenen Staaten eine Lösung gefunden, die später auch der Einheitsstaat beibehält. Man markiert nämlich die Grenzen zwi­ schen den verschiedenen Ländern durch riesige Flammenbar­ rieren, die von gigantischen unterirdischen Maschinen ausgespieen werden. Diese Flammenstreifen erstrecken sich auf Hunderte von Kilometern und trennen die feindlich ge­ sinnten Stämme voneinander. Das ist seine Erklärung für das Vorhandensein der »Kanäle«! Noch eine Entdeckung machen die irdischen Reisenden: ln272

mitten des Ozeans befindet sich eine große Insel, deren Fauna und Flora uns vertraut ist und auf der Menschen wohnen, die sich von uns nur durch ihr stärker entwickeltes Gehör unter­ scheiden. Die Zivilisation dieser »Barbaren« (so werden sie von den »zivilisierten« Marsianern genannt) entspricht der irdischen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es gibt also weder Gas noch Elektrizität, weder fließendes Wasser noch Radio oder Telefon. Und die Barbaren haben sich nicht, wie die übrigen Marsianer, dafür entschieden, französisch zu sprechen, sondern verwen­ den noch ihre eigene Sprache. Die Inselepisode zeigt, daß die Schriftsteller immer noch nicht auf die Analogie Mars-Erde verzichten wollen. Nizerolles kon­ frontiert uns auf seinem Mars mit zwei menschlichen Evo­ lutionsstufen: er zeigt den Menschen, wie er gewesen ist (den »Barbaren«), und den Menschen, wie er einst sein wird (ein Su­ perhirn),und gleichzeitig führt er uns unseren Planeten vor, wie er einst war und wie er in ferner Zukunft aussehen wird, wenn der Mensch die Umwelt künstlich völlig verändert haben wird. Trotz des freundlichen Empfangs durch die Marsianer entstehen zwischen ihnen und den irdischen Besuchern bald Konflikte. Die Marsianer sind nämlich dabei, eine interplane­ tarische Expedition in Richtung Erde vorzubereiten. Die Raumschiffe stehen bereits startklar. Sie gleichen auf verdäch­ tige Weise dem »Boliden«. Ob die Marsianer wohl dem Franzo­ sen Landry mit Hilfe ihres Terravisors sein Geheimnis gestohlen haben? Zuzutrauen wäre es ihnen. Auf alle Fälle bewachen sie die Menschen und behandeln sie schließlich wie Gefangene, denn sie wollen nicht, daß das Geheimnis dieses Reiseprojekts den Erdenbürgern verraten wird. Fest steht, daß diese Fahrt weder als harmloser Ausflug noch als wissenschaftliche Erkun­ dung geplant ist. Der Planet ist überbevölkert, es mangelt an Rohstoffen. Man denkt also an eine Kolonisation der Erde. Aber hatten die Menschen nicht ähnliche Absichten? Landry hatte den »Boliden« gebaut, damit Frankreichs Ruhm ins Weltall hinausgetragen werde, und die französische Fahne befand sich in dem Raumschiff, diese Fahne, die nun Tintin auf dem Mars aufpflanzt, wobei die Marsianer zunächst dieser französischen

Domination gar nicht abgeneigt zu sein scheinen. (Wir sagten ja schon, es sind frankophile Marsianer!) Und überhaupt will Nizerolles seinen Lesern nicht zu viel Angst einjagen, deshalb tröstet er sie sofort: ihre schwache körperliche Konstitution, hauptsächlich aber die Verkümme­ rung der Atemorgane würde den Invasoren das Leben auf der Erde unerträglich machen. Nach allerlei rokambolesken Abenteuern gelingt es Tintin und seiner Mannschaft, wieder in den Besitz des beschlag­ nahmten »Boliden« zu kommen und die Flucht zu ergreifen. Eigentlich soll es nun in Richtung Erde zurückgehen, aber durch einen Rechenfehler wird diese Absicht durchkreuzt, und die kosmische Reise geht weiter zur Venus. Wir aber wollen nach der Marsepisode von unseren Weltraumfahrern Abschied nehmen. Diese kurze Zusammenfassung, die alle kleinen, oft sehr amüsanten Episoden außer acht läßt, hat vielleicht deutlich werden lassen, auf welche Weise Nizerolles das reine Abenteuer mit utopischen Vorstellungen verbindet. Seine höherentwikkelten Marsianer auf einem Planeten, der dem unsrigen gleicht, sind Spiegel unserer künftigen Entwicklung. Aber auch die wis­ senschaftliche Komponente kommt in Nizerolles Abenteuern nicht zu kurz, selbst wenn die astronomischen Gegebenheiten nicht mehr dem Forschungsstand der dreißiger Jahre entspre­ chen, sondern meist auf Camille Flammarions populärwissen­ schaftliche Werke zurückgreifen. Hingegen sind die immer komplizierteren und phantastischeren technischen Gadgets, die Nizerolles zu erfinden nicht müde wird, durchaus zeitge­ mäß. Die Tradition des französischen Abenteuerromans, die mit Henri de Graffigny und Georges Le Faure Ende des 19. Jahrhun­ derts einen Höhepunkt erreichte, wird also mit Erfolg auch nach dem Ersten Weltkrieg fortgesetzt. Nizerolles’ Aventuries du del sind ein Beispiel für das erfolgreiche Weiterleben dieser Tendenz. So verschieden die kleine Erzählung Shambleau von Ca­ therine Lucile Moore und die lange Marsepisode von Nize­ rolles auch sein mögen, so zeigen doch beide, daß der Mars 274

nachdem unser Erdball zu bekannt geworden ist - zunächst weiterhin der ideale Ort für außerordentliche und ungewöhn­ liche Abenteuer bleibt.

Thulkandra unter Quarantäne: Clive Staples Lewis, Out of the Silent Planet, 1938

Ähnlich wie der Belgier Pierre Nothomb findet auch ein Eng­ länder, Clive Staples Lewis (1898-1963), in der Science Fiction eine Ausdrucksmöglichkeit für seine religiösen Überzeugun­ gen. Lewis war Schriftsteller und Gelehrter, Dozent in Oxford und schließlich Professor für englische Literatur des Mittelalters in Cambridge. Sein Roman Out of the Silent Planet (deutsch: Jenseits des schweigenden Sterns, 1938 *) ist der erste Band einer Planetentrilogie, die 1943 mit dem Roman Perelandra ** (das ist der Name für die Venus) und 1945 mit That Hideous Strength (Die Böse Macht) *** fortgesetzt wurde. Olaf Stapledons Last and First Men war, wie Lewis ausdrücklich betont, der Auslöser für diese Trilogie, mit der er dem absoluten Atheismus Staple­ dons eine christliche Vision des Universums entgegensetzen wollte. Jenseits des schweigenden Sterns erzählt die Odyssee des Cambridger Philologen Ransom, der von Weston, einem fana­ tischen, materialistischen Wissenschaftler, und Devine, einem goldgierigen Abenteurer, in einem Raumschiff auf den Mars entführt wird. Die beiden Entführer hatten dem Planeten be­ reits einen Besuch abgestattet und dort Gold gefunden. Fälsch­ licherweise verstanden sie, daß man ihnen das Gold nur gegen ein Menschenopfer aushändigen würde. - Ransom sieht mit

* Die Erstausgabe in deutscher Sprache erschien 1938 in London unter dem Titel Der verstummte Planet; eine Neuauflage 1948 in Wien. Eine Ausgabe in neuer Übersetzung erschien 1976 in München (HEYNE-BUCH Nr. 06/3499); nach dieser Ausgabe wird zitiert. *» In Neuübersetzung München 1976 (HEYNE-BUCH Nr. 06/3511). *** In Neu Übersetzung München 1976 (HEYNE-BUCH Nr. 06/3524). 275

panischer Angst dem Ziel seiner Reise entgegen und macht sich darauf gefaßt, entsetzlichen Ungeheuern in die Hände zu fal­ len: »Sein Gehirn war - wie so viele Gehirne seiner Zeitge­ nossen - reich mit Schreckgespenstern ausgestattet. Er hatte H. G. Wells und andere Autoren gelesen« (S. 32) - so schreibt Lewis vorwurfsvoll und tadelt damit alle Autoren, die unsere Phantasie verdorben und mit außerirdischen Monstern bevöl­ kert haben. Auf dem Mars entkommt Ransom seinen Entführern und erforscht allein den Planeten, der mit seiner hellen, stillen, rätselhaften Landschaft und mit seinen zarten, rötlichen Pflan­ zen und Bäumen eine beruhigende Wirkung ausstrahlt. Und so friedlich wie die Landschaft sind auch die Wesen, die Malakandra (so heißt der Planet) bevölkern. Ransom erfährt mit der Zeit, daß dort drei intelligente Rassen einträchtig miteinander leben. Er stößt zunächst auf die »Hrossa«, zweieinhalb Meter große, robbenartige Lebewesen, die ihn gastfreundlich auf­ nehmen und deren Sprache er mit philologischer Begeisterung lernt. Die Hrossa betreiben Ackerbau und haben die Kanäle an­ gelegt. Daneben pflegen sie aber auch Dichtung und Musik. Sie sind ein enthaltsames, monogames Völkchen, dessen Ge­ schlechtstrieb nur auf ein Objekt fixiert ist. Die Hrossa wissen, daß Ransom von Thulkandra, dem »schweigenden Stern« kommt. Warum aber die Erde so genannt wird, können sie ihm nicht erklären. Sie verweisen ihn auf eine andere Marsrasse, die in der Astronomie bewanderten Seroni (oder Sorne). Neben den Hrossa und den Seroni gibt es noch eine dritte Rasse, die »Pfiltriggi«, insektenähnliche Wesen, die körperlich einem Frosch gleichen. Sie fördern Erze, vor allen Dingen aber das von Weston und Devine so begehrte »Sonnenblut« und schmieden Kunst- und Gebrauchsgegenstände daraus. Jede der drei Ras­ sen besitzt eine eigene Sprache; die öffentliche Sprache ist das über den reichsten Wortschatz verfügende Idiom der Hrossa. Über Malakandra waltet ein unsterbliches Wesen, die Oyarsa, dessen Boten unsichtbare, das Licht nicht reflektie­ rende Wesen sind, die Eldila. Aber Oyarsa ist nicht, wie Ransom zunächst annimmt, der Schöpfer der Welt, das ist Meleldil, der Oyarsa als Statthalter über Malakandra eingesetzt hat. 276

Von den Hrossa erfährt Ransom, daß ihn Oyarsa auf der Insel Meldiloru erwartet. Unterwegs macht er die Bekanntschaft der Sörne, von denen er schon so viel gehört hat. Sie sind die Gelehrten des Planeten, in allen Wissenszweigen bewandert, obgleich sie kaum Bücher besitzen. Als Ransom sich deswegen wundert, erklärt man ihm, daß es besser sei, alle Kenntnisse im Gedächtnis aufzubewahren. Das Äußere der Sorne ist nicht gerade vertrauenerweckend, und man kann Ransom seine Angst beim ersten Kontakt nicht verdenken. Von weitem erinnern sie an Gespenster. Ihr lang­ gestreckter, von einem weißlichen Flaum bedeckter Körper ist von kadaverhafter Magerkeit, die Bewegungen der dünnen langen Glieder wirken spinnenhaft, und die Berührung ihrer eiskalten Haut läßt den Menschen erschauern. Aber ihre Freundlichkeit und Bereitschaft, ihr Wissen weiterzugeben und zu helfen, ist so groß, daß Ransom schnell das ungewöhnliche Äußere vergißt, um sich bei ihnen genauere Auskünfte über das Leben auf dem Planeten zu holen. Nachdem Ransom noch auf der Insel Meldiloru die Bekannt­ schaft der Pfiltriggi gemacht hat, wird er zu Oyarsa geführt, der ihm körperlich unsichtbar bleibt, weil »Licht sein Blut« ist. Oyarsa erklärt Ransom, daß Malakandra eine absterbende, erkaltende Welt ist, auf der das Wasser knapp wird, und er fügt hinzu: »Bald, sehr bald werde ich meine Welt enden lassen und mein Volk Maleldil zurückgeben« (S. 136); aber er sagt diese Worte ohne Bitterkeit, denn es war nicht Maleldils Wille, eine Welt oder eine Rasse zu schaffen, damit sie ewig daure. Über Thulkandra - die Erde - weiß Oyarsa wenig. Einst herrschte dort ein ebenfalls von Maleldil eingesetzter Geist, der aber abtrünnig wurde und seinen Planeten verderben wollte. Im Ringen mit diesem bösen Geist, dem »Verborgenen«, hat Maleldil Schreckliches gewagt. Als es ihm damit nicht gelang, die Erde der Gewalt des Bösen zu entreißen, hat er über sie eine Art Quarantäne verhängt. Seit dieser Zeit ist die Erde zum »schweigenden Stern« geworden, der vom übrigen Universum abgeschnitten ist. Oyarsa möchte von Ransom Auskünfte über seinen Heimatplaneten haben, aber in diesem Augenblick wird das Gespräch unterbrochen. Weston und Devine, die drei 277

Hrossa getötet haben, werden als Gefangene herbeigeführt, und es entspinnt sich eine komische Szene. Zunächst versu­ chen die beiden Gauner, die anwesenden Marsianer wie primi­ tive Wilde zu behandeln, indem sie ihnen radebrechend ein paar Glasperlen aufschwätzen wollen. Dann besinnt sich We­ ston auf seine wissenschaftliche Mission und hält eine lange Rede, die Ransom übersetzt, wobei er sich redlich bemüht, die Grobheiten seines Landsmannes in der Übersetzung etwas zu mildern. Westons Rede, in der C. S. Lewis die Überheblichkeit der weißen Rasse karikiert, ist interessant, weil noch einmal alle sich wissenschaftlich gebenden Argumente des materialisti­ schen Europäers vorgetragen werden, der das Recht des Stär­ keren über den Schwächeren verteidigt und nicht nur eine Er­ oberung seines eigenen Planeten, sondern des gesamten Uni­ versums anstrebt: »Unser Recht, euch zu verdrängen und an eure Stelle zu treten, ist das natürliche Vorrecht der höheren gegenüber der niedrigeren Lebensform« (S. 131). Weston will auf Malakandra »die Flagge der Menschheit hissen«, und, wenn nötig, »die primitiven Lebensformen auslöschen, auf die wir stoßen; einen Planeten nach dem anderen besetzen, Sonnen­ system auf Sonnensystem« (S. 133). Aber seine Worte verfehlen ihre Wirkung auf die anwesen­ den Marsianer, und für Oyarsa ist Weston ebenso »verbogen« wie der Herrscher seines Planeten. Doch er tötet weder ihn noch Devine, obgleich beide in seinem Reich gemordet haben, sondern gibt ihnen eine neunzigtägige Frist zur Rückkehr, nach deren Ablauf er das Raumschiff »entkörpern« wird. Der Friede und die Harmonie seiner Welt sollen nicht noch einmal gestört werden. Ransom hingegen schlägt er vor, auf Malakandra zu bleiben, aber dieser fühlt sich der Erde zugehörig und zieht es vor, das Wagnis der Reise zu unternehmen, die wegen der ungünstigen Marsopposition gefährlich ist. Oyarsa verspricht ihm den Schutz der Eldila und bittet ihn, Weston und Devine auf der Erde zu beobachten und ihre bösen Pläne zu durchkreuzen. Maleldil wird ihm dabei helfend zur Seite stehen. Ransom ist auch der Held der zwei folgenden Bände, in 278

denen die moralisierenden Absichten des Autors die eigentli­ che Handlung immer mehr verdrängen. Im zweiten Band gelangt Ransom auf Perelandra, d. h. auf die Venus, einen Pla­ neten, der jünger als die Erde und zum größten Teil noch von Wasser bedeckt ist. Es isteine Welt vordem Sündenfall, aber der Böse, in der Gestalt Westons, will auch hier die Menschen, d. h. die »grüne Frau«, zu Fall bringen. Das wird durch Ransoms Ein­ greifen verhindert. Lewis ist also nicht der Meinung, daß sich die menschliche Geschichte auf jedem Planeten wiederholen muß - ein ent­ scheidender Schritt, der ihn von der ins Christentum ange­ wandelten Analogietheorie eines Nothomb wegführt. Der dritte Teil der Planetentrilogie spielt auf der Erde. Es wird immer offenkundiger, daß Weston und Devine Verkörperun­ gen des bösen Prinzips sind. Sie wollen jetzt mit Hilfe des Fort­ schritts und derFortschrittsgläubigkeit der Menschen die Erde endgültig in Luzifers Gewalt bringen, aber die Kräfte des Guten, angeführt von Ransom (= Erlöser), erweisen sich als stärker. C. S. Lewis Planetentrilogie gehört zu den auch in der moder­ nen Science Fiction fortgesetzten Versuchen, das Problem außerirdischer Intelligenzen vom theologischen Standpunkt aus zu behandeln. Ein Versuch, der, zumindest im ersten Band der Trilogie, überzeugend gestaltet wird. Lewis geht davon aus, daß es im Willen des Weltschöpfers lag, das Universum har­ monisch zu gestalten, doch konnte es dieser Schöpfer - Maleldil genannt - nicht verhindern, daß sein Gegenspieler - Satan die Macht in einem Teil der Welt an sich riß. Daß es sich bei diesem dem Bösen verfallenen Planeten gerade um unsere Erde handelt, ist nicht verwunderlich. Zwar erschien Jenseits des schweigenden Sterns noch vor Ausbruch des Zweiten Welt­ krieges, aber doch zu einer Zeit, als es bereits sicher war, daß die Mächte des Bösen wieder einmal die Oberhand gewinnen würden. Aber die Harmonie des Weltalls wird damit - zumin­ dest in Lewis’ Roman - nicht in Frage gestellt, weil Maleldil den abtrünnigen Planeten unter Quarantäne stellt, bis seine Bewoh­ ner reif sind, den Kampf gegen das Böse selbst aufzunehmen. C. S. Lewis versucht mit Hilfe seiner Romantrilogie in einer Zeit des Materialismus, der Wirren und des Zerfalls das christ279

liehe Weltbild zu verteidigen und die Glaubenskräfte noch einmal zu reaktivieren. Er versucht es, indem er die Erde in einen größeren Zusammenhang stellt und den Gottesbegriff auf eine Vielheit möglicher Welten anwendet. Zwar stört die Erde die Harmonie des Universums, aber es handelt sich nur um eine vorübergehende Dissonanz, die in einer nicht mehr fernen Zukunft - diese Hoffnung läßt Lewis zumindest anklin­ gen - behoben sein wird. Jenseits des schweigenden Sterns will also nicht nur als unterhaltsamer Marsroman gelesen werden, sondern will den Traum von der großen Harmonie des Weltalls literarisch darstellen und an alle Menschen appellieren, die guten Willens sind.

Die Marsianer greifen Amerika an: Orson Welles’ Rundfunkbearbeitung von H.G. Wells’ Krieg der Welten, 1938

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren die Marsianer so­ wohl den Europäern als auch den Amerikanern vertraute Ge­ schöpfe. 1940 veröffentlichte Hugo Gernsback (1884-1967), der bekannte Inspirator der amerikanischen Science Fiction in Superworld Comics einen Artikel unter dem Titel Humans and Martians mit Illustrationen von Frank Paul (1884-1903), einem Zeichner österreichischer Herkunft. In der Variante GernsbackPaul sind die Marsianer friedfertige Riesen. Ihr Kopf mit den großen Ohren und dem Rüssel hat Ähnlichkeit mit dem eines Elefanten, der Brustkorb ist ungewöhnlich kräftig entwickelt und wirkt durch die stelzigen Storchenbeine noch mächtiger. Aber die Hände und die ganze Haltung dieser Wesen haben etwas ungemein Menschliches an sich. Das wichtigste Werk­ zeug dieser Kreaturen ist ein geheimnisvoller Marsstrahl, mit dessen Hilfe sie allerlei nützliche Arbeit verrichten. Eine Variante dieser Marsianer »exportiert« Gernsback noch einmal Ende der fünfziger Jahre nach Frankreich, als er für eine französische Zeitschrift (Satellite, Nr. 15, März 1959) eine fiktive Reportage über das Leben auf dem Mars schreibt: »Drei Mar280

sianer kamen auf uns zu. Sie waren fast 10 Fuß groß. Auf ihrem tonnenförmigen Oberkörper saß ein großer Kopf mit breiten Ohrmuscheln. Was uns besonders erstaunte, war der drei Fuß lange Rüssel, der dem eines Elefanten glich. Noch beeindrukkender waren die wachsamen Augen, die nach Belieben aus den Höhlen treten oder sich wieder zurückziehen konn­ ten (...) Auf ihrem Kopf wuchsen zwei lange Fühler, wie man sie bei Insekten findet: es waren ihre telegraphischen Organe. Der Mund glich einem plattgedrückten Schnabel.« (op. cit. S. 49) Doch wird die Popularität dieser fiktiven, harmlosen Marsianer durch eine »wirkliche« Geschichte ganz in den Hintergrund gedrängt, das zeigt, wie wenig es bedurfte, um dieses idyllische Bild, das man sich von extraterrestrischen Wesen machte, wie­ der in Vergessenheit geraten zu lassen. Es handelt sich um den zweifelsohne gefährlichsten und dramatischsten Zwischenfall, den die Marsianer im Verlauf ihrer kurzen und bewegten Ge­ schichte auf der Erde ausgelöst haben, nämlich um eine »Inva­ sion«, die einen Teil Amerikas in Angst und Schrecken ver­ setzte. Wir meinen die Hörspielfassung von H.G. Wells’ The War of the Worlds, die Orson Welles nach einem Szenario von Howard Koch realisierte, und die am 30. Oktober 1938 ausge­ strahlt wurde. Howard Koch hat 1970 diese Hörspielfassung mit einem ausführlichen Kommentar veröffentlicht, in dem er unter anderem angibt, daß 6 Millionen Menschen die Sendung gehört hätten, von denen 1200000 überzeugt gewesen seien, daß es sich tatsächlich um einen Überfall der Marsianer handle. (Howard Koch, The Panic Broadcast. Portrait of an Event, Bo­ ston-Toronto, 1970) Um uns von der Wirkung dieser Sendung eine Vorstellung zu machen, überlassen wir im folgenden der New York Times vom Montag, dem 31. Oktober 1938, das Wort, die dieses Ereignis in allen Einzelheiten darstellte. Der Artikel, auf den wir uns be­ ziehen, befindet sich auf der Titelseite der Zeitung,und das zu einem Zeitpunkt, da es an großen weltbewegenden Nachrich­ ten wahrlich nicht fehlte. Aber zumindest für einen Tag gesteht man den Marsianern diesen privilegierten Platz im Weltgesche­ hen zu. 281

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Marsianer in amerikanischer Sicht

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Wir lesen unter dem Titel Radio Listeners in Panic... (Rund­ funkhörer geraten in Panik...): »Eine Welle der Massenhysterie hat sich gestern Abend zwischen 8 Uhr 15und9Uhr30der gan­ zen Nation bemächtigt, als eine Übertragung der Hörspielfas­ sung von H.G. Wells’ Roman The Warofthe Worlds Tausende von Hörern glauben machte, daß ein interplanetarischer Kon­ flikt mit den Marsianern ausgebrochen sei und daß die Invasoren Tod und Verderben in den Bundesstaaten New Jer­ sey und New York säten. Diese Sendung, die Familien in Panik stürzte, das gesamte Kommunikationsnetz durcheinanderbrachte, die Gottesdien­ ste störte und zu gewaltigen Verkehrsstauungen führte, war von Orson Welles gemacht worden ...« Der Journalist der New York Times erklärt dann, daß dieses Hörspiel ein normales Rundfunkprogramm simulieren sollte, in das man Elemente des Hörspiels einblendete. Die Rundfunk­ hörer, die in Panik gerieten, hatten entweder die einführenden Worte nicht gehört bzw. mißverstanden, die folgendermaßen lauteten: »»Columbia Broadcasting System« und die angeschlos­ senen Rundfunkstationen stellen ihnen H.G. Wells' The War ofthe Worlds in einer Bearbeitung von Orson Welles in Zusam­ menarbeit mit dem »Mercury Theatre on the Air- vor.« Danach begann das simulierte Programm mit einem prosaischen Wet­ terbericht, darauf teilte der Sprecher mit, daß man die Fortset­ zung des Programms - nämlich Tanzmusik - von einem Hotel aus senden würde. Es folgten wiederum Einblenden, in denen der Sprecher ankündigte, daß ein Astronomieprofessor von seinem Observatorium aus eine Reihe von Gasexplosionen auf dem Mars beobachtet habe. Neue Meldungen und Hörspiel­ einlagen wechselten einander ab, und nach und nach erfuhren die Hörer von der Landung eines »Meteoriten« in der Nähe von Princeton (New Jersey), der 1500 Todesopfer gefordert habe, dann von der Entdeckung, daß es sich nicht um einen Meteori­ ten, sondern um einen metallischen Zylinder handle, in dem sich seltsame Kreaturen vom Mars befänden, die sich mit ihren Todesstrahlen bewaffnet zum Kampf gegen die Bewohner der Erde rüsteten. Trotz des unwahrscheinlichen Charakters dieser Ereignisse 284

NEW YORK TIMES, MONDAY. OCTOBER 31, 1938.

dio Listeners in Panic, king War Drama as Fact

Many Flee Homes to Escape *Gas Raid From

Mars’—Phone Calls Swamp Police at Broadcast of Wells Fantasy

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rief das Programm eine allgemeine Panik hervor, die sich viel­ leicht teilweise durch die politisch unruhigen Zeiten und die Kriegsstimmung in Europa erklären läßt. Waren doch die ame­ rikanischen Hörer daran gewöhnt, hin und wieder ihr Rund­ funkprogramm unterbrochen zu sehen, um z. B. die weitere Entwicklung der Lage in der Tschechoslowakei informiert zu werden. Während die Sendung noch lief, wurden die Telefonleitun­ gen der Zeitungsredaktionen und Rundfunkstationen mit An­ rufen bombardiert. Einige Hörer wollten die Informationen zu­ nächst nachprüfen, andere fragten in einem Zustand höchster Panik an, warum man ihnen im Radio geraten habe, nach drau­ ßen zu flüchten, obwohl sie doch sicher in ihren Kellern besser gegen die Giftgase geschützt seien. Der Standard der New York Times konnte sich von Anrufen - insgesamt wurden 875 regi­ striert - nicht mehr retten. Harlem wurde von der Nachricht erschüttert. Viele Men­ schen packten ihr Hab und Gut zusammen und suchten Zu­ flucht bei den Polizeiwachen. Ein Mann behauptete, er habe gehört, wie der Präsident der Vereinigten Staaten durch den Rundfunk alle Bürger aufgefordert habe, die Städte zu verlas­ sen. Ein anderer lief schreckensbleich zur Wache in der Wadsworth Avenue in Washington Heights und schrie, daß feind­ liche Flugzeuge bereits den Hudson überflogen hätten. In Queens war die Frage, die an den Apparaten der Haupt­ wache am häufigsten gestellt wurde, folgende: Werden die gif­ tigen Gase bis nach Queens kommen? Samuel Tishman (wohnhaft 100, Riverside Drive) gehörte zu den zahlreichen Personen, die, nachdem sie einen Teil des Pro­ gramms gehört hatten, auf die Straße gestürzt waren: »Ich bin um 9 Uhr 15 nach Hause gekommen«, berichtete er, »gerade zur rechten Zeit, um einen Telefonanruf meines Neffen abzuneh­ men, der vor Angst fast den Verstand verloren hatte. Er sagte mir, daß die Stadt bombardiert werden würde, und riet mir, das Gebäude sofort zu verlassen. Ich stellte das Radio an und hörte die Sendung, die die Worte meines Neffen bestätigte. Ich nahm in aller Eile meinen Hut, meine Jacke und einige persönliche Gegenstände und lief zum Fahrstuhl. Auf der Straße angekom­ 286

men, sah ich Hunderte von Personen in panischer Angst her­ umirren.« Ein ähnliches Zeugnis stammt von Louis Winkler aus Bronx, 1322 Clay Avenue: »Beim Hören der Sendung bekam ich fast einen Herzschlag. Bis zur Mitte des Programms war ich noch ruhig, aber als ich die Verantwortlichen der Bundesländer und der Stadtverwaltung hörte und als der Staatssekretär persönlich das Wort ergriff (...) bin ich mit ungefähr zwanzig Personen auf die Straße gestürzt, wo bereits andere Leute in großer Verwir­ rung herumliefen.« Ein Polizist, John Morrison, der am Standard der Hauptwache in Bronx Dienst hatte, erinnert sich an sein Gespräch mit dem ersten Anrufer. Der Mann sagte: »Sie bombardieren New Jersey!« »Woher wissen Sie das?« fragte Morrison. »Ich habe es im Radio gehört«, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Dann bin ich aufs Dach gestiegen und habe die Rauchwolke, die durch die Bombenangriffe ent­ standen war, auf New York zuschweben sehen. Was soll ich tun?« Der Polizist versuchte, den Mann, so gut es ging, zu beruhi­ gen, aber dann jagte ein Anruf den anderen, und die Anrufer wollten wissen, ob die Informationen über die Bombenangriffe der Wahrheit entsprächen und wo man sich in Sicherheit brin­ gen könnte usw. Zahlreiche Anfragen kamen auch von Auto­ fahrern, die die Sendung in ihrem Wagen gehört hatten und dann noch zusätzlich von ihrer Familie alarmiert worden waren. Die Hauptwache von Newark wurde von Anrufen förm­ lich bombardiert, die nicht nur von verängstigten Personen herrührten, sondern auch von Ärzten und Krankenschwestern, die der Information Glauben geschenkt hatten und nun ihre Dienste anboten, um Erste Hilfe zu leisten. In Newark selbst hatten dramatische Zwischenfälle auf den Straßen, vor allen Dingen in den Gegenden von Hedden Terrace und in der Hawthorne Avenue, den Verkehr völlig zum Stillstand gebracht. Mehr als 20 Familien, die glaubten, die Gasangriffe hätten bereits begonnen, hatten die Polizei alar­ miert, die einen Krankenwagen nebst drei Polizisten mit Sauer­ 287

stoffmasken an den bezeichneten Ort schickten. Bei ihrer An­ kunft erblickten sie Familien, die sich mit feuchten Tüchern vor dem Gesicht in hysterischen Krämpfen wanden. Die Polizisten versuchten sie zu beruhigen, hinderten andere am Ausräumen ihrer Wohnung und konnten nach geraumer Zeit sogar den Verkehr wieder normalisieren. Im St. Michael’s Hospital im Industrieviertel von Newark wurden 16 Personen wegen Schockwirkung und Hysterie be­ handelt. Einigen Patienten gab man Beruhigungsmittel, andere versuchte man durch Gespräche zu beschwichtigen. Eine der Informationen, die die Aushebung von 7000 Mann der Nationalgarde betraf, hatte zur Folge, daß Offiziere, die wissen wollten, wo die Aushebung stattfände, die Zeughäuser von Sussex und Essex mit Anrufen bestürmten. In Caidwell (New Jersey) stürzte sich die aufgeregte Menge während des Gottesdienstes in die Baptistenkirche und schrie, daß ein Meteorit vom Himmel gefallen sei. Der Geistliche be­ ruhigte die aufgeregte Gemeinde und betete dann mit ihr um Erlösung von dieser Katastrophe. Als sich die Wogen der Aufregung allmählich geglättet hat­ ten, fehlte es nicht an Stimmen, die gegen die von Orson Welles gewählte Methode energisch protestierten. Columbia Broadcasting System« gab eine Erklärung ab, in der es hieß, daß die Adaption von Orson Welles getreu dem Original folge, Welles habe nur die englischen Szenen des Romans in einen amerikanischen Rahmen transponiert, um sie für den ameri­ kanischen Hörer interessanter zu gestalten. Die von ihm ver­ wendete Technik sei im Grunde genommen dieselbe, die auch der Rundfunk verwendet hätte, um wirkliche Ereignisse darzu­ stellen. Orson Welles selbst drückte sein tiefes Bedauern über die unerwartete Wirkung der Sendung aus und sagte, daß er nicht mehr zu solchen oder ähnlichen »realistischen« Mitteln greifen würde. Er fügte auch hinzu, daß er bei der Produktion von The War of the Worlds gezögert habe, weil ihm Bedenken gekom­ men seien, diese unwahrscheinliche Geschichte könnte die Hörer langweilen. Diese unwahrscheinliche Geschichte war aber in Wirklich288

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